Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlag
der SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmann
den Platz der ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitglied
im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland“ einnehmen. Im
Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang
Thierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neues
stellvertretendes Mitglied ist der Kollege Dietmar
Nietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
Projekt Stuttgart 21
({0})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung ({1})
- Drucksache 17/3183 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sank-
tionen aussetzen
- Drucksache 17/3207 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln
- Drucksache 17/3206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme ({4}) KOM-Nr. ({5})
368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa
- Drucksache 17/3191 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Biologische Vielfalt für künftige Generationen
bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern
- Drucksache 17/3199 ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu
der Unterrichtung
Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen
Ratsdok. 9145/10
- Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich
fortsetzen - Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen
- Drucksache 17/3187 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({9}), Volker Beck ({10}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern
- Drucksache 17/3202 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
„Kinder, Küche und Karriere“ - Vereinbarkeit für Frauen und Männer besser möglich
machen
- Drucksache 17/3203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Glaubhafte Unterstützung für Serbiens Beitrittsantrag zur Europäischen Union
- Drucksache 17/3175 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Beck ({13}), Volker Beck ({14}), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Serbiens Beitrittsgesuch an die Europäische
Kommission weiterleiten - Gesamte Region im
Blick behalten
- Drucksache 17/3204 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 „Frauen,
Frieden und Sicherheit“ einhalten - Auf Gewalt in internationalen Konflikten verzichten
- Drucksache 17/3205 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beim
Ablauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungspunkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. An
dieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesordnungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dementsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall; ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
und Integration
Achter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland
- Drucksache 17/2400 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Staatsministerin Frau Professor Maria
Böhmer.
({17})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlich
wieder da steht, wo es angesichts der drängenden Probleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Tagesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar,
dass er sich des Themas Integration mit so großer Intensität angenommen hat.
({0})
Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halbwahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien überlassen.
({1})
Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre lang
Zeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan.
Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration in
Berlin.
({2})
Viele Migranten, die längst in Deutschland heimisch
sind, fühlten sich in den letzten Wochen unter Generalverdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimische
haben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungen
in unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt.
Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrer
müssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören.
Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhof
traut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wenn
Lehrerinnen beschimpft werden, können wir das nicht
hinnehmen und müssen dagegen angehen.
({3})
Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klar
sein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich das
Grundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren.
Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land einlassen.
Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ich
mit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführt
habe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf dieses
Land einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gespräch
führen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir in
der letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sich
bewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir reden miteinander. Das ist der entscheidende Punkt.
({4})
Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann
und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nicht
nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebt
werden - zuallererst in den Familien. Die Eltern stehen
hier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch unterstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien die
Chance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzukommen.
„Fördern und Fordern“ ist der zentrale Grundsatz
unserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir lassen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich erwarte auch, dass die Integrationsangebote angenommen
werden,
({5})
seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprachförderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuch
oder der Abschluss einer Ausbildung.
Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt haben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel eines, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. Sein
Großvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und war
Hilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen.
Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und gehört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unternehmen. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Migranten und Einheimischen in unserem Land. Solche
Vorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wir
stärken.
({6})
2005 standen wir bei der Integration vor einem Berg
von Versäumnissen und Fehlentwicklungen.
({7})
Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kinderschuhen.
({8})
Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
massiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und dem
Ausblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zu
meistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahrheit.
({9})
Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Integrationsgipfel, der Islamkonferenz und dem Nationalen
Integrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mit
mehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen
Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gut
da. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennenden Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in den
Niederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klima
und belasten das Zusammenleben. All das haben wir
nicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein.
({10})
Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ich
denke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof.
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutsch
die Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflichtung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland.
Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wir
haben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne gebracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen,
dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangsverheiratungen verhindert werden können.
({11})
Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auch
Streit in unserem Land. Aber heute ist klar - das sagen
mir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deutsche Staatsbürger werden wollen -: Es ist von Vorteil,
wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn man
will hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahrnehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich auskennt.
Die Anstrengungen für die Integration haben sich gelohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ich
dem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Das
zentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integration
in Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen noch
an Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazu
auch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damit
das, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechend
mitgetragen wird.
Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildung
und der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveau
hat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierend
ist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zu
hoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen im
Vergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. - Das ist noch weit von der Zusage
entfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrationsplan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 angeglichen sein sollen.
Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderung
in den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brauchen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehr
Zeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, um
wirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voranzubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sind
nur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in unserem Land haben.
({12})
Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Viele
der Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mit
unserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsere
Hilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeit
in Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen Integrationskurse gerade dort stattfinden.
Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wir
müssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspolitik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit.
Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme der
Bundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeutung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integration in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als
700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählen
sein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel davon Frauen sind und dass viele von denen, die schon seit
vielen Jahren - 10, 12, 15 Jahre - in Deutschland leben,
jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. - Unsere
Botschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zusammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teilhabe in unserem Land ist, ist angekommen.
({13})
Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwillig teilnehmen möchte - jeder Zweite tut das -, muss
auch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb haben
wir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millionen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassen
wahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist ein
klares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten,
dass die Integration in unserem Land klappt.
Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Weg
bringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Verbindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten,
die dann wissen sollen, welche Angebote und welche
Hilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wir
wollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsvereinbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beim
Spracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qualifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Eltern
ihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie in
den Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie,
wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgen
können; denn nur dann wird sich langfristig für diese
Kinder etwas verbessern.
({14})
Die frühe Sprachförderung wurde, seitdem wir den
Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allen
Bundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstandstests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehr
nachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotz
alledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozent
und in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohne
ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kommen. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Länder
gefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachförderung ist.
Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren.
Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kindergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder,
die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der
Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztes
Kindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht allein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unter
den Versäumnissen ihrer Eltern leiden.
({15})
Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vorhaben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Menschen, die in unser Land gekommen sind und über einen
guten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten,
sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, in
ihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein,
dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagentur
für Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Anerkennungsgesetz für die Anerkennung von im Ausland
erworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integrationspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vieles verändern, was die Annahme der Migranten, das Heben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfalt
angeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell.
({16})
Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende in
der Integrationspolitik deutlich unterstützen.
({17})
Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auch
schwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Legislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dass
die Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustest
ist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Denn
es darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo die
Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer noch
vorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfächern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus verboten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zu
gehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchen
müssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo die
Grenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen,
sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten.
({18})
Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass es
auch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ich
spreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen eigenen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen und
dass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mädchen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn sie
sind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unserem
Land ihren Weg gehen können.
({19})
Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam in
Deutschland gesprochen worden ist, will ich an einen
Satz von Wolfgang Schäuble erinnern: „Der Islam ist
Teil Deutschlands.“ Dieser Satz bleibt gültig. Es ist aber
genauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems und
auch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlichjüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalen
Islam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz in
unserem Land.
({20})
Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werden
um so manche Frage ringen müssen. Ich nehme die
Ängste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migranten
und der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen die
Diskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wir
müssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen,
dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Was
hält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Erreichen wir wirklich eine Verständigung über diese entscheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturellen Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden?
Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusammenhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ich
möchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantes
Land bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt geschätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bundespräsident wiederholt hat, was der damalige Innenminister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag vor
einiger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. - Es
ist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich,
wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sich
jetzt äußern und wie viele gerade auch der politischen
Anhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansicht
sind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten,
bis sich alle einig sind.
({0})
Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integrationspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischen
Reden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird,
und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manchmal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn ein
konservativer Politiker oder eine konservative Politikerin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, was
gegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde.
({1})
Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichen
Fortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt und
das als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengend
und mühselig erreicht werden musste. Aber es ist
schlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese „Bis
hier und nicht weiter“-Strategie gibt, die einen nie in die
Lage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allem
kommt es darauf an - das gilt gerade im Hinblick auf die
Integrationspolitik -, dass man das Notwendige tut und
nicht nur darüber redet.
({2})
Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdrossenheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet:
Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Politiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle es
richtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen.
({3})
Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bundesregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren.
Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dass
man Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass Integrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehr
aufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monate
gelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die gegen den Willen konservativer Gegner durchgesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt.
({4})
Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getragene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass das
eine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher gar
nicht darum gekümmert hatten.
({5})
Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg geworden, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren,
nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar - ich sage ausdrücklich: furchtbar -, dass wir eine Debatte über die
Frage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teilnehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache,
dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird,
nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teilnehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gelder zur Verfügung gestellt.
({6})
Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wir
brauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden.
({7})
Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogar
erhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müssten
noch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernst
nimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zigtausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrnehmen können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt haben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, das
nicht tun können.
({8})
Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe eine
dreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlich
noch viel länger. Das alles ist ein Fehler.
Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnahmen, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtig
finden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: Ihre
Entscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend - das
zeigt der Bundeshaushalt - sind nichts anderes als ein
aktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in den
nächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Es
müssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration zur Verfügung gestellt werden, gerade für die
Gruppen, um die es hier geht.
({9})
Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem anhaltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegen
die Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schulabschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dass
in jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichende
Sprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst die
Sprache erlernen muss und dass es ein entsprechendes
Angebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nicht
nur darüber reden. Dann muss man auch entsprechend
handeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Das
ist zu wenig.
({10})
Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, um
sich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemühen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage:
„Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, der
kann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern und
muss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verbleiben“? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, die
sozialdemokratische Fraktion, haben längst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur und
lassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist das
Problem.
({11})
Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerkennungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode waren
Sie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Regelung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein bisschen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsvertrag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben,
und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wird
es uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materie
so einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werden
können, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständen
scheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden
konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wir
brauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesem
Thema.
({12})
Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was notwendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejenigen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auch
bruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die in
unserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehört
abgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integration;
({13})
es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausgesandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass man
das einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, und
das Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hätten
es längst beschließen können.
Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommen
müssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die man
ständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, was
wir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die entsprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, der
will, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, soll
wissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Folgen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass dies
für jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Beschränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondern
wenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt in
Deutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicher
Fortschritt.
({14})
Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetzt
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achten
Ausländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüsselwort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche Integrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prioritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandel
hin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichen
Leistungen von beiden Seiten.
Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland.
Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritisch
beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damit
identifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journalistin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das GoetheInstitut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wie
Kultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrer
Sicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe,
Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlich
selbstbewusster mit unseren Worten, unserer Sprache
umzugehen.
Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nicht
entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichts
mehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie und
kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wollen sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ihnen fordern. Migranten müssen sich verbindlich in
unsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden,
und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmen
setzen und die nötigen Hilfestellungen leisten.
Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in den
Mittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt der
durch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft
im Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte,
der muss die eigene Integration aktiv voranbringen und
die gebotenen Chancen ergreifen.
({0})
Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenen
Sprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufnehmende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb ist
die Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Voraussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alle
Zuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, und
zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist innerhalb der EU die größte Muttersprache. Weltweit sprechen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet ist
Deutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache.
Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und drittgrößte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskurse
sind das wichtigste Instrument von Bundesseite gerade
für den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehen
zu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bundes. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wir
weiter arbeiten.
Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder im
Alter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chancen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprachförderung vor Eintritt in die Schule sowie darüber
hinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogramme
notwendig.
({1})
In Deutschland gilt die Meinungs- und Religionsfreiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung,
({2})
und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und karikieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief,
sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechten
unserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlichdemokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder
Hartfrid Wolff ({3})
Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiöses
Brauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragt
werden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, die
im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes
stehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigt
nicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nicht
zur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wie
Sport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme an
Schullandheimaufenthalten.
Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulff
richtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesellschaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unserer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen und
römischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradition. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, akzeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt die
Gleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hierzulande verbindlich.
({4})
Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wir
werden noch in diesem Jahr einen eigenständigen
Straftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat einbringen.
({5})
Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auch
die Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hürden beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete abbauen.
Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahrtausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-,
Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwanderern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nutzen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, in
Deutschland zu leben, der das nicht will.
Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die
Uhr.
Vielen Dank, das werde ich tun. - Wir können es erreichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften
eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch Fördern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt
unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft
stärken.
({0})
Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und
Senator Harald Wolf.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in dieser Republik in den letzten Wochen eine intensive
Diskussion über Integration, über Einwanderung geführt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträge
nicht unbedingt klüger gemacht haben.
({0})
Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin.
({1})
Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganze
Religionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig erklärt, wer sagt: „Von denen sind zu viele hier, und die
sind per se dümmer als die anderen“, der leistet keinen
Beitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürt
dumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, und
das ist alles andere als das, was wir brauchen in diesem
Land.
({2})
Ich sage aber auch - ich teile vieles von dem, was Sie
gesagt haben, Herr Scholz -: Wenn eine Partei feststellt,
dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für diese
Auffassung gibt
({3})
und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt darauf legt, dass Integrationsverweigerung - das ist ja
neuerdings das Wort - mit Sanktionen belegt werden
muss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, nämlich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für die
von ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Teilen der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das ist
nämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnen
nicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt und
sie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt.
Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten.
({4})
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem
Land ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwanderung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zur
Einwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzung
dafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung verbunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen können.
Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheiratung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir in
Deutschland nicht akzeptieren können und was auch
nicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ich
sage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alles
hinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt gegen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftliches
Problem und nicht nur ein Migrationsproblem.
({5})
Senator Harald Wolf ({6})
Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Rede
eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nicht
zu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass,
wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die eingewandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteil
dieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestandteil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meine
Damen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass es
angesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskussion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über die
Frage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist.
Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur,
dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu uns
gehören. Genau das ist die Botschaft, die man auch wieder nicht braucht.
({7})
Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkultur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonst
nichts, keine Weltanschauungen und keine religiösen
Auffassungen.
({8})
Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Willkommenskultur gegenüber Einwanderern in diesem
Land brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dass
wir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Sie
haben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass dies
notwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, den
wir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern und
Fordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deutlich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hat
angesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse und
Deutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konnten
Maßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nicht
durchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integrationsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wenn
hier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt
werden.
({9})
Ich komme aus einem Bundesland, in dem über
40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshintergrund haben. Wir können uns Integrationsverweigerung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunftsfrage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen,
die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chancen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdings
nur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnahmen. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahren
große Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl der
Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, die
die Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Innerhalb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Prozent reduziert werden.
({10})
Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um
50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwendet, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dann
kann man auch die Abbrecherquote und das Bildungsversagen reduzieren.
Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, in
denen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integrationskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern,
Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Integrationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eine
Schlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der Institutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darf
nicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, bei
der Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wir
brauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation fördert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert:
nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Nationalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein integratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst lange
gemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernen
können und damit die Integration vorangetrieben werden
kann.
({11})
Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden,
die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eine
Restschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussortiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie haben
keine ausreichende Chance. - Es ist ein Verbrechen an
den Kindern gewesen,
({12})
ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Perspektive mehr in dieser Gesellschaft.
Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zuständen wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben an
der Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen.
Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bildungserfolge und gute Abschlüsse gibt.
Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit unserer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule eingeführt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammengefasst worden sind und die bis zum Abitur
führen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsangebot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre gebührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Voraussetzung für Integration und dafür, dass alle in diesem Land
die gleiche Chance haben.
({13})
Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andere
Thema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon angesprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen in
diesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die in
diesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unter
dem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzeptabel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel,
dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und die
Talente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie
Senator Harald Wolf ({14})
da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen und
ihre Fähigkeiten einbringen könnten.
({15})
Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Anerkennung der Berufsabschlüsse.
Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden,
braucht man sich nicht zu wundern, dass Integration
nicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, die
dauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesicherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugang
zu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Integration und dafür, dass die
Einwanderung in dieses Land gelingt.
({16})
Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren:
gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hier
mitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Entscheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sich
auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können.
Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die man
vom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidungen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können,
mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die das
Wahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entscheidungen mit Begeisterung hingenommen.
({17})
Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wir
den Menschen, die in dieses Land eingewandert sind,
gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen.
({18})
Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichen
Institutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen in
den Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dass
zu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshintergrund zählen, dass sich das auch in den Belegschaften
und in den Führungsebenen widerspiegeln muss.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwärtig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrationsanteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichen
Realität in diesem Land Rechnung tragen würden,
müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Das
zeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in der
Integration weiter voranzukommen.
({19})
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist eine
große Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es soziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Menschen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen Integration, gleichberechtigte Teilhabe und gleiche
Chancen für Menschen, die in dieses Land eingewandert
sind, eine zentrale Frage der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Probleme
verbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufgeworfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbedarf auch im Institutionensystem der Bundesrepublik
Deutschland. Wir können nicht nur Veränderungen bei
denen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein,
diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Menschen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wird
und ihnen gleiche Chancen eröffnet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar erneut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt
sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestellten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung
überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und gerade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von
Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolgerungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideenund Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.
({0})
Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau
Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen
und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprachrohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich
wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden Debatte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kürzungen bei den Integrationskursen vorgenommen werden. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung
erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durchgeführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von
freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt,
dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen
und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen.
Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen
der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 integrationswilligen Personen der Besuch von Deutschkursen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen getan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als
aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist
ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverantwortlich.
({1})
Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Integrationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent
der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet;
60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig.
Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus
welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht
erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von
10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde,
bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit
Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage
allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen
nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus
und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der
Einwanderer.
Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Streichung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung.
Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbekannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten
angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach
weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als ärgerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integrationsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negatives Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das
darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht
verdient, meine Damen und Herren!
({2})
Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Migranten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das
ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantomdebatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das
Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb
müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen.
Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung
und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen Integrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reformunwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der
Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Einbürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel
eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein
Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas
Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschärfung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das
ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehrstaatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben,
und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauftragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ahnung, kein Konzept - so sieht es aus!
({3})
Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu
Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die
Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor
verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die
Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie
die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Versprechungen der Bundesregierung auf den diversen Integrations- und Bildungsgipfeln wert?
Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder
unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert,
die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklassenschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit seiner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige
Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei
welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Hauptschule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis
gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer
Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformieren.
({4})
Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig
weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminierung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate
Lösungsvorschläge zu entwickeln.
Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die
Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integration ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den
jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch
können. Die Migrantenkinder der dritten Generation haben ein Studium an einer der Universitäten dieses Landes absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu
fahren.
Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen
Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die
größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öffentliche Dienst;
({5})
das muss sich ändern.
({6})
Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von
20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren
schönen Worten folgen keine Taten.
Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die
Uhr.
Gerne. - Die populistischen Grabenkämpfe zwischen
„uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stigmatisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir
müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land;
wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser
Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche de6802
mokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden
unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutschland machen, in einem besseren Europa und einer besseren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser
Traum.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident
Volker Bouffier.
({0})
Volker Bouffier, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessische Landesregierung hat dem Thema der Integration
seit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zugewiesen.
({2})
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politik
bundesweite Anerkennung erfahren hat.
({3})
Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkungen machen; sie werden sich unter anderem von dem,
was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführt
haben, deutlich unterscheiden.
Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebene
einen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ersten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschulung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wir
waren die Ersten, die - sehr präzise - Einbürgerungskurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kann
mich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damals
heftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grünen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das ist
gut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam feststellen: Wir sind weitergekommen,
({4})
nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Abschied genommen haben.
Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir in
Deutschland die Herausforderungen der Integration besser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer.
({5})
Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit der
Bundesregierung
({6})
und insbesondere der Beauftragten Frau Staatsministerin
Böhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich danken.
({7})
Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchaus
interessant, aber sie war falsch. Es war nicht die rotgrüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung,
die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationalen Integrationsplan, den Integrationsgipfel und die
Islam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auch
alles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weiß
ich nicht.
({8})
Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregierung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mit
Dankbarkeit und mit Stolz.
({9})
Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiativen und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informationen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin.
Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wollen, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integration an vielen Stellen noch am Anfang stehen.
({10})
Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochen
haben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf
diesem Wege noch sind.
({11})
Viele Menschen in unserem Land empfinden das
sichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nicht
selten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politik
ihre Sorge nicht ernst nehme,
({12})
dass falsch verstandene Political Correctness dafür
sorge, dass man über diese Themen am besten nicht
spreche.
({13})
Nur so kann man sich die massive Wirkung der Thesen
eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen
Bundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsame
Pflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgern
das verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Es
ist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlich
führen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für die
angestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene
Ministerpräsident Volker Bouffier ({14})
Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integration
brauchen.
Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappen
und ohne Schaum vor dem Mund führen.
({15})
Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird länger brauchen, als viele dachten, sie wird schwieriger
sein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allen
mehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wird
und sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion darüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorgfalt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in gegenseitigem Respekt.
Frau Professor Böhmer hat recht - das haben alle
Redner eingeräumt -: Es ist eine Schlüsselfrage für unser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vom
gelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Miteinander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen für
Erfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zu
legen.
({16})
Wenn das die Aufgabe ist - darauf müssten wir uns gemeinsam verständigen können -, dann wird uns dies
nicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wie
und wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll.
In diesem Zusammenhang ist oft und aus meiner
Sicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leitkultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zukunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrweg
werden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu dieser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung von
Staat und Kirche.
({17})
Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Daraus
folgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage einer gelungenen Integration in unserem Land sein kann.
({18})
Wir brauchen die Herausbildung eines Islam, den
Bassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischen
Islam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubigen Menschen in unserem Land durch islamische Autoritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihre
Treue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines säkularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Politik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber helfen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispiel
islamische Theologen an unseren Hochschulen ausbilden. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrer
ausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land vertraut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen.
Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenen
Integration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dass
die vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesem
Land gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht wenigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine religiöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Land
und sind Teil unserer Gesellschaft.
({19})
Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte Frau
Künast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist es
wichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klaren
sind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres
Staatsverständnisses sind die christlich-abendländische
Tradition, ihre Kultur und die Aufklärung.
({20})
Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Sie
müssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben.
Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen - das gilt
insbesondere für den Respekt der Zuwanderer -, wenn
wir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret:
Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwillig
entschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinen
Gesetzen und Lebensweisen achten.
({21})
Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Landes, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, beitragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen.
Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Gesellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft und
ihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auch
nicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihre
Religion und Kultur aufzudrängen.
({22})
Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege weisen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderern
aber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen.
Zu dieser Verantwortung - darauf könnten wir uns wahrscheinlich alle gemeinsam verständigen - muss es doch
gehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder in
Kindergärten und Schulen zu schicken.
Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wir
hohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frisch
zu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur
Ministerpräsident Volker Bouffier ({23})
Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist,
eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wie
ein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Heimat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, der
diese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesem
Land bekennt.
({24})
Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires Angebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eine
Zukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Erkenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmen
können. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese
Debatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlagzeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundesregierung und vor allem auch Ihnen, Frau Professor
Böhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Landesregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unterstützen.
Herzlichen Dank.
({25})
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit meinem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auch
wir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mitarbeitern - denen, die hier sind, und auch denen, die das
jetzt im Fernsehen verfolgen - ganz herzlich für die herausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Es
ist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht profundes Datenmaterial handelt. Ich teile - das liegt in der
Natur der Sache - nicht alle Schlussfolgerungen, aber
doch manche.
({0})
Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleicht
auf das eine oder andere zurück.
Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwegen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger gehaltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über Integration gesprochen wird. Ein Grund - Frau Professor
Böhmer hat das Thema eingebracht - sind die Thesen
von Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und Senator
Wolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problem
umgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung,
auch nicht von Ihnen.
({1})
Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigens
schon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außerordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover für
Hartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armen
Kindern erinnern.
Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die der
Grund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen der
CDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion diskutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem Thema
Religion auseinandersetzen, aber man kann es heutzutage kaum ausklammern - das haben auch meine Vorredner nicht getan -, wenn es um den Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht.
Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deutsche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht,
aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügen
habe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bundeskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden in
Schutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verkneifen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dass
das, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungen
von Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eine
Selbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darf
ich vielleicht in unser aller Namen die besten Genesungswünsche an das Krankenbett von Wolfgang
Schäuble übermitteln.
({2})
Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam gesagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zeitungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/
CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hat
gesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam das
Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands
sei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nicht
sagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Faktum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union für
mich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungen
von Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und
- diesbezüglich grenze ich mich ab - von Herrn
Buschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mir
nicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äußerungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben,
weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtig
halten.
Bevor ich zum sogenannten Ausländerbericht
komme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung anbringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, Volker
Bouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahre
darf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ich
wäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben,
dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integration macht.
({3})
Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persönlich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer AmtsRüdiger Veit
vorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, im
Landtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten auf
die Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
({4})
mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurch
das Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durch
eine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien.
Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das war
das genaue Gegenteil.
({5})
Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es im
Winter 2008 ekelhaft kalt war - das war der schlimmste
Straßenwahlkampf überhaupt -, sondern auch daran,
dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr geschätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller jugendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zu
fangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getoppt
worden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs haben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe,
überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äußerungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Unterschied zu 1999.
({6})
Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Verfügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen.
Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf,
dass es nicht ausgerechnet die Union ist - und jetzt
manchmal auch die FDP -, die sich anhand einer ganzen
Reihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde,
noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr über
zwölf Jahren - ich habe das miterlebt, gelegentlich mitgestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten - hat ausgerechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koalitionspartner in der Großen Koalition entweder hier oder
im Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesänderung auf diesem Gebiet brauchen - ausgenommen Integrationskurse; da sind Sie nach dem Motto „learning by
doing“ vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei -, verhindert, was wir umsetzen wollten.
({7})
Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; das
ist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchgesetzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreform
nur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot der
Hinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrieben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte.
Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen betrachtet.
({8})
Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldung
und Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit dem
Erfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsregelungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen und
Kettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind,
intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übrigens interessante Ausführungen in dem Bericht - ich
habe keine Zeit, es vorzulesen - auf den Seiten 483 ff.
Sie haben erst jetzt entdeckt - spät ist vielleicht noch
nicht zu spät -, dass man bei der Gewährung der elementarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegal
lebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessern
muss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man
mit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eine
angemessene gesundheitliche Versorgung gerade von
Kindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind es
gewesen, die jetzt erst - das war uns in der Großen Koalition leider nicht vergönnt - erkannt haben, dass wir
ein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangsheirat haben müssen.
Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die im
Bereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen,
die das verhindern wollen, die sich stets und ständig dagegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Sie
sind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hinsichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse von
Ehegatten im Ausland zu verdanken haben.
({9})
Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt die
Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal abgeschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass das entsprechende Veränderungen des Aufenthaltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von
16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat.
Diese ganze Reihe - ich könnte sie beliebig fortsetzen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit - zeigt: Sie haben
erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durch
gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und im
Staatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländischer Herkunft in Deutschland überhaupt integrieren
können.
({10})
Herr Kollege.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Ich hoffe
nicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Sie
sich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigern
von staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wir
die elementarsten Voraussetzungen im Bereich des
Rechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht geschaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte
der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtes
vielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen.
Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflisten.
Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum
Ausdruck bringen.
Danke für Ihre Geduld.
({0})
Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion
der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege
Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück
für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter RotGrün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon
umgesetzt.
({0})
Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr
seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind,
diese Forderungen aufstellen.
({1})
Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens,
Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann
man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach
sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme
im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt
haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat.
Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie
sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benötigen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu;
Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahrelang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man
einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fangen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fernsehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das
verstehe ich nicht.
Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause.
Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der
Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider
zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in
dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich
festgelegt wurden - es war ein Rechtsanspruch und eine
Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren
von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen -, dass
wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen
jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die Integration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die
gesamte Debatte um nachholende Integration nicht führen müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungsgesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen
hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden,
dann gar nicht erst bekommen hätten?
({0})
Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit,
die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwanderung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder
gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Augen gestreut,
({1})
statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu
befassen.
Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage
stellen.
Ja. Das habe ich auch getan.
Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen
habe ich nur daran erinnern wollen.
Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Protokoll zeigen.
({0})
Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, die
ich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich gesagt habe, scheint wohl richtig zu sein.
({0})
Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat,
haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen.
({1})
„Warum Deutschland an der Integration scheiterte“,
so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutsches
Nachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: Als
Bürger mit Migrationshintergrund, wie es so schön
heißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für verfehlt.
({2})
Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehntelang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwanderungspolitik zu machen. Integration passiert nicht einfach so. Integration muss begleitet, gefördert und - das
sage ich ganz klar - auch eingefordert werden.
({3})
Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung für
viele der heutigen Herausforderungen in der Integrationspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges Lamentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen uns
nicht weiter.
({4})
- Genau.
Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -brecher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offene
Debatte um die Integrationsprobleme in Deutschland.
Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungen
gehören zur Streitkultur in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagen
und Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Grenzen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze ist
da, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenzt
werden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, das
durchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismus
und Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganz
wichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen der
Ausländer oder der Muslime zu sprechen, bringt uns
nicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten aufgrund ihres Engagements und der regelmäßigen Publikationen für die sehr differenzierte Auseinandersetzung
mit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar.
Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit gehört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gegeben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbesondere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wir
an dieser Stelle gekürzt haben - das stimmt nicht -, sondern wir haben die Mittel sogar erhöht.
({5})
Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt es
noch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns bekannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Erfolgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Migranten an einem solchen Kurs teilgenommen; weit
mehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist eine
tolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen.
Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür
2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integrationspolitik.
Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wieder viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatte
um die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigt
diesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wollen wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was können Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstellungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sind
unabdingbar für die Motivation von Migranten und insbesondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stelle
warne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Toleranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum der
unsachlichen Debatte.
Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nachkommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zu
werden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mädchen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christliches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für den
Schwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterricht
oder für Klassenfahrten.
Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen,
wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptieren
und mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen in
unserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klarmachen.
({6})
Mit „wir“ meine ich alle, auch die Zugewanderten, die in
der Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden haben.
Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder was
muss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und Toleranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.
Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dass
das Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist
nicht an der Integration gescheitert, und Deutschland
wird auch nicht an der Integration scheitern. Integration
ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann
abgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wie
erfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielen
Faktoren ab.
Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von den
Antworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir die
im Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umsetzen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemeinsame Identität jenseits von kulturellen Unterschieden
schaffen können?
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offenheit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstanden habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die bei
der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in
der Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grün
oder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem sie
sich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falsch
verstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen - das wurde
eben schon vom Kollegen Veit angesprochen -, was das
Hauptproblem der Integrationspolitik in diesem Lande
ist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integrationspolitik in diesem Land gemacht.
Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert.
Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschuss
bekämpft.
({0})
Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutschkurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt.
Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen.
Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volkshochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfe
und sollten die Kurse davon bezahlen.
({1})
Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf,
haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. - Zwangsheirat
war in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwas
überhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unserem
Rechtsverständnis.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestellt
und gesagt: Das ist selbstverständlich ein besonders
schwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf Jahren
Gefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles „lirum larum dumdideldarum“;
({2})
wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann es
mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. - Bis zu fünf
Jahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommen
jetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auch
schon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
({3})
Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; das
ist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache,
dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo ist
denn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangsheirat verhindern.
({4})
Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ich
höre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlich
auf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbstverständlich, wer hat das Gegenteil behauptet?
Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millionen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auch
und würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnte
ihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich halte
das, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwegig.
Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu ein
Interview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind „erklärende Interpretationen notwendig geworden“.
({5})
Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation notwendig? - Er sagte:
Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Namen die Unterdrückung der Frau geschieht, kann
nie und nimmer zu Deutschland gehören.
({6})
Der Maßstab für unser Zusammenleben ist das
Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen
Erbe beruht.
Ja, hallo? Wo sind wir denn hier?
({7})
Was hat denn der Bundespräsident gesagt? - Natürlich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unterdrückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass er
da ist. - So ein dummes Geschwätz habe ich schon lange
nicht mehr gehört.
({8})
Dazu sage ich - auch als Katholik -: Der Apostel
Paulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde.
Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grundgesetz auch nichts verloren - also, bitte schön.
({9})
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlange
von Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten entschuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Rede
hält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Religionen in unserem Land nie mit solchen Reden - ich
sage manchmal sogar fast „Hetzreden“ - stören.
Herzlichen Dank.
({10})
Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: Die
Tatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sie
nicht gewählt haben,
({0})
mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein,
dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir seinerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt und
jetzt einen guten Bundespräsidenten haben.
({1})
Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspolitische Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Haus
besser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oder
bei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parlament ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen.
Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun.
({2})
Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bundesregierung nimmt die Integration ernst. Wir werden
das fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, das
heißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiode
werden fortgesetzt.
Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sind
Sie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie geworden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie
heute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen,
was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam auf
den Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in der
Tat sehen lassen.
Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefunden ({3})
der vierte steht kurz bevor -, bei denen alle Akteure und
alle am Thema Interessierten an einen Tisch gebracht
und verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind.
Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse überarbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommen
worden, und das Angebot an Integrations- und Deutschkursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Personen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigens
zwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt irgendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch die
Tatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Erfolgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolgreicher Integrationspolitik sind.
({4})
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisse
schon vor der Einreise erworben werden müssen, weil
gerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen der
deutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Integration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kann
ich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. - Wir sind seinerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgermanisierung war die Rede, als wir diese Forderung immer
wieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für diese
Einsicht.
({5})
Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nicht
wirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nicht
darüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspolitik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Beispiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt,
wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben.
Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterführenden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiterführende Schulen und absolvieren in zunehmendem
Maße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auch
nachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stif6810
Stefan Müller ({6})
tungen für Integration und Migration hat erst vor wenigen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Er
kommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutschland besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeit
wahrgenommen wird, und vor allem auch besser als in
vielen unserer europäischen Nachbarländer.
({7})
Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus gemeinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einer
solchen Debatte angesprochen werden.
Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache,
dass es in der Integration auch Probleme gibt - das wird
niemand bestreiten -: Zum einen ist die Arbeitslosenquote von Migranten immer noch doppelt so hoch wie
die der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hinsicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit immer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitens
Arbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen.
Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftliche Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration.
Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerkennung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse in
Deutschland vorankommen. Das Potenzial, das es in
Deutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeit
können nämlich viele Migranten nicht in dem Maße beschäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung entspricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Thema
angehen.
({8})
Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbildung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu bestreiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo
wir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immer
noch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulabschluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder in
der Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei muss
der Bund mithelfen, wo er dies kann.
Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber auch
eines feststellen: Integration braucht einen langen Atem.
Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangen
worden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahren
aufholen. Aber wir sind - das zeigen auch alle Stellungnahmen und Gutachten - an dieser Stelle auf einem guten Weg.
