Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/7/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmann den Platz der ausgeschiedenen Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ einnehmen. Im Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neues stellvertretendes Mitglied ist der Kollege Dietmar Nietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde Projekt Stuttgart 21 ({0}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 33 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung ({1}) - Drucksache 17/3183 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sank- tionen aussetzen - Drucksache 17/3207 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln - Drucksache 17/3206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme ({4}) KOM-Nr. ({5}) 368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa - Drucksache 17/3191 Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern - Drucksache 17/3199 ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu der Unterrichtung Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen Ratsdok. 9145/10 - Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Dr. Eva Högl Raju Sharma Ingrid Hönlinger ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich fortsetzen - Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen - Drucksache 17/3187 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({9}), Volker Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern - Drucksache 17/3202 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({11}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Kinder, Küche und Karriere“ - Vereinbarkeit für Frauen und Männer besser möglich machen - Drucksache 17/3203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Glaubhafte Unterstützung für Serbiens Beitrittsantrag zur Europäischen Union - Drucksache 17/3175 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({13}), Volker Beck ({14}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Serbiens Beitrittsgesuch an die Europäische Kommission weiterleiten - Gesamte Region im Blick behalten - Drucksache 17/3204 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten - Drucksache 17/3205 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beim Ablauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungspunkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. An dieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesordnungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dementsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall; ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland - Drucksache 17/2400 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({16}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Präsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Staatsministerin Frau Professor Maria Böhmer. ({17})

Not found (Gast)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlich wieder da steht, wo es angesichts der drängenden Probleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Tagesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar, dass er sich des Themas Integration mit so großer Intensität angenommen hat. ({0}) Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halbwahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien überlassen. ({1}) Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre lang Zeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan. Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration in Berlin. ({2}) Viele Migranten, die längst in Deutschland heimisch sind, fühlten sich in den letzten Wochen unter Generalverdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimische haben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungen in unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt. Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrer müssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören. Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhof traut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wenn Lehrerinnen beschimpft werden, können wir das nicht hinnehmen und müssen dagegen angehen. ({3}) Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klar sein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich das Grundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren. Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land einlassen. Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ich mit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführt habe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf dieses Land einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gespräch führen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sich bewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir reden miteinander. Das ist der entscheidende Punkt. ({4}) Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebt werden - zuallererst in den Familien. Die Eltern stehen hier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch unterstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien die Chance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzukommen. „Fördern und Fordern“ ist der zentrale Grundsatz unserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir lassen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich erwarte auch, dass die Integrationsangebote angenommen werden, ({5}) seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprachförderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuch oder der Abschluss einer Ausbildung. Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt haben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel eines, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. Sein Großvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und war Hilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen. Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und gehört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unternehmen. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Migranten und Einheimischen in unserem Land. Solche Vorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wir stärken. ({6}) 2005 standen wir bei der Integration vor einem Berg von Versäumnissen und Fehlentwicklungen. ({7}) Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kinderschuhen. ({8}) Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel massiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und dem Ausblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zu meistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahrheit. ({9}) Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Integrationsgipfel, der Islamkonferenz und dem Nationalen Integrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mit mehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gut da. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennenden Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in den Niederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klima und belasten das Zusammenleben. All das haben wir nicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein. ({10}) Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ich denke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutsch die Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflichtung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland. Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wir haben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne gebracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen, dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangsverheiratungen verhindert werden können. ({11}) Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auch Streit in unserem Land. Aber heute ist klar - das sagen mir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deutsche Staatsbürger werden wollen -: Es ist von Vorteil, wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn man will hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahrnehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich auskennt. Die Anstrengungen für die Integration haben sich gelohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ich dem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Das zentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integration in Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen noch an Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazu auch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damit das, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechend mitgetragen wird. Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildung und der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveau hat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierend ist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zu hoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen im Vergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. - Das ist noch weit von der Zusage entfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrationsplan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 angeglichen sein sollen. Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderung in den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brauchen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehr Zeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, um wirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voranzubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sind nur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in unserem Land haben. ({12}) Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Viele der Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mit unserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsere Hilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeit in Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen Integrationskurse gerade dort stattfinden. Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wir müssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspolitik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit. Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme der Bundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeutung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integration in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als 700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählen sein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel davon Frauen sind und dass viele von denen, die schon seit vielen Jahren - 10, 12, 15 Jahre - in Deutschland leben, jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. - Unsere Botschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zusammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teilhabe in unserem Land ist, ist angekommen. ({13}) Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwillig teilnehmen möchte - jeder Zweite tut das -, muss auch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb haben wir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millionen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassen wahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist ein klares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten, dass die Integration in unserem Land klappt. Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Weg bringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Verbindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten, die dann wissen sollen, welche Angebote und welche Hilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wir wollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsvereinbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beim Spracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qualifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Eltern ihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie in den Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie, wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgen können; denn nur dann wird sich langfristig für diese Kinder etwas verbessern. ({14}) Die frühe Sprachförderung wurde, seitdem wir den Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allen Bundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstandstests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehr nachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotz alledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kommen. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Länder gefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachförderung ist. Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren. Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kindergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder, die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztes Kindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht allein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unter den Versäumnissen ihrer Eltern leiden. ({15}) Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vorhaben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Menschen, die in unser Land gekommen sind und über einen guten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten, sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, in ihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein, dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Anerkennungsgesetz für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integrationspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vieles verändern, was die Annahme der Migranten, das Heben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfalt angeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell. ({16}) Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende in der Integrationspolitik deutlich unterstützen. ({17}) Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auch schwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Legislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dass die Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustest ist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Denn es darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo die Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer noch vorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfächern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus verboten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zu gehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchen müssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo die Grenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen, sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten. ({18}) Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass es auch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ich spreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen und dass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mädchen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn sie sind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unserem Land ihren Weg gehen können. ({19}) Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam in Deutschland gesprochen worden ist, will ich an einen Satz von Wolfgang Schäuble erinnern: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Dieser Satz bleibt gültig. Es ist aber genauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems und auch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlichjüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalen Islam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz in unserem Land. ({20}) Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werden um so manche Frage ringen müssen. Ich nehme die Ängste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migranten und der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen die Diskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wir müssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen, dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Was hält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Erreichen wir wirklich eine Verständigung über diese entscheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturellen Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden? Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ich möchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantes Land bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt geschätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Herzlichen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion. ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bundespräsident wiederholt hat, was der damalige Innenminister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag vor einiger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. - Es ist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich, wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sich jetzt äußern und wie viele gerade auch der politischen Anhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansicht sind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten, bis sich alle einig sind. ({0}) Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integrationspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischen Reden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manchmal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn ein konservativer Politiker oder eine konservative Politikerin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, was gegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde. ({1}) Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichen Fortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt und das als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengend und mühselig erreicht werden musste. Aber es ist schlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese „Bis hier und nicht weiter“-Strategie gibt, die einen nie in die Lage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allem kommt es darauf an - das gilt gerade im Hinblick auf die Integrationspolitik -, dass man das Notwendige tut und nicht nur darüber redet. ({2}) Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdrossenheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet: Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Politiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle es richtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen. ({3}) Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bundesregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren. Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dass man Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass Integrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehr aufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monate gelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die gegen den Willen konservativer Gegner durchgesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt. ({4}) Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getragene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass das eine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher gar nicht darum gekümmert hatten. ({5}) Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg geworden, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren, nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar - ich sage ausdrücklich: furchtbar -, dass wir eine Debatte über die Frage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teilnehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache, dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teilnehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gelder zur Verfügung gestellt. ({6}) Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wir brauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden. ({7}) Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogar erhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müssten noch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernst nimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zigtausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrnehmen können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt haben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, das nicht tun können. ({8}) Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe eine dreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlich noch viel länger. Das alles ist ein Fehler. Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnahmen, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtig finden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: Ihre Entscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend - das zeigt der Bundeshaushalt - sind nichts anderes als ein aktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in den nächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Es müssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration zur Verfügung gestellt werden, gerade für die Gruppen, um die es hier geht. ({9}) Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem anhaltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegen die Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schulabschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dass in jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst die Sprache erlernen muss und dass es ein entsprechendes Angebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nicht nur darüber reden. Dann muss man auch entsprechend handeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Das ist zu wenig. ({10}) Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, um sich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemühen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage: „Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, der kann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern und muss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verbleiben“? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, die sozialdemokratische Fraktion, haben längst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur und lassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist das Problem. ({11}) Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerkennungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode waren Sie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Regelung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein bisschen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsvertrag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben, und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wird es uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materie so einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werden können, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständen scheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wir brauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesem Thema. ({12}) Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was notwendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejenigen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auch bruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die in unserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehört abgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integration; ({13}) es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausgesandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass man das einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, und das Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hätten es längst beschließen können. Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommen müssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die man ständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, was wir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die entsprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, der will, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, soll wissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Folgen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass dies für jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Beschränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondern wenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt in Deutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicher Fortschritt. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetzt das Wort. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achten Ausländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche Integrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prioritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandel hin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichen Leistungen von beiden Seiten. Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland. Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritisch beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damit identifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journalistin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das GoetheInstitut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wie Kultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrer Sicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe, Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlich selbstbewusster mit unseren Worten, unserer Sprache umzugehen. Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nicht entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichts mehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie und kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wollen sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ihnen fordern. Migranten müssen sich verbindlich in unsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden, und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmen setzen und die nötigen Hilfestellungen leisten. Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in den Mittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt der durch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft im Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte, der muss die eigene Integration aktiv voranbringen und die gebotenen Chancen ergreifen. ({0}) Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenen Sprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufnehmende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb ist die Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Voraussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alle Zuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist innerhalb der EU die größte Muttersprache. Weltweit sprechen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet ist Deutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache. Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und drittgrößte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskurse sind das wichtigste Instrument von Bundesseite gerade für den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehen zu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bundes. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wir weiter arbeiten. Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder im Alter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chancen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprachförderung vor Eintritt in die Schule sowie darüber hinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogramme notwendig. ({1}) In Deutschland gilt die Meinungs- und Religionsfreiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung, ({2}) und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und karikieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief, sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechten unserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlichdemokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder Hartfrid Wolff ({3}) Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiöses Brauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragt werden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, die im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes stehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigt nicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nicht zur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wie Sport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme an Schullandheimaufenthalten. Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulff richtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesellschaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unserer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen und römischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradition. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, akzeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt die Gleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hierzulande verbindlich. ({4}) Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wir werden noch in diesem Jahr einen eigenständigen Straftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat einbringen. ({5}) Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auch die Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hürden beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete abbauen. Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahrtausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-, Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwanderern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nutzen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, in Deutschland zu leben, der das nicht will.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die Uhr.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, das werde ich tun. - Wir können es erreichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch Fördern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft stärken. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und Senator Harald Wolf. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Republik in den letzten Wochen eine intensive Diskussion über Integration, über Einwanderung geführt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträge nicht unbedingt klüger gemacht haben. ({0}) Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin. ({1}) Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganze Religionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig erklärt, wer sagt: „Von denen sind zu viele hier, und die sind per se dümmer als die anderen“, der leistet keinen Beitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürt dumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, und das ist alles andere als das, was wir brauchen in diesem Land. ({2}) Ich sage aber auch - ich teile vieles von dem, was Sie gesagt haben, Herr Scholz -: Wenn eine Partei feststellt, dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für diese Auffassung gibt ({3}) und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt darauf legt, dass Integrationsverweigerung - das ist ja neuerdings das Wort - mit Sanktionen belegt werden muss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, nämlich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für die von ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Teilen der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das ist nämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnen nicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt und sie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt. Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten. ({4}) Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem Land ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwanderung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zur Einwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung verbunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen können. Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheiratung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir in Deutschland nicht akzeptieren können und was auch nicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ich sage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alles hinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftliches Problem und nicht nur ein Migrationsproblem. ({5}) Senator Harald Wolf ({6}) Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Rede eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nicht zu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass, wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die eingewandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteil dieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestandteil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meine Damen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass es angesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskussion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über die Frage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist. Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur, dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu uns gehören. Genau das ist die Botschaft, die man auch wieder nicht braucht. ({7}) Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkultur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonst nichts, keine Weltanschauungen und keine religiösen Auffassungen. ({8}) Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Willkommenskultur gegenüber Einwanderern in diesem Land brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dass wir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Sie haben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass dies notwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, den wir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern und Fordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deutlich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hat angesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse und Deutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konnten Maßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nicht durchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integrationsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wenn hier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt werden. ({9}) Ich komme aus einem Bundesland, in dem über 40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshintergrund haben. Wir können uns Integrationsverweigerung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunftsfrage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen, die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chancen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdings nur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnahmen. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahren große Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, die die Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Innerhalb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Prozent reduziert werden. ({10}) Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um 50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwendet, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dann kann man auch die Abbrecherquote und das Bildungsversagen reduzieren. Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, in denen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integrationskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern, Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Integrationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eine Schlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der Institutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darf nicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, bei der Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wir brauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation fördert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert: nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Nationalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein integratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst lange gemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernen können und damit die Integration vorangetrieben werden kann. ({11}) Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden, die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eine Restschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussortiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie haben keine ausreichende Chance. - Es ist ein Verbrechen an den Kindern gewesen, ({12}) ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Perspektive mehr in dieser Gesellschaft. Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zuständen wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben an der Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen. Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bildungserfolge und gute Abschlüsse gibt. Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit unserer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule eingeführt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammengefasst worden sind und die bis zum Abitur führen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsangebot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre gebührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Voraussetzung für Integration und dafür, dass alle in diesem Land die gleiche Chance haben. ({13}) Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andere Thema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon angesprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen in diesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die in diesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unter dem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzeptabel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel, dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und die Talente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie Senator Harald Wolf ({14}) da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen und ihre Fähigkeiten einbringen könnten. ({15}) Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Anerkennung der Berufsabschlüsse. Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden, braucht man sich nicht zu wundern, dass Integration nicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, die dauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugang zu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Integration und dafür, dass die Einwanderung in dieses Land gelingt. ({16}) Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren: gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hier mitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Entscheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sich auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können. Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die man vom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidungen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können, mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die das Wahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entscheidungen mit Begeisterung hingenommen. ({17}) Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wir den Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen. ({18}) Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichen Institutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen in den Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dass zu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshintergrund zählen, dass sich das auch in den Belegschaften und in den Führungsebenen widerspiegeln muss. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwärtig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrationsanteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichen Realität in diesem Land Rechnung tragen würden, müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Das zeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in der Integration weiter voranzukommen. ({19}) Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist eine große Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es soziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Menschen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen Integration, gleichberechtigte Teilhabe und gleiche Chancen für Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, eine zentrale Frage der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Probleme verbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufgeworfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbedarf auch im Institutionensystem der Bundesrepublik Deutschland. Wir können nicht nur Veränderungen bei denen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein, diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Menschen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wird und ihnen gleiche Chancen eröffnet. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar erneut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestellten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und gerade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolgerungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideenund Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung. ({0}) Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprachrohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden Debatte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kürzungen bei den Integrationskursen vorgenommen werden. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durchgeführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt, dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen. Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 integrationswilligen Personen der Besuch von Deutschkursen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen getan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverantwortlich. ({1}) Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Integrationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet; 60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig. Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde, bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der Einwanderer. Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Streichung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung. Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbekannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als ärgerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integrationsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negatives Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht verdient, meine Damen und Herren! ({2}) Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Migranten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantomdebatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen. Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen Integrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reformunwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Einbürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschärfung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehrstaatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben, und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauftragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ahnung, kein Konzept - so sieht es aus! ({3}) Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Versprechungen der Bundesregierung auf den diversen Integrations- und Bildungsgipfeln wert? Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert, die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklassenschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit seiner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Hauptschule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformieren. ({4}) Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminierung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate Lösungsvorschläge zu entwickeln. Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integration ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch können. Die Migrantenkinder der dritten Generation haben ein Studium an einer der Universitäten dieses Landes absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu fahren. Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öffentliche Dienst; ({5}) das muss sich ändern. ({6}) Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von 20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren schönen Worten folgen keine Taten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die Uhr.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. - Die populistischen Grabenkämpfe zwischen „uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stigmatisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land; wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche de6802 mokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutschland machen, in einem besseren Europa und einer besseren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser Traum. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier. ({0}) Volker Bouffier, Ministerpräsident ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessische Landesregierung hat dem Thema der Integration seit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zugewiesen. ({2}) Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politik bundesweite Anerkennung erfahren hat. ({3}) Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkungen machen; sie werden sich unter anderem von dem, was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführt haben, deutlich unterscheiden. Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebene einen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ersten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschulung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wir waren die Ersten, die - sehr präzise - Einbürgerungskurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kann mich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damals heftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grünen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das ist gut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam feststellen: Wir sind weitergekommen, ({4}) nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Abschied genommen haben. Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir in Deutschland die Herausforderungen der Integration besser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer. ({5}) Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit der Bundesregierung ({6}) und insbesondere der Beauftragten Frau Staatsministerin Böhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich danken. ({7}) Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchaus interessant, aber sie war falsch. Es war nicht die rotgrüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung, die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationalen Integrationsplan, den Integrationsgipfel und die Islam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auch alles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weiß ich nicht. ({8}) Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregierung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mit Dankbarkeit und mit Stolz. ({9}) Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiativen und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informationen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin. Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wollen, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integration an vielen Stellen noch am Anfang stehen. ({10}) Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochen haben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf diesem Wege noch sind. ({11}) Viele Menschen in unserem Land empfinden das sichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nicht selten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politik ihre Sorge nicht ernst nehme, ({12}) dass falsch verstandene Political Correctness dafür sorge, dass man über diese Themen am besten nicht spreche. ({13}) Nur so kann man sich die massive Wirkung der Thesen eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsame Pflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgern das verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Es ist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlich führen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für die angestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene Ministerpräsident Volker Bouffier ({14}) Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integration brauchen. Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappen und ohne Schaum vor dem Mund führen. ({15}) Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird länger brauchen, als viele dachten, sie wird schwieriger sein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allen mehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wird und sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion darüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorgfalt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in gegenseitigem Respekt. Frau Professor Böhmer hat recht - das haben alle Redner eingeräumt -: Es ist eine Schlüsselfrage für unser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vom gelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Miteinander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen für Erfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zu legen. ({16}) Wenn das die Aufgabe ist - darauf müssten wir uns gemeinsam verständigen können -, dann wird uns dies nicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wie und wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. In diesem Zusammenhang ist oft und aus meiner Sicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leitkultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zukunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrweg werden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu dieser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung von Staat und Kirche. ({17}) Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Daraus folgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage einer gelungenen Integration in unserem Land sein kann. ({18}) Wir brauchen die Herausbildung eines Islam, den Bassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischen Islam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubigen Menschen in unserem Land durch islamische Autoritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihre Treue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines säkularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Politik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber helfen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispiel islamische Theologen an unseren Hochschulen ausbilden. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrer ausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land vertraut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen. Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenen Integration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dass die vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesem Land gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht wenigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine religiöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Land und sind Teil unserer Gesellschaft. ({19}) Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte Frau Künast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist es wichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klaren sind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres Staatsverständnisses sind die christlich-abendländische Tradition, ihre Kultur und die Aufklärung. ({20}) Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Sie müssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben. Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen - das gilt insbesondere für den Respekt der Zuwanderer -, wenn wir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret: Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwillig entschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinen Gesetzen und Lebensweisen achten. ({21}) Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Landes, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, beitragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen. Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Gesellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft und ihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auch nicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihre Religion und Kultur aufzudrängen. ({22}) Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege weisen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderern aber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen. Zu dieser Verantwortung - darauf könnten wir uns wahrscheinlich alle gemeinsam verständigen - muss es doch gehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder in Kindergärten und Schulen zu schicken. Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wir hohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frisch zu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur Ministerpräsident Volker Bouffier ({23}) Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist, eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wie ein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Heimat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, der diese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesem Land bekennt. ({24}) Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires Angebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eine Zukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Erkenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmen können. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese Debatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlagzeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundesregierung und vor allem auch Ihnen, Frau Professor Böhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Landesregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unterstützen. Herzlichen Dank. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit meinem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auch wir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mitarbeitern - denen, die hier sind, und auch denen, die das jetzt im Fernsehen verfolgen - ganz herzlich für die herausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Es ist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht profundes Datenmaterial handelt. Ich teile - das liegt in der Natur der Sache - nicht alle Schlussfolgerungen, aber doch manche. ({0}) Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleicht auf das eine oder andere zurück. Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwegen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger gehaltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über Integration gesprochen wird. Ein Grund - Frau Professor Böhmer hat das Thema eingebracht - sind die Thesen von Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und Senator Wolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problem umgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung, auch nicht von Ihnen. ({1}) Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigens schon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außerordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover für Hartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armen Kindern erinnern. Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die der Grund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen der CDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion diskutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem Thema Religion auseinandersetzen, aber man kann es heutzutage kaum ausklammern - das haben auch meine Vorredner nicht getan -, wenn es um den Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht. Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deutsche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht, aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügen habe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bundeskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden in Schutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verkneifen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dass das, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungen von Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eine Selbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darf ich vielleicht in unser aller Namen die besten Genesungswünsche an das Krankenbett von Wolfgang Schäuble übermitteln. ({2}) Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam gesagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zeitungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/ CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hat gesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam das Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands sei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nicht sagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Faktum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union für mich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungen von Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und - diesbezüglich grenze ich mich ab - von Herrn Buschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mir nicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äußerungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben, weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtig halten. Bevor ich zum sogenannten Ausländerbericht komme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung anbringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, Volker Bouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahre darf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ich wäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben, dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integration macht. ({3}) Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persönlich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer AmtsRüdiger Veit vorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, im Landtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten auf die Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ({4}) mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurch das Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durch eine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien. Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das war das genaue Gegenteil. ({5}) Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es im Winter 2008 ekelhaft kalt war - das war der schlimmste Straßenwahlkampf überhaupt -, sondern auch daran, dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr geschätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller jugendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zu fangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getoppt worden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs haben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe, überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äußerungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Unterschied zu 1999. ({6}) Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen. Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf, dass es nicht ausgerechnet die Union ist - und jetzt manchmal auch die FDP -, die sich anhand einer ganzen Reihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde, noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr über zwölf Jahren - ich habe das miterlebt, gelegentlich mitgestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten - hat ausgerechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koalitionspartner in der Großen Koalition entweder hier oder im Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesänderung auf diesem Gebiet brauchen - ausgenommen Integrationskurse; da sind Sie nach dem Motto „learning by doing“ vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei -, verhindert, was wir umsetzen wollten. ({7}) Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; das ist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchgesetzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreform nur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot der Hinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrieben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte. Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen betrachtet. ({8}) Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldung und Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit dem Erfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsregelungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen und Kettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind, intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übrigens interessante Ausführungen in dem Bericht - ich habe keine Zeit, es vorzulesen - auf den Seiten 483 ff. Sie haben erst jetzt entdeckt - spät ist vielleicht noch nicht zu spät -, dass man bei der Gewährung der elementarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegal lebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessern muss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man mit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eine angemessene gesundheitliche Versorgung gerade von Kindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind es gewesen, die jetzt erst - das war uns in der Großen Koalition leider nicht vergönnt - erkannt haben, dass wir ein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangsheirat haben müssen. Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die im Bereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen, die das verhindern wollen, die sich stets und ständig dagegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Sie sind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hinsichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse von Ehegatten im Ausland zu verdanken haben. ({9}) Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal abgeschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass das entsprechende Veränderungen des Aufenthaltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von 16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat. Diese ganze Reihe - ich könnte sie beliebig fortsetzen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit - zeigt: Sie haben erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durch gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und im Staatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland überhaupt integrieren können. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich hoffe nicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Sie sich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigern von staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wir die elementarsten Voraussetzungen im Bereich des Rechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht geschaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtes vielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflisten.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum Ausdruck bringen. Danke für Ihre Geduld. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion der nächste Redner. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter RotGrün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon umgesetzt. ({0}) Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind, diese Forderungen aufstellen. ({1}) Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens, Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat. Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benötigen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu; Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahrelang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fangen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fernsehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das verstehe ich nicht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause. Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich festgelegt wurden - es war ein Rechtsanspruch und eine Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen -, dass wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die Integration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die gesamte Debatte um nachholende Integration nicht führen müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungsgesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden, dann gar nicht erst bekommen hätten? ({0}) Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit, die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwanderung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Augen gestreut, ({1}) statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu befassen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Das habe ich auch getan.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen habe ich nur daran erinnern wollen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Protokoll zeigen. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, die ich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich gesagt habe, scheint wohl richtig zu sein. ({0}) Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat, haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen. ({1}) „Warum Deutschland an der Integration scheiterte“, so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutsches Nachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: Als Bürger mit Migrationshintergrund, wie es so schön heißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für verfehlt. ({2}) Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehntelang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwanderungspolitik zu machen. Integration passiert nicht einfach so. Integration muss begleitet, gefördert und - das sage ich ganz klar - auch eingefordert werden. ({3}) Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung für viele der heutigen Herausforderungen in der Integrationspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges Lamentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen uns nicht weiter. ({4}) - Genau. Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -brecher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offene Debatte um die Integrationsprobleme in Deutschland. Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungen gehören zur Streitkultur in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagen und Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Grenzen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze ist da, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenzt werden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, das durchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismus und Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganz wichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen der Ausländer oder der Muslime zu sprechen, bringt uns nicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten aufgrund ihres Engagements und der regelmäßigen Publikationen für die sehr differenzierte Auseinandersetzung mit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar. Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit gehört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gegeben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbesondere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wir an dieser Stelle gekürzt haben - das stimmt nicht -, sondern wir haben die Mittel sogar erhöht. ({5}) Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt es noch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns bekannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Erfolgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Migranten an einem solchen Kurs teilgenommen; weit mehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist eine tolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen. Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür 2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integrationspolitik. Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wieder viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatte um die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigt diesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wollen wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was können Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstellungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sind unabdingbar für die Motivation von Migranten und insbesondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stelle warne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Toleranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum der unsachlichen Debatte. Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nachkommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zu werden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mädchen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christliches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für den Schwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterricht oder für Klassenfahrten. Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen, wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptieren und mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen in unserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klarmachen. ({6}) Mit „wir“ meine ich alle, auch die Zugewanderten, die in der Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden haben. Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder was muss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und Toleranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dass das Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist nicht an der Integration gescheitert, und Deutschland wird auch nicht an der Integration scheitern. Integration ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann abgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wie erfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielen Faktoren ab. Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von den Antworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir die im Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umsetzen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemeinsame Identität jenseits von kulturellen Unterschieden schaffen können?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offenheit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstanden habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die bei der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grün oder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem sie sich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falsch verstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen - das wurde eben schon vom Kollegen Veit angesprochen -, was das Hauptproblem der Integrationspolitik in diesem Lande ist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integrationspolitik in diesem Land gemacht. Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert. Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschuss bekämpft. ({0}) Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutschkurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt. Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen. Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volkshochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfe und sollten die Kurse davon bezahlen. ({1}) Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf, haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. - Zwangsheirat war in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwas überhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unserem Rechtsverständnis. Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestellt und gesagt: Das ist selbstverständlich ein besonders schwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf Jahren Gefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles „lirum larum dumdideldarum“; ({2}) wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann es mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. - Bis zu fünf Jahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommen jetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auch schon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. ({3}) Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; das ist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache, dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo ist denn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangsheirat verhindern. ({4}) Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ich höre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlich auf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbstverständlich, wer hat das Gegenteil behauptet? Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millionen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auch und würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnte ihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich halte das, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwegig. Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu ein Interview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind „erklärende Interpretationen notwendig geworden“. ({5}) Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation notwendig? - Er sagte: Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Namen die Unterdrückung der Frau geschieht, kann nie und nimmer zu Deutschland gehören. ({6}) Der Maßstab für unser Zusammenleben ist das Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen Erbe beruht. Ja, hallo? Wo sind wir denn hier? ({7}) Was hat denn der Bundespräsident gesagt? - Natürlich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unterdrückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass er da ist. - So ein dummes Geschwätz habe ich schon lange nicht mehr gehört. ({8}) Dazu sage ich - auch als Katholik -: Der Apostel Paulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde. Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grundgesetz auch nichts verloren - also, bitte schön. ({9}) Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlange von Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten entschuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Rede hält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Religionen in unserem Land nie mit solchen Reden - ich sage manchmal sogar fast „Hetzreden“ - stören. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: Die Tatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sie nicht gewählt haben, ({0}) mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein, dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir seinerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt und jetzt einen guten Bundespräsidenten haben. ({1}) Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspolitische Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Haus besser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oder bei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parlament ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen. Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun. ({2}) Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bundesregierung nimmt die Integration ernst. Wir werden das fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, das heißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiode werden fortgesetzt. Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sind Sie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie geworden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie heute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen, was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in der Tat sehen lassen. Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefunden ({3}) der vierte steht kurz bevor -, bei denen alle Akteure und alle am Thema Interessierten an einen Tisch gebracht und verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind. Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse überarbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommen worden, und das Angebot an Integrations- und Deutschkursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Personen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigens zwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt irgendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch die Tatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Erfolgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolgreicher Integrationspolitik sind. ({4}) Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisse schon vor der Einreise erworben werden müssen, weil gerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen der deutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Integration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kann ich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. - Wir sind seinerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgermanisierung war die Rede, als wir diese Forderung immer wieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für diese Einsicht. ({5}) Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nicht wirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspolitik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Beispiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt, wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben. Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterführenden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiterführende Schulen und absolvieren in zunehmendem Maße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auch nachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stif6810 Stefan Müller ({6}) tungen für Integration und Migration hat erst vor wenigen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutschland besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, und vor allem auch besser als in vielen unserer europäischen Nachbarländer. ({7}) Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus gemeinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einer solchen Debatte angesprochen werden. Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache, dass es in der Integration auch Probleme gibt - das wird niemand bestreiten -: Zum einen ist die Arbeitslosenquote von Migranten immer noch doppelt so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hinsicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit immer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitens Arbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen. Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftliche Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerkennung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse in Deutschland vorankommen. Das Potenzial, das es in Deutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeit können nämlich viele Migranten nicht in dem Maße beschäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung entspricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Thema angehen. ({8}) Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbildung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu bestreiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immer noch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulabschluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder in der Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei muss der Bund mithelfen, wo er dies kann. Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber auch eines feststellen: Integration braucht einen langen Atem. Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangen worden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahren aufholen. Aber wir sind - das zeigen auch alle Stellungnahmen und Gutachten - an dieser Stelle auf einem guten Weg. Integration braucht aber auch Konsequenz und Verbindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch angewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislich Fälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, der staatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmen seiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, einen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dann können schon heute Sanktionen verhängt und Regelleistungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht muss durchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auch das müssen wir ohne Zweifel angehen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Zusammenfassend kann man feststellen, dass in Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird ({0}) und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Missstände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstverständlich freuen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist überall im Hause angekommen: Deutschland ist ein buntes und vielfältiges Land mit Millionen von unterschiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist die von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrer für Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er als Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen. Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Sein Diplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Ausbildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgreichem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos. Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtlichen Verkehrsbetrieben. Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut er das in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtem Akzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch beigebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprachkurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgesehen. Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für gelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, engagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüber hinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sind auch die drei großen Themen, wenn wir über Integration sprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir in allen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf haben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wie dem von Ardalan. Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition, die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integrationskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwachsenen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deutschen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur Daniela Kolbe ({0}) Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind - das sagen alle - eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Menschen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeit warten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen mindestens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs - täglich werden es mehr -, und das, weil Schwarz-Gelb sehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stellt. ({1}) Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt. Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelisten gelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs beginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. - So lautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickt hat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sich schon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutsche Sprache in ausreichendem Maße erworben zu haben. Das sind genau die Menschen, denen die Regierung jeden Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber einen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahr geben. - Diese Argumentation ist doch schlicht scheinheilig. ({2}) Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Für junge Menschen mit und auch ohne Migrationshintergrund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, ob man sich verständigen und mitmischen kann. Deshalb wurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau der Kitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung? Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kitaausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es ist nichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nur bildungsfeindlich. ({3}) Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen? Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht, dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Signale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten der Integration. Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshintergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zu überwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt so hoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse. Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende der letzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt. Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von Frau Schavan - sie verlässt gerade den Saal ({4}) begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen. Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der Ankündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht dringender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an. Wir vergeuden wertvolle Ressourcen Hunderttausender Menschen. Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichten zudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien belegen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshintergrund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Diskriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegenden Bericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung? Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren - diese sind in vielen Ländern üblich - oder sei es eine aktive Arbeitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung sehe ich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jegliche Bemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. ({5}) Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, in den Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch kluge Stadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteiligung wirksame Programme - „Soziale Stadt“ ist das Programm, das man hier hervorheben kann - entwickelt. Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entsprechenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgen auch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf „Soziale Stadt“ darf zukünftig nicht mehr für - Zitat - „Zwecke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserung von Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen sowie im Bereich der lokalen Ökonomie“ eingesetzt werden. Der Einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte, ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher der FDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen. ({6}) Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug auf das Programm „Soziale Stadt“ gesagt - Zitat -: Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Beispiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchen mit Migrationshintergrund, ist vorbei … Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tasche auf. ({7}) Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sie uns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach Ihre Politik! Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrationsdebatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen. ({0}) Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDPFraktion das Wort. ({1})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgelegten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist. Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland mit einem besonderen Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kommentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an. Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen, dass sie für den Integrationserfolg von Familien und ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind. Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und insofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hierbei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsansätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise das Programm „Mama lernt Deutsch“. Damit werden auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch können, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ihrer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung erfolgreich. Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zugang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbeitet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vorweisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Männer. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer vertreten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbildung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirklich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage, sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbildungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das im Bericht auch seinen Niederschlag findet. Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wurden drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häufiger von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psychosoziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und insofern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was richtig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis herausfinden können. Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situation. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hingenommen werden und schon gar nicht aus religiösen Gründen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müssen Taten folgen. - Ich will Ihnen einmal den „SPD-Integrationsexperten“ Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sich vor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert: Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der Großen Koalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrecht schreiben. Nur so viel zum Thema „Übereinstimmung von Reden und Taten“. ({0}) Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist, dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wir jetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, die auf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen. Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integration einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung nach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluierung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit in Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen. ({1}) Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriften erreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen weiten und großen Bogen um Integrationsangebote gemacht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hineinsenden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispiel dafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integrationspolitik gestalten kann. ({2}) Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leitkultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nicht Erwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagen für unser Zusammenleben definieren? Zur Integration gehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dürfen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer gemeinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. Unsere Aufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entgegentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren, die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihre Freizeit verbringen wollen, die etwa systematisch islamischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unter der Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet, und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen, ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulen anzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Moscheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daran haben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden. Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zur Lebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert. Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken anfügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber fundamentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihm müssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen. ({3}) Wir haben bei der Integration keine Erkenntnisprobleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheit ist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften haben, um den Grundsatz „Fördern und Fordern“ tatsächlich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmöglichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches von Herrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allen staatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbeitet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Ausländerbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten. Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tatsächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IVBehörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeitslose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können, weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu verpflichten, an Integrationskursen teilzunehmen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen - Bund, Länder und auch Kommunen - gemeinsam die Chancen, Integration umzusetzen - sie sind bereits jetzt gesetzlich verankert -, nutzen, dann können wir hier im Bundestag beschließen, was wir wollen; wir werden nicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebenen. ({4}) Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal die Integrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen. Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspiels zwischen Deutschland und der Türkei darf man sicher darauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Integration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist einfach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieser Stelle ein herzliches Wort des Dankes. ({5}) Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick auf unsere ausländischen und insbesondere unsere türkischen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend im Olympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Im deutschen Team stehen Spieler mit Migrationshintergrund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht haben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, die hervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns integriert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabe der eigenen Identität. Aber morgen Abend werden sie alle nach denselben Spielregeln spielen, und darauf kommt es an. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würden uns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aber darauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag warten müssen. Ich schließe die Aussprache. Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke - sie sitzt im Moment links neben mir - zu ihrem heutigen runden Geburtstag. ({0}) Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehnt in prominenter Umgebung und besonders guter Gesellschaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönsten Hoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Präsident Dr. Norbert Lammert Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Auswege aus der Krise: Steuerpolitische Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des Staates wiederherstellen - Drucksache 17/2944 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({2})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir haben gezeigt, was in uns steckt“, gab Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, und das steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuer Schulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze und Waffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Begründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben, was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt. Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnisse gelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen vielleicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, die trotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? Die Linke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabei machen wir nicht mit. ({0}) Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren weiterhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamt sind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sie uns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als „Zukunftspaket“. Pardon, das klingt doch wie Hohn. ({1}) Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ihnen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt: eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alternativen; aber nur, wenn man die alles entscheidende Frage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftet wird? ({2}) Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, die sowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politisches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann doch nicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einiger weniger immer weiter in die Höhe schießen und auf der anderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinder zunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen nämlich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr interessant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeit etwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs pro Jahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl eindeutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten erfolgen muss und dass die Aussage „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ reiner Unfug ist. Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie dem Sachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, so sagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhältnissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 Prozent Lohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß dem Produktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate angepasst werden. - Na bitte! ({3}) Aber da, meine Damen und Herren von SchwarzGelb, hören Sie weg - ebenso wie bei den Hinweisen der EU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wenn Christine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlich auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa hinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragen durch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat eine große Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition: Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situation noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werde seine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumpingpolitik, die Sie mit zu verantworten haben, werden die Menschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erarbeiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flächendeckender Mindestlohn muss her - und das schnell! ({4}) Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 in vielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie in Deutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt: Das ist ein Skandal. Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche und Unternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt. Kapital wird bevorzugt, unter anderem - das ist allgemein bekannt - durch die Abgeltungsteuer. Sie geben den Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohnehin schon immer abzocken. Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Welten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr 2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sachvermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- und Rentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sie einmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel die Leute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden! Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerker aus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerinnen und Rentner! ({5}) Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über gar kein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sind zudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müssen beim Amt aufstocken - trotz Vollzeitarbeit. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sachvermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es ist nicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen, ({6}) aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschen hierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für die Zukunft ihrer Kinder zusteht. ({7}) Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ich sage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus dem Osten stammender Frau doch wirklich die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deutschen Einheit immer noch wie Tag und Nacht. ({8}) Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 in Westdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es in Ostdeutschland um knapp 10 Prozent. ({9}) Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für das Alter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen die Menschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen sie das von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politisch zulassen? Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen: Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhaupt noch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen die da in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnen und Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden? ({10}) Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sondergewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel, liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmal die Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-EuroErhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufen kann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung einrichten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde „zurechtkommen“ soll? Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen: Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökonomisch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das will auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. ({11}) Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahren immer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu verantworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuermindereinnahmen in Höhe von etwa 335 Milliarden Euro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich einmal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht absteigen und zuhören würden, was die Menschen in unserem Lande denken, hätten wir vielleicht alle wieder die Chance, dass eine vorwärtsweisende Politik betrieben wird. Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermögensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermögensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen abzüglich eines Freibetrages von 1 Million Euro - ich wiederhole: 1 Million Euro -, könnten bis zu 80 Milliarden Euro eingenommen werden, ({12}) 80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend für öffentliche Investitionen brauchen. ({13}) Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre es im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nach einem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast 50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zahlen aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssen ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. ({14}) Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaftsteuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie bewusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen. ({15}) Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dass Oma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unternehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem 6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entsprechende Vorschlag liegt auf dem Tisch. ({16}) Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könnten tatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlich drittens durch eine Reform der Einkommensteuer. Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif 2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Einkommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden; alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen darüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfach durch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wir schlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteuersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von 9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochgeführt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent, vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkommensteuer gerecht auszugestalten. ({17}) In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unserer Vorschläge - im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt; ich kann sie jetzt nicht alle erläutern - würde die wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden, denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbelt und die Kassen der Kommunen wären nicht mehr so klamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersenkungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation führen, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sage Ihnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation. Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meine siebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ihrer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nicht mehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. Tun Sie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sie endlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen, nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regierenden. Ich danke Ihnen. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus der Krise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpolitische Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen: ({0}) die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhung der Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemein die Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einer Kerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, ({1}) eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebung der Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer. ({2}) Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegen alles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. ({3}) Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu erkennen, dass die von Ihnen jetzt - in der Phase des Aufschwungs - geplanten massiven Steuererhöhungen den Aufschwung beenden würden. Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungen der letzten Jahre. Sie sprechen gar von „Steuerdumping“ in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Empfänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Menschen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die den Karren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in einem Niedrigsteuerland zu leben? ({4}) Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letzten fünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind 72 Milliarden Euro Mehreinnahmen. ({5}) Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquote an: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben und Lohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sind wir im internationalen Vergleich an dritter Stelle der Rangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbesteuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist, liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastung für Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozent weltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuerländer. Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdumpings seien unsoziale Ausgabensenkungen. ({6}) Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben der letzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von 50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, im Jahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen. ({7}) Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehr als verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken. Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen. ({8}) Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn man den Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub, das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, um dieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf! Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befinden uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch für den Bereich der Steuern. ({9}) Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unangenehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht handeln, als wäre man auf einer einsamen Insel. ({10}) Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Politik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aber es ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht in den Sand stecken: Wir sind in eine internationale Entwicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nation nicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zu halten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbewerb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesem Land sichern und den breiten sozialen Wohlstand in diesem Land erhalten. Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgängerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Beginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit 5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet; heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen, Tendenz weiter sinkend. ({11}) In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäftigung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden international dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern, wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steuerpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeit boomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich 2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder auskömmliche Arbeit finden. ({12}) Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieser Krise ziemlich hinterher. ({13}) Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschaftswachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent. ({14}) Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze, es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunktur zieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstimmung in unserem Land ist wieder hervorragend. Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen, machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in die Krise. ({15}) Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünfprozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert von über 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herrlich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Armen; Robin Hood lässt grüßen. ({16}) Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachen nicht stark, indem Sie die Starken schwächen. - Sie schlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer auf Vermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Immobilienvermögen hat - in Ihren Augen sind das die bösen Menschen -, dann erzielt man eine durchschnittliche Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun 5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschen nicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie. ({17}) Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unserem Land? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen? ({18}) Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mit Ihrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlich helfen wollen. ({19}) Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auch noch den Spitzensteuersatz erhöhen. ({20}) Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land 10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereits mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamten Steueraufkommens schultern? ({21}) Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland. Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ich klaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Land viel bietet. ({22}) Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheit und gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben eine hervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlast und die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben, wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt, ({23}) wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dann sind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werden Sie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unserem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften und anderer Staaten nicht mehr widerstehen. ({24}) Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung und Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die meisten Menschen sind so - Sie mögen das beklagen -: Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt. ({25}) Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am besten wissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem real existierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nicht die Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Es muss sich lohnen, dann strengt man sich an. ({26}) Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit den Konjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz haben wir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar erfolgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennen kann. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({27})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuerpolitik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von beiden Seiten präsentiert zu bekommen. ({0}) Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideologie? Wenn Herr Gutting sagt: „Leistung muss sich wieder lohnen“ - und damit die Steuerlast anspricht -, dann vergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockung zu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihre Leistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ich finde, das ist ganz schön viel Ideologie. ({1}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind. Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bellen, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sich selbst klären. Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, darüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Das wäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damit aufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuern als gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheitsideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht. Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genau überlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen. ({2}) Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen werden, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von „wir“ spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit „wir“ gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter thematisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wollen dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaft entsteht. Das „wir“ steht nämlich für diejenigen, die hier leben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hier Arbeitsplätze schaffen. Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdings schade - das habe ich bei beiden Rednern heute hier gemerkt -, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgt ist. ({3}) Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigens die Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nicht allein die Steuerlast. ({4}) Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eine niedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hoch sind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; sie werden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlasten. Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist, dass es sich bei den eingenommenen Steuern um die Mittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuern brauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet - ich habe das schon gesagt -: Wenn es um die Höhe der Steuern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel der Staat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklich nichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschaftspolitischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Ausgleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen kann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört für mich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieg haben. ({5}) In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durch sie können wir organisieren, dass Menschen Chancen auf Bildung und Aufstieg haben. ({6}) Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuersenkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbstzweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hohe Steuern nur wegen der Umverteilungswirkung als Selbstzweck hinzustellen. ({7}) Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Analyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteilten Steuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann, wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es kein Missverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steuerlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie gerecht es in einer Gesellschaft zugeht. ({8}) - Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit dem progressiven Tarif kommen. ({9}) Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dass man sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteuerung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse gehört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insgesamt verteilt ist. ({10}) Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf die Statistik der OECD. ({11}) Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen die Statistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach, sie sei falsch. ({12}) Mit dieser Statistik - ich sage das, damit alle verstehen, worüber wir sprechen - hat die OECD Deutschland eindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleich nicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi anführen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unter dem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nicht gleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es gehört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nachzudenken, wie wir diese Schieflage verändern können. Das gehört einfach zu unseren Pflichten. ({13}) Bei der Analyse der Situation muss man sich einige Fragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zum Beispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bildungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinder anbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner sicherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsdefizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunen erwarten - das sind ihre eigenen Angaben -, können diese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegen haben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu überlegen, wie wir das ändern können. ({14}) Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuer in den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagen wurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteuereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas anderes. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmen trotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagen wir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaffung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eine Stabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg bringen wollen. ({15}) Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit den derzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungsangebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eine Frage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondern auch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bildungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschaftspolitisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges angekommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wir müssen ehrlich miteinander umgehen und nicht möglichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren. Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in der Lage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürger und Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wir tatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse setzen? Können wir genügend Geld für Investitionen und Forschung ausgeben? Können wir tatsächlich für eine positive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wir dafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nachhaltig wirtschaften? Das sind die Fragen. Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzugestehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändern kann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen einige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist doch klar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifen müssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlaments akzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet. Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen. Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- und Abgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässliche Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenen zu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Weg zu diesem Ziel muss gerecht sein. ({16}) Deshalb sprechen wir uns - ich habe das schon angesprochen - für eine stärkere Besteuerung der privaten Vermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Milliarden Euro durch 5 Prozent - das ist illusorisch. Das ist völlig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wenn man über eine gerechte Verteilung redet, muss man auch die Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sage ich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können, um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auch steuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermögensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wie Sie sich das vorstellen. ({17}) Wir wollen - das hat die Sozialdemokratie beschlossen - bei der Einkommensbesteuerung einen höheren Spitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt. Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben, das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesem Fall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser erfüllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt - ich möchte es jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederholen -, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuer wollen. Im Übrigen - das finde ich ganz wichtig, wenn wir über Föderalismus reden - wollen wir, dass der Steuervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführt wird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit. ({18}) Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einem stimmigen Paket zusammenzufügen: ({19}) solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglichkeit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirtschaft auf der anderen Seite. Beim Begriff „stimmig“ lohnt sich ein Blick in den Antrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz ersparen. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass darin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. - Auf den zweiten Blick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Beispiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern weniger einnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz einführen. - Ich verstehe nicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahr nachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermäßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geld nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommt. ({20}) Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamenten auf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten, obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermäßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei den internationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll daran gerecht sein? Ich bitte Sie! ({21}) Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßigung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchern ankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich gesagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalb werden wir diesem Antrag nicht zustimmen können. ({22}) Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich ein ausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionen und gerechter Steuerverteilungspolitik. Vielen Dank. ({23})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist. Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser Luftbuchung in diesem Staat gar nichts. ({0}) Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze gefährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen. ({1}) Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrieben. ({2}) Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres Antrags. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutieren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit bekommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei der Mittelschicht sind? ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der Mitte sein möchte. ({0}) Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie haben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt, die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlossen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfähige Mitte dieses Landes ({1}) nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt werden darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesrepublik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt einen Mittelstandsbauch ({2}) und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Menschen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mittleren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert. ({3}) Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittelstand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie 80 Milliarden Euro jährlich ({4}) - lassen Sie mich doch antworten! - durch eine Vermögensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Mittelstand ({5}) - ich bin noch nicht fertig - herausziehen möchten, dann können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag. ({6}) Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden. Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersystem - nur darüber hat er gesprochen -, völlig zu Recht sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt, wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren. ({7}) Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, sondern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System beruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen, sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht versteht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins gleiche Horn bläst, ist bedauerlich. ({8}) Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen Verteilungsstaat; ({9}) deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen gesprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender, sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozialstaat. ({10}) Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtigkeit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Troost?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage stellen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die seitdem gemacht wurde, verloren gegangen. ({0}) Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leistung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuermehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtigkeit sorgen? ({1})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum. Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgendwelche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen der Realität überstülpen und würden dann ein auch nur ansatzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wie gesagt, ein Irrtum der Linken. ({0}) Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unter der Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat. Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auch unter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiv entwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneut nach oben korrigiert. ({1}) Was auch Sie freuen sollte - hier sollten Sie wirklich etwas Positives für die Regierung übrig haben -, ist, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt. ({2}) Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wollen. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorientierten Politik. Ihre Vergleiche hinken. Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf einem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalition wie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tun es nicht. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Widerspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille. ({4}) Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Beitrag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antrag wieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuersatzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhalten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu jeder Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehoben und der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinuierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unteren Einkommen getan. ({5}) 1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Euro bei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heute liegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Prozent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für die Empfänger niedriger Einkommen negativ und für Spitzensteuersatzzahler positiv darstelle. ({6}) Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beim Spitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, während sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegenteilige Entwicklung. ({7}) Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu einem Steuersatz der Mitte gemacht. Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reiche Leute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wiederholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damit hinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschland ist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebildete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichen Leuten oder von Millionären. ({8}) Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mitte in Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die die Mitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassieren wollen. ({9}) Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu, dass die Leute Ihnen auch noch glauben. ({10}) Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz der Steuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitte ist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit sozialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen und Herren. ({11}) Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass starke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigentliche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen und auch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Grenzen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebende Mitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen geben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft. ({12}) Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird unser Wohlstand erwirtschaftet. Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Sie doch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkommen in Deutschland, ({13}) die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauch und kalter Progression auch während der Krise dazu beigetragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt und dass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Das ist die Leistung der Mitte in Deutschland. ({14}) Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann, ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl, liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in der Krise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutschland danken: ({15}) danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finanzierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte in Ihrem Antrag stehen müssen. ({16}) 5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirtschaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteueraufkommens. ({17}): 35 Prozent der Gesamteinkommen!) Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften 5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollen alles machen. ({18}) Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtigkeitsfrage. ({19}) In Deutschland darf gesagt werden - Herr Kollege Gutting hat es ausgeführt -: Leistung darf sich lohnen; Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Menschen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ihrer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen und die investieren. Ich denke dabei an mittelständische Unternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risiken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft glauben. ({20}) Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern, immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasien sind schlicht und einfach nicht finanzierbar. ({21}) Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte in Deutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umverteilungsfantasien immer noch nicht finanzierbar. ({22}) Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfolgen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land. Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht aufbauen helfen. ({23}) Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass die Linke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuern kämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür, dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie auf Sozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgen sie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen sprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nicht einmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Ratschläge nicht. Sie führen die Menschen mit falschen Informationen hinter die Fichte ({24}) und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandes dieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag selbstverständlich ab. ({25})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich den Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darüber nachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich umgehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: ein bisschen Nachdenklichkeit darüberschütten. ({0}) Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen die Ziele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zu erreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen, dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Arm und Reich umkehren müssen und dass wir die Binnenkonjunktur stärken wollen, natürlich teilen. ({1}) Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil Ihr Konzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit entfernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen darüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen muss. ({2}) Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzept vor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen. Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung von Steuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teil pseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel bei den ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer, dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wie hoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter dem Strich haben Sie sich sage und schreibe 179 Milliarden Euro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit Ihrem Ziel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassen soll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entziehen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne, ein Rätsel. ({3}) - Das steht da aber nicht. - Ich habe noch einmal in Ihren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen ein Konjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Das ist eine Mininummer gegenüber diesen 179 Milliarden Euro. Das passt also schon einmal hinten und vorne nicht zusammen. ({4}) Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwerfen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernst nimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnen ansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzurechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 Milliarden Euro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wir Ihre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber die Finanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzierungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschläge nicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag ist schlichtweg nicht ernst zu nehmen. ({5}) Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vor der wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsende Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wieder zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber es braucht nun einmal ernst zu nehmende Verbündete. Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistet die Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vor dem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Beitrag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute - so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet - leistet sich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter, insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern, personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung inzwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanzämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigen Steuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast unendlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar. ({6}) Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden. Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die Journalistin Tissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, angesichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschen verunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehr grundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen: Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirtschaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozialstaatsmodells? Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesellschaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Darauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkreten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbare Vorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion. ({7}) Besonders geärgert habe ich mich über Ihre sogenannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermögensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wieder eine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhebung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, die wir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen, werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen. Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieser Situation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allen Ernstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einem Steuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nicht genug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzept müssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen von nicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um die Steuern zahlen zu können und bei plus/minus null herauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit seiner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. Im Normalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Das freut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker. ({8}) Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch? ({9}) Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwert verliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Bei einer Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisverfall bei Aktien, Häusern, Unternehmen und Betriebsvermögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Prozent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt, nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen. Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Konzepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischen Glaubwürdigkeit - das kann mir herzlich egal sein -, sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe. ({10}) Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer jeden ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mit diesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allem der Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einen Bärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf: Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmal neu an! ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dr. Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermögensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und das Thema wieder angehen wollen. Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir haben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten. Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen. Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte politisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteuert werden müssen. Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben einen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing. Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen. Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz andere Renditen erwirtschaften. Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von 1 Million Euro nicht sakrosankt - das ist damals selbst in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich abgelehnt worden -, wenn man mit einer Besteuerung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Darüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben und als sakrosankt erklärt werden? Hier ist über die Leistungsträger gesprochen worden. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Verschiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenommen werden, kommen aus der indirekten Besteuerung. Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag. Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müssen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteuern. Das muss man vorneweg stellen. ({0}) Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag richtig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe Koalition eingeführt hat. ({1}) Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu einem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro. Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf die kalte Progression ein.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Redezeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mittlerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseitewischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das die Unwahrheit. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zur Erwiderung, Frau Paus.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren, wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetziger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorgeschlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sachverstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt, Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen einen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre, Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promovierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein solcher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann - es tut mir leid - die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht. Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutschland tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Koalition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bärendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren. ({0}) Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gelegenheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünftigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann! ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht sollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik noch einmal untereinander klären. Normalerweise sollten Opposition und Regierung hier miteinander ringen. ({0}) Ich will auf einen Punkt hinweisen - ich habe der Debatte sehr intensiv gelauscht -, der mir auffällt. Ich habe den Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaft bemühen, im Detail darum zu ringen, welches der richtige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche die richtige Verteilung der Lasten ist - das betrifft letztendlich rund 82 Millionen Deutsche -, die dazu beiträgt, dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeit herzustellen - Starke müssen gefordert und Schwache gefördert werden -, nachkommen kann. Keiner von uns hat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. Die Welt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutschland muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen. Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstellen. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genannten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig. Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland - übrigens am stärksten unter Rot-Grün - immer weiter auseinandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen es in diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kindern einen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektive zu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschuldet ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesellschaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Land leben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beantwortung der Frage befasst, was wir tun können. Woher können wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen, wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Generation nicht die richtige und verantwortungsvolle Antwort sein können? ({1}) Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung der Schuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt. Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt - ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fanden ihn wahrscheinlich ehrlich -: Es gibt eine Alternative. - Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Parteien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodells soziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, die eine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mit der heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat. Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ich werfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim. ({2}) Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ich sage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sie ist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt gescheitert. ({3}) Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch das gehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellung von dieser Gesellschaft. Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe den letzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hat damals an der einen Laterne plakatiert - Sie erinnern sich vielleicht -: „Reichtum für alle“. An der nächsten LaDr. Frank Steffel terne hing ein Plakat: „Reichtum besteuern“. Ja, meine Damen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steuern für alle. ({4}) Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklich geht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhaupt nichts zu tun. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auch mit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierige Debatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zum Teil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet und damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weiß auch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuer nicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unternehmensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlich auch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massiv dazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in den Kommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung stehen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern. Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennen aus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfeld das Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert, man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steuern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen. Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteuern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zahlen, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. Meine Damen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen in Deutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- und Einkommensteuern. ({6}) Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen. ({7}) Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl: 50 Prozent der Steuerpflichtigen - das sind übrigens auch fleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen aufstehen und arbeiten - zahlen nur 5 Prozent der Lohn- und Einkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Menschen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Eindruck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem, der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen. ({8}) Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Entscheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit diesem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euro erhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungsbeiträge abgesetzt werden. Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in Deutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen keinen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganz soziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerechter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Gesellschaft schon überhaupt nicht mehr. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wir haben weitere Fakten, die spannend sind. Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch das kurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grün gesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach der deutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu bewältigen, um das auch einmal klar zu sagen. ({0}) Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Prozent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch das nur zur Versachlichung der Debatte. Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 Prozent Reichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind 47,48 Prozent. Hinzu kommt - dies möchte ich auch einmal erwähnen -, dass 55 Millionen Deutsche Mitglied einer Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oder fast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 Prozent Kirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinnvolle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergebnis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Menschen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, den man verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch das gehört zur Wahrheit in diesem Land. ({1}) Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden von Millionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zuschauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es in Deutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Million verdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es 9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Million verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob sie zu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade recht ist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschen brutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zum Sozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen und in die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich für größer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debatte hilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millionäre. Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indirekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt es Gerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren des täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt man in diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer, nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonsten für alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir in den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese 7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit der Mehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel - das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die wenig Geld haben - weiterhin nur mit 7 Prozent besteuert werden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwortungsvollen und gerechten Politik. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von den Steuern, über die wir hier alle reden und streiten, im Bundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandt werden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers, wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt, die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnen übrigens alle gerne geben. Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedanken von Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende des Versorgungsstaates der soziale Untertan steht und nicht der eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tun nach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zuzutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialen Marktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durch permanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zu machen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschaft hemmt und zweitens nach meiner Einschätzung dieses Land im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nicht voranbringt. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Troost.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik. Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: „Soundso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der Steuereinnahmen“; aber man muss auch einmal zur Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkommenskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen 10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesamten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen, sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Einkommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach einmal genau anschauen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Armutszeugnis - das muss ich in der Tat so sagen -, dass hier von der Regierungskoalition immer wieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnen muss. ({0}) - Herr Wissing, melden Sie sich. ({1}) Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvollziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einer Zwischenfrage nehme ich mir gerne. - In der Tat müssen Menschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem, was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nicht leben können, ihre Familie nicht ernähren können, anschließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bitte noch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leistung muss sich lohnen. ({2}) Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch ist oder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde es menschenverachtend. ({3}) Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es hier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruck gewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktionen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hier gemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderem verursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkte der Krise im Einzelnen beschreiben und national bewältigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionen hier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werden wollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hier von der Regierung - zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, es handele sich teilweise um einen Selbstfindungsklub - auf den Weg gebracht worden ist, war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich für die Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungsträger Politik machen wollen. Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechen auf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebene oder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten Endes Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau von der Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen der Haushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist; es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die Petra Hinz ({4}) Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie in Sportvereine und woandershin gehen können. ({5}) Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Finanzsituation stecken? ({6}) Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzen Beschlüssen, die Sie hier gefasst haben - Klientelpolitik und Geschenke -, den Kommunen in dieser schwierigen Situation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil alles so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigsten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Gebührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Ende vom Lied. Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistiken oder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafür gibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen, dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darüber nachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, um eine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzufinden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichenden Einnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren für Bibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater und sonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyen ach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förmlich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bildungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das ist heuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommunen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmen und auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnen ganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sind dann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keine Leistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert würden. Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdem Sie die Verantwortung haben oder wenigstens hätten übernehmen sollen - Sie sollen endlich einmal dazu stehen, dass Sie Verantwortung haben -, dazu beitragen können, dass die Kommunen entlastet werden. Aber nein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein, die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Gewerbesteuer abzuschaffen. ({7}) In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemeinsam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema überhaupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alternative zur Gewerbesteuer gibt. ({8}) Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überraschungspaket herauskommen wird; denn wir bekommen im Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nachfrage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nur einen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich darauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koalition dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde. Nicht zuletzt war es unser Finanzminister Peer Steinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tisch gelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelligente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten. Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei Ihrer Klientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastung der Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen, dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmen mussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern haben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommunen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist absolute Klientelpolitik. ({9}) - Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einen Mindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wir brauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden; aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sich dann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einen Mindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich, wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, der gerade einmal 8,50 Euro bekommt - das wäre gerade so eben ein Mindestlohn - zu leisten hat? Davon haben Sie gar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinversetzen können. ({10}) Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro verdient - es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigentlich mehr -, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro an Steuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehören die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich den Menschen helfen zu können. Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen - ({11}) - Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lächelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit den Nöten der Menschen umgehen, dann wundert es mich auch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, warum wir einen Mindestlohn brauchen. ({12}) Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Über diese Menschen müssen wir uns unterhalten ({13}) Petra Hinz ({14}) und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und für das Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wenn wir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir alles das angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlich angesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Notlagen, öffentliche Infrastruktur. ({15}) Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich muss sagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punkten, über die man im Einzelnen reden müsste. ({16}) Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ihrer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nachzuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion im Ausschuss gespannt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Daniel Volk. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es gerade sehr faszinierend, ({0}) dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölf Monaten alles nicht gemacht haben, ({1}) aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen. ({2}) Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier als Wunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsverantwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Beitrag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis. ({3}) - Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regieren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie sich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koalition in bester Partnerschaft Regierungspolitik zum Wohle unseres Landes gestalten, ({4}) im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanzminster - einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so -, gerade im Bereich der Kommunalfinanzen. Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenig Einnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügung hätten. ({5}) Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, und das war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverantwortung. ({6}) Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass die Übertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ihnen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der damaligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssen Sie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen. ({7}) Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Es hat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-rote Regierung in diesem Land machen würde. ({8}) Frau Kressl hat uns dargelegt ({9}) - pastoral -, man müsse sich zunächst Gedanken darüber machen, wie viel Geld der Staat brauche, ({10}) erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuerbelastung sein müsse. ({11}) Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landes sollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen. ({12}) Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei. ({13}) Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich - ganz deutlich - in die Erhöhung der Neuverschuldung zu gehen. ({14}) Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbiges auf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahrscheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt der Linkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie duldet. ({15}) Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatzpunkt. ({16}) Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen, wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich ({17}) zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlast der Bürger aussieht. ({18}) Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen würden. Sie haben ja die Maßnahmen genannt. Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, Frau Paus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabe einführen wollen. ({19}) Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich finde es übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazu führen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw. konservativ anlegen - Kollege Gutting hat es ausgeführt -, aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten. Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskanten Spekulanten machen. ({20}) Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas, was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen. ({21}) Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderen Bereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit in diesem Land geben würde und diese an die Macht käme. Diese würde - Sie sagen das so schön - für eine Verstetigung der Gewerbesteuer sorgen. ({22}) Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verstetigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbesteuerung. ({23}) Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden Sie Betriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe in Deutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland ziehen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Betriebsführung überhaupt noch möglich. ({24}) Es ist also sehr interessant, was passieren würde, wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Macht übernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, es gäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigens mit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegenden Einkommensklassen. ({25}) Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteuerung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erbschaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung, dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die innerhalb der Familie weitergegeben werden sollen, so stark zur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären, diese Unternehmen plattzumachen. ({26}) Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik. Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt diese Bundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktdaten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistung kann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sinken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koalition. Vielen Dank. ({27})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat es schon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhe von 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro von den Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plädieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aber die Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierung des Staates haben eine große Bedeutung. Ich will deshalb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuern und Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze. Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ist es natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen Infrastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlast von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger ist inakzeptabel. ({0}) Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Unternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht, wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligt werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräftemangel begegnet man mit besserer Bildung; diese muss finanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Datennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es ist also ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen an der Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu beteiligen. ({1}) - Hören Sie zu. So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig. ({2}) Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eine Statikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber ein Ingenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuerpflichtig ist. ({3}) Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigt werden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebung der Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu den Kommunen. ({4}) Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würde ein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraum für eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung auf die freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung genommen würde. Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zur Finanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuziehen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu berücksichtigen. ({5}) Es geht um eine faire Belastung von Konzernen und kleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass zum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsbanken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körperschaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch bei den Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairen Ausgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne genauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Es muss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogen ist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen. ({6}) Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet, dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koalition vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Denn wir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen, der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Man kann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Fraktion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobby macht, ({7}) wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre. ({8}) Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßigung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nicht das geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördern und zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Das wissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um die Hotelbeglückungssteuer. ({9}) Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung der rein branchenspezifischen und nicht ausreichend begründeten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazu zählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in den von Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchgesetzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen für Schnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaffung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis 4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu reDr. Thomas Gambke alisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Stabilisierung der staatlichen Einnahmen. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lutze?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufgezählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein ermäßigter Steuersatz erhoben wird?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhören, werden Sie meine Aussage dazu hören. Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Lebensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen ausnehmen. ({0}) Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der Abschaffung von Branchensubventionen - Hotelbeglückung - die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die CSU - so hört man - noch immer eifrig ihre Klientelgeschenke. ({1}) Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem schwierigen Feld. Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteuersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförderung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen. ({2}) Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche Anliegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer, die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unternehmensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne verhindert. Das müssen wir umsetzen. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäftigung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint haben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die vereinigte Opposition darüber streitet, wer am besten Umverteilungsorgien gestalten kann. ({0}) Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteil dieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeit der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattieren können. Ich sage frank und frei - das möchte ich für die Unionsfraktion festhalten -: Die CDU/CSU-Fraktion möchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben, um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurs zur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazu gehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesserung unseres Steuersystems durch eine umfassende Steuervereinfachung. Wir werden im Januar des kommenden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unterbreiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von der Kollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensiv vorbereitet worden. Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie im Steuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch bei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wir werden eine Kommission einsetzen. ({1}) Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichenstellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werden die Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht auf die lange Bank schieben, weil die momentane Situation nicht so bleiben kann. Nun zu sagen: „Es waren die Wünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwierigen Abgrenzungen geführt haben“, ist falsch. Ich kann mich an die lange, intensive Diskussion mit der Kollegin Scheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Sie müssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetragen hat. Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig auf den Bereich der Daseinsvorsorge - Lebensmittel und kulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personennahverkehr halte ich für wichtig - beschränkt werden würde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen verwenden, um die kleinen und mittleren Einkommen in Verbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten. Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa 5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittleren Einkommen, insbesondere was den Mittelstandsbauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein. Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht die Wachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Es muss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voranzubringen, und das werden wir auch tun. ({2}) Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unser Vorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nicht ohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschuldung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen. ({3}) Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenreduzierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beiden Seiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wir dort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvoll und notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertragsteuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch die Grundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapitalbildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden. Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesem Bereich etwas tun würden. Wir haben bereits - das war wesentlich für die Krisenbekämpfung - die unteren und mittleren Einkommen entlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich. Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohen Freibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euro in die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik. ({4}) Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und weniger Transferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dass Sie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wollen. ({5}) Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auch in Ihrem Antrag verfolgen. Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, die Schuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zukunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zu schaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstand für alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechten Besteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähige nicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zu schaffen. Leistung muss sich lohnen. ({6}) Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch für den Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuerstatistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse verzeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert. Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbewerb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht einfach so tun, als wäre man allein auf der Welt. ({7}) Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurf ist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. Ihr Konzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher ein Weg zurück. ({8}) Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die vielleicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft, sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sich die Statistik über die Steuerzahler und die Belastungswirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Menschen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt natürlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügung hat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehr Verbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grundlage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie der Kollege Dr. Steffel gesagt hat: ({9}) Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Prozent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steueraufkommens. ({10}) Das ist die Realität. Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzentration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land 9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlageoder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auch automatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Arbeitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschen nicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnen doch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risiko und mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sich im Großen und Ganzen - wir müssen sie im Einzelnen betrachten - ihrer Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehr wohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass diese Leute an den Pranger gestellt werden. ({11}) Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auch die Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute in vielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent besteuern. ({12}) Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. Wenn Sie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermögen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Erhöhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen. Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dann reichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist also alles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles keinen Sinn. Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, die Sie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn machen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dann müssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mitteln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Betriebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Vernunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich braucht der Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhalten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize geschehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steuerpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Arbeit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik der Vernunft, wie wir sie betreiben. Herzlichen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägen für Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen, der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneut versucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zu verändern, ({0}) ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission abzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vor den Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission haben und warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, die im Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde es denjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeit und Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair, die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost, erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hier führen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutieren können. In der Kommunalkommission dürfen sie mitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, über die Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden. ({1}) Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Vertretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände gemeinsam nach Lösungen suchen. Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abgewinnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer umarbeiten ({2}) und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehreinnahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro. ({3}) Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie gehen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für die Unternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder 14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen. ({4}) Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriöser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich inhaltlich besser mit ihm befassen können. ({5}) Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Gewerbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen bei der Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfahrungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurechnung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu einer Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. Die Unternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in die Krise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen, die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unternehmen, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogar Verlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in der Verlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Sicherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wir nicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versuchen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzunehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunen finden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommission Vorschläge unterbreiten. ({6}) Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan der Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, und zwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon betroffen wäre - Sie wissen selbst, dass mich das aufgrund der Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belasten würde -, sondern weil wir uns in anderen Gremien viel Mühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Was würde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler bedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler. Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärungen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheide und 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide bedeuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge, durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden; ({7}) denn in ganz großem Umfang würde das über die Einkommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ihnen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund das Geld einfach so an die Kommunen überweist. Die Bürokratie und die damit verbundenen Kosten könnten wir uns dann sparen. ({8}) - Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kann den Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigene Zuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlich beschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. In der Krise hat er das ja auch getan. Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheiten komplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie können das aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keine Phase, in der die Kommunen stärker belastet wurden als zwischen 2002 und 2005. ({9}) SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruin getrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesituation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der 10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zur Verfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeindefinanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dass wir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnis beenden können. Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewerbesteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aussage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu. Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hält Sie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag, den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteres Mal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlich nur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen. Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Milliarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzigen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darum gebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzichten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirksam, aber Fakten schaffen Sie nicht. Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haushaltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf 1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispiel nennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: Die Städte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispielsweise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro Einwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Delmenhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also die Gewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden Sie Städten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sorgen haben, würde das gar nicht nützen. ({10}) Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zugestehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie, dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aber legen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen, die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor. ({11}) Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter der Kommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Troost?

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so - das wissen wir -, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert. Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Gewerbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher gerechtere Verteilung. ({0}) Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen werden, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebetriebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Natürlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen besonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kommunalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu stabilisieren.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es andere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit der Gemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen. ({0}) Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warum Sie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung der Gewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nicht getan. ({1}) - Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. - Ich würde jetzt gern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dass die Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nicht so stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ich nicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch die Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuen Ländern erzielen natürlich andere Einkommen als die in den alten Ländern. Also werden die Verwerfungen bleiben. Wir können diese Diskussion gern fortführen. ({2}) Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbesteuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfungen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zu ändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen daraus aber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieser Antrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungen ja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen. ({3}) - Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohr nicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn das lenkt mich von meiner Rede ab. Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitiker sich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen Ihre Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollends über den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender einen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert. Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostet die Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhöhung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II und bei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhöhung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Milliarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich 143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu massiven Problemen. Wir werden auch das in der Kommission besprechen müssen. Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bildungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch werden die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme das kostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kommunen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kinder ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten und Schulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind und Mahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür investiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es Sozialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuch von kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipation in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wird der Bund im Rahmen des Bildungspakets in Zukunft Kosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insgesamt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld kommt bei den Menschen auch tatsächlich an. Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachweisen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Für das kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro, die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen 1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützung von Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf 150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürftiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf 40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Euro werden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Arbeit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dass die Kommunen entlastet werden, oder dazu - das würde ich mir wünschen -, dass diese Angebote ausgeweitet werden können, sodass alle Kinder, auch Kinder aus Niedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können. ({4}) Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatte führen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städten gemacht werden. Diese Städte können künftig auf die Unterstützung des Bundes hoffen. Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister und Stadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatte einzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur so gut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter gemeinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurch das eine oder andere Problem in den Kommunen gelöst wird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Diskussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht ständig zu zerreißen. Danke. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein- verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 l und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) - Drucksachen 17/3116, 17/3211 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwi6838 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Belgien, der Regierung der Französischen Republik und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg zur Einrichtung und zum Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemeinsamen Grenzgebiet - Drucksache 17/3117 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon - Drucksache 17/3118 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) Rechtsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2011 ({4}) - Drucksache 17/3119 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein- barung vom 20. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Quebec über Soziale Sicherheit - Drucksache 17/3120 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits ({6}) - Drucksache 17/3121 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Betroffene Kultureinrichtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone angemessen entschädigen - Drucksache 17/3177 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({9}), Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern - Drucksache 17/3178 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Ortel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik zum Erfolg führen - Drucksache 17/3179 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({11}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen der EU-Fischereireform 2013 nutzen und Gemeinsame Fischereipolitik grundlegend reformieren - Drucksache 17/3209 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({13}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nachholen - Drucksache 17/3210 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({14}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({17}) Innovationsreport Blockaden bei der Etablierung neuer Schlüsseltechnologien - Drucksache 17/2000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({18}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 5 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schaffung von Rechtssicherheit für Carsharing-Stationen und Elektrofahrzeug-Stellplätze - Drucksache 17/3208 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung ({20}) - Drucksache 17/3183 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({21}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sank- tionen aussetzen - Drucksache 17/3207 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln - Drucksache 17/3206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({22}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist; es geht dabei um den Tagesordnungspunkt 33 k. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nachholen“ auf Drucksache 17/3210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Zunächst stimmen wir über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt. Nun stimmen wir über den Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ab, das heißt Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Nun kommen wir zu den unstrittigen Überweisungen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zu dem Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes auf Drucksache 17/3116 - Tagesordnungspunkt 33 a - liegt zwischenzeitlich auf Drucksache 17/3211 die Gegenäußerung der Bundesregierung vor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie mit all dem einverstan6840 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt den? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 34 a bis 34 q. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 34 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Bereinigung von Bundesrecht - Drucksache 17/2279 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23}) - Drucksache 17/3109 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Silberhorn Dr. Edgar Franke Jens Petermann Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3109, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2279 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 34 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. März 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Informationsaustausch - Drucksache 17/3026 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({24}) - Drucksache 17/3200 Berichterstattung: Abgeordnete Daniela Kolbe ({25}) Dr. Thomas Gambke Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3026 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 34 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Finanzbeiträge der Europäischen Union zum Internationalen Fonds für Irland ({26}) - Drucksache 17/2629 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({27}) - Drucksache 17/3232 Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Jasper Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3232, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2629 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung, nämlich mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen. Tagesordnungspunkt 34 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zweite Verordnung zur Änderung der Mauthöheverordnung ({29}) - Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3161, der Verordnung auf Drucksache 17/2891 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den StimVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({30}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart Judith Skudelny Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3170, der Verordnung auf Drucksache 17/2821 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31}) zu der Unterrichtung Grünbuch zur Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungspolitik ({32}) KOM ({33}) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10 - Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Burkhard Lischka Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Ich lasse über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({34}) - Herr Kollege, ich registriere die Mehrheiten auch ohne Ihre Kommentare. Ich danke Ihnen. ({35}) Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 g: Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009 - Drucksache 17/3100 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Michael Grosse-Brömer Bernhard Kaster Christian Lange ({36}) Stephan Thomae Dr. Dagmar Enkelmann Dazu liegt eine persönliche Erklärung der Kollegin Dr. Enkelmann nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 34 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({37}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Die Fußballweltmeisterschaft - Eine Chance für Südafrika - Drucksachen 17/1959, 17/2493 Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer ({38}) Dagmar Freitag Jan van Aken Kerstin Müller ({39}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2493, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1959 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 i bis 34 q. Tagesordnungspunkt 34 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 138 zu Petitionen - Drucksache 17/3069 - 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 138 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 34 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 139 zu Petitionen - Drucksache 17/3070 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 139 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 34 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 140 zu Petitionen - Drucksache 17/3071 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 141 zu Petitionen - Drucksache 17/3072 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 34 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44}) Sammelübersicht 142 zu Petitionen - Drucksache 17/3073 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 34 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45}) Sammelübersicht 143 zu Petitionen - Drucksache 17/3074 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46}) Sammelübersicht 144 zu Petitionen - Drucksache 17/3075 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 34 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47}) Sammelübersicht 145 zu Petitionen - Drucksache 17/3076 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 145 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 34 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48}) Sammelübersicht 146 zu Petitionen - Drucksache 17/3077 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Damit haben wir alle diese Abstimmungen über die Bühne gebracht. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({49}) zu dem Antrag der Abgeordneten ErnstReinhard Beck ({50}), Peter Altmaier, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung - Drucksachen 17/2433, 17/3229 Berichterstattung: Abgeordnete Henning Otte Elke Hoff Harald Koch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde darüber zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Regierungskoalition zur Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung unserer Soldaten ist notwendig, richtig und angemessen. Warum? Weil die Erfahrung im Umgang mit der Versorgung von Soldaten im Einsatz ungerechtfertigte Versorgungslücken für Berufssoldaten, insbesondere für Zeitsoldaten, für freiwillig länger Dienende und für Reservisten deutlich gemacht hat. Die versorgungsrechtlichen Regelungen für Soldaten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Schaden kommen, sind in den letzten Jahren bereits wesentlich verbessert worden. Auf Initiative unseres früheren Bundesministers der Verteidigung, Franz Josef Jung, wurde im Jahr 2007 mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz die notwendige Ergänzung des Einsatzversorgungsgesetzes beschlossen. Das Einsatzversorgungsgesetz regelt die finanzielle Absicherung und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz die Weiterbeschäftigung geschädigter Soldaten. Die Erfahrungen aus den Einsätzen haben uns gezeigt, dass eine Anpassung dieser Regelungen notwendig ist, um deutlich gewordene Versorgungslücken gerechtigkeitshalber und fürsorgehalber zu schließen. Das haben wir in der CDU/CSU erkannt und als Verteidigungspolitiker in dem vorliegenden Antrag umgesetzt. Auch das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee. In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Minister zu Guttenberg, und Ihrem Ministerium dafür, dass Sie bei allen notwendigen Entscheidungen um die Sicherheit unseres Landes immer das Wohl unserer Soldaten im Blick haben und uns auch in dieser Angelegenheit unterstützen. ({0}) Ich danke an dieser Stelle auch dem Deutschen BundeswehrVerband, der auf diese Regelungslücken hingewiesen hat. Es ist eine besondere Geste, dass Sie, lieber Herr Oberst Kirsch, als Vorsitzender des BundeswehrVerbandes dieser Debatte beiwohnen. Das ist ein deutliches Zeichen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Arbeit zum Wohle unserer Soldaten. ({1}) Worum geht es bei diesem Antrag? Im Kern geht es in der Fortentwicklung erstens darum, die Beiträge der einmaligen Entschädigung zu erhöhen, da der jetzige Betrag der Höhe nach keine angemessene Entschädigung darstellt. Zweitens sind die Schadensausgleichszahlungen auch an juristische Personen zu gewährleisten, damit praxisnah, zum Beispiel bei abgetretenen Versicherungsansprüchen, eine Auszahlung erfolgen kann. Drittens ist die Höhe des anspruchsbegründenden Schädigungsgrades von 50 auf 30 Prozent zu reduzieren, weil bei psychischen Erkrankungen die Erwerbsminderung nicht äußerlich erkennbar ist und zusätzlich die Kausalität in dieser Höhe schwer nachzuweisen ist. Deswegen muss der Grundsatz gelten: Im Zweifel für den verwundeten Soldaten. ({2}) Eine bessere Nachversicherungsregelung sowie die Rückführung der Stichtagsregelung auf den Beginn der Auslandsmandate rundet diese Regelung ab. Es sollte auch das Ziel sein, eingesetztem Zivilpersonal mit besonderen Auslandsverwendungen ähnliche Erleichterungen zu verschaffen. Ich danke an dieser Stelle den mitberatenden Ausschüssen, die mit ihrer fraktionsübergreifenden Zustimmung der Annahme unseres Antrages zugestimmt haben, leider stets mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis zu unserer Bundeswehr und damit zu Sicherheit, Recht und Ordnung in unserem Staat hat. ({3}) Die Union ist die Partei der Bundeswehr. Das hat sie bei ihren Entscheidungen zur Gründung der Bundeswehr, zum Beitritt der NATO und bei der Entwicklung zur Armee der Einheit erfolgreich unter Beweis gestellt. Das Gleiche gilt auch für die aktuelle notwendige Strukturreform sowie für den heute zu beratenden Antrag. Der Deutsche Bundestag beschließt die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete und Konfliktregionen nach Europa, Afrika und Asien. Den daraus erwachsenden Herausforderungen müssen wir in besonderem Maße Rechnung tragen. Denn militärische und zivile Auslandsverwendungen in Krisengebieten sind mit hohen Gefahren für Leib und Leben verbunden. Mit Entsetzen müssen wir heute erfahren, dass wieder einer unserer Soldaten gefallen ist und weitere verwundet worden sind. Das bedrückt uns sehr. Unsere Bundeswehr stellt bis zu 7 000 Soldaten und bildet damit den Schwerpunkt dieser militärischen und zivilen Missionen, die auch der Sicherheit unseres Landes dienen. Die besonderen Dienstbelastungen - auch in Kampfhandlungen unter Einsatz von Leib und Leben stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Dieser besonderen Situation wollen wir mit unserem Antrag gerecht werden. Die Bundeswehr steht im Rahmen der notwendigen Strukturreform vor der Herausforderung, auch zukünftig ein noch attraktiverer Arbeitgeber zu sein. Dafür muss die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Unsere Soldaten verpflichten sich, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen sowie das Recht und die Freiheit tapfer zu verteidigen. Sie stehen zu ihrer übernommenen Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes. Dafür danken wir Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten, herzlich. ({4}) Wir in der Union stehen zu unseren Soldaten aus Verantwortung, aus Fürsorge und aus politischer Überzeugung und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Bundesminister der Verteidigung, Herr zu Guttenberg, hat um das Wort gebeten, um eine Mitteilung zu machen.

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich hat soeben eine sehr traurige Nachricht erreicht. Wir haben offenbar bei einem Selbstmordanschlag auf eine ISAF-Patrouille unserer Soldaten nördlich von Pol-iKhumri nach derzeitigem Stand einen gefallenen Soldaten und sechs verwundete Soldaten zu beklagen. Es ist eine erste Information, die ich Ihnen in diesem Hohen Hause geben muss und geben will. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Soldaten und ihren Familien. Wir werden natürlich, sobald wir Weiteres wissen, Sie alle entsprechend informieren. Der gefallene Soldat und die verwundeten Soldaten befanden sich in einem Einsatz, der unserer Sicherheit dient und der in diesem Hause beschlossen wurde. Ich glaube, es gehört sich, diese Information weiterzugeben. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Familien und bei den Soldaten. Ich danke Ihnen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herzlichen Dank, Herr Minister. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, diese furchtbare Nachricht, die uns aus Afghanistan erreicht, sollte uns alle dazu bringen, innezuhalten und noch einmal über die Verantwortung nachzudenken, die wir als Parlamentarier gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, ich spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unser aller Mitgefühl und unsere Gedanken den Familien des Gefallenen und der Verwundeten gelten. Sehr geehrte Damen und Herren, es steht jeder Abgeordneten und jedem Abgeordneten frei, sich für oder gegen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in einen Auslandseinsatz zu entscheiden. Diese Entscheidung müssen wir letztendlich mit unserem Gewissen vereinbaren. Das, was dieses Haus jedoch einen sollte, sind die Anerkennung, der Respekt und die Fürsorge für das, was unsere Soldaten tagtäglich unter Einsatz ihres Lebens leisten. ({0}) Wir als Abgeordnete sind es, die unsere Soldaten auf schwierige Missionen schicken. Wir sind es, die Familien für einen langen Zeitraum auseinanderreißen. Wir sind es, die gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft für unsere politischen Entscheidungen ablegen müssen. Wir sind es aber auch, die eine Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und ihren Familien wahrzunehmen haben. Wir haben diese Fürsorgepflicht vor, während und nach dem Einsatz. Kommt ein Soldat im Einsatz etwa durch einen Unfall zu Schaden, müssen wir gewährleisten, dass es umfangreiche, schnelle und unbürokratische Hilfe für den Soldaten und seine Familie gibt. Es ist deshalb richtig, dass wir heute hier im Bundestag eine wegweisende Entscheidung der rot-grünen Regierung und vor allem des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck weiterentwickeln und das Einsatzversorgungsgesetz in wichtigen Kernpunkten verbessern. Peter Struck war es, der die Notwendigkeit erkannte, der veränderten Auftragsrealität der Bundeswehr einen neuen Rechtsrahmen zu geben und die Fürsorge des Staates gegenüber den Soldaten erheblich zu verbessern. Hierfür gebührt ihm auch nachträglich unser aller Dank. ({1}) Die Weiterentwicklung des Gesetzes, wie sie heute hier von den Regierungsfraktionen eingefordert wird, findet in allen Punkten unsere Unterstützung. Wir hätten uns gewünscht, dass ein solcher Vorstoß aus dem Ministerium kommt, und wir hätten uns auch gewünscht, dass versucht worden wäre, diesen Antrag gemeinsam mit den Oppositionsfraktionen zu formulieren. Das wäre ein wichtiges Zeichen gewesen, das wir hier im Bundestag hätten setzen können. ({2}) Ich bin aber dankbar für Ihre Zusage gestern im Ausschuss, Frau Hoff, dass wir im konkreten Gesetzgebungsverfahren eine gemeinsame Linie entwickeln werden. Meines Erachtens sollten die Gemeinsamkeiten im Vordergrund des Wirkens in diesem Hause stehen, wenn es um unsere Soldatinnen und Soldaten geht. Gerade für Nichtberufssoldaten wird mit dem Forderungskatalog eine erhebliche Verbesserung erreicht. Die Ausgleichszahlungen werden erhöht, die rechtliche Stellung der Soldatinnen und Soldaten wird verbessert, und die Einsatzzeiten werden künftig höher angerechnet. Das sind wichtige Schritte, die wir hier als Parlamentarier gehen wollen. Die ersten deutschen Soldaten wurden 1992 ins Ausland geschickt. Der heutige Antrag formuliert deutlich die Gleichbehandlung aller Einsätze. Auch dies ist ein notwendiger Schritt. Die Verantwortung des Staates gegenüber unseren Soldaten bedeutet auch, die Bewältigung der posttraumatischen Belastungsstörungen endlich entschlossen anLars Klingbeil zugehen. Immer mehr Soldaten kommen mit solchen Störungen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse aus dem Einsatz zurück. Viele Soldaten haben Grauenhaftes erlebt, Bilder, die sie jahrelang nicht vergessen, die sie nachts nicht schlafen lassen und die tagsüber einen geregelten Alltag nicht zulassen. Diese seelischen Verwundungen haben erst in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Dass dies nun so ist, ist - das sage ich hier ganz deutlich - zu einem großen Teil das Verdienst des ehemaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe, der immer unermüdlich dafür gekämpft hat, dass die posttraumatischen Belastungsstörungen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit finden. Auch ihm gebührt unser Dank. ({3}) Es ist richtig, dass wir die Situation der an PTBS erkrankten Soldaten verbessern und wir beispielsweise die Verfahrensdauer drastisch reduzieren wollen. Aber auch hier gehört zur Wahrheit: Wir stehen noch am Anfang. Unsere Maxime im konkreten Gesetzgebungsverfahren muss lauten, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in den letzten 18 Jahren im Ausland verletzt wurde, egal ob körperlich oder seelisch, die bestmögliche Behandlung erhalten. Das müssen wir als Parlamentarier garantieren; wir werden im Gesetzgebungsverfahren auch die Verbände und Experten einbeziehen müssen, um hierfür die bestmögliche Regelung zu finden. Es sind große Schritte für die Anerkennung der Leistung der Soldaten und für den Respekt gegenüber den Soldaten, die wir heute unternehmen. Ich sage aber auch: Das reicht nicht! Es reicht nicht, wenn dieses Parlament sich nach der Verabschiedung des heutigen Antrags zurücklehnt, sich auf die Schulter klopft und sagt: Jetzt haben wir etwas für die Soldaten getan. - Denn es bleibt noch viel zu tun. Der Anerkennung, dem Respekt und der Fürsorge hätte es auch gedient - das will ich hier deutlich sagen -, den Soldaten wieder das volle Weihnachtsgeld auszuzahlen, wie die Kanzlerin es versprochen hatte. ({4}) Wenn der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes in diesem Zusammenhang von einem Wortbruch spricht, dann muss ich ihm recht geben. Man muss sich an dieser Stelle fragen: Welches Signal kommt eigentlich bei den Soldaten an, wenn wir sie einerseits in immer gefährlichere Einsätze schicken und andererseits hier zu Hause auf ihrem Rücken Sparmaßnahmen umsetzen? Ich hoffe, dass im Rahmen der Haushaltsberatungen die Regierungskoalition noch zur Einsicht kommt. Aber ich sage heute: Verantwortungsvolle Politik sieht an dieser Stelle anders aus. Herr Minister, ich hätte mir von Ihnen dazu deutlichere Worte gewünscht. ({5}) Sie sind der derzeit populärste Politiker in Deutschland. Warum nutzen Sie dieses politische Gewicht nicht, um sich vor die Truppe zu stellen und in diesem Punkt Verbesserungen für die Soldaten zu fordern? Das wäre ein wichtiges Zeichen auch für die Anerkennung der Truppe gewesen. Das Weihnachtsgeld gehört zur Attraktivität des Soldatenberufs. Wir alle wissen doch, dass es darauf ankommt, in den nächsten Monaten maßgebliche Schritte zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu gehen. Gerade dann, wenn die Wehrpflicht fällt und wir die Nachwuchsgewinnung ausbauen müssen, brauchen wir einen attraktiveren Dienst in der Bundeswehr. Deswegen sage ich für uns Sozialdemokraten, dass im Rahmen der Bundeswehrstrukturreform ein Programm zur Steigerung der Attraktivität zwingend notwendig ist. Nur dann, wenn wir auch die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr erhöhen, wird eine Strukturreform gelingen. Da ich beim Thema Reform bin, will ich hier deutlich sagen: Herr Minister, reden Sie Klartext hinsichtlich der Standzeiten im Auslandseinsatz. Reden Sie Klartext darüber, welche Standzeiten Sie für die Bundeswehrplanung zugrunde gelegt haben. Derzeit sind es vier Monate. Die Befürchtungen bei uns, aber auch in der Truppe sind doch aber, dass wir mit einer personell reduzierten Bundeswehr zu erheblich höheren Standzeiten kommen werden. Hier sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblieben. Sagen Sie der Truppe, sagen Sie dem Parlament, in welche Richtung Ihre Planung geht. Auch das sind Sie den Soldatinnen und Soldaten schuldig. ({6}) Ich sage auch: Zur Fürsorge gehört eine optimale Einsatzvorbereitung. Die Vorbereitung, mit der wir unsere Soldaten in den Einsatz schicken, reicht nicht. Hier haben wir als Politik eine große Verantwortung. Wir schicken Soldaten nach Afghanistan, obwohl wir wissen, dass sie an den Fahrzeugen, die dort für den Schutz ihres Lebens wichtig sind, nicht ausreichend ausgebildet sind; daher müssen wir hier dringend nachbessern. Auch eine optimale Einsatzvorbereitung gehört zur Fürsorgepflicht, die wir als Parlament haben. Ich will an alle 622 Abgeordneten hier noch einmal appellieren. Wir sind diejenigen, die Verantwortung für die Soldaten tragen, und wir müssen uns jeden Tag fragen: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Wir verlangen von unseren Soldaten viel, und wir sind in der Pflicht, ihnen das Versprechen zu geben, dass wir ihnen eine optimale Vorbereitung, Nachbereitung und auch Versorgung im Einsatzland auf dem höchstmöglichen Niveau garantieren. Das, was wir heute beschließen, ist ein wichtiger erster Schritt. Aber ich sage auch: Es müssen weitere Schritte folgen. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hintergrund der Ereignisse, die Herr Minister zu Guttenberg eben vorgetragen hat, ist es wenig erfreulich, hier heute eine politische Auseinandersetzung zu führen. Ich möchte an dieser Stelle auch für meine Fraktion die tiefe Betroffenheit, das tiefe Bedauern zum Ausdruck bringen sowie den Familien, den Freunden und den Angehörigen die tiefste Anteilnahme aussprechen. Tragisch ist das Zusammentreffen dieser Ereignisse. Wir führen heute eine Debatte über etwas, was gerade der Verbesserung der Situation für aus dem Einsatz zurückgekehrte verwundete Soldatinnen und Soldaten dienen und die nötige Tiefe, die politische Seriosität und auch den gemeinsamen Willen unterstreichen soll. Bei allen unterschiedlichen Auffassungen in Einzelpunkten bin ich deshalb froh, dass nach der Rede des Kollegen Klingbeil sehr deutlich geworden ist, dass hier ein gemeinsamer Wille besteht, der Verantwortung gegenüber unseren Soldaten, die wir als Parlamentarier haben, gerecht zu werden. Ich freue mich auch, dass heute Betroffene bei uns sind. Diese Soldaten sind heute hier, weil sie an der Diskussion, die wir hier im Parlament führen, teilhaben wollen. Ich darf ihnen an dieser Stelle persönlich und auch im Namen vieler Kollegen danken, dass sie den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen, und dass sie uns ganz deutlich gemacht haben, wie bestimmte Lücken im Gesetz und vielleicht auch eine falsche Zurückhaltung an manchen Stellen ihr Leben sehr nachteilig und sehr negativ beeinflusst haben. Ich finde es deswegen großartig, dass sie uns heute als Staatsbürger in Uniform durch ihre Präsenz ein Stück weit den Weg weisen. ({0}) Meine Damen, meine Herren, ich bin froh, dass es uns gelungen ist, viele Punkte, durchaus gegen Widerstände von Kollegen in anderen Fachausschüssen, auf einen Weg zu bringen, der zeigt, dass wir die Verantwortung übernehmen. Ich finde, ein wesentlicher Aspekt dieses Antrags ist in jedem Fall eine Veränderung der Stichtagsregelung. Es ist nämlich in hohem Maße ungerecht, dass die Soldatinnen und Soldaten, die sich von Anfang an für unser Vaterland eingesetzt und die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, nicht in den Genuss von Vergünstigungen kamen. Was mich persönlich besonders erschreckt hat, ist, dass wir ein Stück weit vergessen haben, was mit unseren Soldaten auf Zeit und mit den Reservisten passiert. Viele Einsätze, geprägt von schlimmen Szenarien, können heute ohne den Einsatz von Reservisten und ohne Soldaten auf Zeit in der Form nicht mehr durchgeführt werden. Ich bin sehr froh darüber, dass wir hier die Weichen gestellt haben. Ich hoffe sehr - das sage ich auch an die Kollegen der Opposition gerichtet -, dass wir sehr rasch in das Gesetzgebungsverfahren eintreten. Es reicht nämlich in der Tat nicht aus, dass wir heute nur den politischen Willen dokumentieren. Darüber hinaus müssen wir als Parlament jetzt unsere Aufgabe erfüllen. Herr Minister, ich habe gar keinen Zweifel, dass wir hier in sehr enger Kooperation das Richtige auf den Weg bringen. Bei allem Verständnis auch für die finanziellen Zwänge: Ich glaube, dass an dieser Stelle das Geld keine Rolle spielen darf. ({1}) Wir müssen auf die Männer und Frauen hören, die an uns appellieren. Inzwischen gibt es dankenswerterweise sehr viele Veröffentlichungen dazu. Ein Buch zu diesem Thema trägt den Titel „Die reden - Wir sterben“. Das ist eine sehr klare und deutliche Aussage, und ich glaube, dass sich hinter dieser prägnanten Formulierung die ganze Tragik der Empfindungen darüber verbirgt, dass die Männer und Frauen, die zurückkommen, nicht mehr die Menschen sind, die sie vorher waren. Dies gilt auch gegenüber ihren Familien. Sie sollen in erster Linie ihre Würde als Familienvater, als Arbeitnehmer, als Freund und Ehepartner zurückerhalten. An dieser Stelle kann ich nur appellieren, dass wir im weiteren Gesetzgebungsvorhaben unsere unterschiedlichen parteipolitischen Auffassungen im Interesse der Soldatinnen und Soldaten ein Stück weit überwinden. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu, es fällt mir heute wirklich sehr schwer, vor dem Hintergrund der Ereignisse zu reden. Wir sollten uns über eines klar sein: dass auch heute wieder Soldatinnen und Soldaten aus einem Einsatz nach Hause kommen werden, der ihr Leben nachhaltig verändert haben wird. Umso mehr sind wir jetzt gefordert, die Dinge, von denen wir wissen, dass sie falsch laufen, zu verbessern, damit wir den Kameradinnen und Kameraden sagen können: Jawohl, wir haben die Botschaft verstanden; das Parlament ist gemeinsam mit der Regierung bereit, die Situation zu verändern. Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort erhält nun Kollegin Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst auf das Bezug nehmen, was der Kollege Otte gesagt hat, und etwas korrigieren: Die Linke hat keinesfalls ein unsicheres oder gespaltenes Verhältnis zu Kriegseinsätzen, sondern ein ganz eindeutiges, nämlich ein ablehnendes. ({0}) Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch die Interessen der Soldatinnen und Soldaten sehen. Vor dem Hintergrund dessen, was heute passiert ist, sprechen selbstverständlich auch wir den Verletzten und den Angehörigen unser tiefes Mitgefühl aus. ({1}) Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist im Grundsatz zu begrüßen; auch wir begrüßen ihn. Die Antragsteller legen hier die Finger in zwei wunde Punkte der gegenwärtigen Sicherheitspolitik der Bundesregierung: Wer auf Krieg und militärische Interventionen als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, setzt damit auch die eigenen Soldatinnen und Soldaten großen Gefahren aus; dies haben wir heute erlebt. Diese Gefahren sind inzwischen Bundeswehralltag in Afghanistan, wie wir alle wissen. Mehr als 30 Soldaten - heute erneut einer - wurden im Verlauf der Intervention bislang getötet, eine Vielzahl wurde verwundet und traumatisiert, und dies in einem Krieg, der nicht zu rechtfertigen und zum Scheitern verurteilt ist. Die Linke hat sich immer klar und deutlich für den Abzug aus Afghanistan eingesetzt und auch insgesamt eine andere, eine friedensorientierte Außenpolitik - nicht nur für Afghanistan - gefordert. Würde sich die Bundesregierung daran orientieren, wäre der vorliegende Antrag überflüssig. ({2}) Die zweite offene Wunde, die der Antrag aufzeigt, ist die geradezu fahrlässige Missachtung der Belange der Soldatinnen und Soldaten durch Bundesregierung und Bundeswehr; dies hat die Kollegin schon vorhin angesprochen. Die Soldatinnen und Soldaten werden von der Bundesregierung und der Mehrheit im Bundestag in den Einsatz geschickt. Was dort mit ihnen passiert, interessierte bislang das Verteidigungsministerium in der Regel nur dann, wenn damit der riesige Verteidigungsetat bzw. seine weitere Aufstockung gerechtfertigt werden konnte oder aber der mediale Druck zu groß war. ({3}) Immer erst dann, wenn der Unmut hochkocht, passiert etwas. Da die Bundeswehr nun tatsächlich leider im Kampfeinsatz ist, treten die Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Verordnungen und der täglichen Verwaltungspraxis immer deutlicher zutage. Hier besteht in der Tat Handlungsbedarf: bei der Anhebung der Entschädigungszahlungen, der Verbesserung der Betreuung von PTBS-Opfern, bei der Gleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -soldaten mit den Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie den Wehrpflichtigen. Das sind Mindeststandards, die einfach gewährleistet werden müssen und zu Recht im Antrag eingefordert werden. Aber die Regierungsfraktionen wären nicht Teil des Establishments, wenn sie sich nicht der alten Rhetorik bedienten: Zur Verbesserung der Fürsorge gegenüber dem Bundeswehrpersonal wird mehr Geld benötigt; das aber soll entweder durch Aufstockung des Verteidigungsetats oder aus anderen Töpfen kommen. Wie man weiß, ist bei der Bundeswehr selbst eigentlich ein rigoroser Sparkurs angesagt. Also sollen nun andere Haushalte diskret mitfinanzieren. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, geht nicht! ({4}) Zum einen ist im Verteidigungshaushalt, der immerhin der drittgrößte Etat ist, ausreichend Spielraum vorhanden. Es gibt genug Beschaffungsprogramme, die dem Rotstift zum Opfer fallen könnten, zum Beispiel für den A400M. Auch der Gesamtumfang der Streitkräfte muss reduziert werden, sodass hier erhebliche Umschichtungen möglich wären. Zum anderen aber würde damit der Ansatz der Haushälter in den letzten fünf Jahren völlig konterkariert werden. Die Querfinanzierung, die Flexibilisierung von Haushaltstiteln waren den Haushältern zu Recht ein Dorn im Auge. Klare Sach- und Finanzverantwortung, klare Verantwortlichkeiten und die Verbesserung der Transparenz waren das Ziel. Ab 2007 wurden deswegen endlich auch die Versorgungsausgaben aus dem Einzelplan 33 übernommen. Das soll nun wieder aufgebrochen werden. Das soll natürlich nicht nur dort geschehen. Beim Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr wird zukünftig auch das Finanzministerium einen kleinen Beitrag leisten. Generalinspekteur Wieker hat schon weitere Vorschläge parat, zum Beispiel die Finanzierung der Interventionseinsätze aus anderen Töpfen. Vor diesem Hintergrund, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bekommt der Antrag der Regierungsfraktionen einen schalen Beigeschmack. Deswegen - nur deswegen! - können wir dem Antrag so nicht zustimmen und werden uns hier enthalten müssen. Genauso wie die Linke für eine friedensorientierte Außen- und Sicherheitspolitik ist, ist sie für eine adäquate Versorgung der Soldatinnen und Soldaten. Das ist schließlich die Pflicht des Arbeitgebers Staat. Es liegt auf der Hand, dass hier erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht. Wir appellieren also an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen umgesetzt, aber aus dem Einzelplan 14 finanziert werden. Dann können auch wir einem solchen Antrag zustimmen. Das Geld dafür ist im Etat vorhanden. Die Regierung und die Regierungsfraktionen müssen es nur wollen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Agnes Malczak für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der tragischen Nachricht, die uns zu Beginn dieser Debatte ereilt hat, möchte ich auch für unsere Fraktion den Angehörigen des gestorbenen Soldaten unser tiefes Mitgefühl und unser Beileid aussprechen. Den sechs verletzten Soldaten wünschen wir eine schnelle und vor allem vollständige Genesung. Die Betroffenen und die Angehörigen werden in diesen schwierigen Stunden viel Kraft brauchen. Wir hoffen, dass sie sie auch finden werden. ({0}) Die Regelungen zur Verbesserung der Einsatzversorgung, die von den Fraktionen der Union und der FDP hier beantragt wurden, sind richtig und finden deshalb im Grundsatz auch unsere Zustimmung. Unabhängig davon, was der eine oder die andere von uns über einen konkreten Einsatz denkt oder an Abstimmungsverhalten gezeigt hat - da ist in diesem Haus die ganze Bandbreite vertreten -: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, für die zivilen Kräfte und ihre Angehörigen haben wir als Parlament eine besondere Verantwortung zur Fürsorge. ({1}) Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen, wie wir dieser Verantwortung auch wirklich gerecht werden können. Der Bedeutung dieses Themas wurde in der Vergangenheit durch eine Zusammenarbeit aller Fraktionen Rechnung getragen. Diese Chance wurde hier leider vergeben. Damit es heute nicht bei Ankündigungen bleibt, ist Verteidigungsminister zu Guttenberg aufgefordert, diesen Antrag als Auftrag zu konkretem und auch zu schnellem Handeln zu verstehen. Ich muss allerdings feststellen, dass dieser Antrag eine gewisse Ganzheitlichkeit vermissen lässt. Ein ganz grundsätzliches Problem bleibt zudem unbehandelt. Zur fehlenden Ganzheitlichkeit. Sie fokussieren in Ihrem Antrag auf die Einsatzversorgung der Soldatinnen und Soldaten. Auf Basis des Auslandsverwendungsgesetzes entsenden wir aber auch zivile Kräfte zu internationalen Friedenseinsätzen. Sie widmen dieser Gruppe nur die Forderung, dass alle Regelungen auch für sie gelten sollen. Zu den zivilen Kräften, die auf Basis des Sekundierungsgesetzes als deutsche Vertreterinnen und Vertreter an Missionen teilnehmen, schweigen Sie in Ihrem Antrag. Dazu müssen wir in Zukunft mit den anderen Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen befassen, zusammenarbeiten; ({2}) denn auch diese Menschen setzen sich unter Entbehrungen und erhöhtem Risiko, was ihre physische und psychische Gesundheit betrifft, für den Frieden ein und verdienen unsere Fürsorge und unseren Dank. In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, schlagen Sie finanzielle Verbesserungen vor und sprechen dabei wirklich wichtige Punkte an, etwa die Aufhebung der Stichtagsregelung, die Beweislastproblematik und die unzumutbare Dauer der Wehrdienstbeschädigungsverfahren. So richtig und wichtig die finanzielle Absicherung ist, so richtig und wichtig ist auch die Schaffung einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur. Wer mit Betroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß, dass hier erhebliche Mängel bestehen. Sie fühlen sich zu oft mit ihren Problemen alleingelassen und sehen sich einer Bürokratie gegenüber, der sie nicht Herr werden können. Doch dieses Problem haben nicht nur versehrte Soldatinnen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Angehörige. Und hiermit komme ich zur verpassten Chance dieses Antrags. Denn vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der Bundeswehr gibt es die Gelegenheit, Erwartungen an die Bundesregierung hinsichtlich der Gesamtsituation von zivilen und militärischen Ehemaligen der internationalen Missionen zu formulieren. Die Rückkehr aus einer Auslandsmission nach Deutschland ist für die Heimkehrenden oft nicht einfach. Sie haben in der Regel Erlebnisse gehabt, die der überwiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht nachempfinden kann. Diese Erlebnisse haben sie geprägt, und sie werden sie ein Leben lang begleiten und häufig auch ein Leben lang belasten. Wir müssen in diesem Zusammenhang feststellen, dass die Heimgekehrten immer häufiger beklagen, dass sie sich mit diesen Erfahrungen alleingelassen fühlen, weil sie keine Anlaufstelle für ihre spezifischen Probleme haben. Der vorliegende Antrag schlägt viele Verbesserungen vor, kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Ich glaube, wir sind uns auch mit allen Fraktionen einig, dass es sich hier um einen Prozess handelt, der ständig weitergehen muss und bei dem immer wieder Lücken aufgedeckt und geschlossen werden müssen. Das Thema hätte es verdient, gründlich, aber vor allem auch schnell und in einem fraktionsübergreifenden Diskurs bearbeitet zu werden. Deshalb freue ich mich, dass wir uns gestern im Ausschuss eigentlich alle einig waren, dass wir das, wenn es zum konkreten Gesetzgebungsverfahren kommt, zusammen angehen wollen. Wir Grünen jedenfalls werden weiterhin an den offenen Fragen dranbleiben. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der schwierigste und gefährlichste Dienst für unser Land wird in den Auslandseinsätzen geleistet. Wir haben gerade eben die traurige Nachricht erhalten, dass ein Soldat gefallen ist und sechs Soldaten verwundet worden sind. Ich darf auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Angehörigen und den Kameraden dieser Soldaten mein herzliches Beileid aussprechen. Wir drücken die Daumen, dass jetzt im Rahmen der Bergung und auf dem Rückmarsch, wo ja weitere Gefahren auf die Soldaten lauern, alles gutgeht und die Verwundeten möglichst rasch einer optimalen medizinischen Versorgung zugeführt werden können. ({0}) Die Berufssoldaten, die Zeitsoldaten, die freiwillig Wehrdienstleistenden, die Reservisten, die Polizisten und die zivilen Mitarbeiter in den Auslandseinsätzen sind täglich einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Ich habe mir für meine Rede die Zahlen notiert - ich muss sie jetzt leider schweren Herzens nach oben korrigieren -: Seit 1993 haben 91 Soldaten in Auslandseinsätzen ihr Leben verloren, 29 davon durch direkte Feindeinwirkung; 163 wurden verwundet, und bei über 400 Soldaten wurden posttraumatische Belastungsstörungen diagnostiziert. Die Belastung in einem Auslandseinsatz ist mit keinem wie auch immer gearteten Stress im Inland vergleichbar. Deswegen verdienen diese Soldaten im Einsatz auch eine besondere Behandlung hinsichtlich der Versorgung und Weiterverwendung. Es ist Ausdruck des hohen Respekts vor diesem Dienst, dass wir bei den Maßnahmen der Einsatzversorgung und der Einsatzweiterverwendung entsprechend großzügig verfahren. Wer vier oder sechs Monate getrennt von der Familie auf engstem Raum mit Kameraden und unter ständiger Bedrohung durch den Feind seinen Dienst versieht, der muss wissen, dass im schlimmsten Fall zumindest für ihn und seine Angehörigen optimal gesorgt ist. Dieser Intention fühlt sich der vorliegende Antrag verpflichtet. Der Bundestag hat bereits mehrfach wesentliche gesetzliche Grundlagen für die Versorgung von Soldaten geschaffen. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir nun Lücken schließen und Ungleichgewichte ausgleichen, die die Praxis der vergangenen Jahre aufgezeigt hat. Ich freue mich, dass es darüber breiten Konsens unter den demokratischen Parteien des Hauses gibt. Ich schließe mich ausdrücklich auch den Worten von Frau Hoff an, dass wir im Rahmen des konkreten Umsetzungsprozesses bei der Gesetzgebung mit den Fraktionen, die diesen Antrag heute mittragen, gerne in einen intensiven Dialog eintreten und Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge gerne aufnehmen. Ich glaube, wir werden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen. ({1}) Es ist auch ein gutes Signal an die betroffenen Soldaten im Einsatz, dass sie wissen, dass eine breite Mehrheit dieses Hauses hinter ihnen und ihrem Einsatz steht. Ich möchte zwei Punkte ganz kurz herausgreifen, die mir besonders am Herzen liegen. Da ist zum einen die Frage der Gleichstellung von Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistenden und Reservisten mit den Berufssoldaten hinsichtlich ihrer Versorgungssituation. Bei der Analyse der gegenwärtigen Rechtslage haben wir festgestellt, dass die Berufssoldaten in der Tat gut abgesichert sind; aber bei vielen Zeitsoldaten ist das nicht der Fall. Nun ist es aber typisch für die Bundeswehr, dass man als Zeitsoldat anfängt. Auch diejenigen Soldaten, die sich den Beruf des Soldaten als Lebensberuf wünschen, werden zunächst als Zeitsoldaten angestellt. Sie strengen sich dann enorm an, um bei Lehrgängen und Beurteilungen besonders weit vorne zu liegen. Vielleicht sind sie auch bereit, im Auslandseinsatz besondere Leistungen zu erbringen, damit sie eine Chance auf Übernahme in den Beruf des Soldaten haben. Da ist es natürlich fatal, wenn eine Verwundung im Einsatz möglicherweise letztendlich dazu führt, dass der Soldat, der ansonsten Berufssoldat geworden wäre, diesen Beruf nun nicht erlangen kann, und zwar ausdrücklich wegen seiner Verwundung und ihren Folgen. Wir finden, das Gesetz muss hier eine Regelung finden, damit Zeitsoldaten trotz einer Verletzung und ihren Folgen eine Heimat bei der Bundeswehr finden können. Ich finde es motivierend für die Truppe, wenn sie erlebt, dass der eine oder andere, der versehrt aus dem Einsatz zurückgekommen ist, seinen Dienst in der Heimat, in der Kaserne, versieht. Damit wird symbolisch deutlich, dass man als Soldat in einem solchen Fall nicht alleingelassen wird. ({2}) Ich möchte einen zweiten Punkt aus unserem Antrag ansprechen. Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungsberichte von verwundeten Soldaten über das, was ihnen hinterher widerfahren ist, wenn sie mit einer Verwundung und entsprechenden Spätfolgen in die Heimat, zur Bundeswehr zurückkehren. Es gibt Beispiele, bei denen Militärseelsorge, Stammeinheit, Sozialdienst und Wehrverwaltung hervorragend zusammenarbeiten und zügig eine unbürokratische Lösung finden. Es gibt aber auch eine Reihe von Beispielen, bei denen die Soldaten in der Bürokratie der Bundeswehr ziemlich alleingelassen sind, wo die Interessen der einzelnen Soldaten in den großen Mühlen der Bürokratie nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass es in vielen Fällen sehr gut funktioniert, zeigt, dass es klappen kann. Wir würden uns wünschen, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass es nicht von der Befähigung und dem Wohlwollen einzelner Akteure abhängt, ob ein guter Weg durch die Bürokratie gefunden wird. Vielmehr sollten die Prozesse so gestaltet sein, dass sich die Soldaten auf die Bundeswehr verlassen können, dass sich ihre Ansprüche zügig durchsetzen lassen, ohne unzumutbare bürokratische Hürden überwinden zu müssen. Da gibt es Nachsteuerungsbedarf, insbesondere auf der Ebene der konkreten administrativen Umsetzung. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, die an dem Antrag mitgewirkt haben, danken. Ich möchte auch dem Deutschen Bundeswehrverband und dem Reservistenverband für seine wichtigen Impulse bei diesem Thema danken. Es ist einfach wichtig, dass wir im Gespräch mit den offiziellen Vertretern der Soldaten gemeinsam an diesen Themen arbeiten und so Lösungen aus der Praxis für die Praxis finden. Wir erwarten nun von der Bundesregierung, dass unser Antrag zügig in eine Gesetzesinitiative mündet, damit wir beginnen können, die geforderten Maßnahmen konkret umzusetzen. Gerade in der Phase des Umbaus der Bundeswehr ist die Verbesserung der Einsatzversorgung eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Soldatinnen und Soldaten. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi- gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/3229, den Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksache 17/2433 anzuneh- men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- nommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ein nationales Klimaschutzgesetz - Verbindlichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der Vorreiterrolle gerecht werden - Drucksache 17/3172 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anheben - Drucksache 17/2485 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Klimaschutzziele gesetzlich verankern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele verbindlich festschreiben - Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({3}) Michael Kauch Bärbel Höhn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über den Klimawandel hat mal Hochkonjunktur, mal nicht. Mal werden Auswirkungen in manchen Medien reißerisch übertrieben, mal werden die Auswirkungen verharmlost. Klar ist, dass schon heute Hunderte Millionen von Menschen von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, und zwar in großer Mehrheit negativ. Es sind Menschen, die die Hintergründe nicht kennen, die den Klimawandel nicht erklären können, die noch nichts von Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancún oder Kioto gehört haben. Diese Menschen merken, dass etwas nicht stimmt, dass sie Niederschläge oder Trockenphasen nicht mehr verstehen, beispielsweise die Bauern in Äthiopien oder Kenia, dass Stürme und Fluten in einer Häufigkeit und Stärke auftreten, die sie bisher nicht kannten, zum Beispiel in Guatemala oder Pakistan. Sie merken, dass sie ihre Häuser am Meer verlassen müssen, wie auf den Malediven, auf Tuvalu oder in Mikronesien, weil das Wasser immer häufiger mit dem Meer ins Haus kommt. All das ist keine Spinnerei, sondern es geschieht heute. 97 Prozent der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, sagen, dass es der Mensch ist, also wir, der das Klima massiv verändert. Wir brauchen jetzt einen Aufbau einer anderen Art der industriellen Produktion, eine andere Art der Energieerzeugung, eine andere Art des Lebens bei gleichbleibender oder sogar steigender Lebensqualität. Das geht nicht von heute auf morgen, aber die Richtung muss stimmen, die Ziele müssen stimmen, und es muss mehr Verlässlichkeit herrschen, als es heute gibt: die Verlässlichkeit, dass der Weg hin zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft konsequent beschritten wird und dass sich jeFrank Schwabe der darauf einstellen kann und muss, national und international. ({0}) Mit Erlaubnis des Präsidenten lese ich Ihnen etwas vor - ich zitiere: Ein Klimaschutzgesetz wird die mittel- und langfristigen Klimaschutzziele als Rahmen für ein effizientes Monitoring und die Fortschreibung des IKEP ({1}) festlegen. Damit erhält die Wirtschaft einen verlässlichen Planungshorizont für ihre langfristigen Investitionsentscheidungen. Notwendige Infrastrukturprojekte erhalten hierdurch eine größere öffentliche Akzeptanz. Deshalb werden wir - jetzt kommt es analog zum britischen Climate Change Act ein Klimaschutzgesetz verabschieden … Was ist das, und wo steht das? Das ist nachlesbar auf der Internetseite www.klimaretter.info. Es ist aus einem internen Papier des jetzigen Bundesumweltministers Norbert Röttgen, ({2}) in dem seine Vorstellungen für ein sogenanntes Energiekonzept der schwarz-gelben Regierung beschrieben werden. Vor einigen Wochen konnte man das auf der eben genannten Internetseite lesen. Dass sich davon nicht ein Satz im aktuellen Text des Energiekonzepts wiederfindet, offenbart zweierlei: Erstens. Die kurzen Hosen des Umweltministers sind höchstens Boxershorts, um keine anderen Begrifflichkeiten zu wählen. Zweitens. Das sogenannte Energiekonzept ist gar keines. ({3}) Die Revolution in der Klimaschutzpolitik, wie es die Kanzlerin in Vorspiegelung falscher Tatkraft nannte, das anspruchsvollste Programm seit den 70er-Jahren, wie Herr Röttgen es genannt hat, hat mit Klimaschutz und Energiekonzept nichts zu tun. Es ist ein Atomlobbykonzept für eine Vermögensvermehrung in Milliardenhöhe bei einigen wenigen Energiekonzernen und ein Kaputtmachkonzept für den Ausbau von erneuerbaren Energien mit der Gefährdung von Hunderttausenden jetziger und zukünftiger Arbeitsplätze. So ist das. ({4}) Sie legen alle Scheu ab. Bei der FDP geschieht alles eher lustlos. Ich habe die Rede von Herrn Wirtschaftsminister Brüderle in der letzten Woche verfolgt. Ihm war die Leidenschaft für erneuerbare Energien bei seiner euphorischen Rede geradezu anzumerken. Im Ernst: Bei Schwarz-Gelb geben inzwischen die Fuchsens und die Pfeifers den Ton an. Michael Fuchs hat am 7. Februar 2010 in der Welt am Sonntag die Windkraft- und Solaranlagen als „Vogelschredderanlagen“ und „Subventionsgräber“ bezeichnet. Frau Dött hat dem Fass allerdings den Boden ausgeschlagen. Frau Dött - sie spricht heute nicht -, die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSUBundestagsfraktion, weilte bei einer Veranstaltung der FDP, zu der auch Fred Singer eingeladen war. ({5}) - Nicht der FDP, sagt Herr Kauch, sondern eines Abgeordneten der FDP. Herr Kauch distanziert sich, das finde ich schon einmal gut. ({6}) Er ist ein bekannter bezahlter Lobbyist, der schon so ziemlich alle negativen Auswirkungen von allen möglichen Dingen auf die Menschen bestritten hat, vom Ozonloch über den sauren Regen bis zum Rauchen; das kann man alles nachlesen. ({7}) Er hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, den Klimawandel zu verharmlosen und den Einfluss des Menschen abzustreiten; davon gibt es unterschiedliche Versionen. Ein Satz, den er von sich gab, lautete: Die Leute, die Gesetze machen, um das Klima zu schützen, sind unser größtes Problem. - Damit sind wahrscheinlich wir gemeint. Weiter heißt es: … je mehr CO2, desto besser. Wir sollten den Chinesen dankbar sein. Das ist in der Financial Times Deutschland vom 17. September 2010 nachzulesen. ({8}) - Frau Dött, es ist gut, dass Sie sich melden. Ebenfalls nachzulesen sind die Kommentare von Frau Dött, die die Ausführungen von Herrn Singer „sehr, sehr einleuchtend“ fand, den Klimaschutz als „Ersatzreligion“ und die Umweltpolitiker der Union als „Gutmenschen“ bezeichnet. Keines dieser Zitate wurde von Frau Dött dementiert. Dazu hätte sie in der letzten Woche im Umweltausschuss Gelegenheit gehabt. Sie hat es aber nicht dementiert. Das ist schon erstaunlich. Jeder kann jeden Unsinn behaupten. Man kann zum Beispiel behaupten, dass die Erde quadratisch ist. Frau Dött ist aber die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU. ({9}) - Vielleicht kann man das einmal alles notieren. Es ist in höchster Form entlarvend und spricht Bände, dass Sie das auch noch unterstützen. - Ihre Sprecherin hält den Klimawandel für Quatsch. Wenn Sie ihr nicht widersprechen - Sie haben gleich die Gelegenheit dazu -, dann halten Sie ihn wohl alle für Quatsch. Das muss man zumindest annehmen. ({10}) Ich sage es noch einmal: Man kann jeden Standpunkt vertreten. Man muss es dann aber auch verantworten, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb. Was Sie vertreten, ist im Endeffekt gegen den Geist der Aufklärung, gegen jede Wissenschaft und das Wissenschaftsverständnis dieses Landes gerichtet. ({11}) Sie können alles vertreten und alles behaupten. Sie können auch behaupten, dass die Kinder vom Klapperstorch kommen. Die Frage ist bloß, ob man so jemanden zum Leiter einer gynäkologischen Abteilung macht; das ist die entscheidende Frage. ({12}) Sie meinen es mit dem Thema Klimaschutz nicht ernst. Wer es mit dem Klimaschutz nicht ernst meint und gegen erneuerbare Energien polemisiert, der kann natürlich auch nichts für den Klimaschutz tun und kein zukunftsfähiges Energiekonzept vorlegen. Ihr Energiekonzept ist ein Müsste-könnte-sollte-hätte-wenn-Konzept. 30 dürftig beschriebene Seiten enthalten allein 36 Prüfaufträge. Ganz konkret wird es nur im Bereich der Atomenergie. Damit wird klar, was das Ganze soll. Deshalb muss es jetzt ganz schnell gehen. Die Anhörungen werden durchgepeitscht. Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden beiseitegewischt. Der Rest ist ein unverbindliches Sammelsurium. Über Ihre Ziele kann man reden. Ich finde allerdings, dass wir bis 2050 das 95-Prozent-Ziel erreichen müssen, nicht nur ein 80-Prozent-Ziel. Ihr Ziel bleibt in diesem Konzept ein wenig unklar. Und was bringen Ziele, wenn sie unverbindlich sind? Deswegen brauchen wir in Deutschland ein Klimaschutzgesetz. Der Umweltminister scheint das auch so zu sehen. Er ist zwar nicht da, hat es anscheinend aber unterstützt. Wer den Einstieg in eine andere Form der industriellen Produktion und der Energieversorgung schaffen - dieser ist eigentlich geschafft und den Umstieg dauerhaft fortsetzen will, der muss für Verstetigung sorgen. Er muss die Verlässlichkeit der Prognosen für Investitionen erhöhen. Sie aber machen das genaue Gegenteil: Sie schaffen einen Investitionsattentismus bei den erneuerbaren und sogar bei den fossilen Energien. Auch die Aktienkurse der großen Energieversorger machen deutlich, dass nicht alle in diesem Land an Ihre Atomwende glauben. Der Antrag auf Schaffung eines Klimaschutzgesetzes, den wir Ihnen heute vorlegen, hatte einen längeren Vorlauf. Ihm ging ein längerer Prozess der Diskussion und der Beteiligung von Unternehmen, Unternehmensverbänden, Umweltverbänden, Gewerkschaftlern, Wissenschaftlern, Automobilverbänden, der britischen Botschaft, Herrn Schellnhuber und anderen voraus. Allein 35 schriftliche Stellungnahmen haben wir verarbeitet; darauf möchte ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Nur so viel: Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, gehören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwischenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören gesetzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit die Regierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diese müssen transparent sein. Die Regierung muss sich mindestens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debatte dazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss ein unabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehenden Institutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen. Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nichteinhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Klimaschutzgesetz leisten. Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen; das habe ich bereits erwähnt. Diese kamen von den Umweltverbänden WWF, BUND und anderen. Sie kamen von den Gewerkschaften DGB und IG Metall. Es kamen auch spannende Rückmeldungen von Verbänden, von denen ich zunächst einmal nicht geglaubt hatte, dass sie sich positiv äußern würden. Dazu gehören der ADAC und auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau. Sie alle haben dieses Gesetz begrüßt. Noch einmal: Bei einem solchen Gesetz geht es nicht um konkrete Maßnahmen, sondern um einen Rahmen für die Klimaschutzgesetzgebung der nächsten Jahre. Deswegen bringen wir diesen Antrag heute ein. Wir hoffen, dass das der Auftakt für eine intensive Debatte ist. Wenn Sie von der Regierungskoalition Klimaschutzpolitik wirklich ernst nehmen, sollten Sie Ihre Atompolitik überdenken und aufhören, zu versuchen, einen Wechsel in der Atompolitik einzuleiten. Sie sollten Ihr nicht vorhandenes Energiekonzept gleich wieder einstampfen. Ich bitte darum, dass Sie die Vorschläge zu einem Klimaschutzgesetz nicht in Bausch und Bogen ablehnen, sondern Ihre Worte gut abwägen, den Dialog eröffnen und nicht die Tür zuschlagen. Herzlichen Dank und Glück auf! ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Schwabe hat einen erheblichen Teil seiner Redezeit darauf verwandt, darüber zu spekulieren, wer möglicherweise wann und wo was gesagt hat. Ich finde, wenn wir uns hier mit Klimaschutz und Energiepolitik beschäftigen, dann sollten wir nach den Fakten fragen: Wofür treten wir gemeinsam ein? Was haben wir gemeinsam beschlossen? Was haben wir in unseren Erklärungen zur Klimapolitik und zum Energiekonzept gemeinsam festgehalten? Andreas Jung ({0}) Ich möchte zunächst auf den Ausgangspunkt, auf Kopenhagen, zurückkommen. Wir haben mit Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses gesagt: Das Ziel der Bundesregierung, das 2-Grad-Celsius-Ziel völkerrechtlich verbindlich zu verankern, ist richtig. Wir haben das in Kopenhagen nicht geschafft. Dennoch ist das, was vor und während des Gipfels in Kopenhagen richtig war, nach wie vor richtig. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass die Entwicklung, die im letzten Bericht des IPCC beschrieben wurde, was den Anstieg des Meeresspiegels, die Auswirkungen auf die Biodiversität und die Bedrohung der Korallenriffe angeht, eher noch gravierender verlaufen könnte. ({1}) Deshalb ist das 2-Grad-Celsius-Ziel nach wie vor richtig. Deshalb ist es nach wie vor auch richtig, dass die Bundesregierung dieses Ziel international verfolgt. Bei diesem Kurs haben die Bundeskanzlerin und der Bundesumweltminister die volle Unterstützung der Unionsfraktion; da gibt es überhaupt kein Vertun. Das, was wir international für richtig halten, das 2-GradCelsius-Ziel, ist auch die Grundlage für unsere nationale Politik. Das ist die Grundlage für unsere nationalen Ziele. Ich möchte herausstellen, dass sich diese Bundesregierung ehrgeizigere Ziele gesetzt hat als alle Regierungen zuvor. ({2}) Wir haben erklärt: Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren, und zwar unbedingt, egal was andere machen, egal ob es zu dem ehrgeizigen Weltklimaschutzabkommen, das wir anstreben, kommt oder vorläufig nicht. Wir gehen voran. Wir sind Vorreiter. Das gilt genauso für die langfristigen Ziele. 2050 soll die Reduzierung gegenüber 1990 80 bis 95 Prozent betragen. ({3}) Gerade mit unserem Energiekonzept machen wir deutlich, dass es nicht bei den Zielen bleiben darf, sondern der Zielformulierung Taten folgen müssen, weil nur aus der Umsetzung Glaubwürdigkeit erwächst. Aus diesem Grund greifen wir den Gedanken des Monitorings auf. Zum ersten Mal soll dieses Instrument jetzt genutzt werden. Alle drei Jahre soll ein wissenschaftlich fundierter Bericht vorgelegt und öffentlich diskutiert werden. Wie schnell erreichen wir unsere Ziele? Können wir die Zehnjahresschritte, die in dem Energiekonzept festgelegt sind - 2030 minus 55 Prozent, 2040 70 Prozent -, einhalten? Wir stellen uns der Diskussion. Das Erreichen solcher Ziele war in der Vergangenheit unsere Stärke; Stichwort: Kioto. Wir Deutsche hatten ehrgeizige Ziele und haben sie umgesetzt. Das muss auch in Zukunft die Basis unserer Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik sein. Ziele sind das eine, Instrumente sind wichtig, aber entscheidend sind am Ende die Taten. Ich möchte dafür werben, dass wir uns dieses Energiekonzept genau anschauen. Ich finde, aus Umweltgesichtspunkten enthält es etliche Punkte, über die wir uns freuen können. In diesem Gesamtkonzept wird gesagt: Wir wollen den Weg in Richtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren Energien beschreiten. Wir wollen, dass unsere Energieversorgung bis 2050 nahezu vollständig durch erneuerbare Energien gedeckt wird. Die Grundlage dafür soll das Erneuerbare-Energien-Gesetz sein, das wir weiterentwickeln wollen. Wir halten an dem fest, was ich für zentral halte, an dem unbedingten Vorrang erneuerbarer Energien bei der Einspeisung. ({4}) Das zeigt, dass wir ein klares Ziel haben, und das Ziel heißt: Wir wollen hin zu erneuerbaren Energien. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist noch die eine oder andere Hürde zu überwinden, gibt es noch die eine oder andere offene Frage. ({5}) Dabei geht es zum Beispiel darum, dass wir den Strom nicht immer dort brauchen, wo Wind weht, und dass wir Energie häufig nicht gerade dann erzeugen, wenn sie gebraucht wird. Der Wind weht nicht unbedingt genau dann, wenn die Nachfrage am größten ist. Wir brauchen den Ausbau von Netzen, wir brauchen intelligente Netze und neue Speichertechnologien, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass erneuerbare Energien verlässlich und grundlastfähig an die Stelle der heutigen Struktur der Energieversorgung treten können. Das ist unser Ziel. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ganz konkrete Maßnahmen beschrieben. Aber wir brauchen noch etwas Zeit und vor allem Geld. Deshalb ist es ein Riesenerfolg der Umweltpolitik, dass in dem Energiekonzept die Zusage des Finanzministers festgehalten worden ist, dass die Mehrerlöse aus der Versteigerung der Emissionsrechte ab 2013 vollständig einem Fonds für erneuerbare Energien, für Energieeffizienz, für internationalen und nationalen Klimaschutz zugutekommen werden. Ich finde, das ist ein Erfolg, über den wir uns freuen können, weil dadurch all das, was wir gemeinsam wollen, einen Schub bekommen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ott?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Kollege Jung, ich glaube Ihnen, dass Sie und andere in Ihrer Fraktion durchaus bemüht sind, den Klimaschutz voranzubringen. Sie versuchen ja gerade, uns das hier zu erklären. Ich komme zu meiner Frage. Kollege Schwabe hat darauf hingewiesen, dass es in Ihrer Fraktion Personen gibt, beispielsweise Frau Dött - sie ist genannt worden -, die als umweltpolitische Sprecherin Ihrer Fraktion einem in der Szene weltbekannten Klimawandelleugner, nämlich Fred Singer, zustimmt und seine Thesen, dass der Klimawandel eine Schimäre ist, dass diejenigen, die Klimapolitik vorantreiben, die eigentlich Gefährlichen sind, einleuchtend findet und sich selber noch zu der Aussage versteigt - dem hat sie nicht widersprochen; sie hat nur gesagt, dass es aus dem Zusammenhang gerissen worden ist -, die Klimapolitik sei eine Ersatzreligion. Bei uns drängt sich natürlich der Eindruck auf, dass, auch wenn es, wie gesagt, einige unter Ihren Kolleginnen und Kollegen gibt, die Klimaschutz wirklich vorantreiben wollen, in der Sache die anderen die Oberhand behalten. Denn Ihre Klimaschutzgesetzgebung und Ihre Energiegesetzgebung, die Sie uns hier verkaufen wollen, entsprechen so ganz und gar nicht dem Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Deshalb bitte ich um Folgendes: Können Sie klarstellen, dass Ihre Fraktion im Gegensatz zu dem, was Ihre umweltpolitische Sprecherin sagt, den Klimawandel und den Anteil der Menschen am Klimawandel für unabweisbar hält? Damit wäre uns sehr geholfen. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, das war eher eine Frage an die Kollegin Dött als an mich; ({0}) aber ich kann auf die letzte Sitzung des Umweltausschusses verweisen, wo ich, als wir dort über Klimaschutz gesprochen haben, dieselben Standpunkte vertreten habe wie hier. Sie haben danach die Kollegin angesprochen, und sie hat darauf verwiesen, dass das, was ich als Berichterstatter für Klimaschutz im Ausschuss, im Plenum oder an anderer Stelle vertrete, die abgestimmte Position unserer Fraktion ist, die im Koalitionsvertrag und auch im Energiekonzept ihren Niederschlag gefunden hat. Demnach ist unbestritten und unbestreitbar, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt und dass die Konsequenz aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis die Herausforderung ist, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts den CO2-Ausstoß weltweit zu halbieren. ({1}) Die Konsequenz daraus wiederum ist, dass die Industriestaaten einen höheren Anteil als 50 Prozent übernehmen müssen. So kommen wir zum Minderungsziel der Bundesrepublik Deutschland von 80 bis 95 Prozent bis 2050, das wir auch in unserem Energiekonzept niedergelegt haben. ({2}) Wenn Sie nach den konkreten Maßnahmen fragen, verweise ich zum einen darauf, was ich schon beim Thema erneuerbare Energien beschrieben habe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Fell von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Jung, die Aussage, Ihre Fraktion würde den Klimaschutz massiv unterstützen, befriedigt mich angesichts der Tatsache, dass Ihre Fraktion eine umweltpolitische Sprecherin gewählt hat, die eine aktive Klimawandelleugnerin ist, nicht. ({0}) Das ist offensichtlich Fraktionsmeinung. Anders wäre nicht zu erklären, warum Ihre Fraktion eine solche Person in diese Funktion gewählt und mit der wichtigsten Fragestellung der Umweltpolitik betraut hat.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Fell, Fraktionsmeinung ist das, was wir in der Fraktion gemeinsam beschließen. Diese Inhalte können Sie in unserem Energiekonzept nachlesen; da steht genau das drin, was ich gerade gesagt habe. Es ist ein klarer Pfad auf dem Weg der Bekämpfung des Klimawandels hin zu einer Reduktion der CO2-Emissionen in einem Umfang von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr 2050. Das ist die abgestimmte Linie dieser Bundesregierung, unserer Bundestagsfraktion und der Koalition insgesamt. Im Übrigen nehmen wir neben den Bereichen, die ich bereits angesprochen habe, auch alle anderen relevanten Bereiche in den Blick. Lassen Sie mich das Beispiel Gebäudesanierung ansprechen. Wir werden finanzielle Mittel brauchen, um die große Aufgabe, die vor uns liegt, zu bewältigen und das Ziel der Kohlenstoffneutralität zu erreichen. ({0}) - Genau deshalb führen wir doch die Diskussion, wie wir vermeiden können, dass wir jedes Jahr beim Finanzminister als Bittsteller auftreten müssen. ({1}) Die Förderung von Gebäudesanierung, erneuerbarer Wärme und Klimaschutzprogrammen muss aus dem jährlichen Klein-Klein um Fördermittel herausgelöst werden. Deshalb ist es gut, dass ein Klimaschutzfonds eingerichtet wird. Er stellt nämlich eine verlässliche Grundlage für die Förderung der Gebäudesanierung und der anderen Aufgaben, die ich erwähnt habe, dar. ({2}) Andreas Jung ({3}) Auch im Verkehrsbereich setzen wir uns klare Ziele in Richtung nachhaltiger Mobilität. Wir setzen einen Schwerpunkt bei der Elektromobilität und verknüpfen die Themen Elektromobilität und erneuerbare Energien. Ich bin der Überzeugung, wir müssen daran arbeiten, dass Ökostrom unser Benzin der Zukunft wird, sodass wir die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch reduzieren können. Bis 2020 wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge und bis 2030 sogar 6 Millionen Fahrzeuge auf die Straße bringen. Wir unterlegen die Ziele, die wir uns setzen, mit ganz konkreten Maßnahmen, und wir verfolgen einen Pfad, auf dem wir unsere Ziele Stück für Stück erreichen. Ich finde, mit unserem Energiekonzept bleiben wir in Europa Vorreiter und Antreiber im Klimaschutz. Wie Sie es mit Ihren Anträgen tun, so beteiligen auch wir uns an der Diskussion, ob es richtig ist, dass die Europäische Union unbedingt erklärt, das Reduktionsziel von 30 Prozent bis 2020 zu erreichen. Auch ich verfolge natürlich die Debatte auf europäischer Ebene. Zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Parlament finden noch Diskussionen statt, und wir wissen, dass auch die Bundesregierung noch keine abgestimmte Position hat. Ich persönlich sehe keinen Grund, warum das, was in der Bundesrepublik richtig ist, nämlich eine Verpflichtung zu unbegrenzten Emissionszielen, in der Europäischen Union falsch sein sollte. Ich will hinzufügen: Ich bin sogar der Auffassung, dass es geradezu im deutschen Interesse wäre, wenn sich auch die anderen Staaten der Europäischen Union zur Erreichung so ehrgeiziger und unbegrenzter Ziele verpflichten würden, wie wir es in Deutschland bereits getan haben. ({4}) Ich halte es für richtig, dass auch der Bundesumweltminister diese Position vertritt. ({5}) Ich bin der Auffassung, wir Umweltpolitiker sollten ihn auf diesem Weg und in dieser Diskussion unterstützen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will noch in diesem Monat, also ganz schnell, ein Energiepaket, von dem sie behauptet, es würde die Erreichung der Klimaziele befördern, durchpeitschen. In Wirklichkeit geht es vor allem um eine Laufzeitverlängerung von AKWs ({0}) und die Profite der großen Energiekonzerne, aber nicht vordringlich um die Klimaziele. ({1}) Wenn man die Anträge der Fraktionen der SPD, der Linken und der Grünen liest, stellt man fest: Es besteht große Einigkeit. Die Notwendigkeit, zu handeln, wird erkannt. Ich stelle noch einmal die Frage: Warum brauchen wir ein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momentan die Klimaschutzziele von der Regierung geändert werden können, da sie nicht gesetzlich festgeschrieben sind. Immer wird so toll über Selbstverpflichtungen gesprochen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Selbstverpflichtung eingehalten wurde. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Selbstverpflichtung 2005, die eine Reduktion um 25 Prozent beinhaltete, auch nicht erfüllt wurde. Warum brauchen wir dieses Gesetz? Abweichungen bleiben folgenlos. Zwischenziele müssen überprüfbar werden. Wir müssen früh genug, wenn das nicht funktioniert, die Notbremse ziehen können. Das halte ich für dringend notwendig. Darin sind wir uns einig. Jetzt komme ich zum Ansatz der Linken. Dabei zeige ich auch einige Differenzen auf. Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen hat Konzepte dargestellt. Wenn jeder Mensch auf der Welt die gleichen Rechte auf Emissionen hätte, hätte Deutschland bei gleichbleibenden Emissionen ab 2010 in zehn Jahren sein klimaverträgliches Budget verbraucht. In der EU würde das zwei Jahre später passieren. Ich spreche von den Pro-Kopf-Zahlen. Das heißt, die Industrieländer brauchen ambitionierte Sparziele. Wir, die Linken, sagen: Wir müssen den globalen Süden entschädigen, wenn wir über unserem Budget - das ist der Fall - und die Entwicklungsländer unter ihrem Budget bleiben. Das ist auch der Grund, weshalb die Linke in ihrem Entwurf für das Klimaschutzgesetz Transfergelder an Entwicklungsländer vorschreibt. Denn unsere nationalen Einsparziele sind nur gerecht, wenn die ärmeren Länder den Deal akzeptieren. Das kostet Geld. ({2}) Wie wichtig das ist, zeigt das Trauerspiel um das ITTYasuní-Projekt in Ecuador. Der Plan: keine Zerstörung des Regenwaldes in der Region und kein Abbau von Erdöl, dafür aber ein Ausgleich der Industriestaaten. Übersetzt heißt das: Der Norden bezahlt ein armes lateinamerikanisches Land für einen Teil der Exportverluste und zugleich für den Schutz von Klima und Biodiversität, also Artenschutz. Alle Fraktionen waren in der letzten Legislaturperiode dafür, haben das unterstützt und Signale gesetzt. Das war auch noch letzte Woche beim Besuch der ecuadorianischen Umweltministerin der Fall. Aber der Entwicklungsminister, Herr Niebel, will die Gelder streichen. ({3}) Die Umweltministerin wurde nicht einmal von Herrn Niebel empfangen, sondern nur von einem Abteilungsleiter des BMZ. Das finde ich schäbig. Genau so organisiert man auf internationaler Ebene Blockaden zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Das ist ein Beispiel dafür. Das ist der Weg, wie internationale Klimaverhandlungen gegen die Wand gefahren werden. Ich warne davor. ({4}) Natürlich haben wir die Pflicht, zu Hause ambitionierte Einsparziele zu erreichen. Da gibt es eine Menge Luft. Da können wir sehr viel tun. Denn die Frage ist: Sind wirklich 40 Prozent bis 2020 für Deutschland angemessen? Das gilt auch für das magere EU-Ziel von 20 Prozent. Krisenbedingt ist der Ausstoß von CO2 gesunken. Die Zahl liegt bei fast minus 30 Prozent in Deutschland; in der EU beträgt sie minus 17 Prozent. Das heißt, der Anteil regenerativer Energien wächst noch schneller - das wollen wir -, als wir erwarten. Die EU sagt dazu, man brauche ein anspruchsvolleres Ziel. Die Kosten dafür lägen niedriger, als vor der Krise errechnet wurde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen dieses Ziel. In Deutschland sollten wir über 50 Prozent und in der EU - das sagte auch Herr Jung - über 30 Prozent reden. Ich denke, darüber können wir uns relativ schnell einigen. Jetzt zum SPD-Antrag: Darin steht, dass die Emissionsminderung im Inland stattfinden solle. CDM und JI - das sind internationale Projekte in anderen Ländern, für die es Zertifikate gibt - seien zur Ergänzung da. Jetzt würde ich gerne wissen, was das heißt. ({5}) Was meinen Sie damit? Das hat nämlich eine starke Auswirkung auf die Erfüllung der Minderungsziele. Deshalb meinen wir: Dort dürfen Sie nicht unklar bleiben. Deutsche Unternehmen können sich vom nationalen Klimaschutz freikaufen, wenn sie CO2-Gutschriften aus dem Ausland vorweisen. Das ist inzwischen bekannt und ginge auch in Ordnung, wenn dahinter tatsächlich Klimaschutz stehen würde. Ich denke, das meinen Sie auch. Die Hälfte der Zertifikate ist aber heiße Luft. Dadurch wird der Klimaschutz hier im Land aufgeweicht. Das ARD-Magazin Monitor hat über HFC-23-Projekte berichtet. Dabei geht es um Abfallprodukte aus der Kältemittelherstellung. Damit wird getrickst. Sie werden auf Halde produziert, damit der Klimakiller als Nebenprodukt wieder vernichtet wird. Dafür gibt es eben diese Emissionszertifikate. 19 Chemieunternehmen auf der Welt - meist in China und Indien mit Investoren aus Europa und Japan - arbeiten daran. Aus diesen wenigen Anlagen stammt - das ist eigentlich unglaublich; ich nenne jetzt noch einmal die Zahl - die Hälfte aller weltweit gehandelten Emissionszertifikate. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns also noch einmal intensiv darüber reden, was wir hier wirklich wollen; denn so hat das keinen Sinn. Ich komme zum Schluss. Wir haben im Umweltausschuss über Peak Oil gesprochen. Dabei haben wir darüber gesprochen, welche Auswirkungen das haben wird. Das müssen wir weiter tun. In der vorherigen Debatte haben wir gerade gehört: Es ist wieder ein Soldat in Afghanistan gestorben. - Ich meine, wir sollten darüber diskutieren: ({6}) Regenerative Energien tragen zum Frieden bei. Kriege werden um Öl und um natürliche Ressourcen geführt. ({7}) Es gab einen Bundespräsidenten - er ist zurückgetreten -, der gesagt hat: Aus wirtschaftlichen Gründen werden Kriege geführt. - Das hat er gesagt, auch wenn Sie das leugnen. Auch aus diesem Grund müssen wir mehr Klimaschutz betreiben. Die Gelder für die Kriege könnten auch dort gut investiert werden. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundlage der Klimapolitik der FDP ist der Mainstream der Wissenschaft. Die FDP verbietet aber keinem ihrer Abgeordneten eine Diskussion oder eine eigene Meinung. Entscheidend ist am Schluss - ich denke, das wird bei CDU/CSU genauso sein -, was Mehrheiten entscheiden, und Mehrheiten in der FDP haben sich auf Parteitagen und in der Fraktion überwältigend klar für die Klimapolitik ausgesprochen, die diese Bundesregierung hier vereinbart hat und umsetzt. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie haben sofort eine Zwischenfrage provoziert. Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern, dann sagen Sie zu.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Schwabe, bitte.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kauch, ich begrüße diese Aussage der FDP ausdrücklich. Gleichzeitig will ich Sie aber fragen: Was halten Sie dann davon, dass es Ihre Partnerfraktion in der Koalition so hält, dass sie eine Person, die den menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel in der Tat infrage stellt, zu ihrer Sprecherin für das Thema Umweltschutz macht? Spricht das aus Ihrer Sicht dafür, dass die Mehrheit in dieser Fraktion diese Meinung teilt? ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Schwabe, ich würde es mir verbitten, wenn die CDU/CSU-Fraktion unsere Personalentscheidungen kommentieren würde. Deshalb kann ich nur sagen, dass der Kollege Jung alles Notwendige zu dieser Frage gesagt hat. ({0}) Meine Damen und Herren, wir stehen zur Politik der Emissionsminderung von Treibhausgasen, weil das für uns geradezu eine Frage der Generationengerechtigkeit ist. Wir müssen den Generationen, die nach uns folgen, nämlich Lebensräume hinterlassen, die lebenswert sind, und Ressourcen für sie erhalten, die sie vielleicht noch einmal brauchen werden. Das betrifft Rohstoffe, das betrifft aber eben auch natürliche Ressourcen und die Biodiversität. Deshalb hat diese Bundesregierung - haben CDU/ CSU und FDP im Deutschen Bundestag - höhere CO2Minderungsziele beschlossen, als es jede Regierung zuvor getan hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020, 80 Prozent bis 95 Prozent bis 2050. ({1}) Deshalb brauchen wir in der Klimapolitik absolut keine Nachhilfe von der Opposition. ({2}) Im Energiekonzept gehen wir noch weiter. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, Zwischenschritte für einen Entwicklungspfad zur Emissionsminderung zu setzen. Das ist auch richtig so. Dann kann sich jeder darauf einstellen, welche Schritte in Politik und Wirtschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen werden. Wir haben das Energiekonzept klar beschlossen. Der Deutsche Bundestag wird das mit einem Antrag von CDU, CSU und FDP unterstützen, zumindest dann, wenn Sie uns die Gelegenheit geben, endlich zu Entscheidungen zu kommen, statt immer wieder nur durch formale Obstruktion die Prozesse in die Länge zu ziehen. ({3}) Wir haben eine CO2-Minderung um 55 Prozent bis 2030 und um 70 Prozent bis 2040 sowie ein Monitoring durch die Bundesregierung beschlossen, das alle drei Jahre durchgeführt werden soll. Das sind genau die Ziele, die Sie mit Ihrem Klimaschutzgesetz erreichen wollen. Wir werden das auch mit dem Energiekonzept, das wir beschlossen haben, erreichen können. Das ist ein realistischer Pfad. Es ist alles durchgerechnet worden. Die Opposition - das wird auch in dem Antrag der SPD deutlich - folgt in ihren Forderungen immer dem Grundsatz „Es darf ein bisschen mehr sein“. Die SPD hat im Januar und im Oktober Anträge vorgelegt. Im Januar hat sie unter dem Titel „Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“ eine CO2-Minderung von 80 bis 95 Prozent gefordert. Das fanden wir gut. Inzwischen, ein Dreivierteljahr später, boomen die Grünen im Gegensatz zu Ihnen, und deswegen müssen Sie jetzt ein bisschen nachlegen, indem Sie 95 Prozent fordern. Das war vorher offensichtlich nicht die Lehre, die Sie aus Kopenhagen gezogen haben, und macht deutlich, worum es hier geht: Sie veranstalten eine Zahlenspielerei. Das bringt uns in der Sache nicht weiter. Sie betreiben eine PR-Strategie, um ein paar Wähler mehr von den Grünen zu bekommen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Schwabe will noch eine Zwischenfrage stellen.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, jetzt nicht mehr. - Deshalb rufe ich in Erinnerung, was aus den Zielen wird, die sich rot-grüne Regierungen gesetzt haben. Helmut Kohl und Angela Merkel haben in den 90er-Jahren als nationales Klimaschutzziel eine CO2-Minderung von 25 Prozent bis 2050 beschlossen. ({0}) Das wurde 1998 von der rot-grünen Regierung übernommen. Dann war Jürgen Trittin sieben Jahre lang Umweltminister dieser Republik. Am Ende - ich glaube, es war im Jahr 2003 - hat die Bundesregierung klammheimlich dieses nationale Klimaschutzziel aus allen Berichten getilgt, weil sie es nicht erreicht hat. Ihre Politik erreicht die Klimaschutzziele nicht, die Sie der Bevölkerung vorgaukeln. ({1}) Diese Koalition macht realistische Politik. Deswegen bringen wir ein Energiekonzept auf den Weg, das den Aufbruch in das Zeitalter der erneuerbaren Energien nicht nur einfordert, sondern auch die Wege aufzeigt, wie man ihn erreichen kann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, es gibt noch einmal den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Kelber.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gerne meine Ausführungen zu Ende führen. - Bis 2050 soll der Anteil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien 80 Prozent betragen und eine Minderung von mehr als 50 Prozent beim Primärenergieverbrauch erreicht werden. Das wird durch zahlreiche Maßnahmen unterlegt. Die wichtigste ist zunächst einmal, dass wir den Einspeisevorrang verankern und dadurch dafür sorgen, dass es keinen Wettbewerb zwischen Kernkraft und erneuerbaren Energien gibt. Der Einspeisevorrang bewirkt, dass der Wettbewerb bei der Laufzeitverlängerung zwischen Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerken stattfindet. Das ist auch aus Klimaschutzgesichtspunkten der richtige Weg. ({0}) Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekonzept nicht nur 30 dürre Seiten geschrieben, wie der Kollege Schwabe gesagt hat, sondern wir haben ein konkretes Sofortprogramm zum Beispiel für die OffshoreWindkraft und den Netzausbau verabschiedet. Ich sage Ihnen von der Opposition ganz klar: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, im Deutschen Bundestag für erneuerbare Energien einzutreten und dann die Stromleitungen, die notwendig sind, um den Strom auch in den Süden zu transportieren, zu blockieren und zu obstruieren. ({1}) Ich sehe schon voraus, dass die Kollegin Höhn auch bei den nächsten Bürgerinitiativen dabei sein wird, um Infrastrukturprojekte für erneuerbare Energien zu verhindern. ({2}) Wir setzen uns für Netzausbau und Speicherförderung ein. Wir legen einen Geothermieatlas auf, damit klar ist, wo Chancen auf Geothermie bestehen. ({3}) Wir stärken die Stellung von Biogas im Wärmebereich, was die SPD nicht gewollt hat. Wir werden das Förderinstrumentarium für erneuerbare Wärme ausweiten. Last, but not least ist der Energie- und Klimafonds das größte Förderprogramm für erneuerbare Energien, das diese Republik jemals gesehen hat. Alle Mehrerlöse aus dem CO2-Handel fließen in diesen Fonds. Hinzu kommt die Gewinnabschöpfung bei den Kernkraftwerksbetreibern. Sie dagegen haben damals vertraglich zugesichert, die Gewinne nicht abzuschöpfen. In Ihrem Atomvertrag ist zu lesen: kein Geld von den Kernkraftwerksbetreibern. - Wir nehmen das Geld von den Kernkraftwerksbetreibern, um es in erneuerbare Energien zu investieren. ({4}) Wenn man sich die Anträge der Opposition zum Klimaschutzgesetz anschaut, stellt man fest, dass sie durchaus nachdenkenswerte Punkte enthalten. Aber ich sage Ihnen ganz klar: Einen Punkt halte ich für absolut inakzeptabel, nämlich den Weg in die Räterepublik. Ihnen fällt, wenn Sie nicht weiterwissen, immer nur ein: Dann gründen wir einen neuen Arbeitskreis. - In diesem Fall soll es eine sogenannte unabhängige Klimaschutzkommission sein. Im Antrag der SPD steht: In der Kommission erhalten der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der Rat für nachhaltige Entwicklung, der Wissenschaftliche Beirat für globale Umweltveränderungen sowie namhafte Wissenschaftler Sitz und Stimme. Sie selber zählen auf, wie viele Gremien diese Republik schon hat, die sich mit dem gleichen Thema befassen. Dennoch wollen Sie ein neues Gremium sozusagen als Dach für all die Gremien, die Sie eingerichtet haben, damit alles koordiniert wird. Wenn Sie neue Gremien wollen, dann müssen Sie auch sagen, wo etwas bereinigt werden soll. Ansonsten bleiben wir bei den bewährten Strukturen, deren Aufbau wir gemeinsam hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben. ({5}) Ich sage ganz klar: Wir Liberale sowie die Kolleginnen und Kollegen von der Union gehen voran in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir stehen für Treibhausgasminderung. Wir brauchen hier keine Nachhilfe. Unsere Ziele sind ambitioniert. Wir zeigen auf, wie man sie erreichen kann. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Kelber wünscht eine Kurzintervention. Er soll sie bekommen. - Bitte schön.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Herr Kollege Kauch, in der letzten Debatte hatten Sie die Behauptung aufgestellt, im Land Nordrhein-Westfalen hätte Schwarz-Gelb eine anspruchsvollere Klimapolitik gemacht, als es die Nachfolgeregierung vorhat. Das konnte durch Zitate aus dem Umweltbericht der schwarz-gelben Landesregierung leicht widerlegt werden. Tatsächlich sind die Emissionen angestiegen. Heute haben Sie gesagt, die alte schwarzgelbe Bundesregierung hätte bis 1998 eine anspruchsvollere Klimapolitik als die Nachfolgeregierungen gemacht. Können Sie bestätigen, dass in der Zeit der schwarz-gelben Bundesregierung die Treibhausgasemissionen ausschließlich in den Jahren 1991, 1992 und 1993 zurückgegangen sind, dass dieser Rückgang ausschließlich aufgrund des Zusammenbruchs der Industrie in OstUlrich Kelber deutschland sowie der Modernisierungen dort erfolgte, dass die Treibhausgasemissionen von 1994 bis 1999 auch in Ostdeutschland wieder angestiegen sind und erst unter der rot-grünen Regierung sanken und dass die CO2-Emissionen in Westdeutschland in den gesamten 16 Jahren der Kohl-Regierungen, zum Teil unter Beteiligung von Frau Merkel - das sind die beiden Namen, die Sie genannt hatten; offenbar fiel Ihnen kein Name von der FDP ein -, angestiegen sind und zum ersten Mal im Jahr 1999 unter der rot-grünen Regierung gesunken sind? Sind Ihnen die Zahlen bekannt?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kauch, zur Erwiderung.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Kelber, es ist schon erstaunlich, dass Sie sich hier offensichtlich zum Anwalt von Herrn Trittin machen wollen, weil es die Grünen nicht tun. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben es durch den Zusammenbruch alter Industrien in Ostdeutschland am Anfang der 90er-Jahre natürlich leichter gehabt als andere Länder; das ist völlig unstreitig. Aber wir haben auch anspruchsvollere Ziele gesetzt. Es hat sich kein anderer Umweltminister so mir nichts, dir nichts von Umweltschutzzielen verabschiedet wie Herr Trittin. An der Stelle muss man mal Herrn Gabriel loben, der hat nämlich am Schluss seiner Amtszeit die Kioto-Ziele umsetzen können. Herr Trittin hat es offensichtlich nicht geschafft. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt hat Kollegin Höhn das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier eben einen Ihrer wirklich legendären Auftritte erlebt. Sie versuchen, einfach durch Lautstärke zu überzeugen. Was Sie zu Jürgen Trittin gesagt haben, macht deutlich, dass Sie nichts verstanden haben. Durch Jürgen Trittin sind die erneuerbaren Energien erst mal auf den Weg gekommen, auf dem sie heute sind. ({0}) Niemand anders als die Grünen hat die Erneuerbaren eingeführt. ({1}) Alle Welt guckt auf Deutschland, weil wir das damals unter Rot-Grün geschafft haben. Davon sind Sie von der FDP meilenweit weg. Ich muss ehrlich sagen, ich finde diese Debatte traurig. Eigentlich möchte ich an das anknüpfen, was der Kollege Jung gesagt hat. Bei allen Auseinandersetzungen, die wir hatten, haben wir hier im Bundestag eine Gemeinsamkeit gehabt, und das war der Klimaschutz. Es gab immer eine gemeinsame Basis bei den internationalen Zielen des Klimaschutzes. Die einen wollten mehr als die anderen, aber vom Grundsatz her haben wir es in diesem Bundestag sogar geschafft, vor Klimakonferenzen einstimmige Beschlüsse zu Klimaschutzzielen hinzubekommen. Ich muss sagen, das war eine gute Leistung, weil wir erkannt haben: Das ist ein globales Problem, darauf müssen wir auch gemeinsam als gesamter Bundestag reagieren. Daher können wir eine solche Auseinandersetzung, wie Herr Kauch sie wieder einmal begonnen hat, nicht gebrauchen. Es geht um viel mehr als um das Gezänk hier untereinander. Es ist schade, dass Herr Kauch genau diese Debatte beginnt. Ich meine, wenn Herr Kauch jetzt zum Beispiel sagt, wir würden die formalen Prozesse, gerade was all die Atomgesetze, über die wir jetzt diskutieren, angeht, verzögern, dann muss ich sagen: Herr Kauch, denken Sie mal einen Moment nach. Machen Sie nicht immer den Mund auf, sondern denken Sie einen Moment nach, was Sie uns bei diesen Anhörungen zumuten: zwei Gesetze in vier Stunden. Das heißt, wir haben für die Sicherheit von Atomkraftwerken und für die wirklich entscheidende Frage des Atommülls gerade mal 30 bis 45 Minuten, um uns damit zu beschäftigen. Das ist eine Farce, und Sie haben uns diese eingebrockt. Das ist die Wahrheit. ({2}) Sie haben die Erkundung von Gorleben wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Gorleben, wo es unten eine Riesenblase mit Gas und oben eine wasserlösliche Schicht gibt, soll als Endlager dienen. Die Fachleute behaupten, da könnte man Müll 1 Million Jahre zwischen dem Gas und der wasserlöslichen Schicht sicher aufbewahren. Dazu muss ich sagen: Gehen Sie in sich. Sie haben eine verdammte Verantwortung allen nachfolgenden Generationen gegenüber. Mit einfachen Sprüchen kommt man da nicht weiter. ({3}) Wir diskutieren hier und sagen: Klimaschutz und Klimaziele dürfen nicht einfach nur irgendwelche Ziele sein, vielmehr brauchen wir Instrumente, die dazu dienen, diese Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Deshalb haben wir hier als Grüne im Dezember letzten Jahres einen Antrag gestellt - die SPD hat jetzt einen Antrag gestellt -, der in folgende Richtung geht: Wir können uns auf Klimaziele einigen und sollten zum Erreichen dieser Ziele hier gemeinsam Instrumente beschließen. Wir sagen: Wir verfolgen beim Klimaschutz ein großes Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen, egal unter welcher Regierung. Deshalb meinen wir: Wir brauchen ein Klimaschutzgesetz, weil es drei ganz entscheidende Vorteile hat. Es ist verlässlich, es ist transparent und konsequent. Und genau das brauchen wir bei dem globalen Problem, das wir mit dem Klimawandel haben. Ein solches Klimaschutzgesetz brauchen wir in diesem Land. ({4}) Warum ist das verlässlich? Wir haben momentan unverbindliche politische Vorgaben, und wir wollen diese unverbindlichen Vorgaben in rechtsverbindliche Ziele umsetzen. Das ist das Ziel eines Klimaschutzgesetzes. Bei der Vorgabe können wir uns auch darüber streiten, ob es jetzt 80 Prozent oder 95 Prozent CO2-Reduktion bis 2050 geben soll. Über verbindliche Ziele würde genau das erreicht, was wir brauchen, eine langfristige Planungssicherheit für die Menschen. Was Sie mit Ihrem Energiekonzept gegen die Mehrheit der Bevölkerung erreicht haben, ist doch, dass es einen Stillstand bei den Investitionen gibt. Die Stadtwerke investieren nicht mehr. In die Erneuerbaren wird nicht mehr investiert. Durch Ihr Energiekonzept gibt es in den nächsten drei Jahren einen Stillstand, nicht mehr und nicht weniger. Dann werden wir kommen, das Ganze nach der Wahl umändern, und es kann wieder losgehen. So ist die Politik, und das ist auch gut so. ({5}) Es wäre auch vor Cancún ein schönes Zeichen, wenn man wirklich sagen würde: Ja, Deutschland verabschiedet ein Klimaschutzgesetz; wir wollen nicht nur Klimaschutzziele beschließen, sondern auch zeigen, wie sie umgesetzt werden können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauch?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte schön.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höhn, Sie haben angemahnt, dass wir eine gemeinsame Basis für die internationale Klimapolitik brauchen. Ich stelle fest, dass diese gemeinsame Basis immer noch da ist. Wir debattieren aber heute hier über die nationale Umsetzung. Der Kollege Schwabe hat die Auseinandersetzung um das nationale Energiekonzept in die Debatte eingeführt. Dies sei vorausgeschickt. Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich glaube, es ist wichtig und es ist zentral, dass wir vor Cancún und darüber hinaus in den internationalen Verhandlungen eine Basis haben. Wir haben nämlich ein gemeinsames nationales Interesse, das, was wir hier tun, auch in anderen Teilen der Welt zu sehen. Zu meiner Frage. Sie haben gesagt: Die Menschen müssen sich auf die Zielvorgaben, Zielentwicklungspfade, die wir beschließen, verlassen können. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Energiekonzept, das Sie hier in Bausch und Bogen verdammen - Sie haben das Recht, das eine oder andere zu kritisieren; insbesondere in der Kernenergiefrage sind wir halt nicht auf einer Linie -, genau dieser klimapolitische Entwicklungspfad hin zu einem Anteil von 80 bis 95 Prozent bis 2050 entwickelt worden ist, dass dieses Konzept im Deutschen Bundestag beschlossen werden wird und dass dies letztendlich Grundlage sein sollte für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die über Legislaturperioden hinweg verfolgt wird? Sind Sie bereit, diese parteiübergreifenden Punkte - ich glaube, sie können auch nach den Änderungen verfolgt werden, die Sie am Energiekonzept vornehmen wollen, wenn Sie wieder einmal regieren - gelten zu lassen? Oder wollen Sie sie nach einer Regierungsübernahme vom Tisch wischen?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kauch, der entscheidende Punkt ist, ob die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, erreichbar sind. Wir bieten Ihnen mit dem Klimaschutzgesetz ein Instrument, wie die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, auch erreicht werden können. Wir fordern: Die Ziele müssen überprüft werden, sie müssen transparent dargestellt werden, und wenn sie nicht erreicht werden, dann müssen Sanktionen verhängt werden. Genau dieses Instrument verweigern Sie. Deshalb müssen Sie sich nicht wundern, dass wir glauben, dass Ihre Ziele nur auf dem Papier stehen. De facto wissen Sie selber, dass Sie mit der Art und Weise, wie Sie Politik machen, diese Ziele nie und nimmer erreichen werden. Das ist der Unterschied. ({0}) Ein Klimaschutzgesetz stünde einerseits für Verlässlichkeit und andererseits für Transparenz. Wir wollen Zwischenziele. Übrigens, Großbritannien hat sie sich bereits gesetzt; es gibt also auch Länder, die diesen Weg gehen. Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen, dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hier funktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa im Verkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, da müssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maßnahmen ergreifen. - Das ist die Transparenz, die wir mit dem Klimaschutzgesetz wollen. Wenn wir es hätten, dann könnten wir schnell reagieren und könnten letzten Endes dafür sorgen, dass diese Ziele wirklich erreicht werden. Dazu gehört natürlich, dass wir konsequent sein müssen. Wenn die Ziele nicht erreicht werden, dann müssen wir in der Tat Sanktionen verhängen. Dann müssen verstärkt Klimaschutzanstrengungen unternommen werden. Damit würden wir versuchen, der Erreichung all dieser Ziele Biss und Nachdruck zu verleihen. Wir wollen nicht nur, dass Ziele formuliert werden, sondern auch, dass sie umgesetzt werden, und deshalb fordern wir das Klimaschutzgesetz. ({1}) Die Alternative ist nämlich das, was Sie, Herr Kauch, mit dem Klimakonzept machen. Wir haben den Eindruck: Das ist unverbindliche Lyrik. Das Energiekonzept der Bundesregierung enthält 36 Prüfaufträge, und zwar ohne Substanz. Schauen wir uns doch einmal die Gebäudesanierung an. Durch die Gebäudesanierung kann viel CO2 reduziert werden. Im letzten Jahr standen 2,2 Milliarden Euro für die Gebäudesanierung zur Verfügung. In diesem Jahr sind es 1,5 Milliarden Euro, und der Wert für das nächste Jahr ist - erst nach großem Protest - auf 950 Millionen Euro aufgestockt worden. Wenn Sie dann sagen: „In diesem Atomfonds sind noch 300 Millionen“, dann sage ich: Der Unterschied zwischen 1,5 Milliarden und 950 Millionen beträgt fast 600 Millionen. Wenn Sie die Mittel mit Ihren 300 Millionen aufstocken, dann sind Sie immer noch nicht bei dem Wert von diesem Jahr. Das heißt de facto, dass Sie viel hineinschreiben, aber bei der Gebäudesanierung nicht die Finanzen zur Verfügung stellen, um die Ziele am Ende wirklich durchsetzen zu können. Das machen wir Ihnen zum Vorwurf. ({2}) Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Sache noch einmal im Ausschuss diskutieren. Nach meiner Auffassung gibt es Gemeinsamkeiten; Herr Jung hat das noch einmal dargestellt. Ich würde gerne ausloten, ob es diese Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt und wie weit wir da gehen können. Das sollten wir machen. Sollten wir dies in einer Zeit der Konfrontation, die wir momentan erleben, schaffen, dann wäre das ein gutes Zeichen, weil wir deutlich machen, dass wir bei globalen Fragen, deren Lösung wir hier national umsetzen, am Ende noch Gemeinsamkeiten hinbekommen. Darauf hoffe ich ein Stück. Ich sehe den einen und anderen, mit dem man vielleicht zusammenarbeiten kann; Herr Kauch, vielleicht auch mit Ihnen in einer ruhigen Stunde, wenn es nicht darum geht, hier am Rednerpult zu demonstrieren, wie aufgeregt und engagiert Sie sein können. Ich hoffe auf gute Beratungen im Ausschuss. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christian Hirte für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir eine etwas hektische Debatte jetzt hatten, versuche ich, ein klein bisschen Ruhe hineinzubringen und auch etwas sachlich zu diskutieren. Kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Kopenhagen im Dezember letzten Jahres hat der Bundesumweltminister in einer Rede vor diesem Haus drei zentrale Gesichtspunkte einer europäischen Klimaschutzinitiative formuliert, die ich auch gerade vor dem Hintergrund der heutigen Debatte für wesentlich erachte: Erstens muss es uns bei Klimapolitik um Nachhaltigkeit gehen. Wenn wir die natürlichen Ressourcen unseres Planeten verbrauchen - wir haben viel über Energie gesprochen; das heißt, dass wir die kohlenstoffbasierten Ressourcen verbrauchen - und damit den CO2-Ausstoß weiter in dem Maße vorantreiben, wie wir das bis heute tun, werden wir den nächsten Generationen einen Bärendienst erweisen. Vielleicht diskutieren wir in Europa und insgesamt heute manchmal auch noch das falsche Thema. Manche klagen über mögliche Jobverluste wegen Klimaschutzauflagen. Ich glaube, viel größere Sorgen müssten wir uns machen, wenn wir nicht über Klimaschutz diskutieren würden. Deswegen will ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich freue und es begrüße, dass wir in dieser Runde auch so engagiert das Thema gemeinsam miteinander debattieren. Es geht aber natürlich zweitens auch um die Art, wie wir wirtschaften. Bis 2050 werden wahrscheinlich auf unserer Erde etwa 9 Milliarden Menschen leben, und viele von ihnen werden natürlich ein Stück von dem Wohlstand beanspruchen, den wir bei uns in Europa als selbstverständlich erachten. Dass dies mit einem enormen Anstieg des Energiebedarfs verbunden sein wird, liegt auf der Hand. Diesen Wohlstandsanspruch mit knappen Ressourcen in Einklang zu bringen, heißt, Energie und knappe Lebensgüter künftig vernünftig zu bewirtschaften. Wir müssen also ein Gut wie Energie nicht nur bereitstellen; zu unserem Wohlstand gehört es auch, dass dies zu bezahlbaren Preisen erfolgen kann. ({0}) Energie, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist also ein Grundbedürfnis und kein Luxusgut. Und um dieses grundlegende Bedürfnis zu befriedigen, geht es drittens darum, sich damit zu beschäftigen, mit welchen Technologien man dies dauerhaft ermöglichen will. Nach dem Verständnis unserer Koalition - und ich will das hier in aller Deutlichkeit sagen - sind es dauerhaft nicht die Kernkraft und nicht die Kohle, sondern die erneuerbaren Energien. Wir haben schon in unserem Koalitionsvertrag und in unserem Wahlkampfpapier ausdrücklich davon gesprochen - das tun wir auch heute noch, nachdem wir gewählt sind -, dass es sich bei der Kernkraft um eine Brückentechnologie handelt. Wenn ich vorhin das Jahr 2050 angesprochen habe, habe ich das nicht ganz ohne Bedacht gewählt, weil natürlich auch das Energiekonzept der Bundesregierung diesen Zeithorizont zugrunde legt. Zum ersten Mal - hier gebe ich dem Kollegen Kauch ausdrücklich recht - hat sich eine Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetzt und sich zu drei Punkten, nämlich Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Technologie, offen und konkret bekannt. Mit dem Energiekonzept werden Leitlinien für den Einstieg in eine umweltschonende, zuverlässige und vor allem auch bezahlbare Energieversorgung formuliert. Ich will aber noch einen vierten Gesichtspunkt hinzufügen. Es geht am Ende auch immer um Glaubwürdigkeit. Richtig ist - Andreas Jung hat das ausgeführt -, dass der Klimagipfel von Kopenhagen nicht die Ergebnisse gebracht hat, die wir uns, ich glaube, alle gemeinsam in diesem Hause, erhofft haben. Das Ziel muss trotzdem bleiben, die globale Erwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen. ({1}) Und dieses Ziel müssen wir in Deutschland glaubwürdig vertreten. Wir haben in Deutschland in den vergangenen Jahren hohe Ansprüche beim Klimaschutz formuliert und eingehalten. Das wird sich auch künftig nicht ändern. Die internationale Rolle Deutschlands beim Klimaschutz erwächst aber nicht aus nationalen Klimaschutzgesetzen, wie sie die Oppositionsfraktionen in ihren Anträgen fordern. Sie erwächst auch und gerade aus der Gestaltung der konkreten Energie- und Klimapolitik im eigenen Land. Deutschland muss und wird also durch seine eigene Vorreiterrolle beispielgebend sein; darauf hat die Bundeskanzlerin immer deutlich hingewiesen. Die Frage ist jetzt, wie wir unsere Vorreiterrolle forcieren können. Die Antwort darauf ist: Deutschland muss durch sein eigenes Beispiel führen. Wir müssen beweisen, dass Wachstum und der Ausstoß von Treibhausgasen voneinander entkoppelt werden können. Deutschland muss zeigen, dass es möglich ist, den Wohlstand zu mehren und das Klima zu schützen. Die unkonditionierte 40-prozentige Reduktion des Klimagasausstoßes ist schon angesprochen worden; ich muss das nicht weiter auszuführen. Das Energiekonzept ist also der richtige Weg, um auch anderen Ländern ein Beispiel zu geben und zu zeigen, wie Wohlstand und Ressourcenverbrauch in Einklang gebracht werden können. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, das von Ihnen so verschmähte Energiekonzept wird - und das werden Sie sehen - Modell und Maßstab für die Lösung der Energiefragen vieler anderer Länder werden. ({2}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt beleuchten, der oft vergessen wird: Aktiver Klimaschutz bedeutet im Ergebnis auch eine größere Unabhängigkeit von ausländischen fossilen Energieträgern. Europa ist von Energieimporten abhängig, und die Tendenz ist steigend. Zeitgleich verschärft sich der globale Wettbewerb um Rohstoffe und Energieträger. Die Nachfrage wächst wesentlich schneller als das Angebot. Die Sorge um Verlässlichkeit und Stabilität der europäischen Hauptenergielieferanten erhöht noch einmal den Handlungsdruck. Daher ist aktiver Klimaschutz nicht nur Garant für die wirtschaftliche Selbstständigkeit. Er bietet gleichzeitig eine Chance, aus dem Teufelskreis von Knappheit und Abhängigkeit zu entkommen. Klimaschutz liegt also durchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands, weil wir uns damit von ausländischen Ressourcen abkoppeln. Als Technologieführer bei den erneuerbaren Energien kann Deutschland dabei seine Position weiter ausbauen, und ich bin auch sicher, dass das gelingen wird. Ökonomische Modernisierung und technologische Innovation das ist der Weg, auf dem wir Wohlstand erreichen, Wachstum ausbauen und gleichzeitig ressourcenschonend wirtschaften und leben können. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegin! Herr Hirte, damit kein falscher Eindruck entsteht: Zum Maßstab wird Ihr Energiekonzept hundertprozentig nicht werden. ({0}) Spätestens in Karlsruhe oder spätestens 2013 ist das vom Tisch, sind auch die Laufzeitverlängerungen vom Tisch. ({1}) Herr Kauch, was Sie gesagt haben, war ein bisschen entlarvend. Sie haben davon gesprochen, dass Sie Angst vor der sogenannten Räte-Republik haben. Dabei geht es nur darum, dass Politik den Mut hat, durch ein unabhängiges Gremium prüfen zu lassen, ob die Maßnahmen ausreichen, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu erreichen. Das zeigt, welches Demokratieverständnis Sie haben. Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, dass die Politik Rückkopplung mit unabhängigen Wissenschaftlern zulässt. ({2}) Genau deswegen ist das, was wir mit dem Klimaschutzgesetz vorschlagen, ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Ihre Aussage spricht überhaupt Bände. Jetzt ist klar, was Sie von unabhängigen Expertengremien halten. ({3}) Ihr eigener Sachverständigenrat für Umweltfragen hat Sie davor gewarnt, die Laufzeitverlängerungen zu beschließen. ({4}) Ihr eigener Sachverständigenrat, dem viele unabhängige kompetente Wissenschaftler angehören, hat gesagt, dass das alles kontraproduktiv ist, was die erneuerbaren Energien anbelangt, und dass die Laufzeitverlängerungen in die völlig falsche Richtung gehen. Die gehen mit einem Federstrich darüber hinweg und nehmen den eigenen Sachverständigenrat nicht ernst. Sie haben es heute sehr schön auf den Punkt gebracht, als Sie sagten, es sei ein Rückschritt in die Räte-Republik, wenn man auf unabhängige Experten hört. ({5}) In der Politik muss immer wieder darauf geachtet werden, dass Taten und Worte übereinstimmen. In der Umweltpolitik haben wir augenblicklich das Problem, dass Sie Superlative wählen, um Ihre Konzepte anzupreisen, aber die Taten dem in keiner Weise entsprechen. Das ist Ihr Problem. Fangen wir mit Kopenhagen an, Herr Hirte. Was haben wir in Kopenhagen erlebt? Ihre Bundesregierung ist dort Verpflichtungen eingegangen und hat finanzielle Zusagen gegenüber anderen Staaten gemacht. Was erleben wir nun? Nichts davon bilden Sie im neuen Haushalt ab. Es sind keine entsprechenden Mittel eingestellt. Wir werden nichts von dem einlösen können, was wir versprochen haben. Wir schlagen somit mit unserem Gesicht auf und können deswegen nicht von anderen Staaten glaubwürdiges Verhalten verlangen. ({6}) Mit dieser Politik verspielen Sie auf internationaler Ebene das hohe Ansehen, das sich Deutschland in den letzten 15 Jahren in diesem Bereich durchaus erarbeitet hat. Es geht aber noch weiter. Die Kürzungen bei den Gebäudesanierungsprogrammen hat Kollegin Höhn schon angesprochen. Dann geht es aber auch um den Stil, wie Sie Politik machen. So sagt der Bundesumweltminister erst, mit den großen Vier dürfe man keinen Deal machen, einen Monat später erfahren wir aber zufällig, weil sich ein Verantwortlicher verplappert, dass Sie längst einen Geheimvertrag abgeschlossen und in den Schubladen liegen hatten. Auch hier stimmen Worte und Taten nicht überein. So etwas trägt, wie ich denke, zur Politikverdrossenheit bei. ({7}) Wir müssen also, wie ich glaube, einen neuen Politikstil finden. Es geht nicht darum, in schönen Hochglanzbroschüren zu schreiben, was man 2050 oder 2025 erreichen will, sondern Politik muss sagen: Das nehmen wir uns vor, und wir sind bereit, das Erreichen der Ziele regelmäßig kontrollieren zu lassen. Darüber hinaus wollen wir ständig überlegen, ob wir nicht weitere Maßnahmen ergreifen müssen, wenn wir feststellen, dass das, was wir erreichen wollen, nicht erreicht wird. - Das Klimaschutzgesetz, das die Oppositionsparteien hier nun vorschlagen, leistet dies. Wir treten jetzt im Ausschuss in die Diskussion ein. Ich rate Ihnen: Schauen Sie es sich noch einmal genau an! Mit diesem Gesetz könnten tatsächlich erste Schritte unternommen werden, damit Sie wenigstens zum Teil an das herankommen, was Sie in Hochglanzbroschüren ankündigen. Ich lade Sie ein, sich konstruktiv an den Ausschussberatungen zu beteiligen. Vielleicht gelingt es so, das Klimaschutzgesetz, das wir als Fraktion im Übrigen unter Beteiligung vieler Verbände erarbeitet haben, hier einstimmig zu verabschieden. Ich hoffe, dass die Ausschussberatungen dazu beitragen werden. Sie sind herzlich dazu eingeladen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Josef Göppel für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis für das Drängen der Opposition und damit auch für den vorliegenden Antrag, ein Klimaschutzgesetz zu verabschieden, um all die bestehenden Einzelmaßnahmen in einen gesetzlichen Rahmen einzubinden. Allerdings, werte Kollegen von der SPD, haben wir dies in der Großen Koalition nicht zustande gebracht. Wir waren all die Jahre mit konkreten Maßnahmen beschäftigt. Ab 2007 ist durch Kanzlerin Merkel das Thema Klimaschutz auf die internationale Ebene gebracht worden. Somit möchte ich Ihnen sagen: Solange Frau Merkel Kanzlerin ist, wird es da auch bleiben, weil Frau Merkel als Physikerin weiß, dass in wenigen Jahrzehnten 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben werden und wir nicht mit den bisherigen Formen der Energieversorgung werden weiterarbeiten können. ({0}) Deswegen ist ja das Energiekonzept aufgestellt worden. Natürlich kann man jetzt fragen, ob nicht die 60 Einzelmaßnahmen, die viele Gesetze berühren, in einem Klimaschutzgesetz gebündelt werden sollten. Ich sage es noch einmal: Ich persönlich bin offen für diese Idee, bin aber im Moment nicht davon überzeugt, dass dieses Verfahren das richtige wäre; denn es geht darum, eine ganze Reihe von Lebensbereichen im Hinblick auf eine andere Lebens- und Wirtschaftsweise umzuorientieren. Die Gebäudesanierung ist hier angesprochen worden. Natürlich ist es richtig, die Schaffung von Möglichkeiten der steuerlichen Abschreibung von Energiesparinvestitionen in Gebäuden zu prüfen, entsprechend der früheren Regelung in § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung, die eine Abschreibung von jährlich 10 Prozent ermöglichte. Dies war eine entscheidende Maßnahme. Deswegen haben die Umweltpolitiker der Union so sehr darauf gedrängt, dass dies im Energiekonzept erscheint. Ich möchte auch den alten bayerischen Vorschlag erwähnen, Energiesparinvestitionen von der Erbschaftsteuer absetzen zu können. Auch das erscheint mir in diesem Zusammenhang überlegenswert. Wichtig ist schließlich eine haushaltsunabhängige Finanzierung für erneuerbare Energien im Wärmebereich. ({1}) Auch das steht nicht ohne Grund im Energiekonzept. Wenn man all dies zusammennimmt, wird aus meiner Sicht schon deutlich, dass wir von der Koalition im Ziel mit Ihnen, Frau Kollegin Höhn, Herr Miersch, Herr Schwabe, nach wie vor einig sind. Kollege Jung hat es klar gesagt: Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren … Der Deutsche Bundestag hat das beschlossen; die Regierung hat das übernommen. Es ist im deutschen Interesse, dass die EU ein 30-Prozent-Ziel verabschiedet. Wir erwarten von der Regierung, die wir tragen, dass sie sich jetzt im Vorfeld der Konferenz in Cancún dafür einsetzt; denn es ist im deutschen Interesse. Damit würde ein Erfolg der wichtigen Konferenz in Cancún wahrscheinlicher. Ich möchte in dem Zusammenhang auf einen anderen Bereich verweisen. Wir haben zu einem gemeinsamen Antrag zum Schutz der Biodiversität gefunden. Leider wird dieses Thema heute zu später Nachtstunde behandelt. Deswegen möchte ich schon jetzt anführen: Klimaschutz und Artenvielfalt hängen ganz eng zusammen. Das UNEP hat einen Atlas mit den Gebieten der Erde herausgegeben, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen. Das sind genau die Gebiete, in denen die größte Kohlenstoffspeicherung stattfindet. Klimaschutz und Artenvielfalt hängen also zusammen. ({2}) Da, wo hohe Artenvielfalt besteht, sind die Lebensräume widerstandsfähiger gegenüber den Folgen von Klimaveränderungen. Um es ganz praktisch für uns in Deutschland darzustellen: Dort, wo wir Mischwaldbestände haben, können zwar auch Borkenkäfer sein; aber sie können nicht alles kahlfressen, weil es da auch noch andere Arten von Bäumen gibt. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Dinge zusammenhängen. Wir brauchen in Klimaschutzfragen eine Gemeinsamkeit. Ich will noch einmal auf die aktuelle Situation im Zusammenhang mit dem Energiekonzept zu sprechen kommen, und zwar auf den Bereich der Mobilität. Die Maßnahmen, die das Energiekonzept für den Bereich der Mobilität vorsieht, sind von Ihnen in der bisherigen Debatte gar nicht angesprochen worden. Ich nehme an, dass Sie gegen diese Maßnahmen nichts einzuwenden haben. Es ist entscheidend, dass wir die europäischen Grenzwerte im Bereich der herkömmlichen Mobilität mit Benzin- und Dieselkraftstoffen weiterhin konsequent senken - so wie der Weg vorgezeichnet ist -, damit auch in diesem Sektor ein Beitrag zum Klimaschutz erbracht werden kann. Es darf keiner der drei großen Verbrauchsbereiche ausgelassen werden: Strom, Heizen und Mobilität. Ich glaube, dass wir im Gesamtkontext nach wie vor auf einem guten Weg sind. Dass andere Länder den Weg, den Deutschland geht, sehr aufmerksam beobachten, muss für uns allerdings weiterhin ein Ansporn sein, bei den konkreten Maßnahmen nicht nachzulassen. Das ist meine abschließende Bitte an die Opposition: Auf die konkreten Maßnahmen kommt es an. Ich habe eine gewisse Skepsis Zielen gegenüber, die 30 Jahre in der Zukunft liegen. Die konkreten Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden, entscheiden über die Fortschritte im Klimaschutz. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3172 und 17/2485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/2318. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/522 mit dem Titel „Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1475 mit dem Titel „Klimaschutzziele gesetzlich verankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD und Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/132 mit dem Titel „Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele verbindlich festschreiben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu der Unterrichtung Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme [NeufasVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse sung] ({1}) ({2}) - Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach Manfred Zöllmer Björn Sänger Dr. Gerhard Schick ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme ({3}) KOM-Nr. ({4}) 368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa - Drucksache 17/3191 Zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute steht der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme auf der Tagesordnung, ein wichtiges Thema. Denn es geht um Vertrauen, über das wir heute diskutieren, über das Vertrauen der Sparer und Sparerinnen, die ihr Geld bei Kreditinstituten, Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken angelegt haben. In Deutschland haben wir seit jeher ein hohes Sicherungsniveau für die Spareinlagen. Gerade die Finanzkrise der letzten Monate hat uns aber gezeigt, dass es nicht nur in Deutschland diese Sicherheit und dieses Vertrauen geben muss, sondern auch in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Deswegen ist die Zielsetzung einer weiteren Harmonisierung der Einlagensicherungssysteme, ein hohes Niveau des Einlagenschutzes europaweit zu schaffen, grundsätzlich begrüßenswert. Aber das darf nicht dazu führen, dass die Harmonisierung auf europäischer Ebene zu einer Verringerung des Anlegerschutzes in Deutschland führt, und es darf nicht dazu führen, dass das Wettbewerbsgleichgewicht im deutschen Bankensystem gefährdet wird. Gerade deswegen kann es nicht sein, dass Europa zur Erreichung dieser Ziele über das erforderliche Maß hinausgeht. Der europäische Gedanke bezieht sich auf das Subsidiaritätsprinzip, das eine wichtige Grundlage ist. Diesem Prinzip zufolge sollen die staatlichen Aufgaben von der Ebene übernommen werden, die sie am besten und effektivsten regeln kann. Auch bei der Einlagensicherung ist dieses Prinzip zu beachten. Man kann über Mindeststandards reden. Man muss aber beachten, dass es bereits Standards darüber hinaus gibt, so wie das zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Es ist gut, dass für alle Anleger in der EU im Falle der Insolvenz eines Kreditinstituts ein einheitliches Schutzniveau errichtet werden soll. Es ist gut, dass die Stabilität des Bankensystems auf europäischer Ebene gestärkt werden soll. Es kann aber nicht sein, dass neben einer garantierten Mindestabsicherung eine Höchstgrenze eingeführt werden soll. Es kann nicht sein, dass die Europäische Union zu stark in nationale Interessen eingreift oder Regeln für Politikgebiete erlässt, für die Brüssel gar nicht zuständig ist. Die vorliegende Richtlinie darf nicht zu einer Verringerung des Anlegerschutzes in Deutschland führen. Die Wettbewerbsgleichheit im deutschen Bankensystem darf nicht gefährdet werden. Deshalb muss es das Ziel der deutschen Politik sein, dass die Befreiung der Institutssicherungssysteme von der Pflicht zur Mitgliedschaft in einem Einlagensicherungssystem erhalten bleibt, dass eine freiwillige Einlagensicherung über die gesetzlich vorgesehene Deckungssumme von zukünftig 100 000 Euro hinaus erhalten bleibt, dass eine flexible Ausgestaltung der Höhe der Beitragsbemessung erhalten bleibt und dass im europäischen Finanzsektor durch eine eventuelle Vernetzung der nationalen Sicherungssysteme kein Einstieg in eine Art Transferunion erfolgt. Europa muss lernen, Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen und Eigenheiten der Mitgliedsländer zu nehmen. Gerade das deutsche Bankensystem hat die Finanzkrise gut überstanden, dank unserer Sicherungssysteme, dank der engagierten Arbeit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel und des damaligen Finanzministers, aber auch dank des Vertrauens, das die Menschen in unsere Sicherungssysteme haben und hoffentlich auch in Zukunft haben werden. Es gilt, für dieses erfolgreiche System der Sicherung einzustehen. Bedenklich sind die EU-Vorschläge insbesondere bezüglich institutssichernder Systeme, der Finanzierung von Einlagensicherungssystemen und der Beitragsbemessung. Lassen Sie uns hier in diesem Hohen Haus gemeinsam die Botschaft nach Brüssel schicken, dass wir zwar alle überzeugte Europäer sind, unsere nationalen Eigenheiten aber nicht über Bord werfen wollen. Wir wollen das behalten, was sich bewährt hat. Deswegen sind wir für eine Subsidiaritätsrüge. Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den inhaltlichen Zielen stimmen wir mit dem überein, was Herr Kollege Aumer gesagt hat: Wir müssen das Bewährte in den Ländern erhalten. Der Kollege Sänger von der FDP hat gestern im Ausschuss gesagt: Man muss es auch mal rumsen lassen. - Das ist eine Sache, der wir nicht unbedingt folgen können. Er meinte damit die Subsidiaritätsrüge, also das schärfste Schwert, das wir haben. Wir wollen mit diesem schärfsten Schwert vorsichtig umgehen. Mein Kollege Manfred Zöllmer hat ein sehr schönes Bild geprägt. Er hat gesagt: Wir haben eine riesige Kanone und füllen sie mit einer dicken Kugel. Wir zünden das Pulver, und dann rollt die Kugel vorne aus der Kanone und fällt uns auf die Füße. - Das kann mit einer Subsidiaritätsrüge sehr leicht passieren, wenn man die Instrumente nicht klug wählt. Ich möchte einen Grund nennen, warum wir die Subsidiaritätsrüge als kritisch ansehen. Eigentlich ist sie die Folge dessen, dass wir die Verhandlungen bisher schlecht geführt haben. Man muss sagen: Wir sind im Moment international nicht sehr gut, wenn nicht sogar schlecht aufgestellt. Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen - das gilt für viele Politikfelder -: Wir haben nur wenige im internationalen Bereich wichtige Ressorts; aber dazu gehört das Ressort von Herrn Niebel. Da läuft es im Moment folgendermaßen: Die Kanzlerin verspricht etwas. Der Fachminister kämpft dafür. Der Finanzminister kämpft dagegen. Die Koalition beantragt etwas. - Insgesamt entsteht nach außen ein völlig diffuses Bild. Wir beobachten, dass es auch bei den europäischen Verhandlungen keine klare Linie gibt. Ich glaube, dass man da sehr viel sensibler vorgehen muss. Deshalb sagen wir: Wir müssen eine kritische Subsidiaritätsstellungnahme gegenüber der Kommission abgeben, und wir müssen versuchen, im Europäischen Parlament entsprechend zu wirken, damit wir uns alle diplomatischen, formalen und inhaltlichen Optionen offenhalten. Mit einer Subsidiaritätsrüge setzt man sich sehr schnell ins Unrecht. Deshalb ist es klüger, sich für die Zukunft mehrere Verhandlungsoptionen offenzuhalten. Vielleicht müssen wir mit der Kommission auch noch einmal über die Interpretation der Grundfreiheiten reden; denn wenn sie die Regeln zu Wettbewerbsgleichheit und Harmonisierung zum Nachteil und nicht zum Vorteil der Länder auslegt, dann ist die Kommission aus meiner Sicht auf dem Holzweg und interpretiert die Ziele der Harmonisierung, der Grundfreiheiten und der Wettbewerbsgleichheit völlig falsch. ({0}) Der Richtlinienvorschlag greift sehr tief in das Dreisäulensystem der Bundesrepublik ein; das haben Sie schon erwähnt. Die privaten Banken, die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen wirkten in der Finanzkrise wie Stabilisatoren. Das hat wirklich gut funktioniert. Wenn man das Einzige, was wirklich gut funktioniert, mit einem Richtlinienvorschlag gefährdet, dann kann das nicht richtig sein. ({1}) Zentrale Begriffe sind „Haftungsverbund der Sparkassen“ auf der einen Seite und „Sicherungseinrichtung der Volksbanken und Raiffeisenbanken“ auf der anderen Seite. Das war das bewährte duale System der Sicherung, das in Deutschland funktioniert hat. Diese freiwilligen Sicherungssysteme haben gut funktioniert, weil sie als institutionensichernde Stützungsmaßnahmen verhindern, dass der Entschädigungsfall überhaupt eintritt. Das ist das kluge Instrument dieses Systems. Das wollen wir natürlich erhalten. Warum ist das Instrument klug? Weil es präventiv, krisenabwehrend wirkt. Dieses System ist einmalig. Ich finde, dass die Kommission einmal überlegen sollte, dieses System in Europa als Option einzuführen, um auch den anderen Ländern dieses kluge Sicherungssystem zu eröffnen. ({2}) Schließlich müssen auch wir in Deutschland immer darauf achten, dass die international gut funktionierenden Systeme auch bei uns eingeführt werden. Doch was soll stattdessen passieren? Alle Kreditinstitute in Europa sollen einem Einlagensicherungssystem unterworfen werden. Das heißt, alles, was besser als das jetzt Vorgeschlagene ist, soll abgeschafft werden. Das wollen wir natürlich nicht. Es gibt aber noch einen gravierenden Fehler in dem Vorschlag der Kommission: Die Absicherung der Kunden soll, wie es heißt, auf 100 000 Euro harmonisiert werden. Das heißt, es soll eine Begrenzung hinsichtlich der Höhe der Spareinlagen, die man besichern will, geben. Wir sind der Meinung, dass die gegenwärtige, unbeschränkte Besicherung das Maß der Dinge sein soll. Wir wollen die Kunden nicht aufgrund einer europäischen Harmonisierung schlechterstellen. Um die Dimension dessen, was das für unsere Sparkassen bedeuten würde, deutlich zu machen: Wenn 1,5 Prozent der erstattungsfähigen Kundeneinlagen in den nächsten zehn Jahren aufgebracht werden müssen, sind das mehr als 12 Milliarden Euro. Dann gibt es noch eine Nachschussverpflichtung im Wert von 4 Milliarden Euro. Insgesamt wären es also 16 Milliarden Euro Zusatzbelastung, die auf die Sparkassen zukämen. Jeder weiß, was das für die Zinsen, die man bei einem Sparbuch bekommt, und für die Zinsen, die man für einen Kredit zu zahlen hat, konkret bedeuten würde. Das wollen wir nicht. Deshalb sagen wir: Wir müssen kritisch über das Thema Subsidiarität reden. Allerdings sollten wir keine Rüge aussprechen, um uns die Verhandlungsfreiheiten zu erhalten. ({3}) Wir glauben - das ist die zentrale Kritik -, dass trotz dieser enormen Belastungen die Sicherheit der Einleger geschwächt würde. Es wäre also teurer und hätte ein schlechteres Ergebnis. Diese Politik können wir nicht unterstützen. Deshalb ist es gut, dass Koalition und weite Lothar Binding ({4}) Teile der Opposition diesbezüglich an einem Strang ziehen. Wir sagen nur, dass die Idee mit der Rüge etwas zu hoch gegriffen ist. Wir von der SPD fordern in unserem Entschließungsantrag, dass die Bundesregierung im Wesentlichen drei Verhandlungsziele verfolgt. Erstens soll die Pflichtmitgliedschaft in dem neuen Sicherungssystem aufgehoben werden, sofern es in den einzelnen Ländern Sicherungssysteme gibt, die besser als die angebotenen sind. Das heißt, dass die Ausnahmeregelung für institutsbezogene Sicherungssysteme bestehen bleiben soll; wir wollen dies für Deutschland erhalten. Zweitens wollen wir, dass freiwillige Einlagensicherungssysteme erhalten bleiben und vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden können. Das dritte Hauptziel des Entschließungsantrags der SPD ist, dass keine Obergrenzen mit maximalen Deckungssummen festgelegt werden sollen; denn das ist nicht nur wettbewerbsfeindlich, sondern schadet auch dem einzelnen Einleger. Wettbewerb darf ja nicht so begrenzt werden, dass man sagt: Wenn jemand etwas Besseres anbietet, verbieten wir das und schaffen so Wettbewerbsgleichheit. Dann müssten wir auch bei anderen Gütern auf qualitativ schlechtere zusteuern, um die Wettbewerbsgleichheit zu bewahren. Das würde gar keinen Sinn haben und wäre für Europa auch nicht zielführend. Deshalb sagen wir: Keine Beschränkungen für ein höheres Schutzniveau! Das haben unsere Bürger verdient. Ich glaube, es ist gut, dass wir hier an einem Strang ziehen. Schönen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Binding, Sie haben gerade bemängelt, dass wir nicht klar Stellung beziehen. Genau das tun wir aber heute, und das schließt Verhandlungen bei weitem nicht aus. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, und gut gemeint ist die Neufassung der EU-Richtlinie ganz sicher. Für die FDP-Fraktion kann ich ganz klar feststellen: Das Ziel der Europäischen Kommission, eine Mindesteinlagensicherung für Banken europaweit einheitlich zu regeln, ist richtig. Das Ziel, einen europaweit vergleichbaren Schutzrahmen für Bankkunden zu schaffen und die Schwachstellen in den bestehenden Einlagensicherungssystemen zu beseitigen, ist auch richtig. Das ist wichtig, um verloren gegangenes Vertrauen in Banken und Finanzmärkte wieder herzustellen. ({0}) Deshalb begrüßen wir diesen Vorstoß der EU-Kommission im Grundsatz. Wir kritisieren allerdings, dass aus deutscher Sicht dabei das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. Der jetzt vorliegende Entwurf ist zu detailliert, ja detailverliebt; er reicht vom Deckungsumfang bis zu Einzahlungsmodalitäten und Auszahlungsfristen. Sinnvoller wäre, auf europäischer Ebene Mindeststandards für die Einlagensicherung zu definieren, die konkrete Ausgestaltung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten zu überlassen. Statt sich auf die Schaffung der notwendigen Rahmenbedingungen zu beschränken, werden bis ins Kleinste Festlegungen getroffen, die für einzelne Banken - vor allem im anglo-amerikanischen Bankensystem gut sein mögen, aber eben nicht für alle Banken im EURaum. Die Besonderheiten des dreisäuligen Bankensystems - da sind wir uns ja alle einig - werden in keinster Weise berücksichtigt. Im Gegenteil: Die bisherige Ausnahmeregelung, die Banken mit institutsbezogenen Sicherungssystemen von der Pflichtmitgliedschaft in einem EU-weiten gesetzlichen Einlagensicherungssystem befreit, soll jetzt gestrichen werden. Zusätzlich wird eine Obergrenze für gesetzliche Einlagensicherungen eingezogen. Das will keiner von uns. Das ist für das deutsche System hochproblematisch und trifft gerade unsere Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die stabilisierende Wirkung des deutschen Modells hat sich in der Finanzmarktkrise bewährt. Diese Institute schützen bereits seit Jahrzehnten ihre Mitglieder innerhalb des eigenen Verbundes vor Insolvenz, ohne auf die Steuerzahler zurückzugreifen, und schützen damit auch die Einlagen ihrer Kunden vor Verlust. Die Einlagensicherung deutscher Institute geht weit über die vorgeschlagene Haftungsgarantie der EU über 100 000 Euro für Privatkunden hinaus. Die Umsetzung dieser Richtlinie, wie sie heute vorliegt, hätte für Deutschland zwei gravierende Auswirkungen: Erstens müssten die deutschen Institute in ein paralleles System einzahlen, was mit deutlich höheren Kosten verbunden wäre, und das, obwohl sie das Klassenziel schon längst erreicht, ja sogar überschritten haben. Zweitens würde unser hohes Sicherungsniveau hierzulande auf einen niedrigeren EU-Standard abgesenkt. Beides ist für die christlich-liberale Koalition nicht akzeptabel. ({1}) Wir brauchen keine maximale Harmonisierung der Einlagensicherungssysteme, wir brauchen maximale Sicherheit für die Einlagen der Kunden. Der vorliegende Vorschlag der Europäischen Kommission verstößt nach Auffassung der Koalitionsfraktionen gegen die in Art. 5 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Die EU darf ein Gesetz nur erlassen, wenn die Mitgliedstaaten selbst dessen Ziel nicht ausreichend verwirklichen können. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass die EU nicht stärker als nötig eingreifen darf, um dieses Ziel zu erreichen. Beides wird hier nicht eingehalten. Insbesondere die weitreichenden Vorschläge zur Finanzierung der Einlagensicherungssysteme und zur Beitragsbemessung stehen wegen ihres Umfangs und ihrer Intensität in keinem Verhältnis. Um die Schwachstellen der bestehenden Einlagensicherungssysteme der Mitgliedstaaten zu beseitigen und die Vorzüge des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen auf europäischer Ebene sicherzustellen, ist eine Vollharmonisierung nicht erforderlich. In vielen Mitgliedstaaten bestehen bereits funktionierende Sicherungssysteme. Eine zusätzliche Einlagensicherung würde die Sicherheit der Anleger in Deutschland in keiner Weise erhöhen, aber die Wettbewerbsbedingungen für Sparkassen und Genossenschaftsbanken massiv einschränken. Dies ist mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren. Wenn ich mir die vorliegenden Anträge von SPD und Grünen sowie die Stellungnahme des Bundesrates anschaue, stelle ich fest: Wir sind inhaltlich nah beieinander. Wir sind uns einig, dass die Vorschläge, die auf europäischer Ebene gemacht wurden, erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Bankensektor in Deutschland haben werden, die in dieser Form nicht akzeptabel sind, da hiermit nachteilige Eingriffe in bestehende Strukturen der Finanzwirtschaft verbunden sind. Doch wie vertreten wir die Belange Deutschlands gegenüber der EU? Geben wir nur den Hinweis: „Ihr macht da etwas, was wir nicht so gut finden“, oder sagen wir: „Stopp, wir wollen das nicht“? Die Koalition hat sich entschlossen, das Kind beim Namen zu nennen. Deshalb strengt die Koalition eine Subsidiaritätsrüge an. Das ist ein starkes Signal an Brüssel, das dafür sorgen soll, dass die deutsche Position klar und deutlich wahrgenommen wird. ({2}) Frankreich beurteilt das genauso, Schweden hat sich gestern in diesem Sinne entschieden, und Österreich und Italien prüfen diese Frage gerade. Wir stehen also nicht allein. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Richard Pitterle hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Richard Pitterle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004129, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlass der heutigen Diskussion ist der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme. Sein Inhalt wurde im Wesentlichen schon wiedergegeben: Alle Kreditinstitute in Europa sollen gesetzlich verpflichtet werden, einem Einlagensicherungssystem anzugehören, und die bisherige Freistellung der Institutssicherung der Genossenschaftsbanken und Sparkassen soll aufgehoben werden. Auch wenn wir das Vorhaben, die Bürger davor zu schützen, ihre Ersparnisse auf der Bank zu verlieren, begrüßen, halten wir dieses Vorhaben für den falschen Weg. Ich glaube, in diesem Punkt sind sich alle Fraktionen im Bundestag einig. Wir Linke kritisieren die Nivellierung, die dieser Vorschlag mit sich bringen würde. Es ist von einer Maximalsicherung in Höhe von 100 000 Euro pro Anleger die Rede. Man mag sagen, 100 000 Euro seien viel Geld. Aber einem Bürger, der, beispielsweise für den Erwerb einer Eigentumswohnung, 200 000 Euro gespart und dieses Geld bei einer Bank angelegt hat, würden, wenn diese Bank pleitegeht, in Zukunft nur noch 100 000 Euro erstattet werden. Dadurch würde er im Vergleich zur jetzigen Situation, mit der Institutssicherung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, schlechter gestellt. Wir sind der Meinung, dass der vorliegende Vorschlag nicht zur Bankenrealität in Deutschland passt. Ich habe meinen Vorrednern zugehört: Es besteht Einigkeit darin, dass ein Handeln auf EU-Ebene nicht erforderlich ist und sogar das Subsidiaritätsprinzip verletzt, wonach all das, was vor Ort geregelt werden kann, nicht europaweit zu regeln ist. Wir werden dem Koalitionsantrag unsere Zustimmung geben, insbesondere auch der Subsidiaritätsrüge, weil wir finden, dass die Subsidiaritätsrüge ein wichtiges Signal des Bundestags ist, dass wir die in der Krise erprobten Institutssicherungssysteme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken nicht gefährdet sehen wollen. Sie mag vielleicht die Unterstützung der Linken für Ihren Antrag überraschen; aber im Gegensatz zu Ihnen machen wir unsere Abstimmung vom Inhalt abhängig und nicht von der Urheberschaft der Partei. ({0}) Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie würden eher behaupten, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die Linke etwas Gegenteiliges in einen Antrag schreiben würde. ({1}) Aber das ist kein seriöses Politikverständnis. Ich muss aber sehr deutlich sagen: Es gibt sehr wohl Handlungsbedarf beim Thema Einlagensicherung jenseits der Genossenschaftsbanken und der Sparkassen. Wenn man sich den Fall HRE anschaut, merkt man, dass da nicht alles in Butter ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Ich muss Sie fragen: Warum handeln Sie nicht endlich? Wenn Sie sagen, es brauche diesen Vorschlag von der Europäischen Union nicht, dann müssten Sie hier endlich handeln. Ich habe Ihren Reden eben gut zugehört und nichts dazu vernommen, was Sie machen wollen, um die Einlagensicherung in Deutschland jenseits von Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu verbessern. Im Ausschuss wurden von den anderen Oppositionsfraktionen Bedenken gegen die Subsidiaritätsrüge erhoben. Es wurde gesagt, wir erreichten vielleicht nicht das Quorum. Man braucht ein Drittel der Parlamente, die das Quorum bilden. Es wurde gesagt, es sei besser, Gespräche zu führen. Nun muss man sagen: Die Subsidiaritätsrüge ist eher ein politisches als ein rechtliches Instrument. Sie ist auch nicht, wie hier gesagt wurde, das schärfste Schwert; denn es gibt noch die Subsidiaritätsklage. Wir wissen nicht, ob das Quorum erreicht wird. Die Parlamente einiger Staaten haben sich schon angeschlossen; das ist bereits gesagt worden. Aber wichtig ist, dass durch die Subsidiaritätsrüge eine öffentliche Aufmerksamkeit erzielt wird, die vielleicht auch andere Parlamente motiviert, sich damit auseinanderzusetzen und ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrzunehmen. ({2}) Das heißt, das Reden mit dem zuständigen Kommissar oder mit dem EU-Ausschuss ist keine Alternative zur Subsidiaritätsrüge. Man kann sowohl öffentlich rügen als auch das Gespräch suchen. Zu beidem fordern wir die Bundesregierung auf. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines sage ich gleich vorneweg und zur Sicherheit: Auch wir Grünen kämpfen für das erfolgreiche Modell der Institutssicherung bei regional operierenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken. ({0}) Wir wollen, dass regional operierende Institute, Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken, das erfolgreiche Modell ihrer Institutssicherung behalten dürfen. Dafür streiten wir mit unserem Antrag, einer Stellungnahme nach Art. 23. ({1}) Wir wollen aber auch, dass dieses Haus daraus lernt, welche Milliardenspritzen es zur Rettung von Privatbanken in den letzten Jahren aufwenden musste. Nicht zuletzt die Rettung der Hypo Real Estate, die uns immer noch beschäftigt, hat doch gezeigt, dass der Einlagensicherungsfonds der Privatbanken eben nicht in der Lage war, einzuspringen, sodass wir mit Steuergeldern einspringen mussten. Deswegen unterschlagen Sie in der Debatte, dass die Großbanken vom vergleichsweise hohen Sicherungsniveau in Deutschland auch im europäischen Wettbewerb profitieren. Die geschützten Einlagen sind eine sehr günstige Art, um eine Refinanzierung zu gewährleisten. Das Risiko tragen am Ende aber doch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. ({2}) Somit - ich wende mich auch an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei - schützen Sie nicht nur das richtige Ansinnen, regionale öffentlichrechtliche oder genossenschaftliche Institute zu schützen, sondern Sie schützen auch den Wettbewerbsvorteil der großen kapitalistischen deutschen Banken. Das verstehe ich nicht. Ich finde das schade; ich finde das ärgerlich. Jetzt kommen wir aber zu einer neuen Qualität dieser Debatte. Sie wollen rügen. Der Kollege hat gesagt - ich habe das mitgeschrieben -: Es kann nicht sein, dass Brüssel in Bereiche eingreift, für die es nicht zuständig ist. - Ich halte das nicht für klug. Ich habe ziemlich große Zweifel, ob das Prinzip der Subsidiarität und auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hier herangezogen werden können. Ich halte es sogar für fahrlässig, dieses Instrument gerade jetzt zum ersten Mal zu nutzen, wo aus meiner Sicht alles auf sehr wackeligen Beinen steht. Dies ist der falsche Sachverhalt, um das Schwert der Rüge zu benutzen. ({3}) Dass Sie diesen Fall jetzt auch noch zum Exempel aufmotzen, nutzt nicht den Rechten dieses Hauses, sondern damit schaden Sie den Rechten dieses Hauses. ({4}) - Sie, Herr Kollege Aumer, kommen mit einer AntiBrüssel-Rhetorik daher. ({5}) Ich kann Ihnen mit einer Düsseldorfer Rhetorik von Heinrich Heine entgegnen: Nur Narren wollen gefallen; der Starke will seine Gedanken geltend machen. Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie die inhaltlichen Bedenken, die Sie zu großen Teilen mit uns teilen, geltend machen und sich hier nicht auf den Pfad begeben, wo die Europäische Kommission mit Begriffen wie „Wettbewerb“, „Wettbewerbsvorteil“ und „Verwirklichung des Binnenmarktes“ klar darstellen kann, was ihre Position ist und wo die Rechtsposition der Koalition unsicher ist. Ich halte es auch für komisch, den Wettbewerbsvorteil deutscher Banken, vor allem der Großbanken, mit der Subsidiarität zu begründen. Sowohl unser Anliegen, regional operierende Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu schützen, als auch Ihr Anliegen, die Großbanken mit hineinzunehmen, sind inhaltliche Anliegen. Diese vertritt man nicht per Rüge, sondern per Stellungnahme. ({6}) Auch wir wollen den Entwurf der Europäischen Kommission verändern. Subsidiarität ist das falsche Argument. Wenn Sie hier die Rüge beschließen, dann sind Sie nicht stark, sondern eher das Gegenbeispiel im Gedicht von Heinrich Heine. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier irrlichtert, das werden wir am Schluss dieser Sitzung und in den nächsten Monaten noch feststellen. Was mich an den Argumenten der SPD und der Grünen wundert, ist Folgendes: Sie ziehen hier eine inhaltliche Debatte vor. Wir alle haben hier offensichtlich dieselbe Meinung. Das ist richtig, und das finde ich auch gut so. Das ist ein deutliches Signal des Deutschen Bundestages, dass das bewährte System der deutschen Sparkassen und Volksbanken richtig ist. Es hat sich auch in der Krise bewährt, es ist bürgerfreundlich, und das wollen wir von Brüssel aus nicht schädigen lassen. ({0}) Wir sind heute aber hier, um innerhalb der Frist, die uns durch den Lissabon-Vertrag vorgegeben wird, zu prüfen, ob diese Regelungsvorschläge der Europäischen Kommission gegen den fundamentalen europäischen Grundsatz der Subsidiarität verstoßen. Dazu höre ich von SPD und Grünen gar nichts, außer der Aussage: Nein, das verstößt nicht dagegen. - Besser wäre es gewesen, wenn Sie einmal begründet hätten, warum die Europäische Union dies Ihrer Meinung nach so regeln kann. Ich werde Ihnen jetzt beweisen - selbst in der kurzen Zeit, die ich habe -, dass die Europäische Kommission mit ihren Vorschlägen ganz klar gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. ({1}) Beim Subsidiaritätsprinzip - das ist natürlich etwas kompliziert, wenn man das erste Mal davon hört; so schwer ist es dann aber doch nicht zu verstehen - haben wir drei Aspekte zu prüfen. Erstens. Wenn die Europäische Union in ganz Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern etwas regeln will, dann kann sie dies nur - das ist die erste Prüfung -, wenn sie gemäß den europäischen Verträgen das Recht dazu hat. Bei der Einlagensicherung ist dies unbestritten; das geht aus Art. 53 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hervor. Das heißt, die Europäische Union kann das regeln. Das wäre also grundsätzlich okay. Zweitens. Auch wenn die Europäische Union das regeln kann, muss sie es nicht unbedingt; denn sie darf es nur, wenn eine europäische Regelung die einzig mögliche Garantie dafür ist, dass es einen vergleichbaren Schutz in ganz Europa für alle Bürger gibt, und wenn nur Europa das regeln kann. Diese Frage ist im Grundsatz auch positiv beantwortet worden. Auch dies stimmt. Denn in einem freien Binnenmarkt muss man vergleichbare Mindestregeln schaffen, die in ganz Europa gelten, um sicherzustellen, dass Bankkunden in ganz Europa einen vergleichbaren Mindestschutz haben, den es bisher nicht in ausreichendem Maße gibt. Es gibt im Übrigen seit 1994 eine Einlagensicherungsrichtlinie der Europäischen Union. Sie ist im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärft worden - das war notwendig -, und sie wird jetzt noch einmal geändert. ({2}) Das ist grundsätzlich richtig. Wenn die Europäische Union tätig werden muss - damit komme ich zum nächsten Punkt -, bedeutet das aber, dass es einen europäischen Mehrwert geben muss, es also für die Menschen in Europa besser werden muss. An dieser Stelle frage ich Sie: Wo wird es mit dem Richtlinienvorschlag besser, wenn in Zukunft sich diese Rechtsetzung durchsetzt und unsere Sparkassen und Volksbanken in einen Sicherungsfonds einzahlen müssen, obwohl es ganz sicher ist, dass sie diesen Fonds niemals in Anspruch nehmen müssen? Das ist so ähnlich, als wenn wir in Deutschland ein Gesetz machen würden, mit dem wir alle Menschen vom Säugling bis zum Greis verpflichten würden, eine Autohaftpflichtversicherung abzuschließen, egal ob sie ein Auto oder eine Fahrerlaubnis haben. Die Versicherungen würden sich freuen, aber die Regelung wäre falsch. Die Europäische Union geht hier über ihre Regelungskompetenz hinaus. Denn sie verschlechtert die Wettbewerbsfähigkeit eines nachhaltig funktionierenden Bankensystems der Volksbanken und Sparkassen. Es wird schlechter und nicht besser. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Stübgen, hätten Sie Freude an einer Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin?