Integration braucht aber auch Konsequenz und Verbindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch angewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislich
Fälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, der
staatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmen
seiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, einen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dann
können schon heute Sanktionen verhängt und Regelleistungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht muss
durchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auch
das müssen wir ohne Zweifel angehen.
({9})
Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.
Ja. - Zusammenfassend kann man feststellen, dass in
Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über
Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird
({0})
und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in
der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber
trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung
nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Missstände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe
mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstverständlich freuen.
({1})
Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist überall im Hause angekommen: Deutschland ist ein
buntes und vielfältiges Land mit Millionen von unterschiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist
die von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrer
für Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er als
Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen.
Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Sein
Diplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Ausbildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgreichem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos.
Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtlichen Verkehrsbetrieben.
Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut er
das in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtem
Akzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch beigebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprachkurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgesehen.
Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für
gelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, engagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüber
hinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sind
auch die drei großen Themen, wenn wir über Integration
sprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir in
allen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf haben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wie
dem von Ardalan.
Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition,
die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integrationskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwachsenen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deutschen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur
Daniela Kolbe ({0})
Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind - das
sagen alle - eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Menschen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeit
warten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen mindestens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs - täglich werden es mehr -, und das, weil Schwarz-Gelb
sehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stellt.
({1})
Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt.
Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelisten
gelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs beginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. - So
lautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickt
hat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sich
schon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutsche
Sprache in ausreichendem Maße erworben zu haben.
Das sind genau die Menschen, denen die Regierung jeden Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber einen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahr
geben. - Diese Argumentation ist doch schlicht scheinheilig.
({2})
Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Für
junge Menschen mit und auch ohne Migrationshintergrund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, ob
man sich verständigen und mitmischen kann. Deshalb
wurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau der
Kitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weg
gebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung?
Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kitaausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es ist
nichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nur
bildungsfeindlich.
({3})
Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen?
Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht,
dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Signale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten der
Integration.
Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshintergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zu
überwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt so
hoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse.
Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende der
letzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt.
Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von Frau
Schavan - sie verlässt gerade den Saal ({4})
begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen.
Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der Ankündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht dringender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an.
Wir vergeuden wertvolle Ressourcen Hunderttausender
Menschen.
Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichten
zudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zu
finden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien belegen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshintergrund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwerer
haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Diskriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegenden
Bericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung?
Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren - diese
sind in vielen Ländern üblich - oder sei es eine aktive Arbeitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung sehe
ich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jegliche
Bemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
({5})
Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, in
den Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch kluge
Stadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteiligung wirksame Programme - „Soziale Stadt“ ist das Programm, das man hier hervorheben kann - entwickelt.
Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entsprechenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgen
auch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf „Soziale Stadt“ darf zukünftig nicht mehr für - Zitat - „Zwecke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserung
von Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen
sowie im Bereich der lokalen Ökonomie“ eingesetzt werden. Der Einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte,
ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher der
FDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen.
({6})
Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug auf
das Programm „Soziale Stadt“ gesagt - Zitat -:
Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Beispiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchen
mit Migrationshintergrund, ist vorbei …
Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tasche
auf.
({7})
Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sie
uns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach Ihre
Politik!
Vielen Dank.
({8})
Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrationsdebatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in
der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen.
({0})
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDPFraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgelegten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist.
Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland mit einem besonderen Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kommentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an.
Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in
der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen,
dass sie für den Integrationserfolg von Familien und
ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind.
Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und insofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit
in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind
diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hierbei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den
Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie
sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche
Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsansätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise
das Programm „Mama lernt Deutsch“. Damit werden
auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch
auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich
ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine
andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch können, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ihrer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung
erfolgreich.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zugang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbeitet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft
überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade
junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vorweisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Männer. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich
konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer vertreten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbildung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirklich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage,
sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbildungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das
im Bericht auch seinen Niederschlag findet.
Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema
Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wurden drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck
kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häufiger von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere
Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der
ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass
Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem
und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psychosoziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und insofern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig
allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es
nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die
Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was richtig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende
Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis herausfinden können.
Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die
Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situation. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hingenommen werden und schon gar nicht aus religiösen
Gründen.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müssen Taten folgen. - Ich will Ihnen einmal den „SPD-Integrationsexperten“ Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sich
vor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert:
Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt,
der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie
vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der Großen
Koalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrecht
schreiben. Nur so viel zum Thema „Übereinstimmung
von Reden und Taten“.
({0})
Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist,
dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wir
jetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, die
auf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen.
Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integration einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung
nach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluierung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit
in Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen.
({1})
Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriften
erreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen
weiten und großen Bogen um Integrationsangebote gemacht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hineinsenden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispiel
dafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integrationspolitik gestalten kann.
({2})
Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leitkultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nicht
Erwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagen
für unser Zusammenleben definieren? Zur Integration
gehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dürfen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer gemeinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. Unsere
Aufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entgegentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren,
die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihre
Freizeit verbringen wollen, die etwa systematisch islamischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unter
der Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet,
und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen,
ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulen
anzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Moscheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daran
haben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden.
Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zur
Lebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert.
Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken anfügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber fundamentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihm
müssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen.
({3})
Wir haben bei der Integration keine Erkenntnisprobleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheit
ist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften haben, um den Grundsatz „Fördern und Fordern“ tatsächlich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmöglichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches von
Herrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allen
staatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbeitet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Ausländerbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten.
Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tatsächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IVBehörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeitslose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können,
weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu verpflichten, an Integrationskursen teilzunehmen.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen
- Bund, Länder und auch Kommunen - gemeinsam die
Chancen, Integration umzusetzen - sie sind bereits jetzt
gesetzlich verankert -, nutzen, dann können wir hier im
Bundestag beschließen, was wir wollen; wir werden
nicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebenen.
({4})
Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal die
Integrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen.
Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspiels
zwischen Deutschland und der Türkei darf man sicher
darauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Integration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist einfach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieser
Stelle ein herzliches Wort des Dankes.
({5})
Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick auf
unsere ausländischen und insbesondere unsere türkischen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend im
Olympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Im
deutschen Team stehen Spieler mit Migrationshintergrund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht haben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, die
hervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns integriert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabe
der eigenen Identität. Aber morgen Abend werden sie
alle nach denselben Spielregeln spielen, und darauf
kommt es an.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würden
uns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aber
darauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag warten müssen.
Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke - sie sitzt
im Moment links neben mir - zu ihrem heutigen runden
Geburtstag.
({0})
Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehnt
in prominenter Umgebung und besonders guter Gesellschaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönsten
Hoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr!
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Präsident Dr. Norbert Lammert
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Auswege aus der Krise: Steuerpolitische
Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des
Staates wiederherstellen
- Drucksache 17/2944 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Wir haben gezeigt, was in uns steckt“, gab
Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, und
das steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuer
Schulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze und
Waffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Begründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben,
was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt.
Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnisse
gelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen vielleicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, die
trotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? Die
Linke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabei
machen wir nicht mit.
({0})
Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren weiterhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamt
sind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sie
uns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als „Zukunftspaket“. Pardon, das klingt doch wie Hohn.
({1})
Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ihnen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt:
eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alternativen; aber nur, wenn man die alles entscheidende
Frage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftet
wird?
({2})
Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, die
sowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politisches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann doch
nicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einiger
weniger immer weiter in die Höhe schießen und auf der
anderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinder
zunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen nämlich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr interessant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeit
etwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs pro
Jahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl eindeutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten erfolgen muss und dass die Aussage „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ reiner Unfug ist.
Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie dem
Sachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, so
sagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhältnissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 Prozent
Lohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß dem
Produktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate angepasst werden. - Na bitte!
({3})
Aber da, meine Damen und Herren von SchwarzGelb, hören Sie weg - ebenso wie bei den Hinweisen der
EU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wenn
Christine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlich
auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa
hinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragen
durch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat eine
große Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition:
Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situation noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werde
seine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumpingpolitik, die Sie mit zu verantworten haben, werden die
Menschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erarbeiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flächendeckender Mindestlohn muss her - und das schnell!
({4})
Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 in
vielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie in
Deutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegt
eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt:
Das ist ein Skandal.
Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche und
Unternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt.
Kapital wird bevorzugt, unter anderem - das ist allgemein bekannt - durch die Abgeltungsteuer. Sie geben
den Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohnehin schon immer abzocken.
Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Welten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr
2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sachvermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- und
Rentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sie
einmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel die
Leute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden!
Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerker
aus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerinnen und Rentner!
({5})
Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über gar
kein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sind
zudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müssen beim Amt aufstocken - trotz Vollzeitarbeit. Da
braucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste
Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sachvermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es ist
nicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen,
({6})
aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschen
hierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für die
Zukunft ihrer Kinder zusteht.
({7})
Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ich
sage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus dem
Osten stammender Frau doch wirklich die Schamesröte
ins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deutschen Einheit immer noch wie Tag und Nacht.
({8})
Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 in
Westdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es in
Ostdeutschland um knapp 10 Prozent.
({9})
Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für das
Alter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen die
Menschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen sie
das von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politisch
zulassen?
Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen:
Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhaupt
noch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen die
da in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnen
und Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden?
({10})
Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sondergewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel,
liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmal
die Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-EuroErhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufen
kann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung einrichten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde „zurechtkommen“ soll?
Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen:
Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökonomisch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das will
auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
({11})
Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahren
immer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu verantworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuermindereinnahmen in Höhe von etwa 335 Milliarden
Euro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich einmal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht absteigen und zuhören würden, was die Menschen in unserem
Lande denken, hätten wir vielleicht alle wieder die
Chance, dass eine vorwärtsweisende Politik betrieben
wird.
Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermögensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermögensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen abzüglich eines Freibetrages von 1 Million Euro - ich
wiederhole: 1 Million Euro -, könnten bis zu 80 Milliarden Euro eingenommen werden,
({12})
80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend für
öffentliche Investitionen brauchen.
({13})
Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre es
im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nach
einem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast
50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zahlen aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssen
ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.
({14})
Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaftsteuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie bewusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen.
({15})
Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dass
Oma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unternehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem
6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entsprechende Vorschlag liegt auf dem Tisch.
({16})
Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könnten
tatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlich
drittens durch eine Reform der Einkommensteuer.
Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif
2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Einkommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden;
alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen darüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfach
durch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wir
schlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteuersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von
9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochgeführt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent,
vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkommensteuer gerecht auszugestalten.
({17})
In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unserer
Vorschläge - im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt;
ich kann sie jetzt nicht alle erläutern - würde die wirtschaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden,
denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbelt
und die Kassen der Kommunen wären nicht mehr so
klamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersenkungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation führen, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sage
Ihnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation.
Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meine
siebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ihrer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nicht
mehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. Tun
Sie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sie
endlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen,
nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regierenden.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus der
Krise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpolitische Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen:
({0})
die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhung
der Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemein
die Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einer
Kerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer,
({1})
eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebung
der Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung des
Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer.
({2})
Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegen
alles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geld
aus der Tasche zu ziehen.
({3})
Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um
zu erkennen, dass die von Ihnen jetzt - in der Phase des
Aufschwungs - geplanten massiven Steuererhöhungen
den Aufschwung beenden würden.
Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungen
der letzten Jahre. Sie sprechen gar von „Steuerdumping“
in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Empfänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Menschen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die den
Karren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in einem Niedrigsteuerland zu leben?
({4})
Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letzten
fünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind
72 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
({5})
Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquote
an: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben und
Lohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sind
wir im internationalen Vergleich an dritter Stelle der
Rangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbesteuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist,
liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastung
für Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozent
weltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuerländer.
Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdumpings seien unsoziale Ausgabensenkungen.
({6})
Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben der
letzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von
50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, im
Jahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen.
({7})
Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehr
als verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken.
Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen.
({8})
Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn man
den Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub,
das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, um
dieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf!
Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befinden uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch für
den Bereich der Steuern.
({9})
Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unangenehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht handeln, als wäre man auf einer einsamen Insel.
({10})
Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Politik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aber
es ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht in
den Sand stecken: Wir sind in eine internationale Entwicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nation
nicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um
dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zu
halten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbewerb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesem
Land sichern und den breiten sozialen Wohlstand in diesem Land erhalten.
Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgängerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Beginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit
5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet;
heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen,
Tendenz weiter sinkend.
({11})
In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäftigung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden international dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern,
wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steuerpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeit
boomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich
2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder auskömmliche Arbeit finden.
({12})
Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieser
Krise ziemlich hinterher.
({13})
Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschaftswachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent.
({14})
Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze,
es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunktur
zieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstimmung in unserem Land ist wieder hervorragend.
Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen,
machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in die
Krise.
({15})
Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünfprozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert von
über 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herrlich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Armen; Robin Hood lässt grüßen.
({16})
Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachen
nicht stark, indem Sie die Starken schwächen. - Sie
schlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer auf
Vermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durchschnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Immobilienvermögen hat - in Ihren Augen sind das die
bösen Menschen -, dann erzielt man eine durchschnittliche Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun
5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschen
nicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie.
({17})
Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unserem
Land? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen?
({18})
Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mit
Ihrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlich
helfen wollen.
({19})
Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auch
noch den Spitzensteuersatz erhöhen.
({20})
Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land
10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereits
mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamten
Steueraufkommens schultern?
({21})
Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland.
Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ich
klaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Land
viel bietet.
({22})
Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheit
und gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben eine
hervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlast
und die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben,
wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt,
({23})
wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dann
sind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werden
Sie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unserem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften und
anderer Staaten nicht mehr widerstehen.
({24})
Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung und
Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die
meisten Menschen sind so - Sie mögen das beklagen -:
Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt.
({25})
Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am besten
wissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem real
existierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nicht
die Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Es
muss sich lohnen, dann strengt man sich an.
({26})
Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit den
Konjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz haben
wir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar erfolgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennen
kann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({27})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuerpolitik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von beiden Seiten präsentiert zu bekommen.
({0})
Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideologie? Wenn Herr Gutting sagt: „Leistung muss sich wieder lohnen“ - und damit die Steuerlast anspricht -, dann
vergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockung
zu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihre
Leistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ich
finde, das ist ganz schön viel Ideologie.
({1})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind.
Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bellen, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sich
selbst klären.
Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, darüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Das
wäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damit
aufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuern
als gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheitsideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht.
Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genau
überlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen.
({2})
Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen werden, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von „wir“
spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit
„wir“ gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter thematisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wollen dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaft
entsteht. Das „wir“ steht nämlich für diejenigen, die hier
leben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hier
Arbeitsplätze schaffen.
Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichen
Schlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdings
schade - das habe ich bei beiden Rednern heute hier gemerkt -, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgt
ist.
({3})
Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigens
die Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nicht
allein die Steuerlast.
({4})
Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eine
niedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hoch
sind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; sie
werden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlasten.
Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist,
dass es sich bei den eingenommenen Steuern um die
Mittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuern
brauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet - ich
habe das schon gesagt -: Wenn es um die Höhe der Steuern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel der
Staat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklich
nichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschaftspolitischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Ausgleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen
kann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört für
mich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieg
haben.
({5})
In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durch
sie können wir organisieren, dass Menschen Chancen
auf Bildung und Aufstieg haben.
({6})
Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuersenkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbstzweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hohe
Steuern nur wegen der Umverteilungswirkung als
Selbstzweck hinzustellen.
({7})
Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Analyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteilten
Steuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann,
wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es kein
Missverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steuerlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie gerecht es in einer Gesellschaft zugeht.
({8})
- Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit dem
progressiven Tarif kommen.
({9})
Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dass
man sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteuerung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse gehört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insgesamt verteilt ist.
({10})
Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf die
Statistik der OECD.
({11})
Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen die
Statistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach,
sie sei falsch.
({12})
Mit dieser Statistik - ich sage das, damit alle verstehen, worüber wir sprechen - hat die OECD Deutschland
eindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleich
nicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi anführen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unter
dem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nicht
gleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es gehört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nachzudenken, wie wir diese Schieflage verändern können.
Das gehört einfach zu unseren Pflichten.
({13})
Bei der Analyse der Situation muss man sich einige
Fragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zum
Beispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bildungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinder
anbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner sicherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsdefizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunen
erwarten - das sind ihre eigenen Angaben -, können
diese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegen
haben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu überlegen, wie wir das ändern können.
({14})
Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuer
in den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagen
wurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteuereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas anderes. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmen
trotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagen
wir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaffung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eine
Stabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg bringen wollen.
({15})
Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit den
derzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungsangebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eine
Frage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondern
auch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bildungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschaftspolitisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges angekommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wir
müssen ehrlich miteinander umgehen und nicht möglichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren.
Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in der
Lage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürger
und Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wir
tatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse setzen? Können wir genügend Geld für Investitionen und
Forschung ausgeben? Können wir tatsächlich für eine
positive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wir
dafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nachhaltig wirtschaften? Das sind die Fragen.
Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzugestehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändern
kann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen einige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist doch
klar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifen
müssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlaments
akzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet.
Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzen
wir daraus ziehen müssen.
Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- und
Abgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässliche Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenen
zu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Weg
zu diesem Ziel muss gerecht sein.