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

An Zwischenfragen des Herrn Kollegen Sarrazin habe ich immer sehr große Freude.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Stübgen, was die regional operierenden Volksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen angeht, sind wir beieinander. Ich möchte aber doch nachfragen. Sie haben den europäischen Mehrwert infrage gestellt. Glauben Sie vor dem Hintergrund, dass die Kommission zur Verwirklichung des Binnenmarkts eine wettbewerbsverzerrende Situation aufgrund des deutschen Einlagensicherungssystems bei den Privatbanken mit einem gemeinsamen Maximalsatz beseitigen möchte, nicht, dass die Subsidiaritätsrüge nicht angemessen ist, weil Ihnen die Kommission darlegen wird, dass Ihre Argumentation nicht schlüssig ist?

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. Denn diesen Punkt wollte ich als Nächstes ausführen. Jetzt kann ich ihn in der zusätzlichen Redezeit zur Beantwortung der Frage aufgreifen. Sie haben recht - darauf wollte ich noch kommen -: Es trifft zu, dass die Europäische Kommission von dem bisherigen Grundsatz abgeht, Mindestsicherungsniveaus zu schaffen. Damit sind wir in Europa bisher immer gut zurechtgekommen. Stattdessen kommt sie jetzt auch zu einem Höchstsicherungsniveau. Sie argumentiert damit, dass das sein müsse. Dabei ist es ein massiver Einschnitt, wenn man plötzlich zur Höchstsicherung kommt. Sie sagt, dass das nötig sei, weil es im Zuge der Finanzkrise Verschiebungen von Sparguthaben und Einlagen zum Beispiel zu den Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken gab. Das hat aber doch wohl etwas damit zu tun, dass die Menschen nicht nur in Deutschland Vertrauen in dieses bewährte System haben. - Ich bin noch bei der Antwort, Herr Sarrazin. ({0}) - Nein, das ist noch die Antwort. Es war ja eine umfängliche Frage. Wenn die Europäische Kommission in der Replik darauf, dass es in der Tat in Europa Bankensysteme gibt, die besser sind und bei den Menschen mehr Vertrauen erzeugen, auf die Idee kommt, diese Systeme zu zwingen, schlechter zu werden bzw. Mittelmaß wie überall, dann kann das nicht der richtige Weg sein. Das ist meine Antwort darauf. Die Kommission geht weiter, als es ihre Aufgabe ist. Das ist kein europäischer Mehrwert. ({1}) Ich komme aber zu einem weiteren Punkt. Dieses Thema haben vor allen Dingen der Bundesrat in seiner Stellungnahme und der federführende Finanzausschuss gerügt. Wir haben in unserer Stellungnahme des Europaausschusses ein anderes Thema, nämlich das dritte Prüfraster, genau untersucht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass auch das auf jeden Fall ein klarer Verstoß der Europäischen Kommission gegen die Subsidiaritätsgrundsätze ist. Es geht dabei um die Frage der Verhältnismäßigkeit, die im Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll eindeutig geregelt ist, und was auch heute noch im Lissabon-Vertrag eindeutig so weitergilt. Was heißt Verhältnismäßigkeit? Das bedeutet die Verpflichtung der Europäischen Union, wenn sie zu Regelungen kommt, die notwendig, nützlich und erlaubt sind, zur Erreichung des Ziels mildeste Mittel anzuwenden. Damit kommen wir zur Wir-Frage. Die Kommission neigt gerne dazu, wenn es etwas zu regeln gibt, zum Instrument der Vollharmonisierung zu greifen. Das heißt Gleichschaltung von ganz Europa, zwischen Nordkap und Sizilien, zwischen Schwarzmeer und Atlantik. Überall muss alles gleich sein. Dann wäre alles gut. Ich sage Ihnen: Unsere Überzeugung ist, dass das nicht der richtige Weg ist. Es ist gut, dass es Unterschiede in Europa gibt. Die Europäische Kommission bewirkt durch die Gleichschaltung eine Schwächung bewährter Systeme. Dadurch, dass zusätzlich gezahlt werden muss, kommt das bewährte System der Sparkassen und Raiffeisenbanken im Prinzip schlecht weg. Es wird also im Wettbewerb beschädigt. Das verstößt eindeutig gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Denn es ist eine klare Vorgabe: Wenn es im Vergleich zur Vollharmonisierung ein gleich wirksames milderes Mittel gibt, dann ist diesem in jedem Fall der Vorzug zu geben. Das gleich wirksame mildere Mittel ist ganz eindeutig eine Verschärfung der Mindestnorm. Wir finden es richtig, dass in Zukunft statt 50 000 Euro 100 000 Euro pro Einlage gesichert werden sollen. Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist richtig, Banken, die keinem starken, wirksamen Sicherungsmechanismus angehören, zu verpflichten, in einen zu schaffenden Sicherungsmechanismus einzuzahlen. Aber es gehört auch dazu, dass bewährte Sicherungssysteme, wie sie unsere Sparkassen und Volksbanken, die seit Jahrzehnten jeder Krise trotzen, haben, wie bisher als vollwertig anerkannt werden. Das ist das mildere Mittel. Das hätte die Kommission vorschlagen müssen. Da sie das nicht getan hat und zur Vollharmonisierung greift, verstößt sie eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Finanzausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme. Eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung liegt vom Kollegen Luksic vor.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/3239, in Kenntnis der Unter- richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Inte- grationsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es han- delt sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung an- genommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und die Fraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen gab es keine. Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3240 ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Frak- 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt tion. CDU/CSU und FDP haben dagegengestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und Linke haben sich enthalten. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3191 mit dem Titel „Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist ebenso abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt. SPD und Linke haben sich enthalten. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren - Drucksachen 17/798, 17/1075 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Dr. Gerhard Schick Vorgesehen ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ralph Brinkhaus. ({1})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über einen Antrag der Grünen, die die Auswahl der Bundesbankvorstände reformieren möchten. Wie läuft das bisher? Bisher ist es so, dass der Bundespräsident einen Bundesbankvorstand bestellt, dass der Präsident und der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank sowie ein einfaches Mitglied auf Vorschlag der Bundesregierung bestellt werden und dass drei weitere Vorstände auf Vorschlag des Bundesrates bestellt werden. Alle sechs müssen fachlich geeignet sein, eine solche Position zu bekleiden. Wenn ich dieses Verfahren reformieren möchte, dann muss ich Gründe dafür haben. Ein Grund könnte darin liegen, dass ich mit den Ergebnissen dieses Verfahrens nicht zufrieden bin. ({0}) Ein zweiter Grund könnte sein, dass ich ein besseres Verfahren habe. Fangen wir mal einfach mit den Ergebnissen dieses Verfahrens an. Warum könnte ich denn vielleicht nicht zufrieden sein? Zum Beispiel, wenn der von diesem Vorstand, der so bestellt worden ist, geleitete Apparat, das Institut der Bundesbank, schlecht arbeitet. Ich glaube, wir können uns nicht über die Qualität der Arbeit der Bundesbank beklagen. Die Bundesbank ist für die Preisstabilität und den Zahlungsverkehr verantwortlich. Sie hütet unsere Währungsreserven und vertritt unsere Interessen auf europäischer Ebene. Ich denke, das läuft hervorragend. Das ist in der Vergangenheit - teilweise unter erschwerten Bedingungen - hervorragend gelaufen. ({1}) Die Bundesbank hat die Währungsunion mit der ehemaligen DDR organisiert. Sie hat die Euro-Einführung organisiert. Das alles ist gut gelaufen. Sie ist dabei politisch immer unabhängig geblieben. Auch das war nicht immer so einfach. Da sind insbesondere von einer Seite dieses Parlamentes einige Ansprüche gestellt worden. Also, damit sind wir zufrieden. Aber vielleicht geht es um die Qualität der handelnden Personen, der Vorstände der Bundesbank. Da gab es sicherlich in der Vergangenheit das eine oder andere Gespräch, die eine oder andere Diskussion; aber ganz generell ist es doch so, dass die Qualität der Bundesbankvorstände in der Vergangenheit hervorragend war. Wir hatten beeindruckende Zentralbankpersönlichkeiten, die an der Spitze der Bundesbank gestanden haben. ({2}) Insofern halte ich es schon für sehr, sehr gewagt, in diesem Antrag die Qualität des Bundesbankvorstandes pauschal zu diskreditieren. ({3}) Die aktuellen Vorstände sind ein gutes Team. Sie sind gut zusammengesetzt und machen eine gute Arbeit. Wir haben heute einen weiteren Vorschlag bekommen. Dieser Vorschlag wird dazu beitragen, dass die Qualität noch weiter steigen wird. Ein dritter Punkt, warum ich nicht zufrieden bin, könnte sein, dass ich sage: Na ja, die sind von einer Regierung, vom Bundesrat ins Rennen geschickt worden, vielleicht ist es so, dass die dann parteipolitisch handeln. - Ich glaube, das ist gerade nicht der Fall gewesen. Die Bundesbankvorstände waren immer zwei Prinzipien verpflichtet: der Preisstabilität und auch der Marktwirtschaft. Das hat ganz hervorragend geklappt. Wenn man natürlich Preisstabilität und Marktwirtschaft als parteipolitisch betrachtet, dann mag es so sein, dass die Bundesbankvorstände parteipolitisch gehandelt haben. Ich fasse das zusammen. Die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens waren so schlecht nicht. Das kann eigentlich nicht die Ursache dafür sein, dass man es ändern möchte. ({4}) Zweiter Punkt. Vielleicht haben Sie ja ein besseres Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. ({5}) Das Verfahren - um es kurz vorzustellen - beginnt damit, dass man eine öffentliche Ausschreibung macht, dass in einem zweiten Schritt die Bundesregierung vorsortiert, in einem dritten Schritt der Finanzausschuss mit den verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten eine Anhörung macht und in einem vierten Schritt dann das Parlament ohne Beteiligung des Bundesrates die entsprechenden Vorstände wählt. Fangen wir mit der öffentlichen Ausschreibung an. Dahinter steht der Gedanke, dass man bessere und qualifiziertere Kandidaten bekommt, als das vielleicht in der Vergangenheit der Fall war. Wenn wir das jetzt vom Fall der Bundesbank abstrahieren, dann ist es durchaus ein ehrenwertes, ja geradezu ein notwendiges Ansinnen, dass wir darauf achten, dass die Qualität und die fachliche Expertise der Menschen, die für uns in Spitzenpositionen in Verwaltung und Politik arbeiten, gut ist. Das ist überhaupt keine Frage. ({6}) Ob das durch eine öffentliche Ausschreibung garantiert wird, wage ich zu bezweifeln; denn wer so ein bisschen in die Landschaft hineinschaut, der weiß, dass Spitzenpositionen eigentlich weniger durch öffentliche Ausschreibungen, sondern mehr durch Direktansprache besetzt werden. Insofern ist da der eine oder andere Zweifel angebracht. Ich denke, wir müssen viel, viel mehr darauf achten - das gilt eigentlich für alle Bereiche -, dass wir einen größeren Wechsel, einen größeren Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft auf der einen Seite sowie Politik und Verwaltung auf der anderen Seite haben. Und das funktioniert in Deutschland - insofern ist der Anspruch dieses Antrages vielleicht nicht ganz falsch noch nicht gut genug. Wir brauchen mehr Austausch. Dafür müssen wir aber auch arbeiten. Wir müssen nämlich daran arbeiten, dass wir den Menschen, die dann beispielsweise aus der Wirtschaft in Spitzenpositionen der Politik und der Verwaltung wechseln, auch ein entsprechendes Umfeld geben. Viele scheuen sich, weil sie sich einfach sagen: Das tue ich mir doch nicht an, mich so öffentlich zu exponieren, mich für jede Kleinigkeit beschimpfen zu lassen. - Insofern müssen wir da einige Hausaufgaben machen. Wir könnten jetzt noch über Bezahlung und ähnliche Dinge reden. Insofern: Öffentliche Ausschreibung reicht da nicht. Der Anspruch, dass wir gute Leute gewinnen müssen, ist in Ordnung und richtig. Zweiter Schritt ist, dass die Bundesregierung eine Vorauswahl treffen soll. Das wundert mich jetzt ein bisschen. Ich finde es ja gut in der Konsequenz, aber Sie haben in Ihrem Antrag der Bundesregierung eigentlich abgesprochen, dass sie eine vernünftige Auswahl machen kann. Jetzt sagen Sie, sie soll vorsortieren. Das passt nicht ganz zusammen. Der dritte Schritt ist sehr, sehr interessant, meine Damen und Herren: öffentliche Anhörung im Finanzausschuss. Ich stelle mir vor, wie das Ganze laufen wird. ({7}) Die erste Frage, die sich bezüglich solcher öffentlichen Anhörungen stellt: Inwieweit ist gesichert, dass die Mitglieder des Finanzausschusses über die entsprechende Expertise verfügen, das Ganze überhaupt beurteilen zu können? Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein Bundesbankvorstand muss ein guter Geldpolitiker sein. Geldpolitische Expertise im Finanzausschuss ist sicherlich bei dem einen oder anderen gegeben. Außerdem soll ein Bundesbankvorstand führen und organisieren können. Ob so viele Mitglieder des Bundestages die Expertise mitbringen, dass sie tatsächlich schon einmal geführt oder organisiert haben, das wage ich bei dem einen oder anderen zu bezweifeln. Darüber hinaus soll ein Bundesbankvorstand internationale Erfahrung besitzen; das spielt auch immer eine große Rolle. Wir können uns ja einmal unsere Biografien anschauen und dann sagen, wer internationale Erfahrungen hat. Ich muss sagen: Politisch können wir die ganze Sache sicherlich gut einschätzen; aber an der einen oder anderen Stelle sollten wir doch ein bisschen mehr Demut walten lassen, was unsere tatsächlichen Fähigkeiten angeht. Die zweite Frage, die sich bezüglich solcher öffentlichen Anhörungen stellt: Wie wird das Ganze ablaufen? Ich kann es Ihnen prophezeien. Es wird so ablaufen: Die Koalitionsfraktionen werden die Kandidaten, die die Regierung ausgewählt hat, verteidigen. Die Opposition wird sich einen Spaß daraus machen, zu versuchen, diese Kandidaten auf das Glatteis zu führen, nicht unbedingt aus fachlichen Gründen, sondern ganz einfach funktional, um der Regierung zu schaden. ({8}) Insofern frage ich mich: Wer von den Spitzenkräften wird sich dieses öffentliche Tribunal antun? Ich habe Zweifel, dass das funktionieren wird. Vierter Schritt: Der Bundestag entscheidet. Ich frage mich: Hat der Bundestag dann eine andere Mehrheit als die jeweilige Regierung? Wahrscheinlich nicht. Insofern ist also auch da eine gewisse Inkonsequenz enthalten. Ganz entscheidend dabei ist: Im letzten Satz der Antragsbegründung wird kurz über den Bundesrat hinweggewischt. Es wird gesagt: Das ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir können sicherlich gerne und ausführlich über unser föderales System diskutieren, dabei haben Sie mich sicherlich an der einen oder anderen Stelle an Ihrer Seite. Aber anlässlich der Bestellung der Bundesbankvorstände mit einem Federstrich das sehr austarierte Verfahren, die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag außer Kraft setzen zu wollen, das halte ich für abenteuerlich. Das ist mit uns nicht zu machen. ({9}) Ich fasse das Ganze zusammen. Der Anspruch, mehr Spitzenkräfte für Spitzenpositionen in Verwaltung und Politik zu gewinnen, ist durchaus gerechtfertigt. Dass wir dabei am Rekrutierungs- und Auswahlverfahren ansetzen, das halte ich auch nicht für falsch, weil es ein entscheidender Punkt ist. ({10}) Das ist eine gute Sache. Dass man ausgerechnet die Bundesbank dafür als Beispiel nimmt, halte ich angesichts der Qualität der Arbeit der Bundesbank doch für weit hergeholt. Im Übrigen hat das Verfahren, das Sie da auf den Weg bringen wollen, durchaus Schwachpunkte, wie ich gerade erläutert habe. Was gar nicht geht, ist, dass wir durch Ihren Vorschlag die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag, zwischen Ländern und Bund aus dem Gleichgewicht bringen. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Für Diskussionen darüber, wie wir die Qualität der in Politik und Verwaltung handelnden Personen steigern können, sind wir gerne zu haben. Lassen Sie uns dies fortsetzen! Danke schön. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPDFraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei der Einführung des Euros sagte der französische Staatsmann Jacques Delors: Nicht alle Deutschen glauben an Gott; aber alle glauben an die Bundesbank. Auch das hätte letztendlich vom Kollegen Brinkhaus kommen können. Trotzdem muss man sagen, dass in den letzten Monaten Zweifel geäußert worden sind. Auch hier hat die Finanzkrise Spuren hinterlassen: Es ist Kritik geäußert worden, beispielsweise am bestehenden Auswahlverfahren. Auch so manche fachliche Eignung, was die Verantwortlichen im Finanzbereich anbelangt, ist angezweifelt worden. Natürlich ist das auch an der Bundesbank nicht einfach so vorbeigegangen. Wir sind sehr froh, dass der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck, der zusammen mit dem saarländischen Ministerpräsidenten das Vorschlagsrecht für die Neubesetzung hat, gegenüber dem Bundesbankvorstand gleich klargestellt hat: Fachkompetenz ist das entscheidende Kriterium bei dieser Besetzung. Wir glauben, dass dies bei dem Namen, der heute über den dpa-Ticker läuft, letztendlich der Fall ist. Es ist richtig, aktuell nicht über das Berufungsverfahren zu diskutieren, sondern, wie es im Antrag der Grünen vorgesehen ist, über die Perspektiven, was dieses Berufungsverfahren anbelangt. Wir haben auch im Finanzausschuss darüber gesprochen. Es ist ja nicht neu, was die Grünen hier vorlegen. Vielmehr haben wir dies schon im Februar, März im Finanzausschuss diskutiert. Ich muss sagen, dass ich schon ein bisschen enttäuscht bin, weil wir vonseiten der SPD bereits im Ausschuss unsere Bedenken deutlich gemacht haben, was das neue Verfahren anbelangt, das Sie vorschlagen. Grundsätzlich müssen wir sicherlich auch darüber diskutieren, ob es vielleicht ein besseres Verfahren, ein optimales Verfahren gibt, das gegenüber dem jetzigen zu bevorzugen wäre. ({0}) Die Grundidee des Antrags ist sicherlich gar nicht so schlecht; denn die Diskussion über die fachliche Qualifikation der Verantwortlichen im Finanzbereich darf natürlich auch bei der Bundesbank nicht haltmachen. Für uns ist eine gut funktionierende Bankenaufsicht ohne Zweifel notwendig. Deswegen verschließen wir uns grundsätzlich natürlich auch nicht verfahrenstechnischen Neuregelungen. ({1}) Dennoch muss man jetzt einmal auf Ihren Vorschlag eingehen. Was mich schon ein bisschen verwundert hat - das habe ich auch schon im Ausschuss deutlich gemacht -, ist, dass es in der Begründung ganz plakativ heißt: „Kompetenz vor Parteibuch und Regionalproporz“. So etwas sollten wir uns im Deutschen Bundestag verkneifen. Wir dürfen nicht so tun, als schließe ein Parteibuch oder eine Mitgliedschaft in einer Partei Kompetenz aus. ({2}) So etwas kann man einfach nicht verbreiten, weil man damit der grassierenden Parteien- und Politikverdrossenheit Vorschub leistet. Jetzt schauen wir uns einmal Ihr Verfahren an - Kollege Brinkhaus ist auch schon darauf eingegangen -: In dem vierstufigen Verfahren, das Sie jetzt vorgeschlagen haben, entscheidet de facto doch noch viel mehr der Parteienproporz. Zunächst einmal gibt es eine öffentliche Ausschreibung; das mag man ja noch gutheißen. Aber bei der Vorauswahl durch die von der Parlamentsmehrheit getragene Bundesregierung sind natürlich Parteien dabei. Dieselben Parteien stellen dann auch die Mehrheit im Finanzausschuss, in dem sich die Kandidaten und Kandidatinnen - vielleicht gibt es auch einmal eine Kandidatin - vorstellen. Auch dort ist die entsprechende Mehrheit wieder gegeben. Letztendlich soll im Plenum des Deutschen Bundestages darüber abgestimmt werden, wer zum Zuge kommt. Wer entscheidet denn dann da? Es sind auch wieder die Parteien. Deswegen sind Ihr Vorschlag und dessen Begründung überhaupt nicht stimmig. ({3}) Nach unserer Auffassung wird also das Problem eher noch verschärft, als dass es gelöst würde. ({4}) An die Mitbestimmung der Bundesländer möchte ich nicht heran, weil ich glaube, dass die Bundesländer hier auf jeden Fall mitreden sollten; ich nenne an dieser Stelle nur das Stichwort Landesbanken. Es ist eine Errungenschaft unseres föderalen Systems, dass unsere Länder bei Gremienbesetzungen mitentscheiden können. Trotzdem gibt es Fragen, über die wir in den nächsten Wochen und Monaten noch einmal reden müssen. Ich denke da zum Beispiel an die Frage, ob wir wirklich sechs Mitglieder im Bundesbankvorstand haben müssen. Ich sehe, dass es eine Verschiebung der Aufgaben gibt, beispielsweise durch die Einführung des Euros wichtige Beratungsfunktionen zur internationalen Finanzmarktreform oder auch offene Fragen bei der Aufsicht. Wenn wir BaFin und Bundesbank in puncto Aufsicht anschauen, ergibt sich daraus vielleicht auch noch eine neue Aufgabenstellung. Ihr Europaabgeordneter Sven Giegold geht ja in eine ganz andere Richtung. Er macht die Frage auf, ob wir nicht durch eine ganz andere Eingruppierung bei der Vergütung erreichen müssen, dass dieser Job für die Besten aus der Branche mit entsprechender Expertise attraktiv ist. Auch diese Frage muss im Hinblick auf die Bundesbank diskutiert werden. Im Übrigen weist unsere Kollegin Ingrid Arndt-Brauer darauf hin, dass wir darüber diskutieren müssen, ob es nicht an der Zeit ist, dass eine Frau in den Bundesbankvorstand kommt. Vielleicht sollten wir auch dafür eine entsprechende Regelung andenken. ({5}) Fazit: Die Absichten sind okay. Wir nehmen Ihren Antrag als Denkanstoß mit, um zu überprüfen, ob es nicht vielleicht doch ein besseres Verfahren, ein optimales Verfahren gibt. Was heute vorliegt, ist, ehrlich gesagt, ein Schnellschuss, noch dazu einer mit altem Pulver aus dem Frühjahr. Es ist schade, dass Sie unsere Anregungen nicht aufgenommen haben. ({6}) Wir sind dafür, zu überlegen: Was passt für den bundesdeutschen Föderalismus? Wie bekommen wir die Besten für diese wichtige Aufgabe? - Das sollte unsere Marschroute sein. Ihr Vorschlag ist ein Denkanstoß, aber sicher nicht die optimale Lösung. Deswegen werden wir Ihrem Antrag heute leider nicht zustimmen können. Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die FDP. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit ihrem Antrag verspricht uns die Fraktion Die Grünen fachliche Exzellenz an der Spitze der Bundesbank. ({0}) „Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind allerdings auch hier zwei unterschiedliche Dinge. Man sollte auch einmal in die Geschichte der Regelung zur Besetzung des Bundesbankvorstands schauen. Die Besetzung wurde zuletzt im Bundesbankgesetz in der Fassung vom 23. März 2002 unter einer rot-grünen Bundesregierung geregelt, beschlossen mit den Stimmen der rot-grünen Koalition in diesem Parlament. Insofern ist das wieder ein Beispiel dafür, dass Sie sich von Entscheidungen, die Sie in der Regierungsverantwortung getroffen haben, in der Opposition einfach mal so mir nichts, dir nichts verabschieden wollen. ({1}) Was hier vorliegt, ist ein absoluter Schnellschuss - Kollege Gerster hat es schon ausgesprochen -, ein Schnellschuss aus der Opposition heraus, um sozusagen vergessen zu machen, was Sie in Ihrer Regierungszeit getan haben. ({2}) Wir als FDP-Fraktion haben uns damals intensiv in die Beratungen eingebracht. Wir haben sehr wohl auf die Gefahr einer politischen Einflussnahme durch das Verfahren, das damals dann ins Gesetz geschrieben wurde, hingewiesen. ({3}) Aber nichtsdestotrotz haben Sie das Gesetz durchgeboxt, wollen damit aber jetzt nichts mehr zu tun haben. ({4}) Das Vorschlagsrecht des Bundesrates, also der Bundesländer, halte ich für eine ganz wesentliche Komponente der Regelung im Bundesbankgesetz; denn ich glaube, dass eine Verteilung des Vorschlagsrechts auf unterschiedliche Akteure eher geeignet ist, eine politische Einflussnahme auszuschließen, als eine Konzentration auf Bundesregierung und Bundestag. ({5}) Der entscheidende Punkt ist: Bei mehreren Akteuren ist eine politische Einflussnahme weniger leicht möglich. Sie haben vorgeschlagen, dass nach der öffentlichen Ausschreibung und Vorsortierung der Bewerbungen durch die Bundesregierung der Finanzausschuss eine öffentliche Anhörung durchführt, so nach dem Motto: Deutschland sucht den Superbanker. Dann dürfen die alle dort antanzen, und dann dürfen sich die Mitglieder des Finanzausschusses ein Bild machen. Ich wage, ehrlich gesagt, nicht so genau zu sagen, wie das in einer solchen Finanzausschusssitzung ausgehen wird. Möglicherweise ist es sogar eine öffentliche Sitzung, eine öffentliche Vorführung, und der Finanzausschussvorsitzende übernimmt die Rolle von Dieter Bohlen. ({6}) Ich glaube, dass ein solches Verfahren der Wichtigkeit dieses Amtes in keiner Weise gerecht werden könnte. ({7}) Ich möchte noch auf eines hinweisen. Es gibt ein ehemaliges Bundesbankvorstandsmitglied, das durch Tätigkeiten neben seiner eigentlichen Vorstandstätigkeit Aufsehen erregt hat. Dieses Mitglied war von den Ländern Berlin und Brandenburg vorgeschlagen worden. Ich habe einmal herausgesucht, was der damalige und immer noch im Amt befindliche Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, damals über diese Person gesagt hat: Mit Sarrazin geht einer der profiliertesten Finanzpolitiker nicht nur des Landes Berlin, sondern in der Bundesrepublik Deutschland. ({8}) Weiter sagte er über Sarrazin: Ich lasse ihn ungern ziehen. ({9}) In einer öffentlichen Anhörung werden möglicherweise auch solche Überzeugungen geäußert, die sich ein paar Jahre später als falsch erweisen. Insofern wird vielleicht auch durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfahren wohl die eine oder andere Fehleinschätzung bei der Besetzung von Bundesbankvorstandsposten nicht vermieden werden können. Im Übrigen sehen wir in dem von Ihnen vorgeschlagenen Verfahren tatsächlich eine Gefährdung, vielleicht sogar einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Bundesbank. Ich möchte schon noch einmal darauf hinweisen, was die Bundesbank in den Zeiten der Finanzkrise für dieses Land getan hat und mit welch unglaublich hohem Ansehen die Bundesbank in diesem Land agiert. Dementsprechend sind wir als FDP eigentlich schon immer, traditionell, Verfechter der Unabhängigkeit der Bundesbank. Wir werden schon allein aus diesem Grund Ihrem Antrag nicht zustimmen können, weil wir einfach eine Gefährdung der Bundesbank sehen. Außerdem wird solch ein Schnellschussantrag, wie Sie ihn hier vorgelegt haben, wenig tauglich für die Praxis sein. ({10}) Dementsprechend werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Axel Troost hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, sich anlässlich der Zusammensetzung des Bundesbankvorstandes Gedanken über die Wahl des Gremiums zu machen. Das ist auch notwendig, nachdem wir nun wissen, wie schwierig und teuer es ist, offensichtliche Fehlbesetzungen wieder loszuwerden. Von daher begrüßen wir den Antrag der Grünen. Fachliche Eignung - nicht Regionalproporz und Parteibuch - muss bei der Besetzung des Bundesbankvorstandes ausschlaggebend sein. ({0}) Eine öffentliche Ausschreibung von Vorstandsposten entspricht durchaus diesem Ziel. Auch eine Anlehnung an international erfolgreich praktizierte Besetzungsverfahren ist zu begrüßen. Tatsächlich sind die wohldotierten und prestigeträchtigen Posten beim Bundesbankvorstand in den letzten Jahren etliche Male an verdiente Parteikollegen vergeben worden. Der mit goldenem Handschlag verabschiedete Sarrazin - das ist eben noch einmal dargestellt worden ({1}) stellt aus unserer Sicht das abschreckendste Beispiel dafür dar. Herrn Sarrazin kann man nur wünschen: Allah gebe ihm Verstand! ({2}) - Ja, aber Moment: Parteiproporz betrifft nicht nur die eine oder die andere Partei, sondern das trifft für alle hier zu. Da will ich gar keine Ausnahmen machen. Ich finde es schon bedenklich, dass daraus letztlich keine Konsequenzen gezogen werden. Es ist auch nicht richtig, hier von Schnellschuss zu sprechen. Es geht ja nicht um eine Sofortabstimmung über irgendetwas; der Antrag liegt vielmehr schon seit langer Zeit vor und ist im Finanzausschuss behandelt worden. ({3}) Selbst wenn man nicht dem Antrag folgen will, hat das jetzt nicht dazu geführt, dass man sich einmal Gedanken macht, auf welche andere Weise die Besetzung realisiert werden könnte. ({4}) Klar ist doch, dass eine öffentliche Ausschreibung etwas ganz anderes ist, als wenn die Besetzung ausschließlich in Parteigremien ausgemauschelt wird. Das ist im Augenblick sozusagen das Verfahren, um auf die Vorschlagsliste zu kommen. Insofern finden wir, dass das Grundanliegen völlig richtig ist und man dem auch folgen sollte. Trotzdem glauben wir, dass der Antrag der Grünen insgesamt zu kurz greift. Selbst wenn man im Rahmen einer Vorstandsbesetzung versucht, den besten Volkswirt zu finden, ist derjenige, der auf diese Weise in das Gremium kommt, wegen der ausschließlichen Ausrichtung der Bundesbank auf das Ziel der Preisstabilität weitestgehend gebunden und nicht in der Lage, eine aus unserer Sicht notwendige umfassende Politik zu machen, das heißt, die Politik der Bundesbank wie dann eben auch der Europäischen Zentralbank an gesamtwirtschaftlichen Zielsetzungen auszurichten. Die Bundesbank ist aus unserer Sicht auf die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu verpflichten, nämlich Beschäftigung zu erhöhen, angemessenes außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen und für ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum sowie Preisstabilität zu sorgen. Eine Ausrichtung auf solche Ziele wird ja bereits von der amerikanischen Zentralbank praktiziert. Das ist aus unserer Sicht eine absolute Notwendigkeit, um die Bundesbankpolitik wirklich in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu versuchen, damit den Interessen der Bevölkerung nachzukommen, also nicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auch auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag von der großen Mehrheit des Hauses nicht wirklich zum Anlass genommen wird, einmal nachzudenken, was man verändern kann. Ich denke, das, was mit Sarrazin passiert ist, kann jederzeit wieder passieren. Insofern fände ich es wichtig, zumindest im Finanzausschuss weiter über diese Frage zu diskutieren und uns wirklich Gedanken zu machen, wie man hier Veränderungen herbeiführen kann. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brinkhaus, Herr Gerster, Herr Volk, der vorliegende Antrag „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren“ ist in diesem Hohen Hause nicht neu. Wir haben ihn aber heute auf die Tagesordnung setzen lassen, weil wir gehofft haben, dass genau eine Woche nachdem Thilo Sarrazin aus dem Bundesbankvorstand ausgeschieden ist, ein guter Zeitpunkt sein könnte, um jetzt endlich darüber zu sprechen, was man tun kann, um das durch den Fall Sarrazin beschädigte Ansehen der Institution Bundesbank und ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen. ({0}) Wir hatten gehofft, jetzt sei der Zeitpunkt günstig, endlich einmal frei von irgendwelchen Personalspekulationen darüber zu sprechen, inwieweit sich das bisher geltende Personalauswahlverfahren bewährt hat oder eben nicht. Die heutige Debatte ist jedoch durchaus davon beeinflusst, dass von dpa gemeldet wurde, es gebe den neuen Vorschlag, dass Joachim Nagel, bisher Leiter des Zentralbereichs Märkte bei der Bundesbank, in den Vorstand wechselt. Wir begrüßen zunächst, dass bei dieser Person offenbar nicht das bisherige Verfahren gewählt worden ist: Der Bundesbankvorstand ist eine wunderbare Endlagerungsstätte für altgediente Politikerinnen und Politiker. Nichtsdestotrotz: Diese Personalentscheidung, die richtiger erscheint, löst nicht das strukturelle Problem, das hier vorliegt. Deswegen ist dieser Antrag eine Einladung an Sie zur Debatte; leider haben Sie sie heute ausgeschlagen. ({1}) Trotzdem möchte ich die Argumente vortragen. Wir haben diesen Antrag im Februar dieses Jahres eingebracht. Damals haben Sie von der Koalition den Antrag als durchsichtiges Oppositionsmanöver abgetan, weil es seinerzeit unter anderem um die Berufung von Carl-Ludwig Thiele von der FDP in den Vorstand der Bundesbank ging; ({2}) Sie wollten ihn schützen, weil sein Berufungsverfahren zu dieser Zeit lief. Wir hielten die Berufung zwar schon damals für falsch; aber - das muss ich sagen - es bewegte sich im üblichen Rahmen von parteipolitischem Geplänkel. Heute haben wir aber eine vollkommen andere Situation. Inzwischen hat sich am Beispiel Thilo Sarrazin gezeigt, was passieren kann, wenn die Bundesbank von der Politik als politisches Endlager missbraucht wird. ({3}) Thilo Sarrazin war zwar der spektakulärste, aber beileibe nicht der einzige schwierige Entsorgungsfall. So wurde zum Beispiel Rudolf Böhmler 2007 von Baden-Württemberg als Bundesbankvorstand durchgedrückt, obwohl er in einem internen Anhörungsverfahren keine Mehrheit bei der Bundesbank fand. ({4}) Sarrazin wurde nicht wegen seiner Qualifikation durchgedrückt - darüber könnte man diskutieren; die fachliche Qualifikation war nicht das Problem -, sondern weil es dem Regierenden Bürgermeister von Berlin - das konnte ich als Berlinerin wirklich live miterleben in sein politisches Schachspiel passte. Eines wusste Klaus Wowereit wie die gesamte Stadt Berlin: Thilo Sarrazin ist die denkbar ungeeignetste Person, um Teil eines Kollegialorgans zu sein. ({5}) Dies hat er nicht erst als Berliner Finanzsenator unter Beweis gestellt, sondern auch schon vorher, als er bei der Bahn war, oder davor, als er Staatssekretär in Rheinland-Pfalz war. Das war also allgemein bekannt. ({6}) Jahrzehntelang galt der Spruch des französischen Staatsmanns Jacques Delors: Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Deutsche Bundesbank. ({7}) - Herr Brinkhaus, genau das gilt aber nach der Causa Sarrazin nicht mehr. ({8}) Deswegen sind wir gefordert, die Reputation der Bundesbank wieder herzustellen. Da braucht es eben einen Ansatz für ein neues Verfahren. ({9}) Wenn Sie den Antrag so abtun, als sei er eine spinnerte grüne Idee, ({10}) dann möchte ich Ihnen schon sagen: Inzwischen befinden wir uns in guter Gesellschaft. Lesen Sie die entsprechenden Blätter: WirtschaftsWoche, Handelsblatt bis hin zur Börsen-Zeitung. Dort finden Sie die Forderung, die wir in unserem Antrag erheben. Am 13. September fordert die WirtschaftsWoche „eine Reform der Besetzungsprozedur“, um die angeschlagene Reputation der Bundesbank wieder herzustellen. Die Welt am Sonntag berichtet am 19. September: Führende europäische Ökonomen fordern ein neues Berufungsverfahren für die Vorstände. Auch der ehemalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schloss sich in einem Interview dieser Forderung an. Was machen Sie? Sie machen nichts. ({11}) Wir brauchen eine Verbesserung der Legitimität beim Auswahlverfahren. Wir schlagen ein Verfahren vor, das mehr Transparenz schafft und dadurch die Legitimation erhöht. Da die vier Stufen schon so oft Thema waren, möchte auch ich noch einmal kurz auf sie eingehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, das könnte höchstens noch ein Satz ohne Kommata sein. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Zur ersten Stufe. Wenn Sie gerne noch zusätzlich Headhunter einschalten wollen, dann schalten Sie zusätzlich Headhunter ein. Die öffentliche Ausschreibung organisiert ein Mindestmaß an Qualität. Das soll sie leisten. Zur zweiten Stufe. Das Auswahlverfahren der Bundesregierung soll gewährleisten, dass Menschen nicht beschädigt werden. Das kennen Sie auch. Sie thematisieren das als Problem der öffentlichen Ausschreibung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die dritte Stufe sieht vor - das ist für Sie das Schlimmste -, dass der Finanzausschuss darüber beraten soll. Ich sage Ihnen: Schauen Sie nach Großbritannien! Schauen Sie auf die EU-Ebene!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann stellen Sie fest, dass dadurch keiner untergeht. Formulieren Sie einfach einen Anspruch, der international gilt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Überlegen Sie selber. Dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man unserem Antrag zustimmen sollte. Ich hoffe, dass wir nicht zum letzten Mal über dieses Thema debattieren. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/798 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenomVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, enthalten haben sich SPD und die Fraktion Die Linke. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes - Drucksache 17/1215 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/3233 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Jörg van Essen Jerzy Montag Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich gebe dem Kollegen Marco Buschmann das Wort für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen feierten wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Vor 20 Jahren endete damit endgültig die Existenz einer staatlichen Ordnung, die auf Terror und Unterdrückung Andersdenkender gesetzt hat. Das Leid, das den Opfern von Terror und Unterdrückung widerfahren ist, kann niemand ungeschehen machen. Wir können die Opfer aber rehabilitieren. Wir können ein Zeichen setzen, dass wir ihre Biografien würdigen. Wir können ein kleines, vielleicht symbolisches Stück Wiedergutmachung leisten. Diese symbolische Wiedergutmachung wollen wir verbessern. Dazu legt Ihnen die Koalition den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes vor. Er ist geboren aus einer Bundesratsinitiative der Länder Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Er nimmt eine ganze Reihe von Anregungen aus dem Kreise der Opferverbände auf. Unser Gesetzentwurf enthält damit zahlreiche spürbare Verbesserungen für die Opfer des SED-Regimes, von denen ich hier nur einige wenige erwähnen möchte. Wir erweitern den Kreis der Anspruchsberechtigten. Von nun an sind auch Personen anspruchsberechtigt, die in einem Heim für Kinder und Jugendliche sowie in Jugendwerkhöfen untergebracht waren. Wir erleichtern die Bewilligung der Opferpensionen. Die erweiterte Härtefallregelung soll es ermöglichen, dass die besondere Zuwendung nach § 17 a auch dann gewährt werden kann, wenn die Mindesthaftdauer von künftig 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Frau wegen einer Schwangerschaft vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Ein anderes Beispiel ist die Haftentlassungspraxis in der DDR, durch die es immer wieder zu geringfügigen Unterschreitungen kam. Weiterhin wurde aus dem Kreis der Opferverbände immer wieder beklagt, dass es Landesbehörden gebe, die gegen das Gesetz gehandelt hätten, weil sie unter Verweis auf den Amtsermittlungsgrundsatz jährlich wiederkehrende Einkommensermittlungen durchgeführt hätten. Ein solches Vorgehen war mit diesem Gesetz natürlich nicht vorgesehen. Der Grund dafür ist klar: Es darf nicht sein, dass die Opfer von Überwachungsmaßnahmen den Eindruck gewinnen, sie würden anlässlich ihrer Rehabilitierung nun wieder Gegenstand von Überwachungen. Unser Vorschlag schließt turnusmäßige und anlassunabhängige Einkommensüberprüfungen in Zukunft aus. ({0}) Wir verlängern die Antragsfristen auf strafrechtliche, berufsrechtliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung bis zum 31. Dezember 2019. ({1}) Damit geben wir sowohl allen Betroffenen als auch den vom Gesetz neu erfassten Personengruppen wie beispielsweise den ehemaligen Insassen von Jugendwerkhöfen die Möglichkeit, ihren Antrag in aller Ruhe zu prüfen und zu stellen. Ich denke, dass wir den Betroffenen mit dieser deutlichen Verlängerung der Frist ein großes Stück entgegengekommen sind. ({2}) Einen weiteren Punkt haben die Betroffenen wiederholt vorgetragen - auch mir ist er wichtig -: Es geht darum, den Gedanken der Ehrenpension stärker herauszustellen. Ein Vorschlag aus dem Kreis der Opferverbände lautete, dass man Schwerkriminellen die Opferpension künftig versagen solle. Diesem Wunsch kommen wir nach. Die besondere Zuwendung wird zukünftig denjenigen Personen nicht mehr gewährt, gegen die nach einfacher Auskunft aus dem Bundeszentralregister eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat rechtskräftig verhängt worden ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist es so, dass man sich angesichts des geschehenen Unrechts immer noch mehr vorstellen kann; das ist überhaupt keine Frage. Ich glaube aber, dass die christlichliberale Koalition hier einen guten Vorschlag vorlegt. Das gilt insbesondere auch, wenn Sie die Rahmenbedingungen bedenken, unter denen wir agieren. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört natürlich, dass wir die notwendige Haushaltskonsolidierung durchführen. Trotzdem weiten wir an dieser Stelle Leistungsansprüche aus. Ich glaube, wir zeigen damit ganz deutlich, dass wir die Opfer nicht allein lassen. Wir bewerten diese Frage mit der notwendigen politischen Sensibilität und verleihen ihr Bedeutung. ({3}) Die Fraktionen der Opposition regen nun weitere Maßnahmen an. Zum Vorschlag der SPD für ein einheitliches Anerkennungsverfahren ist zu sagen, dass die Idee grundsätzlich natürlich sympathisch ist. Die Regelungskompetenz liegt aber bei den Ländern. Den Versuch, hier eine Einigungslösung herbeizuführen, gab es schon in der Vergangenheit. Er hat bloß nicht gefruchtet. Den Kollegen der Grünen möchte ich sagen: Natürlich sind die Überlegungen, das System umzustellen, durchaus sympathisch. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Ihr System als Ganzes dazu führen würde, dass die Opfer des Linkstotalitarismus in der DDR besser gestellt würden als die Opfer des Nationalsozialismus. Sie kennen die Grundlagen, nach denen beispielsweise die JCC Beihilfen erteilt. Auch da gibt es Mindesthaftdauern. Auch da ist die Beihilfe deutlich niedriger als die, die Sie vorschlagen. Den Kollegen der Linken möchte ich weiterleiten, was mir aus dem Kreis der Opferverbände mitgeteilt worden ist: Das sind die Rechtsnachfolger derjenigen Partei, die all das Leid angeordnet hat, um dessen Bewältigung es heute geht. Wie können sie nur auf die Idee kommen, sich als Anwälte der Opfer aufzuspielen? ({4}) In einer Zeit der Haushaltskonsolidierung, in der die Zeichen auf Sparen stehen, weiten wir die Leistungen aus. In Anbetracht des Sparhaushaltes und der Schuldenbremse können wir auf das Erreichte, auf das, was wir Ihnen vorlegen, stolz sein. Trotzdem werden wir natürlich auch in Zukunft offene Augen und Ohren für die Belange der Opfer des SED-Regimes haben; denn der mutige Einsatz dieser Menschen für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss anerkannt und gewürdigt werden. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten und beschließen heute die vierte Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Gesetzentwurf wurde im März 2010 - der Kollege Buschmann hat es schon gesagt - vom Bundesrat in den Bundestag eingebracht. Wir erinnern uns alle: Die erste Lesung dieses Entwurfs fand an einem historischen Tag, am 17. Juni 2010, statt. An diesem Tag haben wir in einer Feierstunde hier im Hohen Haus an die schlimmen Ereignisse des 17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Am vergangenen Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert. Dies ist an sich schon ein guter Grund, diesen Gesetzentwurf mit seinen sehr begrüßenswerten Änderungen zu verabschieden. Natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass Gesetze, insbesondere solche, die die Rechte der betroffenen Bürger stärken, möglichst zügig auf den Weg gebracht werden. Ich frage mich allerdings, ob die Hektik, die hier in den letzten zwei Wochen an den Tag gelegt wurde, um diesen symbolischen Termin einhalten zu können - Herr Kollege Buschmann, Sie haben das ja gesagt -, wirklich erforderlich und geboten war. ({0}) Ich will ganz kurz daran erinnern, dass erst in der letzten Woche ein Berichterstattergespräch zu dem Entwurf stattfand, bei dem drei Sachverständige angehört wurden. Bereits einen Tag später fand sich der geänderte Gesetzentwurf auf der Tagesordnung dieser Sitzungswoche wieder. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzentwurf an der einen oder anderen Stelle mit heißer Nadel gestrickt wurde und eine intensive Auseinandersetzung mit dem, was die Sachverständigen vorgebracht haben, nicht erfolgt ist, weil das nicht möglich war. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Opposition bei einem so sensiblen Thema stärker in den Prozess einbezogen worden wäre. An dem Gesetzentwurf ist begrüßenswert, dass der Personenkreis der Antragsberechtigten erweitert wurde. Nunmehr haben auch Menschen - wir haben es schon gehört -, die als Kinder oder Jugendliche in einem Heim bzw. in Jugendwerkhöfen unter schlimmsten, haftähnlichen Bedingungen ein jämmerliches Dasein fristen mussten, einen Anspruch auf Rehabilitierung und soziale Ausgleichsleistungen. Darüber hinaus hatten aber viel mehr Menschen unter staatlichen Kontrollmaßnahmen zu leiden, die sich bis heute auf ihr Leben auswirken. Zu erwähnen sind die Vorkommnisse bei den Weltfestspielen 1973; der Kollege Montag hat sie in der Sitzung des Rechtsausschusses am Mittwoch erwähnt. Damals wurden mehr als 1 800 Personen in Haft genommen, 477 in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen, 639 in Jugendwerkhöfen und 1 163 in sogenannten Spezialkinderheimen untergebracht, und gegen 2 982 Personen wurden sonstige staatliche Kontrollmaßnahmen wirksam. Ich hätte mir zumindest eine Diskussion darüber gewünscht, ob die Möglichkeit besteht, den Personenkreis auf Opfer solcher staatlichen Kontrollmaßnahmen auszuweiten. Weiterhin begrüßenswert ist, dass die Frist zur Antragstellung von 2011 auf 2019 verlängert wurde, und zwar insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass viele Opfer in Unkenntnis oder wegen Verdrängung, weil sie zum Teil traumatisiert sind, bislang keinen Antrag geSonja Steffen stellt haben. In der Anhörung wurde von dem Sachverständigen Dollase, dem Justiziar der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, anschaulich geschildert, dass viele Opfer erst bei der Rentenbeantragung auf die Opferrente hingewiesen werden. Es wäre daher ein zwar mutiger, aber auch sinnvoller Schritt gewesen, eine Entfristung des Gesetzes vorzunehmen. ({1}) Darüber hinaus begrüßen wir es selbstverständlich, dass zukünftig der Freibetrag für Familien mit Kindern erhöht wird und das staatliche Kindergeld und die betriebliche Altersvorsorge nicht mehr als Einkommen angerechnet werden. ({2}) Auch der neu aufgenommene sogenannte Ausschlussgrund ist zu begrüßen. Zukünftig soll die Opferrente, weil sie zu Recht „Ehrenpension“ genannt wird, Schwerverbrechern nicht mehr zuerkannt werden. Damit wird sich das Gesetz an das Bundesentschädigungsgesetz anpassen, das die Opfer des Nationalsozialismus entschädigte, und an das Häftlingshilfegesetz. Richtig ist auch, dass die Rente dann zuerkannt werden soll, wenn die Straftat in einer Auskunft aus dem Zentralregister nicht mehr enthalten ist, weil auch Straftäter die Chance haben müssen, nach Löschung ihrer Straftaten im Zentralregister als unbescholtene, gleichwertige Menschen zu gelten. Damit folgt das Gesetz der Systematik des Registerrechts und dem Gedanken der Resozialisierung. Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass aufgrund der Eile, mit der der Gesetzentwurf verabschiedet werden soll, wichtige Aspekte nicht mehr näher geprüft wurden. Dazu gehört auch ein Blick auf die Beschädigtenversorgung. Wer durch die Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach dem Gesetz in der derzeitigen Fassung wegen der Folgen dieser Schädigung auf Antrag eine weitere Versorgung. Die Praxis in den einzelnen Bundesländern bei der Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden ist aber leider sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in Thüringen bis 2009 von 933 Anträgen 220 positiv beschieden wurden, sind es in Mecklenburg-Vorpommern bei 825 Anträgen nur 90 Anerkennungen. Ich will an dieser Stelle kurz ein Beispiel nennen, damit man sich klarmachen kann, um was es hier eigentlich geht. Ein Opfer stellte 1997 in einem westdeutschen Bundesland einen Antrag auf Beschädigtenversorgung. Er war als politischer Häftling von 1958 bis 1963 in den Gefängnissen Bautzen, Neustrelitz und Schwerin inhaftiert. Das zuständige Versorgungsamt lehnte den Antrag ab mit der Begründung, es sei nicht wahrscheinlich, dass die geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch die Inhaftierung hervorgerufen worden seien. Schon in der Kindheit und Jugendzeit sei ein Gemütsleiden auffällig gewesen. Für das Jahr 1957 finde sich ein Hinweis auf eine Minderbegabung und Willensschwäche. Hochproblematisch erscheint hier, dass man dem Antragsteller einen Begutachtungstermin verwehrt hat. Außerdem vernachlässigte man völlig die in den 50er- und 60er-Jahren besonders inhumane Züge tragenden Haftbedingungen in der DDR, denen der Betroffene über den langen Zeitraum von immerhin fünf Jahren ausgesetzt war. In der Anamnese verweist man mit „Minderbegabung“ und „Willensschwäche“ auf zwei Aussagen aus DDR-Dokumenten. Sie werden kritiklos hingenommen, zitiert und einem wissenschaftlichen Diagnosebefund gleichgesetzt. Wünschenswert wäre hier die Errichtung einer zentralen Stelle zur Bewertung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden, die man mit Fachleuten, die sich in dieser Thematik besonders auskennen und damit besondere Erfahrungen haben, besetzen könnte. Auch die Union hat dieser Idee in der letzten Legislaturperiode viel abgewinnen können. Wir haben vorhin gehört, dass auch Herr Kollege Buschmann dieser Idee etwas abgewinnen kann. Ich hoffe daher, dass unser entsprechender Entschließungsantrag auch die Zustimmung der Regierungskoalition findet. ({3}) Mir ist bewusst, dass ein solches Vorhaben nur in Zusammenarbeit mit den Ländern umgesetzt werden kann. Dem Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung werden wir heute mit Blick auf die Opfer, die diese Besserstellung mehr als verdient haben, unsere Zustimmung erteilen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Andrea Voßhoff hat das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Steffen, zu den Forderungen, die Sie hier neben den Forderungen in Ihrem Entschließungsantrag erhoben haben, möchte ich Ihnen sagen: Diese SED-Opferpension ist in Zeiten der Großen Koalition entstanden. Es war damals die SPD, die bei den Entschädigungsregelungen zu Recht, wie ich finde, nicht nur nachhaltig dafür geworben, sondern auch immer darauf bestanden hat, dass wir das mit anderem bestehendem Entschädigungsrecht - Stichwort: NSOpferentschädigung - austarieren. Damals waren Sie aber noch nicht dabei. Das war die Conditio im Rahmen dieser Opferpension. Es ist schon gesagt worden: Am vergangenen Sonntag haben wir nicht nur in Bremen und in Berlin, sondern in zahlreichen Städten Deutschlands 20 Jahre deutsche Ein6882 heit gefeiert und ihrer gedacht. Wie sagte es der Bundestagspräsident, Dr. Lammert, sehr treffend - ich zitiere -: Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre seit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinander Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank. ({0}) 20 Jahre deutsche Wiedervereinigung bedeuten neben stillem Stolz und lautem Dank aber auch 20 Jahre Aufarbeitung der Folgen eines 40 Jahre währenden SED-Unrechtssystems. Einer der heute vorliegenden Entschließungsanträge ist von den Linken. Ich darf Ihnen, meine Damen und Herren von den Linken, einmal sagen: Zur Rehabilitierung gehören auch die Nennung der Täter und Ihr immerwährendes und bis heute nicht erfolgtes entsprechendes Bekenntnis. Von daher frage ich Sie in Anbetracht Ihrer Forderungen: Was tun Sie eigentlich in den Ländern, in denen Sie leider mitregieren, im Hinblick auf eine Entschädigung der SED-Opfer? ({1}) Mir ist keine Initiative, die Sie zu diesem Thema gestartet haben, bekannt. Für die Union steht das Erinnern im Vordergrund. Für uns gehören zum Erinnern aber auch die Aufarbeitung und die Rehabilitierung; das haben wir uns gemeinsam mit unserem Koalitionspartner vorgenommen, und das hat sich in unserem Koalitionsvertrag niedergeschlagen. Dazu liegt Ihnen heute, wie ich finde, ein guter Gesetzentwurf vor. Wir alle wissen - darauf ist heute schon hingewiesen worden; das sage ich auch mit Blick auf die Entschließungsanträge der Opposition -: Es wird nie möglich sein, ein derartiges 40-jähriges Unrecht vollständig wiedergutzumachen. Manche Kollegen beschäftigen sich seit Jahren mit diesem Thema, und hier im Parlament gab es in dieser Zeit unterschiedlichste Mehrheiten. RotGrün beispielsweise hätte acht Jahre lang die Gelegenheit gehabt, weiter gehende Regelungen zu treffen. ({2}) Aber diejenigen, die regiert haben und entscheiden mussten, sind immer an Grenzen gestoßen. Aus Sicht der Opfer ist es verständlich, dass die Ansprüche immer weiter steigen. Aber es handelt sich auch um ein Ritual: Diejenigen, die regieren und Verantwortung tragen, wissen, dass es Grenzen gibt und dass die Opposition - weil sie weiß, dass sie die eigenen Forderungen nicht umsetzen muss - die Gelegenheit nutzt, weiter gehende Forderungen zu erheben. ({3}) Dass das immer im Interesse der Opfer ist, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, es hilft auch nicht weiter, Versprechen abzugeben, die bei Lichte betrachtet und bei sorgfältiger Prüfung nicht einzuhalten sind. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die Große Koalition im Jahre 2007 - ich erwähnte es - auf Initiative der CDU die sogenannte SED-Opferpension eingeführt hat. Sie wissen auch, dass mittlerweile fast 50 000 Opfer diese Rente beziehen. Diese Zahl ist beachtlich und wächst stetig. Sie ist, wie ich finde, erschreckend hoch und ein Beleg für das Unrechtssystem der DDR. Dass es uns gelungen ist, die SED-Opferpension einzuführen, ist auch aus heutiger Sicht nach wie vor sehr löblich und zu begrüßen. Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf - die Details wurden schon genannt -, mit dem konkrete Verbesserungen und Erleichterungen beim Bezug der SEDOpferpension erzielt werden sollen. In der Praxis haben wir festgestellt, dass es Fehlentwicklungen gab, die wir heute klugerweise korrigieren. Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre Signale der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf; ich weiß, wie intensiv und häufig auch Sie mit den Opfern reden. Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf machen: Erstens. Ich freue mich - ich sagte es bereits -, dass es dafür offenkundig eine breite Zustimmung in diesem Hause gibt. Diese einmütige Zustimmung ist auch ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Signal an die Opfer und ihre Verbände, die unsere Diskussion sicherlich aufmerksam verfolgen. Ich habe feststellen dürfen, dass auch die mitberatenden Ausschüsse einstimmig dafür votiert haben; auch dies ist zu begrüßen. Im Gegensatz zur Kollegin Steffen bin ich der Meinung, dass wir am letzten Mittwoch konstruktive Berichterstattergespräche geführt haben und dass auch nach Vorlage unserer Änderungsvorschläge am vergangenen Montag ein weiteres konstruktives Berichterstattergespräch stattgefunden hat. Der Umfang der Gesetzesänderungen ist überschaubar, sodass von einem eiligen Verfahren wirklich keine Rede sein kann. Dieser Kritikpunkt, den Sie, Frau Kollegin Steffen, vorhin erwähnt haben, ist auch nicht von allen Oppositionsfraktionen geäußert worden. Frau Kollegin, mich tröstet diese Kritik insofern, als ich sagen kann: Wenn man in der Sache keinen Kritikpunkt findet, weil der Gesetzentwurf richtig gut ist, dann muss man als Opposition natürlich das Verfahren beanstanden. Das sei Ihnen auch zugestanden; aber ich denke, sachlich ist diese Kritik nicht berechtigt. ({5}) Zweitens. Mit diesem Gesetzentwurf werden nicht nur die vom Bundesrat geforderten verwaltungsrechtlichen Änderungen beim Bezug der SED-Opferpension geändert, sondern - der Kollege Buschmann hat es angesprochen - man ist teilweise weit darüber hinausgeAndrea Astrid Voßhoff gangen. Ein Beispiel sind die Regelungen des Kinderfreibetrages. Für Opferfamilien mit Kindern soll ein Kinderfreibetrag eingeführt werden. Das Kindergeld soll bei der Berechnung des Einkommens nicht angerechnet werden. Im Ergebnis sollen Opfer mit Kindern und Opfer ohne Kinder gleichgestellt werden. Das ist eine notwendige und gebotene Regelung. ({6}) Wir sind nicht nur froh, sondern auch unseren Haushältern dafür dankbar, dass sie dieser Regelung trotz des bestehenden Konsolidierungsdrucks zugestimmt haben. Erwähnt wurde auch - das ist nicht unwichtig, sondern eine wesentliche Änderung des Gesetzes -, dass die in den Rehabilitierungsgesetzen enthaltene Härtefallregelung, die bisher nur für die Kapitalentschädigung galt, jetzt auf die Opferpension ausgedehnt wird; Beispiele sind bereits genannt worden. Es hat Fälle gegeben, in denen aufgrund der willkürlichen DDR-Verwaltungspraxis die von uns geforderte Haftzeit von 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde. Weil das eine Härte im Sinne einer Ungerechtigkeit ist, haben wir die besondere Zuwendung der Opferpension in die Härtefallregelung des § 19 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes aufgenommen. Auch ist es ein wichtiger und guter Schritt, dass wir in dieser Frage zu einer Härtefallregelung gekommen sind. ({7}) Wir haben Klarstellungen vorgenommen, die nicht nur redaktionell, sondern auch grundsätzlich sind. Wir haben klargestellt, dass die Mindesthaftzeit 180 Tage beträgt. Jeder von uns, der die Gespräche mit den Opfern und den Opferverbänden geführt hat, weiß, dass das unterschiedlich gehandhabt wurde. In einigen Fällen wurden volle sechs Monate berechnet, in anderen 180 Tage. Es gab keine einheitliche Regelung. Das haben wir klargestellt und auch dabei für etwas mehr Gerechtigkeit gesorgt. Jedenfalls weiß ich aus vielen Gesprächen mit Opfern, dass das häufig als Problem empfunden wurde. Auch wurde erwähnt, dass die Länder teilweise anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensnachweise fordern. Das ist von vielen Opfern, insbesondere von den älteren, als Demütigung empfunden worden, weil sie nur eine Rente beziehen und sich deshalb die Einkommensverhältnisse nicht ändern. Das war vom Bundesgesetzgeber nie vorgesehen, wird von den Ländern aber praktiziert. Auch deshalb schreiben wir ins Gesetz, dass eine anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensüberprüfung nicht stattfinden soll. ({8}) Die Einbeziehung von DDR-Werkhof- und Heimkindern ist genannt worden. Auch sie wurde damals vom Gesetz intendiert, ist aber in unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedlich gehandhabt worden. Deshalb schreiben wir das zur Klarstellung ins Gesetz. Auch der Ausschluss Schwerkrimineller ist erwähnt worden. Frau Kollegin Steffen, Sie hatten in diesem Zusammenhang ein Problem, weil in Mecklenburg-Vorpommern die obersten Landesbehörden die Opferpensionen bearbeiten. Klären Sie das doch im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. ({9}) Wir können gern gemeinsam ein Schreiben aufsetzen. Das Land kann das ändern, sodass sich die von Ihnen geschilderte Problematik aus unserer Sicht in der Praxis gar nicht stellt. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern ist es unbenommen, auch von den obersten Landesbehörden einfache Registerauskünfte einzuholen. Daher ist das Problem aus meiner Sicht nicht nennenswert. Die Verlängerung der Antragsfristen ist auch genannt worden. Wir haben sie häufig in diesem Hause verlängert und immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das notwendig ist. Aber gerade mit der Einführung der SEDOpferpension im Jahre 2007 haben wir Material erhalten, dem wir entnehmen können, dass die Zahl der Rehabilitierungsanträge deutlich nach oben geschnellt ist, weil die Rehabilitierung Voraussetzung für die dann unbefristet zu beantragende Rente oder SED-Opferpension ist. Demzufolge haben wir die Fristen noch einmal bis 2019 verlängert. Wenn wir die Rehabilitierungsantragsfristen verlängert haben, haben wir immer auch die verwaltungs- und berufsrechtlichen Fristen entsprechend verlängert. Deshalb haben wir im Lichte des Berichterstattergesprächs, das wir sehr aufmerksam verfolgt haben, diese Fristverlängerung umgesetzt. Daher denke ich, dass dieser Gesetzentwurf alles in allem - das ist heute schon gesagt worden - sehr gut ist. Gestatten Sie noch einige abschließende Bemerkungen zu den Entschließungsanträgen der Opposition. Ich sagte eingangs, dass es immer leichter ist, mehr zu fordern, wenn man in der Opposition ist, weil man die Forderungen, da man nicht in politischer Verantwortung ist, nicht umsetzen muss. Als ich den Entschließungsantrag der Grünen gelesen habe, habe ich mich etwas gewundert, ({10}) dass er vom Kollegen Montag mitgetragen wird; denn er hat im ersten Berichterstattergespräch sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Entschädigungsregelungen sehr wohl mit Blick auf das gesamte Entschädigungsrecht - das betrifft auch Zahlungen für NS-Opfer auszutarieren sind. ({11}) Deshalb, Herr Kollege Montag, hat mich Ihr Antrag etwas gewundert. Aber der Kollege Wieland sagte, Sie seien überzeugt worden. Vielleicht kann er das noch etwas ausführen. ({12}) Abschließend, Frau Kollegin Steffen, sage ich Ihnen zu dem, was Sie in Ihrem Entschließungsantrag erwähnt haben, Folgendes: Sie wissen, dass es der Bund schon einmal versucht hat, dass sich die Länder an dieser Stelle nicht einig sind und dass die Länder dazu nicht zu bewegen waren. Ich weiß, dass Sie - leider - sechs Landesjustizminister und sieben Landessozialminister stellen. Frau Kollegin Steffen, fangen Sie an, diese zu überzeugen. Wenn Sie all diese hinter sich haben, sollten wir uns über das Thema noch einmal unterhalten. Wenn die Länder wollten, könnten sie das Verfahren, das Thüringen praktiziert, umsetzen. Traurig ist, dass das nicht geschieht. Aber fangen Sie bitte bei Ihren Ministern an, dafür zu werben. Ich will das gerne auch bei den unsrigen tun. Aber Sie haben leider Gottes eine größere Anzahl aufzubieten. ({13}) Versuchen Sie bitte nicht, das Problem auf die christlich-liberale Koalition zu schieben. Die Länder sind in der Pflicht. Die Länder könnten es machen. Thüringen hat gute Vorlagen dafür geliefert. Ich warte auf Ihre Rückmeldung, ob Sie Ihre SPD-Kollegen überzeugen können. Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit dem anfangen, was Frau Steffen angesprochen hat. Ich hätte mir gewünscht - ich habe das auch im Ausschuss gesagt -, dass wir mehr Zeit gehabt hätten, die Vorschläge der Sachverständigen nach den zwei Berichterstattergesprächen noch einmal gemeinsam im Detail zu prüfen und sie in den Gesetzentwurf einzuarbeiten. Sie haben einige Sachen aufgenommen, andere Sachen fehlen. Ich möchte Ihnen heute ein Buch empfehlen, und zwar das Buch Knastmauke von Sibylle Plogstedt. In diesem Buch wird die heutige Lage von ehemaligen Häftlingen in der DDR untersucht, und es werden die Fragen aufgeworfen, warum diejenigen, die die deutsche Einheit erkämpft haben, zu Menschen wurden, denen es heute besonders schlecht geht, ({0}) und inwieweit die schlechtere soziale Situation auf den traumatischen Störungen als Folge der Haft beruht. Ich glaube, es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir die Anerkennung der Zivilcourage und die Anerkennung des Eintretens für Bürgerrechte und Demokratie daran knüpfen, dass eine Freiheitsentziehung stattgefunden haben muss, wie Sie es beim Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz tun. ({1}) Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass wir auch für andere Formen der Benachteiligung Regelungen finden, die in Richtung Opferrente gehen. Ich denke beispielsweise an Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur machen konnten, weil ihre Eltern in der Kirche waren. ({2}) Ich finde, der 20. Jahrestag könnte Anlass sein, diesen Menschen gegenüber ein Symbol zu setzen. ({3}) Trotz der Fehler, die dieser Gesetzentwurf aufweist, wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen zustimmen - aus Verantwortung, die wir für die DDR-Geschichte tragen, aber auch, weil 3 000 Anspruchsberechtigte mehr in den Genuss der Opferrente kommen. ({4}) Es ist ausgesprochen erfreulich, dass in den Änderungsantrag der Koalition die Jugendwerkhöfe aufgenommen wurden. Ich sage es sehr deutlich: Wer sich einmal mit dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau beschäftigt, für den ist klar: Durch diesen Jugendwerkhof wird jede Relativierung des DDR-Unrechts delegitimiert. ({5}) Es ist erfreulich, dass die Fristenregelung ausgeweitet wird. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass es eine unbefristete Möglichkeit der Antragstellung gibt, weil gerade jüngere Menschen in einem Alter von Mitte 40 bis Anfang 50 sind, wenn die Frist ausläuft, und die Erfahrung zeigt, dass häufig erst bei Rentenantragstellung darauf hingewiesen wird oder die Menschen erst dann in der Lage und bereit sind, einen Antrag nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu stellen. Mit unserem eigenen Entschließungsantrag gehen wir ein bisschen über den Gesetzentwurf hinaus. Wir wollen, dass nicht an den 180 Tagen Haft festgehalten wird. Wir haben in der Anhörung der Sachverständigen gehört, dass sehr häufig Menschen nur kurzfristig in Haft genommen und dann durch Zersetzungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit weiteren Repressalien unterworfen wurden. Wir wollen, dass auch solche Opfer in den Genuss der Opferrente kommen. ({6}) Wir finden das Grundprinzip falsch, dass die Opferrente als soziale Ausgleichsleistung gestaltet ist. Wir finden, für die Zivilcourage und das Engagement für Bürgerrechte und Demokratie muss unabhängig vom Einkommen ein Anspruch auf Opferrente gewährt werden. ({7}) Wir fordern eine höhere Leistung, und wir fordern vor allem, dass die Vermutung, dass die Schäden aus der Haft herrühren, der Regelfall wird und dass nicht die Opfer beweisen müssen, dass die Schäden Folge der Haft sind. Herr Buschmann, Sie haben gesagt, wir legen etwas vor, was Ihnen nicht gefällt. Hätten wir nichts vorgelegt, dann hätte Ihnen das auch nicht gefallen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir ist es egal, was Ihnen gefällt, mir ist nur unsere Verantwortung gegenüber den Opfern wichtig. ({8}) Ich komme zum Schluss. Wir werden diesen Gesetzentwurf jetzt hier im Bundestag einstimmig verabschieden, wenn die Grünen zustimmen, wovon ich ausgehe. Die anderen haben das ja schon erklärt. Mir ist wichtig, dass wir das Thema damit nicht zu den Akten legen, sondern dass wir weiter über die weiter gehenden Forderungen auch der Opferverbände nachdenken und das bei Gelegenheit sehr gerne auch gemeinsam wieder aufgreifen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Wawzyniak ({0}) - ja, jetzt kommt das mit dem Geld; Sie haben es geahnt, und auch Ihr Kollege Dietmar Bartsch ist ja wieder hier -, ({1}) was Sie gesagt haben, war inhaltlich weitestgehend richtig. ({2}) Aber die Attitüde, aus Verantwortung für die Opfer zu handeln, lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({3}) Verantwortung für die Opfer heißt zunächst, dass die Täter finanziell für diese einzustehen und finanzielle Wiedergutmachung zu leisten haben. Das haben Sie nie getan. Sie haben Ihre Parteimilliarden veruntreut. Sie haben sie ins Ausland geschafft und im Inland versickern lassen. Dazu sollten Sie Stellung nehmen. Herr Bartsch hat das letztens versucht und sinngemäß gesagt, dass Ihre Partei notariell erklärt habe: All das Geld, das jetzt noch auftaucht, geben wir ab. - Das erinnert an einen Räuber, der seine Beute versteckt hat und sagt: Wenn doch noch etwas gefunden wird, dann bekommt es der Staat. - Das ist wirklich großzügig. So billig kommen Sie hier nicht davon. ({4}) Der Kollege Bartsch war Bundesschatzmeister, als ihm Gregor Gysi als Vorsitzender Briefe geschrieben hat mit Tipps, wie man Firmen gründet und Gelder zur Seite schafft. Der letzte Satz lautete, wie von einem Mafiapaten: Dieses Schreiben bitte vernichten. - Das hat er zwei-, dreimal versäumt. Deswegen wurde es bei Durchsuchungen gefunden. Von ihm wird der Satz kolportiert: Das wird mir Gregor nie verzeihen. ({5}) So weit dazu, ob Sie sich ehrlich oder unehrlich verhalten haben, vom Parteivorsitzenden bis hin zum Schatzmeister. Jetzt zu dem Gesetz. Frau Kollegin Voßhoff, wir haben in der Frage der Opferpension nie auf einem hohen Ross gesessen. Das können wir auch nicht; denn Sie haben zu Recht gesagt: Weder Schwarz-Gelb unmittelbar nach der friedlichen Revolution noch Rot-Grün haben diese Pension zustande gebracht. Es war die Große Koalition. Das erkennen wir an und haben das auch immer so gesagt. Nun kommt ein gewisses Aber. Unser Entschließungsantrag ist wie die anderen Entschließungsanträge auch ein Memo, wohin sich das eigentlich weiterentwickeln müsste. Wenn wir wieder regieren - stellen Sie sich das einfach einmal vor ({6}) - tun Sie das, auch wenn Schwarz bei der Vorstellung verzweifelt, dann dürfen Sie uns an dieses Memo erinnern; denn auch damit haben Sie recht: Das ist ein langer Prozess, der selten zu einem befriedigenden Ende findet. ({7}) Eine echte Opferpension wäre eine Anerkennungsund Ehrenpension. Sie wäre mehr als eine Haftentschädigung. Die sechs Monate oder 180 Tage - das ist uns doch allen klar - sind ungerecht gegenüber denen, die diese Grenze knapp verfehlen. Da könnte man abgestuft mehr geben. Ich weiß, dass man offene Türen einrennt, was die Schülerinnen und Schüler, die Dopingopfer und die Menschen angeht, die in der Zwangspsychatrie waren. Deswegen erkenne ich an, dass es einen kleinen Schritt gegeben hat. Der ist gut. Dem stimmen wir zu. Es bleibt aber sehr viel zu tun. Es gibt immer noch Opfer, die vergessen wurden. Es gibt immer noch Opfer, die draußen vor der Tür stehen. Wir alle sind aufgefordert, dies zu ändern. Aber wir sollten aufhören, uns gegenseitig vorzuwerfen, wer jeweils mehr bewilligt bzw. nicht bewilligt hat. Wie gesagt, es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Weitere müssen folgen. In diesem Sinne vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dietmar Bartsch das Wort. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- Jetzt ist es günstig, zuzuhören. Herr Wieland, Sie wissen sicherlich, dass ich im Januar 1991 Schatzmeister geworden bin. Sie wissen auch, dass die Vermögensfragen der Partei danach abschließend geklärt worden sind. Erstens zum Auslandsvermögen: Das Auslandsvermögen ist in einer Bundestagsdrucksache aufgeführt worden. ({0}) Wir haben dieses zusammen mit der unabhängigen Kommission ermittelt, und es ist dem Staatshaushalt zugeflossen, wie es das Gesetz für den Aufbau Ost vorsieht. Zweitens. Das sonstige Vermögen der SED ist geprüft worden - übrigens genau wie das Vermögen der Blockparteien, weil Sie da drüben so eine große Klappe haben -, ({1}) und das, was auf rechtsstaatliche Weise erworben wurde, durfte die PDS behalten. Dabei handelte es sich um vier Immobilien, nicht mehr und nicht weniger, kein Cent Geldvermögen. ({2}) Alles, was Sie behaupten, ist schlicht die Unwahrheit. Denn in allen Verfahren hat es an keiner Stelle auch nur einen Vorwurf gegen die neue Partei, die PDS, gegeben, der hätte aufrechterhalten werden können. ({3}) Das Letzte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie das wirklich ernsthaft mit Mafiamethoden vergleichen, dann muss ich sagen, dass das unter Ihrem Niveau ist, Herr Wieland. Wir haben Aufklärung geleistet und etwas für die neuen Länder getan. Das Geld ist verteilt worden. Die PDS hat im Jahre 1992 den Vorschlag gemacht, Geld aus dem infrage stehenden Vermögen für die Opfer bereitzustellen. Aber unser Vorschlag ist im Deutschen Bundestag abgelehnt worden. Das ist die Realität. Das, was nun gemacht wird, hätten wir schon lange haben können. Aber nehmen Sie wenigstens zur Kenntnis, dass dies die Fakten sind. Danke schön. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Wieland zur Antwort.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bartsch, ich nehme Ihre Worte zur Kenntnis. Zutreffend sind sie in keiner Weise. Ihre Partei ist keine Neugründung gewesen. Sie wurde sogar fortgeführt, um die Kasse zu retten; so hat es Herr Gysi ausdrücklich gesagt. Das gilt sowohl im Hinblick auf den Kaderstamm als auch im Hinblick auf den Milliardenschatz. ({0}) Der Milliardenschatz Ihrer Partei war das Hundertfache dessen, was die sogenannten Blockparteien hatten, die im Übrigen wie die LDPD sehr schnell auf alles, auch auf Grundstücke, verzichtet haben. Was haben Sie als SED gemacht? Sie haben im Jahre 1990 Ihre Betriebe systematisch umgewandelt und privatisiert sowie dubiosesten Privatleuten Darlehen gegeben, die das Geld teilweise nie zurückgezahlt haben. Da waren Sie die betrogenen Betrüger. Sie konnten Ihr Parteivermögen gar nicht schnell genug verschleudern. Dann haben Sie sich irgendwann hingestellt und gesagt: Nun haben wir nichts mehr. - Sie haben alles weggegeben. Luxemburg und Liechtenstein waren - ich verweise auf die Putnik-Affäre; über die rote Fini haben wir das letzte Mal geredet; dabei rümpfen Sie über Zumwinkel und andere zu Recht die Nase - auch Ihre Anlageparadiese. Gesteuert wurden die Aktivitäten von der Parteispitze. Da sind nicht irgendwelche Funktionäre aus dem Ruder gelaufen. Das wurde generalstabsmäßig geplant. In der Putnik-Affäre wurden Pohl und Langnitschke freigesprochen mit der Begründung, dass sie auf Anweisung von Gysi und dem Parteivorstand die Gelder nach Moskau bringen wollten. Seien Sie ganz ruhig! Sie haben alles versteckt und ausgegeben. Dann haben Sie einen Vergleich abgeschlossen und gesagt: Wir haben nichts mehr. Nun erklären wir, dass den Rest, wenn es denn einen gibt, der Staat bekommt. - Ganz schäbig! Sie haben Volksvermögen, das Sie sich zu DDR-Zeiten zu Unrecht angeeignet und das Sie veruntreut haben, in Kanälen versickern lassen, in denen es heute - so mutmaßen wir - zu Ihnen zurückfließt. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3233, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1215 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3236? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linken. Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3237? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und FDP. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3238? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist - bei dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher - ebenfalls abgelehnt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Moderne verbraucherbezogene Forschung ausbauen - Tatsächliche Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen - Drucksache 17/2343 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion. ({1})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit ungefähr zehn Jahren haben wir ein Verbraucherministerium, das dank der von Gerhard Schröder geführten rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde. Fast parallel dazu hat sich vor zehn Jahren der Verbraucherzentrale Bundesverband gegründet. Einige von uns waren in dieser Woche beim zehnten Geburtstag des vzbv. Die Politik hat sich also des Schutzes und der Interessen der Verbraucher angenommen - einmal mit mehr, einmal mit weniger Erfolg, derzeit mit etwas weniger. Doch insgesamt hat sich für die Verbraucherinnen und Verbraucher einiges bewegt. Dennoch ist die Verbraucherin bzw. der Verbraucher bisher für die Politik ein wenig bekanntes Wesen; denn während die Anbieter am Markt viel Geld in die Erforschung des Verbraucherverhaltens und in entsprechende Werbestrategien investieren, überprüft die Politik bisher kaum, ob ergriffene oder geplante verbraucherpolitische Maßnahmen auch der Realität der Verbraucher entsprechen und diese von Nutzen sind. Einen ersten Versuch hat die SPD bereits in der letzten Legislaturperiode unternommen. Wir haben gegenüber der CDU/CSU eine Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes durchgesetzt, die zeigen sollte, ob das Gesetz seinen Zweck einer verbesserten Information der Verbraucher erfüllt. Eine kritische Überprüfung auf Basis der gesammelten Erfahrungen hatten wir damals zur Bedingung für die Zustimmung zum VIG gemacht. Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung will diese Chance nicht nutzen. Stattdessen droht die Evaluierung als PREvent instrumentalisiert zu werden, um zu rechtfertigen, dass diese Bundesregierung trotz der Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen, die die Verbraucherverbände anhand ihrer mit dem VIG gemachten Erfahrungen vorweisen können, keinen Handlungsbedarf sieht. Wie wollen Verbraucher denn informiert werden? Wie müssen die Informationen aussehen? Wo müssen sie zugänglich sein, um alltagstauglich - das heißt verständlich und für Verbraucher schnell und unkompliziert - im Bedarfsfall abrufbar zu sein? Woran orientieren sich Verbraucherinnen und Verbraucher bei ihren Entscheidungen denn tatsächlich? Bisher bleiben solche Fragen bei dem Vorhaben der Bundesregierung völlig unberücksichtigt. Die SPD fordert ein Gesamtkonzept zum Ausbau der modernen verbraucherbezogenen Forschung. Neue wissenschaftliche Ansätze der Verhaltensökonomik sollten aufgegriffen und systematisch erforscht werden, um zu klären, wie das tatsächliche Verhalten von Verbrauchern durch gesetzliche Regelungen beeinflusst wird. Meine Fraktion hat einen hierzu vorliegenden Antrag bereits im Juli verabschiedet. Wir brauchen ein Konzept, eine Systematik für eine Gesetzesfolgenabschätzung, einen wissenschaftsbasierten Verbrauchercheck; denn wenn wir gute Gesetze machen wollen, brauchen wir mehr empirisches Wissen über das tatsächliche Verhalten der Verbraucher. Die Verhaltensökonomie kann hierzu einen Beitrag leisten. Davon würden nicht nur die Verbraucher profitieren; vielmehr würden Regulierungen auch insgesamt effektiver werden. Verbissen hält indes die Bundesregierung am Leitbild des Homo oeconomicus, des ausschließlich rational entscheidenden Verbrauchers, fest. Informiert soll er sein, der Verbraucher, und dies, obwohl in vielen Bereichen die Transparenz fehlt und Informationen gar nicht oder nur schwer zugänglich sind. Aber Informationen und Rationalität allein werden dem Verbraucher, der vielschichtigen und verschiedensten Einflüssen ausgesetzt ist, nicht gerecht. Das wissen wir doch alle von uns selbst und von unseren wahrlich nicht immer rationalen Kaufentscheidungen. Den Verbraucher, der unentwegt Kosten-Nutzen-Berechnungen durchführt und zur einzigen Grundlage seiner Kaufentscheidung macht, den gibt es nicht; von ihm auszugehen, ist unrealistisch. Gerade deshalb spricht auch die Werbung Verbraucher auf einer ganz anderen Ebene an. Produkte sollen nicht nur gekauft und benutzt, sondern auch geliebt werden. Bei McDonald’s liebt man es. Die Leute von Edeka lieben die Lebensmittel, und irgendein Autohersteller liebt Autos. Das heißt, Einkaufen soll zum Erlebnisshopping werden. Lebensmittel werden nicht mehr gegessen, sondern mit allen fünf Sinnen genossen. Böse könnte man dies auch als gezielte Verblödung der Verbraucher bezeichnen; ({0}) denn aus der Sicht einiger Anbieter ist der rational konsumierende Verbraucher möglicherweise gar nicht gewünscht. Umso wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, welche Faktoren die Konsumentenentscheidungen beeinflussen und wie der Verbraucheralltag aussieht, in dem solche Entscheidungen getroffen werden. Die Wahlmöglichkeiten haben nämlich durch technologischen Fortschritt und Liberalisierung der Märkte zugenommen. Gleichzeitig sind Tarifstrukturen und Angebotsbedingungen komplexer und schier unüberschaubar geworden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbraucher oft mehr für Produkte ausgeben als notwendig, dass sie kaufen, was sie nicht gebrauchen können, oder dass sie aus Überforderung vor der Angebotsvielfalt gar keine Entscheidung treffen und so zum Beispiel nicht ausreichend für ihr Alter vorsorgen. Eine stärkere Ausrichtung auf real existierende Verbraucherinnen und Verbraucher könnte uns unverständliche Informationsblätter beim Handel mit Finanzprodukten ebenso ersparen wie undurchschaubare Auflistungen von Inhaltsstoffen bei Lebensmitteln oder versteckte Kosten bei Handyverträgen. Für eine stärkere Vernetzung zwischen Verbraucherforschung und Politik brauchen wir natürlich auch Mittel. Wir haben entsprechende Forderungen in die Haushaltsberatungen eingebracht. Ich kündige hier schon einmal an: Wir reden heute sicherlich nicht zum letzten Mal über das Thema Verbraucherforschung. Ganz im Gegenteil, wir stehen erst am Anfang dieser Debatte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden nicht lockerlassen. Wir bleiben dran. Verbraucherpolitische Instrumente und Maßnahmen müssen endlich den realen Verbraucher im Blick haben und alltagstauglich sein. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was gut gemeint ist, ist noch längst nicht gut gemacht. Dies zeigen Sie heute sehr deutlich mit Ihrem Antrag zur Verbraucherforschung. Aber der Antrag behandelt ein wichtiges Thema, um das wir uns verstärkt kümmern müssen. In diesem Punkt sind wir einer Meinung, und ich bin auch Ihrer Meinung, Frau Kollegin, dass wir tatsächlich am Anfang der Debatte stehen. Um welche Frage geht es? Es geht darum, wie wir dem Verbraucher in den von Schnelllebigkeit, Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit geprägten globalen Märkten das notwendige Rüstzeug zu seinem Schutz mitgeben können. Ich denke, insoweit besteht Übereinstimmung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe Probleme, den verbraucherpolitischen Geist in Ihrem Antrag nachzuvollziehen. Steigen wir einmal in Ihren Antrag ein. Die Basis für Ihre Forderungen zur Verbraucherpolitik lautet hier folgendermaßen: Bisher ging die Verbraucherpolitik mit dem Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ davon aus, dass der Verbraucher sich im Sinne eines Homo oeconomicus als rationaler Akteur eines perfekten Marktes verhält, der alle verfügbaren Informationen vollständig verarbeitet, sich dabei zukunftsorientiert und den eigenen Bedürfnissen entsprechend verhält und aus seinen Erfahrungen lernt. Meine Damen und Herren, was für ein Quatsch! ({0}) Vielleicht haben Sie den Homo oeconomicus als Leitbild Ihrer Verbraucherpolitik verstanden, wir garantiert nicht! Der mündige Bürger und der Homo oeconomicus als theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt haben nun wirklich gar nichts gemein. Vielleicht passt der Vergleich einer Currywurst mit einer Tofuwurst - mehr aber nicht. Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet … Dieser sehr zutreffende Gedanke von Adorno spiegelt den Leitgedanken der Union in der Verbraucherpolitik in diesem Fall sehr gut wider. Natürlich wissen wir, dass auch der Verbraucher nicht immer rational entscheidet Franz-Josef Holzenkamp mit all seinen Folgen. Natürlich wissen wir auch, dass die Anbieter sich das zunutze machen. Mit Verlaub, das ist wirklich ein alter Hut. Nur, was lernen wir daraus, meine Damen und Herren? Sie wollen Ihrem Antrag entsprechend, dass Verbraucherverhalten und Verbraucherentscheidungen „in Einklang stehen mit einer Verbesserung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt“. ({1}) Dafür wollen Sie sich der Verbraucherforschung und der Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bedienen. Das heißt für mich nichts anderes, als dass der Staat den Verbrauchern vorschreibt, was und wie sie zu verbrauchen haben. ({2}) - Die Verbraucher, verehrte Kollegin, werden sich bedanken. Das ist nicht unsere Vorstellung von einem mündigen und freien Verbraucher. Wie eine solche Politik aussieht, erleben wir doch zum Beispiel bei der Nährwertkennzeichnung. Mit Ihrer Ampel ({3}) wollen Sie den Verbraucher in seinem Ernährungsverhalten lenken. Offensichtlich sind Sie davon überzeugt, dass der Verbraucher nicht in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was oder wie er letztendlich isst. Ich sage dazu Nein, Nein und nochmals Nein. Das hat mit moderner Verbraucherpolitik überhaupt nichts zu tun. Das erinnert eher an Orwells 1984. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Niemand kann den Menschen zum Homo oeconomicus formen. Niemand kann die Unsicherheiten, die aus globalisierten Lebenswelten und zunehmender Produktund Angebotsvielfalt kommen, völlig tilgen. Niemand kann den Verbrauchern die letzte Entscheidung abnehmen. An dieser Stelle sage ich deutlich: Das wollen wir auch nicht. Wir in der christlich-liberalen Koalition trauen den Menschen etwas zu, ({5}) ganz im Gegensatz zu Ihnen. ({6}) Was aber kann und muss Verbraucherpolitik wirklich leisten? Sie muss Regeln für größtmögliche Markttransparenz schaffen und zielgenaue Informationen bieten. Das ist ein permanent zu verbessernder Prozess. Sie muss echte Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Preises und der Vielfalt des Warenangebots gewährleisten. Nicht zuletzt muss sie Maßstäbe hinsichtlich gesundheitlicher, technischer und umweltfreundlicher Produktstandards setzen. Verbraucherforschung - hier sind wir uns einig - unterstützt dies. Dass dabei auch Erkenntnisse der Verhaltensökonomie eingebunden werden können, ist eine Selbstverständlichkeit. ({7}) Dies befürworten wir als Fraktion, und das befürwortet auch das zuständige Bundesministerium. Wie Sie wissen, sind hier eine Menge Aktivitäten im Gange: in der Anlageberatung, ({8}) bei der Überprüfung von Produktinformationsblättern und auch beim VIG. Wir fragen jeden Menschen im Internet: Wie groß war der Nutzen? Mehr Transparenz, meine Damen und Herren, geht überhaupt nicht. Darüber hinaus startet ab diesem Wintersemester an der Uni Bayreuth der Studiengang „Rechtlicher Verbraucherschutz“ im Rahmen einer Stiftungsprofessur. Zwei weitere werden folgen. Eine wird sich mit dem Entscheidungsverhalten von Verbrauchern beschäftigen. Parallel wird das Ministerium den Aufbau eines Netzwerkes zur Verbraucherforschung vorantreiben. Sie sehen: Die Bundesregierung ist zum Wohle des mündigen Verbrauchers gut unterwegs. Hier verhält es sich wie beim Hasen und dem Igel: Die Bundesregierung ist längst da, wo die Opposition erst hin will. ({9}) Aus diesem Grunde können wir den Antrag nur ablehnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unternehmen geben in Deutschland jährlich rund 30 000 Milliarden für Marktforschung und Werbung aus - ({0}) Eine enorme Summe dient nur dazu, herauszufinden, was für die Unternehmen gut ist. Was gibt demgegenüber der Staat aus, um zu erforschen, was aus der Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher gut ist? 3 Millionen Euro! Auch wir als Linke sind der Auffassung, dass hier zu wenig getan wird und dass die Prioritäten in der Forschungspolitik falsch gesetzt werden. ({1}) Ich setze die 3 Millionen Euro für die Verbraucherforschung einmal ins Verhältnis zu anderen Ausgaben des Bundes. Es gibt für die Raumfahrt etwa 1 Milliarde Euro, für die Atomforschung 135 Millionen Euro, und für Sicherheitstechnologien wie den Nacktscanner sind immerhin 60 Millionen Euro im Staatssäckel vorhanden. Zukunftsorientierte Forschungspolitik sieht wirklich anders aus. In der Tat brauchen wir eine starke und unabhängige Verbraucherforschung. Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren jährlich 20 bis 30 Milliarden Euro allein durch Falschberatung bei der Geldanlage. Kein Mensch kann die immer komplexer werdenden Märkte vollständig überblicken. Globalisierung hat neue Märkte geschaffen. Privatisierung, etwa von Wasser, Energie und Telekommunikation, hat Bürgerinnen und Bürger zu Kunden gemacht. Deswegen müssen wir als Politik auch mehr darüber erfahren, welche Instrumente Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen, um sich im Dschungel globaler Märkte zurechtzufinden. Berlin ist übrigens mit gutem Beispiel vorangegangen. Hier hat die linke Verbrauchersenatorin Katrin Lompscher den „Verbrauchermonitor“ eingeführt. Berliner Verbraucherinnen und Verbraucher werden gefragt, wo ihrer Ansicht nach verbraucherpolitisch gehandelt werden muss. ({2}) Außerdem werden in Berlin die Auswirkungen von Gesetzen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich überprüft. Auch die Verbraucherverbände sollten unserer Auffassung nach Bestandteil einer besseren Verbraucherforschung sein; denn sie werden als Erste auf die Missstände aufmerksam. Jede Förderung, die wir in die Verbraucherverbände stecken würden, wäre wirklich Gold wert. Anders als Sie, Herr Holzenkamp, finde ich es sehr gut, dass die SPD in ihrem Antrag sagt: Das Leitbild des mündigen Verbrauchers ist in dieser Art und Weise nicht mehr haltbar. Es muss überarbeitet und auch diskutiert werden. - Die schwarz-gelbe Bundesregierung benutzt das Leitbild des mündigen Verbrauchers in aller Regel, um politisch untätig zu bleiben. ({3}) Deswegen müssen wir diese Leitbilddebatte jetzt führen. ({4}) Hier geht es nicht um die Bevormundung. Auch wir als Linke wollen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher selbst entscheiden. Aber die Grundlage der Entscheidung muss stimmen, und diese Grundlage ist häufig nicht gegeben. Deswegen sind auch wir beispielsweise für die Nährwertampel. Es muss an der Stelle gesagt werden, dass Verbraucherforschung wenig nützt, wenn sich die Regierung an das, was die Forschung herausgefunden hat, nicht hält. Die Nährwertampel ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Die Wissenschaft hat sie empfohlen. Frau Aigner hat sie wider besseres Wissen abgelehnt. Stattdessen folgt sie den Lobbyinteressen der Lebensmittelindustrie. Ein anderes Beispiel ist die Finanzberatung. Hier hat der Sachverständigenrat des Ministeriums eine Reihe von guten Vorschlägen gemacht. Auf die Umsetzung durch die Bundesregierung warten wir hier vergeblich. Meine Damen und Herren, auch in der Verbraucherpolitik betreibt die Koalition Klientelpolitik ({5}) statt guter Verbraucherpolitik. Wir als Linke wollen Verbraucherpolitik mit Weitblick statt eine skandalgetriebene. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen eine starke Stimme auf allen Ebenen, in der Politik und auch in der Forschung. Auf dieser sachlichen Grundlage sollten wir dann den Antrag der SPD in den Ausschüssen diskutieren. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lay, 30 000 Milliarden Euro - diese Zahl würde ich noch einmal revidieren. Ich glaube, da sind Millionen und Milliarden durcheinandergekommen. ({0}) Ich finde es aber toll, dass wir uns dem Thema jetzt widmen. Nachdem die SPD in der Opposition angekommen ist, ist sie der Meinung, man könne da jetzt etwas tun. Da muss man sich jetzt schon einmal Gedanken machen, wie man dazu steht. Wir Liberale bauen auf eine Stärkung der Menschen am Markt und nicht auf den Schutz vor dem Markt. ({1}) Wir trauen den Verbrauchern etwas zu. Die Stichworte „mündiger Bürger“ und „mündiger Verbraucher“ sind genannt worden. Wir sind der Meinung, bessere Informationen und mehr Wissen über Produkte, um dann selbst entscheiden zu können, sind wichtig. Deswegen ist für uns Bildung und Information der Verbraucher das Gebot der Stunde. ({2}) Wir sind nicht der Meinung, dass der Verbraucher ein Wesen mit null Konsumwissen ist, also jemand, der keine Ahnung hat. Das könnte man aber manchmal denken, wenn man Ihren Antrag liest. Der Verbraucher steht im Fokus der Forschung. In vielen Studiengängen wird verbraucherbezogen geforscht, und nicht nur im Sinne von Verkaufs- und Manipulationsstrategien, wie hier unterstellt wird. Ich selbst gebe an der Hochschule RheinDr. Erik Schweickert Main am Campus Geisenheim Vorlesungen, die sich unter anderem mit Verbraucherländern befassen. Da wird sehr genau erforscht, was der Verbraucher denn möchte. Hier richten wir unser Augenmerk insbesondere auf den informierten Verbraucher. In anderen Fachrichtungen - Kollege Holzenkamp hat es gesagt - ist es genauso: sei es in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften oder auch in den Rechtswissenschaften oder in der Psychologie. An Ergebnissen mangelt es uns hier also nicht. Aber nicht nur die Forschung, auch der Verbraucher selbst ist manchmal viel weiter, als es ihm die SPD in ihrem Antrag zutraut. Er ist nicht der tumbe Hans-guck-indie-Luft. Die Realität sieht anders aus. Der Verbraucher hat keine Angst vor Innovationen und Wahlmöglichkeiten. Im Wettbewerb ist der Verbraucher immer noch König. Das zeigen uns die Rabattschlachten im Einzelhandel, die ohne Wettbewerb gar nicht stattfinden würden. ({3}) Die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest sind, staatlich gefördert, unverzichtbare Informationsquellen für den eigenverantwortlich handelnden Bürger. Mit dem Internet als weiteren Ratgeber hat er ganz tolle Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten. Waren Sie schon einmal auf der Funkausstellung? Ich bin dagewesen. Schauen Sie sich die Begeisterung der Verbraucher an. Da hat keiner gejammert, dass er nun zwischen LED-, LCD- und 3D-Fernsehern eine Auswahl treffen kann. Es ist ja auch kein Zufall, dass genau zeitgleich in den Berliner Multimediamärkten diese Produkte laufen. Die Verbraucher sind also Innovationen gegenüber aufgeschlossen; ich glaube, viel aufgeschlossener, als es die SPD jemals war. Als Sie von der SPD 1998 in Ihrem Wahlslogan noch den Begriff „Innovation“ benutzten, waren Sie erfolgreich. Ich glaube, ein erfolgreicher Verbraucher ist der, der an Innovationen glaubt. Leider hat sich die SPD vom Thema Innovation wieder ein bisschen entfernt. Wenn Sie auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben, der Verbraucher habe bisweilen unklare Ziele und handle nicht im Sinne der gesellschaftlichen Wohlfahrt, kann ich Ihnen nur entgegnen: Na und? Soll er das doch tun. Es ist mir wesentlich lieber, der Verbraucher handelt eigenverantwortlich, als so, wie es ihm der Staat vorschreibt. ({4}) Wir wollen den mündigen Bürger und nicht den staatlich bevormundeten. ({5}) Der Verbraucher ist dabei nicht so hilflos, wie die Opposition behauptet. Bei einem Punkt, Frau Drobinski-Weiß, gebe ich Ihnen allerdings recht. Wir benötigen bisweilen etwas mehr Evidenzbasierung. Gerade für mich als Wissenschaftler ist das Vorgehen der Politik manchmal etwas ungewohnt und unbefriedigend. Ich habe mich schon oft gefragt, ob Warnungen vor 1-Cent-Überweisungen für den Verbraucher wirklich relevant bzw. wichtig sind. Ich glaube, solche Warnungen kommen daher, dass es an empirischen Studien darüber mangelt - das wissen wir als Politiker nämlich häufig nicht -, was die Verbraucher wirklich wollen und was sie fordern. Der Verbraucher ist nämlich manchmal weiter, als wir es ihm zugestehen wollen. Wir, die Verbraucherpolitiker aller Fraktionen, die wir hier sitzen, erfahren aus Zuschriften, aus Gesprächen in den Wahlkreisbüros oder aus Gesprächen mit den Bürgern, wo der Schuh drückt. Es kann aber nicht schaden, wenn wir durch Umfragen die relevanten Themen und die tatsächlichen Problemlagen der Verbraucher herauszufiltern versuchen. Ein entsprechender Posten für sogenannte Entscheidungshilfe-Vorhaben steht dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Haushalt zur Verfügung. Diesen sollten wir nutzen. Wir gehen hier auch auf meine Initiative hin voran. Frau Lay hat vorhin die sogenannte Berlin-Stichprobe angesprochen. Vielleicht war es früher, als Berlin ein abgegrenzter Markt war, ausreichend, dort zu fragen, was gewünscht wird. Heute steht Berlin mit seinen ganzen Problemlagen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen stellen wir jetzt die Fragen - wir haben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben -: Welche Felder können priorisiert werden? Welche Themen sind für die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich wichtig? Ähnlich wie bei einem Consumer Board wollen wir feststellen, was den Verbrauchern wichtig ist. Dann begehen wir nicht mehr den Fehler, vor Sachen zu warnen - beispielsweise vor 1-Cent-Überweisungen -, die sich nachher als nicht sehr problematisch herausstellen. Ich möchte wissen, was für die Verbraucherinnen und Verbraucher im Fokus steht. Da haben wir wirklich einen Nachholbedarf. Wir werden hier nachbessern; denn wir von der christlich-liberalen Koalition setzen klare Schwerpunkte. Eine evidenzorientierte Politik bringt den effizienten Verbraucherschutz voran. Wir brauchen keine neue Forschungsrichtung, keine neuen Forschungseinrichtungen, Studiengänge oder Marktwächter, erst recht keine Bevormundung der Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Jahren hat die Verbraucherpolitik kontinuierlich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Menschen auf immer komplexeren, oft globalen Märkten behaupten müssen. Neue Angebote und technische Innovationen, aber auch ganz neue Märkte, die durch Li6892 beralisierungen oder die Notwendigkeit zur privaten Vorsorge entstanden sind, machen es uns allen schwer, den Überblick zu behalten und eine gute Wahl zu treffen. Natürlich wollen wir den Menschen nicht vorschreiben, was sie konsumieren; zum Glück können wir das auch nicht. Es gibt aber durchaus ein Gemeinwohlinteresse an der guten Wahl. ({0}) Das wird auch von CDU/CSU und FDP so gesehen. Herr Holzenkamp und Herr Schweickert, ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: ({1}) Erstes Beispiel: eine Informationskampagne der Drogenbeauftragten der Bundesregierung - sie gehört der FDP-Fraktion an - für schwangere Frauen. Sie rät dazu, während der Schwangerschaft möglichst keinen Alkohol zu sich nehmen. ({2}) Das ist nicht wertneutral. Natürlich hat der Staat ein Interesse an gesunden Kindern und Müttern. Deshalb beeinflusst man die Verbraucherinnen und Verbraucher in eine bestimmte Richtung. Hierbei handelt es sich um Einflussnahme, auch wenn es mit einem Faltblatt und damit sehr rückhaltend und vorsichtig geschehen ist. Zweitens: private Altersvorsorge. Wenn man meint, man dürfe überhaupt keinen Einfluss nehmen, dann dürfte man nicht bestimmte Produkte steuerlich günstiger stellen, wie wir es bei der Riester-Rente machen. Wenn der Staat völlig wertneutral wäre, hätte man sich auch hier den Schubs in eine bestimmte Richtung verkneifen müssen. Das machen Sie natürlich nicht; es wäre auch völlig unsinnig, die Menschen von der privaten Vorsorge fernzuhalten. Damit will ich sagen: Der Staat ist in der Verbraucherpolitik - auch bei der von FDP und CDU/CSU - natürlich nicht wertneutral. Wir schubsen sozusagen die Verbraucher gemeinwohlorientiert in eine bestimmte Richtung. ({3}) Leider werden sowohl die Verbraucherinformationen als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen oft auf unzureichenden empirischen Grundlagen erstellt bzw. geschaffen. Stattdessen geht man von theoretischen Leitbildern aus, die oft illusorisch sind; der Homo oeconomicus wurde hier schon oft gescholten. Es ist leider eine Illusion, dass Verbraucher immer die für sie günstigste Entscheidung treffen, alle Informationen aufnehmen und diese dann auch noch berücksichtigen. ({4}) Wir Verbraucherpolitiker sind es gewohnt, alltagsempirisch zu diskutieren: Wir kennen Herrn Blesers 85-jährige Mutter aus den Debatten im Ausschuss. ({5}) Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder Spielzeug in den Mund nehmen, auch wenn es dafür nicht gemacht ist. Das heißt, wir argumentieren nicht mit dem Leitbild des Verbrauchers, sondern beziehen uns auf die gelebte Realität. Natürlich wäre es noch schöner, wenn wir nicht nur die gelebte Realität der Mitglieder des Verbraucherschutzausschusses berücksichtigen könnten, sondern unsere Politik evidenzgeleitet und forschungsbasiert betreiben könnten. ({6}) Dafür fehlt uns oft noch die wissenschaftliche Grundlage. Wir wissen beispielsweise nicht, ob die Mütter, an die die Faltblätter Ihrer Kollegin Frau Dyckmans gerichtet sind, die Faltblätter auch wirklich lesen. Wir wissen nicht, ob für diese Personengruppe ein Fernsehwerbespot nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre. Es ist sehr wichtig, die vorhandenen Instrumente zur Verbraucheraufklärung und zur Verbraucherinformation empirisch abzusichern. Deshalb haben wir Grüne uns überlegt, dass wir in einem Antrag zum Haushalt 2 Millionen Euro zusätzlich für die verbraucherbezogene Forschung einsetzen wollen. Vielleicht knapsen Sie diesen Betrag bei der Gentechnikforschung ab. ({7}) Damit wäre allen gedient. In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Beratungen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Verbraucher ist überfordert. Er reagiert längst nicht so rational, wie es das Bild des mündigen Verbrauchers suggeriert. Er muss gelenkt und sein Handeln muss erforscht werden. ({0}) Dieser unterschwellig sozialistische Ansatz in Ihrem Antrag ({1}) deckt sich nicht mit unserem Verbraucher- und Menschenbild. ({2}) Wir glauben an den eigenverantwortlichen, an den mündigen Verbraucher. ({3}) Ich plädiere an dieser Stelle für Verbraucher- und Wirtschaftsinteressen auf Augenhöhe. Deshalb ist es unser Ziel, zuverlässige, umfassende, sachliche und klare Informationen über die Produkte zu erzielen. Ich zitiere Ihren Antrag: Die Anbieterseite wendet viele Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bei der Ausgestaltung ihrer Geschäftsmodelle bereits an. Das ist richtig. ({4}) Die Anbieterseite weiß, wie der Verbraucher tickt. Der Verbraucher ist kein unbekanntes Wesen. Er trifft seine Verbrauchsentscheidungen selten rational. ({5}) Als Beispiel will ich Rabatte oder Preisabschläge nennen. Sie wirken oft - das beobachte ich immer wieder - wie eine Droge. Neulich traf ich eine Taxifahrerin, die mir erzählte, sie habe eine Frau in den Supermarkt gefahren, weil es dort die Hähnchen im Angebot günstig gab. Die Taxikosten waren Nebensache. Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Skandale. Jedes Jahr im Sommerloch - danach kann man schon die Uhr stellen - entdecken einschlägige Organisationen das Geschäft mit der Angst, um ihre eigene Kasse zu füllen. Pestizide in Paprika, Tomaten oder Trauben, egal in welcher Menge: Hauptsache Skandal. Skandale bringen Aufmerksamkeit, machen dem Verbraucher Angst und verunsichern ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, spendet er wiederum an diese Organisationen, damit sie wieder Skandale produzieren können. Gutachten werden oft monatelang zurückgehalten. Ein Beispiel in diesem Jahr war die Verpackung von Fleisch unter Schutzgasatmosphäre. Wenn es wirklich gesundheitliche Gefahren gab, dann frage ich mich, warum Foodwatch seine Erkenntnisse bis zum Sommerloch zurückgehalten hat. ({6}) Ein solches Verhalten ist unredlich. Hier besteht akuter Handlungsbedarf. Deshalb setzen wir auf eine unabhängige Verbraucherberatung. Wir unterstützen die Arbeit von Stiftung Warentest und des Verbraucherzentrale Bundesverbands konstant und verlässlich. Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug, liebe Kollegin Drobinski-Weiß, in die Welt von Mann und Frau. ({7}) Kürzlich hörte ich: Das Auto ist das moderne Reittier des Mannes. Es gibt Automarken, die mit den Begriffen „Freude“ und „Zukunft“ beworben werden. Wollen Sie dem Mann die Freude wirklich nehmen? ({8}) Für uns Frauen gibt es ein kleines Auto, das das emotionalste Auto der Welt ist. Die Werbung fragt uns Frauen: „Is it love?“ - Ist es Liebe? -, und wir steigen ein. ({9}) Menschen kaufen Problemlösungen und Gefühle. Menschen wollen sich glücklich kaufen. Wer die Herzen gewinnt, hat heutzutage mit dem Geldbeutel der Kunden ein leichtes Spiel. Ich gebe es zu. Aber genau das ist heute der Schlüssel in gesättigten Märkten. Diese Erkenntnisse will die SPD nun weiter vertiefen und dem Handel teure Einkaufsstudien ersparen. Das zahlt schließlich der Bund. Im Ernst: Auch wir sprechen uns für interdisziplinäre Forschungseinrichtungen und für die Prüfung weiterer Stiftungsprofessuren aus. ({10}) Es gibt sie aber schon. An der TU München zum Beispiel gibt es seit 2004 den Masterstudiengang „Consumer Science“. An der Hochschule Calw gibt es die „Stiftungsprofessur für Konsumverhalten und europäische Verbraucherpolitik“. ({11}) Mein Kollege Holzenkamp hat darüber hinaus bereits erwähnt, dass die Uni Bayreuth im Jahr 2010 mit der „Stiftungsprofessur Verbraucherrecht“ ausgestattet wurde. All dies wird mit Mitteln des Bundes finanziert und in meinem Heimatland Bayern angeboten. ({12}) Ich will damit nur sagen: Ilse Aigner, unsere Ministerin, ist schon da. Die Probleme bestehen nicht in der Gesetzgebung, sondern sind der Rechtsdurchsetzung geschuldet. Bernd Krieger, der Leiter des Europäischen Verbraucherzentrums, hat das diese Woche beim 14. Tourismusgipfel hier in Berlin deutlich gemacht. Er sagte außerdem, dass das Europäische Verbraucherzentrum in den wenigsten Fällen Beschwerden aus Deutschland erhält. Wir brauchen sicherlich keine Forschungseinrichtungen. Damit möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag und Ihr schräges Beispiel des Fluggastes zurückkommen, der mit der Buchung eines Fluges automatisch eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen hat. Hier müssen andere Maßnahmen greifen. Der traurige Höhepunkt Ihres Antrages ist aber die Forderung eines sogenannten Verbraucherchecks für alle Gesetze. ({13}) Sie wollen allen Ernstes alle Gesetze, die in den Deutschen Bundestag eingebracht werden, einem Verbrauchercheck unterziehen. ({14}) Schlaumeier in Ihren Reihen sagen auch noch: Was wollen Sie denn? Auch Bürokratie schafft Arbeitsplätze. ({15}) Wissenschaftsbasierte Forschung und empirische Untersuchungen sind notwendig und müssen intensiviert werden; so steht es auch in unserem Koalitionsvertrag. Ich persönlich bin aber nicht nur Verbraucherin, sondern auch Unternehmerin. ({16}) Der Verbrauchercheck, von dem in Ihrem Antrag die Rede ist, schreckt derart ab, dass man diesen Antrag mit gutem Gewissen ablehnen kann. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2343 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung - Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18, 17/3158 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Ulla Burchardt Patrick Meinhardt Kai Gehring Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits Erasmus von Rotterdam sagte: Die größte Hoffnung einer Nation liegt in der richtigen Erziehung ihrer Jugend. - Genau darüber wollen wir heute sprechen. Ich glaube, Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein, wenn nicht sogar das Thema für unsere Gesellschaft. In unserem Beirat haben wir schon darüber gesprochen. Man kann sicherlich sagen, dass wir uns in vielen Punkten, die wir jetzt vortragen, sehr einig sind. Unser Ziel ist es, ein ökologisch, ökonomisch und natürlich auch sozial intaktes Gefüge an unsere Kinder weiterzugeben. Die Instrumentarien dafür müssen wir in unserem Bildungssystem verankern. Worum geht es dabei? Zunächst einmal geht es darum, Talente und Fähigkeiten zu fördern und den Kindern beizubringen, wo ihre Leistungsgrenzen sind, sodass sie die Möglichkeit haben, eine ausgewogene, selbstkritische und starke Persönlichkeit auszubilden, um dann das eigene Leben gestalten, das Umfeld mitgestalten und etwas zur Gemeinschaft beitragen zu können. Das gilt natürlich nicht nur für die frühkindlichen Bildungseinrichtungen und die Schule, sondern zieht sich durch das ganze Leben. Wir befinden uns in der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Sie läuft seit 2005 und geht noch bis 2014. Das heißt, wir haben etwas mehr als die Hälfte hinter uns. Ich denke, wir können schon jetzt auf einige positive Aspekte zurückblicken. Vier Aspekte möchte ich kurz anführen: Erster Bereich: Es gibt tausend erfolgreiche Projekte zum Thema nachhaltige Entwicklung. Diese Projekte sind insofern von besonderer Bedeutung, als die praktische Erfahrung oft wertvoller ist als der theoretische Unterricht. Es gibt Schülerprojekte, in denen Wollprodukte hergestellt werden. Es gibt Schülerfirmen an den Schulen, die zum Beispiel Kioske betreiben. Wenn man einen solchen Kiosk betreibt, muss man sich überlegen, welche Produkte man einkauft. Wo kommen die Produkte her? Was für eine Qualität haben sie? Welchen Preis kann ich dafür erzielen? Kann ich einen fairen Preis erzielen? Wie kann ich das System so nachhaltig gestalten, dass an jedem Tag Kinder bei mir einkaufen, und wie kann ich dafür sorgen, dass sie wiederkommen? Habe ich auch genug Kinder, die den Schülerkiosk betreuen? Ich denke, diese Projekte sind besonders wertvoll, weil die Kinder dadurch viele Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit machen. ({0}) Ein weiteres kleines Beispiel, das uns alle angeht: Oft haben wir hier, im Bundestag, Besuch von Schülergruppen. Hinterher kommen die Lehrer häufig zu mir - ich denke, das geht Ihnen auch so - und sagen: Theoretischer Unterricht ist das eine, aber es ist etwas anderes, hier mit den Abgeordneten persönlich über Inhalte der Politik, über die Struktur des Bundestages und die Aufgaben der Parlamentarier zu diskutieren. Dieser Einblick in die Praxis ergänzt den Unterricht sehr gut; denn, wer Zusammenhänge erkennt und versteht, der ist eher beDr. Philipp Murmann reit, Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, es muss auch unser Ziel sein, unsere Jugend zur Verantwortung zu erziehen. Zweiter Punkt: persönliches Verhalten und Engagement. Eine Umwelt-AG, die im Bereich „nachhaltige Pflanzenzüchtung“ schon mehrere Preise gewonnen hat, hat meine Fraktion angeschrieben. Diese AG hat das Problem, dass der Lehrer nun in Pension geht und die Nachfolge noch nicht geregelt ist. Auch die Schüler, die das Projekt betreiben, verlassen die Schule und haben ebenfalls noch keine Nachfolger gefunden. Das heißt, auch diese Schüler müssen sich mit dem Thema beschäftigen, wie eine nachhaltige Struktur verankert werden kann. Deswegen brauchen wir Leute, die sich über das normale Maß hinaus für diese Themen engagieren, damit nachhaltige Entwicklung über den normalen Unterricht hinaus verankert werden kann. ({1}) Ich denke, das ist ein gesellschaftliches Thema. Wir brauchen mehr gesellschaftliches Engagement und vorbildhaftes Verhalten in vielen Bereichen. Sie alle kennen den Werbespruch „Geiz ist …“ Ich will gar nicht sagen, wie das Wort lautet; das gehört nicht in den Bundestag. Jeder Konsument muss sich die Frage stellen, inwieweit er zur Nachhaltigkeit beiträgt, wenn er solchen Parolen folgt. Inwieweit können Produkte überhaupt nachhaltig gestaltet sein, wenn man so um den Preis kämpft und mit solchen Werbelinien agiert? Das kann nicht im Sinn einer nachhaltigen Politik sein. Insofern müssen wir uns auch darüber Gedanken machen. ({2}) Dritter Bereich: nachhaltige Entwicklung als Teil des Unterrichts. Ich habe vorhin von den Projekten gesprochen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Natürlich müssen wir uns auch die Frage stellen, inwieweit wir das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den Unterricht einbinden können. Dabei geht es natürlich darum, Elemente der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Fächer einzubinden. Lehren, Lernen und Erleben - diesen Dreiklang zur Nachhaltigkeit sollten wir verankern. Der letzte Punkt: Natürlich müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, welche Instrumente und welche Infrastruktur wir weiter ausbauen müssen. Wir sind zwar schon sehr weit gekommen, aber ich denke, wir müssen dennoch die Instrumente Lehrerausbildung, Lehrerfortbildung, Schulbücher, Schulmaterialien, Rahmenlehrpläne und Projektangebote weiterentwickeln. Bis 2014 haben wir noch etwas Zeit. Ich denke, die Bundesregierung hat sehr gut damit angefangen. Projekte wie „Jugend forscht“ und die Initiative „Forschung für Nachhaltigkeit“ sind eine gute Grundlage. Eines ist sicher: Ohne Bildung gibt es keine nachhaltige Entwicklung. Deswegen ist das Thema so wichtig und sollten wir hier über alle Fraktionen hinweg gemeinsam um dieses Thema ringen und daran arbeiten. Ich danke Ihnen herzlich. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In Rio de Janeiro haben im Jahr 1992 178 Staaten die Agenda 21 verabschiedet. Sie ist die Grundlage für die weltweit nachhaltige Entwicklung bzw. für das Streben nach dieser nachhaltigen Entwicklung. Man war der Auffassung, dass die Forderung nach gerechten sozialen Verhältnissen, nachhaltigen Formen im Umgang mit der Natur und beim Wirtschaften sowie nach der Partizipation von Kindern, Jugendlichen und Frauen an den Entscheidungsprozessen nicht ohne neue Kompetenzen und einen mentalen Wandel umgesetzt werden kann. Dieser mentale Wandel ist die Grundlage für das, was wir heute Bildung für nachhaltige Entwicklung nennen. Bei uns begann die Diskussion in den 90er-Jahren. Man hat gesehen: Es gibt globale, ökologische Probleme, die wir gar nicht alleine lösen können, es gibt wenig zukunftsfähige Entwicklungen und eine fehlende Generationengerechtigkeit. Das alles sollte eigentlich bekämpft werden; diese Probleme sollten behoben werden. Eine Möglichkeit hierzu besteht im Bildungsbereich. Es ist natürlich sinnvoll, bei den Kindern anzufangen, wenn man darauf aufbauend Erwachsene erziehen möchte. Erwachsene umzuerziehen ist, wie wir alle im politischen Bereich wahrscheinlich erleben, ungleich schwieriger. Deshalb haben die Vereinten Nationen für die Zeit von 2005 bis 2014 die Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. 2004 hat die Bundesregierung, vom Bundestag aufgefordert, die Deutsche UNESCO-Kommission mit der organisatorischen Ausgestaltung dieser UN-Dekade beauftragt und finanziell ausgestattet. Die Ziele wurden im Nationalen Aktionsplan zusammengefasst. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung - er ist schon angesprochen worden -, dem viele der hier Anwesenden angehören, versucht, Projekte zur Erreichung der gesteckten Ziele im Konsens zu beschließen; meistens gelingt ihm dies. Wir haben uns im März 2008 und im März 2009 mit der Umsetzung der Ziele beschäftigt und festgestellt, dass weiterhin Ausbaupotenzial vorhanden ist. Ich denke, auch die Parteien und Fraktionen sind gefordert. Wir haben als SPD-Fraktion im Mai 2009 eine Veranstaltung unter dem Titel „Mit guten Beispielen voran“ durchgeführt. Hier wurden beispielhaft Aktionen vorgestellt, die in verschiedenen Bundesländern erfolgt sind, und zwar in den Bereichen Schule, Ausbildung und Kindergarten bis hin zu städtischen Aktionen im Müllbereich. Wir haben sehr viel gefunden. Das zeigt, dass es eine ganze Menge an Projekten gibt. Sie haben schon ei6896 nige schulische Projekte angesprochen. Ich denke, das ist durchaus erwähnenswert, aber auch ausbaufähig. Wir haben das Problem, dass wir hier Werte und Prinzipien fördern müssen, die teilweise nicht vorhanden oder erst im Kleinen angelegt sind. Diese Prinzipien stellen jedoch die Basis für nachhaltige Entwicklung dar. Die Bundesregierung - das haben wir in der Beschlussempfehlung geschrieben - wird aufgefordert, weiterhin an ihrer Zielsetzung festzuhalten und das Programm „Transfer 21“, das leider ausgelaufen ist, dahin gehend weiterzuentwickeln, dass immer mehr Schulen an Programmen für nachhaltige Entwicklung teilnehmen. Als Mutter von vier Kindern, deren Kinder in der Zeit zwischen 1999 und 2004 alle in der Schule waren, muss ich sagen, dass mir persönlich solche Programme nicht begegnet sind, obwohl meine Kinder auf unterschiedlichen Schulen waren. Im Schülercafé wurde ein bisschen fairer Handel betrieben, aber mehr Projekte habe ich nicht erlebt. Das fand ich im Nachhinein ziemlich schade. Ich denke, die jetzt betroffenen Eltern sollten das verstärkt einfordern. Wir fordern die Bundesregierung in unserer Beschlussempfehlung auch auf, davon zu berichten, inwieweit die Aktionen, die angestoßen und weitergeführt worden sind und werden, finanziell unterstützt werden. Im Moment hat der entsprechende Ansatz im Etat des Bundesministeriums ein Volumen von 450 000 Euro pro Jahr; dieser Betrag kommt mir, ehrlich gesagt, nicht besonders hoch vor. Davon werden vor allen Dingen BestRunner-Projekte ausgezeichnet. Aber auch dies entfaltet, wie ich finde, nur wenig öffentliche Wirkung. Ich zumindest wüsste nicht, welches das Best-Runner-Projekt 2010 war, und ich weiß nicht, ob es einer meiner Kollegen kennt. Ich denke, hier kann man, auch was die Öffentlichkeitsarbeit angeht, noch eine ganze Menge tun. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Regierungsmitglieder herausragende Schülerprojekte oder Schulen auszeichnen. Ich jedenfalls würde mir das wünschen. Des Weiteren ist an die Länder zu appellieren, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen und das Projekt „Nachhaltige Bildung“ nicht nur nachmittags in irgendeiner AG durchzuführen, sondern man sollte dieses Thema auch im Unterrichtsplan immer wieder aufgreifen. Es gibt mehrere Fächer, die sich hierfür anbieten, nicht nur das Fach Biologie. Ich denke, es gibt viele Fächer, deren Unterrichtsinhalte auf Nachhaltigkeit hin überprüft und überarbeitet werden müssten. Dass dies geschieht, müssen wir von den Ländern fordern. Denn wir wissen: Aufgrund des Föderalismus ist der Bund nur begrenzt in der Lage, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen. Ich plädiere an alle Beteiligten, von der Regierung über die Kultusministerien bis hin zu uns in den Fraktionen und Parteien, mehr für den Bereich nachhaltige Bildung zu tun. Wir tun das übrigens für uns. Denn wenn unsere Kinder nachhaltig gebildet sind, dann werden sie sich später hoffentlich auch um uns kümmern. Themen wie der demografische Wandel und die Generationengerechtigkeit betreffen nämlich auch uns, nicht nur nachfolgende Generationen. Wir alle werden immer älter. Hoffentlich werden wir gesund älter; wenn nicht, müssen wir versorgt werden. Auch deswegen ist die Bildung unserer Kinder im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehr wichtig. Ich möchte alle Beteiligten bitten, dieses Projekt zu unterstützen und daran weiterzuarbeiten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDPFraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat des Präsidenten der Deutschen UNESCO-Kommission, Walter Hirche, beginnen: Bildung für nachhaltige Entwicklung vermittelt Werte, Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse, die für die verantwortliche Gestaltung der Zukunft erforderlich sind. Wir alle merken doch, dass sich weltweit ein starker gesellschaftlicher und ökologischer Wandel vollzieht. Im Namen der FDP-Fraktion begrüße ich die vorgelegte Beschlussempfehlung und den Bericht der Bundesregierung. In der zweiten Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ muss das Bewusstsein der Menschen für Nachhaltigkeit noch mehr gestärkt werden. ({0}) Der Bevölkerung muss das nötige Verständnis und Wissen an die Hand gegeben werden, damit sie die sozialen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen auf ihr Handeln verinnerlicht. International, insbesondere aber in Deutschland, ist das Interesse an Nachhaltigkeitsthemen mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ immens gewachsen. Diesen Trend hat der Staat aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten das Nationalkomitee und der Runde Tisch. Beide Foren sind für die Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ unerlässlich. Sie fördern die Vernetzung und den Austausch der verschiedenen Akteure untereinander. Die im Nationalen Aktionsplan von Bundestag, Nationalkomitee und Rundem Tisch festgeschriebenen Ziele, zum Beispiel die Verstärkung internationaler Kooperation und die Weiterentwicklung und Bündelung von Aktivitäten, tragen zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Bildung und Nachhaltigkeit bei. ({1}) Besonders wichtig war die Einbindung der Kommunen im Rahmen eigener Dekadeprojekte. Dadurch konnte das Thema in den Köpfen der Bevölkerung vor Ort verankert werden. Alle deutschen Gebietskörperschaften werden in diesen Entwicklungsprozess eingebunden. Um eine noch stärkere Verflechtung zu erzielen, sollten wir uns dafür starkmachen, dass die Kommunen einen Sitz im Nationalkomitee bekommen. Das wäre wirklich zielführend. ({2}) Bei der Aus- und Weiterbildung spielen Hochschulen eine zentrale Rolle. Viele Hochschulen bieten inzwischen ein vielfältiges Studienangebot zur Nachhaltigkeit an und haben innovative Lernkonzepte entwickelt. Ein exzellentes Beispiel dafür ist die Leuphana-Universität in Lüneburg. Kürzlich wurde sie mit dem renommierten International Sustainable Campus Excellence Award ausgezeichnet. Herausragend ist darüber hinaus, dass die Leuphana sogar eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeitswissenschaften etabliert hat. Das ist ein Ansporn für weitere Hochschulen in Deutschland. ({3}) Als niedersächsische Bundestagsabgeordnete freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass insbesondere Niedersachsen ein Impulsgeber beim Thema „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ war und auch ist. So hat der Niedersächsische Landtag vor knapp drei Jahren einen Entschließungsantrag angenommen, um den Nationalen Aktionsplan aktiv zu unterstützen. Das Schulprojekt „Transfer 21“ - das wurde bereits erwähnt - wurde mit großem Erfolg umgesetzt. Circa 17 Prozent der niedersächsischen Schulen waren 2008 in das Programm eingebunden. Dieser Anteil lag weit über dem Bundesdurchschnitt. Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in vielen Schulen implementiert und sehr praxisbezogen mit dem landesweiten Projekt „Nachhaltige Schülergenossenschaften“ umgesetzt. Insbesondere haben sich Grund-, Förder-, Haupt- und Realschulen am Programm „Transfer 21“ beteiligt, in denen man in erster Linie praktische Lerninhalte anbietet und wo eher praktisch orientierte Schüler gefördert werden. Insofern war dies genau richtig. Schüler konnten Wirkungsketten kennenlernen, in Teams zusammenarbeiten, ihre Rolle einnehmen, auf ihrem Posten Verantwortung übernehmen und - das ist entscheidend - Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl generieren. Warum war dieses Programm gerade in Niedersachsen so erfolgreich? Wir haben ein langjähriges und solides Netzwerk gepflegt und als einziges Bundesland einen Fokus auf die Gründung nachhaltiger Schülerfirmen gelegt. Auch die von der Stiftung „Innovations- und Zukunftsfonds Niedersachsen“ finanzierte Beratungs- und Serviceagentur zur Bildung für nachhaltige Entwicklung liefert aus liberaler Sicht entscheidende Impulse gerade auch für andere Bundesländer. Zehn Bundesländer haben inzwischen das Multiplikatorenprogramm aus Niedersachsen übernommen. Damit ist die Agentur ein Leuchtturmprojekt im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Erfreulich ist außerdem die Vernetzung einzelner Bundesländer im Rahmen der Norddeutschen Partnerschaft zur Unterstützung der UN-Dekade. Deutschland hat viel im Hinblick auf das Thema „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ erreicht. Das von der Regierung verabschiedete Lateinamerika-Konzept hat die Forderung der FDP-Fraktion nach neuen Lernorten aufgegriffen und entscheidende Weichen auf internationaler Ebene gestellt. Ich begrüße diese Entwicklung und möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion allen Anerkennung zollen, die sehr engagiert und mit Leidenschaft das Projekt „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ vorantreiben - und das ebenso ganz nachhaltig. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rosi Hein für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mit einem Zitat beginnen: Bei Nachhaltigkeit geht es um die Erreichung von Generationengerechtigkeit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahrnehmung internationaler Verantwortung. So, verehrte Kolleginnen und Kollegen, steht es im „Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“, der bereits vor mehr als einem Jahr von der damaligen Bundesregierung verabschiedet wurde. Er beschreibt die Aktivitäten der Bundesregierung zur Halbzeit der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Er hat in der Tat eine Reihe beachtlicher Ergebnisse aufzuweisen, auch wenn man sagen muss, dass einiges aus deutlich älteren Programmen stammt. Insbesondere ist es gelungen, durch zahlreiche Programme und Initiativen umweltbewusstes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen deutlich zu fördern. In meinem Wahlkreis in Magdeburg beteiligten sich Schulen am Fifty-fifty-Programm zur Energieeinsparung. Sie sind dabei sehr engagiert. Ich finde das gut. ({0}) Aber der Bericht spricht nicht ohne Grund von einem ganzheitlichen Ansatz für nachhaltige Entwicklung, der soziale und demokratische Aspekte ebenso umfasst wie das Wissen um eine umweltbewusste und gesunde Lebensweise. Wer nämlich über kein ausreichendes Einkommen verfügt, der kann sich trotz besseren Wissens nicht immer umweltbewusst verhalten und gesund leben. Er kann auch fair gehandelte Produkte oder ökologisch hergestellte Produkte unter Umständen nicht erwerben, wenn er die Mittel dazu nicht hat; denn sie sind etwas teurer. Gute Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung für soziale Teilhabe, also für die Möglichkeit, auch entsprechend nachhaltig zu handeln. Darum muss Bildung unbedingt selbst nachhaltig sein, wenn man Bildung für nachhaltige Entwicklung verwirklichen will, ({1}) und das ist sie nur, wenn der Zugang zu Bildung für jede und jeden gleichermaßen möglich ist. ({2}) Davon ist Deutschland aber weit entfernt. Hier ist der Nachholbedarf am größten. Individuelle Förderung schon im Kindergarten und in der Schule, damit Schulabschlüsse nicht mehr nachgeholt werden müssen: Das wäre nachhaltig und zudem preiswerter. Hierzu steht in dem Bericht nur eine lapidare Feststellung, aber keine einzige Idee. Das kritisieren wir daran. ({3}) Es wundert uns schon, dass im Berichtsteil des Bildungsministeriums nichts zur Notwendigkeit des Nachholens von Schulabschlüssen zu finden ist, sondern in dem des Arbeitsministeriums, so, wie übrigens auch die Bildungschipkarte im Arbeitsministerium verhandelt und ausgehandelt wurde und nicht im Bildungsministerium. Wir stellen uns schon besorgt die Frage - ich habe das in meiner letzten Rede schon einmal getan -, ob sich das Bildungsministerium für Bildung nicht mehr zuständig fühlt oder sich abschaffen will. Ich finde, darüber muss man einmal ernsthaft nachdenken. ({4}) Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass das Thema „nachhaltige Entwicklung“ und der Beitrag der Bildung dazu innerhalb der Bundesregierung wenig aufeinander abgestimmt sind. Die Berichte der einzelnen Ministerien stehen ziemlich unverfänglich und unabgestimmt nebeneinander. So stellt die Bundesbeauftragte für die Belange behinderter Menschen fest: „Eine Schule für alle macht ein Umdenken in unserem Bildungssystem erforderlich“. - Eine Schule für alle: Das finde ich völlig richtig. ({5}) Als wir auf diese Aussage hin im Bildungsausschuss nachgefragt haben, hatten wir aber den Eindruck, dass das zuständige Bildungsministerium diese Aussage zum ersten Mal hörte. ({6}) - Wir haben schon öfter darüber gesprochen, aber irgendwie haben wir auf unsere Frage keine Antwort bekommen. ({7}) Wir hatten das Gefühl: Es hat noch gar keiner gelesen, dass das da drinsteht. - Ich finde es ja gut, dass es drinsteht, aber das ist offensichtlich noch nicht weiter durchgedrungen. Es geht aber noch weiter: Im Nationalen Aktionsplan „Für ein kindgerechtes Deutschland 2005-2010“ hat man sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Dazu gehören ein „Aufwachsen ohne Gewalt“ und mehr „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen“. Davon muss man in Stuttgart noch nichts gehört haben. ({8}) Was meinen Sie eigentlich, welche nachhaltigen Demokratieerfahrungen die Schülerinnen und Schüler bei ihrer angemeldeten Demonstration gewonnen haben? Das, was durch den Polizeieinsatz dort zerstört wurde, können Lehrerinnen und Lehrer in noch so vielen Sozialkundestunden nicht wieder reparieren. Wer Belege dafür sucht, der schaue sich bitte die Internetseiten der Schülerzeitung Spießer an. Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ stand in der ersten Hälfte der Dekade jährlich unter einem bestimmten Thema, so zum Beispiel „Wasser“ in 2008, „Energie“ in 2009 und „Geld“ in 2010 - wie passend. Ich finde, die verbleibenden Jahre sollten anderen Themen gewidmet werden, zum Beispiel dem Thema „soziale Chancengleichheit“ ({9}) und dem Thema „demokratische Teilhabe“. Wenn das ins Zentrum der Bemühungen der Bundesregierung gestellt würde, dann würde man auch dem Eingangsziel, das ich vorhin zitiert habe, der Generationengerechtigkeit und dem sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft besser gerecht werden, aber Sie haben die Themen schon durchgeplant. Vielleicht ist das aber auch ein Grund, noch einmal darüber nachzudenken. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zahlreiche Initiativen bemühen sich bundesweit, den Gedanken einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft stärker zu verankern. Diesen Pionierinnen und Pionieren, den vielen engagierten Lehrern und Schülern, gebührt fraktionsübergreifend unser Dank, weil sie dazu beitragen, das wichtige Zukunfts- und Gegenwartsthema Nachhaltigkeit noch stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. ({0}) Die zweite Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist bereits angebrochen. Es ist daher höchste Zeit, dass die Bundesregierung darlegt, wie ihre zukünftigen Förderstrategien aussehen sollen. Dies muss sie zügig tun, damit dieser Prozess in der zweiten Hälfte der Dekade und darüber hinaus mit Schwung weitergehen kann und nachhaltig ist. Es ist zum Glück unstrittig, dass wir Bildung für eine nachhaltige Entwicklung brauchen. Wir brauchen sie in allen Bildungseinrichtungen, also endlich auch stärker in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Wir brauchen sie für alle Generationen im Sinne von lebenslangem Lernen von Jung bis Alt, und wir müssen nachhaltige Entwicklung enger mit Themen wie Demografie, Chancen- und Generationengerechtigkeit verknüpfen. Darum muss es jetzt in der zweiten Hälfte der UN-Dekade gehen. Wir meinen, dass Projektförderung nur der Auftakt dazu sein kann, aus den vielfältigen lokalen Ansätzen, die es gibt, ein breites Netzwerk mit guten Beispielen zu knüpfen, aus dem ein umfassendes Leitbild zur Umgestaltung unseres Bildungssystems erwachsen kann. Gemeinsame Ziele für ein nachhaltiges Bildungssystem müssen sein, die Potenziale und Talente von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stärker zu erkennen, die Zahl der Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrüche deutlich zu reduzieren und jedem eine zweite, dritte oder vierte Chance zu eröffnen sowie mehr individuelle Förderung, eine höhere Durchlässigkeit und somit auch mehr Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg in unserem Bildungssystem zu gewährleisten, unabhängig von Herkunft und Geldbeutel der Eltern. Das ist ein sehr wichtiges Anliegen. ({1}) Das wären wichtige Beiträge, um bundesweit zu mehr Nachhaltigkeit im Bildungssystem zu kommen. Denn Fakt ist, dass unser Bildungssystem ungerecht, unterfinanziert und ineffizient ist. Leider werden viel zu viele Talente vergeudet, und es mangelt an Chancengerechtigkeit. Das liegt auch an vielen falschen politischen Weichenstellungen in der Bildungspolitik. Ein aktuelles Beispiel, über das wir immer wieder diskutieren, ist das bildungs- und gleichstellungspolitisch aberwitzige Betreuungsgeld, an dem Schwarz-Gelb nach wie vor festhält. Ein weiteres Beispiel ist die frühe Trennung von zehnjährigen oder gar neunjährigen Kindern nach der vierten Klasse, wenn sie in unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden, wie es in vielen Bundesländern der Fall ist. Das ist aus unserer grünen Sicht das glatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik. ({2}) Ich möchte auch die Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzentwürfen ansprechen. Aus unserer Sicht ist das sehr sinnvoll, und es ist ein wichtiger Schritt. Diskutieren sollten wir aber über die Aussagekraft der Prüfergebnisse und die Frage, wie sie kommuniziert werden. Ein aktuelles Beispiel ist das nationale Stipendienprogramm. Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass den ungerechten Elitestipendien für wenige das Etikett „wirkt nachhaltig“ angepappt wird. Ich finde, dazu gibt es noch Diskussionsbedarf, um zu argumentieren und zu kommunizieren, was die Nachhaltigkeitsprüfung bedeutet. Wir meinen, dass Bund und Länder gemeinsam stärker ihrer nationalen und internationalen Verantwortung gerecht werden müssen, Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zu einem Schwerpunkt zu machen. Das rot-grüne Ganztagsschulprogramm wurde auch in dem Bericht interfraktionell als ein Motor für die Verankerung von Nachhaltigkeitsthemen in Schulen gelobt. Gleiches gilt für das Modellprojekt „Transfer 21“ der BLK. All diese fraktionsübergreifend gelobten Initiativen gibt es nicht mehr, weil inzwischen eine verkorkste Föderalismusreform mit einem Kooperationsverbot in Kraft gesetzt wurde, das die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich weitgehend verbietet. ({3}) Deshalb möchte ich - ich denke, ich spreche im Namen der gesamten Opposition - Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, an dieser Stelle anbieten, dass wir gemeinsam zu mehr Tatkraft und Kooperation von der Kita bis zur Weiterbildung insbesondere im Schulbereich kommen und das Kooperationsverbot im Grundgesetz wieder aufheben. ({4}) Ich gehe davon aus, dass es dafür noch in dieser Legislaturperiode eine Mehrheit im Bundesrat gibt und dass wir dann die Chance haben, Bildungsblockaden endlich wieder nachhaltig aufzubrechen. Das wäre ein großer Beitrag für ein nachhaltiges Bildungssystem und eine gute Bildungsfinanzierung in Deutschland. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn Kollege Gehring das Kooperationsverbot außer Acht gelassen hätte. Aber er hat es in vier Minuten geschafft, den Bogen zu spannen. Nun haben schon viele Kollegen zitiert. Ich möchte - es ist abgesprochen, dass ich das darf - kurz den Kollegen Murmann zitieren. Er hat richtigerweise gesagt: Unser Ziel ist, ein intaktes Gefüge an unsere Kinder weiterzugeben. - Das nehme ich gerne auf und darf es um Folgendes ergänzen: Es ist auch unsere Verantwortung und unser Ziel, dass wir unsere Kinder in die Lage versetzen, dieses intakte Gefüge weiter zu verbessern. - Das ist mit Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint. Wir müssen zielorientiert steuern und Verantwortungsbewusstsein für das persönliche Verhalten und Engagement schaffen, wie es Herr Murmann bereits beschrieben hat. Der Deutsche Bundestag zeigt eine gewisse Geschlossenheit, wenn es um die Frage geht, wie man Nachhaltigkeit entwickelt. Das wird auch im Entschließungsantrag deutlich. Aber, Frau Hein, nicht alles im Leben ist nachhaltig. Ich erinnere jedenfalls daran, dass der Deutsche Bundestag bereits 2004, also noch vor Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, einen Aktionsplan für Deutschland beschlossen hat. Frau Arndt-Brauer, Kollege Murmann und Herr Gehring haben Beispiele für das genannt, was seither geschehen ist. Dabei geht es nicht nur um Schülercafés. Schulen und Kindertagesstätten haben sich mit dem Thema Ressourcenschonung befasst. Unter anderem ging es um die Frage, wie man mit Wasser umgeht. Klimaschutz war ein Schwerpunkt im Elementarbereich der Kindertagesstätten. Über 2 500 Schulen - das sind über 10 Prozent haben im Rahmen des Programms „Transfer 21“ einzelne Projekte gesteuert. Die Zielvorgabe von 10 Prozent haben wir also deutlich erreicht. Das ist ein gutes Ergebnis. Auch dass über 800 einzelne Projekte ausgezeichnet wurden, spricht für sich. Es geht nun aber um Verbindlichkeit und die Verstetigung von Nachhaltigkeit im Bildungsbereich. Wenn ich sehe, dass nun Umweltbildung in allen Rahmenrichtlinien der Länder verankert ist, dann darf ich feststellen, dass wir deutliche Schritte nach vorne gekommen sind. Ziel ist, dieses Thema systematisch und dauerhaft zu verankern. Die Herausforderung in den nächsten Jahren wird sein, dafür zu sorgen, dass das gelingen kann. In den Debatten hier im Deutschen Bundestag müssen wir aber immer wieder darauf verweisen, dass die Länder in weiten Teilen die Kompetenzhoheit haben. In Zukunft müssen die Länder - das ist wichtig - verbindlich nachweisen, wie sie Bildung für nachhaltige Entwicklung gestalten wollen. Wir, die Koalition, haben unser Bekenntnis zur Nachhaltigkeit im Koalitionsvertrag deutlich formuliert: Die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist Ziel und Maßstab unseres Regierungshandelns, auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Das heißt für uns, im Bildungsbereich Einstellungen längerfristig zu verändern. ({0}) Nun umfasst Bildung für nachhaltige Entwicklung noch einen anderen Aspekt, Stichwort „Grundbildung für alle“. Kollege Gehring von den Grünen hat bereits das eine oder andere angesprochen, das mit unseren Indikatoren im Bildungsbereich korrespondiert, zum Beispiel die Schulabbrecherquote, die Ausbildungsquote, die Zahl der Studienabschlüsse sowie die Ausgaben für Bildung und Forschung. Das 10-Prozent-Ziel der Bundesregierung passt genau dazu. Um Verständnis für Nachhaltigkeit zu entwickeln, muss man sich schließlich auch mit der Frage befassen, wie viel Geld wir als Gesellschaft - ob privat oder öffentlich - für Bildung ausgeben. Über Bildungspositionen kann man lange diskutieren, so auch über die Frage, ob die Schulabbrecherquote als Indikator geeignet ist. Was nutzen weniger Schulabbrecher, wenn gleichzeitig die Ausbildungsfähigkeit sinkt? Ist nicht alternativ die Frage zu stellen, welche anderen Indikatoren ebenfalls eine Rolle spielen? ({1}) Ich glaube aber, dass die Indikatoren insgesamt durchaus geeignet sind, deutlich zu machen, wie sich die Bildung entwickelt. Ich teile hier nicht - dafür müssen Sie von der Opposition Verständnis haben - die Meinung des Kollegen von den Grünen. Die Indikatoren zeigen deutlich, dass wir nicht nur wieder mehr Geld ausgeben - es gibt erneut eine Steigerung um über 7 Prozent -, sondern dass wir auch deutlich bessere Ergebnisse erzielen als in den letzten Jahren. Das ist ein Beweis, dass die Bundesregierung mit ihrer Bildungspolitik richtigliegt. ({2}) Wenn wir über Nachhaltigkeit nachdenken, dann müssen wir uns auch die Frage stellen, wo 1 Euro den größten Nutzen bringt. Auch das ist nachhaltig. Wir müssen - ich denke, darüber herrscht Einvernehmen bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. Aufgabe der CDU/CSU-Fraktion wird es in den nächsten Monaten sein, Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der frühkindlichen Bildung zu thematisieren. Was die Quantität des Krippenausbaus angeht, haben wir viel erreicht. Im nächsten Schritt werden jetzt auch die Qualität und Standards zu erörtern sein. Denn es kommt gerade in Kindertagesstätten darauf an, das Themengebiet „nachhaltige Entwicklung“ in den Bildungsplänen zu verankern, also das frühe Bewusstsein zu schaffen, was Nachhaltigkeit heißt. Das ist dann so banal, als wenn man irgendwann feststellt, dass es Sinn macht, das Licht auszumachen, wenn man als Letzter einen Raum verlässt, oder Wasser zu sparen. Dies hat aber eine unheimlich große Wirkung nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Familien, die teilweise erst dann erfahren, was Nachhaltigkeit mit sich bringt. Dabei geht es auch - darüber kann man diskutieren - um die Frage eines Kita-TÜVs. Es geht dabei um die Baumaterialien, die verwendet werden, und um die Frage, ob denn Energieeffizienz gegeben ist. Weiter geht es darum, die QuaMarcus Weinberg ({3}) lität von Erzieherinnen unter dem Gesichtspunkt nachhaltiger Entwicklung zu hinterfragen. Ich glaube - damit komme ich auch gerne zum Schluss -, es wird unsere Aufgabe sein, die Länder mehr und mehr zu fordern. Viele Länder haben gerade in diesem Bereich - im schulischen wie auch im vorschulischen Bereich - unter Qualitätsgesichtspunkten viel erreicht. Für uns ist es wichtig, dass diese Bereiche zusammengeführt und stetig weiterentwickelt werden. Es ist auch eine Aufforderung an die Länder, diese Projekte im Bereich der Elementarpädagogik oder der Primarpädagogik, die vorhin von vielen Rednern angesprochen wurden, zu verstetigen. Daneben muss ein Abgleich von Bildungsplänen möglich werden. Es wird ja immer wieder darüber diskutiert, wie man bundeseinheitliche Rahmenpläne auf freiwilliger Basis - das föderative System funktioniert, das ist ein gutes System - gestalten kann. Unterm Strich bleibt festzuhalten: Wir haben weiter unsere Aufgaben zu machen. Aber insgesamt kann man sagen, dass wir durchaus zufrieden auf die einzelnen Punkte zurückblicken können, die wir erreicht haben. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Das sind die Drucksachen 16/13800 und 17/3158. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche - Drucksache 17/3173 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die Bildungsrepublik ausruft, wird das Echo „faire Arbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik“ bekommen. Genau hier, bei fairen Arbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik, versagt Ursula von der Leyen als Ministerin; denn sie lehnt Mindestlöhne für die Ausschreibungen der Bundesagentur für Arbeit ab. Begründung: Die Mindestlöhne liegen nicht im öffentlichen Interesse. Dabei geht es um Löhne von 12,28 Euro für ausgebildete Fachkräfte, die Kurse im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit durchführen. Also verhindert Ursula von der Leyen Mindestarbeitsbedingungen der Behörde Bundesagentur für Arbeit, für die sie die Rechtsaufsicht hat, mit der Begründung: kein öffentliches Interesse. Wenn das kein öffentliches Interesse ist, was soll denn dann öffentliches Interesse sein? ({0}) Das ist aus meiner Sicht Bildung nach dem Motto „Geiz ist geil“, hat aber beim Thema Bildung nichts zu suchen; denn Bildung bildet Menschen. Da darf es nicht um „Geiz ist geil“ gehen, sondern da braucht es Qualität. Es muss darum gehen, dass Qualität ihren Preis hat. ({1}) Ich bin dem Diakonischen Werk Württemberg dankbar, das Frau von der Leyen, nachdem sie den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat, dazu aufgefordert hat, nun doch den Mindestlohntarifvertrag zu unterzeichnen und damit faire Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche zu schaffen. Ich weiß ganz genau, was gleich nach meiner Rede in Bezug auf den Antrag der SPD passieren wird: ({2}) Die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb werden sprechen - das ist richtig, Kollege Lehrieder -, und sie werden Folgendes tun: Sie werden den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche ablehnen, mit dem Argument: kein öffentliches Interesse. ({3}) Auf das öffentliche Interesse bin ich in meiner Rede schon eingegangen. Viel schlimmer als die Ablehnung des Mindestlohns empfinde ich aber, dass die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb ({4}) keine Alternative aufzeigen werden, wie wir zu fairen Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche kommen können. ({5}) Außerdem werden einige sagen: Die SPD hat doch elf Jahre den Arbeitsminister gestellt. Warum ist es denn so, wie es heute ist? - Auch da gilt, dass wir heute überhaupt nur deswegen über einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche reden können, weil die SPD in der Großen Koalition dafür gesorgt hat, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf diese Branche ausgedehnt wurde ({6}) und das Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedet worden ist, dass also die rechtlichen Grundlagen für Mindestlöhne in der Weiterbildungsbranche geschaffen worden sind. Ich will an dieser Stelle den Lehrkräften in der Weiterbildung danken; denn sie sind es, die durch ihr alltägliches, unermüdliches Engagement für lebenslanges Lernen und Chancenvermittlung in dieser Gesellschaft sorgen. Sie sind es, die oft trotz schlecht bezahlter Arbeit dafür sorgen, dass etwa Langzeitarbeitslose, Fachkräfte, Arbeitsuchende Chancen in dieser Gesellschaft bekommen. Hier ein herzliches Dankeschön an die Lehrkräfte in der Weiterbildungsbranche! ({7}) Ich verspreche Ihnen allen: Wir von der SPD werden nicht aufhören, für den Mindestlohn zu kämpfen, weder im Bereich Weiterbildung noch auf dem Gebiet der Leiharbeit, noch in anderen Branchen. Wir wollen einen flächendeckenden Mindestlohn. ({8}) Ich weiß, dass Sie, Schwarz-Gelb, das nicht vertreten können; aber Sie können für faire Bedingungen in der Weiterbildung über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sorgen. Sorgen Sie dafür, dass 12,28 Euro zu einem fairen Lohn in der Weiterbildung werden. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung, um die Würde der Arbeit in der Weiterbildung zu schützen. In diesem Sinne: Glück auf! ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Mast, Sie haben, was in der Tat nicht sehr gewagt ist, angekündigt, dass unmittelbar nach Ihnen Vertreter der christlich-liberalen Koalition sprechen werden. Jetzt spricht zunächst einmal ein Vertreter der Bundesregierung. Dieser Unterschied ist nicht ganz unbedeutend. Denn Sie haben als frei gewählte Abgeordnete in einem freien Land das Recht, hier all Ihre persönlichen Befindlichkeiten auszubreiten. Dieses Recht hat die Bundesregierung, in diesem Fall die Bundesarbeitsministerin, beim Erlass von Verordnungen so nicht. Die Bundesregierung ist an Recht und Gesetz gebunden, wenn sie Verordnungen erlässt, und nicht nur an ihre Befindlichkeiten. ({0}) Sie fordern einen Mindestlohn in der Weiterbildung. Ich halte diese Forderung im Grundsatz für richtig. Um dafür den Rahmen zu schaffen, ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz da. Frau Kollegin Mast, die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist in der letzten Legislaturperiode von der Großen Koalition beschlossen worden. Die Große Koalition hat auch eine Mindestlohnverordnung unter bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gestellt, und zwar mit den Stimmen der SPD-Fraktion. Es waren nicht Sie, die die Branche ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen hat, und die CDU/CSU-Fraktion, die das an Bedingungen geknüpft hat, sondern die frühere Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben gemeinsam diese Branche ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen und gleichzeitig den Erlass einer Mindestlohnverordnung durch die Regierung an bestimmte, wohldurchdachte Voraussetzungen geknüpft, und die sind leider nicht erfüllt. Deswegen konnte es hier nicht zum Erlass einer Mindestlohnverordnung kommen. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren, nicht aber die Legendenbildung, die von anderer Seite betrieben wird. ({1}) Die Zweckgemeinschaft von Mitgliedsunternehmen des Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung, die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft haben am 12. Mai letzten Jahres einen Mindestlohntarifvertrag abgeschlossen und für diesen Tarifvertrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Allgemeinverbindlicherklärung beantragt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat unter Leitung des damaligen Ministers Olaf Scholz den Tarifausschuss an diesem Verfahren beteiligt. Dieser Ausschuss hat sich in seiner Sitzung am 31. August letzten Jahres mit diesem Thema befasst. Die drei Arbeitgebervertreter haben gegen, die drei Arbeitnehmervertreter für den Verordnungserlass gestimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu dem, was gestern von der grünen Fraktion beispielsweise im Ausschuss fälschlicherweise behauptet wurde, nämlich dass das die generelle Linie der BDA und der Arbeitgeberverbände sei, ist diese Entscheidung im letzten Jahr die Ausnahme gewesen, und zwar die einzige Ausnahme. Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz im letzten Jahr um mehrere Branchen erweitert, und wir haben in der Großen Koalition vereinbart, dass diejenigen Branchen, die erstmals einen Tarifvertrag schließen und die Allgemeinverbindlicherklärung beantragen, mit ihren Verträgen dann auch durch den Tarifausschuss müssen. Dies waren fünf Branchen. Es hat im letzten Jahr drei 6 : 0-Entscheidungen gegeben. Bei den textilen Dienstleistungen, bei den Bergbauspezialarbeiten und in der Entsorgungswirtschaft war es Konsens im Tarifausschuss, diese Branchen ins Entsendegesetz aufzunehmen, und so ist es passiert. In zwei Branchen gab es keinen Konsens. Bei den Sicherheitsdienstleistungen haben die Gewerkschaftsvertreter des DGB dagegen gestimmt und damit verhindert, dass Menschen, die im Sicherheitsbereich tätig sind, deutlich höhere Mindestlöhne bekommen, die der CGB gegenüber den Verdi-Tarifverträgen in verschiedenen Ländern ausgehandelt hat. Das war die souveräne Entscheidung der Gewerkschaftsvertreter. Nur bei der Weiterbildungsbranche hat die BDA dagegengestimmt. Das Ergebnis der Abstimmungen war also dreimal 6 : 0 und zweimal 3 : 3; einmal gab es Gegenstimmen der Arbeitgeber, einmal Gegenstimmen der Gewerkschafter. Das zeigt, dass sich die Mitglieder des Tarifausschusses mit den einzelnen Branchen durchaus sorgfältig beschäftigt haben. Es ist Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums, zu prüfen, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse liegt. Dabei ist ganz klar das Interesse derer, die die Allgemeinverbindlichkeit beantragen, gegen das Interesse derjenigen abzuwägen, die durch eine solche Verordnung dann auch gebunden würden. Das war die Aufgabe, die sich für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gestellt hat. In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich die Tarifbindung eine wichtige Rolle. Zur Ermittlung der Tarifbindung hat das Bundesarbeits- und -sozialministerium in einem aufwendigen Verfahren und mit sorgfältiger Prüfung alle erreichbaren Statistiken ausgeschöpft, was in dieser Branche deutlich schwieriger ist als in anderen. Trotz intensiver Prüfung war eine sichere Datenbasis nicht zu erlangen, aber selbst unter Zugrundelegung der von den Tarifvertragsparteien des Mindestlohntarifvertrages vorgetragenen und für sie günstigsten Zahlen ergibt sich, dass die Tarifbindung allenfalls 25 Prozent beträgt. Ein Tarifvertrag mit vergleichbar niedriger Tarifbindung ist in der Vergangenheit noch nie Gegenstand einer Verordnung nach dem ArbeitnehmerEntsendegesetz gewesen. Das ist keine neue Politik der christlich-liberalen Koalition, sondern es ist eine Kontinuität in der Politik der Bundesregierung auch aus der vergangenen Zeit, weil jede Bundesregierung an Recht und Gesetz gebunden ist und nicht an persönliche Befindlichkeiten einzelner Akteure. Darum geht es hier. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das geteilte Votum des Tarifausschusses unterstreicht von daher die Einschätzung, dass die erforderliche Repräsentativität der Mitglieder der Zweckgemeinschaft und damit das erforderliche öffentliche Interesse am Erlass der Verordnung nicht gegeben sind. Das ist keine generelle Linie einer Tarifvertragspartei, eines Teils des Tarifausschusses, sondern das war im letzten Jahr in diesem Ausnahmefall ein Votum, sicherlich auch vor dem Hintergrund der Repräsentativität.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern? Die Kollegin Kramme möchte Ihnen noch eine Frage stellen.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Sehr gern. Bitte schön.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Brauksiepe. - Ich habe folgende Frage an Sie: Ist es richtig, dass ein Beamter des Ministeriums für Arbeit und Soziales in der Ausschusssitzung am gestrigen Tag erklärt hat, bei der Auslegung des Begriffs „öffentliches Interesse“ gebe es einen politischen Ermessensspielraum? Ist diese Aussage nur dahin gehend zu verstehen, dass die Möglichkeit besteht, diesen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären? ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Frau Kollegin Kramme, es ist gestern im Ausschuss von allen damit befassten Vertretern der Bundesregierung zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Begriff des öffentlichen Interesses selbstverständlich einer Ausfüllung bedarf; das ist kein Geheimnis. Nicht nur das Sozial- und das Arbeitsrecht haben eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen. In vielen Gesetzen steht das Wort „angemessen“, das konkretisiert werden muss. Natürlich muss auch der Begriff „öffentliches Interesse“ konkretisiert werden. Gestern im Ausschuss ist das deutlich geworden, was ich hier noch einmal sagen will: Für uns ist bei der Beurteilung, ob ein öffentliches Interesse besteht, wesentlich - das ist nichts Neues -: Wer soll über wen entscheiden, und wie wird das von den branchenübergreifenden Tarifvertragsparteien gesehen? - Wenn im günstigsten Fall 25 Prozent über 75 Prozent entscheiden sollen, dann ist das für uns kein öffentliches Interesse, ({0}) vor allem wenn gleichzeitig im Tarifausschuss keine Mehrheit ein öffentliches Interesse feststellt. ({1}) Nichts anderes ist gestern im Ausschuss gesagt worden, und das ist auch sachgerecht. ({2}) Die Frage von Mehrheit und Minderheit spielt also eine Rolle. Hier gibt es keine Mehrheit, die tarifgebunden ist. Alle diese Fakten sind den Antragstellern seit mehr als einem Jahr bekannt und sind mehrfach im Gespräch mit ihnen erörtert worden. Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefordert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in der gesamten Branche zu kommen. Das Ministerium konnte zum jetzigen Zeitpunkt nichts anderes tun, als dieses Verfahren mit einer Ablehnung abzuschließen, ({3}) weil es an Gesetz und Recht gebunden ist. Die Bindung an Gesetz und Recht wird das Handeln des Bundesarbeitsministeriums auch weiter bestimmen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die Linke. ({0})

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau von der Leyen hat am Montag den Branchenmindestlohn in der Weiterbildung beerdigt, einfach so; keine Gespräche mit den Verbänden, keine ausreichende Begründung. Gestern hat Herr Staatssekretär Brauksiepe im Ausschuss für Arbeit und Soziales die Entscheidung damit begründet, dass das öffentliche Interesse fehlt. Allerdings stellte ein Referent aus dem Ministerium kurz darauf fest, dass das öffentliche Interesse gar nicht definiert ist. Ich schließe daraus: Sie hätten, wenn Sie gewollt hätten, Herr Brauksiepe, trotz „25 Prozent“ - es ist nicht definiert! - den Branchenmindestlohn durch eine Rechtsverordnung erlassen können. Sie hätten handeln können. Sie haben gehandelt, aber politisch. Sie wollen nämlich keinen Branchenmindestlohn in der Weiterbildung. Dies, Herr Brauksiepe, erklären Sie doch bitte mal meinen Kolleginnen und Kollegen in Bremen! ({0}) Herr Brauksiepe, erinnern Sie sich noch? Anfang vergangenen Jahres, als die Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenommen wurde, haben Sie gesagt: Deshalb ist dieser Tag heute ein großer Tag für die christlich-soziale Bewegung in Deutschland. … Es ist immer schon der Anspruch der Christdemokraten gewesen … das Richtige zu tun. ({1}) Aber hier zählen keine Ansprüche, meine Damen und Herren von der CDU/CSU; hier zählen Taten. ({2}) Ihre Taten gehen genau in die falsche Richtung. Heute verhindern Sie den Mindestlohn, und morgen kommt auch noch Ihr sogenanntes Sparpaket in der Arbeitsförderung. Die Bundesregierung will da im nächsten Jahr um 2 Milliarden Euro kürzen. Die Qualität wird schlechter, der Kampf um den niedrigsten Preis wird härter, und die Löhne werden geringer. Das ist weder christlich noch sozial. ({3}) Dennoch ist es erstaunlich, dass der vorliegende Antrag ausgerechnet von der SPD kommt. Noch im Januar 2009 brüstete sich ihr damaliger Arbeitsminister Scholz mit der Aufnahme der Weiterbildungsbranche in das Entsendegesetz. Es könne nicht sein, dass ausgebildete Akademikerinnen und Akademiker zu Löhnen beschäftigt werden, die nicht in Ordnung sind, um Erwerbslosen gute Berufe beizubringen und zu zeigen, wie man gut arbeitet. Irgendwie komisch. Dabei haben Sie unter RotGrün mit der Einführung der Hartz-Gesetze bei den Weiterbildungsmaßnahmen im SGB II und III massiv gekürzt und durch das Vergaberecht die Preise gedrückt. ({4}) Seitdem gingen dadurch bundesweit über 30 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Die übrigen Beschäftigten hatten Lohneinbußen von bis zu 30 Prozent. ({5}) Nun sitzen Sie hier und spielen den großen Retter der Weiterbildungsbranche. Dabei hätten Sie doch schon in der letzten Wahlperiode in der Großen Koalition den Mindestlohn durchsetzen können. ({6}) Ich frage Sie: Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen und der CDU/CSU sowie der FDP, wenn es um die Taten geht? ({7}) Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Ablehnung der Einführung eines Mindestlohns in diesem Bereich rückgängig zu machen und das Vergaberecht der Bundesagentur zu ändern. Preisdiktate in Ausschreibungsverfahren führen bei Bildungsträgern zwangsläufig zu Qualitätseinbruch und Dumpinglöhnen. Für uns Linke bleibt es dabei: Einführung eines Mindestlohns und gute Tarife für alle. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Mast, ich habe mich sehr gefreut, dass Sie eben so empathisch, ruhig und mit klaren Worten Ihren Antrag vorgebracht haben. ({0}) - Empathisch und sympathisch liegen nahe beieinander, müssen aber nicht immer identisch sein. Ich würde aber so weit gehen, zu sagen: Bei der Kollegin Mast ist es identisch. ({1}) - Ich würde mich freuen, wenn mich auch die eigene Fraktion eventuell zum Thema kommen ließe. Ich finde aber, dass es nicht angeht, wie sich die SPD ansonsten zum Thema eingelassen hat. Die Kollegin Kramme ist zwar immer für deutliche Worte gut; aber wenn sie sagt, die Regierung verweigere die Unterschrift oder das sei ein Skandal und ein Schlag ins Gesicht der Beschäftigten: Sie von der SPD holzen hier schon ziemlich. ({2}) Da fällt mir das gute Goethe-Wort ein: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt.“ ({3}) Ich habe das Gefühl, das trifft auch hier zu; denn wenn Sie so heftige Worte wählen müssen, wird es dafür auch einen Grund geben. Ehe Sie von Hungerlöhnen sprechen, wäre es vielleicht als erster Schritt für eine ernsthaftere Beschäftigung mit dem Thema gut, wenn Sie uns belastbare Daten zur Lohnsituation in der Weiterbildung vorlegen würden. ({4}) Es gab ja eine entsprechende Anfrage der Linken an die Bundesregierung. Deren Antwort stützt sich auf Daten aus dem Dezember 2009. Ich möchte nur einige Aussagen daraus vortragen: Wir haben 215 000 Personen in der Weiterbildung, 155 000 davon arbeiten sozialversicherungspflichtig in Vollzeit, 13 000 davon, ein kleiner, aber nennenswerter Teil, bezieht ergänzende Leistungen aus dem Arbeitslosengeld II. All das ist richtig. Es liegen uns allerdings keinerlei Daten über den Haushaltskontext der Betroffenen vor. Wenn man dann berücksichtigt, dass diese 13 000 Personen im Durchschnitt 700 Euro ergänzendes ALG II beziehen, ist es wohl eher nicht so, dass es sich um alleinstehende Personen handelt, die in Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, aber zu niedrige Löhne bekommen. Dieses wirkt eher so, als sei der Anspruch entstanden, weil diese Personen eine Familie mit hohen Ansprüchen haben und eine große Bedarfsgemeinschaft bilden. ({5}) Natürlich ist jedes einzelne Lohnproblem eines zu viel. Aber wenn Sie hier alle über einen Kamm scheren, von Hungerlöhnen sprechen und behaupten, das Problem sei mit einem für allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohn zu lösen, dann machen Sie es sich zu einfach. ({6}) - Liebe Kollegin Mast, ich war eben so nett zu Ihnen, ich möchte aber jetzt an dieser Stelle weiterkommen. Die Zeit ist durch das kleine charmante Geplänkel eben leider schon sehr weit fortgeschritten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mast?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich habe ihr gerade erklärt, warum nicht. Ich will zur nächsten Behauptung kommen: Die Bundesregierung verweigere eine Unterschrift. Ich bin großer Anhänger der Gewaltenteilung; dazu können wir gerne politische Positionen austauschen. Die Bundesregierung kann jedenfalls immer noch selbst entscheiden, ob sie etwas für allgemeinverbindlich erklärt oder eben nicht. Das muss sie natürlich auf der Grundlage von klaren Kriterien und einer gründlichen Prüfung machen. Liebe Kollegin Mast, ich würde schon sagen - der Parlamentarische Staatssekretär hat es eben ausgeführt -, dass es gute Gründe gibt, im Falle der Weiterbildungsbranche zu sagen: Hier ist möglicherweise weder Repräsentativität noch öffentliches Interesse gegeben. ({0}) Im Tarifausschuss gab es nämlich keine Mehrheit für eine entsprechende Regelung. Die Kollegin MüllerGemmeke wird bestimmt gleich darauf hinweisen, dass es nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz keine Mehrheit im Tarifausschuss geben muss. ({1}) Trotzdem muss die Regierung klare Kriterien suchen. ({2}) Da liegt es nicht fern, die Kriterien des Tarifvertragsgesetzes anzulegen. Es macht Sinn, dass es eine Mehrheit im Tarifausschuss geben muss, bevor irgendetwas für allgemeinverbindlich erklärt wird. Der Tarifausschuss wird nicht ohne Grund eingeschaltet. Er ist dafür da, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Der Parlamentarische Staatssekretär hat es ausgeführt: Bei anderen Branchen gab es auch in letzter Zeit ein einstimmiges Votum im Tarifaus6906 Johannes Vogel ({3}) schuss. Hier war das eben nicht der Fall. Deshalb gibt es gute Gründe, hier die Allgemeinverbindlichkeit abzulehnen. ({4}) Auch Repräsentativität ist nicht gegeben. Wenn die Bindungswirkung des Tarifvertrags bei 45 oder 47 Prozent läge, könnte man noch darüber diskutieren, ob man ihn nicht vielleicht trotzdem für allgemeinverbindlich erklären sollte. Hier sind aber maximal 25 Prozent der Arbeitnehmer an den Tarifvertrag gebunden. Da ist die Repräsentativität nicht fraglich, sondern fern. Es wäre falsch, wenn hier ein Minderheitsinteresse über das Mehrheitsinteresse dominieren würde. ({5}) Deshalb ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität richtig, das Ganze abzulehnen. Liebe Frau Kollegin Mast, ich nehme die Koalitionsfreiheit sehr ernst. Ich finde es gut, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer organisieren und gemeinsam für die Lohnfindung zuständig sind. Ich nehme die Koalitionsfreiheit auch dadurch ernst, dass ich nicht politisch definiere, wann mir das Ergebnis passt. Ich habe das Gefühl, Sie halten den Wert der Koalitionsfreiheit nur dann hoch, wenn Ihnen das politische Ergebnis zupasskommt. Das hat nichts mit dem Wert der Tarifautonomie und der Koalitionsfreiheit in Deutschland zu tun. ({6}) - Hier geht es um die Würde der Arbeit. Es geht aber auch darum, dass wir faire Bedingungen brauchen. Minderheitsinteressen dürfen hier nicht Mehrheitsinteressen diktieren. ({7}) Deshalb ist es richtig, dass die Allgemeinverbindlichkeit hier abgelehnt wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Beim Kollegen Schaaf kann ich natürlich nicht Nein sagen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das ist jetzt nicht ganz so charmant. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Vogel, ich danke Ihnen sehr. Ich hätte zwar mit einer ähnlich charmanten Absage wie bei der Kollegin Mast gerechnet; aber Sie haben wahrscheinlich einkalkuliert, dass ich dann eine Kurzintervention hinterherschiebe.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das wäre nicht so schlimm. Dann könnte ich ja antworten.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte eine Anmerkung machen. Das Verhältnis der Minderheit zur Mehrheit ist so eine Sache. Es gibt in Bezug auf die Mindestlohnregelung eine Lex FDP. Eigentlich kann der Arbeitsminister oder die Arbeitsministerin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären. In Ihrem Fall - so haben Sie das vereinbart - darf die Minderheit im Kabinett, nämlich die FDP, das verhindern. Da könnte man fragen: Wie steht es hier um das Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit? Aber das lasse ich jetzt einmal. ({0}) Die Frage, die ich konkret stellen und von Ihnen beantwortet bekommen möchte, bezieht sich auf das öffentliche Interesse. Hier wurde deutlich gesagt, es gebe kein besonderes öffentliches Interesse, den Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Falle ist es mit dem öffentlichen Interesse so eine Sache; denn hier werden Dritte im Auftrage des Staates tätig, nämlich im Auftrag der BA. Hier stellt sich die Frage, ob es ein besonderes öffentliches Interesse gibt. Würden Sie ausdrücklich ausschließen, dass das besondere öffentliche Interesse, das dahinterstecken könnte, darin liegt, dass die BA höhere Aufwendungen hätte, wenn man in der Weiterbildungsbranche mehr Geld zahlen würde? Das könnte das besondere Interesse sein, das zu der politischen Entscheidung geführt hat, hier keine Mindestlöhne einzuführen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie werben immer für faire Löhne. Ich glaube, wir alle wollen faire Löhne. ({0}) Es geht aber auch um faire Regeln in der Demokratie. Die faire Regel lautet hier: Eine Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit - das ist ein Eingriff - kann es nur geben, wenn der Verfahrensweg, der vereinbart worden ist, eingehalten wird, nämlich wenn es zunächst eine Befassung im Tarifausschuss dazu gibt und die Bundesregierung auf der Grundlage dieser Befassung entscheiden kann. Die Zusammensetzung der Bundesregierung folgt demokratischen Regeln. Insofern kann ich hier keine Minderheitsblockade durch die FDP erkennen. Wir haben nämlich ein vereinbartes demokratisches Verfahren, das eingehalten wird. ({1}) Johannes Vogel ({2}) Insofern glaube ich, dass Ihre Frage ins Leere geht. Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung klare Kriterien hat, um zu definieren, ob ein öffentliches Interesse vorliegt. Deshalb orientiert sie sich am Votum des Tarifausschusses, der dafür da ist - ich habe es schon gesagt -, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Auch in diesem Fall geht es um eine Wirtschaftsbranche, auch wenn hier öffentliche Auftraggeber im Spiel sind. Sie haben das Verfahren doch erfunden. ({3}) Es ist richtig, dass wir es vernünftig anwenden und nicht behaupten, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe das Gefühl, dass Ihr Antrag - Herr Kollege Schaaf, Sie können sich setzen; ich komme zum Schluss - insgesamt eher auf die Innenwirkung abzielt. Ich glaube, es ist eine Art Olaf-Scholz-Gedächtnisantrag. Sie wollen nachträglich legitimieren, dass in der letzten Legislaturperiode alle Register gezogen wurden, um verschiedene Branchen einzubringen, und täuschen die Öffentlichkeit mit Ihrem rhetorischen Geholze. ({4}) Das finde ich unredlich. Sie übersehen, dass alles dagegenspricht: Man kann weder von grassierenden Dumpinglöhnen in der Branche sprechen, ({5}) noch gibt es eine Repräsentativität. Wir wollen eben nicht, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren. Es gibt auch kein öffentliches Interesse, weil der Tarifausschuss nicht dafür ist. Insofern freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss. Es gibt noch spannende Detailfragen zu klären. Wir können unseren Disput im Ausschuss gerne fortsetzen. ({6}) Um die Koalition bzw. die FDP von Ihrem Antrag zu überzeugen, müssen Sie sich schon noch bessere Argumente einfallen lassen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Weg ist frei für einen Mindestlohn, so lautete Anfang 2009 die frohe Botschaft, als die Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenommen wurde. Nun ist die Euphorie verflogen. Am letzten Montag ging der Brief der Bundesregierung an die Antragsteller heraus. In ihm heißt es lapidar: Ein öffentliches Interesse liegt nicht vor. Der Mindestlohn ist abgelehnt. Es wurde keine Begründung genannt. Da verschlägt es mir fast die Sprache. ({0}) Gestern im Ausschuss - es wurde schon angesprochen - hat Herr Staatssekretär Brauksiepe auf Nachfrage das fehlende Interesse mit der niedrigen Tarifbindung begründet. Ich kann nur sagen: Ich finde es unglaublich, dass dem Ministerium wohl nicht bekannt ist, welche Kriterien bei der Prüfung des öffentlichen Interesses angelegt werden müssen. Laut einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1977 liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn eine Gefährdung des Arbeitsfriedens durch eine Aushöhlung des Tarifvertrags vorliegt oder wenn durch eine AVE für Außenseiter, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag, angemessene Arbeitsbedingungen gesichert und damit Lohndrückerei und sogenannte Schmutzkonkurrenz beseitigt werden können. ({1}) Die niedrige Tarifbindung ist also kein Ablehnungsgrund, im Gegenteil. ({2}) Legt man die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts an, dann ist der Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche sehr wohl im öffentlichen Interesse. ({3}) Die Prüfung des Bundesarbeitsministeriums ist also völlig verfehlt. Ein paar Worte zur Branche selbst. Sie betonen immer wieder: Bildung, Arbeitsmarktintegration, aber auch der Fachkräftemangel stehen im Mittelpunkt Ihrer Politik. Doch nun müssen viele Lehrkräfte weiter unter schlechten oder sogar prekären Bedingungen arbeiten. Wir dürfen nicht vergessen: Wir reden über Beschäftigte, deren Aufgabe es ist, erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen zu qualifizieren. Ich kenne die Branche. Ich war nämlich früher dort tätig. Anhaltender Preisverfall für Bildungsmaßnahmen, beispielloses Lohndumping und massive Tarifflucht der Arbeitgeber - das ist die Realität. Die Beschäftigten haben zum großen Teil einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, und doch werden sie behandelt wie Pädagogen zweiter Klasse. ({4}) Bedenken Sie auch, dass der Mindestlohn nur ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre; denn viele, die in dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und Honorarkräfte. Auch sie müssen Arbeitsbedingungen und Honorare hinnehmen, die alles andere als angemessen sind. Deswegen sind neben Mindestlöhnen auch Min6908 desthonorare notwendig, um dieser besonderen Branche gerecht zu werden. Ich appelliere an die Regierungsfraktionen und übrigens auch an die Gewerkschaften: Befassen Sie sich auch mit diesem Thema! Vor allem aber revidieren Sie Ihre Meinung zum Mindestlohn! Setzen Sie sich für die Einführung des Mindestlohns ein! ({5}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/ CSU-Fraktion, am letzten Donnerstag sagte Ministerin von der Leyen bei Maybrit Illner, es sei absolut richtig, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Mindestlöhne für Einzelbranchen aushandeln können. Warum zeigen Sie eigentlich keine Geschlossenheit? Warum unterstützen Sie Ihre Ministerin nicht? Warum setzen Sie sich nicht einmal gegen die FDP durch? Ich gehe davon aus, dass die FDP auch bei diesem Mindestlohn wieder auf der Bremse stand. ({6}) Zeigen Sie der FDP bei diesem Thema endlich einmal Kante. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern: Wir Grünen werden bei diesem Thema nicht aufgeben. Wir streiten so lange mit Ihnen, bis Sie endlich die Realität auf dem Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen und Mindestlöhne im Sinne der Beschäftigten einführen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin, Sie haben uns pünktlich zu Ihrem 50. Geburtstag das Geschenk einer Rede gemacht. Herzlichen Dank und Gratulation zu Ihrem Geburtstag! ({0}) Ich erteile nun Kollegen Ulrich Lange für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wir beschäftigen uns heute mal wieder mit dem Thema Mindestlohn. ({0}) Frau Müller-Gemmeke, es geht Ihnen nicht nur um die Weiterbildungsbranche, sondern auch um das Thema „Mindestlohn im Allgemeinen“. ({1}) Dagegen möchte ich meinen heutigen Beitrag ganz konkret auf die Branche beschränken. Der Staatssekretär Brauksiepe hat die Daten bereits vorgelegt. Es steht keine Entscheidung aus. Der Tarifausschuss hat mit 3 : 3 abgestimmt. 3 : 3 heißt: keine positive Entscheidung. ({2}) Bevor wir jetzt in die Diskussion über das öffentliche Interesse einsteigen, sollten wir uns einem kleinen Grundlagenseminar zum Thema Tarifrecht widmen. Ich habe mir gestern Abend die Mühe gemacht, den Kommentar von Däubler zum TVG herauszusuchen. Ich bin froh, dass ich ihn mitgenommen habe, und hoffe, dass ich hier nicht in die falsche Ecke gestellt werde. ({3}) - Ja. Aber wichtig im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlicherklärung ist die Definition des Begriffs „öffentliches Interesse“. - Es ist ganz klar festzuhalten, dass die Exekutive, also das Ministerium, diese Frage in völlig eigenständiger Verantwortung prüft; ({4}) das hatte der Herr Kollege Vogel vorhin schon einmal in aller Deutlichkeit gesagt. Frau Kollegin Kramme, in der gestrigen Ausschusssitzung waren wir uns alle einig, dass es einen breiten Beurteilungsspielraum und ein weites normatives Ermessen gibt. Sie werden dem Ministerium am Ende nicht vorhalten können - nur dann bestünde der Anspruch -, dass ein Nullermessen oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Ich glaube nicht, dass Sie zu dieser Einschätzung kommen können. Nur dann, wenn das Ergebnis schlechthin unvertretbar ist, würde überhaupt ein Anspruch auf die Einführung eines Mindestlohnes über die Allgemeinverbindlichkeit bestehen - sonst nicht. ({5}) - Wir sind gerade bei der Definition des öffentlichen Interesses. ({6}) Ich habe gerade gesagt, dass wir im Ausschuss gerne ein Grundlagenseminar abhalten können, bevor wir hier wirr durcheinanderreden und über Begriffe reden, die wir manchmal nicht richtig ausfüllen können. ({7}) Schreiben Sie sich bitte ganz dick in Ihr Buch hinein: Die Allgemeinverbindlichkeit ist Ausdruck der Subsidiarität und kann nur in dieser Funktion konkretisiert werden. Auch das müssen Sie in die Abwägung einbeziehen. Genau das hat das Ministerium getan. ({8}) Im Rahmen dieser Abwägung spielt es natürlich eine Rolle, ob Repräsentativität gegeben ist oder nicht. Bitte bedenken Sie, dass wir hier über ein grundgesetzlich geschütztes Recht sprechen. Wir reden über die Koalitionsfreiheit, auch über die negative Koalitionsfreiheit, einem Tarifvertrag nicht beizutreten. Das müssen Sie in die Abwägung einbeziehen. ({9}) Wir werden nicht die Hand dazu reichen, den Vorrang der autonomen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien durch eine rundum gültige Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auszuhöhlen. Sie versuchen, damit durch die Hintertür den gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen. ({10}) Bitte halten Sie sich an Recht und Gesetz! Manchmal hilft auch ein Blick in das Grundgesetz. ({11}) Liebe Kollegin Mast, Sie hatten in einem Punkt recht: Die SPD hatte das BMAS viele Jahre in Händen. ({12}) Ich werde jetzt ein paar Zahlen nennen, um deutlich zu machen, wie die Situation wirklich ist: 2009, als Sie den Bundesarbeitsminister stellten, hatten wir in Deutschland rund 71 000 Tarifverträge. 2009 hatten wir 463 für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge; das sind 0,65 Prozent. Diese Tarifverträge galten in erster Linie für die Baubranche im Rahmen von Ausgleichs- und Urlaubskassen. Wir haben aber nur - das gilt für Ihre Zeit 44 Tarifverträge im Entgeltbereich im engeren Sinn; diesen Bereich wollen Sie hier regeln. Also tun Sie nicht so, als hätten wir eine Lücke geschaffen oder als würden wir eine Lücke nicht schließen. Sie hätten diese Lücke längst schließen können, wenn Sie damals dieser Ansicht gewesen wären. ({13}) Ich fasse zusammen: Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Sie hat ordnungsgemäß geprüft. Sie weigert sich aber - wir weigern uns auch -, eine Allgemeinverbindlicherklärung nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten abzugeben. Nehmen Sie im Sinne von Recht und Gesetz Ihren Antrag zurück! Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lange, zunächst einmal herzlichen Dank für die Nachhilfe in Sachen öffentliches Interesse. Ich komme gleich darauf zurück und sage, wie ich das definieren würde. Wir haben in dieser Woche eine Hiobsbotschaft erhalten: Frau von der Leyen hat es abgelehnt, den Tarifvertrag für Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung im Rahmen von SGB II und III für allgemeinverbindlich zu erklären. Die Regierung lehnt also einen Mindestlohn ab und schaut damit dem Lohndumping in dieser Branche tatenlos zu. So muss man das sehen. ({0}) Herr Vogel, da hilft auch kein Zitat von Goethe. Die Begründung für die Entscheidung des BMAS bleibt nicht nachvollziehbar. Es liegt kein öffentliches Interesse vor? Liegt es nicht im öffentlichen Interesse, Bildungsanbieter für ihre Arbeit angemessen zu bezahlen? Gute Bildung braucht Qualität, und - das haben wir gerade von Frau Mast gehört - Qualität hat ihren Preis. Herr Staatssekretär Brauksiepe, liegt tatsächlich kein öffentliches Interesse vor, wenn der Tarifvertrag für mehr als 23 000 Beschäftigte gelten würde? Das ist völlig inakzeptabel. 23 000 Menschen sind keine kleine Gruppe. Hier geht es um Tausende Ausbilder, Meister, Lehrkräfte und Sozialpädagogen. Da hilft kein Schönreden. Was sagen Sie den Betroffenen? ({1}) Wir erwarten äußerst viel von der Weiterbildungsbranche: Sie soll Berufstätige weiterqualifizieren, sie soll den drohenden Fachkräftemangel abwenden, sie soll Arbeitslose für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt fitmachen, und sie soll Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft integrieren. Kurz gesagt: Die Branche wird in politischen Sonntagsreden zum Heilsbringer hochstilisiert und soll helfen, unsere dringendsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Weiterbildung wird mit Wohlstand und Teilhabe gleichgesetzt. Da sind wir uns alle einig, im Handeln aber nicht. In der Praxis können Weiterbilderinnen und Weiterbilder ihre Aufgaben nicht erfüllen, weil ihnen schlichtweg die Mittel fehlen. Das fängt beim Unterrichtsmaterial an und hört bei den Gehältern auf. Die notwendigen Investitionen in die Weiterbildung sind unterblieben. Wenn Weiterbildung eine echte und tragfähige Säule in unserem Bildungssystem werden soll, müssen wir für eine solide Finanzierung sorgen. ({2}) Nachhaltig finanzierte Weiterbildung ist die beste Form der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Viele hochqualifizierte Lehrkräfte müssen trotz Hochschulabschluss mit einem Bruttoeinkommen zwischen 1 200 und 1 800 Euro auskommen. Manche sind gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem SGB II aufzustocken. Ich frage Sie: Ist das nicht an der Grenze zum Hungerlohn? ({3}) - „Das ist Hungerlohn“, sagt mein Kollege. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion fordert gemeinsam mit den Gewerkschaften einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche. ({5}) Ich habe den Eindruck, dass einige Redebeiträge nicht von praktischer Erfahrung getragen sind. Deswegen möchte ich meine Gründe für diese Forderung darlegen. Mindestlöhne sind ein Garant für faire Arbeitsbedingungen, weil sie die Existenz sichern. Mindestlöhne verhindern Lohndumping. Mindestlöhne verhindern Altersarmut und machen unabhängig von staatlichen Transferleistungen. ({6}) Mindestlöhne wirken sich positiv auf die Marktwirtschaft aus, weil sie die Nachfrage stärken. Und Mindestlöhne fördern die Gleichberechtigung, weil momentan vor allem Frauen von Niedriglöhnen betroffen sind. So viele Argumente sind kein öffentliches Interesse? Zu Ihrer Anmerkung, die Erde sei eine Scheibe, möchte ich sagen: Dies war über viele Jahre eine anerkannte Lehre. Irgendwann hat sich etwas geändert, und wir haben festgestellt, dass die Erde eben keine Scheibe ist, Herr Kollege, sondern rund. ({7}) Deswegen haben Sie vielleicht noch die Chance, irgendwann festzustellen, dass Mindestlöhne europaweit anerkannt sind und in der EU als Selbstverständlichkeit gelten. ({8}) Meine Damen und Herren, Herr Lange, wir werden jedenfalls nicht mal wieder, sondern immer wieder an diesem Thema festhalten. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- nungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3173 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus Weinberg ({0}), Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausländische Bildungsleistungen anerkennen Fachkräftepotentiale ausschöpfen - Drucksache 17/3048 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz ({4}), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen - Drucksache 17/3198 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({6})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Als erster Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ({0}) - die Letzten werden die Ersten sein; das ist richtig möchte ich zum Anfang meiner Rede auf die Debatte von heute Morgen zurückkommen. Die Staatsministerin hat zu Recht gesagt, dass ein solches Anerkennungsgesetz ein Meilenstein in der Integrationspolitik sein wird. Diese Ansicht teilen wir ausdrücklich. Marcus Weinberg ({1}) Ich komme deswegen auf die Debatte von heute Morgen zurück, weil ich glaube, dass dort, aber auch in der Integrationsdebatte insgesamt einiges falsch dargestellt worden ist. Zwei Punkte haben mich besonders geärgert. Der eine ist, dass von der Opposition immer wieder der Eindruck erweckt wurde, dass sich in den letzten Jahren bei der Integration nichts verändert hätte. Da muss man ganz deutlich sagen: Das ist falsch. Ich zitiere einmal aus dem Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010. Dort heißt es: Sie - die Integration ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut gelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft den Anforderungen von Zuwanderung und Integration pragmatisch und zuversichtlich gegenüber. Weiter heißt es: Die deutschen Regelungen zu Migration und Integration unterscheiden sich in ihren Grundelementen kaum mehr von denen der europäischen Nachbarn. Sie sehen, es gibt einen Prozess, der durchaus zufriedenstellend ist. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Alpers von der Linksfraktion?