({16})
Deshalb sprechen wir uns - ich habe das schon angesprochen - für eine stärkere Besteuerung der privaten
Vermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Milliarden Euro durch 5 Prozent - das ist illusorisch. Das ist
völlig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wenn
man über eine gerechte Verteilung redet, muss man auch
die Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sage
ich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz
rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können,
um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auch
steuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermögensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wie
Sie sich das vorstellen.
({17})
Wir wollen - das hat die Sozialdemokratie beschlossen - bei der Einkommensbesteuerung einen höheren
Spitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt.
Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuernden Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben,
das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesem
Fall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser erfüllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt - ich möchte
es jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederholen -, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuer
wollen. Im Übrigen - das finde ich ganz wichtig, wenn
wir über Föderalismus reden - wollen wir, dass der Steuervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführt
wird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit.
({18})
Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einem
stimmigen Paket zusammenzufügen:
({19})
solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglichkeit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirtschaft auf der anderen Seite.
Beim Begriff „stimmig“ lohnt sich ein Blick in den
Antrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz ersparen. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass darin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. - Auf den zweiten
Blick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Beispiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern weniger
einnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz einführen. - Ich verstehe
nicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahr
nachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermäßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geld
nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommt.
({20})
Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamenten
auf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten,
obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermäßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei den
internationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll daran
gerecht sein? Ich bitte Sie!
({21})
Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßigung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchern
ankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich gesagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalb
werden wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
({22})
Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich ein
ausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionen
und gerechter Steuerverteilungspolitik.
Vielen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach
einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist.
Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser
Luftbuchung in diesem Staat gar nichts.
({0})
Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können
diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze gefährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen.
({1})
Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht
ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die
den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives
Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrieben.
({2})
Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll
sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit
die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres
Antrags.
({3})
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Ja, bitte.
({0})
Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in
ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für
die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null
bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir
damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutieren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit bekommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie
auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei
der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei
der Mittelschicht sind?
({0})
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche
Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der
Mitte sein möchte.
({0})
Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr
Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie haben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt,
die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses
Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlossen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfähige Mitte dieses Landes
({1})
nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt werden darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die
Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesrepublik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt
einen Mittelstandsbauch
({2})
und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir
angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Menschen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man
löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mittleren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert.
({3})
Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittelstand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn
man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie
80 Milliarden Euro jährlich
({4})
- lassen Sie mich doch antworten! - durch eine Vermögensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Mittelstand
({5})
- ich bin noch nicht fertig - herausziehen möchten, dann
können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie
seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man
den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag.
({6})
Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden.
Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersystem - nur darüber hat er gesprochen -, völlig zu Recht
sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die
Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen
Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem
widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt,
wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren.
({7})
Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht
verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, sondern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System beruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen,
sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es
etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht versteht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins
gleiche Horn bläst, ist bedauerlich.
({8})
Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im
Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen
Verteilungsstaat;
({9})
deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen gesprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender,
sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozialstaat.
({10})
Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtigkeit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale
Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.
Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Troost?
Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage
stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung
hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat
sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir
heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die
öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden
Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine
halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die
seitdem gemacht wurde, verloren gegangen.
({0})
Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leistung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuermehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtigkeit sorgen?
({1})
Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum.
Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgendwelche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen der
Realität überstülpen und würden dann ein auch nur ansatzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wie
gesagt, ein Irrtum der Linken.
({0})
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unter
der Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat.
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auch
unter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiv
entwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneut
nach oben korrigiert.
({1})
Was auch Sie freuen sollte - hier sollten Sie wirklich etwas Positives für die Regierung übrig haben -, ist, dass
die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt.
({2})
Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wollen. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorientierten Politik. Ihre Vergleiche hinken.
Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf einem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalition
wie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tun
es nicht.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Widerspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit und
soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.
({4})
Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Beitrag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antrag
wieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuersatzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhalten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu jeder Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehoben
und der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinuierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unteren
Einkommen getan.
({5})
1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Euro
bei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heute
liegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Prozent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für die
Empfänger niedriger Einkommen negativ und für Spitzensteuersatzzahler positiv darstelle.
({6})
Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beim
Spitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, während sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegenteilige Entwicklung.
({7})
Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu einem Steuersatz der Mitte gemacht.
Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reiche
Leute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wiederholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damit
hinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschland
ist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebildete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichen
Leuten oder von Millionären.
({8})
Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mitte
in Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die die
Mitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassieren
wollen.
({9})
Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu,
dass die Leute Ihnen auch noch glauben.
({10})
Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz der
Steuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitte
ist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit sozialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen und
Herren.
({11})
Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass
starke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigentliche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen und
auch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Grenzen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebende
Mitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen geben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft.
({12})
Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird unser Wohlstand erwirtschaftet.
Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Sie
doch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkommen in Deutschland,
({13})
die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauch
und kalter Progression auch während der Krise dazu beigetragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt und
dass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Das
ist die Leistung der Mitte in Deutschland.
({14})
Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann,
ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl,
liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in der
Krise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutschland danken:
({15})
danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finanzierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte in
Ihrem Antrag stehen müssen.
({16})
5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirtschaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteueraufkommens.
({17}): 35 Prozent
der Gesamteinkommen!)
Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften
5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollen
alles machen.
({18})
Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtigkeitsfrage.
({19})
In Deutschland darf gesagt werden - Herr Kollege
Gutting hat es ausgeführt -: Leistung darf sich lohnen;
Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Menschen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ihrer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen und
die investieren. Ich denke dabei an mittelständische Unternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risiken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhalt
in dieser Gesellschaft glauben.
({20})
Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern,
immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasien
sind schlicht und einfach nicht finanzierbar.
({21})
Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte in
Deutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umverteilungsfantasien immer noch nicht finanzierbar.
({22})
Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfolgen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land.
Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht aufbauen helfen.
({23})
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass die
Linke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuern
kämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür,
dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie auf
Sozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsere
Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgen
sie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen
sprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nicht
einmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Ratschläge nicht.
Sie führen die Menschen mit falschen Informationen
hinter die Fichte
({24})
und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandes
dieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag
selbstverständlich ab.
({25})
Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich
den Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darüber
nachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich umgehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: ein
bisschen Nachdenklichkeit darüberschütten.
({0})
Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen die
Ziele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zu
erreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen,
dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Arm
und Reich umkehren müssen und dass wir die Binnenkonjunktur stärken wollen, natürlich teilen.
({1})
Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil Ihr
Konzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit entfernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen darüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mit
Ihrem Antrag auseinandersetzen muss.
({2})
Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzept
vor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen.
Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung von
Steuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teil
pseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel bei
den ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer,
dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wie
hoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter dem
Strich haben Sie sich sage und schreibe 179 Milliarden
Euro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit Ihrem
Ziel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassen
soll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entziehen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne,
ein Rätsel.
({3})
- Das steht da aber nicht. - Ich habe noch einmal in Ihren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen ein
Konjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Das
ist eine Mininummer gegenüber diesen 179 Milliarden
Euro. Das passt also schon einmal hinten und vorne
nicht zusammen.
({4})
Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwerfen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernst
nimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnen
ansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzurechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 Milliarden
Euro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wir
Ihre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber die
Finanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzierungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschläge
nicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag ist
schlichtweg nicht ernst zu nehmen.
({5})
Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vor
der wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsende
Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wieder zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber es
braucht nun einmal ernst zu nehmende Verbündete.
Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistet
die Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vor
dem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Beitrag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute
- so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet - leistet
sich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter,
insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern,
personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung inzwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanzämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigen
Steuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast unendlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar.
({6})
Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden.
Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die Journalistin
Tissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, angesichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschen
verunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehr
grundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen:
Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirtschaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozialstaatsmodells?
Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesellschaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Darauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkreten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbare
Vorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion.
({7})
Besonders geärgert habe ich mich über Ihre sogenannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermögensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wieder
eine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhebung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, die
wir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen,
werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen.
Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieser
Situation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allen
Ernstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einem
Steuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nicht
genug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzept
müssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen von
nicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um die
Steuern zahlen zu können und bei plus/minus null herauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit seiner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. Im
Normalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Das
freut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker.
({8})
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch?
({9})
Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwert
verliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Bei
einer Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisverfall bei Aktien, Häusern, Unternehmen und Betriebsvermögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Prozent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt,
nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen.
Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Konzepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischen
Glaubwürdigkeit - das kann mir herzlich egal sein -,
sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einer
Vermögensteuer oder Vermögensabgabe.
({10})
Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer jeden ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mit
diesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allem
der Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einen
Bärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf:
Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmal
neu an!
({11})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Dr. Höll.
Danke, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin
Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in
der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als
unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir
als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermögensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die
Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es
freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und
das Thema wieder angehen wollen.
Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir haben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten.
Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen.
Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte politisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteuert werden müssen.
Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben einen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie
wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht
um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing.
Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen.
Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz andere Renditen erwirtschaften.
Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von
1 Million Euro nicht sakrosankt - das ist damals selbst in
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich abgelehnt worden -, wenn man mit einer Besteuerung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht
auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Darüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen
Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben
und als sakrosankt erklärt werden?
Hier ist über die Leistungsträger gesprochen worden. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Verschiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenommen werden, kommen aus der indirekten Besteuerung.
Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende
Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern
zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag.
Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig
bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müssen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteuern. Das muss man vorneweg stellen.
({0})
Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag richtig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der
letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die
Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe
Koalition eingeführt hat.
({1})
Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der
mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu einem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro.
Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf
die kalte Progression ein.
Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Redezeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.
Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mittlerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseitewischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das die
Unwahrheit.
Danke.
({0})
Zur Erwiderung, Frau Paus.
Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren,
wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von
machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetziger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar
dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter
Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie
spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorgeschlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich
gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sachverstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt,
Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen einen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre,
Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promovierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn
Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand
kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in
Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein solcher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann - es tut
mir leid - die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht.
Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutschland tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber
anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich
mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Koalition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bärendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil
Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren.
({0})
Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gelegenheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünftigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann!
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht
sollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik noch
einmal untereinander klären. Normalerweise sollten Opposition und Regierung hier miteinander ringen.
({0})
Ich will auf einen Punkt hinweisen - ich habe der Debatte sehr intensiv gelauscht -, der mir auffällt. Ich habe
den Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaft
bemühen, im Detail darum zu ringen, welches der richtige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche die
richtige Verteilung der Lasten ist - das betrifft letztendlich rund 82 Millionen Deutsche -, die dazu beiträgt,
dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeit
herzustellen - Starke müssen gefordert und Schwache
gefördert werden -, nachkommen kann. Keiner von uns
hat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. Die
Welt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutschland muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen.
Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstellen. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genannten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig.
Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass die
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland - übrigens am stärksten unter Rot-Grün - immer weiter auseinandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen es
in diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kindern
einen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektive
zu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wissen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschuldet ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesellschaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Land
leben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beantwortung der Frage befasst, was wir tun können. Woher
können wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen,
wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Generation nicht die richtige und verantwortungsvolle Antwort sein können?
({1})
Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung der
Schuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt.
Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt
- ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fanden ihn wahrscheinlich ehrlich -: Es gibt eine Alternative. - Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Parteien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodells
soziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, die
eine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mit
der heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat.
Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ich
werfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim.
({2})
Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ich
sage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sie
ist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt
gescheitert.
({3})
Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch das
gehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellung
von dieser Gesellschaft.
Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe den
letzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hat
damals an der einen Laterne plakatiert - Sie erinnern sich
vielleicht -: „Reichtum für alle“. An der nächsten LaDr. Frank Steffel
terne hing ein Plakat: „Reichtum besteuern“. Ja, meine
Damen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steuern für alle.
({4})
Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklich
geht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhaupt
nichts zu tun.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auch
mit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierige
Debatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zum
Teil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet und
damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weiß
auch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuer
nicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unternehmensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlich
auch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massiv
dazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in den
Kommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung stehen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern.
Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennen
aus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfeld
das Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert,
man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steuern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen.
Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteuern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zahlen, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. Meine
Damen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen in
Deutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- und
Einkommensteuern.
({6})
Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zur
Kenntnis nehmen.
({7})
Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl:
50 Prozent der Steuerpflichtigen - das sind übrigens auch
fleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen aufstehen und arbeiten - zahlen nur 5 Prozent der Lohn- und
Einkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Menschen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Eindruck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem,
der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen.
({8})
Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Entscheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit diesem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euro
erhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungsbeiträge abgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eine
Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in
Deutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen keinen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganz
soziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerechter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Gesellschaft schon überhaupt nicht mehr.
({9})
Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde
gern eine Zwischenfrage stellen.
Nein. - Wir haben weitere Fakten, die spannend sind.
Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch das
kurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grün
gesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach der
deutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu bewältigen, um das auch einmal klar zu sagen.
({0})
Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Prozent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch das
nur zur Versachlichung der Debatte.
Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 Prozent
Reichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind
47,48 Prozent. Hinzu kommt - dies möchte ich auch einmal erwähnen -, dass 55 Millionen Deutsche Mitglied
einer Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oder
fast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 Prozent
Kirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinnvolle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergebnis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Menschen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, den
man verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch das
gehört zur Wahrheit in diesem Land.
({1})
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden von
Millionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zuschauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es in
Deutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Million
verdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es
9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Million verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob sie
zu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade recht
ist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschen
brutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zum
Sozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen und
in die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich für
größer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debatte
hilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millionäre.
Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indirekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt es
Gerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren des
täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt man
in diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer,
nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonsten
für alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir in
den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese
7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit der
Mehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel
- das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die wenig Geld haben - weiterhin nur mit 7 Prozent besteuert
werden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwortungsvollen und gerechten Politik.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von den
Steuern, über die wir hier alle reden und streiten, im
Bundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandt
werden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen der
Bundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers,
wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt,
die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnen
übrigens alle gerne geben.
Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedanken
von Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ich
finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende des
Versorgungsstaates der soziale Untertan steht und nicht
der eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tun
nach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zuzutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialen
Marktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durch
permanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zu
machen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschaft
hemmt und zweitens nach meiner Einschätzung dieses
Land im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nicht
voranbringt.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Troost.
Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik.
Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner
Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen
anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: „Soundso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der
Steuereinnahmen“; aber man muss auch einmal zur
Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkommenskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen
10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des
Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesamten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben
keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man
kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen,
sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Einkommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht
man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist
eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach
einmal genau anschauen.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ein Armutszeugnis - das muss ich in der Tat so sagen -, dass hier von der Regierungskoalition immer
wieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnen
muss.
({0})
- Herr Wissing, melden Sie sich.
({1})
Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvollziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einer
Zwischenfrage nehme ich mir gerne. - In der Tat müssen
Menschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem,
was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nicht
leben können, ihre Familie nicht ernähren können, anschließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bitte
noch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leistung muss sich lohnen.
({2})
Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch ist
oder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde es
menschenverachtend.
({3})
Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es
hier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruck
gewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktionen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hier
gemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderem
verursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkte
der Krise im Einzelnen beschreiben und national bewältigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionen
hier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werden
wollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hier
von der Regierung - zu einem gewissen Zeitpunkt hatte
ich das Gefühl, es handele sich teilweise um einen
Selbstfindungsklub - auf den Weg gebracht worden ist,
war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich für
die Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungsträger Politik machen wollen.
Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechen
auf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebene
oder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten Endes Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau von
der Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen der
Haushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist;
es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die
Petra Hinz ({4})
Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie in
Sportvereine und woandershin gehen können.
({5})
Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Finanzsituation stecken?
({6})
Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzen
Beschlüssen, die Sie hier gefasst haben - Klientelpolitik
und Geschenke -, den Kommunen in dieser schwierigen
Situation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil alles so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigsten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Gebührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Ende
vom Lied.
Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistiken
oder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafür
gibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen,
dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darüber
nachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, um
eine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzufinden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichenden
Einnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren für
Bibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater und
sonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyen
ach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förmlich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bildungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das ist
heuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommunen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmen
und auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnen
ganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sind
dann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keine
Leistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert würden.
Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdem
Sie die Verantwortung haben oder wenigstens hätten
übernehmen sollen - Sie sollen endlich einmal dazu stehen, dass Sie Verantwortung haben -, dazu beitragen
können, dass die Kommunen entlastet werden. Aber
nein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein,
die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Gewerbesteuer abzuschaffen.
({7})
In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemeinsam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema überhaupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alternative zur Gewerbesteuer gibt.
({8})
Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überraschungspaket herauskommen wird; denn wir bekommen
im Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nachfrage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nur
einen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich darauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koalition dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mit
der Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde.
Nicht zuletzt war es unser Finanzminister Peer
Steinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tisch
gelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelligente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten.
Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei Ihrer
Klientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastung
der Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen,
dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmen
mussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern haben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommunen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist absolute Klientelpolitik.
({9})
- Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einen
Mindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wir
brauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden;
aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sich
dann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einen
Mindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich,
wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, der
gerade einmal 8,50 Euro bekommt - das wäre gerade so
eben ein Mindestlohn - zu leisten hat? Davon haben Sie
gar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinversetzen können.
({10})
Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro verdient - es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigentlich mehr -, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro an
Steuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehören die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich den
Menschen helfen zu können.
Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen - ({11})
- Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lächelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit den
Nöten der Menschen umgehen, dann wundert es mich
auch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, warum wir einen Mindestlohn brauchen.
({12})
Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Über
diese Menschen müssen wir uns unterhalten
({13})
Petra Hinz ({14})
und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und für
das Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wenn
wir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir alles
das angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlich
angesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Notlagen, öffentliche Infrastruktur.
({15})
Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich muss
sagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punkten, über die man im Einzelnen reden müsste.
({16})
Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ihrer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nachzuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion im
Ausschuss gespannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Daniel Volk.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es gerade sehr faszinierend,
({0})
dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölf
Monaten alles nicht gemacht haben,
({1})
aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen.
({2})
Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier als
Wunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsverantwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Beitrag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis.
({3})
- Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regieren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie
sich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koalition in bester Partnerschaft Regierungspolitik zum
Wohle unseres Landes gestalten,
({4})
im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanzminster - einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so -,
gerade im Bereich der Kommunalfinanzen.
Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenig
Einnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügung
hätten.
({5})
Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, und
das war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverantwortung.
({6})
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass die
Übertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ihnen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zur
Verfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der damaligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssen
Sie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen.
({7})
Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Es
hat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-rote
Regierung in diesem Land machen würde.
({8})
Frau Kressl hat uns dargelegt
({9})
- pastoral -, man müsse sich zunächst Gedanken darüber
machen, wie viel Geld der Staat brauche,
({10})
erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuerbelastung sein müsse.
({11})
Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landes
sollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen.
({12})
Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne
Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei.
({13})
Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich - ganz
deutlich - in die Erhöhung der Neuverschuldung zu gehen.
({14})
Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbiges
auf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahrscheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt der
Linkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie duldet.
({15})
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatzpunkt.
({16})
Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen,
wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich
({17})
zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlast
der Bürger aussieht.
({18})
Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen würden. Sie haben ja die Maßnahmen genannt.
Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, Frau
Paus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabe
einführen wollen.
({19})
Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich finde
es übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermögensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazu
führen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw.
konservativ anlegen - Kollege Gutting hat es ausgeführt -,
aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten.
Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskanten
Spekulanten machen.
({20})
Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas,
was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen.
({21})
Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderen
Bereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit in
diesem Land geben würde und diese an die Macht käme.
Diese würde - Sie sagen das so schön - für eine Verstetigung der Gewerbesteuer sorgen.
({22})
Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verstetigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbesteuerung.
({23})
Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden Sie
Betriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe in
Deutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland ziehen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Betriebsführung überhaupt noch möglich.
({24})
Es ist also sehr interessant, was passieren würde,
wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Macht
übernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, es
gäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigens
mit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegenden Einkommensklassen.
({25})
Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteuerung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erbschaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung,
dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die innerhalb der Familie weitergegeben werden sollen, so stark
zur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären,
diese Unternehmen plattzumachen.
({26})
Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik.
Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt diese
Bundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktdaten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvolle
Politik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistung
kann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sinken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koalition.
Vielen Dank.
({27})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambke
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat es
schon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhe
von 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro von
den Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plädieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aber
die Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierung
des Staates haben eine große Bedeutung. Ich will deshalb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuern
und Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze.
Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ist
es natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitrag
zur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen Infrastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlast
von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger
ist inakzeptabel.
({0})
Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Unternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht,
wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligt
werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräftemangel begegnet man mit besserer Bildung; diese muss
finanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Datennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es ist
also ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen an
der Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu beteiligen.
({1})
- Hören Sie zu.
So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
der Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig.
({2})
Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eine
Statikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber ein
Ingenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuerpflichtig ist.
({3})
Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigt
werden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebung
der Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu den
Kommunen.
({4})
Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würde
ein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraum
für eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung auf
die freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung genommen würde.
Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zur
Finanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuziehen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu berücksichtigen.
({5})
Es geht um eine faire Belastung von Konzernen und
kleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass
zum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsbanken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körperschaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch bei
den Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairen
Ausgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne genauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Es
muss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogen
ist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen.
({6})
Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet,
dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koalition vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Denn
wir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen,
der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Man
kann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Fraktion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobby
macht,
({7})
wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre.
({8})
Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßigung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nicht
das geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördern
und zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Das
wissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um die
Hotelbeglückungssteuer.
({9})
Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung der
rein branchenspezifischen und nicht ausreichend begründeten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazu
zählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in den
von Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchgesetzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen für
Schnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaffung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis
4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu reDr. Thomas Gambke
alisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Stabilisierung der staatlichen Einnahmen.
({10})
Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lutze?
Gerne.
Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufgezählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer
aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den
öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein
ermäßigter Steuersatz erhoben wird?
Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter
Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhören, werden Sie meine Aussage dazu hören.
Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig
aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen
vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Lebensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur
bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen
ausnehmen.
({0})
Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der
Abschaffung von Branchensubventionen - Hotelbeglückung - die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten
lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble
davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die
CSU - so hört man - noch immer eifrig ihre Klientelgeschenke.
({1})
Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem
schwierigen Feld.
Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteuersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförderung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im
Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es
schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche Anliegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um
mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger
Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der
Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer,
die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unternehmensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen
fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne
verhindert. Das müssen wir umsetzen.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Gysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäftigung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint haben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die vereinigte Opposition darüber streitet, wer am besten
Umverteilungsorgien gestalten kann.
({0})
Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteil
dieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeit
der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattieren
können.
Ich sage frank und frei - das möchte ich für die
Unionsfraktion festhalten -: Die CDU/CSU-Fraktion
möchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben,
um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurs
zur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazu
gehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesserung unseres Steuersystems durch eine umfassende
Steuervereinfachung. Wir werden im Januar des kommenden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unterbreiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von der
Kollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensiv
vorbereitet worden.
Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie im
Steuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch
bei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wir
werden eine Kommission einsetzen.
({1})
Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichenstellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werden
die Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht auf
die lange Bank schieben, weil die momentane Situation
nicht so bleiben kann. Nun zu sagen: „Es waren die
Wünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwierigen Abgrenzungen geführt haben“, ist falsch. Ich kann
mich an die lange, intensive Diskussion mit der Kollegin
Scheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Sie
müssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetragen hat.
Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig auf
den Bereich der Daseinsvorsorge - Lebensmittel und
kulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personennahverkehr halte ich für wichtig - beschränkt werden
würde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen verwenden, um die kleinen und mittleren Einkommen in
Verbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten.
Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa
5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittleren Einkommen, insbesondere was den Mittelstandsbauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein.
Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht die
Wachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Es
muss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voranzubringen, und das werden wir auch tun.
({2})
Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unser
Vorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nicht
ohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschuldung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen.
({3})
Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenreduzierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beiden
Seiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wir
dort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvoll
und notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertragsteuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch die
Grundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapitalbildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden.
Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesem
Bereich etwas tun würden.
Wir haben bereits - das war wesentlich für die Krisenbekämpfung - die unteren und mittleren Einkommen
entlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich.
Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohen
Freibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euro
in die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik.
({4})
Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und weniger
Transferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dass
Sie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wollen.
({5})
Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auch
in Ihrem Antrag verfolgen.
Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, die
Schuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zukunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zu
schaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstand
für alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechten
Besteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähige
nicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zu
schaffen. Leistung muss sich lohnen.
({6})
Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch für
den Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuerstatistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse verzeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert.
Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbewerb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht einfach so tun, als wäre man allein auf der Welt.
({7})
Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurf
ist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. Ihr
Konzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher ein
Weg zurück.
({8})
Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die vielleicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft,
sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sich
die Statistik über die Steuerzahler und die Belastungswirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Menschen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt natürlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügung
hat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehr
Verbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grundlage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie der
Kollege Dr. Steffel gesagt hat:
({9})
Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Prozent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steueraufkommens.
({10})
Das ist die Realität.
Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzentration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land
9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlageoder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auch
automatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Arbeitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschen
nicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnen
doch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risiko
und mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sich
im Großen und Ganzen - wir müssen sie im Einzelnen
betrachten - ihrer Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehr
wohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass diese
Leute an den Pranger gestellt werden.
({11})
Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auch
die Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute in
vielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent besteuern.
({12})
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. Wenn
Sie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermögen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Erhöhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen.
Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dann
reichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist also
alles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles keinen Sinn.
Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, die
Sie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ich
Ihnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn machen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dann
müssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mitteln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Betriebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Vernunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich braucht
der Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhalten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize geschehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steuerpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitik
ist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Arbeit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik der
Vernunft, wie wir sie betreiben.
Herzlichen Dank.
({13})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägen
für Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen,
der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneut
versucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zu
verändern,
({0})
ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission
abzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vor
den Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission haben
und warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, die
im Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde es
denjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeit
und Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair,
die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost,
erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hier
führen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutieren können. In der Kommunalkommission dürfen sie
mitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter der
Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, über
die Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden.
({1})
Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Vertretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände gemeinsam nach Lösungen suchen.
Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abgewinnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer umarbeiten
({2})
und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehreinnahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro.
({3})
Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie gehen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für die
Unternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder
14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen.
({4})
Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriöser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich inhaltlich besser mit ihm befassen können.
({5})
Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Gewerbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen bei
der Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfahrungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurechnung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu einer Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. Die
Unternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in die
Krise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen,
die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unternehmen, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogar
Verlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in der
Verlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Sicherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wir
nicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versuchen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzunehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunen
finden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommission Vorschläge unterbreiten.
({6})
Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan der
Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, und
zwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon betroffen wäre - Sie wissen selbst, dass mich das aufgrund
der Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belasten
würde -, sondern weil wir uns in anderen Gremien viel
Mühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Was
würde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler
bedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler.
Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärungen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheide
und 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide bedeuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge,
durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden;
({7})
denn in ganz großem Umfang würde das über die Einkommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ihnen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund das
Geld einfach so an die Kommunen überweist. Die Bürokratie und die damit verbundenen Kosten könnten wir
uns dann sparen.
({8})
- Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kann
den Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigene
Zuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlich
beschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. In
der Krise hat er das ja auch getan.
Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheiten
komplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mir
zuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie können
das aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keine
Phase, in der die Kommunen stärker belastet wurden als
zwischen 2002 und 2005.
({9})
SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruin
getrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesituation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der
10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zur
Verfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeindefinanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dass
wir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnis
beenden können.
Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewerbesteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aussage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mit
Ihnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu.
Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hält
Sie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag,
den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteres
Mal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlich
nur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen.
Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Milliarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzigen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darum
gebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzichten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirksam, aber Fakten schaffen Sie nicht.
Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haushaltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf
1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispiel
nennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: Die
Städte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispielsweise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro
Einwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Delmenhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also die
Gewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden Sie
Städten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sorgen haben, würde das gar nicht nützen.
({10})
Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zugestehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie,
dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aber
legen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen,
die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor.
({11})
Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter der
Kommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Troost?
Gerne.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so - das wissen wir -, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen
den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen
von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden
und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert.
Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Gewerbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher
gerechtere Verteilung.
({0})
Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirtschaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen werden, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebetriebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission
zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept
des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Natürlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen besonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben
bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen
durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer
ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt
keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kommunalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu stabilisieren.
Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es andere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit der
Gemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen.
({0})
Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warum
Sie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung der
Gewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nicht
getan.
({1})
- Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. - Ich würde jetzt
gern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dass
die Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nicht
so stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ich
nicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch die
Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuen
Ländern erzielen natürlich andere Einkommen als die in
den alten Ländern. Also werden die Verwerfungen bleiben. Wir können diese Diskussion gern fortführen.
({2})
Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbesteuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfungen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zu
ändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen daraus
aber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieser
Antrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungen
ja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen.
({3})
- Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohr
nicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn das
lenkt mich von meiner Rede ab.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitiker
sich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen Ihre
Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollends
über den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender einen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert.
Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostet
die Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhöhung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II und
bei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhöhung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Milliarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich
143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu massiven Problemen. Wir werden auch das in der Kommission besprechen müssen.
Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bildungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch werden die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme das
kostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kommunen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kinder ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten und
Schulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind und
Mahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür investiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es Sozialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuch
von kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipation in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wird
der Bund im Rahmen des Bildungspakets in Zukunft
Kosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insgesamt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld
kommt bei den Menschen auch tatsächlich an.
Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachweisen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Für
das kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro,
die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen
1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützung
von Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf
150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürftiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf
40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Euro
werden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Arbeit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dass
die Kommunen entlastet werden, oder dazu - das würde
ich mir wünschen -, dass diese Angebote ausgeweitet
werden können, sodass alle Kinder, auch Kinder aus
Niedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können.
({4})
Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatte
führen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städten gemacht werden. Diese Städte können künftig auf
die Unterstützung des Bundes hoffen.
Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister und
Stadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatte
einzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur so
gut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter gemeinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurch
das eine oder andere Problem in den Kommunen gelöst
wird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Diskussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht ständig zu zerreißen.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 l
und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung
({0})
- Drucksachen 17/3116, 17/3211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwi6838
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
schen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland, der Regierung des Königreichs
Belgien, der Regierung der Französischen Republik und der Regierung des Großherzogtums Luxemburg zur Einrichtung und zum
Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der
Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemeinsamen Grenzgebiet
- Drucksache 17/3117 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz im
Hinblick auf den Vertrag von Lissabon
- Drucksache 17/3118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2011 ({4})
- Drucksache 17/3119 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-
barung vom 20. April 2010 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Quebec über Soziale
Sicherheit
- Drucksache 17/3120 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen
vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
einerseits und dem Königreich Marokko andererseits ({6})
- Drucksache 17/3121 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({7}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Betroffene Kultureinrichtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone angemessen entschädigen
- Drucksache 17/3177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({9}), Dr. Hans-Peter Bartels,
Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern
- Drucksache 17/3178 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Ortel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik
zum Erfolg führen
- Drucksache 17/3179 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen der EU-Fischereireform 2013 nutzen
und Gemeinsame Fischereipolitik grundlegend reformieren
- Drucksache 17/3209 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nachholen
- Drucksache 17/3210 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({16}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({17})
Innovationsreport
Blockaden bei der Etablierung neuer Schlüsseltechnologien
- Drucksache 17/2000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
5 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schaffung von Rechtssicherheit für Carsharing-Stationen und Elektrofahrzeug-Stellplätze
- Drucksache 17/3208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächenerwerbsverordnung ({20})
- Drucksache 17/3183 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sank-
tionen aussetzen
- Drucksache 17/3207 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Pakistan nach der Flut langfristig unterstützen und Schulden umwandeln
- Drucksache 17/3206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist; es geht dabei um den
Tagesordnungspunkt 33 k. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nachholen“ auf Drucksache 17/3210 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen
Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Zunächst stimmen wir über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Vorschlag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP ab, das heißt Federführung
beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Nun kommen wir zu den unstrittigen Überweisungen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu dem Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes auf Drucksache 17/3116 - Tagesordnungspunkt 33 a - liegt zwischenzeitlich auf Drucksache 17/3211 die Gegenäußerung der Bundesregierung
vor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf
überwiesen werden soll. Sind Sie mit all dem einverstan6840
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
den? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 34 a
bis 34 q. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die weitere Bereinigung von Bundesrecht
- Drucksache 17/2279 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23})
- Drucksache 17/3109 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Dr. Edgar Franke
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3109, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
19. März 2010 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Informationsaustausch
- Drucksache 17/3026 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({24})
- Drucksache 17/3200 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Kolbe ({25})
Dr. Thomas Gambke
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3200, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3026 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des
Rates über Finanzbeiträge der Europäischen
Union zum Internationalen Fonds für Irland
({26})
- Drucksache 17/2629 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({27})
- Drucksache 17/3232 Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Jasper
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/3232, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/2629 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung, nämlich mit den Stimmen des ganzen
Hauses, angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Mauthöheverordnung ({29})
- Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3161, der Verordnung auf
Drucksache 17/2891 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den StimVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({30}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher
Vorschriften
- Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3170, der Verordnung auf
Drucksache 17/2821 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31}) zu
der Unterrichtung
Grünbuch zur Corporate Governance in
Finanzinstituten und Vergütungspolitik ({32})
KOM ({33}) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10
- Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Burkhard Lischka
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Ich lasse über
diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? ({34})
- Herr Kollege, ich registriere die Mehrheiten auch ohne
Ihre Kommentare. Ich danke Ihnen.
({35})
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009
- Drucksache 17/3100 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
Christian Lange ({36})
Stephan Thomae
Dr. Dagmar Enkelmann
Dazu liegt eine persönliche Erklärung der Kollegin
Dr. Enkelmann nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor.1)
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({37}) zu dem Antrag der Fraktion der
SPD
Die Fußballweltmeisterschaft - Eine Chance
für Südafrika
- Drucksachen 17/1959, 17/2493 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({38})
Dagmar Freitag
Jan van Aken
Kerstin Müller ({39})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2493, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1959 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 i bis
34 q.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
- Drucksache 17/3069 -
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 138 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
- Drucksache 17/3070 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 139 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
- Drucksache 17/3071 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 141 zu Petitionen
- Drucksache 17/3072 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 142 zu Petitionen
- Drucksache 17/3073 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 143 zu Petitionen
- Drucksache 17/3074 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46})
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
- Drucksache 17/3075 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({47})
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
- Drucksache 17/3076 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 145 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({48})
Sammelübersicht 146 zu Petitionen
- Drucksache 17/3077 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit haben wir alle diese Abstimmungen über die
Bühne gebracht.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({49}) zu dem Antrag der Abgeordneten ErnstReinhard Beck ({50}), Peter Altmaier,
Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung
- Drucksachen 17/2433, 17/3229 Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
Elke Hoff
Harald Koch
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde
darüber zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Regierungskoalition zur Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung unserer
Soldaten ist notwendig, richtig und angemessen. Warum?