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, Sie haben gerade betont, welche Entwicklungen es bei der Integration gab. Ich glaube, auch Sie haben zur Kenntnis genommen, dass im Berufsbildungsbericht explizit hervorgehoben wurde, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt einen schlechteren Schulabschluss haben als junge Menschen ohne Migrationshintergrund, dass sie aber selbst dann, wenn sie einen gleichwertigen Schulabschluss oder sogar gleiche bzw. bessere Noten als Menschen ohne Migrationshintergrund haben, nicht integriert werden, weil sie zum Beispiel Ali heißen. Im Berufsbildungsbericht wird die Frage aufgeworfen, warum das so ist. Wie passen diese Fakten zu der von Ihnen erwähnten massiven Entwicklung bei der Integration?

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darauf will ich gerne eingehen. Das Zitat, das ich angeführt habe, bezog sich auf die Gesamtbetrachtung der Integration. Für uns ist von elementarer Bedeutung, Entwicklungen zu bewerten. Völlig richtig ist - darauf wollte ich gerade hinaus -, dass insbesondere bei der Entwicklung im schulischen Bereich, auch was die Abschlüsse angeht, nach wie vor große Defizite bestehen. Zum Beispiel ist der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der keinen Abschluss hat, doppelt so hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Jugendlichen. Der Anteil der Eltern mit Migrationshintergrund, der seine Kinder in eine Krippe gibt, ist nur halb so hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Eltern. Hier gibt es, wie gesagt, noch große Defizite. ({0}) Ein Problem ist die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen; deshalb will ich jetzt auf diesen Punkt zu sprechen kommen. An der Debatte heute Morgen hat mich in diesem Zusammenhang etwas geärgert. Man kann natürlich immer wieder den Vorwurf erheben: Das kommt alles zu spät; ihr redet doch nur. ({1}) Ich möchte daran erinnern: Eine Integrationsbeauftragte, einen Integrationsplan und eine Islam-Konferenz hat es 1992 und 1998 noch nicht gegeben. Hinzu kommt unser Gesetz, das im Dezember dieses Jahres hoffentlich vorliegen wird. ({2}) Man kann, wie es der Kollege von der SPD heute Morgen getan hat, monieren, dass erst spät gehandelt wird. Aber jetzt handeln wir. Richtig, das hätte man schon vor zehn Jahren tun können. Damals haben wir diese Möglichkeit aber leider nicht gehabt. Ein zentraler Punkt ist, wie gesagt, die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Ein Problem dabei ist das mangelnde Bewertungs- und Anerkennungsverfahren. Hier sind zwei Ebenen der Betrachtung voneinander zu unterscheiden. Zunächst zur gesamtgesellschaftlichen Betrachtung, die auch eine volkswirtschaftliche ist. Auf einige der negativen Daten, von denen in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede ist, möchte ich kurz eingehen. Die Erwerbsquote von Zugewanderten beträgt 68 Prozent und liegt damit deutlich unter der Erwerbsquote von Personen ohne Migrationshintergrund, die 75 Prozent beträgt. Die Arbeitslosenquote von Akademikern mit Migrationshintergrund ist dreimal so hoch wie die der Deutschen, die einen akademischen Abschluss haben. Hier geht Potenzial verloren. Das sind volkswirtschaftliche Ressourcen, die wir dringend heben müssen. Die andere Ebene der Betrachtung bezieht sich auf die Einzelschicksale der betroffenen Personen. Wir alle kennen entsprechende Fälle, möglicherweise sogar aus dem Wahlkreis. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen. Erstes Beispiel. Denken Sie an die Frau, die aus Russland kommt und dort Medizin studiert hat, momentan aber „nur“ eine Anstellung als Arzthelferin hat. Stellen Sie sich einmal vor - die meisten von uns haben ja einen Abschluss -, dass Sie ins Ausland gehen, Ihr Abschluss dort aber nicht anerkannt wird, und stellen Sie sich die Frage, welche Folgen es für Sie, Ihre Biografie und Ihre Psyche hätte, nicht in dem Bereich arbeiten zu können, Marcus Weinberg ({3}) in dem Sie ausgebildet wurden. Es ist ein Paradoxon, dass uns 8 600 Mediziner fehlen, gleichzeitig aber junge ausgebildete Menschen aus Russland oder anderen Ländern nicht im Medizinbereich arbeiten können. Zweites Beispiel. Vergegenwärtigen Sie sich, welche Entwicklungen im Pflegebereich auf uns zukommen. Im Jahre 2020 werden uns 200 000 bis 300 000 Pflegefachkräfte fehlen. In Deutschland arbeiten viele Menschen aus dem Ausland, die in dem Beruf, den sie erlernt haben, nicht arbeiten können. Wir haben also eine volkswirtschaftliche Verantwortung. Unter Integrationsgesichtspunkten haben wir aber auch eine Verantwortung für die Menschen und ihre weitere Entwicklung. Mit Blick auf die bisherige Rechtslage und aufgrund der Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft haben wir entschieden, möglichst zügig ein Anerkennungsgesetz auf den Weg zu bringen; im Dezember dieses Jahres wollen wir einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. 300 000 Akademikerinnen und Akademiker sollen derzeit nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten. Der Grund ist oft, dass kein allgemeiner Rechtsanspruch auf ein Verfahren existiert. Richtig ist, dass ein Anerkennungsverfahren in reglementierten Berufen bisher zumindest für Spätaussiedler und EU-Bürger garantiert wurde. Alle anderen Personen können zum Beispiel ein im Ausland erworbenes Examenszeugnis nicht verwenden. Sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Berufen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Mit einer gesetzlichen Regelung müssen wir drei Ziele verfolgen: Erstens brauchen wir die Verbindlichkeit, dass im Ausland erworbene Abschlüsse und Qualifikationen zügig, nämlich innerhalb von sechs Monaten, bewertet werden. Außerdem muss transparent gemacht werden, welche Kriterien dabei zugrunde gelegt wurden. Es ist wichtig, diese Bewertung innerhalb von sechs Monaten vorzunehmen; denn nur so kann Verbindlichkeit geschaffen werden. Zweitens sollten entsprechende Bescheide über den Abschluss bzw. über die Qualifikation vorliegen bzw. ausgestellt werden. Drittens ist das alles nur sinnvoll, wenn man jedem Bewerber die Chance gibt, durch Qualifizierung, wo Defizite bestehen, nachzuschulen. Das heißt, entsprechende Angebote müssen vorliegen. Was sind die Anforderungen an eine gesetzliche Regelung? Wichtigster Regelungsgegenstand eines entsprechenden Gesetzes muss die Festlegung eines Rechtsanspruchs auf ein Anerkennungsverfahren mit einer tatsächlichen Besserstellung sein. Im Zusammenhang damit - ich glaube, dass das sinnvoll und auch notwendig ist - muss die statistische Datenlage für Anerkennungsuchende und die zuständigen Stellen verbessert werden, nicht wegen der Statistik, sondern weil wir sehen wollen, wo die Defizite liegen und wo nachgearbeitet werden muss, damit die verschiedenen Akteure - Bund, Länder und andere - wissen, wo Defizite so schnell wie möglich ausgeräumt werden müssen. Nur mit einem solchen Gesetz schaffen wir politische Ernsthaftigkeit. Es wird schon beobachtet werden, ob wir die mittlerweile achte oder neunte Rede zu diesem Thema halten. ({4}) Wer das tut, wird sagen, „Verbindlichkeit“ bedeute, dass es auch irgendwann ein Gesetz gebe; denn nur mit einem Gesetz erreichen wir, dass sich Zugewanderte aufgenommen fühlen. ({5}) Nur so erreichen wir, dass deren Potenziale unsere Gesellschaft bereichern, und nur so erreichen wir, dass deren intellektuelle Ressourcen unserer Wirtschaft nicht verloren gehen. ({6}) Zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungen zur Qualitätssicherung machen; das war uns auch in der Diskussion wichtig. ({7}) Man kann natürlich die Quote erhöhen, indem man die Qualität senkt. Das machen wir nicht, sondern wir legen Wert darauf, dass es den Erhalt der Qualität des deutschen Ausbildungssystems weiterhin gibt, gerade weil wir festgestellt haben, dass diejenigen, die in Deutschland eine Ausbildung gemacht haben, im Ausland erfolgreich sind, weil die Ausbildungsgänge anerkannt werden. Deshalb gehen wir den Weg, die Qualifizierung aufzuwerten und die Standards nicht abzusenken. Dann haben wir beides erfüllt: Wir haben die Qualitätsstandards gehalten und denjenigen, die nach Deutschland gekommen sind, eine Chance gegeben, in ihrem jeweiligen Beruf zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Swen Schulz für die SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was machen der Arzt, die Ingenieurin oder der Facharbeiter aus der Türkei, aus Osteuropa oder aus einem arabischen Staat, wenn der eigene Abschluss hier nicht anerkannt wird? Heute früh haben wir den Achten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer debattiert. Geschätzte 500 000 Menschen in Deutschland sind von der Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse betroffen. Sie können nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten; sie müssen aber irgendwie zurechtkommen. Sie leben hier legal und wollen ihre Kenntnisse sowie ihre Fähigkeiten einbrinSwen Schulz ({0}) gen, doch sie werden daran gehindert. Das ist eine unglaubliche Dummheit. Wir lassen Potenziale ungenutzt links liegen, obwohl immer lauter und immer drängender über Fachkräftemangel geklagt wird. Es gibt immer mehr Rufe nach Zuwanderung von Fachkräften, aber wir kümmern uns nicht um die Menschen, die bereits hier leben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir ändern. ({1}) Diese Erkenntnis ist nicht neu. Lieber Kollege Weinberg, zu den Fortschritten sage ich so viel: In der Großen Koalition hat die SPD dazu Vorschläge gemacht. CDU und CSU haben sie abgelehnt. ({2}) Im letzten Jahr haben wir Anträge von der SPD, von den Grünen und von der Linksfraktion diskutiert. Langsam, ganz langsam kommt die Bundesregierung in die Gänge. Erst wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier der Bundesregierung in die Welt gesetzt. Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführt und das Thema mehrfach diskutiert. Neulich hat die Bundesministerin einen Referentenentwurf für ein Anerkennungsgesetz für die zweite Oktoberhälfte angekündigt. Im Dezember soll dann der Gesetzentwurf kommen. Herr Kollege Weinberg, Sie haben recht: Heute hat Staatsministerin Böhmer gesagt, dass wir dieses Gesetz ganz schnell bräuchten. Ich finde es super, wie die Regierungskoalition darauf jetzt endlich kommt. ({3}) In dieser Situation präsentieren nun auch die Koalitionsfraktionen einen Antrag zum Thema. Wow, wir sind echt beeindruckt, wie engagiert Sie dieses Thema forcieren. Das ist super mutig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({4}) Allein: Der Antrag hilft jetzt nicht weiter, weil wir alle über den Punkt, dass ganz dringend etwas gemacht werden muss, längst weit hinaus sind. Beim heutigen Stand der Debatte ist von den Regierungsfraktionen eigentlich mehr als ihr vorliegender Antrag mit solchen Allgemeinplätzen zu erwarten. Wenn dann der Gesetzentwurf endlich, endlich zur Beratung vorliegt, werden wir sehen, was der Gesetzentwurf im Einzelnen enthält und ob er ausreicht. Was muss getan werden? Wir leiden derzeit unter einem wahren Anerkennungschaos. Es wird nach Berufsgruppen unterschieden, nach Anerkennungszwecken und danach, ob es sich um Spätaussiedler, um EU-Bürger oder um Drittstaatler handelt. In den einzelnen Bundesländern herrschen völlig unterschiedliche Verwaltungspraktiken. Wenn man einmal ehrlich ist, dann muss man sagen: Letztlich blickt niemand wirklich durch. Das ist bürokratisch und ungerecht. ({5}) Nötig ist ein Rechtsanspruch für alle auf Bewertung der eigenen Abschlüsse und auf Durchführung eines Anerkennungsverfahrens. Wir brauchen ausreichend viele Anerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahren darf höchstens sechs Monate dauern, damit in absehbarer Zeit auch tatsächlich Klarheit herrscht. Das Ziel muss eine zentrale Steuerung und eine bundesweit verbindliche Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilanerkennungen ausgesprochen werden können, müssen Informationen und Angebote über Nach- und Weiterqualifizierungen - auch für die Sprache - verlässlich zur Verfügung gestellt werden. ({6}) Damit diese Angebote tatsächlich angenommen werden können, sind entsprechende finanzielle Förderinstrumente nötig. Es hilft ja nichts, wenn es Angebote gibt, die Leute sie sich aber gar nicht leisten können. Wir haben darum schon im letzten Jahr in unserem Antrag ein Einstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vorgeschlagen. Das wäre dann wirklich ein großer Schritt. Wir freuen uns - so viel dann doch positiv -, dass die Koalitionsfraktionen diesen Punkt in ihrem Antrag aufgegriffen haben, wenn auch mit einer noch etwas zarten Formulierung. ({7}) Wie gesagt: Wir sind gespannt auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Hier kommt es dann tatsächlich zum Schwur. Ich hoffe, ich täusche mich nicht; aber da die Bundesregierung schon die bescheidene BAföG-Erhöhung fast an die Wand gefahren hat, ({8}) bin ich bei diesem Thema ziemlich skeptisch. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier auch über einen wichtigen Beitrag zur Integration. Es geht hier um die Anerkennung von Qualifikationen; das heißt, es geht um die Anerkennung der Lebensläufe der Menschen. Es geht darum, ihnen zu vermitteln, dass sie auch tatsächlich gewollt sind und gebraucht werden, und darum, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich hier als aktive, produktive Mitglieder der Gesellschaft einzubringen. Mit einem Wort: Es geht auch um Respekt. Dieser Gedanke wird in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, leider mit keinem Wort erwähnt. Sie verstehen noch immer nicht, wie wichtig eine Anerkennungskultur ist. ({9}) Ich möchte noch auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen eingehen, den wir heute auch diskutieren. Selbstverständlich haben Sie recht, liebe Kolleginnen Swen Schulz ({10}) und Kollegen: Es ist ein Gesamtkonzept mit unterschiedlichen Maßnahmen zur Behebung des Fachkräftemangels nötig. Natürlich haben auch wir von der SPD umfassende Überlegungen angestellt. Sie haben Ihre jetzt in einem Antrag zusammengeschrieben. Vieles von dem können wir - zumindest in der Zielrichtung - unterschreiben. Ich will auf einen besonders wichtigen Bereich eingehen, nämlich auf die Kindertagesstätten und die Schulen. Lieber Kollege Weinberg, das hat ja auch eine ganze Menge mit Integration zu tun. ({11}) Ich will einmal daran erinnern, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die gegen den Widerstand aus der Union ein Ganztagsschulprogramm in ganz Deutschland durchgesetzt hat. ({12}) Inzwischen hört sich das bei der CDU und der CSU ganz anders an. Sie sind hier durchaus positiv gestimmt. Heute früh hat sogar Staatsministerin Böhmer ausdrücklich mehr Ganztagsschulen gefordert. Das ist gut; aber ich frage: Warum machen Sie dann an dieser Stelle nichts? Im Rahmen der Umsetzung des Hartz-IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichts wollen Sie ein paar Bildungsgutscheine verteilen. Was aber fehlt, ist ein Angebot an die Länder und an die Kommunen, die Kindertagesstätten und die Schulen zu verbessern. Es kann doch nicht darum gehen, Nachhilfe zu vermitteln, wenn alles schon ganz schwierig ist, sondern die Kitas und die Schulen müssen so gut werden, dass Nachhilfe unnötig wird. Das muss doch das Ziel sein. ({13}) Es ist ja nicht so, dass Sie sich da nichts vornehmen; es ist noch schlimmer. Sie torpedieren sogar die Förderung von Kindern. ({14}) - Ja, hören Sie mal zu. - Sie halten stur daran fest, den Eltern ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie auszahlen zu wollen, dafür, dass sie ihre Kinder nicht in die Kita schicken. ({15}) Herr Weinberg, Sie haben eben beklagt, dass es gerade im Migrantenbereich an der Stelle Probleme gibt. Ich glaube, dass das tatsächlich der völlig falsche Weg ist, der im Übrigen auch Milliarden kosten wird, die viel besser in die Kitas und in die Schulen investiert wären. Ob bei der vorschulischen Bildung, den Ganztagsschulen oder der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen: Immer und immer wieder sehen wir, dass die CDU/CSU erst blockiert und dann ganz mühsam hinterherschleicht. Kommen Sie bitte endlich einmal voran! Herzlichen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Heiner Kamp für die FDP-Fraktion. ({0})

Heiner Kamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004064, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir über ein wesentliches Anliegen verschiedener Politikfelder: die Bekämpfung des Mangels an Fachkräften und Hochqualifizierten in Zeiten des demografischen Wandels. Dieser hat den deutschen Arbeitsmarkt bereits mit voller Wucht erreicht. Fehlende Fachkräfte stellen in vielen Branchen schon heute ein strukturelles Problem dar. Der durch den Fachkräftemangel verursachte Wertschöpfungsverlust ist gewaltig: Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln schätzt den Wohlstandsverlust für unser Land auf rund 15 Milliarden Euro, und das im Krisenjahr 2009. Nun müssen wir aufpassen, dass der sich abzeichnende wirtschaftliche Aufschwung im XL-Format nicht am Mangel an gut ausgebildeten Kräften scheitert. Insofern freue ich mich über die Wachstumsprognose des IWF von 3,3 Prozent für 2010. Das ist ein Anstieg um 1,9 Prozentpunkte, nämlich von 1,4 auf 3,3 Prozent. Über diese schönen Zahlen können wir uns alle freuen. ({0}) Nun gilt es, dem Fachkräftemangel mit einem breiten Ansatz zu begegnen, um unsere Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit einerseits und Wachstum und Wohlstand andererseits nachhaltig zu sichern. Diese Herausforderung ist vorwiegend eine Querschnittsaufgabe, bei der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zusammenwirken müssen. Aber auch Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Problematik ernst nehmen und frühzeitig bei der Entwicklung von Handlungskonzepten mitwirken. ({1}) Der Fachkräftemangel wird schon allein aufgrund seiner demografischen Dimension alle Wirtschaftsbereiche betreffen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass selbst Großunternehmen wie die Deutsche Telekom bereits heute Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern zu besetzen, wird deutlich, wie ernst die Lage schon heute ist. In den nächsten zehn Jahren werden 6,5 Millionen Personen mit abgeschlossener Lehre das Rentenalter erreichen. Zwischen 2020 und 2030 werden es sogar 8,4 Millionen sein. Gerade im Bereich der Facharbeiter werden wir es also mit einem gravierenden Mangel an entsprechend Qualifizierten zu tun bekommen. Auf dem Ausbildungsmarkt werden die Azubis rar. Vor allem ostdeutsche Ausbildungsunternehmen suchen händeringend nach Azubis. Da liegt der Gedanke nahe, sich in der Tschechischen Republik oder Polen nach motivierten jungen Interessenten umzusehen. Im Juli 2010 fehlten in Deutschland 36 800 Ingenieure. Der Fehlbedarf wird in den nächsten Jahren noch drastisch steigen. Der Aufschwung wird die Nachfrage weiter verstärken. Eine solide Wirtschaftspolitik muss auf dieses Problem aufmerksam machen. Sie darf sich pragmatischen Lösungsansätzen nicht verschließen. So verwundert es nicht, dass Rainer Brüderle jüngst die Zuwanderungsdebatte angestoßen hat. ({2}) In dem heute zur Debatte stehenden Antrag haben die Koalitionsfraktionen einen wesentlichen Aspekt zur Milderung des Fachkräftemangels aufgegriffen: die Anerkennung ausländischer Bildungsleistungen. Wir nutzen noch zu wenig Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt und unsere Gesellschaft. Derlei Vergeudung können wir uns als Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht mehr leisten. ({3}) Überschriften wie „Putzen trotz Promotion“ in der Financial Times Deutschland Anfang dieses Monats möchte ich möglichst nicht mehr lesen. FDP und Union sind überzeugt, dass der beste Weg zu erfolgreicher Integration über die Teilhabe am Arbeitsmarkt und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung führt. Wenn zugewanderte Ingenieure Taxi fahren oder sogar auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, ist das einerseits für den Betroffenen frustrierend. Die Gesellschaft hat andererseits gleich den doppelten Schaden: ein unglückliches Mitglied sowie entgangene Steuern und Abgaben. Wir wollen für Zuwanderer einen Rechtsanspruch auf eine Bewertung ihrer im Ausland erworbenen Abschlüsse schaffen. Die Regelungen für das Bewertungsund Anerkennungsverfahren wollen wir vereinfachen und das Verfahren selbst - wir halten eine Frist von sechs Monaten für angemessen; Herr Schulz hat das bereits angesprochen - beschleunigen. Beim Verfahren ist uns insbesondere die Transparenz ein wichtiges Anliegen. Zuwanderer sollen möglichst schon in ihrem Heimatland Zugang zu Informationen über das Bewertungsund Anerkennungsverfahren betreffend ihren Bildungsabschluss in Deutschland haben. In diese Informationsanstrengungen wollen wir die deutschen Auslandsvertretungen, die Außenhandelskammern und die GoetheInstitute natürlich einbeziehen. Mit dem heutigen Antrag machen wir einen weiteren wichtigen Aufschlag, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Mit den Bildungsketten kümmern wir uns bereits um bessere Ausbildungschancen für junge Menschen, indem wir bestehende Förderinstrumente zusammenführen und dann in die Fläche tragen. Sie sind ein wesentlicher Baustein bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels. Noch in diesem Monat werden wir den außerordentlich erfolgreichen Ausbildungspakt mit einer qualitativen Aufwertung verlängern. Integration gelingt über Teilhabe und Einbindung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Sozialhilfekarrieren zementieren Differenzen, weil sie Abhängigkeit und Abgeschiedenheit zementieren. Deswegen kann es nicht richtig sein, unser Sozialsicherungssystem über das jetzige Maß auszuweiten. Nein, wir müssen die Wege in die Arbeit erleichtern und durch entsprechende Bildungsangebote begünstigen. ({4}) Eine kluge und zugleich aktive Zuwanderungspolitik müssen wir zeitnah auf den Weg bringen. Der mit dem demografischen Wandel Hand in Hand gehende Fachkräftemangel gibt uns hier klare Leitlinien. Wir brauchen ein modernes Recht, das Zuwanderung über transparente Kriterien wie Qualifikation, Integrationsfähigkeit und Bedarf steuert. Mit der Anerkennung ausländischer Bildungsleistungen schaffen wir eine wichtige Voraussetzung für die Zuwanderung von Hochqualifizierten. ({5}) Sie sehen: Diese Koalition packt die Herausforderungen und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft an. Die drei Punkte aus der Überschrift des Koalitionsvertrages sind dabei der Kompass: Wachstum sehen alle Wirtschaftsforschungsinstitute. Bildung bringen wir durch unsere zahlreichen Initiativen wie die heute vorgestellte und den größten Mittelaufwuchs in der Geschichte richtig voran. Zusammenhalt erreichen wir durch echte Teilhabe und Mitwirkungsmöglichkeiten zum Beispiel für Migranten. Ich lade Sie ein: Machen Sie doch bitte mit! Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Agnes Alpers. ({0})

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Schon lange versprochen und doch noch immer nicht in Sicht! Herr Kollege, wir nehmen die Einladung gern an, wenn der Gesetzentwurf nur endlich käme und das Ganze nicht dahinschleichen würde. Vielen Dank. ({0}) Sie reden immer vom Fachkräftemangel. Aber die Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen kriecht und siecht dahin und liegt eigentlich noch immer auf Eis. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, haben nun einen Antrag vorgelegt, der schon erahnen lässt, welche Gruppe beim Thema Anerkennung besonders in den Fokus gerät, Ihnen am Herzen liegt. Das sind die Akademikerinnen und Akademiker, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben. Ich war erstaunt, wie schnell Sie die Migrantinnen und Migranten unter den Tisch fallen lassen, die keinen akademischen, sondern „nur“ einen schulischen oder beruflichen Abschluss haben. Diese werden immer nur am Rand erwähnt. Damit ignorieren Sie auf einen Schlag über 2 Millionen Menschen, die ihren Bildungsabschluss im Ausland erworben und sich inzwischen zusätzliche Qualifikationen angeeignet haben. Das alles zeigt für mich eines: Es geht Ihnen gar nicht darum, alle Migrantinnen und Migranten mit ihren beruflichen Kompetenzen und Leistungen anzuerkennen. Sie wollen lediglich - ich zitiere aus Ihrem Antrag „eine bedarfsorientierte Arbeitsmarktintegration“. Von Integration zu sprechen und dann nur scharf auf die verwertbaren akademischen Qualifikationen zu sein, das hat nichts mit Integration zu tun. ({1}) Die Bundesregierung grenzt die Gruppe der Berechtigten noch weiter ein. Sie ignoriert im Achten Ausländerbericht einfach die Gruppe der über 55-Jährigen. Auch Bildungsabschlüsse, die vor mehr als zehn Jahren erworben wurden, sind nutzlos bei der Anerkennung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt etliche Abgeordnete, die schon über zehn Jahre hier im Parlament sind. Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie bekämen morgen die Mitteilung, dass all ihre Berufsabschlüsse nicht mehr gelten. Na, da hätten wir richtig Stimmung im Parlament. ({2}) Ich kann nur feststellen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP: Sie sind nicht bei den Sorgen und Nöten der Menschen angekommen. In Ihrem Antrag ist zu lesen, dass Sie die Kriterien zur Bewertung bundeseinheitlich regeln wollen. Aber wie sieht es denn mit den Gesetzen zur Anerkennung aus? Für jeden gilt etwas anderes. Wir haben insgesamt weit über 100 Gesetze in den Ländern und im Bund. Wie soll die Anerkennung denn nun geregelt werden: bundeseinheitlich oder wieder in Stufen für EU-Bürger, Aussiedler und Bürger aus Drittstaaten? Und was ist mit den Asylbewerbern? Welche Stellen bewerten denn ihre beruflichen Abschlüsse? Wie genau wird die Nachqualifizierung geregelt, und wer ist dafür zuständig? - Fragen über Fragen. Zu diesen Fragen sagen Sie allerdings nichts in Ihrem Antrag. ({3}) - Ich habe ihn ausdrücklich drei Mal gelesen. ({4}) All die wichtigen Fragen, die ungeklärt sind, die wir auch im Fachgespräch mit Ihnen nicht haben klären können, nehmen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Ich glaube, Herr Kollege, Sie sollten mal Ihren Antrag lesen. ({5}) - Es ist kein Gesetzentwurf. Den haben Sie aber schon vor einem halben Jahr versprochen. Bei dem Antrag der Grünen frage ich mich: Warum lassen Sie sich auf die Diskussion dieser Damen und Herren ein? Es geht hier doch insgesamt nicht um die Verwertung auf dem Arbeitsmarkt, sondern um die Anerkennung von Menschen und ihrer beruflichen Abschlüsse. So eine Schieflage in der Debatte lehnen wir als Linke ab. ({6}) Die Linke hat 2007 das Thema „Anerkennung“ als Erste eingebracht. Wir wollen ein Anerkennungsgesetz für alle - egal ob Akademiker oder Handwerker. Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Anerkennung und Nachqualifizierung mit einer Verfahrensdauer von maximal drei Monaten. Meine Damen und Herren, Migrantinnen und Migranten brauchen endlich berufliche Perspektiven. Aus unserer Sicht haben alle Menschen ein Recht, als Person anerkannt zu sein. Ansonsten bleibt Ihr Gerede über Integration nicht mehr als eine hohle Phrase. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Krista Sager ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer Integrationsbereitschaft von Migrantinnen und Migranten einfordert und den demografisch bedingten Fachkräftemangel beklagt, der muss in der Tat dringend etwas tun, damit das Anerkennungswesen für im Ausland erworbene Qualifikationen und Bildungsabschlüsse in Deutschland verbessert wird. ({0}) Wir haben hier gravierende Defizite, und das ist seit langem bekannt. Hunderttausende Menschen arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus oder sind sogar arbeitslos, nicht zuletzt wegen Defiziten im deutschen Anerkennungswesen. Nur: Das wurde schon auf dem Bildungsgipfel 2008 gemeinsam festgestellt; das ist inzwischen zwei Jahre her. Wir sind in Worten weitergekommen, aber leider nicht in Taten. Die grüne Fraktion hat schon Anfang der Legislaturperiode einen Antrag mit konkreten Vorschlägen eingeKrista Sager bracht, die SPD und die Linke ebenfalls. Das alles liegt vor. Die Bundesregierung hat vor über einem Jahr Eckpunkte vorgelegt, mit denen sie im Wesentlichen - da hat der Kollege Swen Schulz vollkommen recht - die Vorschläge und Ankündigungen der Vorgängerregierung wiederholt hat. Was ist seitdem passiert? Im Grunde nichts! Angekündigt war eine gesetzliche Regelung zum Jahreswechsel 2010/2011. Ich habe erhebliche Bedenken, dass die Bundesregierung eine solche Regelung zustande bringt. ({1}) Ich glaube, ich bin hier nicht die Einzige, die diese Bedenken hat. Erst hieß es, der Gesetzentwurf solle im Sommer kommen; dann hieß es, Ende der Sommerpause. Jetzt heißt es, Mitte Oktober werde ein Referentenentwurf vorgelegt. Ein Referentenentwurf ist allerdings noch kein Gesetzentwurf im Parlament. Ich habe den Eindruck, dass auch Ihnen jetzt langsam mulmig wird. Welchen Sinn hat denn sonst Ihr Antrag? Er enthält keinen einzigen neuen Gedanken, Herr Weinberg; inhaltlich kommen wir mit ihm keinen Schritt weiter. Wenn dieser Antrag nicht nur ein Pausenfüller sein soll, weil von der Regierung nichts kommt, dann hat er offensichtlich den Zweck, Druck auf die Regierung auszuüben. Herr Kamp, es ist schon etwas merkwürdig, dass Sie meinen, es sei nötig, die Regierung aufzufordern, etwas zu tun, obwohl sie selber sagt, sie arbeite daran ganz intensiv. ({2}) Es geht offensichtlich darum, dass auch Sie meinen, man müsse die Regierung jetzt einmal ein bisschen unter Druck setzen und ihr auf die Sprünge helfen. Herr Braun, dieses Vorhaben ist in unserem föderalen System nicht gerade ein leichtes Vorhaben. Das weiß auch hier inzwischen jeder. ({3}) Aber was ich bedauerlich finde, ist, dass in Ihrem Antrag überhaupt keine Hinweise zu finden sind, wie Sie die kniffligen Fragen, die wir auch in einem Fachgespräch im Ausschuss behandelt haben, eigentlich beantwortet haben möchten. Wie schaffen wir es, dass eine Bewertung bundesweit Anerkennung findet? Oder wie schaffen wir es, dass es nicht nur einen Rechtsanspruch gibt, sondern auch Beratung, Information, Bewertung und Qualifizierungsanschlussangebote? Ohne all das werden wir nämlich weiter ganz viele Potenziale verlieren. Vielen ist nicht nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Verfahren geholfen; vielmehr brauchen sie eben auch Qualifizierungsangebote. In einer Hinsicht bin ich gegenüber dem, was Sie wollen, sehr skeptisch: Auch Sie halten nach wie vor an dem Gedanken fest, dass man im Wesentlichen Dokumente formal abgleicht, dass man sich im Wesentlichen auf den Vergleich von Ausbildungswegen und ihrer Gleichartigkeit konzentriert. Darum kann es aber nicht gehen, sondern es geht um die Betrachtung des individuellen Kompetenzprofils. ({4}) Bei einem anderen Ansatz werden wir die Integration in den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt muss wirklich im Vordergrund stehen. Wenn das durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht geschieht, dann werden wir weiter Bildungsressourcen vergeuden und vielen Menschen in diesem Land mit guten Voraussetzungen nicht gerecht werden können. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herausforderungen, vor denen wir in unserem Land stehen, sind allgemein bekannt, und sie sind hier auch benannt worden. Der sich abzeichnende Wandel in der demografischen Entwicklung führt zunehmend zu einem Fachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt sagt uns, dass das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis zum Jahr 2030 wegen des Geburtenrückgangs um über 6 Millionen zurückgeht. Schon heute fehlen 36 000 Ingenieure und 43 000 ITFachkräfte, also Computerfachleute. Gleichzeitig wissen wir, dass allein rund 300 000 zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker ihr Wissen und ihre Kompetenz in unserem Land einbringen wollen; aber ihre ausländischen Hochschulabschlüsse werden in Deutschland nicht oder nur mit großer Verzögerung anerkannt. Deshalb müssen wir trotz der Komplexität der Aufgabe alles tun, damit wir zügig gemeinsam mit den Ländern bundesweit nachvollziehbare und verbindliche Bewertungskriterien schaffen. Das gilt für Akademiker und auch für alle anderen Berufsgruppen. ({0}) Wie komplex das in Deutschland ist, zeigt sich - auch Frau Sager hat es schon angesprochen - allein darin, dass die Gesetzgebungszuständigkeit je nach Beruf beim Bund oder bei den Ländern liegt, dass hingegen die Anerkennungsverfahren immer von Länderstellen, also Behörden, Kammern oder beauftragten Stellen, durchgeführt werden. Wenn Sie, Herr Kollege Schulz, so unendlich traurig sind, dass die christlich-liberale Koalition es innerhalb eines Jahres noch nicht geschafft hat, die Probleme, die ich eben benannt habe, zu lösen, dann muss man hier immer wieder darauf hinweisen, dass Sie elf Jahre mit in der Regierungsverantwortung waren. Sieben Jahre haben Sie ohne die böse CDU regiert, die an allem schuld ist. Wenn Sie das alles so beklagen, wie Sie es hier getan haben, ({1}) frage ich mich schon, warum Sie sieben Jahre gar nichts auf den Weg gebracht haben. Wir packen es an, Herr Schulz! ({2}) Wie viele Abstimmungsprozesse und wie viel Zeit es erfordert, wenn unterschiedliche Stellen bzw. verschiedene Ebenen sich einigen müssen, zeigen uns die Erfahrungen mit diesem Thema in der Europäischen Union. Es hat Jahre gedauert, sich auf europäischer Ebene über die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu einigen, und dabei ging es ausschließlich um die Anerkennung von Berufsqualifikationen, die in den inzwischen 27 Mitgliedstaaten erworben werden. Das lag weder am Unwillen noch am Phlegma der beteiligten Fraktionen oder der Mitgliedstaaten; vielmehr lag es an den früher sehr schwer vergleichbaren Studien- und Ausbildungsgängen. Der Durchbruch im Jahr 2005, von dem wir bereits jetzt alle zehren, gelang im Wesentlichen, weil es inzwischen zu einer weitgehenden Harmonisierung der Ausbildungen in der Europäischen Union gekommen ist. Es sollte allen Bildungspolitikern klar sein, dass es noch weitaus schwieriger ist, weltweit erworbene Abschlüsse mit unseren nationalen Qualitätsstandards zu vergleichen und Anerkennungskriterien zu schaffen. ({3}) Denn diese Kriterien müssen - auch das gehört zur Lösung dieser Aufgabe - das Qualitätsniveau deutscher Abschlüsse erfüllen; denn mit Recht weisen Gewerkschaften und Arbeitnehmer darauf hin, dass sonst unsere hohen Standards unterlaufen werden. ({4}) Im Bereich der Hochqualifizierten hat die Europäische Union unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands in den letzten beiden Jahren entscheidend zu einer Lösung beigetragen. Die Einigung auf europäischer Ebene hat zu einem Ergebnis geführt, auf das wir jetzt zurückgreifen können: Mit der Entscheidung für eine europäische Bluecard sind einvernehmlich Kriterien für Hochqualifizierte festgelegt worden. Diese Richtlinie befindet sich derzeit in der Phase der Umsetzung in deutsches Recht. Entsprechend der Bluecard gilt als hochqualifiziert, wer einen Hochschulabschluss nach mindestens dreijährigem Hochschulstudium an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule in dem betreffenden Staat erworben hat. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, mit dem Nachweis einer mindestens fünfjährigen einschlägigen Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulabschluss vergleichbar ist, als Hochqualifizierter anerkannt zu werden. Deshalb können wir heute mit Fug und Recht sagen, dass nicht nur wichtige Vorarbeiten für eine zukünftige Zuwanderung geleistet wurden, sondern gleichzeitig Kriterien geschaffen wurden, die es der Bundesregierung ermöglichen, zügig das umzusetzen, was wir in unserem Antrag „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen Fachkräftepotentiale ausschöpfen“ fordern. Die Punkte sind alle bereits von meinen Vorrednern genannt worden; darum erspare ich mir, sie noch einmal aufzuzählen. Ich möchte aber festhalten, dass wir mit der Umsetzung dieser Forderungen sowohl dafür sorgen, dass die Potenziale der zum Teil gut qualifizierten Migrantinnen und Migranten in unserem Land gewürdigt werden, als auch dafür, dass den Migrantinnen und Migranten in Zukunft die Möglichkeit gegeben wird, sich hier mit ihrem Können und ihren Fähigkeiten einzubringen. ({5}) Denn fest steht: Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist immer noch der beste und effektivste Weg der Integration, und sie stellt gleichzeitig auch die gesellschaftliche Anerkennung dar, die sich jeder von uns wünscht. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3048 und 17/3198 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sicherung und Bewahrung der Wandbilder von Prof. Ronald Paris und Prof. Walter Womacka in Berlin - Drucksache 17/2020 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Konzept für die Bewahrung kulturhistorisch bedeutsamer Kunst am Bau der jüngeren Zeit entwickeln - Drucksache 17/3186 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke. ({2})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag verlieren wir Kunstwerke von hohem Rang, Zeugnisse der jüngeren Kunstgeschichte durch Abriss, durch Neubauten und durch Privatisierungen öffentlicher Gebäude. Das ist ein generelles, bundesweites Problem, betrifft in den neuen Bundesländern und in Berlin aber insbesondere das künstlerische Erbe der DDR. Aktuelles Beispiel für den Umgang mit diesem Erbe sind die Preisgabe des Wandgemäldes Lob des Kommunismus von Ronald Paris im ehemaligen Zentralamt für Statistik der DDR und des Emaillewandbildes Der Mensch, das Maß aller Dinge am ehemaligen Bauministerium der DDR von Walter Womacka aus der öffentlichen Hand. Welch trauriges Zusammentreffen: Walter Womacka ist heute in Berlin beerdigt worden, ganz in der Nähe von Käthe Kollwitz. Wie und wo sein Kunstwerk in Berlin wieder einen Platz finden wird, trieb ihn um, bis zuletzt. Das ehemalige Bauministerium und das ehemalige Zentralamt befinden sich im Besitz des Bundes und wurden für viel Geld veräußert. Die bundeseigenen Kunstwerke wurden im Internet feilgeboten. Die Kosten für die Abnahme mussten die Käufer tragen. Wieso der Bund die Käufer seiner Immobilien nicht verpflichtete, die Kunstwerke angemessen in die Neubauten zu integrieren, ist nicht zu verstehen und nicht zu billigen. ({0}) Aufgrund unserer Initiativen wurde versucht, Bundesund Landeseinrichtungen zur Übernahme zu bewegen vergeblich. Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche Hand zu sichern. Sie wurden durch private Initiative - wohlgemerkt: private Initiative - jetzt gerettet und so nicht zerstört. Ich finde es großartig, dass übermorgen das Bild von Ronald Paris im DDR-Museum in Berlin zu sehen sein wird. Aber für die Zukunft ist ein Bild im Privatbesitz nie gesichert. Der Eigentümer kann es ausstellen oder nicht, kann es verkaufen oder nicht. Von einem bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz und mit dem künstlerischen Erbe der DDR kann in diesen Fällen jedenfalls keine Rede sein. ({1}) Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept für den Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz, der sich in Gebäuden befindet, die ihren Zweck verlieren, umgewidmet oder privatisiert werden, und das im 20. Jahr der deutschen Einheit. Wo sind eigentlich die großen Bilder von Tübke, Heisig, Mattheuer, Sitte und auch Womacka, die im Palast der Republik hingen? Eingelagert, irgendwo, heißt es. Sie sind unsichtbar geworden, nirgends und für niemanden zu sehen. Darf man das Abwertung der DDRKunst nennen oder nicht? ({2}) Eine Übersicht über das Verlorene gibt es im Westen wie im Osten bisher genauso wenig wie über die derzeit gefährdeten Werke. Was fehlt, ist eine flächendeckende, interdisziplinär vernetzte Recherche. Für die zu erstellende Bestandsübersicht der nach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke müssten Kriterien zur Systematisierung des Bestandes und seiner Bewertung unter historischen, sozialen wie künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten entwickelt werden. Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass die kulturelle Substanz im Ostteil Berlins und in den neuen Bundesländern keinen Schaden nimmt. Die Kunstwerke von Womacka und Paris befanden sich im Ostteil Berlins. Die gesamtdeutsche Bewahrung und Sicherung von baugebundener Kunst ist Teil politischer und kultureller Bildung und wichtig für die nächsten Generationen. ({3}) Ganz besondere Verantwortung hat der Bund in jenen Fällen, in denen die Kunstwerke Bestandteil seines Immobilienbesitzes sind. Dieser Verantwortung muss der Bund auch durch die Übernahme der Kosten für die Pflege und Sicherung der Kunstwerke gerecht werden. Geschichtsbewusstsein ist eine Aufgabe und Kulturbewusstsein dazu. Deshalb stellen wir unsere beiden Anträge, den bedeutenden Schatz der Bau-Kunst in Bundesbesitz zu sichern und zu katalogisieren. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Danke schön. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Monika Grütters für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Jochimsen, Sie haben uns ja den Weg der Wandbilder von Ronald Paris und Walter Womacka dargelegt. Ich bin zumindest froh, dass für beide jetzt erst einmal eine Bleibe gefunden ist. Das Bild von Womacka soll in einem neuen Gebäude der entsprechenden Wohnungsbaugesellschaft - er war lange Mieter dort - unterkommen. Ich gebe Ihnen aber in einem Punkt recht: Wir müssen - das zeigen diese zwei Beispiele - grundsätzlich, also gerade unabhängig von diesen beiden Fällen, Antworten finden auf die Frage nach dem Umgang mit der Kunst am Bau, wenn es ebendiesen Bau einmal nicht mehr gibt. Interessanterweise sind dafür bislang in den einschlägigen Richtlinien kaum Hinweise zu finden. Ich habe jetzt auch noch einmal mit dem Kunstbeauftragten des Bundestages, Herrn Kaernbach, sehr intensiv danach recherchiert. Ich finde nur - insofern greift Ihr Antrag auch zu kurz -, dass das beileibe nicht nur die DDRKunst betrifft. Aber noch einmal zu den konkreten Fällen, weil Sie ja auch den Vorwurf erhoben haben, der Bund habe sich nicht anständig oder korrekt oder verantwortungsbewusst genug verhalten: Sie haben recht, bei beiden Wandgemälden handelt es sich um Zeugnisse der Kunstgeschichte, sowohl das Wandgemälde Der Mensch, das Maß aller Dinge von Womacka als auch das Wandgemälde Lob des Kommunismus von Ronald Paris. Darüber muss man sich jetzt hier nicht in der Sache streiten. Beide Künstler sind über die Grenzen der DDR hinaus bekannt und auch anerkannt. Beide Künstler haben die bildende Kunst der DDR durchaus wesentlich mitgeprägt. Beide Kunstwerke befinden sich an bzw. in Gebäuden, die jetzt abgerissen werden sollen und von denen eines in der Tat dem Bund gehört, und in beiden Fällen waren zum Erhalt der Wandgemälde deren Ausbau und Verbringung an einen neuen Standort erforderlich. Bevor der Bund diese Kunstwerke dann im Internet angeboten hat, hat er alle einschlägigen Museen gefragt. Involviert war übrigens eine Kommission, die sehr hochrangig besetzt war - das wissen Sie auch -: Es waren die Förderkommission Bildende Kunst, die Stiftung Stadtmuseum, die Berlinische Galerie, die Senatskanzlei Berlin und das Deutsche Historische Museum an diesem Prozess beteiligt. Das zeigt, dass der Bund nicht verantwortungslos, wie Sie sagen, damit umgegangen ist, sondern es handelte sich um ein, wie ich finde, durchaus sehr verantwortungsbewusstes Verfahren. ({0}) Wir zumindest können den Museen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie dafür keine Verwendung haben, weil die Restaurierung und Einlagerung natürlich auch kostenaufwendig ist. So wie man das den Museen nicht vorwerfen kann, darf die Politik die Museen auch nicht dazu zwingen. ({1}) Ganz abgesehen davon, dass es dafür auch keine entsprechende Handhabe gibt. Ihr Vorschlag, Frau Jochimsen, dass die Kunstwerke dann eben am neuen Gebäude angebracht werden müssten, würde, wie ich finde, einer Vergewaltigung der Architekten, die das neue Gebäude planen, gleichkommen. Das darf man denen nicht aufzwingen. ({2}) Das ist also ein nicht handhabbarer Vorschlag. Ich will aber nicht leugnen, dass hier das Dilemma deutlich wird, dass es für derartige Fälle keine einschlägigen Richtlinien gibt, weil die öffentliche Hand offensichtlich bisher davon ausgegangen ist, dass es solche Fälle selten oder gar nicht geben würde. Dabei gibt es die institutionalisierte Kunst am Bau bereits seit der Weimarer Republik. Auch damals lag der Anteil an der Bausumme bei 1, 2 oder 2,5 Prozent. 1993 sollte die Maßnahme ganz abgeschafft werden. Das haben wir verhindert. Ich muss einmal sagen: Der Bundestag benimmt sich, was das angeht, vorbildlich. Im Reichstagsgebäude wurden 3 Prozent der Bausumme für Kunst am Bau ausgegeben; bei den anderen Parlamentsbauten waren es 2 Prozent. Wir müssen uns nicht verstecken. Ähnliche Vorgänge wie den eben beschriebenen hat es hier aber auch schon gegeben, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Sgraffito von Carl-Heinz Kliemann an der Wand des Reichstagsgebäudes, das dem Umbau durch Foster weichen musste. Da hat der Urheberrechtsgrundsatz gegolten: Zerstören darf man, wenn das Gebäude - es war an einer Wand, die abgerissen wurde - nicht mehr da ist. Aber man darf es nicht verändern, wenn die Architektur als Bezugsrahmen verschwunden ist. Allerdings gilt hier - wie überall - auch der Grundsatz: Rückgabe vor Zerstörung. Das Urheberrecht sieht zu Recht vor, von der Dauer des Kunstwerkes auszugehen, aber nicht von der Dauer des Gebäudes. Ich finde, in solch einem Fall kann das Kunstwerk, selbst wenn es abgenommen wird und in einem anderen Kontext, vielleicht irgendwann in einer Ausstellung, und sei es nur zeitweise, wieder auftaucht, Erzähler einer Geschichte sein, zum Beispiel einer Geschichte des Verlustes. So geschah es mit der Arbeit Kosmos 70 von Bernhard Heiliger, die im Westeingang des Reichstagsgebäudes hing. Künftig wird sie im neuen Eingang des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hängen. Daran sieht man, dass es sich lohnt, immer in eine Einzelfallprüfung einzutreten. Sie heben zuallererst auf die Kunst aus der DDR-Zeit ab. Dazu muss ich sagen: Ja, hier besteht eine besondere Notwendigkeit, weil auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mehr neu gebaut und damit mehr abgerissen wird. Aber es ist natürlich nicht nur ein Problem dieses Segments. Deshalb finde ich, dass wir uns an die Grundsätze halten sollten, die die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland niedergeschrieben hat. Dort heißt es: Inventarisation ist in allen Bundesländern - es ist wohlgemerkt vor allen Dingen Sache der Bundesländer gesetzlicher Auftrag der staatlichen Denkmalpflege. … Inventarisation ist Grundlage jeden denkmalpflegerischen Handelns. … Denkmäler ({3}) sind alle Objekte, die im eigentlichen Sinn des Begriffs einer Erinnerung wert sind und deren Erhaltung und Pflege im öffentlichen Interesse liegen. … Es werden also im weitesten Sinn materielle Zeugnisse menschlichen Lebens erfasst, die nicht notwendig - das muss man übrigens den Kollegen auch einmal sagen ästhetische Qualität haben müssen. Auch mit negativen Erinnerungen besetzte Objekte, wie solche der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, gehören in die Reihe der zu bewahrenden Überlieferungen. Ausschlaggebend ist ihre in der Geschichte verankerte Bedeutung. Die Denkmaleigenschaft ist damit nicht von einem festgelegten Mindestalter des Objekts abhängig. So schreibt es die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger. Es ist also meines Erachtens nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll, Kunst am Bau aus 40 Jahren DDR zu dokumentieren und - das ist vom Denkmalschutz im großen Stil gemacht worden - zu katalogisieren. Es gibt einschlägige Veröffentlichungen und Publikationen wie das Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler und das Buch Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR. Sie haben zu Recht Art. 35 des Einigungsvertrages zitiert. Ich finde, das gehört durchaus hierhin. Daraus kann man aber meines Erachtens nicht - wie Sie es machen eine generelle Verantwortung des Bundes oder gar eine Zuständigkeit des Bundes ableiten. Sie haben die Fälle, in denen der Bund die Zuständigkeit haben soll, auf jene Fälle beschränkt, in denen der Bund Gebäudeeigentümer ist. Ich meine, hier muss man die Länder, die sonst überall ihre föderalistische Hoheit bei diesen Themen verteidigen, heranziehen. Das wiederum bedeutet Freiheit, aber auch Verantwortung. ({4}) Der Bund hat in den letzten 20 Jahren weit über die Grenzen der Zuständigkeit im Föderalismus hinaus viel für die Aufarbeitung und Bewahrung der Denkmäler in der ehemaligen DDR getan: restaurierte Altstädte, Museen, Bibliotheken, Theater und Opernhäuser. Es wäre also falsch, hier den Bund anzuprangern. ({5}) Generell, Frau Jochimsen, gilt außerdem: Wenn wir die Kunst der DDR musealisieren, ist das eine komplexe Aufgabe, an der nicht nur die Länder zu beteiligen sind. Es muss aber um mehr gehen als nur um die Erfassung. Sie kann nur mit dem Ziel durchgeführt werden, geeignete Vermittlungskonzepte zu entwickeln. Heute gibt es das DDR-System zum Glück nicht mehr. Umso mehr müssen wir darauf aufpassen, dass wir Auftragskunst - die offiziellen Kunstwerke - angemessen interpretieren und sie in der Retrospektive nicht verharmlosen oder verniedlichen. Deshalb finde ich, dass sie heute nicht in den Kontext anderer Bauten gehören. Man sollte das nicht ins Nostalgische schieben. Schließlich haben sich allzu viele Künstler vor ästhetischer Doktrin, auch vor der des sozialistischen Realismus, in die Abstraktion, manche in die innere Immigration geflüchtet. Viele durften nicht weiterarbeiten. Ich finde, das gehört auf jeden Fall auch in diesen Kontext. Das spricht gegen eine simple Verschiebung vom Gestern ins Heute. ({6}) Die Denkmalpflege hat genau zu diesem Zweck einen Kriterienkatalog entwickelt, der im Wesentlichen zwischen einem ästhetischen und einem historischen Wert differenziert. Das Sammeln ist mit Kosten verbunden. Schließlich geht es nicht nur um eine einmalige Aktion, sondern um Restaurierung, Aufbewahrung und wissenschaftliche Bearbeitung. Diese Einordnung des Wertes und der materiellen wie immateriellen Bewertung, finde ich, sollten wir den Fachleuten überlassen. Einen generellen Rahmen - auch das muss ich feststellen - müssen wir in der Politik aber einmal beschreiben. Frau Kollegin, über die zwei genannten Einzelwerke - dazu haben Sie Ihren ersten Antrag eingebracht - sollten und brauchen wir nicht mehr abzustimmen, auch wenn es privaten Initiativen zu verdanken ist, dass die beiden Arbeiten eine Bleibe gefunden haben. Sie haben auf ein generelles Desiderat hingewiesen: dass es kaum Richtlinien für den Verbleib auch öffentlich geförderter Kunst am Bau gibt. Die Beispiele zeigen: Das kann so nicht bleiben, selbst wenn bisher dabei vor allem Urheberrechtsrichtlinien oder der Denkmalschutz im Einzelfall erfolgreich angewendet wurden. Eine Verpflichtung zum Handeln liegt aber ganz sicher nicht nur beim Bund, und die Problematik gilt sicher nicht nur für die Kunst der ehemaligen DDR. Deshalb finde ich, dass Ihr zweiter Antrag zu kurz greift. Wenn wir das genereller beschreiben, füllen die von Ihnen beklagten Tatbestände auf jeden Fall einen größeren Rahmen. Im Geiste des Einigungsvertrages - jetzt ist die richtige Stunde, um darauf hinzuweisen - gilt für uns alle: In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Jochimsen, ich fürchte, ich werde zu Ihren Anträgen etwas kritischer sein müssen als die Kollegin Grütters. Das liegt vermutlich daran, dass ich die DDRKunst wirklich erlebt und erlitten habe und mich deswegen an vieles erinnere. Ihr erster Antrag, der Antrag zu den Wandbildern von Ronald Paris und Walter Womacka, ist, wie schon gesagt, in bestimmter Weise bereits erledigt; ({0}) denn das Lob des Kommunismus von Ronald Paris wurde vom privaten DDR-Museum übernommen. Das ist ein nicht zu beanstandender Vorgang; dieses Bild wird öffentlich zugänglich bleiben. ({1}) Wenn Ihre Leidenschaft, zum Beispiel für dieses Bild, wirklich so groß gewesen wäre, wie Frau Kollegin Enkelmann das hat verlauten lassen - man solle es in den Bundestag übernehmen -, dann frage ich mich: Warum haben Sie es nicht in Ihren Fraktionssaal übernommen? ({2}) Wir hätten Sie daran nicht hindern können oder wollen. Das ist ein Beleg von Übereinstimmung von Wort und Tat. ({3}) Das Wandbild Der Mensch, das Maß aller Dinge, das ich - wenn Sie mir ein persönliches Geschmacksurteil erlauben - für nicht ganz so gewaltig halte - es ist groß, aber künstlerisch vielleicht nicht ganz so gewaltig -, ist von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mit erheblichen Kosten abgenommen, gelagert und damit zunächst einmal erhalten worden. Insofern hätten Sie den Antrag zurückziehen können, aber Sie haben noch einmal nachgelegt und das Problem sozusagen verallgemeinert. Sie fordern ein umfassendes Konzept zur Sicherung der nach 1945 geschaffenen baugebundenen Kunstwerke im öffentlichen Dienst, aber es geht Ihnen dabei vor allem um das künstlerische Erbe bezogen auf die baubezogene Kunst der DDR. Das verstehe ich. Ja, auch mit diesem Erbe sollte man behutsam und auch differenziert umgehen. Aber - wie soll ich das nennen? - sollen wir Hegel folgen: Nur weil einmal etwas gewesen ist, war es auch vernünftig? Bedeutet das, dass alles, was einmal gebaut oder geschaffen wurde, dauerhaft erhalten bleiben muss? Ich zögere, diesem Grundsatz zu folgen. Nein, nicht jedes Kunstwerk muss unter Denkmalschutz gestellt werden. ({4}) Wir müssen immer wieder neu und am konkreten Objekt über die Denkmalwürdigkeit, also den historischen Dokumentationscharakter, einerseits und die künstlerische, ästhetische Qualität andererseits streiten und dann entscheiden. ({5}) Es geht um Kunst am Bau, und nicht um die allgemeine bildende Kunst. Kunst am Bau ist immer Auftragskunst, zumal in der DDR. Sie ist also in besonderer Weise historischer Vergänglichkeit unterworfen. Das ist ihr Schicksal. Es kann durchaus passieren, dass die Zeit über den Auftraggeber und auch über die von ihm beauftragte Kunst hinweggeht. Wir haben heute den 7. Oktober. In der ehemaligen DDR wurde an diesem Tag der Tag der Republik begangen. ({6}) Dieser Staat ist verloren gegangen. Wir können nicht all seine Hinterlassenschaften erhalten. Wir müssen immer wieder neu entscheiden, was wir erhalten wollen. Kunst am Bau ist immer zweckgebunden und auf den jeweiligen Raum bezogen. Wenn dieser Raum bzw. das Gebäude aus Gründen, die nicht immer des Teufels sind, wegfällt, dann ist das Schicksal baugebundener Kunst ein anderes als das von Gemälden, die im eigenen, im künstlerischen Auftrag produziert wurden. Das ist nicht nur das Schicksal von baugebundener Kunst in der ehemaligen DDR. Das gilt generell und ist daher nichts Besonderes. ({7}) Es kommt hinzu, dass in der DDR im Hinblick auf die baugebundene Kunst ein ganz praktisches Problem entstanden ist: Sie war etwas groß dimensioniert. Das Womacka-Werk misst 15 mal 6 Meter. Es wiegt 1,2 Tonnen und besteht aus 360 emaillierten Kupferplatten. Ich erwähne das nur, um klarzustellen, dass ich etwas gegen falsche Verallgemeinerungen habe. Es geht hier um ganz konkrete Probleme und ihre Lösungen. Folgende ironische Bemerkung kann ich mir deshalb nicht verkneifen: Wie wäre es denn, wenn Sie das große Kunstwerk, das Sie so schätzen, an Ihrer Parteizentrale, dem KarlLiebknecht-Haus, anbringen würden? Dann wäre es erhalten und öffentlich sichtbar. ({8}) - Eben. Sie geben mir genau die richtige Antwort. Das Gebäude, für das es einmal geschaffen worden ist, ist nicht mehr da. Deswegen entsteht das praktische Problem: Was machen wir nun damit? Wir können niemanden auf Dauer verpflichten, es zu erhalten, nur weil es einmal da war. ({9}) Ich sage es noch einmal: Nicht alles kann und muss aufgehoben und aufbewahrt werden. Es darf aber auch nicht alles beseitigt, abgerissen oder versteckt werden. ({10}) Das gilt selbstverständlich sowohl für Kunst aus der DDR als auch für Kunst aus der alten Bundesrepublik. ({11}) Wir müssen uns der Mühe unterziehen, immer wieder neu zu einer fairen und differenzierten Bewertung von Kunst - auch aus der DDR - zu kommen. ({12}) Das kann allerdings nicht von oben diktiert und gewissermaßen per Dekret durch die Bundesregierung durchgesetzt werden. Das ist unweigerlich - wie immer bei der Kunst - Aufgabe und Gegenstand der öffentlichen Debatte und des Streits. Dann muss man sich zu einigen versuchen. Wir Bundespolitiker können nicht einfach so allgemeine ästhetische Maßstäbe festlegen. ({13}) In dieser Hinsicht bin ich ein gebranntes Kind der DDR. Damals hat das Politbüro der DDR solche Dinge festgelegt. Alle naselang wurde ein zentraler Forschungs- und Publikationsplan der Gesellschaftswissenschaften verabschiedet, und zwar nicht von den Wissenschaftlern, sondern vom Politbüro. Ich habe vor solchen Dingen Angst und wünsche mir sehr - das ist mein Anliegen -, dass im Angesicht des einzelnen Kunstwerkes, vor Ort debattiert und am Schluss entschieden wird. Ich bin eher skeptisch, ob das über das hinaus, was Kollegin Grütters in Bezug auf unser Verständnis von Erbe und Dokumentationscharakter gesagt hat, gelingt. Aber wir können in dieser Sache miteinander streiten. Das wirkliche Motiv Ihres Antrags wird in der Begründung deutlich. Ich zitiere: Hintergrund für die anhaltende Zerstörung von Bauwerken und baugebundener Kunst der DDR ist die nach wie vor vorhandene Abwertung und Delegitimierung der DDR und ihrer Kunst. ({14}) Ich höre das öfters von Ihnen. Ich kann nur daran erinnern - so ist Geschichte -: Die DDR ist 1989/90 von einer Mehrheit ihrer Bevölkerung durch die friedliche Revolution und die erste freie Wahl delegitimiert worden. Das ist so. ({15}) Trotzdem weiß ich genau um den Unterschied zwischen dem System und der Kunst, die in der DDR entstanden ist. ({16}) Das ist wichtig. ({17}) Aber da gibt es einen Unterschied zu Ihnen. Sie wollen alles erhalten, während ich sage: Schauen wir genau hin; streiten wir darüber, was erhaltenswert ist, wer dafür zuständig ist und wie das verantwortet werden kann. Ich habe etwas gegen ästhetischen Zentralismus. Art. 35 des Einigungsvertrages - an den halten wir uns - spricht von der Erhaltung kultureller Substanz. Da ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel geschehen. Auf diesem Gebiet muss zwar weiterhin allerhand geschehen, aber wir müssen auch immer wieder neu darüber diskutieren, was des Erinnerns wert ist. Ich glaube nicht, dass das durch eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission definiert werden kann. Das ist ein offener Prozess des demokratischen Streits miteinander. Da gehört es hin. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute vorliegenden Anträge der Fraktion Die Linke greifen ein Thema auf, das sicherlich Emotionen hervorruft. Beim Thema Kunst liegen Zustimmung und Ablehnung, leider oftmals auch Desinteresse nah beieinander. Der öffentlichen wie der privaten Hand kommt in diesem Spannungsbogen die Aufgabe zu, besonders schützenswerte Kulturgüter über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte für die Nachwelt zu bewahren. Dabei haben Kulturgüter nicht nur ästhetische Qualitäten. Sie sind auch Objekte des historischen Gedächtnisses von Kulturräumen. Walter Womacka und Ronald Paris, um die es in dem einen Antrag geht, haben prägende Kunstwerke geschaffen. Es gibt wohl kaum jemanden, der in der DDR aufgewachsen ist und das Bild Womackas „Am Strand“ von 1962 nicht kennt. Es hing in Schulen und öffentlichen Einrichtungen, zierte Bücher und Kalender und sogar eine Briefmarke. Heute befindet es sich in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Sein Fries „Unser Leben“ am Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexanderplatz aus dem Jahr 1964 wurde nach der Wende aufwendig restauriert. Das von Ronald Paris für den ehemaligen Palast der Republik geschaffene Wandbild „Unser die Welt - trotz alledem“ aus den 70er-Jahren befindet sich heute im Deutschen Historischen Museum. Diese Beispiele zeigen, dass die Kunstwerke beider Künstler auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung in unserem Land durchaus geschätzt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie berufen sich in Ihrer Partei auf ein Erbe und damit auf eine Tradition, die mit überlieferter Kunst und Kultur oftmals nicht gerade zimperlich umging. ({0}) Schließlich ließ die Staatsführung der DDR unliebsame Kulturdenkmäler ersten Ranges vernichten, weil sie nicht in die Staatsideologie passten. ({1}) So mussten architektonisch bedeutsame Schlösser und zahlreiche Sakralbauten weichen. Die Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche sowie der Leipziger Universitätskirche, die von Martin Luther geweiht wurde, rissen Lücken in die städtebauliche Identität von Potsdam und Leipzig, die nur mit Mühe geschlossen werden konnten. ({2}) Gerade Walter Ulbricht, der Förderer Womackas, hat ohne Rücksicht auf kulturelle Belange vernichten lassen, was über Jahrhunderte bewahrt worden ist. ({3}) Gefördert wurde im Gegenzug eine Kunst und Kultur, die den Arbeiter- und Bauernstaat hochleben ließ, aber nicht die Wirklichkeit widerspiegelte. Dabei wurde auch noch versucht, die Künstler auf Linie zu bringen. Ich verweise nur auf den Bitterfelder Weg. Ihr Antrag zur Sicherung der zwei Wandbilder ist inzwischen überholt. Die Werke haben eine neue Nutzung bekommen - das steht so gut wie fest - und erhalten so eine Aufwertung. Erlauben Sie mir aber trotzdem zwei Bemerkungen dazu. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche Hand zu sichern. Ich muss fragen: Muss denn immer die öffentliche Hand alles richten? ({4}) Es ist einfach, nach dem Staat zu rufen und dessen Handeln einzufordern. Dabei ist es gerade durch das von uns Liberalen immer wieder eingeforderte bürgerschaftliche Engagement gelungen, diese Bilder zu bewahren und zukünftig einer noch prominenteren Nutzung zuzuführen. ({5}) Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ist dies eine Leistung, die gewürdigt werden muss. Ich wünsche mir mehr solch privates Engagement in allen Bereichen der Kultur. Mit Ihrem zweiten Antrag verfolgen Sie einen allgemein gehaltenen Ansatz, aber eigentlich geht es Ihnen um die Wahrung sozialistischer Kunst aus DDR-Zeiten. ({6}) Bevor ich exemplarisch drei Punkte aus Ihrem Antrag herausgreife, möchte ich darauf verweisen, dass das Bundesbauministerium bei baubezogener Kunst keinen Unterschied zwischen Ost- und Westkunst macht. ({7}) Ich komme zu den drei Punkten. Erstens. Muss der Bund eine Bestandsaufnahme aller nach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke erarbeiten und ein Rechercheprojekt auf den Weg bringen? Der Einigungsvertrag, den Sie zitieren, bindet nicht nur den Bund, sondern auch die Länder. Der Bund kann nur tätig werden, wenn ihm kraft Grundgesetzes die Kompetenz erteilt wurde. Im vorliegenden Fall sind überwiegend die Länder und Kommunen zuständig, insbesondere wenn es um Denkmalschutz geht. Denkmalschutz ist Ländersache. ({8}) Zweitens. Muss der Bund Kriterien zur Systematisierung und Bewertung des Bestands entwickeln? Auch das liegt nicht in seiner Zuständigkeit. Drittens. Muss der Bund Strategien zur Sicherung von Kunst am Bau entwerfen? Dazu verweise ich auf den Leitfaden „Kunst am Bau“, der durch das Bundesbauministerium herausgegeben wurde. Dieser verdeutlicht den baukulturellen Anspruch des Bundes als Bauherrn und verbindet diesen mit der Notwendigkeit angemessener und praktikabler Verfahren. Darin ist auch der Umgang mit Kunstwerken an Gebäuden geregelt, die vom Abriss bedroht sind. Im Übrigen gibt es unter Federführung des Bundesbauministeriums die Veranstaltungsreihe „Werkstattgespräche“, in deren Rahmen seit November 2007 an verschiedenen Orten über den Umgang mit architekturbezogener Kunst diskutiert wird. So fand in Leipzig ein Werkstattgespräch unter dem Titel „Kunst am Bau als Erbe des geteilten Deutschlands“ statt. Sie sehen, obwohl es nicht zuständig ist, nimmt sich das Bundesbauministerium dieses Themas an. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linken, über den einen oder anderen Punkt in Ihrem Antrag kann man sicherlich reden. Ich will aber darauf verweisen, dass vom Bund geförderte Einrichtungen wie das Deutsche Historische Museum schon jetzt mit der Sicherung von DDR-Kunst betraut sind. Die Aufbewahrung der Bilder des ehemaligen Palastes der Republik habe ich schon erwähnt. Über Kunst kann man trefflich streiten, nicht nur über ästhetische Fragen. Wo hört der Schutzauftrag des Staates auf, und wo muss man auf privates Engagement setzen? Ich denke, der Bund tut das in seinen Möglichkeiten Stehende zur Erhaltung und Erschließung der DDRStaatskunst. Der Bund ist jedoch nicht in der Pflicht, alle Werke zu bewahren, die von der DDR-Führung als besonders wertvoll eingestuft wurden. ({9}) Allein durch die Kosten der hier geforderten Maßnahmen würden wir die tagesaktuelle Kulturförderung gefährden. Das Geld der Steuerzahler ist endlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. ({10}) Es steht Ihnen aber frei, Ihre Forderung exemplarisch im Land Berlin umzusetzen; denn dort sind Sie schließlich Mitregierende. Danke schön. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kunst am Bau, das ist ein sperriges Thema, und darüber sprechen wir jetzt auch noch zu so später Stunde. Dabei ist es ein ganz altes Thema. Seit über 90 Jahren hat sich der öffentliche Bauherr in Deutschland verpflichtet, 1 bis 2 Prozent einer Bausumme in Kunst am Bau zu investieren. Im Rahmen der baugebundenen Kunst - das ist ein schöner Fachbegriff - sind Kunstwerke, Objekte und Skulpturen entstanden. Dabei wurde sehr viel Geld investiert. Sehr viele Objekte sind über die Historie entstanden. Dabei sind öffentliche Gelder verwendet worden. Für diese Gelder haben wir Verantwortung. Wir haben Verantwortung für die Steuergelder, die dort hineingeflossen sind, aber wir haben auch eine Verantwortung vor den Künstlern, die diese Objekte erstellt haben. Jetzt muss ich Ihnen leider sagen: Wenn ich an meinen Wahlkreis denke, fällt es mir sehr schwer, ein Beispiel für Kunst am Bau zu nennen. Mir fällt nur ein Objekt ein: ein Bergmann, vier bis fünf Meter hoch, in Fliesen an einer Wand in einem alten Rathaus. Er ist dokumentiert worden. Er fristet ein trauriges Dasein; aber er hängt dort noch. Selbst an diesem kleinen Beispiel kann ich erkennen, dass der Umgang mit Kunst am Bau sehr schwierig ist. Wir sollten an dieser Stelle vorsichtig sein und uns nicht auf eine reine DDR-West-Diskussion einlassen, ({0}) sondern wir sollten es als Ganzes betrachten. Denn wir haben auch in den anderen Bundesländern ein Erbe, das Unterstützung benötigt; dort sehen wir durchaus Bedarf. Wir haben ein historisches Erbe, das Respekt und Wertschätzung verdient. Es dokumentiert unsere Wurzeln. Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Frage geht, welchen Maßstab wir anlegen. Ich bin der Kollegin Grütters sehr dankbar dafür, dass sie sehr stark die fachliche Ebene, den Denkmalschutz, dargelegt hat, aber auch auf die Bewertung von Kunstwerken eingegangen ist. Ich glaube, dass wir heute nicht unbedingt über den ersten Antrag der Linken reden müssen; er hat sich erübrigt. Wir müssen aber über den zweiten Antrag der Linken reden, in dem eine grundsätzliche Dokumentation verlangt wird. Lassen Sie mich zuvor einen Schlenker machen und über dieses Gebäude sprechen. Gerade hier im Reichstag gibt es einige Bau- und Kunstobjekte, die ich sehr beeindruckend finde und die ich nur ungern missen würde. Jetzt sind sie aktuell. Aber wir wissen nicht, wie in 20 oder 30 Jahren über sie gedacht wird. Mit dieser Frage müssen wir uns beschäftigen und Regulative finden. ({1}) Eigentümerwechsel, die Unkenntnis der Bauherrin, aber auch die Ignoranz von Politik und Verwaltung führen in vielen Kommunalverwaltungen, Landesbauverwaltungen und Bundesbauten zum Verlust von Kunstobjekten. Wir müssen unserer Verantwortung für diese Objekte gerecht werden. Insofern muss überprüft werden, ob die Dokumentation, die bisher stattfindet, ausreichend ist. Ich verstehe den Antrag der Linken so, dass es Ihnen darum geht, dass wir über diese Frage noch einmal nachdenken sollten. Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, dass wir nicht nach Himmelsrichtung entscheiden dürfen, sondern uns grundsätzlich über das Thema „Kunst am Bau“ unterhalten müssen. Es kann nicht sein, dass Hausmeister über ein Kunstobjekt entscheiden - hop oder top -, sondern es muss katalogisiert und bewertet werden. Die Entscheidung, ob man es archiviert und für unsere Nachkommen bewahrt oder nicht, kann man, wie ich denke, ruhig Fachleuten und Künstlern überlassen. Darüber müssen nicht wir Politiker entscheiden. Das Erbe, das wir haben, ist ein relativ großes, und es ist von ganz unterschiedlicher Qualität. Aber diese Frage steht im Moment, wie ich glaube, nicht im Mittelpunkt. Im Moment geht es vor allem darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir dieses Erbe bewerten und uns genau überlegen: Was davon wollen wir erhalten und für unsere Nachkommen sichern? Dies ist ein Gedanke, den wir aufgreifen sollten. Wie wir wissen, ist das Bauministerium an diesem Thema durchaus interessiert. In den verschiedenen Werkstattgesprächen hat es in den letzten Jahren einiges bewegt. Auf diesem Weg sollte man weitergehen. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/2020 und 17/3186 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Präsident Dr. Norbert Lammert Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen - zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Todesstrafe weltweit abschaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abschaffung der Todesstrafe weltweit - Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131, 17/3181 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Angelika Graf ({1}) Annette Groth Ingrid Hönlinger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Folter bekämpfen und Folteropfer unterstützen - Drucksachen 17/2115, 17/3180 Berichterstattung: Abgeordnete Frank Heinrich Marina Schuster Annette Groth Ingrid Hönlinger Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion. ({3})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Todesstrafe gehört weltweit geächtet und abgeschafft. Denn sie negiert auf berechnende und zugleich kaltblütige Art und Weise das elementarste Menschenrecht: das Recht auf Leben. Menschliches Leid kann durch sie weder gutgemacht noch ungeschehen gemacht noch zukünftig verhindert werden. Im Gegenteil, die Todesstrafe verursacht neues Leid und offenbart ein Gesellschaftsverständnis, das wir ablehnen. Sie ist mit unseren Werten nicht vereinbar. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Iran werden Menschen zu Tode gesteinigt. Allein in den ersten zwei Monaten nach der Präsidentenwahl 2009 sind dort nach Schätzungen von Amnesty International 112 Menschen hingerichtet worden. Unter Ahmadinedschad sollen im Iran im letzten Jahr insgesamt 388 Menschen hingerichtet worden sein, auch durch grausame Steinigung. Ähnlich geschockt hat uns die Hinrichtung durch ein Erschießungskommando in den USA. Unabhängig von der Tat, unabhängig davon, ob schuldig oder gar unschuldig, und losgelöst von der martialischen Art und Weise der Vollstreckung ist für uns klar: Die Todesstrafe gehört geächtet und abgeschafft. ({1}) Auch die erbarmungslose Hinrichtung eines britischen Staatsbürgers in China hat uns zutiefst bestürzt. Ich könnte hier und heute noch viele weitere Beispiele nennen. Nach den Schätzungen von NGOs werden mehrere Tausend Personen jedes Jahr hingerichtet, wobei wir oftmals nicht davon erfahren. Auch gibt es oft keine Pressemeldung dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, worauf ich hinauswill. Anders als die Anträge der Opposition wollen wir den Schwerpunkt auf den Kern des Problems legen. Je mehr man versucht, eine Debatte durch Gesichter oder durch die Nennung von einigen Namen plakativ zu machen, desto mehr gerät man in gefährliches Fahrwasser. ({2}) Wir dürfen uns nicht den Anschein geben, als würden wir priorisieren. Wir dürfen nicht eine Debatte führen, als könnte uns ein Mensch wichtiger sein als ein anderer, der von Todesstrafe bedroht ist. ({3}) Das ist gefährlich. Deswegen habe ich einen Wunsch in Richtung Opposition: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann haben wir ein klares Signal aus diesem Haus. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminister Westerwelle hat erst am Montag bei seiner Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zur Menschenrechtspolitik gesprochen, unter anderem die Todesstrafe verurteilt und die Ablehnung deutlich gemacht. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, setzt sich ganz besonders für die Abschaffung der Todesstrafe ein. ({5}) Er hat jüngst in seinem Bericht im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe vom Menschenrechtsdialog mit China berichtet. Ein erstes kleines und positives Zeichen aus China ist die Reduzierung der Zahl von Straftatbeständen, die mit dem Tode geahndet werden können. Das gilt insbesondere für Wirtschaftsverbrechen. Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt. Da ist noch viel zu tun. ({6}) Der Kampf für die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ist und bleibt ein Kraftakt. Ein Punkt ist mir dabei wichtig: Ob ein Staat die Todesstrafe abschafft oder nicht, hängt nicht davon ab, ob er reich oder arm ist, sondern hängt allein vom politischen Willen der Verantwortlichen ab. ({7}) Daher müssen wir die politisch Verantwortlichen in unseren Gesprächen immer wieder zur Abkehr bewegen und sie von der Todesstrafe abbringen. Ich sage ganz ehrlich: Ich finde es schade, dass wir keinen interfraktionellen Antrag haben. Umso bedauerlicher ist, dass die Opposition für einen gemeinsamen Antrag die Nennung eines ganz bestimmten Namens zur Bedingung gemacht hat. ({8}) Die Herausstellung Einzelner wird der Tragweite des Unrechts nicht gerecht. Wir möchten, dass die vielen Namenlosen, die weder eine prominente Stimme noch eine große Pressewirksamkeit haben, gehört werden und zur Geltung kommen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die FDP ist klar: Das Todesstrafen- und Folterverbot muss umfassend und absolut gelten. Der Koalitionsantrag verfolgt ein wichtiges Ziel. Die Bundesregierung unternimmt im weltweiten Kampf gegen Folter und für Folterprävention bereits große Anstrengungen. So setzt sich die Bundesregierung unter anderem durch Demarchen für die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention ein. Entsprechende Erfolge werden sichtbar: Die Zahl der Ratifizierungen steigt. Das ist eine gute Nachricht, aber wir dürfen nicht lockerlassen. ({10}) Zusammen mit unserem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“, den wir im Dezember 2009 in diesem Hohen Hause beraten haben, bildet unser Antrag das Fundament für unsere Arbeit gegen Todesstrafe und Folter weltweit. Wir sind auf dem Weg. Wir halten Kurs. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Christoph Strässer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir heute eigentlich vorgenommen, mich bei diesem ernsten und wichtigen Thema nicht aufzuregen, ({0}) insbesondere nicht bei Ihren Ausführungen, Frau Kollegin Schuster. Diese waren aber wirklich an der Grenze dessen, was noch mit der Wahrheit zu tun hat; das will ich ganz deutlich sagen. ({1}) Erlauben Sie mir zwei Bemerkungen zum Thema Wahrheit. Der erste Versuch, einen gemeinsamen, interfraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, kam in erster Linie aus der Fraktion der Grünen und ist dann gemeinsam mit uns in der Position eingebracht worden, einen Kompromiss zu finden, den wir alle gemeinsam tragen können. Wenn Sie jetzt sagen, wir sollten einfach Ihren Antrag abschreiben, ist das pure Geschichtsklitterung. ({2}) Tatsache ist: Drei Viertel Ihres Antrags wurden bei RotGrün abgeschrieben. Ich denke, das muss man denjenigen, die hier zuhören, auch einmal zur Kenntnis bringen. ({3}) Deshalb ist Ihr Antrag nicht insgesamt falsch; das will ich hier gar nicht behaupten. Ihre Begründung, die Sie hier heute vorgetragen haben, will ich Ihnen aber gerade in Vorbereitung des Internationalen Tages gegen die Todesstrafe doch einmal vorführen, weil ich glaube, Sie machen hier einen riesengroßen Fehler. Wir machen diese Veranstaltung nämlich nicht für uns und nicht für die Galerie, sondern wir setzen uns gerade am 10. Oktober für die Menschen ein, die weltweit in Knästen sitzen - zum Teil seit vielen Jahren - und mit der Todesstrafe bedroht sind. Denen wollen wir helfen. Jetzt muss ich Ihnen wirklich sagen: Ich kann Sie nicht begreifen; Sie haben sich ja nicht auf diese eine Person kapriziert. ({4}) Wir haben im Wege des Kompromisses einen Vorschlag gemacht - hören Sie mir bitte zu -, den ich nach wie vor für richtig halte und der dem Thema auch angemessen ist. Wir haben gesagt: Wir wollen diese eine Person exemplarisch, aber doch nicht wertend benennen. Wenn jemand in China, im Iran, im Irak, im Jemen oder in den USA hingerichtet wird, dann ist das nicht weniger schlimm, als wenn jemand in anderen Regionen dieser Welt hingerichtet wird. Ich finde aber, man muss in einer solchen Debatte auch einmal Klartext reden und sagen, dass im Iran - Sie haben es gesagt - 388 Menschen hingerichtet wurden: schwangere Frauen, Behinderte, Minderjährige. Sollen wir dazu schweigen? ({5}) Sollen wir so tun, als sei das ein Problem, mit dem wir gar nichts zu tun haben? Sie haben auch den Irak nicht angesprochen. Wir holen Menschen aus dem Irak zurück, weil sie dort bedroht sind. Dort sind 120 Menschen hingerichtet worden. Dürfen wir im Deutschen Bundestag in einer Resolution zum Internationalen Tag gegen die Todesstrafe nicht mehr den Namen „Irak“ erwähnen? Ich bitte Sie allen Ernstes! Ich finde, das kann nicht sein. Sie haben jetzt China angesprochen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie unserem Antrag nicht zugestimmt haben, obwohl Sie die einzelnen Länder, um die es geht, jetzt hier in dieser Debatte als Beispiel anführen. Ich sehe keine Begründung dafür, warum Sie dies hier nicht tun. Ich sage ganz deutlich: Es ist insgesamt - ich schließe das ganze Haus hier ein, aber insbesondere Sie, weil Sie nicht kompromissbereit gewesen sind; das ist der Punkt - ein wirklich schlechtes Zeugnis für den Deutschen Bundestag, dass er zum ersten Mal, seit es diesen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe gibt, nicht zu einer gemeinsamen Resolution gefunden hat. ({6}) Ich will das noch einmal sagen: Sie haben all diese Einzelfälle angesprochen. Entschuldigung! Um was geht es denn eigentlich? Glauben Sie denn allen Ernstes, dass Menschen, deren Namen wir nicht kennen und die irgendwo in irgendeinem Knast auf dieser Welt auf ihre Hinrichtung warten - zum Teil seit mehr als 20 Jahren -, uns hier nicht zuhören, wenn Sie uns sagen, hier werde priorisiert, wenn einzelne Beispiele genannt werden? Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Es geht darum, in der Öffentlichkeit Interesse zu wecken und Meinungen herzustellen. Dabei geht es nicht darum, abstrakte Themen zu diskutieren und auf hohem Niveau die Einhaltung internationaler Vereinbarungen einzufordern. Es geht dabei vielmehr um Menschen, um Gesichter und um Geschichten. Um diese Geschichten müssen wir uns heute kümmern. Deshalb sind die Beispiele, die wir angeführt haben, überhaupt nicht dafür geeignet, dass irgendein anderes Schicksal vernachlässigt wird. Wir müssen diese Beispiele nennen, damit sich die Öffentlichkeit von diesen Menschen ein Bild machen kann, damit wir in der Öffentlichkeit Wirkung erzielen. Darum und um nichts anderes geht es. ({7}) Ich will jetzt noch ein anderes Thema ansprechen, da wir auch einen Antrag zum Folterverbot debattiert haben. Der Kollege Heinrich hat sich schon beim letzten Mal interessanterweise dazu geäußert - so wie Sie jetzt auch wieder, Frau Schuster. Sie haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Es wird zwar viel geredet, aber dann heißt es: Damit brauchen wir uns gar nicht mehr zu beschäftigen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Arbeit im Ausschuss auch komplett einstellen. Wenn Sie sagen, Sie haben einen Koalitionsantrag gemacht, in dem alle Punkte irgendwie erwähnt sind, dann brauchen wir hier gar nicht mehr zu sitzen. Ich darf aber einmal darauf hinweisen, dass wir mit unserem Antrag auf konkrete Ereignisse, und zwar nicht irgendwo anders, sondern hier in Deutschland, Bezug genommen haben. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie wir eigentlich das von Ihnen angesprochene und sehr wichtige Zusatzprotokoll zur UN-Anti-FolterKonvention umsetzen. Ich darf Sie einmal ganz aktuell darauf verweisen - das konnten Sie in Ihrem damaligen Antrag leider noch nicht berücksichtigen -: Es gibt seit wenigen Wochen den ersten Bericht der Bundesstelle zur Verhütung von Folter. Der Leiter dieser Stelle, der uns nicht sehr nahe steht, der Kollege Lange-Lehngut, hat ganz deutliche Dinge dazu gesagt. Er hat gesagt: Wir als Bundesstelle müssen 300 Gewahrsamseinrichtungen begutachten. - Er ist ehrenamtlicher Chef, und die Bundesstelle verfügt über eine gewisse Ausstattung. Er hat für diese Aufgabe zwei Stellen in Wiesbaden und 200 000 Euro zur Verfügung. Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir mit erhobenem Zeigefinger auf die Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt zeigen, aber eine Präventionsstelle zur Verhinderung von Folter, die beispielhaft für solche Stellen in anderen Ländern sein soll, so ausstatten, dann ist das für Deutschland und diese Bundesregierung schlicht und ergreifend peinlich. Das ist der eine Punkt, um den es geht. ({9}) Deshalb werden wir das möglicherweise in den Haushaltsberatungen aufgreifen. Es geht schließlich nicht um weltbewegende Größenordnungen. Wir wollten das Thema wieder auf die Tagesordnung bringen. Wir haben erst einmal eine Erhöhung der Mittel um 30 000 Euro gefordert, um deutlich zu machen, dass wir uns mit diesem Thema befassen. Aber selbst dabei sind Sie nicht bereit, sich zu bewegen. Wenn wir aber selbst unsere Hausaufgaben in diesem wichtigen Punkt nicht machen, dann ist es nicht in Ordnung, auf die Welt um uns herum zu blicken und dafür zu sorgen, dass andere Länder etwas unterschreiben, was wir zwar auch unterschrieben haben, aber ungenügend umsetzen. Das ist die Wahrheit. Darum geht es an dieser Stelle. Der letzte Punkt, der auch eine aktuelle Dimension hat, ist die Frage, wie wir mit den sogenannten diplomatischen Zusicherungen umgehen. Auch das ist in den Berichten der Bundesregierung kritisch angesprochen worden. Diplomatische Zusicherungen sind Vereinbarungen auf Regierungsebene über Menschen, die in Deutschland unter Terrorismusverdacht festgenommen und inhaftiert worden sind und die aufgrund von Zusicherungen ausländischer Regierungen in bestimmte Länder überstellt werden, in denen sie sonst nicht nach völkerrechtlichen Standards behandelt würden. Ich sage: Es kann Überstellungen geben, aber sie dürfen nicht auf der Basis von relativ unverbindlichen diplomatischen Zusicherungen erfolgen. In dem „hochdemokratischen“ Land Syrien zum Beispiel werden, wie wir mittlerweile wissen, Terrorverdächtige bei einer Rückführung unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder verhaftet und in bestimmten Einrichtungen gefoltert. Deshalb kann diese Bundesregierung, die sich auf einem guten Weg sieht, aus meiner Sicht nur sagen: Wir machen nur dann beim Antiterrorkampf mit, wenn völkerrechtliche Standards eingehalten werden. Sofern es noch die Praxis der Überstellung aufgrund diplomatischer Zusicherungen gibt, muss sie beendet werden. Aus meiner Sicht können Menschen nicht in Staaten zurückgeführt werden, in denen es noch Folter gibt. Das ist eine konkrete Forderung. Ich lade Sie gerne ein, mit uns darüber zu diskutieren. Ansonsten hoffe ich, dass wir uns trotz aller möglichen Missverständnisse im Vorfeld und Streitigkeiten, die wir jetzt haben, bei dem Thema einig sind. Ich bin sicher, dass die Todesstrafe insgesamt abgeschafft wird. Das Folterverbot muss weltweit, also auch in Deutschland, gelten. Dafür müssen wir mit den Instrumentarien, die wir zur Verfügung haben, sorgen. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich unterstelle dem Kollegen Strässer immer das Beste. Das gilt gerade für diese Debatte, in der es um die Todesstrafe geht. Allerdings halte ich die Aufregung für etwas gespielt, insbesondere im Hinblick auf den historischen Kontext, in dem wir uns bewegen. Am Anfang stand der Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ der Koalitionsfraktionen, in dem bereits auf die Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden Ländern eingegangen worden ist. Ich will das kurz aufrollen, damit nichts unverstanden bleibt. Daraufhin hat die Fraktion Die Linke einen zu einem großen Teil wortgleichen Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich entschlossen, diesen Antrag abzulehnen und einen eigenen Antrag einzubringen. Dann gab es ein Problem. Wir sind nämlich der Auffassung, dass wir einen gemeinsamen Grundlagenantrag zur Ächtung der Todesstrafe erarbeiten sollten. Das hat nichts mit fehlender Kompromissbereitschaft oder Ähnlichem zu tun. Das Thema ist und bleibt grundsätzlich immer aktuell; denn für uns sind Menschenrechte unteilbar und universell, und die Todesstrafe ist die ultimative Form der Menschenrechtsverletzung. Deshalb muss man immer wieder grundsätzlich feststellen, dass sich kein Mensch als Richter über Leben und Tod aufspielen kann, weil er damit auch immer ein Stück weit über sich selbst urteilt. Deshalb müssen Sie, Herr Strässer, damit leben, dass Sie immer, wenn Sie einen Einzelfall herausgreifen, werten und gewichten müssen. ({0}) Ich unterstelle Ihnen beste Absichten. Sie tun das selbstverständlich nicht, um unbedingt eine andere Konnotation mitschwingen zu lassen und eine andere Auseinandersetzung zu führen. Ein gemeinsamer Antrag ist aber definitiv gescheitert, weil wir nicht bereit sind, anhand von Einzelfällen eine Form von Landeskritik, die ideologisch getragen ist, zu üben. Wir sind der Auffassung, dass wir als Mitglieder des Bundestages, wenn wir ein Land besuchen, selbst Kritik üben können oder dass die Exekutive auf der Grundlage eines Antrages dieses Bundestages das tun soll. Aber wir lassen uns nicht instrumentalisieren. Wenn es um Einzelfälle geht, machen wir nicht Politik in dem betreffenden Land, und das auch noch ideologisch verbrämt. Dann können Sie mit unserer Zustimmung nicht rechnen. ({1}) Die generelle Ablehnung der Todesstrafe eint uns sicherlich. Ich glaube auch, dass wir an dieser Stelle Gott sei Dank nicht sehr weit auseinanderliegen. Ich kann Ihnen aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass sich unsere grundsätzlichen Denkansätze unterscheiden. Das mag nicht immer hinlänglich klar sein. Aber die Verantwortungsethik im Max Weber’schen Sinn besagt, dass der nächste Schritt der wesentliche ist und dass es um das Bohren dicker Bretter geht. Wir können durchaus darauf verweisen, dass es weltweit Erfolge gibt. Es gibt immer mehr Staaten, die entweder auf die Todesstrafe verzichten oder zumindest ihre Anwendung aussetzen und sie nicht mehr praktizieren. Dieser Weg ist lang und stei6930 nig. Aber ich glaube, dass wir kleine Schritte machen müssen und bilaterale Gespräche der bessere Weg sind. Eine ideologische Auseinandersetzung sollte in diesem Kontext nicht geführt werden. ({2}) Ich kann nicht sagen, dass das Ganze durch den Änderungsantrag, den die Grünen heute kurzfristig eingebracht haben, besser wird. Dort wird auf noch mehr Dramaturgie gesetzt. Natürlich verträgt der Einsatz gegen die Todesstrafe durchaus etwas Dramaturgie und Pathos. Trotzdem bin ich der Auffassung: Wenn wir Staaten auffordern, sich diesem Thema im kulturhistorischen Kontext zu nähern, dann sollten wir das, vor allem wenn es um Einzelfälle geht, auf bilateraler Ebene tun. Herr Strässer, wenn Sie ein Land besuchen, können Sie den entsprechenden Einzelfall anprangern. Aber Sie müssen auch damit leben, dass es im Einzelfall nicht einfacher wird, wenn man auf ihn hinweist. Die Situation kann auch schlimmer werden. Im Grunde dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, das grundsätzliche Anliegen des Koalitionsantrages zu unterstützen; denn das tut Ihrem Anliegen keinen Abbruch. Ich hoffe, dass wir weiterhin darin geeint sind, dass das Thema, über Tod und Leben zu entscheiden, gleichzeitig auch eine Frage der Existenz ist. Aber im Einzelfall kann dies nur ein Thema sein, wenn ich dem Betreffenden von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und etwas für ihn erreichen kann. Wir sind der Auffassung, dass wir das mit unserem Grundlagenantrag besser können als mit Ihrem. Deshalb werden Sie mit unserer Ablehnung Ihres Antrags leben müssen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Niema Movassat ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Die Todesstrafe ist das bezeichnende und ewige Merkmal der Barbarei“, schrieb Victor Hugo. Dieser Gedanke wohnt auch dem Grundgesetz inne; denn die Todesstrafe verstößt gegen Art. 1, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Darin sind sich alle Fraktionen in diesem Haus einig. Einig sind sich zumindest SPD, Grüne und Linke in ihren Anträgen auch bei Mumia Abu-Jamal. Der politische Gefangene und Journalist Mumia kämpft in den USA seit 29 Jahren um ein neues Verfahren. Im November gibt es eine mündliche Anhörung über die Frage der Todesstrafe gegen ihn. Was wir schon im Dezember 2009 hier gefordert haben, bleibt damit aktuell. Die gegen ihn ausgesprochene Todesstrafe muss in eine Haftstrafe umgewandelt und der Fall frei von Rassismus erneut untersucht werden. ({0}) Nach China sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die USA und der Jemen die Länder mit den meisten Exekutionen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen - das wurde schon gesagt - erwähnt dies mit keinem Wort. Mit vier dieser fünf traurigen „Tabellenführer“ unterhält Deutschland umfangreiche Programme zur Polizei- und Militärkooperation, liefert Technologie und Ausrüstung oder tauscht personenbezogene Daten zur sogenannten Terrorbekämpfung aus. Das ist nicht der Weg, mit dem man seinen Protest gegen eine so krasse Menschenrechtsverletzung wie die der Todesstrafe glaubwürdig vertritt. ({1}) Leider geht auch niemand von Ihnen in den Anträgen auf extralegale bzw. gezielte Tötungen ein. Das ist eine andere Form der Todesstrafe. Diese Abwandlung der klassischen Todesstrafe hat in den letzten Jahren im Rahmen von Kriegen und Konflikten erschreckende Ausmaße angenommen. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verbietet aber nicht nur die Todesstrafe, sondern erlaubt auch keine Abweichungen in Notstandsfällen wie beispielsweise im Krieg. Im Zuge des sogenannten Krieges gegen den Terrorismus ist aber offensichtlich jedes Mittel recht. Am Montag berichteten zahlreiche Medien von der Hinrichtung mutmaßlicher deutscher Terroristen in Pakistan durch US-Drohnen. Seit 2008 sind schon 1 150 Menschen so hingerichtet worden: kein Prozess, keine Beweisführung, kein rechtsstaatliches Urteil, vielmehr Todesstrafe auf Verdacht und Knopfdruck. Das ist menschenverachtende Willkür und wird von der Fraktion Die Linke in aller Deutlichkeit verurteilt. ({2}) Die Bundesregierung betont gerne, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht direkt an extralegalen Tötungen beteiligt ist, sondern lediglich Personen benennt, die gefangen genommen werden sollen. Aber zum einen weiß auch die Bundesregierung, dass diese Personen schon einmal getötet statt gefangen genommen werden, zum anderen hat das Bundesverteidigungsministerium im August 2010 mitgeteilt, dass entsprechend dem ISAF-Regelwerk eine Liste mit Zielpersonen geführt wird, bei denen die Möglichkeit besteht - ich zitiere „die Anwendung gezielt tödlich wirkender militärischer Gewalt zu empfehlen“. Also leistet die Bundeswehr doch indirekte Unterstützung für gezielte Tötungen durch andere ISAF-Truppen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. ({3}) Extralegale und gezielte Tötungen sind im sogenannten Krieg gegen den Terror zu einem Standardmittel der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft geworden. Dabei sind Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil erst recht ein Rückschritt in die Barbarei. Wer gibt einer kleinen Gruppe von Politikern, Geheimdienstlern und Militärs das Recht, über Leben und Tod von Menschen zu entscheiden? Diese Vorgehensweise widerspricht eindeutig rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies sieht übriNiema Movassat gens auch Wolfgang Bosbach so, Mitglied der CDU/ CSU-Fraktion und Vorsitzender des Innenausschusses. Ich zitiere aus seinem Interview mit dem Deutschlandradio aus dem Jahr 2007: Die gezielte Tötung halte ich für mehr als problematisch, denn dafür sehe ich keine Rechtsgrundlage … Und selbst wenn man sagen würde, hier geht es nicht um Strafe, sondern um Gefahrenabwehr, … kann ich mir … keine Rechtsnorm vorstellen, wo wir das vorsätzliche Töten zum Zwecke der Gefahrenabwehr in das Gesetzbuch nehmen … Es gilt: Auch in einem sogenannten Krieg gegen den Terrorismus dürfen zivilisatorische Werte und menschenrechtliche Errungenschaften nicht über Bord geworfen werden. Wer dies tut, begibt sich auf das Niveau derjenigen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag ist sich einig in der Frage, dass wir die Todesstrafe weltweit abschaffen und zurückdrängen wollen. Bei der Abschaffung der Todesstrafe geht es einerseits darum, rechtliche Prinzipien durchzusetzen und für sie international zu werben, andererseits geht es um konkrete Schicksale und konkrete Menschen, die unmittelbar von der Todesstrafe bedroht sind. Sich für diese einzusetzen, ist auch für Konservative, Christdemokraten in anderen Parlamenten - wie dem Europäischen Parlament - eine Selbstverständlichkeit. Dort gibt es dauernd Resolutionen zu Einzelfällen. Auch diese Christdemokraten reden über Einzelfälle. Ich darf Sie auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung hinweisen. Da liegt ein Antrag der Koalition, ein Antrag der Grünen und ein Antrag der Linken zu Freiheit und zur Freilassung von Gilad Schalit vor, einem israelischen Gefangenen, der vor vier Jahren von der Hamas verschleppt wurde und seitdem gefangen gehalten wird. Natürlich reden wir da über einen Einzelfall und nicht über ein abstraktes Prinzip, weil es bei dem Schutz der Menschenrechte immer um ganz konkrete Menschen geht, für die wir uns einsetzen müssen und für die sich auch die Bundesregierung einsetzt. Ich muss sagen: Sie als Koalition blamieren sich, weil unsere Bundesregierung weitaus besser ist, als es Ihre Anträge vermuten lassen. ({0}) Selbstverständlich hat sich die Europäische Union zum Beispiel im Fall von Teresa Lewis in den letzten Wochen massiv gegen deren Tötung eingesetzt. Selbstverständlich kämpft man weltweit darum, Frau Aschtiani vor der Steinigung zu retten. ({1}) Selbstverständlich geht es um Einzelfälle. Es ist kein Schaden, wenn Personen im Rahmen einer solchen Kampagne prominent werden, weil sie das unter Umständen vor der Vollstreckung der Todesstrafe schützt. Deshalb ist unsere Strategie richtig. Aber Sie gehen noch weiter. 14 Tage nachdem wir unseren Antrag eingebracht hatten, haben Sie ihn übernommen und einfach Punkte herausgestrichen. Da möchte ich Sie schon fragen, was der Sinn Ihrer Streichungen ist. Sie fordern in Ihrem Antrag zu Recht zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Russland auf, die die Abschaffung der Todessstrafe betreffenden Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterschreiben. Aber warum haben Sie unsere Forderung an China aus dem Antrag gestrichen, ({2}) seine Zusage - es hat sie im Rahmen der Olympiade gemacht und immer wiederholt -, endlich den UN-Zivilpakt, durch den die Todesstrafe wesentlich zurückgedrängt, wenn auch nicht ganz abgeschafft würde, zu unterschreiben? Weil Ihnen das Urheberrecht und das Markenrecht in China und gute Beziehungen wichtiger sind, als hier Klartext zu reden? ({3}) Warum haben Sie aus Ihrem Antrag die Aufforderung an den Iran herausgenommen, der den UN-Zivilpakt zwar unterschrieben hat, sich aber einen feuchten Kehricht um seine Einhaltung kümmert? Wir wissen doch, dass Frauen und Homosexuelle im Iran für einfache Sexualund Moraldelikte reihenweise erhängt oder gesteinigt werden. Warum sprechen Sie den Iran hier nicht direkt an, obwohl das ein ganz konkretes Thema ist? Liegt es vielleicht ebenfalls an den guten wirtschaftlichen Beziehungen, die Deutschland zum Iran hat, dass man hier nicht Ross und Reiter nennt? Warum, obwohl wir gerade den Fall Lewis diskutiert haben, erinnern wir unseren Bündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika nicht explizit daran, dass wir von ihm erwarten, dass er sich, wenn er eine Führungsrolle in der Welt für sich beansprucht, auch bei der Beachtung der Menschenrechte im eigenen Land an die Maßstäbe hält, die er von anderen Ländern immer selbstverständlich einfordert? ({4}) Warum schweigen Sie in Ihrem Antrag zu diesen Fällen, obwohl Sie andere Länder durchaus benennen? ({5}) Da fragt man sich: Welcher Gedanke steckt hinter diesem selektiven Abschreiben unseres Antrages? Ich muss sagen: Heute ist kein guter Tag für die Menschenrechte. Das zeigt sich darin, dass wir uns bei einer solchen Frage über den Text nicht einigen konnten, obwohl wir das versucht haben. ({6}) Volker Beck ({7}) Ich möchte etwas zu der Partei sagen, die in ihrem Namen ein großes C trägt, was ich respektiere. Sie reden in letzter Zeit viel über das christliche Menschenbild und machen sich darüber Gedanken. Um etwas zu den Einzelfällen zu sagen, möchte ich gerne mit einem Wort aus der Bibel schließen: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Oder auch nicht. Matthäus 25, 40. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frank Heinrich ist der letzte Redner in dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht erwartet, dass nicht ich, sondern mein Vorredner einen Vers aus der Bibel - ich habe sie zu Hause; ich war Pastor - vorliest. Ich werde darauf gleich noch kurz eingehen. Ich glaube, darin steckt die Botschaft, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was wir als ganzes Haus machen und repräsentieren, und dem, was einer einem Geringsten getan hat. ({0}) Ich will damit einfach vorwegnehmen: Ich glaube, dass wir als Einzelne sehr wohl in der Lage sind, die Menschenrechte hochzuhalten, Einzelpersonen zu nennen. Ich möchte auf den zweiten Schwerpunkt dieser Debatte zu sprechen kommen. Er ist von Ihnen, Frau Schuster, und von anderen am Rande erwähnt worden. Es geht nicht nur um die Todesstrafe, sondern auch um die im Antrag der SPD und in der Beschlussempfehlung behandelte Folter. Die weltweite Bekämpfung der Folter ist eine der wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben. Das ist der letzte Satz im ersten Absatz Ihres Antrags, den wir heute abschließend beraten. Ja, vollkommen unterstütze ich ihn. Ich betone: ein ausdrückliches und deutliches Ja. Folter erniedrigt, entwürdigt, entrechtet die Opfer. In aller Entschiedenheit müssen wir Folter bekämpfen und Folteropfer unterstützen. ({1}) Deswegen hat die Koalition ganz zu Beginn der Legislaturperiode den eben erwähnten Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ eingebracht und sehr deutlich formuliert: Das Folterverbot gilt absolut für alle, und es darf nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden. Trotzdem ist Folter in 81 Staaten - Sie schreiben von 111 Staaten, Amnesty spricht von 81 Staaten - traurige Realität. Ich erinnere mich, dass auch Freunde von mir damals hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gefoltert wurden. Einmal war ich sehr wahrscheinlich der Anlass, weil ich einen Fehler gemacht hatte, und mein Freund wurde danach von der Securitate aufgesucht, abgeholt, verhört - und ich weiß nicht und möchte mir auch nicht vorstellen, was noch folgte. Gravierend ist die Lage - das haben wir bereits von Frau Schuster und auch von anderen gehört - im Iran. Hauptbeweismittel in den dortigen Verfahren sind oft Geständnisse, die regelmäßig und systematisch durch Folter erzwungen werden. Politische Häftlinge reden von Misshandlungen, Schlafentzug, Vergewaltigungen, Drohungen gegen die Familie. Unsere Fraktion wird daher einen gesonderten Antrag zur Lage im Iran vorlegen. ({2}) Dass neben Industriestaaten wie Italien, Spanien und den USA auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, auf der Amnesty-Liste erscheinen, ist erschütternd und lässt sich letztlich nicht rechtfertigen. Mit der Einrichtung der Bundesstelle für Verhütung, die Sie auch in Ihrem Antrag erwähnen, verfügt die Bundesrepublik allerdings über einen wirksamen Präventionsmechanismus. ({3}) Noch ist keine Länderkommission zur Verhütung von Folter eingerichtet. Sie wird aber, wie Sie in Ihrem Antrag richtig sagen, in nächster Zeit konstituiert. Dem ersten Jahresbericht - Herr Strässer, Sie haben darauf hingewiesen -, der in diesem September erschienen ist, ist zu entnehmen, dass die Überprüfung von Einrichtungen aufgrund der personellen Ausstattung nur stichprobenartig erfolgen kann. Das kann man in methodischer Hinsicht infrage stellen. Man kann es aber auch begrüßen; ({4}) denn flächendeckende Untersuchungen bringen unter Umständen eher geschönte Ergebnisse hervor, als das bei Stichproben der Fall ist. Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen auf jeden Fall - auch das steht im jetzt erschienenen Jahresbericht -, dass die menschenrechtliche Lage in den Gewahrsamseinrichtungen der Bundesrepublik erfreulich positiv ist. Daher ist es, finden wir, nicht legitim, die Ausstattung der deutschen Präventionsstelle zur Verhütung von Folter mit denen anderer Länder zu vergleichen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun. Weiterhin enthält der Antrag die Forderung, Flüchtlinge und Schutzbedürftige nicht in Staaten abzuschieben, in denen gefoltert wird. ({5}) Diese Forderung ist inhaltlich richtig, allerdings, wie wir finden, sachlich überflüssig. Für die Ausländer in unserem Land gibt es das Asylrecht und das Ausländerrecht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, wollen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Beck beantworten?

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte Sie, Herr Beck. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde es sehr gut, dass wir uns darüber verständigen, dass wir keine Flüchtlinge in Länder abschieben, wo gefoltert wird. Wir haben gegenwärtig den Fall, dass ein deutscher Staatsbürger in Syrien verschwunden ist. An diesem Fall können wir sehen, wie der syrische „Rechtsstaat“ funktioniert. Trotzdem ist vor einiger Zeit mit den Stimmen dieser Koalition das deutsch-syrische Rücknahmeabkommen geschlossen worden. Wir erleben regelmäßig, dass politische Oppositionelle oder Teile der kurdischen Minderheit, die wir nach Syrien zurückschieben, dort verschwinden. Stimmen Sie mir zu, dass man, wenn man nach Ihren Worten verantwortlich handeln will, nach Syrien keine Kurden, keine Oppositionellen und keine Menschen, die dort womöglich strafrechtlich verfolgt werden, zurückschieben darf? ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe Ihnen recht; ich habe selber mit syrischen Staatsbürgern gesprochen. Es gibt im Hinblick auf Ausländer, die wegen bestimmter Angelegenheiten in ihrem Herkunftsland mit Problemen - unter anderem solchen, wie Sie sie beschrieben haben - zu rechnen haben, inzwischen dieses Rücknahmeabkommen. ({0}) Wir haben aber die deutliche Aussage, dass in Asylverfahren, die die unmittelbare Rückführung zur Folge haben könnten - Sie sprachen Syrien an -, vorerst auf Ablehnung verzichtet werden soll. Da ist also vonseiten unseres Innenministeriums schon eingeschritten worden. ({1}) Die Innenbehörden unseres Landes wurden zudem aufgefordert, jeden Einzelfall der Rückführung besonders sorgfältig zu prüfen. Das heißt, man ist sich dessen in einem gewissen Maße bewusst und verändert seine Haltung dazu. ({2}) Im vorliegenden Antrag - ich komme darauf zurück wird die stille Diplomatie teilweise direkt oder indirekt kritisiert. Ich kann mich daran erinnern, dass vor zwei Wochen der Außenminister bei uns im Ausschuss war und anschaulich, wie ich finde, klargemacht hat, dass gerade das Mittel der stillen Diplomatie sehr effektiv sein kann und Opfer schützt, weil sich Staaten so nicht brüskiert fühlen müssen. Noch einmal zum Iran. Dort wird beispielsweise den Bahai oft vorgeworfen, Spionage zu betreiben. Von ähnlichen Anschuldigungen gegen christliche Organisationen hören wir auch. Wir in Chemnitz haben das im Zusammenhang mit der verstorbenen Daniela Beyer schmerzlich erfahren müssen. Dieser Vorwurf wurde auch mit ihr in Verbindung gebracht. Wenn so etwas überhöht und in der Öffentlichkeit laut geäußert wird, unter anderem von unserer Ebene, dann kann das für Betroffene zu noch stärkeren Repressalien führen. Die stille Diplomatie ist ein unverzichtbarer Teil sowie die andere Seite der Medaille, auf deren erster Seite der Aufdruck „Menschenrechte weltweit schützen“ steht. Herr Strässer, Sie haben gesagt: exemplarisch und nicht wertend. - Wir befürchten, dass das dann passiert. Wir nehmen keine Wertung vor, aber die Länder, die wir verurteilen, nehmen eine Wertung vor. Die sagen dann mit Blick auf die Namen, die nicht genannt werden: Auf die brauchen wir nicht ganz so genau zu achten. ({3}) NGOs, einzelne Abgeordnete und viele Bürger sollten sich dafür einsetzen, dass Sachverhalte und Personen genannt werden - das ist wirklich zu begrüßen -; aber im Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme dieses Hauses wäre das fehl am Platze. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb begrüßen wir jeden Antrag, in dem wir uns generell gegen Folter aussprechen. Damit handeln wir, schaffen wir Handlungsmaximen, die Resolutionscharakter besitzen und den Bezugsrahmen für einzelne Aktivitäten darstellen können. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das halten wir für selbstverständlich. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Präsident Dr. Norbert Lammert Bevor wir nun zu einer Reihe von Abstimmungen kommen, bedanke ich mich bei all den Kolleginnen und Kollegen, die die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse für das Präsidium übersichtlicher gestaltet haben, als es noch vor wenigen Minuten der Fall war. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/3181. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/2331 mit dem Titel „Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen“. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/3235? ({1}) - Das ist jedenfalls nicht die Mehrheit. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung ab. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2114 mit dem Titel „Todesstrafe weltweit abschaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2131 mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe weltweit“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Folter bekämpfen und Folteropfer unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3180, den Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/2115 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes - Drucksache 17/3182 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Dazu gibt es offenkundig keine Einwände. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Dr. Georg Nüßlein, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Dorothée Menzner und Oliver Krischer.1) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/3182 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge, Einwände, Widerstände? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksachen 17/2866, 17/3034 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) - Drucksache 17/3169 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({4}) Ute Vogt Ralph Lenkert Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Einwände sind nicht erkennbar. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul, Ute Vogt, Michael Kauch, Ralph Lenkert und Hans-Josef Fell.2) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3169, den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung auf den Drucksachen 17/2866 und 17/3034 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - 1) Anlage 5 2) Anlage 6 Präsident Dr. Norbert Lammert Der Gesetzentwurf ist mit gleicher Mehrheit gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundla- gen sichern - Drucksache 17/3199 - Die hierzu vorgesehenen Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol- legen Josef Göppel, Dr. Matthias Miersch, Angelika Brunkhorst, Sabine Stüber und Undine Kurth.1) Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/ CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/3199? - Alle beteiligten Fraktionen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ist dieser Antrag angenommen. Tagesordnungspunkt 19: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die richtigen Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen Klimaforschung und Geowissenschaften stärken und die Voraussetzungen für ein nationales und europäisches Krisenmanagement im Luftverkehr schaffen - Drucksache 17/3174 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel, Ulrike Gottschalck, René Röspel, Torsten Staffeldt, Herbert Behrens und Winfried Hermann.

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö- kull war eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes, die sowohl die Bundesregierung als auch die Beteiligten der Luftverkehrsbranche vor dem Hintergrund der Kon- taminierung des deutschen Luftraumes mit Vulkanasche vor bis dahin noch unbekannte Herausforderungen ge- stellt hat. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion fordert nun dazu auf, die richtigen Lehren aus dieser Ausnahmesituation zu ziehen. 1) Anlage 7 Ich wiederhole an dieser Stelle zunächst gerne, dass die Vorgehensweise der Entscheidungsträger angemessen und zu jedem Zeitpunkt richtig war. Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich bei seinen gemeinsam mit der Deutschen Flugsicherung und dem Deutschen Wetterdienst abgestimmten Entscheidungen zur Sperrung des Luftraums an den internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Die für den weltweiten zivilen Luftverkehr geltenden Sicherheitsstandards der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation, die in einer Ausnahmesituation wie dem Vulkanausbruch gelten, haben die Freigabe der betroffenen Gebiete aufgrund der Kontaminierung des Luftraums nicht zugelassen. Auch der im Lage- und Informationszentrum der Deutschen Flugsicherung eingerichtete Krisenstab konnte nicht zuletzt durch den Zugriff auf die vor Ort vorhandene technische Infrastruktur und den unmittelbaren Kontakt mit dem BMVBS, dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung, dem Deutschen Wetterdienst, allen DFSNiederlassungen und Eurocontrol entscheidend zum Management der Ausnahmesituation beitragen. Nicht zuletzt hat insbesondere die schnelle und unbürokratische Realisierung von eigenen Messflügen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem Forschungsflugzeug „Falcon“ die Ermittlung aussagekräftiger und verlässlicher Messwerte ermöglicht. Diese Maßnahmen belegen das hervorragende Krisenmanagement der Bundesregierung, die zu jedem Zeitpunkt der Krisensituation der Sicherheit der Passagiere allerhöchste Priorität eingeräumt hat. Die Vorbehalte im vorliegenden Antrag, die Reaktion der Regierung sei unzureichend und eine politische Führung sei nicht vorhanden gewesen, sind dementsprechend haltlos. Gerade weil der Vulkanausbruch für alle beteiligten Entscheidungsträger eine neue Situation dargestellt hat, ist das gelungene Krisenmanagement der Regierung umso höher zu bewerten. Rückblickend betrachtet hat die Naturkatastrophe Deutschland und ganz Europa überraschend getroffen und Regelungslücken sichtbar gemacht, die vorher nicht ersichtlich waren. Die betreffenden Herausforderungen im zukünftigen Umgang mit Vulkanausbrüchen werden nun seit der Wiederaufnahme des regelmäßigen Flugbetriebes entschieden und konsequent verfolgt. Der Bundesverkehrsminister hat hierzu eine Expertenrunde installiert, die einen entsprechenden Maßnahmenkatalog entwickelt und bereits spürbare Fortschritte erzielt hat. Der Zirkel, der neben Entscheidungsträgern der Ministerien und Verbände auch den DWD, die DFS, die Luftverkehrswirtschaft und Triebwerkshersteller vereint, ist erst vor wenigen Wochen im September zu seiner dritten Sitzung zusammengekommen und wird auch weiter effektiv und nachhaltig arbeiten. Zudem werden im Bundesministerium derzeit in einer verkehrsträgerübergreifenden Arbeitsgruppe Notfallkonzepte und Strategien zur Krisenbewältigung erarbeitet, die insbesondere ein koordiniertes Vorgehen und die Optimierung des Informationsmanagements für den Fall eines Komplettausfalls eines Verkehrsträgers zum Inhalt haben. Der Anschein des vorliegenden Antrages, die Lehren aus dem Ausbruch des Vulkans seien bisher nicht gezo6936 gen worden, ist dementsprechend nicht richtig. Der Bundesverkehrsminister hat seit der Ausnahmesituation gemeinsam mit seinem Haus mit Nachdruck an den bestehenden Herausforderungen gearbeitet und wird dies auch weiterhin tun. Dieses Engagement wird von der CDU/CSU-Fraktion anerkannt, begrüßt und nachhaltig unterstützt. Die Zielsetzungen der installierten Expertenrunde verdeutlichen das konsequente und plausible Vorgehen der beteiligten Akteure. So benötigt der Luftverkehr gesicherte Erkenntnisse und zuverlässige Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkanasche, die nur durch ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung von Messdaten und die Verbesserung von Modellberechnungen erreicht werden können. Erste Vorschläge der Expertengruppe skizzieren ein nationales Messsystem, das Teil eines auf EU-Ebene diskutierten einheitlichen europäischen Messsystems sein könnte. Die fortgeschrittenen Bestrebungen für ein nationales Messnetz fußen auf dem bereits existierenden CeilometerMessnetz des Deutschen Wetterdienstes, das für die Aufgabe einer Messung von Vulkanaerosolen qualifiziert ist. Zudem sollen Hochleistungslidarsysteme helfen, die Ceilometermessungen zu kalibrieren und verlässliche Aussagen über die Vulkanaschebelastung der Luft zu ermöglichen. Zusätzlich soll mit Satellitensensorik die flächenhafte Verteilung der Vulkanasche überwacht und mit den Ergebnissen der Computersimulationen verglichen werden. Auch Flugzeugmessungen sollen durchgeführt und mit Messungen der bodengestützten Systeme sowie der Flächeninformation aus Satellitendaten verglichen werden. Dieser Einblick verdeutlicht das Engagement der Bundesregierung, ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung aller Mess- und Modellinformationen sowie die Verbesserung computergestützter Ausbreitungsprognosen für eine zuverlässige Bewertung der Gefährdung der Luftfahrt durch Vulkanasche zu installieren. Dieses Vorhaben, das in stetiger Abstimmung mit den europäischen Entscheidungsträgern umgesetzt wird, unterstützen wir ausdrücklich. Neben den gesicherten Erkenntnissen und zuverlässigen Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkanasche benötigt der Luftverkehr zudem verlässliche Angaben über die Auswirkungen von Vulkanasche auf die Flugzeuge, insbesondere auf die Triebwerke. Eine Festlegung verbindlicher Grenzwerte für sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken und Luftfahrzeugen im Falle einer Kontamination der Luft mit Vulkanasche ist ebenso hilfreich wie notwendig. Wir begrüßen vor diesem Hintergrund die auf europäischer Ebene bereits sichtbaren Bestrebungen, gemeinsam mit der Europäischen Agentur für Flugsicherheit mögliche Grenzen für eine akzeptable Vulkanaschekontamination zu ermitteln. Die Anhebung eines Grenzwertes von 2 mg/m3 auf 4 mg/m3 Asche durch einzelne EU-Mitgliedstaaten ohne nachvollziehbare, methodisch belastbare Ableitung wird von der Bundesregierung allerdings zu Recht nicht mitgetragen. Auch die Hersteller von Flugzeugtriebwerken stützen dies ausdrücklich nicht. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund betonen wir deutlich unsere Auffassung, dass in erster Linie die Flugzeug- und Triebwerkhersteller in der Verantwortung stehen, sichere Betriebsbedingungen für ihre Produkte zu bestimmen. Intensive Forschungsbemühungen seitens der Industrie sind unerlässlich für das Gewinnen von belastbaren Grenzwerten. Nur so können die Auswirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und die Flugsicherheit erarbeitet und eine europaweite Festlegung auf verbindliche Grenzwerte vorangetrieben werden. Wir begrüßen dementsprechend ausdrücklich, dass die Expertenrunde des Bundesverkehrsministeriums hierzu eng mit den Herstellern von Triebwerken zusammenarbeitet. Ich betone diesen Aspekt bewusst deutlich, da wir die Generierung verlässlicher Angaben zu sicheren Betriebsbedingungen der Triebwerke als zentralen Bestandteil der Vorsorgemaßnahmen für die Zukunft verstehen. Wir teilen dabei die Ansicht der Bundesregierung, dass eine letztendliche Festlegung belastbarer Grenzwerte von der EASA in enger Abstimmung mit den Herstellern vorgenommen werden sollte. Ein dritter und zentraler Punkt, den wir ebenso wie die Bundesregierung und das Expertengremium als wesentlich im Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise bei Vulkanausbrüchen erachten, ist ein international einheitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden. Vor dem Hintergrund des internationalen Charakters des Luftverkehrs müssen einheitliche Verfahren entwickelt werden, um in einer vergleichbaren Situation wie im April dieses Jahres angemessen und rechtssicher reagieren zu können. Erste richtungsweisende Maßnahmen, die bereits wenige Wochen nach der Naturkatastrophe auf europäischer Ebene durch das Engagement des Bundesverkehrsministers und dessen Amtskollegen aus den EUStaaten getroffen wurden, begrüßen wir an dieser Stelle ausdrücklich. So orientieren sich die Luftüberwachungsbehörden aller EU-Länder gegenwärtig an dem vom Londoner Vulcan Ash Advisory Center und Eurocontrol entwickelten „Drei-Zonen-Modell“, das eine angemessene Risikobewertung und Entscheidungsfindung im Falle eines Vulkanausbruches ermöglicht. Das System definiert je nach der vorhergesagten Aschekonzentration drei Gebiete, die sich in eine Flugverbotszone, eine Zone mit erweiterten Verfahren und eine Normalzone aufteilen und alle sechs Stunden neu definiert werden. So wird ein größerer Zugang zum europäischen Luftraum unter uneingeschränkter Gewährleistung des höchsten Sicherheitsniveaus ermöglicht, und alle EUMitgliedstaaten sind in der Lage, auf gemeinsamer Basis ihrer Verantwortung bezüglich ihres Luftraumes und einer Entscheidung über die Luftraumschließung nachzukommen. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag unterstützt diese Methodik ebenso wie das Vorhaben der Europäischen Kommission, das gegenwärtig als Empfehlung für die Mitgliedstaaten bestehende System gesetzlich zu verankern. Auch die Bundesregierung hat immer wieder mit Nachdruck darauf gedrängt, ein einheitliches Vorgehen aller Luftfahrtbehörden auf die Grundlage abgestimmter Verfahren zu stellen. Wir beZu Protokoll gegebene Reden grüßen es daher ausdrücklich und bewerten es als weiteren Erfolg, dass Deutschland in der momentan laufenden 37. Versammlung der Internationalen ZivilluftfahrtOrganisation in Montreal darauf hingewirkt hat, dass auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse international einheitliche Verfahren zum Umgang mit Luftkontaminationen herbeigeführt werden. Auch wenn die ICAO-Versammlung zurzeit noch läuft, ist bereits ersichtlich, dass die von der EU vorgeschlagene ICAOStrategie zum Umgang mit Gefährdungen der Luftfahrt durch Vulkanasche angenommen wurde. Die besagte Strategie schreibt der ICAO eine Führungsrolle mit dem Ziel zu, ein weltweit harmonisiertes Vorgehen zu ermöglichen. Die geltenden ICAO-Vorschriften werden nun dementsprechend überarbeitet. Die Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene und in der Versammlung der ICAO ist an dieser Stelle gesondert hervorzuheben. Bundesminister Dr. Ramsauer hat gemeinsam mit seinem Haus seit der Ausnahmesituation im April überaus engagiert auf ein zeitnahes einheitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden hingearbeitet und mit der von der ICAO angenommenen Strategie einen weiteren großen Schritt in diese Richtung getan. Ich betone ausdrücklich, dass die CDU/CSU-Fraktion diesen Einsatz begrüßt, unterstützt und zu schätzen weiß. Zusammenfassend betrachtet wird deutlich, dass die Bundesregierung ebenso engagiert wie erfolgreich daran arbeitet, ein effektives und nachhaltiges nationales Konzept für den Umgang mit einer vergleichbaren Ausnahmesituation zu installieren. Durch den Aufbau einer Expertengruppe und einer verkehrsträgerübergreifenden Arbeitsgruppe werden die drei vorrangigen Ziele eines zur Bewertung der Gefährdung benötigten dichten Messnetzes, verlässlicher Angaben über die Auswirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und eines einheitlichen Vorgehens der europäischen Luftfahrtbehörden mit Nachdruck verfolgt. Die ersten Ergebnisse des Engagements, die teilweise bereits wenige Wochen nach der Naturkatastrophe vorzuweisen waren, belegen den Erfolg der Arbeit des Bundesverkehrsministeriums. Die Weichen für nachhaltige Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum sind gestellt, die Entwicklungen werden auch weiterhin konsequent verfolgt werden. Die Fraktion der CDU/ CSU begrüßt das bisherige Engagement der Bundesregierung und unterstützt deren weitere Vorgehensweise. Zugleich wird ebenso deutlich, dass der vorliegende Antrag dem Engagement der Bundesregierung und allen Beteiligten nicht gerecht wird. Nicht nur die Argumentation, das Krisenmanagement sei unzureichend gewesen, sondern insbesondere der erweckte Eindruck, die Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull seien bisher noch nicht gezogen worden, decken sich nicht mit den Tatsachen. Zwar sind nicht alle Ziele der Bundesregierung bis heute voll und ganz erreicht worden. Das ist aber schlicht der Tatsache geschuldet, dass die zu bewältigenden Aufgaben in jeglicher Hinsicht komplex sind. Ein verbindlicher Grenzwert für sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken lässt sich ebenso wenig in kurzer Zeit ermitteln, wie sich komplexe gesetzgeberische Rahmenbedingungen für ein europaweites oder gar internationales Vorgehen der Luftfahrtbehörden nicht kurzfristig installieren lassen. Das Zusammenspiel zwischen Politik, Forschung und Industrie oder zwischen Entscheidungsträgern auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene kann nicht nach wenigen Wochen bereits abschließende und rechtssichere Resultate liefern. Dass aber mit Nachdruck an den Herausforderungen gearbeitet wird, belegen die überaus ermutigenden Resultate, die zum jetzigen Zeitpunkt bereits vorliegen. Nicht zuletzt die hervorragende Arbeit der Expertenrunde des Bundesministeriums verdeutlicht, dass sowohl die Zielsetzungen als auch die Realisierung der Vorhaben absolut stimmig sind. Aus diesem Grund werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen. Die Bundesregierung hat es als ihre Aufgabe verstanden, die Lehren aus der Vulkanaschewolke zu ziehen und sich nachhaltig mit den Vorsorgemaßnahmen und Vorgehensweisen in der Zukunft auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt die erfolgreiche Arbeit des Bundesverkehrsministers belegt, dass dies geschehen ist und die Sicherheit der Passagiere - die von Beginn an immer im Mittelpunkt des Engagements gestanden hat - auch in Zukunft gewährleistet sein wird.

Ulrike Gottschalck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull liegt jetzt einige Monate zurück. Die Auswirkungen dieses Naturereignisses beschäftigen uns heute noch. Die durch diesen Vulkanausbruch notwendig gewordenen Flugverbote haben Schätzungen zufolge 1,2 Millionen Passagiere pro Tag betroffen. Wir müssen davon ausgehen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieses Ausbruchs mehrere Milliarden Euro betragen. Allein die Luftverkehrsunternehmen hatten laut Schätzungen 1,3 Milliarden Euro Verlust zu verkraften. Ein wesentliches Kennzeichen dieses Naturereignisses war das Fehlen politischer Führung in der Krise. Keiner wollte die Verantwortung übernehmen, bis sie schließlich abgewälzt wurde auf die schwächsten Glieder der Kette, die sich nicht entziehen konnten, weil sie Angst um ihren Job hatten. Diese Glieder der Kette waren die Fluglotsen und die Flugkapitäne. Wir alle haben noch den Begriff kontrollierte Sichtflugverfahren im Ohr. Während der Beeinträchtigungen des deutschen Luftverkehrs haben die deutschen Fluggesellschaften Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren beim Luftfahrt-Bundesamt beantragt und durchgeführt. Das Luftfahrt-Bundesamt ist dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordnet. Es hat diese Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren als unbedenklich gewertet. Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Herr Dr. Peter Ramsauer hat sich jedoch im ARD-Magazin „Report München“ am 17. Mai 2010 von der Zustimmung zur Durchführung dieser kontrollierten Sichtflüge distanziert. Dieses Szenario dokumentiert die Hilflosigkeit und Führungslosigkeit, denen wir in dieser Krise ausgesetzt waren. Ein einheitliches und koordiniertes KrisenmaZu Protokoll gegebene Reden nagement fand weder innerhalb Deutschlands noch auf europäischer Ebene statt. Die Einführung eines so genannten Drei-Zonen-Modells der europäischen Flugsicherungsorganisation Eurocontrol hatte lediglich empfehlenden Charakter. Zu dem unkoordinierten Handeln auf politischer Ebene kam das Fehlen von Faktenwissen, mangels fundierter und wissenschaftlich belegter Daten und Fakten als notwendige Grundlage für politische Entscheidungen zum Beispiel über die Notwendigkeit der Durchsetzung oder Aufhebung von Flugverboten - hinzu. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen aus den Erfahrungen in dieser Krise lernen und die notwendigen Vorkehrungen treffen, damit zukünftig auf ähnliche Ereignisse professioneller und für alle Beteiligten zielführender reagiert werden kann. Wir setzen uns daher in dem vorliegenden Antrag für die Stärkung der Klimaforschung und Geowissenschaften und für die Schaffung eines nationalen und europäischen Krisenmanagements im Luftverkehr ein. Der Ausbruch des Eyjafjallajökull war, wenn auch der spektakulärste und bekannteste Vorfall, nur einer von insgesamt vier bekannt gewordenen Ereignissen, bei denen es im Luftverkehr zu Problemen mit Vulkanasche gekommen ist. In der Sondersitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages am 20. April 2010 wurde sehr deutlich, dass vor allem zu wenig Erkenntnisse darüber vorliegen, welche Folgen Vulkanasche auf Flugzeugtriebwerke hat und welche Faktoren - zum Beispiel Flugdauer, Partikelkonzentration usw. - sich in welcher Form qualitativ wie quantitativ auswirken. Die Einrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschung sowie der Geowissenschaften und der Deutsche Wetterdienst haben die Herausforderung durch den Ausbruch des Eyjafjallajökull angenommen und wichtige Daten und Fakten zur Fundierung weitreichender, politischer Entscheidungen gesammelt. Es hat sich aber ganz deutlich gezeigt, dass die vorhandenen Kapazitäten und Strukturen nicht ausreichen. In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass die Bundesregierung die Forschungsförderung zum Klimawandel in den nächsten drei Jahren um zusätzliche 255 Millionen Euro erhöhen will. Die Förderung der Erforschung des Klimawandels und der Geowissenschaften kann uns nicht nur darin unterstützen, koordinierter durch unerwartete Krisen, wie einen Vulkanausbruch, zu kommen, sondern trägt auch zur Stärkung des Innovationsstandortes Deutschland bei. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grenzwerte für Luftfahrzeuge und Triebwerke wissenschaftlich fundiert und verbindlich auf Ebene der EU festzulegen und diese Definition auf internationaler Ebene rechtsverbindlich zu verankern. Eine gute Gelegenheit hierfür wäre die Generalversammlung der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation gewesen, die gegenwärtig in Montreal tagt und morgen endet. Auf diese Art hätte eine wichtige rechtliche Regelungslücke geschlossen werden können. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, die Voraussetzungen für ein nationales, europäisches und internationales Krisenmanagement zu schaffen. Für den Fall eines erneuten Ausbruchs eines Vulkans in Europa soll die Bundesregierung einen nationalen Krisenstab beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung entwickeln und einrichten. Wir fordern die Erarbeitung und Festlegung eines einheitlichen Messystems zur Erhebung von Messdaten über Konzentration, Verbreitung und örtlicher Veränderung von Vulkanasche. Wir müssen die Umsetzung des Einheitlichen Europäischen Luftraums - Single European Sky - vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass der Abschluss des Staatsvertrages zur Errichtung des funktionalen Luftraumblocks FABEC noch in diesem Jahr erfolgt. Besonders wichtig ist die Unterstützung von Forschungsprojekten und die Entwicklung von Maßnahmen, die bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und dem Auftreten von Aschewolken eine Gefährdung des Luftverkehrs vermeiden und solch ein Ausmaß an Chaos und Vakuum, wie wir es im April und Mai diesen Jahres erleben mussten, verhindern. Durch verstärkte auch finanzielle Unterstützung der Forschung sowie durch eine bessere Zusammenarbeit national, international, politisch und zwischen den Fachleuten, Ingenieuren und Wissenschaftlern können wir bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und ähnlichen Krisen für eine sichere Flugplanung sorgen und Aschekonzentrationen besser vorhersagen. Außerdem müssen wir für die betroffenen Passagiere bessere Möglichkeiten für alternative Transportwege finden und für sie fundierte Informationen und Unterstützung bereitstellten. So können wir es möglich machen, bei einer ähnlichen Krise nicht wieder so hilflos zu sein wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull in diesem Frühjahr.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Anfang des Jahres brach der Vulkan Eyjafjallajökull auf Island aus und ganz Europa stand still - nun ja, still vielleicht nicht. Es war über den europäischen Flughäfen stiller als sonst, auf Autobahnen und Bahnhöfen herrschte hingegen Hektik bis Chaos. Denn der gesamte Flugverkehr in Europa musste aufgrund der Vulkanasche für mehrere Tage eingestellt werden. Die plötzliche Ruhe freute die Anwohner von Flughäfen. Die pro Tag circa 1,2 Millionen betroffenen Fluggäste fanden es hingegen weniger angenehm, von den Fluggesellschaften und von den vom Flugverkehr abhängigen Industriezweigen ganz zu schweigen. Insgesamt geht man heute davon aus, dass die mehrtägige Luftraumsperrung einen finanziellen Schaden von mindestens 1,3 Milliarden Euro verursacht hat. Hätte man dieses Chaos vermeiden können? Ja und nein. Ja, weil, wie meine Kollegin Ulrike Gottschalck in ihrem Redebeitrag darstellen wird, auf der Ebene des Bundesministeriums in den Tagen einiges schiefgelaufen ist und enormer organisatorischer Verbesserungebedarf besteht. Nein, da vonseiten der Forschung alles zu diesem Zeitpunkt Machbare getan wurde. Zu Protokoll gegebene Reden Es ist nicht das erste und ganz bestimmt nicht das letzte Mal, dass in Europa Vulkane ausbrechen. Jeder Vulkanausbruch ist aber anders. Das Außergewöhnliche an dem Ausbruch von Eyjafjallajökull war die Produktion besonders kleinkörniger Asche, die wiederum länger als andere Vulkanasche in der Luft blieb. Hinzu kam die Windrichtung, welche die Aschewolke über das europäische Festland trieb. Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, einem Institut der Helmholtz-Gemeinschaft, wurde diese Entwicklung frühzeitig wahrgenommen. Ihre Erkenntnisse erhielten sie durch den von DLR maßgeblich entwickelten und betriebenen Erdbeobachtungssatelliten TerraSAR-X. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern war klar, welche Auswirkungen die Aschewolke für den europäischen Flugverkehr haben könnte. Neben Satelliten betreibt das DLR mehrere Forschungsflugzeuge. Eines davon, die Falcon 20E, war bereits in Saharastaub geflogen und bot sich deshalb für die Durchführung von Tests in der Nähe der Aschewolke an. Die Mitarbeiter des DLR machten sich sofort an die Arbeit, um das Flugzeug, das ansonsten für andere Forschungszwecke genutzt wird, mit den nötigen Instrumenten zu bestücken. In dieser Situation erwies es sich als großes Glück, dass das DLR aufgrund der Forschungsgelder des Bundes im Bereich Atmosphärenforschung gut aufgestellt ist. Denn erst durch die Messdaten der Falcon konnten die im Modell berechneten Eckdaten der Aschewolke überprüft werden. Die Ergebnisse wurden dann an die nationalen, europäischen und internationalen Luftfahrtstellen weitergegeben, führten am Ende zur Festlegung von Grenzwerten und zur Öffnung des Luftraums. Ohne den Einsatz des deutschen Forschungsflugzeugs wäre der Luftraum wohl noch viel länger geschlossen geblieben. Den vielen helfenden Händen im DLR gilt deshalb unser besonderer Dank. Was bedeutet der Vulkanausbruch forschungspolitisch für die Zukunft? Es zeigt einmal mehr, dass Erkenntnisse der Grundlagenforschung sehr schnell auch in der Anwendung konkrete Bedeutung erlangen können. Die Grundlagenforschung finanziell auszubauen und dabei auch „Orchideenfächer“ wie die Vulkanologie zu unterstützen, ist deshalb dringend geboten. Die schnelle Einsatzbereitschaft der Falcon war ein Glücksfall und ist dem Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DLR zu verdanken. Es fehlt aber eine institutionelle Lösung. Denn für Vulkanausbrüche - aber auch Waldbrände oder Großunfälle können ähnliche Wolken hervorbringen - besitzen wir keine jederzeit einsetzbaren Forschungsflugzeuge. Krisenmanagement und Forschung eng miteinander zu verzahnen, hat sich in diesem Fall als großes Glück erwiesen. Die Stationierung eines solchen Flugzeugs, wozu immer eine Crew und erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Auswertung von Daten gehören, bei einem Forschungsinstitut wie dem DLR macht deshalb Sinn. Dafür müsste das DLR aber einen klaren Auftrag aus der Politik erhalten, der sich auch finanziell im Budget niederschlägt. Jetzt müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden. Deutschland ist im Bereich Forschungsflugzeuge und der dazugehörigen Wissenschaften dank der Forschungsförderung des Bundes sehr gut aufgestellt. Eyjafjallajökull hat aber auch gezeigt, welche Bereiche weiter ausgebaut werden müssen. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen, damit die vor uns liegende Arbeit schnell angepackt werden kann. Denn der Nachbarvulkan von Eyjafjallajökull scheint ebenfalls nicht zu schlafen.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Eyjafjallajökull hat uns in dramatischer Art und Weise vor Augen geführt, wie schnell unsere hochtechnologisierte, arbeitsteilig organisierte Welt in Bedrängnis gebracht werden kann. Wir sollten dies nutzen, um innezuhalten und uns die Frage zu stellen, ob und wie wir mit derartigen „Ausbrüchen“ umgehen können. Dazu gibt es selbstverständlich unterschiedliche mögliche Reaktionsweisen: von Fatalismus - nach der Devise: „Da kann man nichts dran machen“ - bis zu aufgeregtem Aktionismus, wie er im Antrag der SPD festzustellen ist. Wir als FDP halten eine sachgerechte und realistische Betrachtung der Vorgänge für nötig. Wir halten das Ableiten von vernünftigen Maßnahmen aus den Vorgängen im April für sinnvoll, und wir sind sicher, dass diese Regierung und der Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auch genau dies machen. Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Aufgrund einer bisher nicht erlebten Sicherheitslage ist im April des Jahres der Luftraum über Deutschland zeitlich befristet gesperrt gewesen. Dies ist verantwortliches Handeln. Alles andere hätte in Anbetracht der Lage, für die es keine Erfahrungswerte gab, zu Recht einen Aufschrei der Bevölkerung und des Parlaments bewirkt. Daraus zu schlussfolgern, dass das Krisenmanagement unzureichend war oder politische Führung fehlte, ist durchsichtiges Oppositionsgetöse. Die Einrichtung eines nationalen Krisenstabes, wie gefordert von der SPD, ist blanker Aktionismus, der nichts, aber auch gar nichts an der Lage und den Entscheidungen geändert hätte. Man kann vermuten, dass SPD-Politiker solche Situationen gerne nutzen, um sich als Retter in der Not darzustellen. Beispiele dafür gibt es ja bei den Überschwemmungskatastrophen zu Genüge. In solchen Situationen geht es nämlich nicht darum, sich als Retter medial zu inszenieren, sondern sachgerechte, fundierte Entscheidungen zu treffen. Das können die Deutsche Flugsicherung und das BMVBS mit den beteiligten Fachleuten sicher besser. Andere Länder wie die Schweiz, die im Übrigen nur einen äußerst geringen Bereich des deutschen Luftraums über die Schweizer Flugsicherung Skyguide abdeckt, mögen zu anderen Ergebnissen kommen, insbesondere auch, da der Süden weniger beeinträchtigt war. Im Übrigen sollte Skyguide, wie der Unfall über Überlingen vom 1. Juli 2002 bedauerlicherweise bestätigte, nicht unbedingt als Referenz für verantwortliches Handeln herangezogen werden. Die weitere Argumentation des SPD-Antrags läuft ähnlich weiter. Mit einer gefährlichen Mischung aus Halbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten Zu Protokoll gegebene Reden und populistischen Forderungen versucht dieser Antrag den Eindruck zu erwecken, dass das Handeln der Verantwortlichen nicht sachgerecht war. Das weise ich mit Empörung zurück. Denn nachträglich erlangtes Wissen über die Bedrohung des Flugverkehrs zu nutzen, um situationsgerechte Entscheidungen anzugreifen, entspricht nicht einer vernünftigen Aufarbeitung. Die Opposition vergibt hier die Chance, darzulegen, dass sie zur Übernahme von Verantwortung fähig ist. Denn es muss doch festgestellt werden: Es gab und gibt bisher so gut wie keine Erkenntnisse über das Verhalten von Flugzeugtriebwerken beim Einflug in Vulkanaschewolken. Es gab und gibt glücklicherweise wenig vulkanische Eruptionen, anhand derer man die nötigen Versuche an Flugzeugtriebwerken durchführen könnte. Selbst bei Befolgung der im SPD-Antrag aufgelisteten zusätzlichen kostenintensiven Maßnahmen gibt es Restrisiken, die nicht erfasst werden können, wie zum Beispiel die chemische Zusammensetzung von Vulkanaschen unterschiedlicher Vulkane, die meteorologische Vorhersage von Aschewolken, deren Absinkverhalten in Abhängigkeit der Teilchendichte und -größe, mögliche chemische Reaktionen in Wasserwolken, die Auswurfhöhe der Vulkane usw. Die Vorschläge sind populistisch, zielen darauf, ein gigantisches Programm mit hohen Kosten aufzusetzen, versteigen sich gar darauf, eine Professur für Vulkanologie zu fordern, und führen am Ziel vorbei. Vor allem aber sind sie ohne vernünftige Abwägung des nutzbaren Erkenntnisgewinns zu den eingesetzten Mitteln. Dies sind wir von der SPD gewohnt, die aus fehlender Sachkenntnis heraus Steuermillionen in der Vergangenheit, und wenn es nach ihr gehen würde, auch in der Zukunft, aus dem Fenster werfen würde, und das, weil einmal in 100 Jahren ein Vulkan ausbricht. Das BMVBS unter Minister Ramsauer handelt verantwortungsvoll, zieht die notwendigen Schlüsse aus dem Vorgang und bereitet mit Augenmaß die notwendigen Änderungen vor. Dazu zählen die auf der Verkehrsministerkonferenz am 6. und 7. Oktober des Jahres und vorher vorgestellten Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum. Das ist Politik mit Augenmaß und Verstand. Das Gegenteil davon ist dieser SPD-Antrag.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Am 20. März brach der isländische Vulkan Eyjafjallajökull aus und überzog den europäischen Luftraum mit der sogenannten Aschewolke. Dies ist Grund genug, sich als Gesetzgeber mit den Folgen zu beschäftigen. Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war ein Akt höherer Gewalt und hat drei Probleme deutlich werden lassen: Erstens. Unsere hochtechnisierte Gesellschaft ist sehr anfällig; sie ist ein sensibles System ohne Netz und doppelten Boden, wenn kein entsprechendes Krisenmanagement für Notfälle zur Verfügung steht. Zweitens. In Europa sind Verfahren zur effizienten Bewertung meteorologischer Probleme noch nicht genügend entwickelt, und es fehlt an Krisennotfallplänen. Drittens. Dr. Ramsauer, Verkehrsminister der Koalition, hat als starker Mann mit der Wiederfreigabe des Luftraums politische Entscheidungen getroffen, also Entscheidungen auch zugunsten der Luftfahrtindustrie, zugunsten der gestrandeten Reisenden, jedoch nicht zugunsten der Piloten. Hier wurde keine vernünftige Abwägung vollzogen. Wir lernen daraus, dass der Minister noch einen Kurs in Krisenmanagement belegen müsste. Darauf werden wir in Zukunft unser spezielles Augenmerk richten. Die Bedrohung der modernen Welt durch immer kompliziertere Netze in Verkehr, Kommunikation, Logistik und Elektrizität wird heute nicht durch ausreichende staatliche Notfallpläne abgedeckt. Im Zuge des Vulkanausbruchs kam es zu einer Kettenreaktion, Tausende Urlauber saßen auf den Flughäfen, warteten auf die Aufhebung der Luftraumsperrung und stritten um die vorhandenen Steckdosen, um Handys, Laptops, iPhones und andere Geräte zu laden. Geschäftsreisende erreichten ihre Kunden nicht, Luftfracht blieben liegen, bei BMW in Dingolfing standen die Bänder still. Die Komplexität unserer hochtechnisierten Welt wurde selbst zum Sicherheitsrisiko. Geradezu unverschämt war vor diesem Hintergrund das Auftreten von Lufthansachef Mayrhuber, der das Aschechaos benutzte, die Aussetzung des Emissionshandels für den Luftverkehr zu fordern. Erst seit dem Jahr 1991 wissen wir, dass Vulkanausbrüche eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen können. An dieser Stelle helfen weder Demutsgesten angesichts der übermächtigen Mutter Natur noch das starke Mann Gehabe von Verkehrsminister Ramsauer. Wie im Antrag der SPD richtig angemerkt wurde, fehlt es an Grundlagenforschung. Verschiedene Meldungen, was die Aschepartikel. genau in den Turbinen, auf der Außenhaut und an den Instrumenten der Flugzeuge anrichten können, widersprachen sich erheblich. Das einzige, was man relativ klar feststellen konnte, war, dass sicherer Flugverkehr nicht mehr zu gewährleisten war. Grundlagenforschung nicht nur in Bezug auf meteorologische Phänomene, sondern auch in Bezug auf ihre konkrete Auswirkung auf den Luftverkehr - ist dringend notwendig. Die Einschätzung, die das Verkehrsministerium nach der Veröffentlichung des Falcon-Reports traf, wurde nicht von allen Meteorologen geteilt. Wir teilen die Einschätzung der SPD-Fraktion, dass das deutsche Krisenmanagement schwach war. So wurden beispielsweise eigene Messdaten zu spät erhoben, es wurde kein richtiger Krisenstab gebildet und Fluglotsenkapitäne und die Gewerkschaftsvereinigung Cockpit e.V. kritisierten die Übertragung der alleinigen Verantwortung auf die Piloten. Die Schweizer Flugsicherung Skyguide wickelte über deutschem Hoheitsgebiet weiterhin den vollständigen Flugverkehr ab, eine Praxis, die unserer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft, die unter ihrem Dach das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und damit die besten deutschen Wissenschaftler beherbergt, ist als Betreiberin der Asse leider bereits negativ aufgefallen. Aufgrund der aktuellen Debatte um Atomendlager und Standortauswahl müsste man noch einmal überlegen, ob sie tatsächlich als Dach Zu Protokoll gegebene Reden für deutsches Krisenmanagement in ähnlichen Fällen fungieren kann. Kurz und gut: Wir unterstützen den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, auch wenn wir einige Schwerpunkte anders setzen würden.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Grundaussage des hier zu behandelnden Antrags ist richtig: Die Politik muss aus dem Geschehen rund um den Ausbruch eines isländischen Vulkans im April dieses Jahres einige Lehren ziehen, institutionelle Strukturen etablieren, politische Handlungskonzepte präzisieren und die Forschung rund um das Themenfeld Gefährdung öffentlicher Infrastrukturen durch Naturkatastrophen deutlich stärken. Gleichwohl schießt die SPD mit ihrem Angriff auf das politische Management in der Krise weit über das Ziel hinaus. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bis zum Ausbruch des Eyjafjallajökull war kein deutscher Verkehrsminister egal welcher Parteienzugehörigkeit, kein Deutscher Bundestag oder eine deutsche Flugsicherungsorganisation mit einer derartigen Situation großflächiger Kontamination des deutschen Luftraumes durch Aschepartikel. konfrontiert. Alle einschlägigen politischen Akteure, auch die Airlines, die Flughäfen und nicht zuletzt die betroffenen Passagiere wurden von der Vulkanaschewolke nachgerade überrascht. Vor diesem Hintergrund war die rasche Einrichtung des bestehenden Krisenstabes bei der für den Luftraum verantwortlichen Deutschen Flugsicherung, DFS, in Langen der richtige Schritt. Schließlich verfügt die Zentrale der DFS im Gegensatz zum Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin über die entsprechende technisch-instrumentelle Infrastruktur, auch die Einbindung des Deutschen Wetterdienstes, des Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung, des BMVBS und der Maastrichter Kontrollzentrale Eurocontrol wurde so sichergestellt. Das politische Management in der Aschekrise war geprägt vom „Handeln unter den Bedingungen größtmöglicher Unsicherheit“ in Bezug auf folgende Fragen: Wie bewegt sich die Aschewolke, welche Konzentration von Partikeln enthält sie, wie gefährlich ist welche Konzentration für Flugzeugturbinen etc. Insofern war die Entscheidung, den Luftraum zu sperren und so der Sicherheit von Flugpersonal und Passagieren höchste Priorität einzuräumen und dabei kein Risiko einzugehen, die richtige Entscheidung! Zweifellos ist bei der großflächigen Kontamination des europaweiten Luftraumes eine EU-weite Abstimmung notwendig. Ein einheitliches Verfahren in solchen Krisenfällen garantiert nicht nur eine bessere Abschätzung der Gefahrenlage und die größtmögliche Sicherheit des europäischen Luftverkehrs, sondern ist auch unter wettbewerblichen Gesichtspunkten der richtige Weg. Dass in Europa unterschiedliche politische Entscheidungen mit Blick auf Öffnung oder Sperrung von hoheitlichen Lufträumen gefällt wurden, hat viele zu Recht verwirrt. An dieser Stelle ist ein eindrückliches Plädoyer für den einheitlichen europäischen Luftraum SES angebracht! Denn nur so können sich zukünftig einheitliche Verfahren bei der Datenerhebung und Messung, Abstimmungen im Flugverkehrsmanagement und Luftraumsperrungen auf der Basis gemeinsam verabredeter Grenzwerte durchsetzen. Weitere Lehren sind aus den Ereignissen zu ziehen. Etwa muss zukünftig sichergestellt werden, dass Messund Beobachtungssysteme und entsprechend ausgerüstete Flugzeuge - wie die Falcon des DLR - bereit stehen. Und nicht, wie in der Krise dankeswerter Weise geschehen, von einer Vielzahl von Ingenieuren des DLR unter anderem Institutionen unter Hochdruck erst umgerüstet werden müssen. Möglicherweise brauchen wir EU-weit eine kleine Flotte solcher Messflugzeuge, die miteinander vernetzt jederzeit aufsteigen können. Selbstverständlich müssen für die Zukunft dann aber auch Mittel bereitgestellt werden, die etwa das DLR in die Lage versetzen, ein solches Flugzeug mit der entsprechenden technischen Ausrüstung und hochqualifiziertem Personal quasi abrufbar vorzuhalten. Es gab zur recht Irritationen angesichts unterschiedlicher Vorgaben der UN-Zivilluftfahrtbehörde, ICAO, bei der Unterscheidung von Sichtflug und Instrumentenflug. Kein Wunder, ist doch in einer bestimmten Höhe und bei bestimmtem Wetter ({0}) der sogenannte Sichtflug auch im kontaminierten Luftraum erlaubt, hingegen der Instrumentenflug nicht. Hier müssen Widersprüche im Regelwerk der ICAO entsprechend aufgelöst und im Sinne konsistenter und sicherheitswirksamer Regeln geändert werden. In Zukunft müssen ICAO und Flugüberwachsungsbehörden wie die europäische EASA klare Vorgaben zu Grenzwerte für Stoffeinträge ({1}) im Triebwerk machen können. Die europäischen Verkehrsminister haben in diesem Jahr eine Reihe von Maßnahmen zur Festlegung einer neuen europäischen Methodik, eines kohärenten Vorgehens bei der Bewertung und dem Management von Sicherheitsrisiken, zur Definition einheitlicher Grenzwerte ({2}) und zur Optimierung technischer und methodologischer Instrumente der ICAO verabschiedet bzw. auf den Weg gebracht. An diesen Vorhaben muss mit Konzentration weitergearbeitet werden. Auch wurden mit dem Szenario „Option 3“ drei Flugzonen mit unterschiedlichen Risiken für Flüge definiert. Im Kern der Emissionswolke der No-Fly Zone mit einer Aschekonzentration über 4 000 Mikrogramm je Kubikmeter bleibt der Flugverkehr künftig vollständig untersagt, abgestuft kann Flugbetrieb in den anderen beiden Zonen erfolgen. Wesentlich ist darüber hinaus die beschleunigte Umsetzung des luftverkehrswirtschaftlich in vielerlei - etwa klimapolitischer - Hinsicht bedeutsamen Projektes Single European Sky, SES II, sowie die Einrichtung funktionaler Luftraumblöcke und Verbesserung des Europäischen Air Traffic Managements, ATM. Durch den Vulkanausbruch auf Island und die Folgen für den Flugverkehr in Europa ist überdeutlich geworden, dass es über das Gefährdungspotenzial durch Vulkanasche zahlreiche Erkenntnis- und Wissenslücken gibt. Diese Zu Protokoll gegebene Reden bestehen vor allem an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Technikwissenschaften. Gleichwohl haben insbesondere die Einrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschung sowie die Observatorien des Deutschen Wetterdienstes in engerer Koordination und Kooperation mit ihren europäischen und internationalen Partnern in beeindruckender Weise gezeigt, wie wichtig trans- und interdisziplinäre Grundlagenforschung auch für aktuelle Ereignisse sein kann. Systematische Forschungen in diesem Schnittstellenbereich müssen gestärkt werden. Weiter gilt es spezielle Studien zu Grenzwerten und Aschewirkungen in Triebwerken auf den Weg zu bringen. Denn Forschungsdefizite führten ja bisher zu erheblichen Problemen bei der Festsetzung von Grenzwerten. Das konkrete Gefährdungspotenzial hängt dabei von vielen Faktoren ab: zum Beispiel davon, welchen Ursprungs und Beschaffenheit die Asche ist, welche Konzentration vorliegt, ebenso vom Zeitraum in dem die Triebwerke der Asche ausgesetzt sind oder welche Art von Triebwerk überhaupt betroffen ist. Es steht unter den betroffenen Akteuren heute außer Frage, dass die Wissens- und Erkenntnisdefizite ausgeräumt werden müssen, um zukünftig angemessen reagieren zu können. Hier sind allerdings auch Eigenleistungen in der Forschung bei den Triebwerksherstellern gefragt. Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbessern, dass zum Beispiel überschneidende Forschungsbereiche wie Vulkanologie, Meteorologie und Luftfahrttechnik bei ihren Forschungstätigkeiten verstärkt miteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse abstimmen können. Dabei ist von zentraler Bedeutung und vielerorts längst Praxis, dass nicht jedes Land isoliert an den wissenschaftlich relevanten Fragestellungen arbeitet, sondern in Absprache und in Kooperation mit den internationalen Partnern vorgeht. Forschungsbedarfe und neue Bedarfe an Forschungsinfrastruktur und Forschungsprogrammen sollten daher international wenigstens aber EU-weit abgestimmt werden. Zwar gibt es durch die europäischen Forschungsrahmenprogramme gute Möglichkeiten, Messgeräte und Messungen im Rahmen von zeitlich begrenzten Projekten finanziell zu fördern. Wenn die Förderung aber ausläuft, fehlt häufig die Kontinuität, die man für eine dauernde Überwachung bräuchte. Bei Messungen und Datenerfassung brauchen wir also deutlich mehr Verstetigung. Zum Schluss benötigen wir - auch das ist für mich eine wichtige Konsequenz - einen Plan B für mögliche Katastrophen dieser Art. Wir haben quasi kein Konzept für den Fall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehr in einer Region oder in einem Staat plötzlich komplett ausfällt. Man kann daraus lernen, dass auch, mit Blick auf die Sicherheit und Verfügbarkeit von Infrastrukturen, Konzepte entwickelt werden müssen, die dann rasch abrufbar und einsetzbar sind und auch solche Fragen beantworten, wie: wer ist zuständig und wer wickelt die zum Beispiel die Rückführung von Passagieren ab, die fern der Heimat gestrandet sind. Wir müssen daher auch über die Verbrauchersituation und die Kundenrechte nachdenken. Es hat sich gezeigt, dass sich manche Regeln an Einzelfällen orientieren und dass es keine flächendeckende Lösung gibt. Auch hier gilt es nachzuarbeiten. Fazit: Wesentliche Fragen sind in dem Antrag der SPD angesprochen, die Herausforderungen müssen jetzt aufgearbeitet werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einwände? Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 5: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäi- sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen Ratsdok. 9145/10 - Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 - Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Dr. Eva Högl Raju Sharma Ingrid Hönlinger Hierzu hatten eigentlich die Kolleginnen und Kolle- gen Ansgar Heveling, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma und Jerzy Montag reden wollen. Sie geben ihre Reden zu Protokoll.1) - Einwände dazu sind nicht erkennbar. Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/3234, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Hierbei handelt es sich um keinen Routinevorgang. Darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen. Unbeschadet der Frage, ob und wann ein dazu in den Verträgen vorgesehenes Quorum zustande kommt, macht damit der Deutsche Bundestag zum ersten Mal einvernehmlich Bedenken gegen eine Regelungsabsicht der Europäischen Kommission deutlich. Wir erwarten, dass unabhängig von den statistischen Relationen die Europäische Kommission diesen Hinweis so ernst nimmt, wie er von diesem Parlament offenkundig gemeint ist. ({1}) 1) Anlage 8 Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 20 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Evaluierung der Neuorganisation der Bundespolizei durch einen wissenschaftlichen Sachverständigen - Drucksache 17/3068 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich fortsetzen - Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen - Drucksache 17/3187 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Haushaltsausschuss Die Reden der Kollegen Günter Baumann, Stephan Mayer, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Petra Pau und Wolfgang Wieland werden zu Protokoll gegeben.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen sicher leben und stellen mit Recht die Forderung an den Staat, dass dieser alles in seiner Macht Stehende hierfür unternimmt. Unter den verschiedenen Sicherheitsbehörden nimmt die Bundespolizei auch aufgrund ihrer besonderen bundesländerübergreifenden Kompetenz eine Schlüsselposition ein. Ich möchte heute hier an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten für ihre hervorragende Arbeit, die sie täglich für unser aller Sicherheit leisten, zu bedanken. Zu den verschiedensten Aufgaben der Bundespolizei gehören Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraumes, bahnpolizeiliche Aufgaben, Kontrollen an Flughäfen, die Unterstützung von besonderen Einsätzen, wie zum Beispiel bei Fußballspielen oder bei Fanmeilen. Erwähnt werden muss auch, dass die Bundespolizei nicht nur im Inland ihre wichtige gesetzliche Aufgabe erfüllt, sondern in vielen Auslandseinsätzen unter verschiedenen Mandaten tätig ist. Durch die Schengen-Osterweiterung sind entscheidende Veränderungen der Bundespolizei und damit eine umfangreiche Neuorganisation notwendig geworden. Die hierzu am 25. Januar 2008 im Deutschen Bundestag beschlossene Reform war richtig, und es gab hierzu keine Alternative. Die Bundespolizei stand jedoch damit in wenigen Jahren vor ihrer dritten Reform, wobei diese nun die Beschäftigten der Bundespolizei vor die größten und einschneidendsten Veränderungen und Herausforderungen in ihrer Aufgabenwahrnehmung gestellt hat. Ziele der Neuorganisation sind unter anderen: keine Reduzierung der Personalstärke und durch Aufgabenbündelung „mehr Personal auf die Straße“ und somit mehr Effektivität. Bei mehreren Besuchen bei den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten vor Ort habe ich neben der guten Arbeit und hohen Motivation auch eine teilweise aufkommende negative Stimmung zu einzelnen Folgen der Neuorganisation registriert. Darunter kann natürlich sehr leicht auch das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leiden. Da verschiedene Kritikpunkte über die Umsetzung der Reform an die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen herangetragen wurden, fand im Deutschen Bundestag am 5. Juli 2010 eine öffentliche Anhörung zur Thematik der Neuordnung der Bundespolizei statt. Alle angehörten Fachexperten waren der Meinung, dass die eingeleitete Reform notwendig war und diese auch bis zum Ende durchgeführt werden muss. Ein Nachjustieren in einzelnen Punkten ist jedoch notwendig. Hierzu gehört nicht nur die Stärkung in den Ballungsräumen und auf den Flughäfen, sondern auch eine ausreichende personelle Besetzung der Inspektionen in den ländlichen Räumen und in den Grenzregionen. Gerade der Freistaat Sachsen, mit seinen 139 Kilometern Grenze zur Republik Polen und 453 Kilometern Grenze zur Tschechischen Republik, ist von einem deutlichen Anstieg der Kriminalität, insbesondere bei Autodiebstählen und Einbrüchen, im Grenzbereich betroffen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei und Zoll in der Praxis schon gut gelingt, jedoch muss man auch hier weitere Verbesserungen erreichen, um Doppelarbeit und Reibungsverluste zu vermeiden. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespolizei wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt. Dies ist ein selbstverständlicher Teil des Berufsbildes, da die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten mit dem Wissen leben, dass ihr Einsatzort in ganz Deutschland sein kann. Jedoch muss die letzte Phase der Strukturreform in der Bundespolizei gerade im Hinblick auf die Um- und Versetzungen sozialverträglicher gestaltet werden. Sicherlich müssen Bundesbeamte bundesweit einsetzbar sein, jedoch sollte der lokale Bezug zukünftig bei der Nachwuchsgewinnung eine größere Rolle spielen. Deshalb sehe ich das in Frankfurt geplante Modellprojekt des Bundesministeriums des Innern als einen Schritt in die richtige Richtung. Im Zuge der Neugründung des Bundespolizeipräsidiums in Potsdam sind Aufgaben aus dem Bundesministerium des Innern dahin übertragen worden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass ein Gleichgewicht zwischen einer Zentralisierung und Entscheidungsbefugnissen für ein sachkundiges Vorgehen vor Ort vorherrschen muss. Es kann nicht sein, dass ein Einsatzfahrzeug von der grünen Grenze zur Reparatur 120 Kilometer in die Werkstatt des zuständigen Präsidiums geschickt wird, wenn es vor Ort eine Werkstatt gibt. Das heißt, dass nunmehr zum einen in der letzten Phase der Bundespolizeireform die Kernkompetenzen des Bundespolizeipräsidiums durch das Bundesministerium des Innern klar umrissen und gestärkt werden müssen. Zum anderen sollte jedoch auch das Subsidiaritätsprinzip bei der Aufgabenwahrnehmung wesentlich stärker als bisher in den Fokus rücken. Ich möchte nur eine Bemerkung zum Antrag der SPD machen, einen wissenschaftlichen Sachverständigen mit einer weiteren Evaluierung zu beauftragen. Wir haben eine öffentliche Anhörung mit sieben Fachexperten abgehalten, die die Vorzüge, aber auch die Probleme und Sorgen der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten dargelegt haben. Hierauf haben wir mit unserem Antrag reagiert. Eine weitere Evaluierung auf Kosten der Steuerzahler halte ich für obsolet. Deshalb kann man den Antrag der SPD nur ablehnen. Der Antrag von CDU/ CSU und FDP weist in die Richtung, um die begonnene Bundespolizeireform erfolgreich abzuschließen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist unstrittig, dass die Bundespolizei über eine sehr hohe Kompetenz verfügt, national wie international. Diese Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, sondern auch für die Zukunft zu sichern und auszubauen. Der Wegfall der stationären Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien sowie die immer knapper werdenden Haushaltsmittel haben in den vergangenen Jahren den Reformdruck auf die Bundespolizei erhöht. Die im März 2008 begonnene Bundespolizeireform war daher logische Konsequenz dieser vorgenannten Ereignisse. Ziel der Neuorganisation der Bundespolizei war es, die Strukturen zu straffen, um Personalressourcen für operative Aufgaben zu gewinnen. Durch die Zusammenfassung und Aufwertung der bisherigen Bundespolizeiämter wurden die regionalen Zuständigkeiten auf allen Ebenen gebündelt und die vorhandenen Kräfte auf die Schwerpunkte der bundespolizeilichen Arbeit verteilt. Die vorgenannten Reformziele haben sich bisher insbesondere auf die Behördenstruktur und somit natürlich auch auf die Beschäftigten ausgewirkt. Sowohl die Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern als auch die Anhörung im Innenausschuss am 5. Juli 2010 haben gezeigt, dass die Umsetzung der Reform nach wie vor andauert. Auch wenn viele Strukturen bereits aufgebaut wurden - beispielsweise das Bundespolizeipräsidium in Potsdam -, befinden wir uns derzeit erst in der dritten von vier Phasen der Personalumsetzung. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum jetzt durch einen unabhängigen Sachverständigen eine umfassende Evaluation vorgenommen werden soll. Eine umfangreiche Bewertung käme aus meiner Sicht allenfalls nach Abschluss der Reform in Betracht, aber doch nicht mitten in der Phase der Personalumsetzung. Daher ist der Antrag der SPD-Fraktion schlicht abzulehnen. Er ist zur Unzeit gestellt und würde nur zu einer Behinderung des weiteren Vollzuges der Reform führen. Er ist somit keineswegs dienlich. Im Übrigen haben wir sowohl durch den Bericht des Bundesministeriums des Innern als auch durch die öffentliche Anhörung im Innenausschuss bereits ein sehr gutes Abbild der derzeitigen Situation bei der Bundespolizei erhalten. Ergänzend darf ich anmerken, dass wir zudem als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag stets intensiven Kontakt zu den Inspektionen und Direktionen vor Ort unterhalten. Eine Versetzung stellt einen tiefgreifenden Einschnitt in den persönlichen Lebensabschnitt eines Beamten dar. Aber auch eine zeitweilige dienstliche Abordnung, die mit mehrstündigen täglichen Reisezeiten verbunden sein kann, kann letztlich zum gleichen Ergebnis führen - einer hohen psychischen und physischen Belastung für den Beamten und sein Umfeld. Auch wenn vielen Bundespolizisten ihre Verpflichtung zur Mobilität und Flexibilität bewusst ist, stellt sie die derzeitige Situation vor große Herausforderungen. Lassen Sie mich das in einem Beispiel näher ausführen: Selbst wenn sie einem festen Standort im ländlichen Raum, wie beispielsweise Rosenheim, fest zugewiesen sind, kann für Sie die Verpflichtung bestehen, täglich am Flughafen München tätig zu werden. Dies beruht auf dem nach wie vor vorhandenen Personalmangel - zahlreiche Dienstposten sind auch in der Bundespolizeidirektion München unbesetzt -, aber auch den noch nicht abgeschlossenen Versetzungsmaßnahmen als Bestandteil der Reform der Bundespolizei. Der vorliegende Antrag der christlich-liberalen Koalition geht auf diese Belange ein und versucht, die für viele unbefriedigende Situation kurz- und mittelfristig zu verbessern. Er ist daher für mich ein richtiges Signal zur richtigen Zeit. Angesichts dessen, dass die meisten Aufgriffe von unerlaubt Eingereisten derzeit an deutschen Flughäfen erfolgen, ist auch das im Antrag angeregte besondere Augenmerk auf die Personalsituation an den Flughäfen nachvollziehbar. Schließlich reisten alleine am Flughafen Frankfurt am Main und dem Flughafen München in den ersten sechs Monaten dieses Jahres fast 2 000 Menschen unerlaubt ein. Mehr als 100 davon wurden von organisierten Schleuserbanden in die Bundesrepublik Deutschland geschickt. Da in den nächsten Jahren mit einem weiteren Anstieg der Passagierzahlen im grenzüberschreitenden Flugverkehr zu rechnen ist, wird die Situation an den Flughäfen sicher weiter fortbestehen. Ich warne jedoch davor, dass die Stärkung der Flughäfen zum Nachteil des ländlichen Raumes geschieht. Gerade die Aufgriffszahlen der Bundespolizeidirektion München für die deutsch-österreichische Grenze belegen, dass nach wie vor auch im ländlichen Raum viele Aufgriffe erfolgen. Alleine an dieser Grenze werden 40 Prozent aller illegal nach Deutschland auf dem Landweg einreisenden Personen aufgegriffen. Aber nicht nur die Vielzahl, sondern auch die Qualität der Aufgriffe ist von besonderer Bedeutung. So konnten beispielsweise mehrere Mitglieder der italienischen Mafia in den letzten Monaten in Südbayern aufgegriffen werden. Insgesamt stieg die Anzahl der erfassten Verdächtigen im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vergleichszeitraum im Vorjahr sogar um fast 300 Prozent in Bayern. In absoluten Zahlen sind dies 2 364 Verfahren, die Zu Protokoll gegebene Reden Stephan Mayer ({0}) nach durchgeführten Kontrollen eingeleitet werden konnten. Vergleicht man diese Zahl mit der vorgenannten Zahl an illegal Eingereisten an den beiden größten deutschen Flughäfen Frankfurt am Main und München, wird die Relevanz der Kontrollen im ländlichen Raum sichtbar. Hinzu kommt, dass alle Routen illegaler Migration, sei es über Italien oder den Balkan, letztlich über die deutsch-österreichische oder aber die deutschtschechische Grenze nach Bayern führen. Es ist bekannt und belegt, dass diese Routen vornehmlich für illegalen Drogen- und Menschenhandel genutzt werden. Die Aufgriffszahlen aus dem letzten Jahr und den ersten Monaten dieses Jahres belegen dies nachdrücklich. Für mich muss daher auch der ländliche Raum aus der Reform der Bundespolizei gestärkt hervorgehen. Die Höhe der Aufgriffszahlen belegt, dass die Kompetenz und Erfahrung der Bundespolizei auch dort unverzichtbar ist.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Anfang März dieses Jahres legte uns das Bundesinnenministerium einen „Evaluationsbericht“ zur Neuorganisation der Bundespolizei vor. Den Begriff „Evaluationsbericht“ muss man an dieser Stelle mit Absicht mit Anführungszeichen versehen, denn er ist kaum das Papier wert, auf dem er steht. Neben der dürftigen Faktenlage, mit der er aufwartet, wird eines sehr deutlich: Die Schlüsse, die der Bericht aus den erhobenen Fakten zieht, stimmen in keiner Weise mit den polizeilichen Realitäten der Beamtinnen und Beamten vor Ort überein. Da sprechen die Ergebnisse der Beerlage-Studie der Hochschule Magdeburg-Stendal vom September 2009, die jedem vierten Angehörigen der Bundespolizei das Burn-Out-Syndrom attestiert, eine andere Sprache. Nach dieser Studie fühlen sich 65 Prozent der Beamtinnen und Beamten zu wenig mit ihrer Organisation verbunden. Die umfangreiche Umstrukturierung der Organisation, die mit der Reform einherging, hat diese Probleme noch verschärft. Denn den Beamtinnen und Beamten wird mit Abordnungen, Mehrarbeit und der Erbringung von Kennzahlen sehr viel zugemutet. Die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zu keinem Zeitpunkt relevantes Organisationsziel der Reform, die sich damit gravierend negativ von den Organisationszielen der Länderpolizeien unterscheidet. Im vorliegenden Bericht wird demnach auch nicht auf die Mitarbeiterzufriedenheit eingegangen. Der damalige Bundesinnenminister Schäuble begründete die Reform mit der veränderten Sicherheitslage im Zuge des weltweiten Terrorismus und des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses. Insbesondere die Tatsache, dass Deutschland seit 2007 nur noch von Ländern, die dem Schengen-Abkommen angehören, umgeben ist und deshalb die Grenzkontrollen wegfallen, war der Anlass, die bisherigen Strukturen zu überdenken und zu verschlanken. Jedoch wurde im Zuge der Reform eins nicht getan: Es wurde nicht evaluiert, wie sich die Lage nach der Öffnung der Grenzen verändern würde. Nun, mit Vorlage dieses Berichts, lässt sich unschwer erkennen, dass es falsch war, die Präsenz im ehemaligen Grenzgebiet zu reduzieren, denn es gibt einen signifikanten Anstieg von Eigentumsdelikten und illegaler Migration. Von dem weiteren Reformziel, der so oft zitierten Bekämpfung des internationalen Terrorismus, spricht der Bericht schon gar nicht mehr. An dieser Stelle ist bereits festzustellen, dass der Zweck der Reform nicht erreicht wurde. Aber auch die organisatorischen Ziele wurden weitestgehend nicht umgesetzt. Mit der Reform sollte die operative Basis deutlich gestärkt werden. Die Präsenz in der Fläche sollte spürbar ansteigen. Die Losung lautete, 1 000 Beamtinnen und Beamte mehr auf die Straße zu bringen. Dennoch wurde die Anzahl der Inspektionen von 128 auf 77 reduziert. Damit betreuen die Beamtinnen und Beamten flächenmäßig ein viel größeres Gebiet; eine stärkere Präsenz in der Fläche ist damit nicht zu erreichen. Die zusätzlichen Reviere können dabei nur wenig Abhilfe schaffen. Denn weil viele Aufgaben vom Bundespolizeipräsidium in Potsdam gesteuert werden, wird der Verwaltungsaufwand für die Beamtinnen und Beamten vor Ort deutlich größer. Erschwerend kommt hinzu, dass eine große Anzahl von Beamtinnen und Beamten an Flughäfen abgeordnet wird - etwa 450 - oder im Auslandseinsatz - etwa 400 ist. Außerdem gibt es zu wenig Neueinstellungen, sodass sich die personelle Situation der Bundespolizei insgesamt verschärft. Ausweislich des Bundeshaushaltes 2005 Einzelplan 06 hatte die Bundespolizei im Jahr 2004 nur 648 eingerichtete Beamtenplanstellen nicht besetzt. Nach dem Bundeshaushaltsgesetz 2010 sind diese unbesetzten Beamtenplanstellen im Jahr 2009 auf inzwischen 1 195 Stellen angewachsen. Durch dieses gestiegene Fehl kann kaum von einer „Stärkung der operativen Basis“ die Rede sein. Darüber hinaus hat die Bundespolizei 500 Dienstposten - Funktionen im ODP mehr eingerichtet, als sie haushaltsmäßig über Planstellen verfügt. Im Ergebnis werden dadurch nach der kompletten personalwirtschaftlichen Umsetzung der Neuorganisation mehr als 1 800 eingerichtete Arbeitsplätze nicht besetzt sein. Das Ziel, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen, wurde somit deutlich verfehlt. Es gibt eine Organisationsstruktur, die bezogen auf die breite Fläche misslungen ist. Dort, wo jetzt Inspektionen sind, wären Reviere vielleicht angebrachter und umgekehrt. Sicherheitsdefizite sind vorprogrammiert. Dem steht entgegen, dass die Anzahl der Plätze in den Direktionen, in den Leitungsstäben und anderswo zum Teil um bis zu 200 Prozent aufgestockt wurde. Das ist ein krasses Missverhältnis und steht im Gegensatz zu dem, was Ansatz der Bundespolizeireform war. Da die Aufgaben der früheren Präsidien nun einfach auf die neuen Direktionen übertragen werden, führte die Abschaffung der Bundespolizeipräsidien als Mittelbehörde nicht zum gewünschten Erfolg. Die operative Basis wurde nicht gestärkt. Es gibt entgegen der Ankündigung vor der Reform weniger Präsenz in der Fläche. Die Neuorganisation hat zu einem organisatorischen Zu Protokoll gegebene Reden und personellen Chaos geführt, das schnellstmöglich beendet werden muss. Dem drohenden Personalkollaps innerhalb der Bundespolizei muss dringend Einhalt geboten werden. Es kann nicht sein, dass immer weniger Beamtinnen und Beamte eine immer größere Fülle von Aufgaben erledigen müssen. Der Bereich der Neueinstellungen wurde sträflich vernachlässigt. Hier gilt es, anzusetzen und verstärkt um Anwärterinnen und Anwärter zu werben. Die Sozialverträglichkeit der Umsetzung war eine große Überschrift der Reform, sie wird aber nicht erreicht. In Wirklichkeit verspielt das Bundesinnenministerium mit dieser Reform die Einsatzfähigkeit der Bundespolizei. Die Darstellung des Bundesinnenministeriums, dass mit dem Abschluss von Dienstvereinbarungen für die Beamten und Tarifbeschäftigten die Neuorganisation sozialverträglich umgesetzt wird, entspricht nicht dem bisherigen Verlauf der Umsetzung der Neuorganisation. Dass die Dienstvereinbarungen im Maßstab 1 : 1 umgesetzt wurden, ist einzig und allein den zuständigen Personalvertretungen zu verdanken. Bei Abschluss des ersten und zweiten Schrittes der Reform war jeweils ein Beschluss des Bundespolizeihauptpersonalrates erforderlich, um vor Beginn des nächsten Umsetzungsschrittes die vereinbarten Bilanzierungen durchzuführen. Es gibt eine Vielzahl berechtigter Beschwerden und Klagen von Beamtinnen und Beamten, die aus sozialen Gründen nicht versetzt werden wollen, trotzdem aber versetzt werden sollen, um die Fehlorganisation auszugleichen. Die soziale Betroffenheit derjenigen, die nach dem sozialen Ausleseprozess von heimatferner Verwendung betroffen sind und noch betroffen sein werden, mildern diese Vereinbarungen allerdings nicht. Besonders Beschäftigte in unteren und mittleren Einkommensgruppen laufen dabei Gefahr, ihre Existenz und ihre finanzielle Zukunft zu riskieren. Das ist in unseren Augen keine Sozialverträglichkeit, sondern in vielen Fällen eine Zumutung. Wenn sich Bedienstete dann gegen Zwangsversetzungen wehren oder krank werden, bleiben wichtige Planstellen unbesetzt. Extrem defizitär ist die Situation in der Aus- und Fortbildung. Dieser Bereich wurde im Zuge der Vorbereitung der Neuorganisation nicht tiefgründiger analysiert, was sich nun rächt. Die Bundespolizei hat seit Jahren schlichtweg zu wenig Nachwuchs eingestellt und ist auch mit ihrer Struktur der Personalwerbung und der Schwerpunktbestimmung von Werberäumen hoffnungslos abgehängt. Insgesamt besteht das Problem der Überalterung der Bundespolizei, so sind über 2 500 Polizeiobermeister älter als 40 Jahre. Inzwischen gibt es extreme Kapazitätsengpässe. So waren die Kapazitäten der Bundespolizeiakademie und der Aus- und Fortbildungszentren bereits im Jahr 2008 zu 84 Prozent mit Ausbildungsaufgaben ausgelastet, im Jahr 2009 zu 92 Prozent. Das führt dazu, dass bereits heute kaum noch zentrale Fortbildungsmaßnahmen angeboten werden können. Es droht eine sich permanent wandelnde Bundespolizei, die ihre Mitarbeiter aus Kapazitätsgründen nicht fortbilden kann. In der Folge kommt es zum Entzug von Polizeibeamten - vor allem des gehobenen Dienstes - aus der operativen Linie und ihren Abordnung in die Ausbildungsorganisation, um die Ausbildung sicherstellen zu können. Wir Sozialdemokraten wollen, dass das Bundesinnenministerium das Versprechen von der sozialverträglichen Umsetzung einhält und die Beamtinnen und Beamten zu ihrem Recht kommen. Wir fordern die schnellstmögliche Besetzung der 1 195 unbesetzten Stellen bei der Bundespolizei, um die Überbelastung der Beamtinnen und Beamten abzubauen. Die Arbeitszeit - besonders für Schichtdienstleistende - muss wieder auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden. Wir fordern eine regelmäßige Untersuchung der sozialverträglichen Umsetzung in Intervallen von sechs Monaten. Aus unserer Sicht müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden, welche die Bezeichnung „sozialverträglich“ auch verdienen. Der Bundesrechnungshof bestätigt mit seinem Prüfbericht, dass der Personalbedarf der sogenannten bundespolizeilichen Schwerpunktdienststellen - wie Bahnhöfen und Flughäfen - nicht auf Dauer durch Abordnungen aus Dienststellen in den Personalabbaubereichen abgefedert werden kann. Die massenhaften Abordnungen durch das Bundespolizeipräsidium müssen ein Ende haben und dürfen nicht noch stetig gesteigert werden. Familien dürfen nicht vierteljährlich und wiederholt getrennt werden. Wenn Abordnungen erfolgen, dann müssen sie ein logisches polizeitaktisches System erkennen lassen. Die Verwaltungsservicestellen, die bisher befristet werden, sind umgehend zu entfristen und im ODP der Bundespolizei auf Dauer einzurichten. Mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen im Ausland und dem Wegfall der östlichen Schengen-Außengrenzen leiden die Flughäfen unter besonderen Belastungen. Zum einen sind sie nun an Stelle der alleinig bisherigen Landesgrenzen neue SchengenGrenze, auf der anderen Seite bedienen überwiegend die Flughafendienststellen die Auslandseinsätze der Bundespolizei. Das Ergebnis der Organisationsüberprüfung aus dem Jahr 2008 wurde bis heute nicht umgesetzt, der Organisations- und Dienstpostenplan dementsprechend nicht angepasst. Das hat zur Folge, dass die Flughafendienststellen mit einem Organisations- und Dienstpostenplan ausgestattet sind, der auf Daten zurückliegender Jahre basiert. Auf wechselnde Bedingungen, wie zum Beispiel Ausbauplanungen in Berlin und Frankfurt am Main und damit verbundene steigende Fluggastzahlen, kann somit nicht reagiert werden. Im Ergebnis muss das Bundespolizeipräsidium regelmäßig auf Abordnungen aus anderen Dienststellen oder der Bundesbereitschaftspolizei zurückgreifen, um die Flughafendienststellen zu verstärken. Die im Bericht angesprochenen Abordnungen von Beamtinnen und Beamten aus den sogenannten Personalüberhangbereichen der Direktionen Bad Bramstedt, Berlin und Pirna an die Flughäfen sind kritisch zu betrachten. Das bitter notwendige Umsteuern im System der Personalgewinnung und -steuerung für die FlughafenZu Protokoll gegebene Reden dienststellen wurde zwei Jahre lang nicht bearbeitet. Insgesamt sind gegenwärtig circa 850 Polizeibeamtinnen und -beamte innerhalb ihrer Direktionen und circa 450 Polizeibeamtinnen und -beamte zu Dienststellen außerhalb ihrer Direktionen - Flughäfen - abgeordnet. Das entspricht in etwa dem Personalfehl, welches durch sträfliche Vernachlässigung von Neueinstellungen entstanden ist. Das Bundesinnenministerium versichert in seinem Bericht, dass die Anzahl der erforderlichen Polizeivollzugsbeamten grundsätzlich jährlich nach einheitlichen Kriterien und auf Grundlage bundesweit gültiger Fachkonzepte überprüft werde. Dem steht entgegen, dass seit den Vorfällen im Dezember 2009 - Stichwort: Detroit keine großen Veränderungen, die zur Verbesserung der Sicherheit beigetragen hätten, erfolgt sind. Damit ist diese Aussage des Bundesinnenministeriums anzuzweifeln. Sollte es wirklich eine derartige jährliche Überprüfung geben, so müsste im Ergebnis zutagetreten, dass der Organisations- und Dienstpostenplan und der damit verbundene Dienstpostenansatz zukünftig anzupassen ist. Die Aufgabenwahrnehmung an den Flughäfen ist eine Kernkompetenz der Bundespolizei; sie muss auch als solche behandelt werden. Wir wollen, dass die Stellen langfristig fest besetzt sind und nicht durch Abordnungen aus anderen Bereichen ersetzt werden. Die Personalzumessung muss so gestaltet sein, dass die Anzahl der Abordnungen so gering wie möglich ausfällt. In der Konsequenz fordern wir eine gezielte regionale Einstellungspolitik. Wir favorisieren dabei regionale Werbemaßnahmen zur Personalgewinnung für die Bundespolizei. Der Dienst nach der Ausbildung muss schon in der Ausbildung regional planbar sein. Freie Dienstposten, die bis heute nicht vollständig besetzt sind, obwohl die finanziellen Mittel, nämlich Planstellen, schon lange vorhanden sind, müssen als Erste besetzt werden. Es gibt noch viele Baustellen bei der Umsetzung dieser Reform, einer Reform, die ich schon von Anfang an kritisch begleitet und als überstürzt betrachtet habe. Die von mir angesprochenen Problempunkte wurden von mir bereits vor zweieinhalb Jahren benannt. Die Sachverständigenanhörung am 5. Juli hat zum großen Teil meine Ansichten bestätigt. Die Anhörung belegte zudem sehr deutlich, dass die Evaluierung der Reform nur sehr unzureichend gelungen ist, der Bedarf an einer sachgerechten Bewertung ist sogar noch größer geworden. Es steht nicht zu erwarten, dass eine erneute interne Untersuchung objektivere Ergebnisse bringt. Wir fordern deshalb, dass die Bundespolizeireform durch einen wissenschaftlichen Sachverständigen untersucht wird, der im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt wird. Ich bitte um Unterstützung dieser Forderung und unseres Antrags.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bundespolizei befindet sich derzeit noch in der dritten großen Strukturreform. Reformen bringen immer Unruhe, Verwirrungen und Unzufriedenheit mit sich. Die Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir wollen auch keine Dauerreform der Bundespolizei. Wir wollen, dass die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten im Interesse unserer Sicherheit ihren Job machen können. Das brauchen wir - und nicht Unruhe und Unzufriedenheit. Diese Unruhe und Unsicherheit liegt vielleicht auch daran, dass die Reformvorhaben erst zu spät bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Beamtinnen und Beamten angekommen sind, diese also quasi vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Weil wir nicht wollen, dass nun auf die Reform die Reform der Reform folgen soll und alles wieder auf den Kopf gestellt wird, ist die christlich-liberale Koalition der Überzeugung, dass Fehlentwicklungen begegnet werden muss, aber innerhalb des nun vorgegebenen Konzepts. Denn das, was vielleicht in der Wirtschaft üblich ist, dass eigentlich die Reorganisation der Normalfall ist, das wollen wir den Mitarbeitern der Bundespolizei nicht zumuten, und das können wir nicht verantworten, weil es um die Sicherheit zum Beispiel an den Grenzen und an den Flughäfen geht, die Verlässlichkeit braucht. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf - und wir wissen, dass diese Forderungen vom Bundesinnenministerium aufgegriffen werden -, die Dinge zu ändern, die aus der Reform einen Erfolg machen können. Wenn ich hier auf die SPD-Position schaue, dann muss ich mir hingegen verwundert die Augen reiben. Ich frage hier mal: Wer hat es erfunden? Das waren doch Sie, die SPD, in der vorigen Wahlperiode. Das waren doch Sie, die SPD, die eine Reform mitgetragen hat, die die Mitarbeiter nicht mitgenommen hat. Wo waren denn da Ihre mahnenden Worte? Wo war denn die gelebte Sozialdemokratie, als es um die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ging, die vor den Kopf gestoßen wurden? Jetzt verlangen Sie scheinheilig eine externe Evaluation. Da hätten Sie vielleicht vorher mal - ganz intern - in sich gehen können, bevor Sie so ein Projekt absegnen. Wir, die FDP-Fraktion, haben die Bundespolizeireform skeptisch gesehen. Das will ich gar nicht verhehlen. Aber wir wollen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, die sich gerade in der neuen Struktur zurechtfinden wollen und müssen, nicht nochmals vor eine Reorganisation im Stile einer Umwälzung stellen. Vielmehr wollen wir nun ihre Bedenken, ihre Erfahrungen, ihre Anregungen aufnehmen, um es besser zu machen. Denn die Bundespolizei muss ihre Aufgaben wahrnehmen können - und dazu braucht sie engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihrer Organisation angenommen fühlen und sich einbringen, die ihre Arbeit gut machen wollen und können. Genug zu tun gibt es für die Bundespolizei dabei: Nach der SchengenOsterweiterung sind die Aufgaben an den östlichen Bundesgrenzen ja nicht auf einmal weggefallen, sondern die Bundespolizei steht vor neuen Herausforderungen. Durch die Zunahme des Reiseverkehrs an Flughäfen und die zunehmende Zahl von Menschen in Ballungsräumen Zu Protokoll gegebene Reden stehen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten vor anspruchsvollen Aufgaben, für die stetig ausreichend Personal vorhanden sein muss. Notwendig ist auch ein langfristiges Personalentwicklungskonzept, damit die Bundespolizei sich für die Zukunft richtig aufstellen kann. Dazu gehören die Nachwuchswerbung ebenso wie die Aufstiegschancen innerhalb der Bundespolizei, die Auslandseinsätze ebenso wie die Spezialisierung, die in einer zunehmend komplexen Welt bei den Sicherheitsbehörden allenthalben erforderlich ist. Verantwortung muss man übernehmen - und man muss dafür auch die entsprechenden Freiräume haben, um sie auszufüllen. Deshalb wollen wir, dass das Bundespolizeipräsidium in seinen Kernaufgaben gestärkt wird, um seiner Verantwortung eigenständig auch nachkommen zu können, zugleich aber die Entscheidungsebenen vor Ort in angemessener Weise berücksichtigt werden, denn vieles muss nicht zentral geregelt werden. Wir setzen uns nicht für zentralisierte Entscheidungen fernab der Belange vor Ort, fernab der Belange und der Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer alltäglichen Arbeit ein, sondern wollen die Entscheidungskompetenz da verorten, wo sie hingehört. Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten verdienen unseren Respekt und unseren Dank für die Wahrnehmung vielfältiger Aufgaben. Der Antrag der christlich-liberalen Koalition gibt diesem Ausdruck.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Reform der Bundespolizei, über die wir heute reden, wurde 2008, vor nunmehr zweieinhalb Jahren, vom Bundestag beschlossen. Im Juni 2010, also vor vier Monaten, fand im Innenausschuss eine Expertenanhörung statt. Das Fazit: Keins der vorgegebenen Reformziele wurde erreicht. Wie ein Sachverständiger es zuspitzte: Die Geschichte dieser Reform ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Kurzum, das Urteil der Fachleute war mehr oder weniger vernichtend. Im Bundesinnenministerium sah man das natürlich anders. Die interne Überprüfung habe ergeben, dass die Reform der Bundespolizei im Großen und Ganzen gelungen sei. Wir kennen dieselben Fehleinschätzungen auch von anderen Beispielen, etwa von Überprüfungen der Sicherheitsgesetze. Deshalb noch mal ganz klar: Überprüfung bedeutet nicht, dass sich das Bundesinnenministerium selbst bescheinigt, es sei alle Zeiten super. Ich will hier nur die offensichtlichsten Mängel kurz auflisten. Erstens, die Präsenz der Bundespolizei in der Fläche ist ebenso wenig gesichert wie die Sicherheit an Brennpunkten, seien es Flughäfen oder Bundesgrenzen im Süden und im Osten. Zweitens, es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen dem, was an Personal und Ausstattung nötig wäre, und dem, was an Personal und Ausstattung gewährt wird. Drittens, beide Diskrepanzen, die mangelnde Präsenz und die Unterausstattung, werden auf Kosten der Beschäftigten und zulasten ihrer Familien übertüncht. Viertens, praktisch unbeantwortet ist auch die Frage, wie der Beruf einer Bundespolizistin bzw. eines Polizisten auch künftig attraktiv sein könnte. Es fehlt ein Zukunftsplan. Fehlende Ressourcen, demotiviertes Personal, mangelnde Perspektiven und löchrige Sicherheit - ein schlechteres Zeugnis kann man einer sogenannten Reform nicht aussprechen. Ich will als Linke nicht unerwähnt lassen: einer Reform unter CDU-Führung. Die Fraktion Die Linke fordert daher dreierlei: Erstens, die Ergebnisse bzw. Mängel der bisherigen Reform der Bundespolizei sind durch unabhängige Sachverständige zu überprüfen. Zweitens, die Fehlentwicklungen, insbesondere die, die zulasten der Beschäftigten gehen, sind unverzüglich zu korrigieren. Drittens, bei allen weiteren Schritten sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften endlich ernst zu nehmen und einzubeziehen. Abschließend will ich für die Fraktion Die Linke allerdings noch einmal grundsätzlich unterstreichen: Alle Gelüste, die öffentliche Sicherheit zunehmend privaten Anbietern anzudienen und die Polizei zweckfremd einzusetzen, werden wir nicht hinnehmen. Ich sage das so allgemein und für manche auch kryptisch, weil bisher nie offen gesagt wurde, welchem Sinn und Zweck diese Reform der Bundespolizei eigentlich folgte und welche politischen Absichten möglicherweise wirklich dahinter stecken. Wir erleben immer wieder Vorstöße, mit denen die Trennungsgebote des Grundgesetzes zwischen Polizeien, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeweicht werden sollen. Die Linke wird daher auch alle weiteren Reformen der Bundespolizei mit genau diesem Argwohn begleiten.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Bundespolizeireform in Gang setzte, da dachte er, er bräuchte für dieses Vorhaben noch nicht einmal ein Gesetz. Dem Organisationserlass folgte dann doch noch ein Gesetz und Anfang des Jahres dann die erste Beurteilung der Folgen der Reform. In dieser Beurteilung kommt das Bundesinnenministerium - man kann das ruhigen Gewissens so zusammenfassen - zu dem Ergebnis: Alle Ziele sind erreicht oder mindestens sehr weit gediehen, ein richtiger Plan wurde gut umgesetzt, und die Zeit wird vielleicht doch noch verbliebene Wunden schon heilen. Den Leser dieser Bewertung beschlichen von Anfang an die Zweifel, dass so ein großes Projekt so problemlos umgesetzt werden kann. Denn mit der Reform wurde gleichzeitig dreierlei getan: Erstens wurde die Organisation massiv umgekrempelt, es wurden Standorte genauso verändert wie die ganze Struktur und die Zuständigkeiten. Zweitens wurde die Leitung neu gestaltet und vom Ministerium in eine neue Oberbehörde verlegt das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Drittens wurden die Ziele und Aufgaben teilweise neu definiert. Das hat zur Folge, dass eine große Zahl von Polizistinnen und Polizisten neue Aufgaben an einem neuen Ort übernehmen müssen, dass Verwaltungsabläufe neu gestaltet werden müssen, dass Stellen noch zu besetzen sind. Dass alles im Fluss ist, spiegelt sich auch in den vielen, vielen Zuschriften und Stellungnahmen, die wir InZu Protokoll gegebene Reden nenpolitiker erhalten haben. Praktiker aus den Inspektionen und den Revieren haben eine sehr viel kritischere Einschätzung als das Innenministerium. Sie klagen über einen regelrechten Bürokratieverhau an Vorgaben, Formularen, zu sammelnden Kennzahlen, über unbesetzte Stellen und darüber, dass die Reform insgesamt dazu geführt hat, dass mehr Zeit am Schreibtisch verbracht wird und darunter die eigentliche Kernaufgabe, nämlich Sicherheit zu schaffen, leidet. Nicht zuletzt leiden auch viele Beamtinnen und Beamte unter der Reform, sei es durch Umzüge oder durch Überstunden. Dass es diese Probleme gibt, haben unisono alle Sachverständigen bestätigt, die wir im Juli im Innenausschuss angehört haben. Immerhin hat diese Einstimmigkeit bei der Bundesregierung zu der Einsicht geführt, dass wohl doch nicht alles von alleine geht. Das räumen die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ja auch mehr oder weniger freimütig ein. Um die Probleme nun ehrlich angehen zu können, braucht es aber nicht das, was die Koalition will, nämlich mehr Selbstbeurteilung des Ministeriums. Das führt vielleicht zur Lösung der auffälligsten Probleme. Aber es ist nicht der richtige Weg, um wirklich zu erfassen, wo die Probleme stecken und wie die Lösung aussehen könnte. Deswegen unterstützen wir die Forderung der SPD, wissenschaftlichen Sachverstand hinzuzuziehen, um eine umfassende, professionelle Evaluierung durchzuführen. Das darf nicht nur heißen, dass jemand das BMI berät, wie es sich am besten selbst evaluiert. Es muss bedeuten: Sachverständige evaluieren Organisation und Praxis der Bundespolizeireform. Nur so lassen sich die Missstände wirklich angehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3068 und 17/3187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine Normalisierung der Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba - Drucksache 17/3188 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Holger Haibach, Dr. Egon Jüttner, Klaus Barthel, Marina Schuster, Sevim Dağdelen und Hans-Christian Ströbele ihre Reden zu Protokoll.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das politische und wirtschaftliche Modell Kubas ist nicht zukunftsfähig und dringend reformbedürftig. Zu dieser Einsicht ist mittlerweile sogar die kubanische Führung selbst gelangt und hat daher kürzlich beschlossen, stärker auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirtschaftssystem des Landes zu setzen. In vielen Bereichen der Wirtschaft ist nunmehr privates Unternehmertum möglich, gleichzeitig wird die aufgeblähte Zahl der Staatsbediensteten drastisch reduziert. Manche Kommentatoren sehen hierin bereits den Beginn einer kubanischen Perestroika. Einzig die Fraktion Die Linke stellt sich gegen die Zeichen der Zeit und legt uns heute einen Antrag vor, der sich liest, als wären wir noch in den sechziger Jahren und als würde sich das kommunistische und planwirtschaftliche System Kubas immer noch als eine ernsthafte Konkurrenz zu liberalem Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft in der Region präsentieren. Das kubanische System ist aber von Grund auf marode und eine grundlegende Verbesserung der Beziehungen zwischen Europa und Kuba kann nur die Folge tiefgreifender Reformen und einer Öffnung des Landes sein. Es ist ja richtig, dass sich Kuba bemüht, uns ein Stück weit entgegenzukommen. So muss wohl jedenfalls die Freilassung der in dem Antrag erwähnten 52 Dissidenten verstanden werden. An sich wäre diese Freilassung ja auch zu begrüßen, wenn ihre Begleitumstände nicht so tragisch wären. Was die Kollegen von der Linksfraktion in ihrem Antrag unter den Tisch fallen lassen, ist nämlich, dass diese 52 Dissidenten nicht einfach nur aus ihren Zellen entlassen wurden. Sie wurden vielmehr direkt nach ihrer Freilassung nach Spanien abgeschoben und ihnen wurde de facto die Staatsbürgerschaft entzogen. Solange das kommunistische Regime in Kuba herrscht, werden diese Menschen ihre Heimat nicht wiedersehen können. Einen solchen Umgang mit unliebsamen Menschen durch eine kommunistische Diktatur kennen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte, und er ist weder zu begrüßen, noch sollte er von uns oder der EU belohnt werden. Wir müssen vielmehr weiterhin auf Kuba einwirken, alle politischen Gefangenen bedingungslos freizulassen und das Regime zu demokratischen Reformen ermutigen. Das ist auch kein Verstoß gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot, wie es in dem Antrag behauptet wird. Das Eintreten für die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit für alle Demokraten sein, und ich dachte bisher auch, dass es in diesem Haus darüber einen breiten und stabilen Konsens zwischen allen Fraktionen gibt. Wenn es aber wirklich die Meinung der Fraktion der Linken ist, dass die Forderung nach Demokratie und Freilassung von politischen Gefangenen in Kuba ein illegitimer Eingriff in die staatliche Souveränität des Landes ist, dann wirft sie damit die aktive Menschenrechtspolitik um vierzig Jahre zurück. Mit solchen Ansichten können Sie im 21. Jahrhundert keine glaubhafte Außenpolitik mehr betreiben. Auch die Beurteilung der Rolle Kubas in der regionalen Integration stellt das Ausmaß der Realitätsverweige6950 rung der Antragsteller heraus. Es ist eben so, dass zunehmend deutlich wird, dass die ALBA keine Organisation ist, von der Wachstumsimpulse für ihre Mitglieder ausgehen, wie das in der EU der Fall ist, sondern dass dies eine Organisation zur gemeinsamen Verwaltung des Mangels ist. Der Einfluss, den Kuba auf die Region zu nehmen versucht, ist unter diesen Vorzeichen eher als schädlich zu betrachten. Versuche der kubanischen Regierung, ihr System in andere Staaten zu exportieren, müssen zum Scheitern verurteilt sein. Vollends skurril wird die Argumentation des Antrags, wenn es um die Forderung nach einer Freilassung der sogenannten Miami Five geht. Diese Menschen werden nicht „in der USA gefangen gehalten“, wie es hier geschrieben steht. Sie wurden in einem rechtsstaatlichen Verfahren wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum Mord zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten einen unabhängigen Richter, frei gewählte Verteidiger und ein faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile in Berufung zu gehen. All dies sind Dinge, von denen die in Kuba eingekerkerten Dissidenten nicht einmal zu träumen wagen können. Irgendwelche Parallelen zwischen den „Miami Five“ und den eingesperrten Dissidenten in Kuba zu ziehen, ist daher mehr als hanebüchen und eine Verhöhnung derjenigen Kubaner, die sich unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und auch ihrer Gesundheit für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in ihrem Land einsetzen. Aus all diesen Gründen ist der Antrag abzulehnen. Kuba ist kein normales Land, sondern immer noch eine Diktatur, in der Menschen, die die Regierung kritisieren, weggesperrt werden. Solange noch über 200 Menschen aus politischen Gründen in Kuba eingesperrt sind, solange Menschen wie Juan Carlos Herrera Acosta und die anderen Mitglieder der „Gruppe der 75“ in Haft bleiben, weil sie sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, solange kann die EU ihre Beziehungen zu Kuba nicht normalisieren. Es ist nur zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung entsprechenden Bestrebungen vonseiten mancher unserer Partner entschlossen entgegenstellt. Der Gemeinsame Standpunkt der EU muss daher bestehen bleiben.