Weil die Erfahrung im Umgang mit der Versorgung von
Soldaten im Einsatz ungerechtfertigte Versorgungslücken
für Berufssoldaten, insbesondere für Zeitsoldaten, für
freiwillig länger Dienende und für Reservisten deutlich
gemacht hat.
Die versorgungsrechtlichen Regelungen für Soldaten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Schaden
kommen, sind in den letzten Jahren bereits wesentlich
verbessert worden. Auf Initiative unseres früheren Bundesministers der Verteidigung, Franz Josef Jung, wurde
im Jahr 2007 mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz
die notwendige Ergänzung des Einsatzversorgungsgesetzes beschlossen. Das Einsatzversorgungsgesetz regelt
die finanzielle Absicherung und das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz die Weiterbeschäftigung geschädigter
Soldaten.
Die Erfahrungen aus den Einsätzen haben uns gezeigt, dass eine Anpassung dieser Regelungen notwendig ist, um deutlich gewordene Versorgungslücken gerechtigkeitshalber und fürsorgehalber zu schließen. Das
haben wir in der CDU/CSU erkannt und als Verteidigungspolitiker in dem vorliegenden Antrag umgesetzt.
Auch das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee.
In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, sehr geehrter Herr Minister zu Guttenberg, und Ihrem Ministerium dafür, dass Sie bei allen notwendigen Entscheidungen um die Sicherheit unseres Landes immer das Wohl
unserer Soldaten im Blick haben und uns auch in dieser
Angelegenheit unterstützen.
({0})
Ich danke an dieser Stelle auch dem Deutschen BundeswehrVerband, der auf diese Regelungslücken hingewiesen hat. Es ist eine besondere Geste, dass Sie, lieber
Herr Oberst Kirsch, als Vorsitzender des BundeswehrVerbandes dieser Debatte beiwohnen. Das ist ein deutliches Zeichen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Arbeit zum Wohle unserer Soldaten.
({1})
Worum geht es bei diesem Antrag? Im Kern geht es in
der Fortentwicklung erstens darum, die Beiträge der einmaligen Entschädigung zu erhöhen, da der jetzige Betrag der Höhe nach keine angemessene Entschädigung
darstellt. Zweitens sind die Schadensausgleichszahlungen auch an juristische Personen zu gewährleisten, damit
praxisnah, zum Beispiel bei abgetretenen Versicherungsansprüchen, eine Auszahlung erfolgen kann. Drittens ist
die Höhe des anspruchsbegründenden Schädigungsgrades von 50 auf 30 Prozent zu reduzieren, weil bei psychischen Erkrankungen die Erwerbsminderung nicht äußerlich erkennbar ist und zusätzlich die Kausalität in
dieser Höhe schwer nachzuweisen ist. Deswegen muss
der Grundsatz gelten: Im Zweifel für den verwundeten
Soldaten.
({2})
Eine bessere Nachversicherungsregelung sowie die
Rückführung der Stichtagsregelung auf den Beginn der
Auslandsmandate rundet diese Regelung ab. Es sollte
auch das Ziel sein, eingesetztem Zivilpersonal mit besonderen Auslandsverwendungen ähnliche Erleichterungen zu verschaffen.
Ich danke an dieser Stelle den mitberatenden Ausschüssen, die mit ihrer fraktionsübergreifenden Zustimmung der Annahme unseres Antrages zugestimmt haben, leider stets mit Ausnahme der Fraktion Die Linke,
die bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis zu unserer Bundeswehr und damit zu Sicherheit, Recht und Ordnung in unserem Staat hat.
({3})
Die Union ist die Partei der Bundeswehr. Das hat sie
bei ihren Entscheidungen zur Gründung der Bundeswehr, zum Beitritt der NATO und bei der Entwicklung
zur Armee der Einheit erfolgreich unter Beweis gestellt.
Das Gleiche gilt auch für die aktuelle notwendige Strukturreform sowie für den heute zu beratenden Antrag.
Der Deutsche Bundestag beschließt die Entsendung
von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete und
Konfliktregionen nach Europa, Afrika und Asien. Den
daraus erwachsenden Herausforderungen müssen wir in
besonderem Maße Rechnung tragen. Denn militärische
und zivile Auslandsverwendungen in Krisengebieten
sind mit hohen Gefahren für Leib und Leben verbunden.
Mit Entsetzen müssen wir heute erfahren, dass wieder
einer unserer Soldaten gefallen ist und weitere verwundet worden sind. Das bedrückt uns sehr.
Unsere Bundeswehr stellt bis zu 7 000 Soldaten und
bildet damit den Schwerpunkt dieser militärischen und
zivilen Missionen, die auch der Sicherheit unseres Landes dienen. Die besonderen Dienstbelastungen - auch in
Kampfhandlungen unter Einsatz von Leib und Leben stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Dieser besonderen Situation wollen wir mit unserem Antrag
gerecht werden.
Die Bundeswehr steht im Rahmen der notwendigen
Strukturreform vor der Herausforderung, auch zukünftig
ein noch attraktiverer Arbeitgeber zu sein. Dafür muss
die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Unsere
Soldaten verpflichten sich, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen sowie das Recht und die Freiheit tapfer zu verteidigen. Sie stehen zu ihrer übernommenen
Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes. Dafür
danken wir Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten, herzlich.
({4})
Wir in der Union stehen zu unseren Soldaten aus Verantwortung, aus Fürsorge und aus politischer Überzeugung und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag.
({5})
Der Bundesminister der Verteidigung, Herr zu
Guttenberg, hat um das Wort gebeten, um eine Mitteilung zu machen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich hat soeben eine sehr traurige Nachricht erreicht.
Wir haben offenbar bei einem Selbstmordanschlag auf
eine ISAF-Patrouille unserer Soldaten nördlich von Pol-iKhumri nach derzeitigem Stand einen gefallenen Soldaten und sechs verwundete Soldaten zu beklagen. Es ist
eine erste Information, die ich Ihnen in diesem Hohen
Hause geben muss und geben will.
Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Soldaten
und ihren Familien. Wir werden natürlich, sobald wir
Weiteres wissen, Sie alle entsprechend informieren. Der
gefallene Soldat und die verwundeten Soldaten befanden
sich in einem Einsatz, der unserer Sicherheit dient und
der in diesem Hause beschlossen wurde. Ich glaube, es
gehört sich, diese Information weiterzugeben. Unsere
Gedanken und Gebete sind bei den Familien und bei den
Soldaten.
Ich danke Ihnen.
Herzlichen Dank, Herr Minister.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, diese furchtbare Nachricht, die uns
aus Afghanistan erreicht, sollte uns alle dazu bringen, innezuhalten und noch einmal über die Verantwortung
nachzudenken, die wir als Parlamentarier gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, ich
spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unser aller
Mitgefühl und unsere Gedanken den Familien des Gefallenen und der Verwundeten gelten.
Sehr geehrte Damen und Herren, es steht jeder Abgeordneten und jedem Abgeordneten frei, sich für oder gegen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in einen Auslandseinsatz zu entscheiden. Diese Entscheidung
müssen wir letztendlich mit unserem Gewissen vereinbaren. Das, was dieses Haus jedoch einen sollte, sind die
Anerkennung, der Respekt und die Fürsorge für das, was
unsere Soldaten tagtäglich unter Einsatz ihres Lebens
leisten.
({0})
Wir als Abgeordnete sind es, die unsere Soldaten auf
schwierige Missionen schicken. Wir sind es, die Familien für einen langen Zeitraum auseinanderreißen. Wir
sind es, die gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft
für unsere politischen Entscheidungen ablegen müssen.
Wir sind es aber auch, die eine Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und ihren Familien wahrzunehmen
haben. Wir haben diese Fürsorgepflicht vor, während
und nach dem Einsatz.
Kommt ein Soldat im Einsatz etwa durch einen Unfall
zu Schaden, müssen wir gewährleisten, dass es umfangreiche, schnelle und unbürokratische Hilfe für den Soldaten und seine Familie gibt. Es ist deshalb richtig, dass
wir heute hier im Bundestag eine wegweisende Entscheidung der rot-grünen Regierung und vor allem des
ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck weiterentwickeln und das Einsatzversorgungsgesetz in wichtigen Kernpunkten verbessern. Peter Struck war es, der
die Notwendigkeit erkannte, der veränderten Auftragsrealität der Bundeswehr einen neuen Rechtsrahmen zu geben und die Fürsorge des Staates gegenüber den Soldaten erheblich zu verbessern. Hierfür gebührt ihm auch
nachträglich unser aller Dank.
({1})
Die Weiterentwicklung des Gesetzes, wie sie heute
hier von den Regierungsfraktionen eingefordert wird,
findet in allen Punkten unsere Unterstützung. Wir hätten
uns gewünscht, dass ein solcher Vorstoß aus dem Ministerium kommt, und wir hätten uns auch gewünscht, dass
versucht worden wäre, diesen Antrag gemeinsam mit
den Oppositionsfraktionen zu formulieren. Das wäre ein
wichtiges Zeichen gewesen, das wir hier im Bundestag
hätten setzen können.
({2})
Ich bin aber dankbar für Ihre Zusage gestern im Ausschuss, Frau Hoff, dass wir im konkreten Gesetzgebungsverfahren eine gemeinsame Linie entwickeln werden. Meines Erachtens sollten die Gemeinsamkeiten im
Vordergrund des Wirkens in diesem Hause stehen, wenn
es um unsere Soldatinnen und Soldaten geht.
Gerade für Nichtberufssoldaten wird mit dem Forderungskatalog eine erhebliche Verbesserung erreicht. Die
Ausgleichszahlungen werden erhöht, die rechtliche Stellung der Soldatinnen und Soldaten wird verbessert, und
die Einsatzzeiten werden künftig höher angerechnet. Das
sind wichtige Schritte, die wir hier als Parlamentarier gehen wollen. Die ersten deutschen Soldaten wurden 1992
ins Ausland geschickt. Der heutige Antrag formuliert
deutlich die Gleichbehandlung aller Einsätze. Auch dies
ist ein notwendiger Schritt.
Die Verantwortung des Staates gegenüber unseren
Soldaten bedeutet auch, die Bewältigung der posttraumatischen Belastungsstörungen endlich entschlossen anLars Klingbeil
zugehen. Immer mehr Soldaten kommen mit solchen
Störungen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse aus
dem Einsatz zurück. Viele Soldaten haben Grauenhaftes
erlebt, Bilder, die sie jahrelang nicht vergessen, die sie
nachts nicht schlafen lassen und die tagsüber einen geregelten Alltag nicht zulassen. Diese seelischen Verwundungen haben erst in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Dass dies nun so ist,
ist - das sage ich hier ganz deutlich - zu einem großen
Teil das Verdienst des ehemaligen Wehrbeauftragten
Reinhold Robbe, der immer unermüdlich dafür gekämpft hat, dass die posttraumatischen Belastungsstörungen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit finden.
Auch ihm gebührt unser Dank.
({3})
Es ist richtig, dass wir die Situation der an PTBS erkrankten Soldaten verbessern und wir beispielsweise die
Verfahrensdauer drastisch reduzieren wollen. Aber auch
hier gehört zur Wahrheit: Wir stehen noch am Anfang.
Unsere Maxime im konkreten Gesetzgebungsverfahren
muss lauten, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in
den letzten 18 Jahren im Ausland verletzt wurde, egal ob
körperlich oder seelisch, die bestmögliche Behandlung
erhalten. Das müssen wir als Parlamentarier garantieren;
wir werden im Gesetzgebungsverfahren auch die Verbände und Experten einbeziehen müssen, um hierfür die
bestmögliche Regelung zu finden.
Es sind große Schritte für die Anerkennung der Leistung der Soldaten und für den Respekt gegenüber den
Soldaten, die wir heute unternehmen. Ich sage aber auch:
Das reicht nicht! Es reicht nicht, wenn dieses Parlament
sich nach der Verabschiedung des heutigen Antrags zurücklehnt, sich auf die Schulter klopft und sagt: Jetzt haben wir etwas für die Soldaten getan. - Denn es bleibt
noch viel zu tun.
Der Anerkennung, dem Respekt und der Fürsorge
hätte es auch gedient - das will ich hier deutlich sagen -,
den Soldaten wieder das volle Weihnachtsgeld auszuzahlen, wie die Kanzlerin es versprochen hatte.
({4})
Wenn der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes in diesem Zusammenhang von einem Wortbruch spricht, dann
muss ich ihm recht geben. Man muss sich an dieser
Stelle fragen: Welches Signal kommt eigentlich bei den
Soldaten an, wenn wir sie einerseits in immer gefährlichere Einsätze schicken und andererseits hier zu Hause
auf ihrem Rücken Sparmaßnahmen umsetzen? Ich hoffe,
dass im Rahmen der Haushaltsberatungen die Regierungskoalition noch zur Einsicht kommt. Aber ich sage
heute: Verantwortungsvolle Politik sieht an dieser Stelle
anders aus.
Herr Minister, ich hätte mir von Ihnen dazu deutlichere Worte gewünscht.
({5})
Sie sind der derzeit populärste Politiker in Deutschland.
Warum nutzen Sie dieses politische Gewicht nicht, um
sich vor die Truppe zu stellen und in diesem Punkt Verbesserungen für die Soldaten zu fordern? Das wäre ein
wichtiges Zeichen auch für die Anerkennung der Truppe
gewesen.
Das Weihnachtsgeld gehört zur Attraktivität des Soldatenberufs. Wir alle wissen doch, dass es darauf ankommt, in den nächsten Monaten maßgebliche Schritte
zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu gehen. Gerade dann, wenn die Wehrpflicht fällt und wir die
Nachwuchsgewinnung ausbauen müssen, brauchen wir
einen attraktiveren Dienst in der Bundeswehr. Deswegen
sage ich für uns Sozialdemokraten, dass im Rahmen der
Bundeswehrstrukturreform ein Programm zur Steigerung der Attraktivität zwingend notwendig ist. Nur dann,
wenn wir auch die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr erhöhen, wird eine Strukturreform gelingen.
Da ich beim Thema Reform bin, will ich hier deutlich
sagen: Herr Minister, reden Sie Klartext hinsichtlich der
Standzeiten im Auslandseinsatz. Reden Sie Klartext darüber, welche Standzeiten Sie für die Bundeswehrplanung zugrunde gelegt haben. Derzeit sind es vier Monate.
Die Befürchtungen bei uns, aber auch in der Truppe sind
doch aber, dass wir mit einer personell reduzierten Bundeswehr zu erheblich höheren Standzeiten kommen werden. Hier sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblieben. Sagen Sie der Truppe, sagen Sie dem Parlament, in
welche Richtung Ihre Planung geht. Auch das sind Sie
den Soldatinnen und Soldaten schuldig.
({6})
Ich sage auch: Zur Fürsorge gehört eine optimale Einsatzvorbereitung. Die Vorbereitung, mit der wir unsere
Soldaten in den Einsatz schicken, reicht nicht. Hier haben wir als Politik eine große Verantwortung. Wir schicken Soldaten nach Afghanistan, obwohl wir wissen,
dass sie an den Fahrzeugen, die dort für den Schutz ihres
Lebens wichtig sind, nicht ausreichend ausgebildet sind;
daher müssen wir hier dringend nachbessern. Auch eine
optimale Einsatzvorbereitung gehört zur Fürsorgepflicht,
die wir als Parlament haben.
Ich will an alle 622 Abgeordneten hier noch einmal
appellieren. Wir sind diejenigen, die Verantwortung für
die Soldaten tragen, und wir müssen uns jeden Tag fragen: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Wir verlangen von unseren Soldaten viel, und wir sind in der
Pflicht, ihnen das Versprechen zu geben, dass wir ihnen
eine optimale Vorbereitung, Nachbereitung und auch
Versorgung im Einsatzland auf dem höchstmöglichen
Niveau garantieren. Das, was wir heute beschließen, ist
ein wichtiger erster Schritt. Aber ich sage auch: Es müssen weitere Schritte folgen. Wir dürfen uns nicht ausruhen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({7})
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hintergrund der Ereignisse, die Herr Minister zu Guttenberg
eben vorgetragen hat, ist es wenig erfreulich, hier heute
eine politische Auseinandersetzung zu führen. Ich
möchte an dieser Stelle auch für meine Fraktion die tiefe
Betroffenheit, das tiefe Bedauern zum Ausdruck bringen
sowie den Familien, den Freunden und den Angehörigen
die tiefste Anteilnahme aussprechen.
Tragisch ist das Zusammentreffen dieser Ereignisse.