Dr. Egon Jüttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit ihrem Antrag möchte die Fraktion Die Linke erreichen, die Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba zu normalisieren. Selbst wenn man die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba in den vergangenen Monaten mit viel Wohlwollen betrachtet, kann dem unter keinen Umständen zugestimmt werden. Eine Normalisierung der Beziehungen würde der aktuellen Lage in Kuba in keiner Weise gerecht werden: So sind die bürgerlichen und politischen Rechte in Kuba weiterhin stark eingeschränkt. Regierungskritiker werden nach wie vor inhaftiert. Freigelassene Häftlinge berichten, dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung sind an der Tagesordnung. Das Recht auf Vereinigungsund Versammlungsfreiheit ist stark beschnitten. Die menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Kuba lassen eine Normalisierung der Beziehungen nicht zu. Bei der aktuellen Lage der Presse in Kuba kann man nicht von einer Einschränkung der Pressefreiheit sprechen. Bei einer zu 100 Prozent staatlichen Presse ist die Pressefreiheit nicht eingeschränkt, sondern es gibt schlicht und einfach keine Pressefreiheit. Der Freiheitsgrad der Presse auf Kuba liegt bei null. Die absolute staatliche Kontrolle erstreckt sich auf sämtliche Presseorgane. Sie macht auch vor dem Internet nicht halt. Die Behörden sperren nach wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern und Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberstehen. Sobald regierungsabweichende Publikationen im Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger Verfolgung ausgesetzt. Nach wie vor hindert die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürger an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitäten. Es mag zwar sein, dass sich dank der Vermittlung des spanischen Außenministers Moratinos und der katholischen Kirche die Situation in den letzten Wochen und Monaten etwas gebessert hat und über 50 politische Gefangene freigekommen sind. Man darf aber nicht vergessen: Die menschenrechtliche Situation im Jahre 2009 und in der ersten Jahreshälfte 2010 hat sich extrem verschlechtert. Ein Beispiel dafür ist der Tod des politischen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo. Er starb im Februar dieses Jahres infolge eines Hungerstreiks. Natürlich begrüßen wir die Freilassung politischer Gefangener. Es ist aber nicht so, dass die Freigelassenen nun unbehelligt in Kuba leben können und dort frei ihre Meinung äußern dürfen. Nein, sie müssen vielmehr ihr Land verlassen. Sie haben mehrheitlich in Spanien Zuflucht gefunden. Ist es nicht bezeichnend, dass gerade die freigelassenen Dissidenten, die ihre Dankbarkeit gegenüber Spanien durchaus zum Ausdruck gebracht haben, dennoch deutlich klar gemacht haben, dass sie den Vorstoß der spanischen Regierung, die Beziehungen zu Kuba zu entspannen, strikt ablehnen? Sie haben sowohl Spanien als auch die gesamte Europäische Union zu mehr Härte gegenüber Kuba aufgefordert. Auch uns ist es nicht verständlich, dass nun die Fraktion Die Linke eine Normalisierung der Beziehungen verlangt, während diese Dissidenten aus eigenem Erleben des Systems einen härteren Umgang mit dem kommunistischen Inselstaat fordern. Eine Normalisierung der Beziehungen ist auch im Hinblick auf das derzeitige Engagement der EU in Kuba nicht erforderlich. Allein zwischen 1993 und 2003 hat die Kommission 145 Millionen Euro an Hilfsmaßnahmen finanziert, davon 90 Millionen Euro im humanitären Bereich. Im Jahre 2009 hat Kuba weitere 36 Millionen Euro für die Bereiche Wiederaufbau, Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Umwelt und Klima sowie Management und Kultur erhalten. Und schließlich hat die Europäische Kommission erst kürzlich 20 Millionen Euro für 2011 bis 2013 im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Zu Protokoll gegebene Reden Aussicht gestellt. Hinzu kommt noch Soforthilfe, um auf Notlagen durch Hurrikane zu reagieren. Man kann deshalb nicht behaupten, die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sähen weg, wenn es um das Leiden der kubanischen Bevölkerung geht. Wir halten den im Jahre 1996 festgelegten „Gemeinsamen Standpunkt“ der EU weiterhin für richtig. Das heißt: Kuba muss die Menschenrechte wahren, bevor ein direkter Dialog mit seiner Regierung eröffnet wird. Von einem politischen oder gar von menschenrechtlichem „Tauwetter“ auf Kuba zu sprechen, halten wir für verfehlt. Über eine Normalisierung nachdenken können wir erst, wenn diese fundamentalen Bedingungen erfüllt sind. Der „Gemeinsame Standpunkt“ verstößt entgegen der Behauptung der Linken in dem Antrag auch nicht gegen das Nichteinmischungsverbot der Charta der Vereinten Nationen. Es ist legitim, an eine enge politische und wirtschaftliche Kooperation Bedingungen zu knüpfen. Nichts anderes macht der „Gemeinsame Standpunkt“ aus dem Jahre 1996 mit seiner Forderung an die kubanische Seite, die Menschenrechte zu achten. Der Vergleich mit den Beziehungen der Europäischen Union zu anderen lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko oder Kolumbien, den die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag aufstellt, kann so nicht hingenommen werden. Meine Damen und Herren von den Linken, Sie lassen dabei außer Acht, dass die staatliche Integrität dieser Länder durch Drogenkartelle und terroristische Organisationen ernsthaft gefährdet wird. Gerade Kolumbien sieht sich seit Jahren mit einer terroristischen Organisation konfrontiert, die eine ernsthafte Bedrohung für den Staat darstellt. Dennoch befinden sich diese Länder auf einem guten Weg und sind im Unterschied zu Kuba bemüht, trotz erheblicher Bedrohungen freie Wahlen abzuhalten. Die Situation in Kuba ist doch wirklich eine völlig andere. Dort regiert eine Partei, und wer sich ihrem Diktat nicht beugt, der ist nicht hinnehmbaren, menschenverachtenden Einschränkungen ausgesetzt. Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem Antrag gefordert wird, wäre deshalb unseres Erachtens ein falsches Signal an die kubanische Führung. Wir werden dem Antrag der Linken nicht zustimmen.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kaum ein Land erhitzt seit über 50 Jahren weltweit die Gemüter so wie Kuba. Für Freund und Feind übt die Insel eine besondere Faszination aus. Dies ist nicht die Stelle, das zu analysieren und sich in die Ursachen zu vertiefen. Auch die EU - sonst in vielen Fragen der internationalen Politik durchaus differenziert aufgestellt - hat es für nötig befunden, zu Kuba einen „Gemeinsamen Standpunkt“ zu formulieren. Das ist durchaus eine besondere Ehre für so ein kleines Land in weiter Ferne. Aus europäischer Sicht wäre es sicher wünschenswert, für wichtigere Fragen in der internationalen Politik einen Gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln und umzusetzen. Der Gemeinsame Standpunkt zu Kuba ist jetzt 14 Jahre alt und war damals von aktuellen Entwicklungen geprägt, vor allem von einer Zuspitzung wirtschaftlicher Probleme, von Konflikten und staatlichem Druck in Kuba, aber auch von Stimmungen und Strömungen neuer Mehrheiten und neuer Regierungen in der EU, die ein außenpolitisches Profil suchten. Die Frage, ob der europäische Standpunkt damals, 1996, angemessen war, kann aber heute offen bleiben. Heute besteht eine andere Situation. Selbst die USA überprüfen ihre Blockadepolitik. Eine Blockade übrigens, die bei sämtlichen UN-Vollversammlungen fast einstimmig, mit den Stimmen einzelner EU-Mitgliedstaaten, immer wieder verurteilt wurde, über die aber im Gemeinsamen Standpunkt nichts zu lesen ist. Auch die Entwicklung in Kuba selbst muss man zur Kenntnis nehmen. Alle Hoffnungen bzw. Befürchtungen, man könne durch äußeren Druck, durch wirtschaftlichen Boykott, durch außenpolitische Isolierung, durch Einmischung von außen einen Systemwechsel herbeiführen, sind gescheitert, auch nach weiteren 14 Jahren EU-Sanktionen. Die Freilassung von 52 Gefangenen ist vor allem auf einen innerkubanischen Dialog unter Beteiligung der katholischen Kirche zurückzuführen, bei dem die spanische Regierung hilfreich vermitteln konnte. Die kubanische Regierung selbst setzt wirtschaftliche Reformen in Gang. Kuba wächst schließlich mehr und mehr in die Staatengemeinschaft Lateinamerikas hinein. Längst ist die Isolation in dieser Region durchbrochen und einer Integration in regionale Bündnisse gewichen. Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion fordert daher zu Recht eine Korrektur der europäischen KubaPolitik und weist damit in die richtige Richtung. Auch wir kritisieren die Haltung der Bundesregierung, entgegen den Bestrebungen Spaniens und anderer Mitgliedsländer am bestehenden Standpunkt festzuhalten. Das ist plumpe Kalte-Krieg-Mentalität, die belegt, dass CDU und CSU rechtskonservatives Lagerdenken noch lange nicht überwunden haben. So kann man aber keine internationale Politik machen. Und, ganz nebenbei, Außenminister Westerwelle kann seine Lateinamerika-Strategie damit gleich wieder vergessen. Die Menschen, die sozialen Bewegungen und die Regierungen in der gesamten Region haben genug davon, von den USA oder Europa gesagt zu bekommen, was sie zu tun und zu lassen haben. Dialog, Bi- und Multilateralität, gleiche Augenhöhe - das wird heute von uns erwartet. Das heißt nicht, dass wir kritikwürdige Zustände nicht kritisieren dürfen oder dass wir Verstöße gegen Demokratie und Menschenrechte einfach hinnehmen oder verschweigen dürfen. Das gilt dann aber auch für alle Länder, nicht nur für Kuba. Insoweit können wir der Intention des Antrags folgen. Zweifel können erlaubt sein, ob es realistisch ist, die Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes zu fordern. Erstens würde der geforderte bilaterale Ansatz ja ebenfalls einen Gemeinsamen Standpunkt erfordern, zwar einen anderen, einen überarbeiteten, aber eben doch einen solchen Standpunkt. Zweitens wäre es schon ein großer Fortschritt, wenn der künftige EU-Standpunkt Zu Protokoll gegebene Reden wenigstens eine Öffnung zugunsten eigener Aktivitäten und Beziehungen der Mitgliedstaaten enthielte - was ohnehin der Realität entspräche. Dann würde sich sehr schnell eine neue Dynamik in den Beziehungen von EUMitgliedstaaten zu Kuba entwickeln. Wir begrüßen es auch, dass die Linksfraktion - meines Wissens erstmalig - von „inhaftierten Dissidenten in Kuba“ spricht, ein Stück mehr Realismus auch an dieser Stelle. Was Punkt I.7 bzw. II.4 des Antrags betrifft, kann man zwar dem Wunsch nach Freilassung der „Miami Five“ folgen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was das mit der Korrektur des europäischen Standpunktes zu tun haben soll. Vieles wäre einfacher, wenn die Linke bei berechtigten Anliegen darauf verzichten würde, das Anliegen selbst durch parteipolitische Profilierungssucht zu belasten. Vielleicht gibt es ja im Zuge der Beratungen noch hier und da ein Einsehen. Gespannt bin ich vor allem darauf, wie die Koalitionsfraktionen zur Haltung der Bundesregierung stehen und ob letztlich Kanzleramt oder Außenministerium die Kubapolitik bestimmen - oder vielleicht das Parlament. Es könnte dem Deutschen Bundestag als Ganzem gut anstehen, ein deutliches Signal nach Brüssel zu senden und damit von seinen neuen Rechten in der europäischen Politik Gebrauch zu machen.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Betrachtet man die gesellschaftspolitische Lage auf Kuba, muss man nüchtern feststellen: Der Sozialismus unter Palmen ist endgültig gescheitert. Zu diesem Schluss ist selbst Fidel Castro gekommen und gibt offen zu, dass der kubanische Sozialismus nicht mal mehr auf Kuba funktioniert. Ich zitiere: „Das kubanische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“ Zitatende. Diese Erkenntnis ist ebenso richtig wie längst überfällig. Schauen wir uns die Tatsachen an: In Kuba nimmt der Staat eine zu große Rolle im Wirtschaftsleben ein. So kontrolliert der Staat mehr als 95 Prozent der Wirtschaft und zahlt den Arbeitern einen Lohn von etwa 20 Dollar pro Monat. Die immer mal wieder angekündigten wirtschaftlichen Reformen müssen nun endlich auch angepackt und in die Tat umgesetzt werden. Kuba ist durch die Weltwirtschaftskrise und Unwetterkatastrophen, aber auch durch Korruption und sozialistische Misswirtschaft in eine schwere Krise geraten. Das Land muss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über 1 Milliarde Euro importieren. Die Pläne zur Aufweichung der Planwirtschaft, indem in 178 verschiedenen Bereichen Kubaner künftig selbstständig werden können, sind begrüßenswert. Jedoch müssen wir sehen, dass sie auch aus der Not gewachsen sind: Damit muss auch die angekündigte Entlassungswelle im Staatsdienst abgefedert werden; und was diese bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Nach den Plänen der Regierung verlieren in den ersten drei Monaten des kommenden Jahres rund 500 000 Angestellte aus unproduktiven staatlichen Betrieben ihren Job - das ist jeder zehnte staatlich Beschäftigte. Begründet werden beide Maßnahmen mit einer Stärkung der Planwirtschaft. Da tun sich mir einige große Fragezeichen auf, denn unter anderem ist doch auch die sozialistische Planwirtschaft ein Grund für die wirtschaftliche Misere. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, neben dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit der kubanischen Wirtschaftspolitik wird doch eines wieder einmal offensichtlich: Ihre Doppelstandards in Ihrer Menschenrechtspolitik. Sie kritisieren zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika für deren Hilfsmaßnahmen nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti. Aber dass man mal ein Wort der Kritik hört, wie die kubanischen Verantwortlichen mit Regimekritikern und Menschenrechtsverteidigern umgehen, dazu kommt dann nicht viel. Sie begrüßen in Ihrem Antrag, dass die kubanische Regierung inhaftierte Dissidenten freigelassen hat, und das ist auch richtig so. Aber Sie verurteilen nicht, dass diese Menschen wegen ihrer politischen und gesellschaftlichen Kritik überhaupt in Haft saßen. Politische Gefangene gehören leider zum System auf Kuba, und das ist entschieden zu verurteilen. Vor allem hört man dann oft von Ihnen: Ja, dafür hat Kuba aber gute Lehrer und Ärzte. - Das mag ja so sein, nur heißt das doch nicht, dass man deswegen auf Meinungsfreiheit und auf die Gewährung von Menschenrechten verzichten kann. Zudem möchte ich, dass wir uns als Parlamentarier die jüngsten Freilassungen genau ansehen. Und ich möchte einen Punkt zu bedenken geben: Die Freilassung von Oppositionellen, um sie dann nach Spanien zu drängen, um sich damit quasi der lästigen Opposition zu entledigen, ist keine echte Freilassung. Mit einer Freilassung, die wahren Willen zur Versöhnung zeigt und den Weg für Reformen ebnet, hat das nicht viel zu tun. Mit „Freilassung“ meine ich echte Freilassung aller politischen Häftlinge. Die Freiheit darf nicht an Bedingungen geknüpft werden. Es darf nicht sein, dass die Regierung von Raul Castro die Dissidenten vor die Wahl „Gefängnis oder Exil“ stellt. Es darf nicht sein, dass die Menschen nur deswegen ihre Freiheit zurückerhalten, weil sie danach nicht mehr in ihrem Heimatland am Erstarken der kritischen Stimmen in der Zivilgesellschaft teilnehmen können. Ich erwarte, dass das kubanische Regime endlich Reformen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte einleitet, die der kubanischen Bevölkerung zugutekommen, und aufhört, die Menschenrechte zu verletzen. Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, sollten endlich aufwachen und der Realität ins Auge sehen, statt auf dem linken Auge blind zu sein. Ihre Gesamtposition gegenüber Kuba ist unausgewogen und einseitig. Denn wir müssen unseren Blick auch werfen auf die desolate Lage der Menschenrechte, den Druck auf Dissidenten, die rechtswidrige Inhaftierung der politisch Andersdenkenden, deren inhumane Behandlung in den Gefängnissen und die Übergriffe auf deren Familienangehörige. Die FDP wird nicht zulassen, dass man dies außer Augen lässt. Uns geht es darum, Kuba auf dem Weg in eine freie, demokratische ZuZu Protokoll gegebene Reden kunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischen Bevölkerung endlich zu beenden.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für den Inselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Doch auch die geografische Ferne der EU und der Bundesrepublik Deutschland hat nicht gerade zu einer rationaleren Beziehung geführt. Dafür wäre es notwendig, dass die Sanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern endgültig aufgehoben werden. Der Gemeinsame Standpunkt der EU zu Kuba, der nach wie vor gültige Grundlage der Politik der EU gegenüber Kuba ist, muss endlich aufgegeben und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden. Die Zeichen stehen gut. Denn die spanische Regierung drängt nach der Freilassung von 53 Inhaftierten auf Kuba vehementer auf eine Abschaffung des Gemeinsamen Standpunktes. Seit 1996 verknüpft der Gemeinsame Standpunkt die Bereitschaft der EU zur politischen und wirtschaftlichen Kooperation mit Kuba ausdrücklich mit dem Ziel eines Systemwechsels. Die, die an diesem Gemeinsamen Standpunkt festhalten, wollen, dass Kuba seine Suche nach einem eigenständigen Entwicklungsweg, nach einer Alternative zum profitorientierten Gesellschaftsmodell aufgibt. Für die Linke ist die aggressive politische Intervention, die im Gemeinsamen Standpunkt zum Ausdruck kommt, keine akzeptable Grundlage für eine Zusammenarbeit. Bisher konnte Kuba seine Souveränität gegen vielfältige Widerstände verteidigen. Und das ist gut so. Aufgeben würde Kuba mit einem Systemwechsel seine für die meisten Länder der sogenannten Dritten Welt beispielhaften Errungenschaften auf dem Gebiet des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens. Diese Errungenschaften hat es trotz US-Embargo und gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten bis heute aufrechterhalten. An den Errungenschaften des kubanischen Bildungsund Gesundheitswesens hat nicht nur die kubanische Bevölkerung teil. So wurde durch das seit Dezember 1998 andauernde Engagement medizinischer Fachkräfte aus Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erstmals ein Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht. Diese Hilfe kam der Bevölkerung Haitis zuletzt bei der Erdbebenkatastrophe zugute. Diese einmalige, schnelle und unbürokratische Solidarität ist es, die Kubas Ansehen insbesondere in den Ländern des Trikont ausmacht und die darüber hinaus gute Anknüpfungspunkte für die Kooperation mit Kuba bietet - im Sinne einer trilateralen Kooperation, von der ärmere Drittstaaten wie Haiti profitieren könnten. Leider wurde der Appell des damaligen kubanischen Präsidenten Fidel Castro von 1998 an die Industriestaaten, das kubanische Engagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Bereitstellung von Medizintechnik, Material und Medikamenten zu unterstützen, seinerzeit nicht aufgegriffen. Die Linke begrüßt aber sehr, dass Ende Januar 2010 die norwegische Regierung ein Abkommen mit Kuba unterzeichnete, demzufolge Norwegen die Arbeit der kubanischen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp 900 000 US-Dollar unterstützt. Und wir begrüßen, dass mittlerweile die Diskussion um eine solche trilaterale Kooperation auch in der EU-Kommission angekommen ist. Millionen Menschen könnten davon profitieren, wenn ich zum Beispiel an die äußerst effektiven kubanischen Alphabetisierungsprogramme und die Augenbehandlungen durch kubanische Ärzte in vielen Ländern Lateinamerikas denke. Doch statt dem Beispiel Norwegens zu folgen, versucht die Bundesregierung, Kuba in altbekannter Art und Weise zu diskreditieren. Und sie versucht, die sich in vielen EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes ändernde Haltung gegenüber Kuba zu blockieren. Vorgeschobener Grund für diese negative Haltung gegen Kuba ist die heuchlerische und selektive Behandlung der Menschenrechte. Das haben wir erst kürzlich wieder erlebt, als die Bundesregierung ihr neues Lateinamerika-Konzept vorgestellt hat. Als einziges Land mit problematischer Menschenrechtslage wird dort Kuba explizit genannt. Honduras, wo vor anderthalb Jahren ein Militärputsch stattgefunden hat, wo seither Hunderte Menschen ermordet, Tausende willkürlich verhaftet und teilweise schwerer Gewalt ausgesetzt worden waren; Kolumbien, wo weltweit die meisten Gewerkschafter ermordet und Menschenrechtsverteidiger jeden Tag bedroht werden, wo extralegale Hinrichtungen an der Tagesordnung sind und nicht geahndet werden; oder Mexiko, wo die tödliche Gewalt zum Alltag für Millionen geworden ist - diese Länder werden nicht kritisch erwähnt. Im Gegenteil: Sie sind Partner der deutschen Lateinamerika-Politik gegen den sozialen Aufbruch, der sich derzeit in Lateinamerika vollzieht. So war es nach der FDP-Unterstützung für den Putsch in Honduras besonders bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung im Gegensatz zu Spanien, Frankreich und anderen Staaten zu dem letzte Woche in Ecuador stattgefundenen Putschversuch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Rafael Correa erst nach dem Scheitern des Putsches erklärte. Diese Erklärung beinhaltete aber noch nicht einmal eine eindeutige Verurteilung des Putschversuchs. Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie in Afghanistan und im Südsudan meint, wer politische Rechte für Bürgerinnen und Bürger in anderen Staaten einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denen ihnen Folter droht, wer zur Flüchtlingsabwehr mit Regimen wie in Libyen kooperiert, wer Meinungsfreiheit anderswo einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder vorbereitet, der verwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik. Menschenrechte sind nur dann von Dauer, wenn sie auf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die die strukturellen Ursachen der andauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigen. Wie Venezuela ist auch Kuba ein wichtiger Motor des sozialen Wandels und der lateinamerikanischen Integration und leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Menschenrechte. Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich innerhalb der Europäischen Union dafür einzusetzen, endlich den Gemeinsamen Standpunkt zu Kuba aufzuheben und diesen durch einen bilateralen Ansatz zu ersetzen. Es sollen Verhandlungen mit Kuba über ein Kooperationsabkommen eingeleitet werden, die gleichberechtigt, ohne Vorbedingungen und mit vollständigem Respekt für die Souveränität der beteiligten Partner und das Nichteinmischungsgebot der VN-Charta geführt werden. Auch sollte die Bundesregierung mit der kubanischen Regierung ohne Vorbedingungen Gespräche über Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen und dabei auch die Möglichkeit trilateraler Zusammenarbeit zugunsten Dritter erörtern. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegenüber der Regierung der USA dafür einsetzt, dass diese eine ähnliche humanitäre Geste zeigt, wie dies Kuba mit der Freilassung der 53 Inhaftierten getan hat, damit die seit 1998 in den USA inhaftierten und als „Miami Five“ bekannt gewordenen kubanischen Gefangenen Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und René González Sehwerert freigelassen werden. Bis zu dem Zeitpunkt ihrer Freilassung muss die Bundesregierung humanitäres Handeln der US-Regierung einfordern. Dazu zählt, dass die Ehefrauen der kubanischen Inhaftierten Besuchsrecht erhalten.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein ganzes politisches Leben lang stand ich auf der Seite Kubas, wenn es darum ging, Versuche des mächtigen Nachbarn USA abzuwehren, Kuba mit militärischer Gewalt, Mord und Totschlag oder Wirtschaftsboykott in die Knie zu zwingen. Das sehe ich auch heute nicht anders, zumal das Embargo der USA und die Bedrohung Kubas ja andauern. Aber Solidarität mit Kuba heißt doch nicht, Menschenrechtsverletzungen und Misswirtschaft zu übersehen und totzuschweigen. Vielmehr gehört es dazu, solche Missstände zu kritisieren und sich für die einzusetzen, die wegen ihrer Kritik in Gefängnisse gesteckt wurden und werden. Dies gilt unabhängig davon, dass Kuba seit Jahrzehnten unter der massiven Bedrohung von außen, unter Boykott und Blockade leidet. Aus Kuba hören wir jetzt Bemerkenswertes. Fidel Castro verurteilt die frühere Verfolgung von Homosexuellen im Land und kritisiert das alte verkrustete Wirtschaftssystem scharf, das nicht mehr in der Lage sei, den Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Aber die Verletzungen von Menschenrechten sind nicht nur dann Menschenrechtsverletzungen, und Missstände der Wirtschaft nicht erst dann zu kritisieren, wenn der ehemalige Präsident Kubas dies öffentlich eingesteht. Damit gibt er den Kritikern im eigenen Land, die für solche Äußerungen verfolgt wurden und im Gefängnis leiden, ebenso wie internationalen Menschenrechtsorganisationen und auch der Europäischen Union recht. Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden, dass der „gemeinsame Standpunkt“ der EU zu Kuba von 1996 aufgehoben wird. Der Antrag geht von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Ziel dieses Standpunktes war explizit, „einen Prozess des Übergangs in eine pluralistische Demokratie und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholung und Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen Bevölkerung“ zu erreichen. Es ging also um die Intensivierung eines Dialoges vor allem zur Förderung der Achtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Von einem „Systemwechsel“ ist keine Rede. Zwangsmaßnahmen wurden ausdrücklich ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung der Entwicklung in Kuba und der massiven Kritik internationaler Organisationen wie Amnesty International an den skandalösen Menschenrechtsverletzungen dort wie der Inhaftierung von Dutzenden sogenannter Dissidenten und gar der Hinrichtung von drei Flüchtlingen im Jahr 2003 ist diese Forderung nach wie vor aktuell. Auch nach der Freilassung von 52 Inhaftierten befinden sich noch zahlreiche „Dissidenten“ im Gefängnis, die Meinungsfreiheit ist nicht gewahrt und freie politische Betätigung ist nicht möglich. Die Kritik und die Forderung nach der Achtung der Menschenrechte verstoßen auch nicht gegen ein Gebot der Nichteinmischung. Die Vereinten Nationen haben in Resolutionen immer wieder festgestellt, dass es eine Verantwortung aller Staaten für die Wahrung der Menschenrechte auch in anderen Staaten gibt und die Souveränität eines Staates und das Nichteinmischungsgebot dem keineswegs entgegenstehen. Das Argument kann die Antrag stellende Fraktion auch nicht ernsthaft vorbringen. Damit widerspricht sie eigenen Anträgen etwa zur Menschenrechtssituation in Kolumbien oder im Gaza-Streifen. In diesen hat sie selbst die Einmischung Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft in die Belange anderer Staaten zur Wiederherstellung und Wahrung von Menschenrechten befürwortet und gefordert. Die Forderung nach der Achtung der Menschenrechte und der politischen Freiheitsrechte bleibt von zentraler Bedeutung. Die Verletzung dieser Rechte kann auch nicht durch eine Bedrohungslage gerechtfertigt werden. Zusammenarbeit und kritischer Dialog - auch bilateral - sind jetzt die richtige Option, wie es auch der Entwicklungsausschuss des EU-Parlaments gefordert hatte. Dabei sind die Entwicklungen in der Region und die bilateralen Kooperationserfahrungen Frankreichs und Spaniens von Bedeutung. Ein Einwirken der EU auf die USA für ein Ende der Embargo-Politik wäre eine wichtige Unterstützung. Der EU-Rat hat sich bei Verbesserungen im Menschenrechtsbereich auch zum Dialog bereit erklärt. Die Entlassung und Ausreise eines großen Teiles der Inhaftierten ist ein erster wichtiger Schritt zur Wahrung der Menschenrechte. Eine Politik der Entspannung kann eher zu einer Demokratisierung der Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen, als Kuba zu isolieren. Das waren auch die deutschen Erfahrungen vor der Wende. Vordringlichste Aufgabe der EU und bilateral muss sein, auf allen Ebenen vorbehaltlos alle Möglichkeiten und Gespräche mit Regierungsstellen und Sektoren der GeZu Protokoll gegebene Reden sellschaft für Bemühungen zur sofortigen Freilassung der übrigen Dissidenten zu nutzen. Zur Unteilbarkeit der Forderung nach der Achtung der Menschenrechte gehört auch der Einsatz für die Freilassung der sogenannten Miami Five aus US-Gefängnissen. Rechtsstaatliche Haftbedingungen, wozu auch die Besuchsmöglichkeiten für die Ehefrauen gehören, sind unerlässlich. Richtig ist deshalb die Aufforderung des Parlaments an die Bundesregierung, sich bei der EU einzusetzen auch dafür, dass diese auch mit diesem Ziel tätig wird. Wir verkennen nicht, dass auch in anderen Staaten Lateinamerikas schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen wurden und werden, häufig mit viel mehr Opfern und Leiden der Bevölkerung, etwa in Kolumbien oder Mexiko. Wir haben deshalb auch Anträge im Bundestag eingebracht, die die Bundesregierung auffordern, sich etwa in Kolumbien und Venezuela für die Einhaltung dieser Rechte einzusetzen. Aber gerade weil Kuba das Land in Lateinamerika ist, an das ich selbst lange Zeit hohe Erwartungen und Hoffnungen gesetzt hatte und partiell noch setze und auf das noch heute viele Völker Lateinamerikas hoffnungsvoll schauen, ist es so wichtig, nicht nachzulassen und die Einhaltung der Menschenrechte und der politischen Rechte gerade dort immer wieder einzufordern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Einwände sind nicht erkennbar. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 22: Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Roth ({0}), Volker Beck ({1}), Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stiftungszweck der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung erfüllen - Drucksache 17/3064 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas Strobl, Klaus Brähmig, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Lars Lindemann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth ihre Reden zu Protokoll.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum dritten Mal ergreife ich in dieser Legislaturperiode das Wort, um auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einzugehen. Dies ist nötig, weil Gegner der Stiftung nach wie vor den Stiftungszweck bezweifeln, ohne dies wirklich begründen zu können. Insbesondere die Grünen, von denen der Antrag stammt, über den wir heute diskutieren, suchen mit notorischer Penetranz angebliche Haare in der Suppe des Projekts Aufarbeitung der Vertriebenengeschichte. Dabei geht es ihnen weder um die Sache noch ernstlich um Inhalte oder Personen. Sie wollen lediglich taktisch motivierte Spielchen spielen, um Sand ins Getriebe einer Sache zu streuen, die ihnen ideologisch verhasst ist. Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir unternehmen alles, um der Stiftung nun ein rasches Beginnen ihrer Arbeit zu ermöglichen, damit der Zweck des Ganzen erfüllt wird: Versöhnung unter den Völkern dauerhaft herzustellen. In der Hoffnung, dies zu erreichen und alle Bedenkenträger endgültig von der Sinnhaftigkeit des verdienstvollen Unterfangens zu überzeugen, möchte ich noch einmal den Sachverhalt beschreiben, der zur Stiftungsgründung führte. In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezember 2006 wurde die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentationsund Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten. Die bisherige Stiftungsarbeit hatte indes gezeigt, dass die Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stiftungsrat angezeigt erscheinen ließen. Die zentrale Neuerung der im Mai verabschiedeten Novelle ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legislativen, statt sie wie bisher der Exekutiven anheimzustellen. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich und objektiviert den Berufungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen wie etwa der Kirchen und des Zentralrats der Juden bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“ Noch einmal: Keine qualitativ-inhaltlichen Änderungen zur ersten Fassung des Gesetzes von 2008 waren beabsichtigt. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist es um rein organisatorische, also formale Änderungen gegangen. Beispielsweise hat sich der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder erhöht, und auch dem wissenschaftlichen Beraterkreis gehören nun mehr Personen an, nämlich bis zu 15, statt bis zu 9 wie bisher. Dadurch ist die gewünschte Verbreiterung des wissen6956 Thomas Strobl ({0}) schaftlichen Spektrums erreicht worden, insbesondere auch mit Blick auf eine internationale Besetzung. Für die Aufnahme weiterer Gruppen, wie nun von den Grünen gefordert, besteht kein Anlass. Der oberste Stiftungszweck Versöhnung wird nach meiner festen Überzeugung bei den gegebenen Verhältnissen in bestmöglicher Form erreicht. Wir sollten die Stiftung deshalb nun ihre Arbeit tun, ihr Versöhnungswerk vollbringen lassen, ohne ständig stets von neuem Details der Ausgestaltung zu hinterfragen. Das wäre nicht zielführend und dem hehren Zweck der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in keiner Weise angemessen.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das 20. Jahrhundert könnte zukünftig als das „Jahrhundert der Vertreibungen“ in die Geschichtsbücher eingehen. An seinem Beginn stand der Genozid an den Armeniern durch die Türken 1915, an seinem Ende standen „ethnische Säuberungen“ im zerfallenden Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre: insgesamt mussten 50 bis 70 Millionen Menschen fliehen, ihre Heimat für immer verlassen, wurden vertrieben oder deportiert. Die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges stellt dabei die größte Zwangsmigration der Geschichte dar. Zwischen 1945 und 1949 sind über 14 Millionen Deutsche aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa geflohen oder vertrieben worden, bis zu zwei Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. „Es ist eines der erstaunlichen Phänomene der vielen Jahre, die seither vergangen sind“, resümierte der Schriftsteller Arno Surminski in einem Aufsatz 2004 treffend, „dass ein so gewaltiger Stoff, ein Drama von biblischen Ausmaßen, das nahezu jede Familie in Mittel- und Osteuropa direkt oder indirekt berührt hat, nur am Rande behandelt wurde“. Daher hat der Deutsche Bundestag mit dem Beschluss 2008, die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zu errichten, einen historischen Meilenstein für die Bewältigung unserer nationalen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrieges gesetzt. Ich betone noch einmal: Diese mit breiter Mehrheit getroffene Entscheidung war ein historischer Meilenstein! Es liegt in der Natur der Sache, dass über die Form des angemessenen Erinnerns an die Vertreibungen eine öffentliche Debatte absehbar war. Jeder konstruktive Beitrag ist dabei willkommen und jeder vernünftige Diskutant kann zum Versöhnungsgedanken beitragen, indem er sich tatsächlich an der historischen statt an einer ideologischen Wahrheit orientiert. Aber was soll man davon halten, wenn, wie jüngst geschehen, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen unterstellt, sie hätte die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiert? Erika Steinbach hat dies nachweislich nie getan! Noch in ihrer diesjährigen Rede zum Tag der Heimat erklärte sie ausdrücklich: „Jeder im Land weiß, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Jeder im Land kennt die Barbareien des nationalsozialistischen Deutschland und das grenzenlose Leid, das dadurch über Europa gekommen ist. Mein tiefes Mitgefühl gilt diesen Opfern.“ Die BdV-Präsidentin hat außerdem beim Jubiläum 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen betont, dass vom Nationalsozialismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut niemals Eingang in ihre Verbandspolitik gefunden habe. Trotzdem versucht die Linke, mit unsäglichen Nazi-Vergleichen Erika Steinbach in die rechte Ecke zu stellen. Wieder wird völlig vergessen, dass Frau Steinbach es war, die den Bund der Vertriebenen in die Mitte der Gesellschaft gebracht und in der Eigentumsfrage eine Nulllösung propagiert hat. Ich weise deshalb nochmals solche Diffamierungen auf das Schärfste zurück! Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt nun in dieselbe Richtung wie ein Änderungsantrag der Linken im Kulturausschuss des Bundestages: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll keinen „Neustart“ hinlegen - die Bundesvertriebenenstiftung soll am besten für immer gestoppt werden! Laut den Grünen habe etwa die „nicht abreißende Kette von Provokationen und Verwerfungen um die Stiftung“ dazu geführt, dass alle ausländischen Vertreter den wissenschaftlichen Beirat verlassen hätten. Erstens wird hier einfach unter den Teppich gekehrt, dass es die Opposition ist, welche kräftig die Debatte anheizt mit der Absicht, das ganze Projekt zu torpedieren. Ich will an dieser Stelle daran erinnern, dass im Dezember 2009 die Gegner der Vertriebenenstiftung selbst vor drastischen Fälschungen nicht zurückschreckten: So wurden eine gefälschte Internetseite der Bundeseinrichtung ins Netz gestellt und Pressemitteilungen unter falschem Namen versandt. Zweitens ist die Aussage über die ausländischen Experten schlicht unwahr. Denn der ungarische Wissenschaftler Dr. Kristián Ungvary sitzt nach wie vor im Beirat. Zudem wird in dem Antrag Positives über die Stiftung völlig ausgeblendet. So taucht an keiner Stelle der Hinweis auf das dreitägige internationale Symposium auf, welches der Direktor Professor Kittel mitorganisiert hatte und an dem auch Wissenschaftler aus Polen oder Tschechien teilgenommen haben. Dort stellte er die Eckpunkte der Konzeption für die Dauerausstellung vor, welche eine erfreuliche Resonanz fanden. Selbst die „Frankfurter Rundschau“ räumte ein, dass Professor Kittel sich „streng an dem noch von der schwarz-roten Koalition auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf für die Stiftung“ orientierte. Die Kritik der Opposition, hier gehe ferner es um „Erpressung“ durch den BdV oder Geschichte solle umgeschrieben werden, ist vollkommen ungerechtfertigt. Denn die Novellierung berührt weder die Mehrheitsverhältnisse - der BdV kann mit lediglich sechs von 21 Stimmen nicht dominant sein - noch den Stiftungszweck. Die christlich-liberale Koalition hat mit der Novellierung des Stiftungsgesetztes die nationale Bedeutung dieser Erinnerungseinrichtung und ihre staatliche Aufgabe, das millionenfache Schicksal der deutschen HeimatverZu Protokoll gegebene Reden triebenen zu dokumentieren, unterstrichen und wird sich durch solche Ablenkungsmanöver nicht beirren lassen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Über die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ haben wir hier schon so oft gesprochen, dass mittlerweile alle Argumente ausgetauscht sind. Wir teilen die Kritik der Grünen an den vom BdV benannten stellvertretenden Stiftungsratsmitgliedern Arnold Tölg und Hartmut Saenger. Das haben wir in der Bundestagssitzung am 8. Juli, in der die Liste der Stiftungsratsmitglieder beschlossen wurde, kritisiert. Genauso hat die SPD die Erweiterung des Stiftungsrates und das Wahlverfahren scharf kritisiert. Wir haben aber auch immer wieder deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich hinter dem Projekt Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ stehen. Deshalb sind wir gegen ein Moratorium, wie es die Grünen fordern. Deshalb sind wir auch gegen die vollständige Streichung der Mittel für die Stiftung. Nichtsdestotrotz halten auch wir die 2,5 Millionen Euro, die im Haushalt für die Stiftung eingestellt sind, für viel zu hoch. Bisher ist nicht ersichtlich, wofür die Stiftung die Mittel verwendet, denn bisher liegt noch immer kein Konzept für die Ausstellung vor. Wenn die Stiftung schon jetzt 2,5 Millionen Euro erhält, wie viel soll sie bekommen, wenn sie erst mal richtig anfängt zu arbeiten? Auch wir haben unsere Unterstützung für die Stiftung davon abhängig gemacht, dass sie den im Stiftungsgesetz festgeschriebenen Zweck erfüllt - nämlich „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten“. Die bisherigen Querelen haben diesem Zweck extrem geschadet. Mit dem Beharren auf Erika Steinbach und der Benennung der beiden Stellvertreter hat der BdV der Legitimität der Stiftung massiv geschadet und damit auch die Arbeit vieler Vereine des BdV, die aktive Versöhnungsarbeit leisten, in Misskredit gebracht. Der BdV muss endlich begreifen, dass die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht das „Zentrum gegen Vertreibung“ ist. Die Stiftung ist ein Projekt des Bundes. Mit dem Beschluss im Jahr 2008 hat der Bundestag die Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu seiner Sache und damit zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft gemacht. Wenn der BdV nicht möchte, dass die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheitert, muss er die beiden kritisierten Stellvertreter zurückziehen. Das ist Voraussetzung dafür, dass der Zentralrat der Juden wieder für eine Mitarbeit gewonnen werden kann. Hier ist die Regierungskoalition in der Verantwortung! Das Ärgerliche an der Debatte um die Stiftung ist, dass die Diskussion über die Themen Flucht und Vertreibung bereits viel weiter ist. Es gibt gemeinsame Historikerkommissionen mit Polen, Tschechen, Slowaken, die seit vielen Jahren gemeinsam an den Themen Flucht und Vertreibung arbeiten. Kürzlich wurde ein Ausstellungskonzept vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit Historikern aus Polen, Tschechien und der Slowakei erarbeitet wurde. Es gibt viele Vereine und Initiativen, die Versöhnung leben. Das letzte, was die Stiftung jetzt braucht, ist ein Moratorium - das wäre ihr Ende. Die Stiftung muss endlich anfangen, richtig zu arbeiten, und sollte sich dabei nicht von fatalen Äußerungen von Mitgliedern des BdV behindern lassen. Für die Stiftungsratssitzung am 25. Oktober ist endlich die Vorlage des Ausstellungskonzepts angekündigt. Es ist wichtig, dass das Konzept im wissenschaftlichen Beirat und in der Öffentlichkeit und der Fachwelt diskutiert wird, bevor der Stiftungsrat dem zustimmt. Für den wissenschaftlichen Beirat müssen renommierte Wissenschaftler gewonnen werden - nur so kann die Stiftung Vertrauen und Legitimität gewinnen. Seit Beginn der Debatte um die Stiftung fordern wir, dass es eine internationale Tagung gibt, bei der zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern diskutiert wird, was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Diese Tagung muss nach Vorlage des Konzepts endlich stattfinden. Damit ließe sich verlorenes Vertrauen wieder aufbauen - aber nur, wenn auch die Bereitschaft da ist, Anregungen in das Ausstellungskonzept aufzunehmen. Das Konzept der Regierung, auf das sich der Stiftungsdirektor Manfred Kittel immer beruft, bildet nur den Rahmen, innerhalb dessen das eigentliche Ausstellungskonzept erarbeitet und dann im wissenschaftlichen Beratungsgremium diskutiert werden soll. Gerade die wissenschaftliche Expertise ist Voraussetzung dafür, dass die Ausstellung der Stiftung Akzeptanz auch bei unseren Nachbarn finden wird. Der Antrag der Grünen wird in den Fachausschüssen weiter diskutiert. Ich sage schon jetzt: ein Moratorium ist der falsche Weg. Die Stiftung muss endlich in die inhaltliche Offensive kommen und Offenheit für die inhaltliche Diskussion beweisen.

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag 17/3064 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit der Forderung, zwei stellvertretende Mitglieder des Stiftungsrates auszuschließen. Diese beiden stellvertretenden Mitglieder - Hartmut Sänger und Arnold Tölg - haben sachlich betrachtet die Arbeit des Stiftungsrates vollumfassend gesehen und nicht nur einseitig beleuchtet. Die Aufgabe und das Ziel der Arbeit des Stiftungsrates bestehen darin, dass ein sichtbares Zeichen im Geiste der Versöhnung gesetzt wird, für alle noch immer Betroffenen. Beide betonen, dass die Nazis schlimme Verbrechen an anderen Völkern begangen haben, aber auch nicht vergessen werden darf, dass als Folge dieser Verbrechen Deutsche ebenfalls vertrieben, zwangsumgesiedelt und an ihnen Verbrechen verübt wurden. Es wird damit nichts verharmlost oder gar herabgesetzt. Der Hinweis der beiden darauf, dass auch Deutsche von Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Verbrechen am Ende des ZweiZu Protokoll gegebene Reden ten Weltkrieges betroffen waren, lässt einen Ausschluss aus dem Stiftungsrat nach meiner Auffassung nicht zu. Sinnvoll und angebracht wäre es derzeit, wenn endlich alle Stiftungsratsmitglieder und auch die Stellvertreter mit der eigentlichen Arbeit beginnen könnten. Sollte sich dann im Verlauf der eigentlichen Tätigkeit herausstellen, dass der eine oder andere - aus welchen Gründen auch immer - für die Arbeit im Stiftungsrat untragbar ist, kann über ein mögliches Ausschlussverfahren zu jedem Zeitpunkt gesprochen werden. Vorerst jedoch stellt sich weder die Notwendigkeit noch die Dringlichkeit, Mitglieder und stellvertretende Mitglieder auszuschließen. Vielmehr sollen hier durch den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Vorhinein einzelne Beiträge für die gemeinsame Aufgabe in der Stiftung ausgeschlossen werden. Ich vermisse an dieser Stelle die Sachargumente meiner Kollegen von der Faktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie verhindern mit ihren Vorhaltungen den Beginn der eigentlichen Arbeit des Stiftungsrates. Ich bin darüber hinaus weiter der Auffassung, dass jetzt zunächst der Stiftungsrat die Diskussion darüber zu führen hat. Dies ist auch - aber nicht nur - eine Aufgabe der breiten Medienöffentlichkeit. Würden wir dies zulassen, könnte der Stiftungsrat nie mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Der Antrag ist daher zurückzuweisen. Weiter fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass der Bundestag der Stiftung ein Moratorium auferlegt. Ihre Forderung bedeutet im Klartext, dass die Stiftung nicht arbeiten kann. Dies ist weder im Sinne der Bundesregierung noch der Stiftung noch der Mehrheit hier im Bundestag. Die Stiftung hat einen klaren Auftrag erhalten. Sie als Antragsteller wollen eine weithin anhaltende medienöffentliche Diskussion über Personen, aber nicht in der Sache! Nicht nur der Direktor der Stiftung, Herr Professor Dr. Kittel, sondern auch Kommissionsmitglieder aus Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien haben bereits erste Konzeptionen für die Stiftungsarbeit entwickelt. Diese werden am 25. Oktober 2010 dem Stiftungsrat vorgestellt. In dieser Konzeption, beispielsweise von Professor Dr. Kittel, fokussieren sich inhaltliche Vorschläge zur Schaffung einer Dauerausstellung und Dokumentationsstätte, die in einem chronologischen Rundgang von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die Zeit nach 1989 aufgebaut sein sollen. Fallstudien aus einzelnen Regionen sollen darin eingebettet werden. So weit der aktuelle Diskussionstand, lassen sie uns darüber sprechen. Als ebenfalls unsinnig ist darum der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu werten, die Mittel für die Stiftung zu streichen. Würde diesem Antrag stattgegeben, könnte die Stiftung ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das Ziel der Stiftung, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen, das Bewusstsein um das tiefe menschliche Leid wachzuhalten und die junge Generation an dieses Thema heranzuführen, wäre mit einer Streichung der Finanzierungsmittel nicht mehr durchführbar. Die Stiftung müsste ihre Arbeit aufgeben. Wir verlieren damit wertvolle Zeit. Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen empfehle ich dringend einen Blick in das Gesetz, konkret in § 19 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung. Der Deutsche Bundestag wählt Abgeordnete, die im Stiftungsrat tätig werden sollen, aus. Somit ist gewährleistet, dass der Deutsche Bundestag Mitglieder aus allen Fraktionen vorschlagen kann. Eine Änderung des Gesetzes ergibt daher keinen Sinn, da die geforderte Möglichkeit bereits besteht. Auszug aus § 19 des Gesetzes: ({0}) Die oder der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien leitet die Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 und Satz 2 mit einem entsprechenden Antrag zur Wahl der Präsidentin oder dem Präsidenten des Deutschen Bundestages zu. Der Deutsche Bundestag wählt auf Grund der Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 4 und Satz 2 die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder. Auch wenn es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gerne anders darstellt, es gibt die Möglichkeit, einzelne Personen nicht zu wählen. Es mag sein, dass nur ein Gesamtvorschlag angenommen oder abgelehnt werden kann, dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Ablehnung des Gesamtvorschlages einzelne Mitglieder nicht wieder aufgestellt werden können. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vollumfänglich zurückzuweisen ist. Wir werden dem nicht zustimmen.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ muss ein Neuanfang gefunden werden. So wie bisher geht es nicht weiter. Das müsste allen Beteiligten inzwischen klar sein. Die Fraktion Die Linke hat bereits in einem Änderungsantrag zum Einzelplan 04 gefordert, die für die Stiftung für 2011 vorgesehenen Mittel von 2,5 Millionen Euro zu streichen. Das bedeutet praktisch ein Moratorium. Und dieses Moratorium sollte genutzt werden, die Stiftung in einem einvernehmlichen europäischen Rahmen und im Geiste der Versöhnung neu zu positionieren. Um diese Neupositionierung zu ermöglichen, fordert die Fraktion Die Linke: Eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien mit internationalen Wissenschaftlern, insbesondere aus den Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowakei. Außerdem sollte die Historikergruppe um Professor Schulze-Wessel eingeladen werden, die in Zusammenarbeit mit der „Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission“ sowie der „DeutschPolnischen Schulbuchkommission“ bereits ein Ausstellungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vorgestellt hat. Zu Protokoll gegebene Reden Auch sollte im Rahmen der Anhörung geprüft werden, ob nicht doch ein anderer Standort für die Stiftung gefunden werden kann, zum Beispiel Görlitz/Zgorzelec oder Wroclaw. Den in der Gesetzesnovelle vom 14. Juni 2010 festgelegten Berufungsmechanismus für den Stiftungsrat im Blockwahlverfahren aufzuheben. Die rein quantitative Vergrößerung des Gremiums sollte durch eine qualitative Besetzung ersetzt werden. Neben Vertretern der christlichen Kirchen sowie des Zentralrates der Juden in Deutschland sollte eine Vertretung der Sinti und Roma sowie der muslimischen Mitbürger gewährleistet sein. Wenn es um Vertreibungen im 20. Jahrhundert geht, können besonders diese beiden Bevölkerungsgruppen Wichtiges für die Stiftungsarbeit beitragen. Außerdem finden auch wir, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt, dass alle Fraktionen des Bundestages im Stiftungsrat vertreten sein sollten. Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmen wir zu.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Streit um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ beschäftigt seit vielen Monaten den Bundestag und die breite Öffentlichkeit. Im Abstand von wenigen Wochen brechen immer wieder neue Konflikte auf, die die Arbeit der Stiftung und den Stiftungszweck der Versöhnung mit unseren Nachbarländern infrage stellen. Inzwischen sind zwei Vertreter des Bundes der Vertriebenen in den Stiftungsrat gewählt worden, die offen revanchistische Positionen vertreten. Wir haben die Regierungskoalition vor der Wahl von Arnold Tölg und Hartmut Saenger eindringlich gewarnt und auf die Folgen hingewiesen, die das für die Stiftung und für das Ansehen unseres Landes haben würde. Die Regierungskoalition hat unsere Warnungen nicht ernst genommen. Sie ist voll verantwortlich für die inakzeptable Zusammensetzung des Stiftungsrats. Wenn Arnold Tölg, Landesvorsitzender des Bundes der Vertriebenen in Baden-Württemberg, in einem Interview der rechtsextremen „Jungen Freiheit“ gegen die Zwangsarbeiterentschädigung wettert und die Schuld des NS-Regimes gegenüber Zwangsarbeitern mit dem Verweis relativiert, dass andere Länder auch „Dreck am Stecken haben“, dann dient das nicht der Versöhnung, sondern der Verhöhnung von NS-Zwangsarbeitern und Ländern, die Opfer der NS-Aggression geworden sind. Und wenn Hartmut Saenger, der Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, in einem Zeitungsbeitrag die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges relativiert - Äußerungen, die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach mit den Worten unterstützt: „Ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat“ -, dann ist endgültig die Grenze überschritten, an der der Bundestag die Notbremse ziehen muß. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man die Dinge nicht einfach weiter treiben lassen darf. Der Zentralrat der Juden in Deutschland und das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma haben das sehr deutlich gemacht, als sie ihre Mitarbeit im Stiftungsrat einstellten. Der Bundestag muss dringend handeln, zumal die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel in dieser Frage offenkundig handlungsunfähig sind. Sonst hätten sie das schändliche Schauspiel um die Stiftung schon längst gestoppt. Wir brauchen jetzt ein Moratorium, während dem die Arbeit der Stiftung ruht und die Haushaltsmittel, die für sie vorgesehen sind, gestrichen werden. In dieser Zeit muß der Bundestag klären, ob und in welcher Form die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn macht. Denn von der ursprünglichen Idee, hier einvernehmlich in einem europäischen Netzwerk das Thema Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten, ist ja nicht mehr viel übriggeblieben. Die ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ursprünglich mitgearbeitet haben, sind längst aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung ausgetreten. Und Frau Steinbach betrachtet die Stiftung inzwischen als Privatbesitz ihres Vertriebenenbundes. Sinti und Roma oder Muslime als Opfer von Flucht und Vertreibung in Europa kommen nicht vor. Wenn die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn machen soll, dann muß der gemeinsame europäische Rahmen für die Arbeit geschaffen werden. Wer die Stiftung einfach so weiterlaufen lässt, der ist mitverantwortlich dafür, dass hier ein wahrer Schwelbrand in den Beziehungen zu unseren Nachbarländern entsteht. Ebenso dringlich ist die Abberufung von Tölg und Saenger aus dem Stiftungsrat. Dafür muss der Bundestag die rechtlichen Voraussetzungen schaffen - und dabei auch das undemokratische Blockwahlverfahren abschaffen, in dem der Bundestag nur en bloc über eine Liste von Stiftungsratskandidaten abstimmen kann, frei nach dem Motto: „Friss, Vogel, oder stirb!“ Dieses Blockwahlverfahren hat es erleichtert, dass ungeeignete Kandidaten in den Stiftungsrat gelangen konnten. Die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist insgesamt so zu verändern, dass alle Gruppen, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, angemessen berücksichtigt werden. Und wir brauchen eine Vertretung aller Fraktionen des Bundestages im Stiftungsrat. Was in vielen anderen Bereichen ganz problemlos geht, muss auch in einem Bereich möglich sein, in dem demokratische Mitwirkung besonders wichtig ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3064 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Präsident Dr. Norbert Lammert Die Friedens- und Konfliktforschung stärken Deutsche Stiftung Friedensforschung finanziell ausbauen - Drucksache 17/1051 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Anette Hübinger, René Röspel, Dr. Peter Röhlinger, Kathrin Vogler und Krista Sager ihre Reden zu Protokoll.

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF, mit Sitz in Osnabrück ist als gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts politisch und auch finanziell unabhängig. Sie verfolgt als Einrichtung der Forschungsförderung den Zweck, die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung der Friedensforschung insbesondere in Deutschland dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und finanziellen Unabhängigkeit beizutragen. Zehn Jahre nach ihrer Gründung können wir eine positive Bilanz ihrer Förderaktivitäten ziehen. Insgesamt stellte die DSF in diesem Zeitraum fast 13 Millionen Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konfliktforschung bereit. Dabei ist die DSF mit ihren Förderangeboten auf eine sehr positive Resonanz in der Fachcommunity gestoßen. Ihre Förderstandards haben breite Anerkennung gefunden. Diese Leistungen sind unstrittig und dementsprechend zu würdigen. Neben der DSF sind in Deutschland aber eine Reihe weiterer Akteure - wie die Hessische Stiftung Friedensund Konfliktforschung, HSFK, oder das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, IFSH, in diesem Forschungsfeld tätig. Allen Akteuren, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten Mitteln auskommen zu müssen. Dies liegt in der Natur der Sache. Darüber hinaus gibt es weitere Förderangebote des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die unmittelbar die Kompetenzen der Friedens- und Konfliktforschung ansprechen, wie die Förderung der Regionalstudien im Rahmen der Förderinitiative „Freiraum für die Geisteswissenschaften“ und die Förderung von Forschung zum Klimawandel im Rahmen des Programms „Forschung für nachhaltige Entwicklungen“. Des Weiteren ist die Verankerung der Friedens- und Konfliktforschung im deutschen und europäischen Sicherheitsforschungsprogramm ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung. So fördert das BMBF aktuell die Konferenz „Internationales Symposium Religionen und Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspotential von Religionsgemeinschaften“, die vom 20. bis 23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfindet. Dies ist eine von vielen Maßnahmen, um die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung in die gesellschaftliche und politische Praxis einfließen zu lassen. In diesem Kontext sind auch die schon vorhandenen Fördermöglichkeiten im Rahmen des nationalen und europäischen Sicherheitsforschungsprogramms, die Verankerung des Themas im 7. Forschungsrahmenprogramm - Thema 8: Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften - und das Engagement der DFG in dieser Thematik zu sehen. Stiftungen sind in ihrer Fördertätigkeit in erster Linie auf ihre jährlichen Erträge aus ihrem Stiftungsvermögen angewiesen, aus denen die aufkommenden Ausgaben bestritten werden. Die Lage am Finanzmarkt hat damit nicht unwesentlichen Einfluss auf die Höhe der Erträge. Neben der Einnahmeseite ist natürlich auch die Ausgabenseite zu betrachten. Hier hat es, wie im Antrag richtig angeführt, in den letzten Jahren gestiegene Personalund Sachleistungskosten gegeben. Die Kombination beider Faktoren kann eine Stiftung vor Probleme stellen. Auch dies ist unstrittig, trifft allerdings nicht nur auf die DSF zu. Natürlich sollten die aufgezeigten Faktoren bei einer Stiftungsgründung berücksichtig werden und das Stiftungskapital in seiner Höhe angemessen ausgestaltet sein. Ich unterstelle einmal, dass auch die damalige rotgrüne Bundesregierung diese Weitsicht besessen hat, als sie die Stiftung ins Leben gerufen und mit einem Startkapital in Höhe von damals 50 Millionen DM ausgestattet hat. Geht man also davon aus, dass durch das vorhandene Stiftungsvermögen und die daraus zu erwartenden Erträge grundsätzlich eine ausreichende Finanzausstattung vorlag, stellt sich für mich die Frage, wie temporären Schwierigkeiten - beispielsweise durch niedrigere Erträge in Folge der Finanzmarktentwicklung - oder dauerhaften Kostensteigerungen im Forschungsbereich begegnet werden sollte. Eine Möglichkeit ist es natürlich, mehr Geld zu fordern. Dieser verständliche Reflex, dem hier die Kollegen der SPD folgen, ist nicht meine erste Devise. 5 Millionen Euro Finanzspritze durch den Bund sind nun mal kein Pappenstiel. Wer sich nach Alternativen umschaut, wird schnell in der Satzung der DSF fündig. Dort ist nachzulesen, dass auf Beschluss des Stiftungsrates aus dem Stiftungsvermögen für die Aufgaben der Stiftung jährlich bis zu 5 Millionen DM - in Euro also 2,56 Millionen - verwandt werden können. Dieser Passus beinhaltet die Einschränkung, dass mindestens 10 Millionen DM, dies entspricht nach heutigem Stand 5,11 Millionen Euro, des Stiftungsvermögens als Mindestbetrag ungeschmälert zu erhalten sind. Für zeitlich beschränkte Schwierigkeiten wäre dies ein Weg, den man gehen könnte. Aktuell beläuft sich das Stiftungskapital der Stiftung auf eine Höhe von 25,57 Millionen Euro. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass eine finanzielle Notlage vorliegt, die eine Finanzspritze des Bundes unabdingbar macht. Zu berücksichtigen ist auch, dass das ursprüngliche Stiftungskapital in der Vergangenheit schon mehrfach aufgestockt wurde. Wenn im vorliegenden Antrag attestiert wird, dass die DSF über keine zusätzlichen Mehreinnahmen verfügt, um die Anhebung ihrer Förderhöchstbeträge zu stemmen, ist dies zwar nicht falsch, die Konsequenz aus dieser Feststellung muss aber nicht zwangsweise in nur eine Richtung laufen. So kann die Einnahmeseite zusätzlich durch Drittmittel gestärkt werden. Dazu ist in der Satzung vorgesehen, dass alle Zuwendungen Dritter dem Stiftungsvermögen zufließen. Auch hier gilt: Erst sollte diese Möglichkeit der Mittelbeschaffung ausgereizt werden. Schwerpunktsetzungen und Aufgabenkritik sind in Bezug auf die eigenen Forschungsfördertätigkeiten weitere Punkte, die dabei helfen können, mit den vorhandenen Mitteln auszukommen. Schwerpunktsetzungen und die damit verbundenen Entscheidungen für oder gegen bestimmte Projekte sowie die strategische Ausrichtung der Stiftung betreffend sind zwar nicht immer leicht, doch nach dem in der Satzung verankerten Grundsatz der sparsamen Mittelverwendung geradezu geboten. Wie aus den Gremien der DSF zu vernehmen ist, ist eine Diskussion über die künftige Positionierung der Stiftung als Einrichtung der Forschungsförderung angelaufen. Dieser Prozess ist gerade im Rückblick auf die zurückliegende zehnjährige Fördertätigkeit zu begrüßen. Der angestoßene Diskussionsprozess rund um die zukünftige Ausrichtung der DSF kann nur förderlich sein. Wie eingangs schon lobend festgestellt, hat die DSF in den letzten zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet. Ein zehnjähriges Jubiläum ist dabei aber auch eine geeignete Wegmarke, um einerseits Bewährtes zu identifizieren und andererseits Schwachstellen in der eigenen Ausrichtung aufzudecken. Eine solche Aufgabenkritik kann eine Institution nur weiterbringen und kann - wie schon gesagt - auch dazu führen, mit dem vorhandenen Budget auszukommen. Dazu ist eine ausbalancierte Förderstruktur vonnöten, die sich beispielsweise stärker auf kleinere Vorhaben konzentrieren könnte, die es bei anderen Förderern schwerer haben. Der aktuelle Diskussionsprozess innerhalb der DSF rund um das zukünftige Förderrepertoire der Stiftung wird dazu beitragen, die DSF fit für die Zukunft zu machen. Die DSF ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln auch weiterhin alle Satzungsziele umsetzen, ohne in finanzielle Bedrängnis zu geraten. Eine weitere Mittelaufstockung ist somit nicht notwendig. Daher lehnen wir als CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag der SPDFraktion ab.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzten Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit gefeiert. Er symbolisiert auch das Ende des Kalten Krieges. Im Deutschen Bundestag mussten wir in den seither vergangenen zwanzig Jahren trotzdem oft über Gewalt und Krieg sprechen. Denn mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Welt leider nicht friedlicher geworden. Laut dem Heidelberger Konfliktbarometer hat die Zahl der Konflikte weltweit seit 1990 sogar zugenommen. Bei den Debatten über aktuelle Konflikte suchen wir Abgeordneten Antworten auf die Fragen von Gewalt. Dabei empfinden wir mitunter das Gefühl, nur noch zwischen Nichtstun und dem Mittel der Gegengewalt entscheiden zu können. Denn wenn wir uns im Plenum mit Krieg und Gewalt beschäftigen, ist das Kind meist bereits in den Brunnen gefallen. Wir versuchen dann die Symptome des Konflikts zu bekämpfen, um deren Ursachen wir uns hingegen oft nicht oder erst später kümmern können, weil die Symptome in Form von Gewalt meist so brutal und unglaublich erscheinen und für anderes keine Zeit mehr bleibt. Oft sind uns die genauen Ursachen des Konflikts aber auch unklar, oder es fehlt die nötige Sensibilität, die Zeit, das Geld oder das Durchhaltevermögen. Verantwortungsvoller, humaner und deutlich effektiver und kostengünstiger, nicht nur fiskalpolitisch gesehen, ist es, den Frieden bereits in Friedenszeiten zu unterstützen und zu festigen. Denn neben den Frieden gefährdenden Mechanismen existieren zum Glück auch Strukturen, die den Frieden stärken und Konflikte verhindern können. Dabei spielen demokratische und transparente Entscheidungsprozesse, soziale Rechte und die gerechte Verteilung von Ressourcen und Gewaltfreiheit eine wichtige Rolle. Wir Parlamentarier wissen aus unserer Arbeit, wie wichtig diese Aspekte auch für unsere Demokratie in Deutschland sind. Diese Prozesse und die dazugehörigen Strukturen hier und weltweit zu unterstützen, das ist Friedensarbeit. Wie und unter welchen Umständen diese Strukturen aufgebaut, erhalten und gestärkt werden können, damit beschäftigt sich die Friedens- und Konfliktforschung. Dazu suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen für Konflikte, aber auch die stabilisierenden Faktoren einer friedlichen Gesellschaft. Dabei gibt es grundlegende Aspekte, die in allen Gesellschaften ähnlich sind. Jede einzelne Gesellschaft hat aufgrund ihrer Tradition und Geschichte aber auch eigene Strukturen der Friedenssicherung bzw. des Gewaltpotenzials. Diese gilt es ebenfalls herauszufinden. Um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland weiter zu festigen und zu unterstützen, wurde vor zehn Jahren durch die damalige rot-grüne Bundesregierung die „Deutsche Stiftung Friedensforschung“ gegründet. Diese Stiftung betreibt keine eigene Forschung, sondern wählt förderwürdige Projekte aus und unterstützt diese finanziell. Seit Gründung der Stiftung wurden über 46 große und über 100 kleine Forschungsvorhaben finanziert. Darunter sind zum Beispiel Forschungsarbeiten zum Thema Parlamentsbeteiligungsgesetz, der Verwendung von nichtletalen Waffen und der Rolle von Religion oder von föderalistischen Strukturen in Konflikten. Neben der Finanzierung von Forschungsprojekten unterstützt die DSF auch Tagungen und Publikationen. Denn Aufgabe der Stiftung ist es auch, die Ergebnisse der geförderten Forschungsvorhaben in die politische Praxis und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die parlamentarische Ebene veranstaltet die DSF zum Beispiel in regelmäßigen Abständen Parlamentarische Abende zu Zu Protokoll gegebene Reden aktuellen Themen. Letzte Woche konnten wir Abgeordneten uns zum Beispiel mit den Experten aus der Wissenschaft über die Chancen und Risiken der Einbindung von Gewaltakteuren in den Friedensprozess informieren. Die Friedensforscherinnen und Friedensforscher zeigten dabei anhand der Taliban- und Hamas-Gruppierungen, welche Chancen für eine Einbindung dieser Gruppen in den politischen Prozess bestehen, aber leider auch, welche Chancen zum Beispiel in Afghanistan bereits vertan wurden. Das sicherlich bekannteste Buchprojekt, das durch die DSF finanziell unterstützt wird, ist das „Friedensgutachten“. Herausgeber sind die fünf großen deutschen Friedensforschungsinstitute. In der aktuellen Ausgabe beschäftigen sich die Autoren zum Beispiel mit der Situation in Afghanistan, dem Umgang mit Gewaltakteuren, der Vision einer nuklearfreien Welt und den sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise. Es ist wie immer ein sehr lesenswertes Jahrbuch - nicht nur für Außen- und Sicherheitspolitiker. Einige Friedens- und Konfliktforscherinnen und -forscher beschäftigen sich sehr intensiv mit den Themen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Dabei spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse und neue Technologien eine große Rolle, einerseits als Mittel der Begrenzung der Bedrohung, andererseits als mögliche Instrumente des Missbrauchs. Die DSF hat in diesem Bereich zum Beispiel eine Bewertung der Nanotechnologien und einen Bericht über das Proliferationsrisiko von Spallationsneutronenquellen finanziell unterstützt. Da diese beiden Forschungsbereiche auch durch das Bundesforschungministerium finanziert werden, sollten wir Forschungspolitiker uns diesen Berichten ebenfalls widmen. Ich denke, alle hier Anwesenden sind mit mir einig, dass alle von der DSF finanzierten Projekte relevante Forschungsfragen bearbeiten. Die Ergebnisse daraus sind für eine wissensbasierte politische Entscheidungsfindung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, der Entwicklungszusammenarbeit, der Forschungspolitik, aber auch anderen Politikbereichen äußerst hilfreich. Auf der politischen Ebene existieren bereits erfolgreiche Instrumente, in die diese Ergebnisse einfließen können. Diese müssen dann nur noch nachjustiert bzw. richtig eingesetzt werden. Einige Instrumente werden zum Beispiel durch das Auswärtige Amt finanziert. Dass die schwarz-gelbe Regierung im aktuellen Haushaltsentwurf die Mittel für Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung um fast 40 Millionen Euro kürzen will, ist deshalb eine Schande und absolut kurzfristig gedacht. Leider überraschen die Haushaltskürzungen nicht. Bereits in der Haushaltsdebatte 2009 hat die SPD-Bundestagsfraktion unter anderem eine Erhöhung des Stiftungskapitals für die DSF gefordert. Diese Forderung wurde von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Bereits damals begann die Kürzungspolitik, die sich jetzt in den Budgets anderer Ministerien fortsetzt. Mit unserem heute debattierten Antrag fordern wir eine Erhöhung des Stiftungskapitals der DSF um 5 Millionen Euro. Diese Forderung haben wir auch mit einem entsprechenden Änderungsantrag zum Haushalt flankiert. Diese Erhöhung ist nötig, damit die satzungsgemäßen Ziele der Stiftung weiterhin erfüllt werden können. Derzeit reicht das Geld nicht aus, um zum Beispiel die wichtige Nachwuchsförderung fortzuführen. Grund für die Finanzlücke sind unter anderem die in den letzten Jahren allgemein gestiegenen Kosten bei Sachleistungen und Personal. Hier muss nun bei der DSF finanziell nachgezogen werden. Wir hoffen, dass dieses Jahr in den Reihen von CDU/ CSU und FDP doch ein wenig mehr Vernunft als letztes Jahr vorherrscht und sie in der Haushaltsbereinigungssitzung für die DSF-Erhöhung stimmen. Denn die Gelder für die Friedens- und Konfliktforschung bereichern die deutsche Forschungslandschaft. Die Ergebnisse wiederum liefern wichtige Entscheidungshilfen zur weltweiten Friedenssicherung und können kostspielige und wenig effiziente Symptombekämpfung vermeiden. Wenn Friedens- und Konfliktforschung auch nur einen Konflikt verhindern, abmildern oder beenden kann, so hat sich jeder Euro dafür gelohnt. Aber leider gibt es dafür viel weniger Geld als für Waffen und Militär.

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nicht erst seit den weltweit zu spürenden Folgen des Terroranschlages vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York hat die Friedens- und Konfliktforschung die wissenschaftliche Bühne betreten. Als Kind des Kalten Krieges und einer Zeit, in der die europäischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien in die Freiheit entließen, rückte sie schnell in das Bewusstsein der Nach-Weltkriegs-Gesellschaften. Was sind die Ursachen von Konflikten, wie können sie am Verhandlungstisch gelöst werden, und warum müssen Staaten auch heute noch zum letzten Mittel, dem Krieg, greifen? Ist der Krieg überhaupt noch das letzte Mittel der Wahl? Ist die Aussage des preußischen Generals Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel“ - siehe „Vom Kriege“, Buch I, Kap. 1, Abschnitt 24 -, noch gültig? Ich meine Ja, denn der Krieg ist so der Politik immer untergeordnet. Die Verantwortung liegt also im wahrsten Sinne des Wortes in unserer Hand. Der Deutsche Bundestag hat in jüngster Zeit hierzu weitreichende Beschlüsse gefasst. Ich denke dabei vor allen an die Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan. Die Friedens- und Konfliktforschung unserer Tage entwickelte sich in dem Maße, wie sich die Menschen der Gefahren einer atomaren Bewaffnung von sich ideologisch entgegenstehenden Staaten und ihren Bündnissystemen bewusst wurden. Der Kalte Krieg jener Jahre ist spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und der Vollendung der deutschen Einheit vorbei. Aber leider ist auch unsere Zeit nicht gewaltfrei, auch wenn in ihren zentralen Regionen weitgehend Friede herrscht! Nicht zu übersehen sind heute noch die Folgen des Kalten Krieges. Nach wie vor tragen Länder, die durch das eine oder andere Lager in dessen jeweilige InteresZu Protokoll gegebene Reden senshemisphäre einbezogen wurden, ein schweres Erbe und sind Schauplätze brutaler regionaler Kriege. Auch in unserer Zeit muss der Frieden bzw. die Friedenssicherung täglich neu erkämpft werden! Das führt mir zumindest deutlich vor Augen: Der Frieden ist nicht allein durch die Abwesenheit von Krieg gekennzeichnet. Vielmehr muss er auch zum Beispiel durch ökonomische Teilhabe der Länder der sogenannten Dritten Welt, durch Gleichberechtigung der Geschlechter, durch Säkularisierung und durch die Überwindung nationaler und ethnischer Stereotype sicherer gemacht werden. Das bedeutet auch, Konfliktursachen genau zu untersuchen, zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen. Was kann heute nicht alles Bedrohungsängste und Angriffslust auslösen? Weltweit identifizierte Konfliktfelder, die internationale Terrorismusbekämpfung durch die Vereinten Nationen, der forcierte Unilateralismus der USA, aber auch der Wandel der Bündnisverpflichtungen innerhalb der NATO setzen eine objektive wissenschaftliche Begleitung, Betrachtung und Wertung durch die Friedensforschung in Deutschland voraus. Friedens- und Konfliktforschung muss auch ein Instrument wissenschaftlicher Politikberatung sein. Der Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan und die daraus resultierenden möglichen Veränderungen der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten bedingen einen zeitnahen und effizienten Transfer von Forschungsergebnissen zu den politischen Entscheidungsträgern. Dabei darf es nicht nur darum gehen, den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn den Bedürfnissen von Entscheidungsträgern in Regierungen, Parlamenten, Parteien und Organisationen anzupassen und ihn darauf abzustimmen. Vielmehr muss die Friedensforschung Theorien über die Ursachen von Krisen und Konflikten, über Krisenprävention und Konfliktbewältigung entwickeln, der Politik Empfehlungen zu Handlungsmöglichkeiten geben und deren Konsequenzen aufzeigen. Die Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Je genauer die Fragestellungen, desto klarer sind die Antworten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich an dieser Stelle einige Fragen stellen: Welche Auswirkungen hat zum Beispiel das scheinbar freie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Stabilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel? Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkungen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezogen werden? Welche Gefahren sind mit der geringen Verfügbarkeit von Trinkwasser in bestimmten Gebieten unserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Verknappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopolitische Verfügbarkeit für die Industrieländer mit sich? Auf welchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Technologien und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirtschaft gewährleistet? Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt. Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beurteilung der Konflikte beigetragen. Sie hat belastende ökonomische, ideologische, konfessionelle und religiöse sowie ethnische Strömungen in der Welt aufgezeigt. Hierzu gehören die Erkenntnisse und Erklärungsmodelle der verschiedenen Disziplinen, wie zum Beispiel das Staats- und Völkerrecht, die Spieltheorie des strategischen Verhaltens und die Wachstumstheorie sowie deren Abgleich untereinander. Die Friedens- und Konfliktforschung hat im deutschen Wissenschaftssystem einen festen Platz eingenommen. Sie wird zum großen Teil auf gutem Niveau durch die öffentliche Hand des Bundes und der Länder finanziert. Jetzt komme ich zum Antrag der SPD. Sicherlich hat Rot-Grün in seiner Regierungszeit mit der Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, ein redliches Ziel verfolgt. Die Stiftung hat durch ihre Arbeit und durch ihre Vermittlertätigkeit zwischen den Institutionen der Friedens- und Konfliktforschung und durch direkte Projektförderung einen anerkennenswerten Beitrag geleistet. Sie hat durchaus eine institutionelle Lücke zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik geschlossen. Meine Fraktion hat aber bereits in den Gründungsjahren immer wieder gesagt: Die Stiftung muss ihren Beitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängigkeit leisten und sie darf dieses Ziel nie aus dem Auge verlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigen Grundkapital in Höhe von 25,57 Millionen Euro ausgestattet. Der Bund hat auch danach noch „zugestiftet“. Jetzt ist sie finanziell und politisch unabhängig. Sie finanziert sich aus Erträgen des Stiftungskapitals und durch Zustiftungen. In dieser Phase muss sie zeigen, wie tief sie im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist. Die Anerkennung zeigt sich heute letztendlich im bürgerschaftlichen Engagement der Stifter, in ihrer persönlichen Identifikation mit dem Stiftungsgedanken und in ihrem persönlichen Beitrag. Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellung der Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken. Und genau dafür treten auch unsere Stiftungsratsmitglieder, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr Dr. Werner Hoyer, die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Gudrun Kopp, und die Kollegin Frau Marina Schuster ein. Meine Damen und Herren von der SPD, von einer auf Dauer angelegten Subventionierung durch die öffentliche Hand war nie die Rede. Daher können wir dem Antrag der SPD nicht unsere Zustimmung geben.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Für die Fraktion Die Linke bedanke ich mich beim Kollegen Röspel und der SPD-Fraktion für diesen Antrag. Ich will begründen, warum ich ihn für notwendig, aber nicht hinreichend halte. Friedensforschung ist für uns untrennbar verbunden mit großen Wissenschaftlern wie Albert Einstein, Joseph Weizenbaum bis hin zu Hans-Peter Dürr und den Göttinger Achtzehn. Dies sind Menschen, die sich aus humanistischer und pazifistischer Überzeugung in ihrer Wissenschaft und der Friedensforschung über alle Anfeindungen hinweg für den Frieden forschend und lehrend engagierten. So heißt es in der Erklärung der Göttinger Achtzehn von 1957, zu Zu Protokoll gegebene Reden denen unter anderem die Nobelpreisträger Heisenberg, Hahn und Born sowie Carl Friedrich von Weizsäcker zählten: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichner bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“ Eine solche Absage ist heute aktueller denn je. Nach Auskunft des Friedensforschungsinstituts SIPRI werden jedes Jahr in Deutschland zwischen 5 und 7 Milliarden Euro öffentliche Mittel für die Rüstungsforschung an öffentlich geförderten Instituten ausgegeben. Gegenüber diesen Milliarden wirkt der Antrag der SPD-Fraktion von einmalig 5 Millionen Euro für die Deutsche Stiftung Friedensforschung noch deutlich zu bescheiden. Die Stiftung wird im Jahr 2011 für friedenswissenschaftliche Projekte circa 600 000 Euro ausgeben können, für Kriegsforschung stehen Milliardenbeträge bereit. Finanzielle Prioritäten zeigen den politischen Willen der Handelnden. Wieder werden nach Bertolt Brecht mehr „erfinderische Zwerge, die man für alles mieten kann“, an den Hochschulen herangezogen als engagierte junge Menschen, die sich zu Hause und in der Welt für den Frieden engagieren. Es hat doch nicht erst des gescheiterten Krieges in Afghanistan bedurft, um erneut zu beweisen, dass Krieg und damit auch Kriegsforschung kein Problem dieser Welt löst. Die Friedensforschung steht heute vor der großen Aufgaben. Die Zusammenhänge zwischen Klimaveränderung, Ernährungsunsicherheit, Wasser- und Ressourcenknappheit, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen erfordern neue Konzepte und Lösungsansätze im Sinne ziviler Krisenprävention und nichtmilitärischer Konfliktbeilegung. Das sind enorme Zukunftsherausforderungen für Generationen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Und wir diskutieren über eine Kapitalerhöhung von 5 Millionen Euro, die pro Jahr nicht mehr als 200 000 Euro Ertrag für Projekte bringen würde. Notwendig und sachgerecht wäre schon jetzt eine Verdopplung des Stiftungskapitals um 25 auf 50 Millionen Euro. Ein Zigfaches solcher Summen haben die verschiedenen Mehrheiten dieses Hauses in den letzten Jahren etwa für die Kostensteigerungen bei den Rüstungsprojekten Eurofighter, Kampfhubschrauber oder Airbus A400M, ohne mit der Wimper zu zucken, durchgewinkt. Ein deutlicher Anstieg der Förderung für die Friedensforschung gehört für die Linke zu dem notwendigen Paradigmenwechsel deutscher Politik hin zu einer zivil ausgestalteten, aktiven Friedenspolitik. Dazu sollten nach meiner Auffassung auch Friedenswissenschaft und Friedensbewegung noch enger zusammenarbeiten. Dazu gehört auch, dass sich die Friedenswissenschaft noch stärker grundsätzlicheren friedenspolitischen Fragen widmet, etwa der Erforschung der großen, vom Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat formulierten Vision, „die Institution Krieg von diesem Planeten zu verbannen“. Trotz der geringen Mittel leistet die Friedensforschung heute schon Beeindruckendes. Erinnert sei nur an die Ausarbeitung der Nuklearwaffenkonvention. Dieses Modell für ein umfassendes Vertragswerk zur Abschaffung aller Atomwaffen wurde bei der letzten Überprüfungskonferenz von der großen Mehrheit der Staaten der Welt unterstützt - leider noch nicht von der Bundesregierung, trotz der wiederholten Bekenntnisse von Außenminister Westerwelle zu einer atomwaffenfreien Welt. Ganz persönlich wünsche ich mir ein großzügig gefördertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm für eine „Bundesrepublik Deutschland ohne Armee“. Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Vorschläge der Forscherinnen und Forscher auch in der politischen Praxis berücksichtigt werden. Friedensforschung ist keine Elfenbeinturmwissenschaft, sondern Anleitung zum Handeln für eine bessere, friedlichere Welt.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es war ein mühseliger Prozess, bis es im Jahr 2000 zur Errichtung der Deutschen Stiftung Friedensfor- schung kam. Mein ehemaliger Kollege Winfried Nachtwei, der sich sehr für die Stiftung eingesetzt hat, könnte da- von sicher manches Liedchen singen. Umso erfreulicher ist es, dass sich dieses rot-grüne „Baby“ so positiv ent- wickelt hat und inzwischen als wohlgeratenes Kind einer parteiübergreifenden Großfamilie angesehen wird. Wenn der Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik der CSU Fachgespräche mit der Stiftung Friedensfor- schung durchführt, kann man wohl davon ausgehen, dass die Kompetenz der Stiftung inzwischen allgemein anerkannt ist. Die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor- schung fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der - nach Überwindung der Blockkonfrontation - durch eskalie- rende ethnische und nationalistische Konflikte die Frage nach der Prävention und Friedenserhaltung verstärkt ins politische Bewusstsein gerückt war. Der krisenpräventive Ansatz spielt nach wie vor eine zentrale Rolle in der Mission und Arbeit der Stiftung. Wie kann die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermie- den und wie kann nach einer gewaltsamen Auseinander- setzung wieder eine friedliche Entwicklung ermöglicht werden? Diese Themen sind für die wissenschaftliche Forschung von ungeschmälerter Relevanz. Mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung Bür- gerlichen Rechts wurde eine möglichst große Unabhän- gigkeit für die Stiftung Friedensforschung angestrebt, und zwar sowohl politisch, wissenschaftlich, aber auch finanziell. Um dies zu gewährleisten, wurde die DSF mit einem Stiftungskapital ausgestattet, das diese Unabhän- gigkeit zumindest ein Stück weit sichert, dessen Erträge aber keine großen Sprünge erlauben. Durch steigende Sach- und Personalkosten werden die Spielräume für neue Forschungsprojekte zunehmend eingeschränkt, ob- wohl mit dem Stiftungskapital durchaus sorgsam umge- gangen wurde. Dabei sind die Erwartungen und Ansprüche an die Stiftung eher gewachsen. So ist es zu begrüßen, dass die Stiftung neben der Projektförderung auch mit Stiftungs- professuren und Masterstudiengängen institutionelle Zu Protokoll gegebene Reden Lehr- und Forschungsstrukturen geschaffen hat, die zur nachhaltigen Etablierung der Friedenswissenschaft bei- tragen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Stiftung sich gezwungen sähe, sich zum Beispiel aus der Promo- tionsförderung für den wissenschaftlichen Nachwuchs dauerhaft zurückzuziehen. Die Stiftung leistet auch wichtige Beiträge zu aktuel- len Debatten, zum Beispiel mit dem internationalen Symposium „Religionen und Weltfrieden“, und riskiert unerwartete, aber interessante Perspektiven, wenn sie nach dem Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von Religionsgemeinschaften fragt. Dies sind gute Gründe, weshalb wir uns immer wieder dafür eingesetzt haben, die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung zu erhalten und zu fördern. Auch in den diesjährigen Haushaltsbe- ratungen haben wir einen entsprechenden Antrag einge- bracht. Mit Sorge haben wir aber auch in den letzten Jahren beobachtet, dass die Unterstützung für die Stiftung im- mer wieder im Parteienstreit unterzugehen drohte. Das wäre wirklich schade, und das hätte die Stiftung Frie- densforschung auch nicht verdient. Sowohl ihre Unab- hängigkeit als auch ihre gute wissenschaftsgeleitete Praxis hat sie inzwischen hinlänglich unter Beweis ge- stellt. Sie verfügt über einen sinnvollen Mix an Förderins- trumenten, einen 18-köpfigen wissenschaftlichen Beirat, hat ein professionelles Begutachtungsverfahren eta- bliert und orientiert sich konsequent an Exzellenz. Sie gibt Anregungen, macht aber keine Vorgaben, sorgt aber zum Beispiel dafür, dass nationale und internationale Friedensforscher auf Fachtagungen und Konferenzen einen intensiven Austausch pflegen können. Dass durch die Arbeit der Stiftung Friedensforschung ein erweitertes Sicherheitsverständnis und die zivile Kri- senprävention und -bearbeitung ein stärkeres außen- politisches Gewicht bekommen haben, ist ebenfalls zu begrüßen und dürfte sicher kein parteipolitisches Son- deranliegen sein. Ich würde mich deshalb freuen, wenn im Zuge der weiteren Beratungen es doch noch zu einer gemeinsamen Unterstützung der Deutschen Stiftung Friedensforschung durch alle Fraktionen des Deutschen Bundestages kommen sollte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1051 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch das ist offen- kundig einvernehmlich. Dann können wir die Überwei- sung so beschließen. Ich rufe die Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Steinkohlevereinbarung gilt - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für einen geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dem subventionierten Stein- kohlebergbau - Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231 - Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Hempelmann b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden - Drucksache 17/3201 Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Ulla Lötzer und Oliver Krischer ihre Reden zu Protokoll.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wieder einmal reden wir über ein energiepolitisches Thema, das die Opposition instrumentalisiert. Dieses Mal ist die Steinkohle und deren Subventionierung Gegenstand der Diskussion. Die SPD und die Linken fordern in ihren Anträgen die Bundesregierung auf, sich in Brüssel für ein Weiterbestehen des Steinkohlefinanzierungsgesetzes einzusetzen. Der Antrag der Grünen zielt darauf ab, die Förderung des Steinkohlebergbaus frühzeitig zu beenden. Wie in den anderen zahlreichen Anträgen im energiepolitischen Bereich sieht die Opposition die Thematik allerdings zu kurzsichtig. Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu diesem Entschluss. Der Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und wird von Bund und Ländern getragen. Es gibt keinen Grund, von diesem Fahrplan abzuweichen. Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzierungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dass für den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtliche Genehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidung der EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerechnet werden. Diese sieht nun in Form des aktuellen EUKommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschen Subventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014 vor. Ich begrüße den Vorstoß unseres Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle, zu prüfen, ob ein vorzeitiger Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung zum Jahr 2014 überhaupt Geld einspart. Die Absatzbeihilfen, gegen die die EU-Kommission vorgehen will, gehen kontinuierlich zurück. Dagegen wachsen die Zuschüsse zu Stilllegungen und zu dem Aufwand für die Alt- und Ewigkeitslasten. In den Jahren 2015 bis 2018 würden die vom Steinkohlefinanzierungsgesetz gesicherten Absatzbeihilfen in der Summe nur noch circa 2 Milliarden Euro erreichen. Ein vorzeitiger Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbedingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleuten zur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie praktische und technische Probleme, die Bergwerke früher zu schließen. Es ist also durchaus erst einmal infrage zu stellen, ob der von der EU-Kommission vorgesehene Ausstieg aus den staatlichen Hilfen für den Steinkohlebergbau bereits 2014 tatsächlich günstiger wird. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt eingelegt. Entscheidungen sollten nämlich erst getroffen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann macht es Sinn, über weitere Schritte nachzudenken. Die Oppositionsanträge leisten hierbei keinen konstruktiven Beitrag und müssen daher abgelehnt werden. Nochmals will ich hervorheben, dass nicht in erster Linie inhaltliche Gründe im Vordergrund stehen, sondern vor allem verfahrenstechnische. Der Zeitpunkt der Entscheidung über das weitere Vorgehen wird noch kommen. Gerne will ich aber natürlich unabhängig von diesen beiden Anträgen auf die Thematik eingehen. Dabei möchte ich zunächst das Thema Kohle grundsätzlich in den Rahmen des von der Bundesregierung jüngst beschlossenen Energiekonzepts setzen. In dem Energiekonzept stehen die drei Eckpfeiler Klimafreundlichkeit, Verlässlichkeit und Wirtschaftlichkeit im Vordergrund. Trotz ihres oftmals schlechten Rufs wird Kohle auch mittelfristig aus verschiedenen Gründen noch eine bedeutende Rolle im Energiemix einnehmen. Die Verlässlichkeit spielt dabei eine große Rolle, schließlich ermöglicht der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland zwar höhere Minderungsziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber auch den Neubau von hocheffizienten Kohlekraftwerken notwendig. Diese werden als Grundlastkraftwerke zur Ergänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwankenden Angebots an erneuerbaren Energien dringend gebraucht und ersetzen alte ineffiziente Kraftwerke. In unserem Energiekonzept haben wir dies berücksichtigt: Zur Modernisierung des fossilen Kraftwerksparks wird die im europäischen Energie- und Klimapaket vereinbarte Möglichkeit genutzt, ab 2013 den Neubau von CCS-fähigen, hocheffizienten Kraftwerken mit bis zu 15 Prozent der Investitionskosten zu unterstützen. Vor dem Hintergrund des Klimaschutzes spielt in diesem Zusammenhang die CCS-Technologie - Carbon Capture and Storage - eine wichtige Rolle. Deshalb müssen wir jetzt alles daransetzen, dass das CCS-Gesetz so schnell wie möglich verabschiedet wird, um in einem ersten Schritt erste Demonstrationsvorhaben zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass viele Staaten auch in Zukunft bei ihrer Energieversorgung auf Kohle setzen werden. Dabei bieten sich im Bereich der CCS-Technologie für die deutsche Wirtschaft zukunftsträchtige Exportchancen. In China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der größte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren sie sogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidung der EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle im Zusammenhang mit CCS durchaus Zukunft hat. Deutschland darf als Exportnation diesen technologischen Trend nicht verschlafen und muss technologieführend bleiben. Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema Steinkohleförderung im Plenum. Schließlich ist es nicht zuletzt auch ein sehr emotionales. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierung durch die große Bedeutung von Kohle in unserem derzeitigen Energiemix und zum anderen durch die langjährige Tradition in Deutschland und ihre Bedeutung als langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet. Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohleförderung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unserem deutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteil von rund 18 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Gemeinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil am Stromkuchen über 40 Prozent. Insbesondere die Menschen in der Region haben eine besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeutendsten deutschen und europäischen Industrieregionen. Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen. Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Steinkohlefinanzierungsgesetz und dem Auslaufen der Steinkohleförderung sagen. Mit dem Gesetz aus dem Jahr 2007 wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutschland ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, sozialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept zur Beendigung der heimischen Steinkohleförderung hat. Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen international nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliardenschwere Subventionen, fast 2 Milliarden Euro pro Jahr in den letzten Jahren, waren bisher notwendig, damit der deutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt. Zu Protokoll gegebene Reden Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt bereits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht erreichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträger gilt. Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtig und wichtig und stellt meines Erachtens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer in dieser Branche dar. Mit der Kommissionsentscheidung stehen wir nun vor einer neuen Situation, die wir besonnen zu prüfen haben werden, wie ich eingangs bereits erwähnt habe. Ein sich anbahnender Kompromiss mit der Kommission könnte lauten, dass die Förderung, wie im Steinkohlefinanzierungsgesetz vereinbart, bis zum Jahr 2018 - und nicht wie von der EU gefordert bis 2014 - ausläuft. Im Gegenzug müsste die Revisionsklausel des Gesetzes überdacht werden. Diese Klausel besagt, dass dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Bericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmals geprüft wird, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Energieversorgung und der übrigen politischen Ziele über das Jahr 2018 hinaus gefördert werden soll. Wie ich in Gesprächen mit Brüsseler Kollegen erfahren haben, könnte sich die Kommission vorstellen, die Förderung bis 2018 zu erlauben, wenn die Option der Revisionsklausel gestrichen wird. Damit könnte die Förderung wie geplant bis 2018 laufen. Ich denke, dass eine solche Förderung unter diesen Umständen Sinn machen würde. Schließlich ist eine der wichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die sich die Region und die Menschen dort verlassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit sollten wir auf keinen Fall gefährden. Im Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an einer Förderung bis 2018 daher für richtig. Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 wurde ein historischer Schritt in Richtung Subventionsabbau getan. Damit wurde ein vernünftiger Konsens mit allen Beteiligten - Beschäftigten, Unternehmen und Politik - geschlossen, der seine Berechtigung hat. Diese Regelung beendet die Subventionierung im deutschen Steinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. So stellt der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 sicher, dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohlebergbau vermieden werden können. Ferner sollten wir die durch langwierige politische Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und die damit entstandene Planungssicherheit und das Vertrauen in die getroffene Regelung nicht zerstören. Angesichts der Größe der Branche, über die wir reden, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstieg aus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will. Wegen der genannten Gründe würde ich es für sinnvoll erachten, an dem im Jahr 2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohleförderung bis 2018 festzuhalten. Wie ich zu Beginn dargelegt habe, müssen wir jetzt aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Brüssel besonnen agieren und einen vernünftigen Kompromiss anstreben, der eine Förderung bis 2018 weiter ermöglicht. Der von der Bundesregierung gewählte Weg des Prüfvorbehalts ist in diesem Zusammenhang richtig. Eine Entscheidung sollte erst getroffen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann kann über mögliche weitere Schritte entschieden werden. Dabei bin ich sehr zuversichtlich, dass es uns gelingen wird, mit Brüssel auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute gleich drei Anträge zum deutschen Steinkohlebergbau - von SPD, Grünen und von der Linken. Das allein zeigt schon den Stellenwert des Themas für alle Parteien bis auf die der Regierung angehörigen Fraktionen. Die Bundesregierung hat es verschlafen, auf EU-Ebene eine Folgegenehmigung ab 2011 für den vereinbarten Anpassungsprozess im deutschen Steinkohlebergbau bis zum Jahr 2018 zu erwirken. Die Europäische Kommission hatte sich bislang grundsätzlich offen gezeigt, die laut Steinkohlevereinbarung bis 2018 auslaufende subventionierte Förderung auch über 2011 hinaus zu genehmigen. Nach der Neubesetzung des EU-Gremiums scheint jedoch nunmehr das Kostenargument ausschlaggebend zu sein. Der im Juli vorgelegte Verordnungsentwurf stützt sich allein auf das Vorhaben, staatliche Beihilfen abzubauen, und sieht ein vorzeitiges Auslaufen der Steinkohleförderung im Jahr 2014 vor. Die Kommission argumentiert, ein vorzeitiger Ausstieg liege „auch im Interesse des Steuerzahlers und der stark strapazierten Staatskassen“. Anderen Gesichtspunkten wird offensichtlich keine Beachtung geschenkt. Unbeachtet bleibt, dass es sich bei unserem Steinkohlekompromiss um einen sorgsam austarierten Kompromiss handelt, der einen sozialverträglichen Übergang gewährleistet. Außen vor bleibt auch, dass die Steinkohlevereinbarung einen Weg aufzeigt, wie ein Auslaufpfad bis 2018 einschließlich der sogenannten Ewigkeitslasten des Steinkohlebergbaus in unternehmerischer Verantwortung von der RAG AG bewältigt werden kann. Schließlich spielt auch die in einer Studie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohleförderung keine Rolle, die daher rührt, dass die in EU-Ländern nicht mehr abgebaute Steinkohle lediglich durch Importkohle aus Drittländern ersetzt werden wird. Die Beendigung der heimischen Steinkohleförderung wird damit nicht automatisch zu einer Reduzierung der fossiZu Protokoll gegebene Reden len Stromerzeugung und der damit zusammenhängenden Treibhausgasemissionen führen. Das Kostenargument aber relativiert sich mit Blick auf den in Deutschland seit den 1990er-Jahren eingeleiteten Subventionsabbau bei der Steinkohle. Die Förderung wurde bis 2009 um mehr als die Hälfte reduziert. Eine weitere Zahl macht die Dimensionen greifbar: Der Anteil der Steinkohlehilfen am gesamten Subventionsvolumen in Deutschland lag nach den Untersuchungen des Instituts für Weltwirtschaft ({0}), Kiel, bereits 2007 unter 2 Prozent. Gegen potenzielle Einsparungen für den Bundeshaushalt müssen ehrlicherweise auch die sozialen Kosten eines überstürzten Abbaus der Förderung, der Verlust an Versorgungssicherheit und die Gefährdung des Finanzierungsfahrplans für die Ewigkeitslasten in Anschlag gebracht werden. Diese Risiken wiegen schwer. Und manches, wie Arbeitsplatzverlust und Perspektivlosigkeit, in die Bergleute und Beschäftigte der nachgelagerten Branchen mit einem frühzeitigen Ausstieg aus der Vereinbarung gestürzt würden, lässt sich nicht in Zahlen ermessen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, in welche Lage uns die Bundesregierung auf EU-Ebene manövriert hat. Es ist unglaublich, dass der deutsche EU-Kommissar, der fachlich auch noch für das Energieressort zuständig ist, bei den entscheidenden Abstimmungsprozessen mit Abwesenheit glänzte! Und es ist untragbar, dass es die aktuelle Bundesregierung zulässt, dass die Steinkohlevereinbarung von 2007 von den eigenen Reihen ausgehöhlt wird. Wo andere betroffene EU-Länder wie Rumänien und Spanien ihre Interessen mittels Widerspruch klar verteidigen, legte Brüderle lediglich einen Prüfvorbehalt ein, und das, obwohl die Datenlage doch lange klar ist. Der FDP-Wirtschaftsminister sitzt das ihm unangenehme Thema also aus. Der Energiekommissar fabuliert kurz vor Zwölf über mögliche Wege, die Vereinbarung so aufzuweichen, dass sie auf EU-Ebene noch durchzubringen sei. Im Interview mit der „Bild“-Zeitung sagte er kürzlich: „Ich schlage vor, diese Revision in den nächsten Wochen schnell vorzuziehen und den Ausstieg 2018 zu bekräftigen. Das würde auch die Skeptiker überzeugen, dass keine weitere Verlängerung beantragt wird.“ Das heißt, der Kommissar wünscht sich formal eine vorgezogene Überprüfung des Steinkohlebeschlusses, gibt aber gleichzeitig schon das Ergebnis vor - den endgültigen Ausstieg im Jahr 2018. Damit wird die „Revision“ ad absurdum geführt. Mit Blick auf die Lage an den Weltmärkten wäre es ein Armutszeugnis, die Revisionsklausel leichtfertig den Verhandlungen mit EU-Mitgliedsländern preiszugeben. Die Wahrung einer Fortführungsperspektive der heimischen Steinkohleförderung ist eine Frage der Versorgungssicherheit. Auf den Weltmärkten verschärft sich die Verknappungssituation für energetische und nichtenergetische Rohstoffe. Die wachsende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage führt zu teilweise erheblichen Preissteigerungen, die den Erhalt eines Sockelbergbaus wirtschaftlich machen könnten. Das von EU-Kommissar Oettinger vorgeschlagene „deutliche Zeichen aus Deutschland …, dass 2018 endgültig Schluss ist mit den Beihilfen“, werten wir allerdings als ein Signal dafür, dass die Revisionsklausel in Brüssel bereits auf der Kippe steht. Die Regierung hat den Karren so weit vor die Wand gefahren, dass die unter massivem Handlungsdruck stehenden Beteiligten, aber auch die Betroffenen, am Ende sogar bereit sein werden, auf die Revisionsklausel zu verzichten, um noch schlimmeres Übel zu verhindern. Denn letztlich wird es darum gehen, die Sozialverträglichkeit eines Auslaufpfads bis 2018 zu wahren und die Finanzierungsbasis von RAG-Stiftung und der heutigen Evonik Industries AG nicht zu gefährden. Als SPD-Fraktion stehen wir zu den im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerten Vereinbarungen. Der Steinkohlekompromiss darf weder der Haushaltskonsolidierung geopfert noch gegen den Klimaschutz ausgespielt werden. Die Gründe dafür habe ich bereits genannt. Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht, zu handeln. Sie hat sich in eine äußerst heikle Lage gebracht, die erfordert, dass eine Nachfolgeregelung für die Ende 2010 auslaufende Verordnung des Rates über staatliche Beihilfen im Steinkohlebergbau unter erschwerten Bedingungen und unter massivem Zeitdruck durchgesetzt wird. Wir erwarten von der Bundeskanzlerin, dass sie innerhalb ihres Kabinetts zügig für eine einheitliche Linie sorgt und auf EU-Ebene mit allen Mitteln gegen eine vorzeitige Beendigung der Steinkohlebeihilfen vorgeht. Es ist der Regierung nicht anzuraten, die Debatte um die Zukunft der Kohleförderung wieder aufzumachen. Diesen Knoten hatten wir 2007 unter Beteiligung aller Betroffenen - der damaligen Bundesregierung und der Landesregierungen NRW und Saarland, der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der RAG AG - gelöst. Die Steinkohlevereinbarung von 2007 darf nicht einfach aufgekündigt werden. Es ist absehbar, dass die Kanzlerin diesen Job Mitte Dezember auf dem Europäischen Rat selbst erledigen muss. Wir erwarten, dass sie das durchsetzt, was wir in Deutschland beschlossen haben und was die Kommission zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen Politik gemacht hatte.

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem Kohlekompromiss ist 2007 in Deutschland das Auslaufen des subventionierten heimischen Steinkohlebergbaus zum Ende des Jahres 2018 beschlossen worden. Damit wurden einvernehmlich zwei Ziele umgesetzt: Zum einen soll die Beendigung des Steinkohleabbaus sozialverträglich erfolgen: Auf betriebsbedingte Kündigungen wird verzichtet. Zum anderen wird mit der Gründung der RAG-Stiftung das Ziel verfolgt, Kapital anzusammeln, mit dem die sogenannten Ewigkeitskosten des Bergbaus bedient Zu Protokoll gegebene Reden werden. Gemeint sind hier die Kosten für Maßnahmen, die für die Nachsorge eines Bergwerkes nötig sind: Vor allem Wasserhaltung und Versorgung der betroffenen Flächen. So wurde ein richtungsweisender Anpassungsprozess ermöglicht. Mithilfe aller zur Verfügung stehenden sozial- und personalpolitischen Instrumente werden die Konsequenzen des Ausstiegs für die Bergleute aufgefangen. Zudem sollen die betroffenen „Kohlerückzugsgebiete“ ausreichend Zeit haben, die regionalökonomischen Folgen eines Auslaufbergbaus abzufedern. Die Vorgaben dieses Rahmens werden seit Jahren nun unternehmerisch schrittweise umgesetzt. Darüber hinaus wurde beschlossen, die Option auf den Erhalt eines Sockelbergbaus offen zu halten - will heißen, dass der Deutsche Bundestag den Auslaufbeschluss im Jahr 2012 revidieren kann. Dies alles haben wir Ende 2007, Anfang 2008 durch das neue Steinkohlefinanzierungsgesetz und ein begleitendes Vertragswerk rechtlich fixiert. Bedeutsam dabei ist, dass hier in einmaliger Weise das Ende einer Subventionierung im industriellen Bereich beschlossen wurde. Man tauschte Subventionen gegen soziale Sicherheit und wurde sich einig. Hier sollten wir - meine ich - einen Moment innehalten und uns darüber klar werden, welche paradigmatische Ausstrahlung von diesem Kompromiss ausgeht. Zudem möchte ich einen berühmten und unvergessenen Politiker aus meinem Wahlkreis zitieren, der den alten römischen Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ in den Mittelpunkt einer politischen Diskussion rückte: Es ging seinerzeit um die Ostverträge. Diese mündeten dann bekanntlich in der deutschen Wiedervereinigung. Auch wir sollten an geschlossenen Verträgen festhalten! Der nun vorliegende EU-Verordnungsvorschlag wurde Ende September dieses Jahres in der Ratsarbeitsgruppe Wettbewerb auf Fachebene beraten. Zur Diskussion steht, Subventionen für nicht wettbewerbsfähige europäische Steinkohlebergwerke bereits 2014 auslaufen zu lassen. Festzuhalten ist dabei, dass es bisher bei weitem keine europäische Einigkeit hinsichtlich eines Enddatums für diese Betriebsbeihilfen gibt. Sehr dankbar bin ich diesbezüglich, dass die Bundesregierung alles unternimmt, hier eine einvernehmliche Lösung zu finden. Sie hat in diesem Zusammenhang auf den deutschen Steinkohlekompromiss hingewiesen und einen Prüfvorbehalt zur Frage des Enddatums eingelegt. Auch unser EU-Energiekommissar Günther Oettinger lässt positiv aufhorchen, wenn er in der Presse verlautbaren lässt: „Für die deutschen Kumpel ist noch nicht Schicht im Schacht“. Seinen Hinweis, es gebe gute Argumente für die Kohleförderung bis 2018 - vor allem wenn der Ausstieg zum besagten Datum glaubwürdig ist -, sollten wir auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Insofern liegt es insbesondere an uns, deutliche Zeichen zu setzen, dass 2018 auch wirklich Schluss ist: Wir sind also wieder beim „pacta sunt servanda“. Der Einwurf des SPD-Antrages, einen Sockelbergbau auch nach 2018 betreiben zu wollen, ist hier mehr als kontraproduktiv und schädlich. Gleichwohl liegt es bei den Mitgliedstaaten der EU und beim Europäischen Parlament, eine gangbare Einigung zu finden. Und wir können nicht die Europäische Einigung allseits fordern, bei konkreten Maßnahmen aber behaupten, dies ginge uns nichts an, oder wie es der Antrag der Linken fordert, unseren nationalen Verträgen auf der EU-Ebene - gefälligsterweise - Geltung zu verschaffen. Anders sieht es da bei dem Antrag der Grünen aus: Sie stehen zum Ausstieg 2018, zumindest im Bund. In NRW allerdings sieht für die Grünen die Sache wieder einmal ganz anders aus. Hier zeigt sich ihre janusköpfige Gesinnung: Vorne „hü“, hinten „hott“! Will doch der rot-grüne Regierungspakt in NRW nichts Geringeres, als dass die Optionen auf Beendigung und Fortsetzung der Steinkohleförderung gleichberechtigt bei weiteren Aktivitäten und Planungen des Bergbaues beibehalten werden. Für die FDP liegt die Situation eindeutig auf der Hand - die Entscheidungsträger sind klar benannt. Diesbezügliche Anträge erübrigen sich. Auch deshalb lehnen wir diese ab. Sollte nun die EU aber das Auslaufen der Beihilfen für 2014 vorgeben, wird die christlichliberale Koalition die Kumpel nicht im Regen stehen lassen.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es handelt sich um eine Premiere: Die Linke im Bundestag bringt heute einen CDU-Antrag aus dem Landtag NRW ein, der dort mit den Stimmen von CDU, SPD, Grünen und Linken verabschiedet wurde. Nur die FDP sprach sich im Landtag dagegen aus, am Steinkohlekompromiss festzuhalten, und nimmt damit Massenentlassungen bei den Bergleuten in Kauf. Die Bergleute haben letzte Woche machtvoll in Brüssel demonstriert. Mittlerweile gibt es klare Beschlüsse des Bundesrates, und gestern hat auch der DGB noch einmal das Festhalten am Steinkohlekompromiss gefordert. Die Vorgänge um das Steinkohlefinanzierungsgesetz zeigen nicht nur die Inkompetenz der Bundesregierung bei der Interessenvertretung in den europäischen Institutionen. Sie zeigen auch zum wiederholten Male die Ignoranz des Bundeswirtschaftsministers gegenüber dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutung von Industriearbeitsplätzen, wobei Nordrhein-Westfalen stets besonders schlecht wegkommt. Herr Brüderle nutzt das jahrelange europarechtliche Vakuum, das die Bundesregierung geschaffen hat, um sich über die deutsche Gesetzeslage hinwegzusetzen. Das ist ein seltsames Demokratieverständnis und das ist ein weiterer Schlag ins Gesicht der Bergleute. Der über Jahrzehnte für NRW und das Saarland prägende Bergbau und seine Zulieferer brauchen die Zeit bis 2018, um den Strukturwandel zu schaffen. Die Linke im Bundestag will diesen Strukturwandel ohne Entlassungen bewältigen. Die Linke will die ökologischen Altlasten des Bergbaus verantwortlich und möglichst ohne Zu Protokoll gegebene Reden weitere Belastung der öffentlichen Kassen in Bund und Ländern angehen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche und strukturpolitische Aufgabe, denn die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands war nun einmal lange von Steinkohle, Koks, Eisen und Stahl geprägt. Der notwendige Übergang zu nichtfossilen Energieträgern muss sozialverträglich erfolgen, der Übergang zur nachhaltigen Produktion muss die Facharbeiterinnen und Facharbeiter und die Ingenieurinnen und Ingenieure mitnehmen und darf sie nicht auf die Straße setzen. EU-Kommissar Oettinger erklärte vorgestern, es sei noch nicht Schicht im Schacht; er sehe gute Chancen für eine Verlängerung der Steinkohlesubvention bis 2018. Umso wichtiger wäre eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen im deutschen Bundestag, sich hinter die Vereinbarungen im Steinkohlekompromiss zu stellen und ein deutliches Signal nach Brüssel zu geben. Ich wollte ihnen gestern im Ausschuss die Möglichkeit dazu mit dem verabschiedeten Antrag aus NRW geben. Stattdessen ist die CDU im Ausschuss aus Koalitionsdisziplin und Parteiinteressen eingeknickt. Zehntausende Bergleute in NRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlassen. Es geht deshalb nicht nur um Kohlepolitik, es geht um Vertragstreue und Verlässlichkeit der Demokratie. Die Schuld dafür trägt aber nicht zuerst die EU-Kommission, wie uns Herr Brüderle gerne glauben lassen möchte. Die beiden Bundesregierungen und auch Schwarz-Gelb in NRW haben es in den letzten Jahren verschlampt - anders kann man es nicht sagen -, das Gesetz auch europarechtlich abzusichern. Ex-Wirtschaftsminister Glos hatte klugerweise bereits in der Presseerklärung vom 28. Dezember 2007 vermerkt: „Die Beihilfen stehen unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die EU-Kommission. Die Bundesregierung hat das gesamte Auslaufpaket mit einer konkreten Planung für die bis zum Ende des Jahres 2018 stillzulegenden Steinkohlebergwerke bei der EU-Kommission notifiziert.“ Und was ist danach passiert? Offensichtlich nichts, bis die EU-Kommission dann im Juli 2010 nach einer Reihe von Konsultationen die Schließung der Bergwerke für den 1. Oktober 2014 vorschlägt und damit die Beihilfen eben nicht bis 2018 notifiziert. Warum dann in der Regierungskoalition ein offener Konflikt zwischen dem zuständigen Wirtschaftsminister Brüderle und der Kanzlerin losbricht, ist hingegen mehr als durchschaubar. Wie schon im Falle Opel macht die Kanzlerin auf der innenpolitischen Bühne Zusagen, die ihr marktwirtschaftlicher Wirtschaftsminister einfach nicht umsetzt. Sogar das Handelsblatt schreibt wörtlich, dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel nicht das beste Bild abgegeben habe. Anstatt die Pläne für 2014 klar zu stoppen, legt der Wirtschaftsminister einen schwächlichen Prüfvorbehalt ein. So weit zum skandalösen Agieren der Bundesregierung und, an vorderster Front mal wieder, des Bundeswirtschaftsministers. Wichtig bei dem Thema ist - und das sage ich vor allem an die Adresse von Herrn Trittin und den Grünen, die sich in ihrem Antrag mit der FDP verbünden -, dass die Steinkohlebeihilfen nichts mit Kohlekraftwerken und damit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Keines der längst überwiegend mit billiger Importkohle betriebenen Steinkohlekraftwerke ginge auch nur einen Tag früher vom Netz, wenn sich die EU mit ihrer Kahlschlagpolitik durchsetzt. Wer von Kanzlerschaft träumt, der sollte zumindest einen Grundkurs in sozialer Verantwortung belegen. Ich empfehle zur innergrünen Weiterbildung dazu die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Rainer Priggen. Die Steinkohlebeihilfen können ein wichtiger Baustein sein, um die Energiewende hin zu regenerativen Energieträgern sozialverträglich, das heißt ohne Massenentlassungen, zu organisieren. Das ist zukunftsfähige Industriepolitik auch für die Zulieferer und nicht wie bei den Grünen so oft einfach Marktgläubigkeit und bloße Hoffung auf große Exportoffensiven für neue Technologien. Die Linke im Bundestag lehnt jeden Kuhhandel mit Brüssel ab. Die Revisionsklausel steht nicht zur Debatte. Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Kokspreise in den letzten Monaten gestiegen sind. Fragen sie doch einmal nach bei den Zechen, wie begehrt das technologische Know-how weltweit ist. Wir fordern in den nächsten Wochen ein deutliches, abgestimmtes Auftreten der Bundesregierung in Brüssel mit dem Ziel, Massenentlasssungen im Bergbau zu verhindern. Das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz muss endlich europarechtlich abgesichert werden. Die Kanzlerin muss endlich von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen. Der deutsche EU-Kommisar muss endlich aufhören, schwäbisch zu schwätzen und handeln. Eine gemeinsame Erklärung im Parlament wäre ein guter Schritt dorthin. Deshalb fordere Sie alle auf, ihre Entscheidung im Wirtschaftsausschuss zu revidieren und dem Antrag zuzustimmen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mal ehrlich: Es gibt eine Debatte über den Steinkohlebergbau, und die antragstellende SPD lässt zu Protokoll geben. Früher hätten Sie das zur Kernzeit gemacht und die Bergleute zur Demo herangekarrt. Ist das ein weiteres Indiz, dass die SPD bei ihrem Traditionsthema langsam, aber sicher in der Realität ankommt? Der Sache wäre es zu wünschen. Aber der Reihe nach. Es ist gut, dass die Debatte der EU-Kommission am 20. Juli dieses Jahres über das Ende der Steinkohlesubventionen in Deutschland eine große Diskussion ausgelöst hat. Das war überfällig. Wir brauchen in Deutschland endlich eine definitive Entscheidung, wann Schluss ist mit dem subventionierten Steinkohlebergbau. Auch der zuständige deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger scheint die Bedeutung des Themas erkannt zu haben. Noch im Juli glänzte er mit Abwesenheit bei der entscheidenden Sitzung der EU-Kommission und schien die Bedeutung des Themas völlig falsch eingeschätzt zu haben. Dass so etwas passiert, ist eine desolate Handwerksleistung der Bundesregierung. Offensichtlich ist die Brisanz des Themas in der Bundesregierung überhaupt nicht präsent - frei nach dem Motto: Die EU wird schon tun, was Deutschland will. Ein Zu Protokoll gegebene Reden schlimme Fehleinschätzung und eine Arroganz gegenüber den europäischen Institutionen. Immerhin fand jetzt Herr Oettinger - fast drei Monate nach der Kommissionsentscheidung - in einem Zeitungsinterview klare Worte: Er spricht sich für das Vorziehen der Revisionsklausel im Steinkohlebeihilfengesetz noch in diesem Jahr aus und fordert das definitive Ende der Steinkohlesubventionen bis 2018. Wir begrüßen diese Linie von Herrn Oettinger. Bei der Steinkohle ist er auf dem richtigen Weg. Genau das sagt auch der Antrag der grünen Bundestagsfraktion, der heute zur Abstimmung steht. Und wenn wir es schaffen, sozialverträglich und ohne zusätzliche Kosten auch schon vor 2018 aus dem subventionierten Bergbau herauszukommen, umso besser. Die Debatte zeigt, dass Deutschland offensichtlich den Druck aus Brüssel braucht, um sich endgültig von der teuren und schädlichen Subventionierung des Steinkohlebergbaus zu verabschieden. Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koalition im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt. Zwischen 2007 und 2018 sollen demnach 13,9 Milliarden Euro Subventionen für den Steinkohlebergbau bereitstehen. Insgesamt arbeiten in den letzten fünf Zechen noch 25 000 Beschäftigte. Die damalige Bundesregierung und auch die damalige schwarz-gelbe Landesregierung in NRW haben es dabei jedoch versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern - obwohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung für ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab. Die Haltung, die EU wird schon tun, was Deutschland sagt, rächt sich nun. 2014 ist angesichts dessen schon ein Entgegenkommen der EU-Kommission. Das Datum 2014 wirft in Deutschland jedoch auch Probleme auf. Denn es bedeutet, dass die bis heute verbliebenen fünf Bergwerke mit über 25 000 Beschäftigten in nur vier Jahren geschlossen werden müssen, mit all den Konsequenzen für die Beschäftigten. Ob dieses überhaupt praktisch umsetzbar ist und im Ergebnis für die öffentliche Hand billiger wird, erscheint angesichts der notwendigen Kosten zur Gewährleistung der Sozialverträglichkeit zumindest fraglich. Die Verantwortung für die Verunsicherung der Bergleute und der betroffenen Kommunen trägt damit die Bundesregierung, die sich vorwerfen lassen muss, hier fahrlässig untätig gewesen zu sein. Anstatt sich zunächst um einen Konsens mit der Kommission und eine Mehrheit im Rat zu kümmern, wurde nach dem Motto geplant: Europa hat das zu akzeptieren, was Deutschland entscheidet. Die Empfehlung der EU-Kommission, die Steinkohlesubventionen 2014 auslaufen zu lassen, ist aus Sicht anderer Länder bereits ein Kompromiss. Die jetzige EU-Regelung sieht lediglich eine Beihilfe bis zum 31. Dezember 2010 vor. Wir diskutieren heute hier über den sozialverträglichen Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen, der nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch sinnvoll erscheint. Doch der heute zur Abstimmung stehende Antrag der SPD „Die Steinkohlevereinbarung gilt“ ist dabei ein Schritt in die falsche Richtung. Die Forderung des Sockelbergbaus konterkariert den vereinbarten Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen und die damit verbundene Entlastung für den Steuerzahler. Diese Position ist nicht realitätstauglich; denn der deutsche Steinkohlebergbau ist aufgrund der immer schwieriger werdenden geologischen Verhältnisse in den Lagerstätten meilenweit davon entfernt, zu Weltmarktpreisen produzieren zu können. Es ist angesichts der Lage der öffentlichen Haushalte unverantwortlich, einen dauerhaften steuerfinanzierten Sockelbergbau zu wollen, der zudem immer neue Alt- und Ewigkeitslasten produziert, wo wir schon heute nicht sicher sein können, ob die Mittel der RAGStiftung zur Finanzierung der bis heute aufgelaufen Altund Ewigkeitslasten ausreichen. Der Antrag, den die Linken hier stellen, ist im Wesentlichen der Beschluss des Landtags NRW auf Antrag von CDU, SPD und Grünen. Es ist ihr gutes Recht, wenn auch nicht gerade ein feiner Stil, ohne Hinweis auf die Urheberschaft hier die breit getragenen Beschlüsse anderer Parlamente einzubringen, die naturgemäß Kompromisse sind. Deshalb werden wir uns deshalb bei diesem Antrag enthalten. Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wäre es, wenn Sie hier auch Ihren Entschließungsantrag aus dem Landtag von NRW eingebracht hätten. Die Linken im Landtag von NRW fordern nämlich noch offener als die SPD einen steuerfinanzierten nationalen Steinkohlesockel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion: Wem soll man denn nun Glauben schenken? Mit Ihrem heute zur Abstimmung vorliegenden Antrag machen Sie sich unglaubwürdig. Sagen Sie uns die Positionen der Linken im Bundestag: Wollen Sie wie Ihre Kollegen in NRW einen nationalen Steinkohlesockel? Wie schon erwähnt, begrüßen wir die Positionierung des Energiekommissars Oettinger zum Ausstieg aus den Steinkohlebeihilfen. Unser Antrag „Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“, der heute zur Abstimmung steht, entspricht im Kern genau dieser Position. Diesem Antrag zuzustimmen und damit ein Signal in Richtung EU zu senden, dass spätestens 2018 mit dem Steinkohlebergbau Schluss ist und die Revisionsklausel fällt, wäre genau das, was alle Beteiligten brauchen, um das Problem zu lösen. Die Anträge von SPD und Linken sind da keine Hilfe. Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen erwarten wir, dass sie dann schnell darangehen, die deutsche Rechtslage endlich in Übereinstimmung mit den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union zu bringen. Das heißt: endgültiger Schluss spätestens 2018 und ernsthafte Überprüfung, ob nicht auch ein früherer Ausstieg möglich ist. Dies würde auch ein Ende der realitätsfremden Träumereien von SPD und Linken von einem sogenannten dauerhaft steuerfinanzierten nationalen Steinkohlesockel bedeuten. Vor allem aber dürfen durch einen fortgesetzten Bergbau über 2018 hinaus nicht immer neue und zusätzliche Altlasten und Ewigkeitskosten produziert werden. Zu Protokoll gegebene Reden

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 17/3231. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/3043 mit dem Titel „Die Steinkohlevereinbarung gilt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3044 mit dem Titel „Für einen geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen. Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/3201 mit dem Titel „Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. Tagesordnungspunkt 25: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden - Atomwaffenfreie Zone befördern - Drucksache 17/2481 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Joachim Hörster, Roderich Kiesewetter, Heidemarie WieczorekZeul, Christoph Schnurr, Wolfgang Gehrcke und Katja Keul werden zu Protokoll gegeben.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der Fraktion Die Linke liefert keine neuen Erkenntnisse und übersieht meines Erachtens einen entscheidenden Punkt, nicht durch den Stopp von Rüstungsexporten wird ein tragfähiges Sicherheits- und Friedenskonzept für den Nahen Osten auf den Weg gebracht, sondern nur durch den Willen der Konfliktparteien, sich zum Frieden zu bekennen und ihn auch durchsetzen zu wollen. Des Weiteren halte ich die offenkundig einseitigen Forderungen bezogen auf den Staat Israel, gerade vor dem Hintergrund der besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sowie der historischen Verantwortung Deutschlands, für nicht vertretbar. Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind ein tragender Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Eine Aufkündigung der Zusammenarbeit hätte weitreichende und nachteilige Folgen für das Gleichgewicht in der Region des Nahen Ostens, insbesondere bei der fortschreitenden Aufrüstung des Irans und der von ihm angestrebten Profilierung als Hegemonialmacht. Die unerträglichen verbalen Angriffe des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad gegenüber Israel müssen höchste Wachsamkeit auslösen. Mögliche Szenarien eines mit Nuklearwaffen ausgestatteten Iran waren Inhalt einer vor kurzem in Berlin abgehaltenen Konferenz des Aspen-Instituts. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Machtgeometrie der Welt insgesamt verändern würde, wenn der Iran seine möglicherweise dann atomar bestückten Trägerraketen gegen die benachbarten Araber und Israelis, die USA oder gegen Europa richtet. Infolge wäre der Atomwaffensperrvertrag nur ein nutzloses Stück Papier, und ein nukleares Wettrüsten in den dem Iran benachbarten arabischen Staaten würde einsetzten. Auf der anderen Seite ist nicht davon auszugehen, dass das Regime im Iran in absehbarer Zeit ein Testverbot von Nuklearwaffen ratifizieren wird. Die gesamte arabische und westliche Welt ist deshalb in großer Sorge und aufs Äußerste darauf bedacht, eine dauerhafte und sichere Lösung des Konfliktes herbeizuführen. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung trotz der Ausführungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad auf der diesjährigen UN-Vollversammlung in New York weiterhin auf einen offenen Dialog mit dem Iran setzt und sich auch die NATO in ihrem neuen Strategiekonzept für eine Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit der iranischen Führung ausspricht. Die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten, die auf ägyptische Initiative seit 1974 betrieben wird und die seit 1990 auf das von der Bundesregierung unterstützte Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone Naher Osten erweitert wurde - „Mubarak-Initiative“ -, kam angesichts der Lage in der Region auch 2009 nicht voran. Sowohl in der Internationalen Atomenergie-Organisation als auch im NVV-Überprüfungsprozess - NVV: Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen - drängen die arabischen Staaten, und hier vor allem Ägypten, mit zunehmender Vehemenz auf Fortschritte, während Israel weiterhin auf eine zuvor erforderliche Friedenslösung verweist. Die 8. Überprüfungskonferenz, die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagte, hat sich erstmals seit dem Jahr 2000 wieder im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt, das einen vorwärtsschauenden Aktionsplan mit konkreten Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags - nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten enthält. Die Bundesregierung ihrerseits übt neben einer konfliktlösenden Außenpolitik eine verantwortungsvolle Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus. Sie entscheidet im jeweiligen Einzelfall nach einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung aller vorliegenden Umstände. Grundlage dafür sind die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 19. Januar 2000 und der Verhaltenskodex der EU vom 8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat verabschiedet wurde. Wesentlicher Bestandteil der Politischen Grundsätze ist die rechtliche Regelung des deutschen Rüstungsexportes durch das Grundgesetz, das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen und das Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit der Außenwirtschaftsverordnung. Wichtige Kriterien jeder Entscheidung sind dabei die Konfliktprävention sowie die Kriegsgefährdung in der jeweiligen Region. Von einer akuten Kriegsgefährdung, welche alle arabischen Staaten des Nahen Ostens einschließt, ist nicht auszugehen, da gerade auch die arabische Seite erkannt hat, dass ein Frieden in der Region nur durch eine aktive Beteiligung bei der Lösung des Nahostkonfliktes zu erreichen ist. Das beste Beispiel ist die Friedensinitiative aus dem Jahr 2002, auf die ich mich in jeder meiner Reden zur Lösung des Nahostkonfliktes beziehe. Diese Initiative kann zum Erfolg führen, denn sie ist nicht vom Westen übergestülpt. Der damalige saudische Kronprinz und heutige saudische König Abdallah präsentierte im Jahr 2002 beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen Friedensplan, der entscheidende Neuerungen zu allen früheren Erklärungen erkennen ließ. Der Plan sieht vor, dass Israel sich vollständig aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückzieht: dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ostjerusalem. Dort soll ein unabhängiger Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt gegründet werden. Was die im Krieg von 1948 aus dem heutigen Israel vertriebenen Araber angeht, soll eine „faire Lösung“ für die Rückkehr in ihre Heimat gefunden werden. Jeder weiß, dass eine Rückkehr in das heutige Israel ausgeschlossen ist, da dies den Staat Israel in seinen Fundamenten zerstören würde. Aber eine „faire Lösung“ eröffnet auch andere Möglichkeiten als Rückführung. Jedenfalls steht das Existenzrecht des Staates Israel für uns alle in diesem hohen Hause außer Frage. Der Abdallah-Friedensplan wurde auf verschiedenen Gipfeltreffen im März und Juni 2007 in Riad und Scharm-el-Scheich wiederbelebt und floss auch in die Internationale Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis im November 2007 mit ein, wo die Verpflichtung der israelischen und palästinensischen Behörden gegenüber der internationalen Gemeinschaft zur Wiederaufnahme über alle Fragen, die den Endstatus der palästinensischen Gebiete betreffen, eingegangen wurde und die Zweistaatenlösung in direkten Gesprächen innerhalb eines Jahres herbeigeführt werden sollte. Aufgrund des Scheiterns der Annapolis-Gespräche begrüße ich umso mehr das aktuelle Engagement der Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahost-Quartett erstmals nach zwei Jahren wieder gemeinsame Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern initiieren konnte. Seit dem 2. September 2010 fanden wieder direkte Verhandlungen statt, in denen man sich darauf verständigte, innerhalb von 12 Monaten ein Rahmenabkommen zu den Endstatusfragen zu erarbeiten. Eine nachhaltige Lösung des Konflikts im Nahen Osten kann nach deutscher und europäischer Auffassung nur in einer Zweistaatenlösung und der Anerkennung Israels durch seine arabischen Nachbarstaaten liegen. Ob die Gespräche nach dem Ende des Siedlungsbaumoratoriums für das Westjordanland weitergehen, entscheidet sich nach den Beratungen zwischen dem Palästinenserpräsidenten Abbas und der Arabischen Liga in diesem Monat. Neue Bemühungen um innerpalästinensische Aussöhnung nach der Zurückweisung des letzten von Ägypten vorgelegten Vermittlungsvorschlags durch die Hamas 2009 zeigen sich in den aktuellen Gesprächen im September 2010 zwischen Hamas-Führung und Fatah-Delegation in Damaskus. Hamas-Chef Chalid Maschal sagte dazu am 27. September: Beide Gruppen haben „ernste und tatsächliche Schritte“ in Richtung Aussöhnung unternommen. Der Ausgang dieser Gespräche ist offen. Fest steht jedoch, dass die Bundesregierung bzw. die EU auch weiterhin mit den regionalen Akteuren zusammenarbeiten muss, um auf eine dauerhafte und sichere Lösung des Nahostkonfliktes hinzuwirken. In seiner Erklärung vom 21. September 2010 wies der Europäische Rat auf Initiative Deutschlands ausdrücklich darauf hin, dass „gerechter, dauerhafter und umfassender Friede im Nahen Osten“ nur unter Einbindung der arabischen Staaten möglich ist. In einer ausschließlich umfassenden Friedensordnung liegt die Lösung der Konflikte im Nahen Osten. Der Antrag der Linken ist nicht geeignet, den Frieden in der Region auch nur einen Schritt näher zu bringen.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Bundeskabinett hat am 31. März 2010 den vom Bundesminister für Wirtschaft und Technologie vorgelegten zehnten Bericht über die Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter der Bundesregierung für das Berichtsjahr 2008 verabschiedet und dem Bundestag zugeleitet. Hier wird deutlich: Genehmigungen wurden erst nach eingehender Prüfung im Einzelfall erteilt und nachdem insbesondere sichergestellt wurde, dass deutsche Rüstungsgüter nicht für Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden oder zur Verschärfung von Krisen beitragen. Die Genehmigungsentscheidungen richteten sich nach dem Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, der im Dezember 2008 verabschiedet wurde und den Verhaltenskodex der EU zu Rüstungsexporten aktualisiert, ergänzt und rechtlich verbindlich gemacht hat. Ferner gelten die teilweise noch strikteren Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport von 2000. Zu Israel und dem Nahen Osten kann für uns als Union Folgendes festgehalten werden: Israels legitime Sicherheitsinteressen müssen vollständig gewahrt werden. Deutschland hat in der Frage der Sicherheit Israels Zu Protokoll gegebene Reden eine historische Verpflichtung, eine besondere Verantwortung gegenüber Israel als jüdischem Staat. Es ist nach unserer tiefen Überzeugung Teil der deutschen Staatsräson, die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren. Wie aus dem Jahresabrüstungsbericht 2009 hervorgeht, hat Israel seine militärischen Schwerpunkte auf den Kampf gegen den Terrorismus und die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen gesetzt. Drei vorrangige Ziele wurden definiert: Steigerung der taktischen und strategischen Aufklärungsfähigkeit, Verbesserung der Präzision der Waffensysteme, vor allem im Bereich der Landstreitkräfte, und Digitalisierung sowie Befähigung zur vernetzten Operationsführung der Landstreitkräfte. Ferner ist Israel auch an dem Erwerb von Abwehrsystemen für den Einsatz gegen ballistische Flugkörper kurzer Reichweite interessiert. Der zugrunde liegende Konflikt, der auch zu stetigen Rüstungsimporten in der gesamten Region führt, kann nur durch einen politischen Prozess auf der Grundlage der Roadmap, den Initiativen des Nahost-Quartetts und der arabischen Friedensinitiative gelöst werden. Nur so kann ein tragfähiger Frieden im Nahen Osten erreicht werden. Wir fordern daher die Bunderegierung auf, die von den USA initiierten „Proximity Talks“ zu unterstützen und sich gegenüber Israel und den Palästinensern dafür einzusetzen, dass beide diese konstruktiv führen, damit eine rasche Aufnahme direkter Friedensgespräche mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung möglich wird. Deutschland ist an Israels Seite. Der Iran missachtet seit Jahren die Auflagen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Organisation. Das Land schafft keine Transparenz über sein Atomprogramm. Die Resolution des Sicherheitsrates zum iranischen Atomprogramm ist eine klare und ausgewogene Antwort auf die anhaltende Weigerung des Iran, die Zweifel an der friedlichen Natur seines Atomprogramms auszuräumen. Dabei hatte die Staatengemeinschaft dem Iran über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder die Möglichkeit gegeben, Klarheit zu schaffen. Als Partner und als Freunde Israels haben wir Deutsche vor dem Hintergrund der Drohgebärden des Iran in dieser Frage eine ganz besondere Verantwortung. Die Resolution ist ein deutliches Signal der internationalen Gemeinschaft, dass eine atomare Bewaffnung des Iran nicht akzeptabel ist. Die Resolution richtet sich nicht gegen die Menschen im Iran, sondern gegen die staatlichen Träger des Nuklearprogramms. Unser aller Ziel bleibt aber eine diplomatische Lösung. Die Tür für Zusammenarbeit und Transparenz ist weiter offen. Es ist jetzt an der Zeit, dass alle Staaten des Nahen Ostens endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und zur Entspannung beitragen. Die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagende 8. Konferenz der Vertragsparteien zur Überprüfung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hat sich im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt. Ein vorausschauender Aktionsplan mit konkreten Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags - nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung der Kernenergie - sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen freien Zone im Nahen Osten ist das Ergebnis. Dieser Erfolg stärkt den NVV als Fundament der internationalen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchitektur und überwindet die infolge der gescheiterten Überprüfungskonferenz von 2005 und Belastung des NVV durch Proliferationsfälle eingetretene Stagnation. Das Ergebnis war angesichts erheblicher inhaltlicher Positionsunterschiede unter den Teilnehmern und Belastung durch die Entwicklungen im Iran bis zum letzten Moment offen. Der Abschluss eines neuen START-Vertrags im April und die Ankündigung zur Offenlegung des US-Nukleararsenals durch Außenministerin Clinton zu Konferenzbeginn trugen jedoch zu einer sachorientierten Debatte bei. Wichtige Elemente des Aktionsplans und damit auch für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten sind die klare Zielsetzung der vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen unter Einbeziehung aller Arten von Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungsprozess sowie das Bekenntnis zur Reduzierung der Rolle von Kernwaffen in den Sicherheitsstrategien der Kernwaffenstaaten. Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Überprüfungskonferenz war die Einigung zur Ingangsetzung eines Prozesses, die - vor allem von den arabischen Staaten angemahnte - Verpflichtung der Verlängerungskonferenz von 1995 zur Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone Nahost konkret anzugehen. An einer unter anderem vom Generalsekretär der Vereinten Nationen 2012 auszurichtenden Konferenz sollen alle Staaten der Region teilnehmen. Die EU hat mit dem erstmaligen Auftritt der Hohen Repräsentantin Catherine Ashton in der Generaldebatte sowie den erfolgreich arbeitenden Vorsitzenden der Unterausschüsse zu nuklearer Abrüstung und zur Nahost-Frage Profil gezeigt. Zentrale Forderungen aus dem zur Überprüfungskonferenz verabschiedeten EU-Standpunkt und dem darin auf Initiative Deutschlands hin verankerten Prioritätenkatalog konnten umgesetzt werden. Deutschland hat sich stark für Präsenz und geschlossenes Auftreten der EU eingesetzt, ein wirksamer diplomatischer Erfolg für unser Land. Die deutsche Delegation hat auch in der schwierigen Endphase der Verhandlungen zum Konferenzerfolg beigetragen. Langfristig sollten wir gemeinsam mit unseren Partnern intensiv an einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten arbeiten. Die Unterstützung der israelischen konventionellen Verteidigungsfähigkeit liegt allerdings in unserem ureigensten sicherheitspolitischen Interesse; deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden Atomwaffenfreie Zone befördern“ ab. Zu Protokoll gegebene Reden

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viele der Beschlusspunkte des Antrags teilen wir nicht. Ich möchte aber die Beratung des Antrags in erster Beratung zum Anlass für zwei grundlegende Bemerkungen zur Frage der Genehmigungspraxis für Waffenexporte und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten machen. Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag kündigt die Bundesregierung an, die Genehmigungspraxis in der EU für Rüstungsgüter „auf hohem Niveau harmonisieren“, „bürokratische Hemmnisse abbauen“ und „Verfahren beschleunigen“ zu wollen. Diese Aufweichung der politischen Grundsätze soll angeblich „faire Wettbewerbsbedingungen“ ermöglichen und lässt eine gefährliche Steigerung der Rüstungsexporte befürchten. Als Maßgabe wird auch nur noch von einer „verantwortungsbewussten“ und nicht mehr von einer „restriktiven“ Genehmigungspolitik gesprochen. Damit besteht die Gefahr, dass die politischen Grundsätze, die Frieden sichern und Gewaltprävention ermöglichen sollen, schlicht übergangen beziehungsweise real ausgehöhlt werden. Die notwendige Transparenz der Rüstungsexportpolitik muss hergestellt werden, indem das Parlament nicht nur nachträglich und auf verschlungene Weise über getroffene Exportentscheidungen informiert wird. Die Mitwirkung des Deutschen Bundestages muss gestärkt werden. Dies kann erreicht werden, indem Kriegswaffenexporte gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss und dem Wirtschaftsausschuss offengelegt werden müssen oder indem, nach dem Vorschlag der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung der evangelischen und katholischen Kirche ({0}), der Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Genehmigungsverfahren einbezogen wird. Vom 3. bis zum 28. Mai hat dieses Jahr in New York die 8. Überprüfungskonferenz des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen stattgefunden. Eines der innovativsten Ergebnisse der Konferenz ist die Forderung nach einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten. Der UN-Generalsekretär erhält dazu den Auftrag, einen Koordinator für eine von Nuklear- und allen anderen Massenvernichtungswaffen freie Zone zu bestimmen. Dieser Koordinator soll eine Konferenz der Staaten der Region für 2012 vorbereiten. Außerdem wird im Beschluss der Friedensprozess im Nahen Osten begrüßt und als ein Beitrag zur Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten anerkannt. Die Bundesregierung ist aufgefordert, diese Perspektiven nachhaltig und mit eigenen Initiativen zu unterstützen.

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Fraktion der Linken hat einen Antrag vorgelegt, der vorgeblich zur Verminderung der politischen Spannungen im Nahen Osten die deutschen Rüstungsexporte in die Region - insbesondere nach Israel - und die deutsche Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich beenden will. Auch wenn das Ziel einer nachhaltigen politischen Entspannung im Nahen Osten von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag geteilt wird, ist der von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu völlig ungeeignet. Wenn der Antrag suggeriert, dass deutsche Rüstungsexporte in die Region, die sich insbesondere auf Israel fokussieren, zum arabisch-israelischen Konflikt beitrügen, ist dies völlig verfehlt. Lassen Sie mich daher zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur deutschen Rüstungsexportpolitik machen. Danach möchte ich auf die Rolle deutscher Rüstungsexporte in den Nahen Osten - insbesondere nach Israel - eingehen. Ferner werde ich einige Bemerkungen machen zur Frage der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in der Region. Ich werde schließen mit einigen grundsätzlichen Anmerkungen zur aktuellen Situation im Nahen Osten. Wie wir alle wissen, unterliegen deutsche Rüstungsexporte neben den Vorgaben aus dem Außenwirtschaftsgesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern auch den Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunktes der EU zu diesem Bereich. Die christlich-liberale Bundesregierung wird - wie auch die Vorgängerregierungen - insbesondere den Export von Rüstungsgütern in Länder, die nicht Mitglied der NATO und der Europäischen Union oder diesen Ländern gleichstellt sind, weiterhin restriktiv handhaben. Die Genehmigung für eine Ausfuhr wird, wenn überhaupt, nur nach intensiver Einzelfallprüfung erteilt werden. Eben diesem Verfahren unterliegen auch Entscheidungen über Rüstungsexporte in die Region des Nahen und Mittleren Ostens. Sie werden daher nur nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und menschrechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen. Deutschland hat als einer der weltweit größten Rüstungsexporteure eine besondere Verantwortung zu Zurückhaltung und Augenmaß, auch mit Blick auf eine langfristig angelegte Sicherheitspolitik. Im Hinblick insbesondere auf Israel möchte ich unterstreichen, dass Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel hat. Deutschland hat sich stets offen zu dieser Verantwortung bekannt. Daher ist diese deutsche Rolle auch von allen Ländern der Region akzeptiert und bildet das Fundament für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland bei allen Konfliktparteien genießt. Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung schließt ein, dass Deutschland eine enge Zusammenarbeit mit Israel auch im Verteidigungsbereich betreibt. Der Antrag der Linken berücksichtigt in keiner Weise diese Sonderbeziehungen, die Deutschland mit dem Staat Israel pflegt. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist schlicht unverantwortlich und nicht redlich. Insbesondere aus diesem Grund werden wir den Antrag ablehnen. Deutschland muss an seiner Verantwortung für die Sicherheit Israels festhalten und in diesem Zusammenhang auch den Export von Rüstungsgütern nach Israel fortsetzen. Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel möchte ich jedoch noch die Bemerkung machen, dass dies keine Zu Protokoll gegebene Reden Einbahnstraße ist. Auch Deutschland profitiert von der Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich. Die in Israel hergestellten Drohnen, welche die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur Erhöhung der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf zu verzichten, wäre rücksichtslos gegenüber der Bundeswehr. Der Antrag der Linken behandelt ferner Aspekte der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Diese Problematik ist in größerem Kontext zu analysieren. Die Überprüfungskonferenz zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im vergangenen Mai war ein elementarer Erfolg. Die Stärkung aller drei Säulen des Vertrages - Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und friedliche Nutzung der Kernenergie - durch das einstimmig verabschiedete Abschlussdokument ist ein wichtiger und zukunftsweisender Schritt auf dem Weg in eine Welt ohne Kernwaffen. Das zentrale Vorhaben im Abschlussdokument ist die Initiative zur Durchführung einer UN-Konferenz zur Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten. Die Bundesregierung hat dieses Ziel begrüßt, und ich bin überzeugt, dass der Bundesaußenminister sich intensiv sowohl bilateral als auch im Rahmen der EU dafür einsetzen und daran arbeiten wird, dass alle Staaten in der Region an der Konferenz teilnehmen werden. Denn das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten kann nur durch das konstruktive Engagement und die Mitwirkung aller Staaten der Region - auch Israels - gelingen. Bereits die ersten Schritte zur Realisierung einer solchen Zone können vertrauensbildende Wirkung entfalten und so einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Abbau von Spannungen in der Region leisten. Gerade deshalb müssen wir uns dagegen verwahren, dass dieses wichtige Vorhaben vonseiten Irans instrumentalisiert und zur Ablenkung von der mangelnden Einhaltung seiner nichtverbreitungspolitischen Verpflichtungen genutzt wird. Hier gilt es wachsam zu sein und nicht auf das Taktieren aus Teheran hereinzufallen. Grundsätzlich befindet sich der Friedensprozess im Nahen Osten derzeit in einer entscheidenden Phase. Der offene Dialog zwischen Israelis und Palästinensern über die Modalitäten einer Zweistaatenlösung sind der einzige Weg, um zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu gelangen. Nur durch Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten wird ein Ende der jahrelangen Gewaltspirale zu bewerkstelligen sein. Dieser Verhandlungsprozess erfordert von allen Beteiligten Geduld, diplomatisches Fingerspitzengefühl und guten Willen. Jetzt geht es unmittelbar darum, nach dem Ende des israelischen Baustopps in der Westbank einen vorzeitigen Abbruch des gerade erst aufgenommenen direkten Gesprächsfadens zu verhindern. Hier wird Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern seinen Anteil zur vertrauensvollen Vermittlung leisten. Auch vor diesem Hintergrund ist der Antrag der Linken schädlich, denn er würde die Verlässlichkeit der deutschen Politik in der Region durch eine abrupte Kehrtwende gefährden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Deutschland eine verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungsexportpolitik verfolgt. Dies gilt insbesondere für den spannungsgeladenen Nahen Osten. Im Verhältnis zu Israel verbindet uns eine vor dem Hintergrund unserer Geschichte gewachsene Sonderbeziehung, die sich auch auf den Sicherheitsbereich erstreckt. Diese infrage zu stellen, wie die Linken es in ihrem Antrag vorschlagen, wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Daher werden wir den Antrag ablehnen.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wer Waffen in ein Spannungsgebiet liefert, zündelt an einem brüchigen Frieden. Dass der Frieden im Nahen Osten brüchig ist, wird niemand bestreiten. Verschiedenste Konflikte überlagern sich und bewegen sich nebeneinander und gegeneinander. Es sind Konflikte in den Gesellschaften wie zum Beispiel in Ägypten, Jordanien, im Libanon, Iran, Irak und in vielen anderen Ländern. Zunehmend werden solche Konflikte auch in der israelischen Gesellschaft sichtbar. Es sind auch Konflikte zwischen Staaten, und es gibt Konflikte, die aus vergangenen Kriegen resultieren. Israel hält entgegen allen Beschlüssen der Vereinten Nationen noch immer palästinensische Gebiete in der Westbank und in Jerusalem besetzt, die syrischen Golanhöhen oder das Gebiet der Shabaa-Farm, das zum Libanon gehört. Die israelische Besatzungspolitik ist ein Kern der Spannungen im Nahen Osten. Die Linke verfolgt eine Politik, Spannungen abzubauen und im konkreten Fall durch eine Zwei-StaatenLösung zumindest ein geregeltes Nebeneinander von Israel und Palästina zu ermöglichen. Auch deshalb ist unsere Forderung: keinerlei deutsche Waffenlieferungen in den Nahen Osten und Beendigung aller Formen militärischer Zusammenarbeit mit Staaten in dieser Region! Dazu haben wir einen Vorschlag eingebracht. Wer Waffen liefert, das Geschäft mit dem Tod betreibt, ist ungeeignet als Vermittler. Deutschland kann vermitteln. Deutschland könnte dazu beitragen, dass eine Vereinbarung über Sicherheit und Frieden durch Kooperation zwischen den Staaten in Nahost zustande kommt. Unser Vorschlag für eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ist nicht neu, aber er ist richtig. Wer aber im Waffengeschäft steckt, ist untauglich, solche Vorschläge zu kommunizieren. Israel verlangt von der Palästinensischen Autonomiebehörde, die besetzten Gebiete zu entwaffnen. Abgesehen davon, dass diese dazu gar nicht in der Lage ist, wäre ein vernünftiger Vorschlag aus meiner Sicht, einen Vertrag über Gewaltverzicht mit klaren Schutzregeln für die ganze Region auf die Tagesordnung zu setzen. Darüber sollte nachgedacht und verhandelt werden. Wer aber Waffen liefert, ist nicht glaubwürdig, wenn es um Gewaltverzicht geht. Ein wichtiger Beschluss der UNO-Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag aus dem Mai dieses Zu Protokoll gegebene Reden Jahres ist der Vorschlag zu einer Konferenz über eine atomwaffenfreie Zone in Nahost. Die Linke will nicht, dass der Iran und andere Staaten zu Atomwaffen greifen, und wir wollen auch nicht, dass Israel an seinen Atomwaffen festhält. Es wäre wichtig, dass sich Deutschland für eine solche Konferenz einsetzt. Ein von Atomwaffen freier Naher Osten ist der Weg, auch die Konflikte mit dem Iran zu lösen. Nicht Drohungen und Sanktionen, sondern Verhandlungen Schritt für Schritt helfen voran. Wie kann man aber glaubwürdig für ein anderes, nicht militärisches Sicherheitskonzept werben, wenn man selbst Waffen liefert bzw. Waffenlieferungen zulässt. Warum hat die deutsche Regierung nicht längst und ganz deutlich dem US-Präsidenten gesagt, dass das geplante Waffengeschäft mit Saudi-Arabien in Höhe von fast 20 Milliarden Dollar Rüstung im Nahen Osten neu ankurbeln muss? Unser Antrag richtet sich an alle Konfliktparteien im Nahen Osten. Oftmals wird Die Linke kritisiert, sie sei einseitig. Ja, diese Feststellung ist richtig. Wir sind einseitig - für Frieden, für Abrüstung und für Gerechtigkeit. Wir müssen uns zum Beispiel nicht entscheiden zwischen Israel und Palästina. Wir müssen uns aber entscheiden, Nein zu sagen, wenn vorhandene Spannungen durch immer neue Waffenlieferungen nur weiter angeheizt werden. Der Nahe Osten braucht politische Lösungen und nicht immer neue Waffenexporte.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Niemand wird bestreiten, dass der Nahe Osten durch einen Konflikt geprägt ist, der in seiner Komplexität kaum zu übertreffen ist. Kein anderer Konflikt strahlt in vergleichbarer Weise politisch und religiös so weit über die betroffene Region hinaus. Mit mehr oder weniger Elan bemüht sich die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten um eine Verhandlungslösung. Einen nachhaltigen Erfolg konnte sie jedoch bisher nicht verzeichnen. Mauern - ob real oder in den Köpfen - verhindern eine effektive Friedensregelung. Positiv zu bewerten ist, dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama der Region wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. In Abwesenheit eines neuen strategischen Ansatzes für die Wiederbelebung eines zielführenden Friedensprozesses ist ein Durchbruch jedoch noch nicht absehbar. Die Linke greift in ihrem Antrag unter anderem die wichtige Frage nach der Vertretbarkeit von Rüstungsexporten in diese Region auf. Die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung erlauben den Export von Rüstungsgütern in Länder, die weder EU- noch NATOMitglieder sind, also auch in den Nahen Osten nur, wenn die Belange der Sicherheit, des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder der auswärtigen Beziehung nicht gefährdet sind. Bei bewaffneten internen Auseinandersetzungen oder dem hinreichenden Verdacht, dass die Güter für Menschenrechtsverletzungen oder innere Repression missbraucht werden, ist der Export von Rüstungsgütern jeder Art nicht genehmigungsfähig. Noch strikter ist die Regelung für Kriegswaffen wie beispielsweise U-Boote. Derartige Exporte sind nur im Einzelfall bei besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise genehmigungsfähig. Wo bestehende Spannungen und Konflikte durch den Export aufrechterhalten oder verschärft werden oder der Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen droht, dürfen solche Waffen nur im Selbstverteidigungsfall nach Art. 51 der VN-Charta geliefert werden. Der Libanonkrieg 2006 und der Gazakrieg 2009 haben deutlich gemacht, dass dies der Maßstab ist, der für Exporte in den Nahen Osten angewendet werden muss. Bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts darf und muss sich Israel auf Deutschlands Unterstützung verlassen können. Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber dem Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Deutschland alle Forderungen der israelischen Regierung erfüllen muss. Es gibt keine historische Verpflichtung, Israel aufzurüsten. Waffen können auch destabilisierend und langfristig gewaltfördernd wirken. Die Entscheidung über den Export von Rüstungsgütern in den Nahen Osten muss einer äußerst kritischen Prüfung unterliegen. Voraussetzung ist dabei, dass die Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards für alle gleichermaßen verpflichtend ist. Der Einsatz aus Deutschland gelieferter Rüstungsgüter in den Siedlungsgebieten oder unter Verletzung des Kriegsvölkerrechts muss ausgeschlossen werden. Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte oder gar staatliche Finanzierung von Kriegswaffenexporten wie im Falle von U-Booten für Israel lehnen wir ab. Die Begründung für eine Genehmigung muss durch die Bundesregierung in jedem Einzelfall detailliert dargelegt werden. Wichtig sind dabei transparente Entscheidungsverfahren. Wir Grünen fordern daher schon seit langem, dass mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierung bei der Genehmigung von Rüstungsexporten endlich Schluss ist. Der Bundestag muss besser informiert und eingebunden werden. Ein Widerspruchsrecht des Parlaments, wie es bereits in anderen Ländern besteht, muss eingeführt werden. Frieden im Nahen Osten wird nachhaltig nicht durch militärische Mittel gewährleistet werden können. Politische Initiativen müssen darauf abzielen, die Rahmenbedingungen für eine umfassende Abrüstung der Region zu schaffen. Ein Friedensschluss ist dafür unabdingbare Voraussetzung. Durch positive und negative Anreize müssen die Konfliktpartien dazu bewegt werden, zu direkten und substanziellen Friedensgesprächen zurückzukehren. Den Sicherheitsbedürfnissen der Konfliktparteien muss begegnet werden, um ihnen die gefühlte Notwendigkeit der Entwicklung und Beschaffung neuer tödlicherer Waffen zu nehmen. Die Ratifizierung der Bio- und Chemiewaffenkonventionen und vor allem der Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrages für Atomwaffen durch die Länder der Region sind wichtige Meilensteine mit dem Ziel eines atomwaffenfreien Nahen Ostens fest im Blick. Diesen Weg einzuschlagen, hatten bereits die Teilnehmer der NVV-Überprüfungskonferenz gefordert. Die Bundesregierung ist Zu Protokoll gegebene Reden aufgefordert, hier nun aktiv und mit Nachdruck zu unterstützen. Der Antrag enthält viele richtige Forderungen. Wir unterstreichen allerdings das Selbstverteidigungsrecht Israels und unterstützen die vom Libanon und von Israel gemeinsam gewünschte UNIFIL-Mission. Vor diesem Hintergrund werden wir diesen Antrag in unserer Fraktion ergebnissoffen diskutieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Fraktionen schlagen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2481 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Das Plenum ist offenkundig auch mit diesem Vorschlag einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Schließlich rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden - Drucksachen 17/1580, 17/3115 Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Poland Reiner Deutschmann Agnes Krumwiede Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Börnsen, Christoph Poland, Dr. Wolfgang Thierse, Reiner Deutschmann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes Krumwiede nachdenkenswerte Reden vorbereitet, die alle im Protokoll nachgelesen werden können.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Allein der Titel des Antrages der Fraktion Die Grünen, über den wir heute beraten, unterstellt, dass das „Parlament der Bäume“ nicht ausreichend geschützt ist. Dies entspricht nicht der Wirklichkeit, und deshalb bedarf es gleich zu Beginn einiger wichtiger Klarstellungen. Wir haben in den vergangenen Jahren immer - intern und öffentlich - das große persönliche Engagement und Verdienst von Herrn Ben Wagin und seines Lebenswerkes „Parlament der Bäume“ anerkannt. Auf dem Gelände im Regierungsviertel befinden sich Originalreste der Berliner Mauer, um die Bäume gepflanzt wurden. Eingravierte Namen erinnern an die Mauertoten, die Bäume symbolisieren den Frieden. Es ist ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Das „Parlament der Bäume“ - und in Person Herr Ben Wagin - leistet damit einen einzigartigen Beitrag für unsere Erinnerungskultur, die gerade uns Christdemokraten am Herzen lag und liegt. Sowohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als auch die unionsgeführte Bundesregierung haben dieses Projekt stets nicht nur wohlmeinend begleitet, sondern auch dort insgesamt unterstützt, wo es rechtlich möglich war, allen voran unser Bundestagspräsident Norbert Lammert, der erst im vergangenen Jahr erklärt hat, dass diese Fläche bis mindestens 2019 geschützt ist, und der sich auch für die Förderung dieses Platzes verwandt hat. Wir sehen deshalb keinen aktuellen Handlungsbedarf. Das „Parlament der Bäume“ kann sich auch unserer finanziellen Unterstützung gewiss sein. Für die Umgestaltung des Ortes hat der Bund fast 50 000 Euro, das Land Berlin weitere 190 000 Euro zur Verfügung gestellt. Mithilfe dieser Unterstützung konnten wichtige Baumaßnahmen, Gartenarbeiten sowie die Einzäunung des Areals und die Verlegung von Wasserleitungen realisiert werden. Auch das klingt nicht nach einer Gefährdung des Gedenkortes. Es ist gerade einmal eine Woche her, da hat sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann, MdB, bei der Wiedereröffnung des Ortes wie folgt geäußert: „Mit seiner einzigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit hat Ben Wagin für die Umsetzung seines Projektes viele Mitstreiter gewonnen - so auch mich.“ Das Gelände „Parlament der Bäume“ befindet sich auf dem Grundstück des Deutschen Bundestages. Es ist planungsrechtlich durch den Bezirk Mitte von Berlin für Erweiterungsbauten des Deutschen Bundestages ausgewiesen. Die zuständige Kommission des Ältestenrates des Deutschen Bundestages für Raumangelegenheiten hat im April 2003 einstimmig - also mit den Stimmen aller Fraktionen, das heißt der Fraktionen von SPD, CDU/ CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP - folgenden Beschluss gefasst: Die Raumkommission hält daran fest, dass das Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des Deutschen Bundestags ausgewiesen wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist. Dieser einstimmige Beschluss erfolgte auf Vorschlag der damaligen Vorsitzenden der Kommission, der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Mitglied der antragstellenden Fraktion Die Grünen. Dieser Beschluss hat offensichtlich für die heutige Fraktion Die Grünen keine Gültigkeit mehr, für uns, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schon. Warum werden die gewichtigen Gründe, die Irmingard Schewe-Gerigk damals leiteten, heute von derselben Partei vom Tisch gewischt? Auch der derzeitige Vorsitzende der Kommission, der SPD-Kollege Wolfgang Thierse, hat verlauten lassen, dass es derzeit keiner neuen Beschlussfassung bedürfe. Wolfgang Börnsen ({0}) Daher ist dieser Beschluss für uns bindend, solange kein anderer Beschluss gefasst wird. Man mag gefühlsmäßig und aus Kunstneigung für das Projekt sein - alles zugestanden -, aber die Kultur befindet sich wie alle Politikfelder nicht in einem rechtsfreien Raum. Gerade als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben wir eine Vorbildverantwortung für rechtsklares Handeln. Es gibt aktuell auch keinerlei Anlass zu der Befürchtung, dass etwaige Bebauungspläne des Bundes den Gedenkort gefährden. Ganz im Gegenteil: In der Antwort auf die Anfrage der Grünen vom 23. September 2010 stellt der Bund aktuell klar - so wörtlich -: „Derzeit werden keine Veräußerungsflächen für die benannte Fläche angestellt.“ Nicht nur der Bund steht bei diesem Projekt in der Verantwortung und Pflicht, sondern auch das Land Berlin. Der Berliner Senat hat das „Parlament der Bäume“ bisher nicht unter Denkmalschutz gestellt. Nach deren Einschätzung ist das „Parlament der Bäume“ ein entwicklungsoffenes, sich stets veränderndes Kunstensemble. Allein aus Respekt vor der Verfassungsentscheidung, dass die Kompetenz im Bereich Denkmalschutz bei den Ländern liegt, kann und wird der Bund hier nicht aktiv werden. Ich fasse zusammen: Diese Klarstellungen führen aus unserer Sicht hoffentlich dazu, dass über die Zukunft des Gedenkortes „Parlament der Bäume“ objektiver und differenzierter diskutiert und berichtet wird. Dazu gehört auch gegenseitiger Respekt. Niemand von uns lässt sich gern als „Trillerpfeife“ bezeichnen, wie es unlängst Herr Wagin getan hat. Dafür nehmen wir - da spreche ich sicher für alle Kollegen und Kolleginnen hier im Hohen Haus - unsere Aufgabe und unsere Mehrheitsbeschlüsse viel zu ernst. Was die Kunst- und Kulturförderung der Bundesregierung angeht, belegen allein die Haushaltszahlen für 2011, dass hier sehr wohl Verantwortung wahrgenommen wird. Wir sind daher für eine sachliche Debatte und stimmen der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses zu.

Christoph Poland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004130, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das „Parlament der Bäume“ wurde von Ben Wagin in der Wendezeit 1989/1990, genauer am 9. November 1990, gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm ins Leben gerufen, anlässlich der ersten Plenardebatte des wiedervereinigten Bundestages. Auf dem Gelände lagern sowohl 58 originale Mauersegmente als auch Steinplatten mit den Namen von 258 der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze von 1948 bis 1989 getötet wurden. Damit ist es nach der East-SideGallery das längste Mauerstück an originaler Stelle. Es ist aber auch der einzige Gedenkort im Regierungsviertel, der authentisch an die deutsche Teilung und die Mauertoten erinnert. So findet sich auf einer Fläche von 1 450 Quadratmetern ein Mahnmal, das eine Installation aus Bäumen, ehemaligen Grenzanlagen, Gedenksteinen, Sachzeugnissen, Bildern und Texten ist. Es handelt sich um Umwelt- oder Aktionskunst, die das Verhältnis der Menschen zur Natur thematisiert. Darin spiegelt sich die künstlerische Arbeit von Ben Wagin wider, die seine Arbeit seit Jahrzehnten prägt. Ben Wagin feierte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag und engagiert sich bereits seit 20 Jahren für dieses Projekt. Wir möchten ihm an dieser Stelle in Anbetracht seiner langjährigen Verdienste danken. Das „Parlament der Bäume“ befindet sich auf einer Fläche, die im Bebauungsplan als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des Bundestages ausgewiesen ist. Aufgrund des notwendig gewordenen Neubaus des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, wurde das „Parlament der Bäume“ geringfügig verkleinert und einige der Bäume wurden umgesetzt. Ziel der Grünen ist es, das bundeseigene Grundstück des „Parlaments der Bäume“ aus der Bauvorhabenplanung des Bundes herauszunehmen und den Gedenkort zum Kulturdenkmal zu erklären. Sollte das „Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz gestellt werden, hat dies Einschränkungen der Bebauungsmöglichkeiten des Grundstücks zur Folge. Das Anliegen Ben Wagins kann man durchaus nachvollziehen, aber die sich daraus ergebenden Einschränkungen für den Bund bei einem Filetgrundstück in der Mitte Berlins sind ebenfalls zu berücksichtigen. Auf jeden Fall genießt das Denkmal auf zehn Jahre Bestandsschutz. Zu erwähnen ist ebenfalls: Der Bund kümmert sich schon um die Anlage. Im November 2009 gab der Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, die Zusage, mit 49 500 Euro die Komplementärfinanzierung für die bauliche Unterhaltung des „Parlaments der Bäume“ zu sichern. Aus diesen Mitteln konnten Toranlage, Heckeneinfriedung, Beleuchtung, Wasseranschluss und Bodenmodellierung für das Denkmal am historischen Ort finanziert werden. Weitere 190 000 Euro wurden von Berlin über die Lottostiftung mitgetragen. Entsprechend hat 2008 Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, versichert, dass der Bund die Zugänglichkeit zum „Parlament der Bäume“ sicherstellen und die Anlage gärtnerisch pflegen wird. Deswegen halte ich abschließend fest: In der Sitzung der Kommission des Ältestenrates für die Raumverteilung vom 2. April 2003 ist festgelegt worden, dass das Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des Deutschen Bundestages ausgewiesen wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor einer Woche wurde das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin feierlich wiedereröffnet, nachdem es mit Geldern der Stiftung Klassenlotterie und des BKM umgestaltet wurde. Ben Wagin hat 1990 Mauerteile gesichert, Bäume gepflanzt und damit auf dem ehemaligen Grenzstreifen ein ErinnerungsZu Protokoll gegebene Reden zeichen gegen Krieg und Gewalt geschaffen. Dafür gilt ihm Dank und Respekt. Für sein großes Engagement hat Ben Wagin den Verdienstorden des Landes Berlin erhalten. Der Bundestag hat das Werk Ben Wagins für weitere zehn Jahre gesichert. Ziel des Antrags der Grünen ist es jetzt, das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ dauerhaft zu sichern und es unter Denkmalschutz zu stellen. So sehr ich das Anliegen nachvollziehen kann, bin ich skeptisch, ob das „Parlament der Bäume“ als Erinnerungsort durch Denkmalschutz dauerhaft gesichert werden sollte. Warum? Aus meiner Sicht ist nicht ganz klar, was das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ eigentlich sein will und als was es dauerhaft geschützt werden soll. Ist es ein Kunstwerk oder ein Gedenkort? Erinnert es an die Mauer und die Mauertoten oder an die Opfer von Krieg und Gewalt? Für beide Anliegen gibt es in unmittelbarer Nähe weitere Gedenkorte. An Opfer von Krieg und Gewalt wird mit der Neuen Wache gedacht, der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Außerdem gibt es das Holocaust-Mahnmal, das Homosexuellen-Mahnmal und das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma. Ebenso viele Mauergedenkstätten gibt es in der Nähe. Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ist ein Teil des Denkmals von Ban Wagin integriert. Das Mauermuseum am Checkpoint Charly ist nicht weit. Im U-Bahnhof Brandenburger Tor gibt es eine Erinnerungsstätte. Demnächst wird im „Tränenpalast“ vom Haus der Geschichte eine Ausstellung zu Teilung und Grenze im Alltag der DDR errichtet. In der Bernauer Straße befindet sich die zentrale Mauergedenkstätte. Hier ist der Schrecken der Mauer am ehesten erfahrbar, weil ein langer Teil des Todesstreifens sichtbar ist, und hier wird darüber informiert, was die Mauer im Leben der Menschen bedeutete, was es hieß, in einer geteilten Stadt zu leben. Es ist nicht einfach, für ein Denkmal eine passende Sprache, eine passende Gestalt zu finden. Das zeigen die vielen künstlerischen Wettbewerbe zur Gestaltung von Denkmälern und die Debatten darum. Ich denke dabei an das Holocaust-Mahnmal oder erst kürzlich an das Freiheit- und Einheitsdenkmal. Hier war der erste Wettbewerb gescheitert, weil die Aufgabe - gleichzeitig an die deutsche Freiheitsgeschichte und an die friedliche Revolution von 1989 zu erinnern - eine außerordentliche Herausforderung ist. Beim „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ hat es keinen Wettbewerb gegeben. Ich vermute, dieser wäre auch gescheitert, denn die Aufgabe, sowohl an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern als auch an den Mauerfall, ist eine ebenso große Herausforderung. Das Mahnmal befindet sich zwar an einem authentischen Ort und besteht teilweise aus historischen Teilen, aber das Denkmal selbst ist nicht authentisch. Die Bemalung der Mauerteile ist nicht historisch, sie wurde von Künstlern gestaltet. Die Zusammenstellung der Mauerteile mit anderen Elementen des Grenzstreifens entspricht nicht der Geschichte - für Besucher aber entsteht der Eindruck, dass so der Grenzstreifen ausgesehen hat. Der ist, erheblich authentischer, in der Bernauer Straße nachgezeichnet. Aus diesen Gründen bin ich skeptisch, ob das Kunstwerk von Ben Wagin unter Denkmalschutz gestellt werden sollte. Deshalb hat sich die SPD bei der Abstimmung im Kulturausschuss der Stimme enthalten. Nichtsdestotrotz gilt dem Engagement von Ben Wagin und seiner unermüdlichen Ausdauer, mit der er sich für seinen Erinnerungsort einsetzt und ihn pflegt, meine Hochachtung. Als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission muss ich aber auch auf die Interessen des Bundestages hinweisen. Die Fläche befindet sich im Eigentum des Bundes und wird freigehalten für einen Erweiterungsbau. Solange nicht gebaut wird, kann das „Parlament der Bäume“ weiter dort bleiben. Es ist ja für mindestens zehn weitere Jahre gesichert - aber es ist eben kein authentisches Denkmal, das für immer gesichert werden muss.

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind die Spuren von über 40 Jahren deutscher Teilung kaum noch zu erkennen. Der Todesstreifen, der sich wie eine menschenverachtende Narbe durch unser Land gezogen hat, ist inzwischen zu Europas längstem Grünstreifen geworden. In Berlin, der Stadt der Teilung, kann man die Mauer nur noch sehen, wenn man genau weiß, wo man suchen muss. Man findet sie zwar als Markierung auf Straßen und Gehwegen, doch nur wenige Mauerreste sind noch am Originalschauplatz zu besichtigen: so zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, in der Nähe der Topographie des Terrors in der Niederkirchnerstraße oder an der Eastsidegallery in Berlin-Friedrichshain. Zu den wenigen Orten mit Mauerresten gehört aber auch „Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ im Berliner Regierungsviertel. Ben Wagin hat dieses beindruckende Kunstwerk unter Einbeziehung der Mauer Anfang der 90er-Jahre geschaffen. Ohne sein Engagement wäre vielleicht auch dieses Stück Berliner Mauer nicht mehr existent. Ben Wagin erinnert mit seinem Projekt an die Mauertoten und mahnt zugleich zum Frieden, versinnbildlicht durch verschiedene Baumarten. Zu Recht kann man hier vom Lebenswerk Wagins sprechen, der weltweit über 50 000 Bäume gepflanzt bzw. dazu angeregt hat. Leider musste das „Parlament der Bäume“ für einen Erweiterungsbau des Deutschen Bundestages bereits einmal verkleinert werden. Dies geschah unter Einbeziehung und mit Zustimmung Ben Wagins. Damals wurde deutlich gemacht, dass eine nochmalige Verkleinerung des Projekts nicht in Betracht zu ziehen ist. Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrücklich das Parlament der Bäume und wird sich für dessen Weiterbestand einsetzen. Der vergangene Woche nach der Umgestaltung wiedereröffnete Park ist einzigartig in Deutschland und womöglich in Europa. Dass sich dieses Kunstwerk in unmittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag Zu Protokoll gegebene Reden befindet, macht seinen ganz besonderen Reiz aus und schafft eine gute Erreichbarkeit auch für Besucher der Bundeshauptstadt, die zuvor zum Beispiel das Reichstagsgebäude besucht haben. Der Bund hat ein deutliches Zeichen für den Erhalt dieses Ensembles gesetzt, indem er den Umbau mit knapp 50 000 Euro gefördert hat. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum „Parlament der Bäume“ beschreibt die Wichtigkeit und Einmaligkeit des Werkes von Wagin zutreffend. Inhaltlich ist dem Antrag nicht zu widersprechen. Er hat meine volle Sympathie. Allerdings halten wir Liberale die Denkmalschutzforderung derzeit für nicht notwendig. Auch wenn das Grundstück dem Deutschen Bundestag gehört und dieser rein theoretisch dort kraft eines Bebauungsplanes Gebäude errichten könnte, hat doch die Bau- und Raumkommission des Deutschen Bundestages mit Beschluss vom April 2003 ganz deutlich gemacht, dass das Kunstwerk auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist, da der Deutsche Bundestag keine Pläne habe, das Grundstück für eine bauliche Verwendung freizugeben. Dieser Beschluss ist immer noch gültig. Der Deutsche Bundestag hat keine Einwände gegen die Nutzung des Areals für das „Parlament der Bäume“, übernimmt vielmehr sogar im Rahmen der Möglichkeiten die Pflegearbeiten des Grundstückes. Die FDP-Bundestagsfraktion wird darauf achten, dass dieser Beschluss weiterhin gültig bleibt und dass auch in Zukunft von einer Bebauung abgesehen wird. Positiv ist zu werten, dass die Stiftung Berliner Mauer ihre Bereitschaft erklärt hat, ab 2011 eine Patenschaft für das Kunstwerk Wagins zu übernehmen. Die FDPBundestagsfraktion begrüßt dieses Engagement ausdrücklich, verfügt die Stiftung doch schon über eine besondere Expertise in Angelegenheiten der Pflege und Bewahrung von Mauerresten, wie sie eindrucksvoll an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße unter Beweis stellt. Damit ist das „Parlament der Bäume“ sicherlich in guter Betreuung. Bei aller Sympathie für den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen wird die FDP-Bundestagsfraktion wegen der derzeit gesicherten Rechtslage und den Zusicherungen des Deutschen Bundestages den Antrag ablehnen. Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.“ Wir sorgen dafür, dass die Bäume weiter in Ruhe gedeihen können. Lärm gibt es im politischen Berlin schon genug.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Am 30. September ist das in Berlin einmalige Denkmal „Parlament der Bäume“ in neuer Gestaltung wiedereröffnet worden. Der von Ben Wagin auf einem Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer mit Bildern, Skulpturen, einem Baumhain und Steinplatten entlang des ehemaligen Patrouillenweges angelegte Ort der Erinnerung gedenkt deutscher und sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges und Menschen, die an der innerdeutschen Grenze getötet wurden. Das „Parlament der Bäume“ ist „ein Kunstwerk am authentischen Ort, einzigartig in der Haltung gegen Krieg und Gewalt“, wie es in der Begründung des vorliegenden Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen so richtig heißt. Bei der feierlichen Wiedereröffnung hat Staatsminister Neumann viele Worte des Lobes gefunden, und es wäre mehr als passend gewesen, wenn er - dem vorliegenden Antrag entsprechend - dem Gedenkort auf dem Grundstück des Bundestages eine Sicherstellung für die Zukunft hätte garantieren können; denn diese Sicherstellung gibt es nicht. Aus dem Jahr 2003 stammt ein Beschluss der Bauund Raumkommission des Ältestenrates, dass das Kunstwerk „auf absehbare Zeit“ nicht gefährdet ist. Das ist sieben Jahre her. Was heißt heute „absehbare Zeit“? Und wenn dieser Beschluss heute noch so gilt wie vor sieben Jahren, dann kann man doch ohne Schwierigkeit jetzt einem Gesetzesantrag zustimmen, der das „Parlament der Bäume“ von jeglicher Bebauung in Zukunft freihält. Aber: Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP verweigern sich dem Anliegen. Im Frühjahr sollte ein fraktionsübergreifender Gruppenantrag das „Parlament der Bäume“ schützen. Dieser Plan wiederum scheiterte an der SPD, die sich nun auch bei der ersten Abstimmung über den vorliegenden Antrag im Kulturausschuss enthalten hat - während ein Tag später der Berliner SPDKulturstaatssekretär André Schmitz öffentlich das Projekt enthusiastisch feierte. Das alles verstehe, wer will. Das „Parlament der Bäume“ muss für alle Zukunft gesichert und geschützt sein. Es müssten geregelte Besuchszeiten für dieses einmalige Denkmal organisiert werden. Zurzeit kann es nur besucht werden, wenn der Künstler selbst oder ehrenamtliche Helfer anwesend sind. Ein Unding für solch einen historischen Gedenkort. Die Fraktion Die Linke unterstützte den Antrag der Grünen, das „Parlament der Bäume“ dauerhaft zu schützen, jedenfalls von Anfang an und tut das auch heute.

Agnes Krumwiede (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004082, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als Theaterstück inszeniert, wäre die jüngste Geschichte um Ben Wagins „Parlament der Bäume“ eine entlarvende Satire auf den schwarz-gelben Regierungsstil. In der Realität gibt es Buhrufe für diese schlechte Daily-Soap live aus dem Deutschen Bundestag: Es ist ein politisches Trauerspiel. Letzte Woche haben die Vertreter der Koalitionsfraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien einstimmig gegen unseren Antrag zur dauerhaften Unterschutzstellung des „Parlaments der Bäume“ votiert. Unser Antrag enthielt die Forderungen, das „Parlament der Bäume“ durch eine entsprechende Bauleitplanung zu schützen und die Aufnahme als Kulturdenkmal in die Landesdenkmalliste Berlin anzuregen. Zu Protokoll gegebene Reden Einen Tag später fanden die Feierlichkeiten zur Neugestaltung des „Parlaments der Bäume“ statt. Die Entscheidung der Koalition vom Tag zuvor gegen einen dauerhaften Erhalt des Kunstwerks schien vergessen: Vor den Vertretern der Presse und in Anwesenheit Ben Wagins würdigte Kulturstaatsminister Neumann salbungsvoll die Arbeit des Künstlers. Am selben Tag erklärte der Kulturstaatsminister, dessen Parteifreunde 24 Stunden zuvor den dauerhaften Schutz des „Parlaments der Bäume“ abgelehnt hatten, in einer Pressemitteilung: „Für die Umsetzung seines Projekts gewinnt Ben Wagin mit seiner einzigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit - so auch mich.“ Eine Würdigung in Worten allein wird jedoch nichts zum dauerhaften Schutz des „Parlaments der Bäume“ beitragen. Oder, um es mit Ben Wagins Worten zu sagen: „Die schwingen immer alle nur große Reden, aber wenn es drauf ankommt, kneifen sie.“ Es sind nicht schöne Worte, sondern unsere Handlungen, die Veränderungen bewirken. 1990 war der Aktionskünstler Ben Wagin einer, der durch sein Handeln das heutige „Filetstück“ beim Elisabeth-LüdersHaus künstlerisch verändert hat. Trotz der Euphorie über die Deutsche Wiedervereinigung setzte er sich gegen den Abriss dieses Mauerstücks ein und bewahrte damit einen im Regierungsviertel einzigartigen Erinnerungsort deutscher Geschichte. In der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich für das Niemandsland des Grenzstreifens keiner verantwortlich fühlte, entstand gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“. Hier verwandelte Ben Wagin ein Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer zu einem „Erinnerungsgarten“. Es entstand eine kreative Geschichtsoase aus Bildern, Skulpturen, einem Baumhain und Steinplatten mit den eingravierten Namen der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Außerdem hält das „Parlament der Bäume“ den Tod Tausender Soldaten in Erinnerung, die am Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Erstürmung des Reichstags von einer SS-Einheit hinterrücks erschossen wurden. In der Nachkriegszeit wurden hier Kartoffeln angebaut. Den einzig übrig gebliebenen Baum, eine Eiche, will Ben Wagin unter Denkmalschutz stellen. Ben Wagins Werk ist ein Beispiel für die friedvolle Macht der Kunst, die länger währt als Diktaturen. Das Kunstwerk ist an seinem authentischen Ort einzigartig in der Haltung gegen die Trennung der Stadtteile und ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt und auch ein Mahnmal gegen die Mauern in unseren Köpfen. Das „Parlament der Bäume“ ist eine künstlerische Erinnerungsstätte gegen das Vergessen. Trotz des Zuspruchs, den Ben Wagin und sein Werk seit seiner Entstehung erfahren, ist das „Parlament der Bäume“ dauerhaft in seiner Existenz bedroht. 2001 mussten von ursprünglich 400 gepflanzten Bäumen 300 für neu entstandene Bundesgebäude weichen; denn das Kunstwerk befindet sich auf Baugrund des Bundes. Seit Jahren kämpft Ben Wagin dafür, solche Eingriffe in sein Werk für die Zukunft auszuschließen - bislang ohne Erfolg. Zu Ben Wagnis 80. Geburtstag im März dieses Jahres häuften sich die Lippenbekenntnisse von Politikern, das „Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz stellen zu wollen. Sogar ein Gruppenantrag aller im Bundestag vertretenen Parteien war geplant. Viel Lärm um nichts: Das Zustandekommen des Gruppenantrags scheiterte an den Mehrheiten aus Reihen der CDU/CSU und der SPD. Wenn es um die verbindliche Zusage zur dauerhaften Unterschutzstellung des Kunstwerkes geht, kneifen die verantwortlichen Politiker. Das hat die schwarz-gelbe Koalition erst letzte Woche mit der Ablehnung unseres Antrags im Kulturausschuss demonstriert. Auch anlässlich des 20. Jahrestages der deutschen Einheit wird es folglich keinen Denkmalschutz für das „Parlament der Bäume“ geben. Das „Parlament der Bäume“ darf keine Baulandreserve und kein „Gedenkort auf Zeit“ bleiben. Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, das Grundstück, auf welchem sich das „Parlament der Bäume“ befindet, in Zukunft von der Bauleitplanung auszunehmen und Ben Wagins „Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz zu stellen. Mündliche Versprechungen zur Unterschutzstellung des Kunstwerkes bis 2018 reichen uns nicht. Das „Parlament der Bäume“ muss als Erinnerungsstätte für nachfolgende Generationen erhalten bleiben. Dafür ist eine verbindliche schriftliche Zusage vonseiten der Regierung notwendig. Andernfalls schweben die Baukräne des Bundes wie ein Damoklesschwert über Ben Wagins „Parlament der Bäume“.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 17/3115. Bevor ich darüber abstimmen lasse, weise ich darauf hin, dass es eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung der beiden Kolleginnen Petra Merkel und Monika Grütters zu diesem Tagesordnungspunkt gibt. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1580. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalition angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern - Drucksache 17/3202 Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Manfred Grund, Franz Thönnes, Michael Link, Sevim Dağdelen und Viola von Cramon-Taubadel haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse 1) Anlage 9 vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Oktober 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen gemütlichen Abend.