Wir führen heute eine Debatte über etwas, was gerade
der Verbesserung der Situation für aus dem Einsatz zurückgekehrte verwundete Soldatinnen und Soldaten dienen und die nötige Tiefe, die politische Seriosität und
auch den gemeinsamen Willen unterstreichen soll. Bei
allen unterschiedlichen Auffassungen in Einzelpunkten
bin ich deshalb froh, dass nach der Rede des Kollegen
Klingbeil sehr deutlich geworden ist, dass hier ein gemeinsamer Wille besteht, der Verantwortung gegenüber
unseren Soldaten, die wir als Parlamentarier haben, gerecht zu werden.
Ich freue mich auch, dass heute Betroffene bei uns
sind. Diese Soldaten sind heute hier, weil sie an der Diskussion, die wir hier im Parlament führen, teilhaben wollen. Ich darf ihnen an dieser Stelle persönlich und auch
im Namen vieler Kollegen danken, dass sie den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen, und dass sie uns
ganz deutlich gemacht haben, wie bestimmte Lücken im
Gesetz und vielleicht auch eine falsche Zurückhaltung
an manchen Stellen ihr Leben sehr nachteilig und sehr
negativ beeinflusst haben. Ich finde es deswegen großartig, dass sie uns heute als Staatsbürger in Uniform durch
ihre Präsenz ein Stück weit den Weg weisen.
({0})
Meine Damen, meine Herren, ich bin froh, dass es uns
gelungen ist, viele Punkte, durchaus gegen Widerstände
von Kollegen in anderen Fachausschüssen, auf einen
Weg zu bringen, der zeigt, dass wir die Verantwortung
übernehmen. Ich finde, ein wesentlicher Aspekt dieses
Antrags ist in jedem Fall eine Veränderung der Stichtagsregelung. Es ist nämlich in hohem Maße ungerecht,
dass die Soldatinnen und Soldaten, die sich von Anfang
an für unser Vaterland eingesetzt und die ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben, nicht in den Genuss von
Vergünstigungen kamen. Was mich persönlich besonders
erschreckt hat, ist, dass wir ein Stück weit vergessen haben, was mit unseren Soldaten auf Zeit und mit den
Reservisten passiert. Viele Einsätze, geprägt von schlimmen Szenarien, können heute ohne den Einsatz von Reservisten und ohne Soldaten auf Zeit in der Form nicht
mehr durchgeführt werden. Ich bin sehr froh darüber,
dass wir hier die Weichen gestellt haben.
Ich hoffe sehr - das sage ich auch an die Kollegen der
Opposition gerichtet -, dass wir sehr rasch in das Gesetzgebungsverfahren eintreten. Es reicht nämlich in der
Tat nicht aus, dass wir heute nur den politischen Willen
dokumentieren. Darüber hinaus müssen wir als Parlament jetzt unsere Aufgabe erfüllen. Herr Minister, ich
habe gar keinen Zweifel, dass wir hier in sehr enger Kooperation das Richtige auf den Weg bringen. Bei allem
Verständnis auch für die finanziellen Zwänge: Ich
glaube, dass an dieser Stelle das Geld keine Rolle spielen darf.
({1})
Wir müssen auf die Männer und Frauen hören, die an
uns appellieren. Inzwischen gibt es dankenswerterweise
sehr viele Veröffentlichungen dazu. Ein Buch zu diesem
Thema trägt den Titel „Die reden - Wir sterben“. Das ist
eine sehr klare und deutliche Aussage, und ich glaube,
dass sich hinter dieser prägnanten Formulierung die
ganze Tragik der Empfindungen darüber verbirgt, dass
die Männer und Frauen, die zurückkommen, nicht mehr
die Menschen sind, die sie vorher waren. Dies gilt auch
gegenüber ihren Familien. Sie sollen in erster Linie ihre
Würde als Familienvater, als Arbeitnehmer, als Freund
und Ehepartner zurückerhalten. An dieser Stelle kann
ich nur appellieren, dass wir im weiteren Gesetzgebungsvorhaben unsere unterschiedlichen parteipolitischen Auffassungen im Interesse der Soldatinnen und
Soldaten ein Stück weit überwinden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu,
es fällt mir heute wirklich sehr schwer, vor dem Hintergrund der Ereignisse zu reden. Wir sollten uns über eines
klar sein: dass auch heute wieder Soldatinnen und Soldaten aus einem Einsatz nach Hause kommen werden, der
ihr Leben nachhaltig verändert haben wird. Umso mehr
sind wir jetzt gefordert, die Dinge, von denen wir wissen, dass sie falsch laufen, zu verbessern, damit wir den
Kameradinnen und Kameraden sagen können: Jawohl,
wir haben die Botschaft verstanden; das Parlament ist
gemeinsam mit der Regierung bereit, die Situation zu
verändern.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort erhält nun Kollegin Ingrid Remmers für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst auf das Bezug nehmen, was
der Kollege Otte gesagt hat, und etwas korrigieren: Die
Linke hat keinesfalls ein unsicheres oder gespaltenes
Verhältnis zu Kriegseinsätzen, sondern ein ganz eindeutiges, nämlich ein ablehnendes.
({0})
Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch die Interessen
der Soldatinnen und Soldaten sehen. Vor dem Hintergrund dessen, was heute passiert ist, sprechen selbstverständlich auch wir den Verletzten und den Angehörigen
unser tiefes Mitgefühl aus.
({1})
Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
im Grundsatz zu begrüßen; auch wir begrüßen ihn. Die
Antragsteller legen hier die Finger in zwei wunde Punkte
der gegenwärtigen Sicherheitspolitik der Bundesregierung:
Wer auf Krieg und militärische Interventionen als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, setzt
damit auch die eigenen Soldatinnen und Soldaten großen
Gefahren aus; dies haben wir heute erlebt. Diese Gefahren sind inzwischen Bundeswehralltag in Afghanistan,
wie wir alle wissen. Mehr als 30 Soldaten - heute erneut
einer - wurden im Verlauf der Intervention bislang getötet, eine Vielzahl wurde verwundet und traumatisiert,
und dies in einem Krieg, der nicht zu rechtfertigen und
zum Scheitern verurteilt ist. Die Linke hat sich immer
klar und deutlich für den Abzug aus Afghanistan eingesetzt und auch insgesamt eine andere, eine friedensorientierte Außenpolitik - nicht nur für Afghanistan - gefordert. Würde sich die Bundesregierung daran orientieren,
wäre der vorliegende Antrag überflüssig.
({2})
Die zweite offene Wunde, die der Antrag aufzeigt, ist
die geradezu fahrlässige Missachtung der Belange der
Soldatinnen und Soldaten durch Bundesregierung und
Bundeswehr; dies hat die Kollegin schon vorhin angesprochen. Die Soldatinnen und Soldaten werden von der
Bundesregierung und der Mehrheit im Bundestag in den
Einsatz geschickt. Was dort mit ihnen passiert, interessierte bislang das Verteidigungsministerium in der Regel
nur dann, wenn damit der riesige Verteidigungsetat bzw.
seine weitere Aufstockung gerechtfertigt werden konnte
oder aber der mediale Druck zu groß war.
({3})
Immer erst dann, wenn der Unmut hochkocht, passiert
etwas.
Da die Bundeswehr nun tatsächlich leider im Kampfeinsatz ist, treten die Unzulänglichkeiten der gesetzlichen
Verordnungen und der täglichen Verwaltungspraxis immer deutlicher zutage. Hier besteht in der Tat Handlungsbedarf: bei der Anhebung der Entschädigungszahlungen,
der Verbesserung der Betreuung von PTBS-Opfern, bei
der Gleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -soldaten mit den Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie den
Wehrpflichtigen. Das sind Mindeststandards, die einfach
gewährleistet werden müssen und zu Recht im Antrag
eingefordert werden.
Aber die Regierungsfraktionen wären nicht Teil des
Establishments, wenn sie sich nicht der alten Rhetorik
bedienten: Zur Verbesserung der Fürsorge gegenüber
dem Bundeswehrpersonal wird mehr Geld benötigt; das
aber soll entweder durch Aufstockung des Verteidigungsetats oder aus anderen Töpfen kommen. Wie man
weiß, ist bei der Bundeswehr selbst eigentlich ein rigoroser Sparkurs angesagt. Also sollen nun andere Haushalte
diskret mitfinanzieren. Das, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, geht nicht!
({4})
Zum einen ist im Verteidigungshaushalt, der immerhin der drittgrößte Etat ist, ausreichend Spielraum vorhanden. Es gibt genug Beschaffungsprogramme, die
dem Rotstift zum Opfer fallen könnten, zum Beispiel für
den A400M. Auch der Gesamtumfang der Streitkräfte
muss reduziert werden, sodass hier erhebliche Umschichtungen möglich wären.
Zum anderen aber würde damit der Ansatz der Haushälter in den letzten fünf Jahren völlig konterkariert werden. Die Querfinanzierung, die Flexibilisierung von
Haushaltstiteln waren den Haushältern zu Recht ein Dorn
im Auge. Klare Sach- und Finanzverantwortung, klare
Verantwortlichkeiten und die Verbesserung der Transparenz waren das Ziel. Ab 2007 wurden deswegen endlich
auch die Versorgungsausgaben aus dem Einzelplan 33
übernommen. Das soll nun wieder aufgebrochen werden.
Das soll natürlich nicht nur dort geschehen. Beim Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr wird zukünftig
auch das Finanzministerium einen kleinen Beitrag leisten.
Generalinspekteur Wieker hat schon weitere Vorschläge
parat, zum Beispiel die Finanzierung der Interventionseinsätze aus anderen Töpfen. Vor diesem Hintergrund, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bekommt der
Antrag der Regierungsfraktionen einen schalen Beigeschmack. Deswegen - nur deswegen! - können wir dem
Antrag so nicht zustimmen und werden uns hier enthalten
müssen.
Genauso wie die Linke für eine friedensorientierte
Außen- und Sicherheitspolitik ist, ist sie für eine adäquate Versorgung der Soldatinnen und Soldaten. Das ist
schließlich die Pflicht des Arbeitgebers Staat. Es liegt
auf der Hand, dass hier erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht. Wir appellieren also an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen umgesetzt,
aber aus dem Einzelplan 14 finanziert werden. Dann
können auch wir einem solchen Antrag zustimmen. Das
Geld dafür ist im Etat vorhanden. Die Regierung und die
Regierungsfraktionen müssen es nur wollen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Agnes Malczak für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Angesichts der tragischen Nachricht, die uns
zu Beginn dieser Debatte ereilt hat, möchte ich auch für
unsere Fraktion den Angehörigen des gestorbenen Soldaten unser tiefes Mitgefühl und unser Beileid aussprechen. Den sechs verletzten Soldaten wünschen wir eine
schnelle und vor allem vollständige Genesung. Die Betroffenen und die Angehörigen werden in diesen schwierigen Stunden viel Kraft brauchen. Wir hoffen, dass sie
sie auch finden werden.
({0})
Die Regelungen zur Verbesserung der Einsatzversorgung, die von den Fraktionen der Union und der FDP
hier beantragt wurden, sind richtig und finden deshalb
im Grundsatz auch unsere Zustimmung. Unabhängig davon, was der eine oder die andere von uns über einen
konkreten Einsatz denkt oder an Abstimmungsverhalten
gezeigt hat - da ist in diesem Haus die ganze Bandbreite
vertreten -: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, für die zivilen Kräfte und ihre Angehörigen haben wir als Parlament eine besondere Verantwortung zur
Fürsorge.
({1})
Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen,
wie wir dieser Verantwortung auch wirklich gerecht werden können. Der Bedeutung dieses Themas wurde in der
Vergangenheit durch eine Zusammenarbeit aller Fraktionen Rechnung getragen. Diese Chance wurde hier leider
vergeben.
Damit es heute nicht bei Ankündigungen bleibt, ist
Verteidigungsminister zu Guttenberg aufgefordert, diesen Antrag als Auftrag zu konkretem und auch zu
schnellem Handeln zu verstehen. Ich muss allerdings
feststellen, dass dieser Antrag eine gewisse Ganzheitlichkeit vermissen lässt. Ein ganz grundsätzliches Problem bleibt zudem unbehandelt.
Zur fehlenden Ganzheitlichkeit. Sie fokussieren in Ihrem Antrag auf die Einsatzversorgung der Soldatinnen
und Soldaten. Auf Basis des Auslandsverwendungsgesetzes entsenden wir aber auch zivile Kräfte zu internationalen Friedenseinsätzen. Sie widmen dieser Gruppe
nur die Forderung, dass alle Regelungen auch für sie gelten sollen. Zu den zivilen Kräften, die auf Basis des Sekundierungsgesetzes als deutsche Vertreterinnen und
Vertreter an Missionen teilnehmen, schweigen Sie in Ihrem Antrag. Dazu müssen wir in Zukunft mit den anderen Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen befassen,
zusammenarbeiten;
({2})
denn auch diese Menschen setzen sich unter Entbehrungen und erhöhtem Risiko, was ihre physische und psychische Gesundheit betrifft, für den Frieden ein und verdienen unsere Fürsorge und unseren Dank.
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
schlagen Sie finanzielle Verbesserungen vor und sprechen dabei wirklich wichtige Punkte an, etwa die Aufhebung der Stichtagsregelung, die Beweislastproblematik
und die unzumutbare Dauer der Wehrdienstbeschädigungsverfahren. So richtig und wichtig die finanzielle
Absicherung ist, so richtig und wichtig ist auch die Schaffung einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur. Wer mit
Betroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß, dass
hier erhebliche Mängel bestehen. Sie fühlen sich zu oft
mit ihren Problemen alleingelassen und sehen sich einer
Bürokratie gegenüber, der sie nicht Herr werden können.
Doch dieses Problem haben nicht nur versehrte Soldatinnen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und deren Angehörige. Und hiermit komme ich zur verpassten Chance dieses Antrags. Denn vor dem Hintergrund der anstehenden Reform der Bundeswehr gibt es
die Gelegenheit, Erwartungen an die Bundesregierung
hinsichtlich der Gesamtsituation von zivilen und militärischen Ehemaligen der internationalen Missionen zu formulieren.
Die Rückkehr aus einer Auslandsmission nach
Deutschland ist für die Heimkehrenden oft nicht einfach.
Sie haben in der Regel Erlebnisse gehabt, die der überwiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht nachempfinden kann. Diese Erlebnisse haben sie geprägt,
und sie werden sie ein Leben lang begleiten und häufig
auch ein Leben lang belasten. Wir müssen in diesem Zusammenhang feststellen, dass die Heimgekehrten immer
häufiger beklagen, dass sie sich mit diesen Erfahrungen
alleingelassen fühlen, weil sie keine Anlaufstelle für ihre
spezifischen Probleme haben.
Der vorliegende Antrag schlägt viele Verbesserungen
vor, kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Ich
glaube, wir sind uns auch mit allen Fraktionen einig,
dass es sich hier um einen Prozess handelt, der ständig
weitergehen muss und bei dem immer wieder Lücken
aufgedeckt und geschlossen werden müssen.
Das Thema hätte es verdient, gründlich, aber vor allem auch schnell und in einem fraktionsübergreifenden
Diskurs bearbeitet zu werden. Deshalb freue ich mich,
dass wir uns gestern im Ausschuss eigentlich alle einig
waren, dass wir das, wenn es zum konkreten Gesetzgebungsverfahren kommt, zusammen angehen wollen. Wir
Grünen jedenfalls werden weiterhin an den offenen Fragen dranbleiben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
schwierigste und gefährlichste Dienst für unser Land
wird in den Auslandseinsätzen geleistet. Wir haben gerade eben die traurige Nachricht erhalten, dass ein Soldat
gefallen ist und sechs Soldaten verwundet worden sind.
Ich darf auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Angehörigen und den Kameraden dieser Soldaten mein herzliches Beileid aussprechen. Wir drücken
die Daumen, dass jetzt im Rahmen der Bergung und auf
dem Rückmarsch, wo ja weitere Gefahren auf die Soldaten lauern, alles gutgeht und die Verwundeten möglichst
rasch einer optimalen medizinischen Versorgung zugeführt werden können.
({0})
Die Berufssoldaten, die Zeitsoldaten, die freiwillig
Wehrdienstleistenden, die Reservisten, die Polizisten
und die zivilen Mitarbeiter in den Auslandseinsätzen
sind täglich einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Ich
habe mir für meine Rede die Zahlen notiert - ich muss
sie jetzt leider schweren Herzens nach oben korrigieren -:
Seit 1993 haben 91 Soldaten in Auslandseinsätzen ihr
Leben verloren, 29 davon durch direkte Feindeinwirkung; 163 wurden verwundet, und bei über 400 Soldaten
wurden posttraumatische Belastungsstörungen diagnostiziert. Die Belastung in einem Auslandseinsatz ist mit
keinem wie auch immer gearteten Stress im Inland vergleichbar. Deswegen verdienen diese Soldaten im Einsatz auch eine besondere Behandlung hinsichtlich der
Versorgung und Weiterverwendung.
Es ist Ausdruck des hohen Respekts vor diesem
Dienst, dass wir bei den Maßnahmen der Einsatzversorgung und der Einsatzweiterverwendung entsprechend
großzügig verfahren. Wer vier oder sechs Monate getrennt von der Familie auf engstem Raum mit Kameraden und unter ständiger Bedrohung durch den Feind seinen Dienst versieht, der muss wissen, dass im
schlimmsten Fall zumindest für ihn und seine Angehörigen optimal gesorgt ist. Dieser Intention fühlt sich der
vorliegende Antrag verpflichtet.
Der Bundestag hat bereits mehrfach wesentliche gesetzliche Grundlagen für die Versorgung von Soldaten
geschaffen. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir
nun Lücken schließen und Ungleichgewichte ausgleichen, die die Praxis der vergangenen Jahre aufgezeigt
hat. Ich freue mich, dass es darüber breiten Konsens unter den demokratischen Parteien des Hauses gibt. Ich
schließe mich ausdrücklich auch den Worten von Frau
Hoff an, dass wir im Rahmen des konkreten Umsetzungsprozesses bei der Gesetzgebung mit den Fraktionen, die diesen Antrag heute mittragen, gerne in einen
intensiven Dialog eintreten und Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge gerne aufnehmen. Ich glaube, wir
werden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen.
({1})
Es ist auch ein gutes Signal an die betroffenen Soldaten
im Einsatz, dass sie wissen, dass eine breite Mehrheit
dieses Hauses hinter ihnen und ihrem Einsatz steht.
Ich möchte zwei Punkte ganz kurz herausgreifen, die
mir besonders am Herzen liegen.
Da ist zum einen die Frage der Gleichstellung von
Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistenden und Reservisten mit den Berufssoldaten hinsichtlich ihrer Versorgungssituation. Bei der Analyse der gegenwärtigen
Rechtslage haben wir festgestellt, dass die Berufssoldaten in der Tat gut abgesichert sind; aber bei vielen Zeitsoldaten ist das nicht der Fall. Nun ist es aber typisch für
die Bundeswehr, dass man als Zeitsoldat anfängt. Auch
diejenigen Soldaten, die sich den Beruf des Soldaten als
Lebensberuf wünschen, werden zunächst als Zeitsoldaten angestellt. Sie strengen sich dann enorm an, um bei
Lehrgängen und Beurteilungen besonders weit vorne zu
liegen. Vielleicht sind sie auch bereit, im Auslandseinsatz besondere Leistungen zu erbringen, damit sie eine
Chance auf Übernahme in den Beruf des Soldaten haben. Da ist es natürlich fatal, wenn eine Verwundung im
Einsatz möglicherweise letztendlich dazu führt, dass der
Soldat, der ansonsten Berufssoldat geworden wäre, diesen Beruf nun nicht erlangen kann, und zwar ausdrücklich wegen seiner Verwundung und ihren Folgen.
Wir finden, das Gesetz muss hier eine Regelung finden, damit Zeitsoldaten trotz einer Verletzung und ihren
Folgen eine Heimat bei der Bundeswehr finden können.
Ich finde es motivierend für die Truppe, wenn sie erlebt,
dass der eine oder andere, der versehrt aus dem Einsatz
zurückgekommen ist, seinen Dienst in der Heimat, in der
Kaserne, versieht. Damit wird symbolisch deutlich, dass
man als Soldat in einem solchen Fall nicht alleingelassen
wird.
({2})
Ich möchte einen zweiten Punkt aus unserem Antrag
ansprechen. Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungsberichte von verwundeten Soldaten über das, was ihnen
hinterher widerfahren ist, wenn sie mit einer Verwundung und entsprechenden Spätfolgen in die Heimat, zur
Bundeswehr zurückkehren. Es gibt Beispiele, bei denen
Militärseelsorge, Stammeinheit, Sozialdienst und Wehrverwaltung hervorragend zusammenarbeiten und zügig
eine unbürokratische Lösung finden. Es gibt aber auch
eine Reihe von Beispielen, bei denen die Soldaten in der
Bürokratie der Bundeswehr ziemlich alleingelassen sind,
wo die Interessen der einzelnen Soldaten in den großen
Mühlen der Bürokratie nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden.
Die Tatsache, dass es in vielen Fällen sehr gut funktioniert, zeigt, dass es klappen kann. Wir würden uns
wünschen, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet
werden, dass es nicht von der Befähigung und dem
Wohlwollen einzelner Akteure abhängt, ob ein guter
Weg durch die Bürokratie gefunden wird. Vielmehr sollten die Prozesse so gestaltet sein, dass sich die Soldaten
auf die Bundeswehr verlassen können, dass sich ihre Ansprüche zügig durchsetzen lassen, ohne unzumutbare bürokratische Hürden überwinden zu müssen. Da gibt es
Nachsteuerungsbedarf, insbesondere auf der Ebene der
konkreten administrativen Umsetzung.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, die an dem Antrag mitgewirkt haben, danken. Ich möchte auch dem Deutschen Bundeswehrverband und dem Reservistenverband für seine
wichtigen Impulse bei diesem Thema danken. Es ist einfach wichtig, dass wir im Gespräch mit den offiziellen
Vertretern der Soldaten gemeinsam an diesen Themen
arbeiten und so Lösungen aus der Praxis für die Praxis
finden.
Wir erwarten nun von der Bundesregierung, dass unser Antrag zügig in eine Gesetzesinitiative mündet, damit wir beginnen können, die geforderten Maßnahmen
konkret umzusetzen. Gerade in der Phase des Umbaus
der Bundeswehr ist die Verbesserung der Einsatzversorgung eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Soldatinnen und Soldaten.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Verbesserung
der Regelungen zur Einsatzversorgung“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/3229, den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/2433 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ein nationales Klimaschutzgesetz - Verbindlichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der
Vorreiterrolle gerecht werden
- Drucksache 17/3172 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anheben
- Drucksache 17/2485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Klimaschutzziele gesetzlich verankern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele
verbindlich festschreiben
- Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({3})
Michael Kauch
Bärbel Höhn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte über den Klimawandel hat mal
Hochkonjunktur, mal nicht. Mal werden Auswirkungen
in manchen Medien reißerisch übertrieben, mal werden
die Auswirkungen verharmlost.
Klar ist, dass schon heute Hunderte Millionen von
Menschen von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, und zwar in großer Mehrheit negativ. Es
sind Menschen, die die Hintergründe nicht kennen, die
den Klimawandel nicht erklären können, die noch nichts
von Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancún oder
Kioto gehört haben. Diese Menschen merken, dass etwas
nicht stimmt, dass sie Niederschläge oder Trockenphasen nicht mehr verstehen, beispielsweise die Bauern in
Äthiopien oder Kenia, dass Stürme und Fluten in einer
Häufigkeit und Stärke auftreten, die sie bisher nicht
kannten, zum Beispiel in Guatemala oder Pakistan. Sie
merken, dass sie ihre Häuser am Meer verlassen müssen,
wie auf den Malediven, auf Tuvalu oder in Mikronesien,
weil das Wasser immer häufiger mit dem Meer ins Haus
kommt. All das ist keine Spinnerei, sondern es geschieht
heute. 97 Prozent der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen, sagen, dass es der Mensch ist, also wir, der
das Klima massiv verändert.
Wir brauchen jetzt einen Aufbau einer anderen Art
der industriellen Produktion, eine andere Art der Energieerzeugung, eine andere Art des Lebens bei gleichbleibender oder sogar steigender Lebensqualität. Das geht
nicht von heute auf morgen, aber die Richtung muss
stimmen, die Ziele müssen stimmen, und es muss mehr
Verlässlichkeit herrschen, als es heute gibt: die Verlässlichkeit, dass der Weg hin zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft konsequent beschritten wird und dass sich jeFrank Schwabe
der darauf einstellen kann und muss, national und
international.
({0})
Mit Erlaubnis des Präsidenten lese ich Ihnen etwas
vor - ich zitiere:
Ein Klimaschutzgesetz wird die mittel- und langfristigen Klimaschutzziele als Rahmen für ein effizientes Monitoring und die Fortschreibung des
IKEP ({1})
festlegen. Damit erhält die Wirtschaft einen verlässlichen Planungshorizont für ihre langfristigen Investitionsentscheidungen. Notwendige Infrastrukturprojekte erhalten hierdurch eine größere
öffentliche Akzeptanz. Deshalb werden wir
- jetzt kommt es analog zum britischen Climate Change Act ein Klimaschutzgesetz verabschieden …
Was ist das, und wo steht das? Das ist nachlesbar auf
der Internetseite www.klimaretter.info. Es ist aus einem
internen Papier des jetzigen Bundesumweltministers
Norbert Röttgen,
({2})
in dem seine Vorstellungen für ein sogenanntes Energiekonzept der schwarz-gelben Regierung beschrieben werden. Vor einigen Wochen konnte man das auf der eben
genannten Internetseite lesen.
Dass sich davon nicht ein Satz im aktuellen Text des
Energiekonzepts wiederfindet, offenbart zweierlei: Erstens. Die kurzen Hosen des Umweltministers sind
höchstens Boxershorts, um keine anderen Begrifflichkeiten zu wählen. Zweitens. Das sogenannte Energiekonzept ist gar keines.
({3})
Die Revolution in der Klimaschutzpolitik, wie es die
Kanzlerin in Vorspiegelung falscher Tatkraft nannte, das
anspruchsvollste Programm seit den 70er-Jahren, wie
Herr Röttgen es genannt hat, hat mit Klimaschutz und
Energiekonzept nichts zu tun. Es ist ein Atomlobbykonzept für eine Vermögensvermehrung in Milliardenhöhe
bei einigen wenigen Energiekonzernen und ein Kaputtmachkonzept für den Ausbau von erneuerbaren Energien
mit der Gefährdung von Hunderttausenden jetziger und
zukünftiger Arbeitsplätze. So ist das.
({4})
Sie legen alle Scheu ab. Bei der FDP geschieht alles
eher lustlos. Ich habe die Rede von Herrn Wirtschaftsminister Brüderle in der letzten Woche verfolgt. Ihm war
die Leidenschaft für erneuerbare Energien bei seiner euphorischen Rede geradezu anzumerken. Im Ernst: Bei
Schwarz-Gelb geben inzwischen die Fuchsens und die
Pfeifers den Ton an. Michael Fuchs hat am 7. Februar
2010 in der Welt am Sonntag die Windkraft- und Solaranlagen als „Vogelschredderanlagen“ und „Subventionsgräber“ bezeichnet. Frau Dött hat dem Fass allerdings
den Boden ausgeschlagen. Frau Dött - sie spricht heute
nicht -, die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSUBundestagsfraktion, weilte bei einer Veranstaltung der
FDP, zu der auch Fred Singer eingeladen war.
({5})
- Nicht der FDP, sagt Herr Kauch, sondern eines Abgeordneten der FDP. Herr Kauch distanziert sich, das finde
ich schon einmal gut.
({6})
Er ist ein bekannter bezahlter Lobbyist, der schon so
ziemlich alle negativen Auswirkungen von allen möglichen Dingen auf die Menschen bestritten hat, vom
Ozonloch über den sauren Regen bis zum Rauchen; das
kann man alles nachlesen.
({7})
Er hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, den Klimawandel zu verharmlosen und den Einfluss des Menschen abzustreiten; davon gibt es unterschiedliche Versionen. Ein
Satz, den er von sich gab, lautete:
Die Leute, die Gesetze machen, um das Klima zu
schützen, sind unser größtes Problem.
- Damit sind wahrscheinlich wir gemeint. Weiter heißt
es:
… je mehr CO2, desto besser. Wir sollten den Chinesen dankbar sein.
Das ist in der Financial Times Deutschland vom
17. September 2010 nachzulesen.
({8})
- Frau Dött, es ist gut, dass Sie sich melden.
Ebenfalls nachzulesen sind die Kommentare von Frau
Dött, die die Ausführungen von Herrn Singer „sehr, sehr
einleuchtend“ fand, den Klimaschutz als „Ersatzreligion“ und die Umweltpolitiker der Union als „Gutmenschen“ bezeichnet. Keines dieser Zitate wurde von Frau
Dött dementiert. Dazu hätte sie in der letzten Woche im
Umweltausschuss Gelegenheit gehabt. Sie hat es aber
nicht dementiert. Das ist schon erstaunlich. Jeder kann
jeden Unsinn behaupten. Man kann zum Beispiel behaupten, dass die Erde quadratisch ist. Frau Dött ist aber
die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU.
({9})
- Vielleicht kann man das einmal alles notieren. Es ist in
höchster Form entlarvend und spricht Bände, dass Sie
das auch noch unterstützen. - Ihre Sprecherin hält den
Klimawandel für Quatsch. Wenn Sie ihr nicht widersprechen - Sie haben gleich die Gelegenheit dazu -, dann
halten Sie ihn wohl alle für Quatsch. Das muss man zumindest annehmen.
({10})
Ich sage es noch einmal: Man kann jeden Standpunkt
vertreten. Man muss es dann aber auch verantworten,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb. Was
Sie vertreten, ist im Endeffekt gegen den Geist der Aufklärung, gegen jede Wissenschaft und das Wissenschaftsverständnis dieses Landes gerichtet.
({11})
Sie können alles vertreten und alles behaupten. Sie können auch behaupten, dass die Kinder vom Klapperstorch
kommen. Die Frage ist bloß, ob man so jemanden zum
Leiter einer gynäkologischen Abteilung macht; das ist
die entscheidende Frage.
({12})
Sie meinen es mit dem Thema Klimaschutz nicht
ernst. Wer es mit dem Klimaschutz nicht ernst meint und
gegen erneuerbare Energien polemisiert, der kann natürlich auch nichts für den Klimaschutz tun und kein zukunftsfähiges Energiekonzept vorlegen. Ihr Energiekonzept ist ein Müsste-könnte-sollte-hätte-wenn-Konzept.
30 dürftig beschriebene Seiten enthalten allein 36 Prüfaufträge. Ganz konkret wird es nur im Bereich der
Atomenergie. Damit wird klar, was das Ganze soll. Deshalb muss es jetzt ganz schnell gehen. Die Anhörungen
werden durchgepeitscht. Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden beiseitegewischt. Der Rest ist ein unverbindliches Sammelsurium.
Über Ihre Ziele kann man reden. Ich finde allerdings,
dass wir bis 2050 das 95-Prozent-Ziel erreichen müssen,
nicht nur ein 80-Prozent-Ziel. Ihr Ziel bleibt in diesem
Konzept ein wenig unklar. Und was bringen Ziele, wenn
sie unverbindlich sind? Deswegen brauchen wir in
Deutschland ein Klimaschutzgesetz. Der Umweltminister scheint das auch so zu sehen. Er ist zwar nicht da, hat
es anscheinend aber unterstützt. Wer den Einstieg in eine
andere Form der industriellen Produktion und der Energieversorgung schaffen - dieser ist eigentlich geschafft und den Umstieg dauerhaft fortsetzen will, der muss für
Verstetigung sorgen. Er muss die Verlässlichkeit der Prognosen für Investitionen erhöhen. Sie aber machen das
genaue Gegenteil: Sie schaffen einen Investitionsattentismus bei den erneuerbaren und sogar bei den fossilen
Energien. Auch die Aktienkurse der großen Energieversorger machen deutlich, dass nicht alle in diesem Land
an Ihre Atomwende glauben.
Der Antrag auf Schaffung eines Klimaschutzgesetzes,
den wir Ihnen heute vorlegen, hatte einen längeren Vorlauf. Ihm ging ein längerer Prozess der Diskussion und
der Beteiligung von Unternehmen, Unternehmensverbänden, Umweltverbänden, Gewerkschaftlern, Wissenschaftlern, Automobilverbänden, der britischen Botschaft,
Herrn Schellnhuber und anderen voraus. Allein 35 schriftliche Stellungnahmen haben wir verarbeitet; darauf
möchte ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Nur so
viel: Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, gehören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwischenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören gesetzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit die
Regierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diese
müssen transparent sein. Die Regierung muss sich mindestens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debatte
dazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss ein
unabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehenden
Institutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen.
Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nichteinhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Klimaschutzgesetz leisten.
Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen;
das habe ich bereits erwähnt. Diese kamen von den Umweltverbänden WWF, BUND und anderen. Sie kamen
von den Gewerkschaften DGB und IG Metall. Es kamen
auch spannende Rückmeldungen von Verbänden, von
denen ich zunächst einmal nicht geglaubt hatte, dass sie
sich positiv äußern würden. Dazu gehören der ADAC
und auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau. Sie alle haben dieses Gesetz begrüßt.
Noch einmal: Bei einem solchen Gesetz geht es nicht
um konkrete Maßnahmen, sondern um einen Rahmen
für die Klimaschutzgesetzgebung der nächsten Jahre.
Deswegen bringen wir diesen Antrag heute ein. Wir hoffen, dass das der Auftakt für eine intensive Debatte ist.
Wenn Sie von der Regierungskoalition Klimaschutzpolitik wirklich ernst nehmen, sollten Sie Ihre Atompolitik überdenken und aufhören, zu versuchen, einen Wechsel in der Atompolitik einzuleiten. Sie sollten Ihr nicht
vorhandenes Energiekonzept gleich wieder einstampfen.
Ich bitte darum, dass Sie die Vorschläge zu einem Klimaschutzgesetz nicht in Bausch und Bogen ablehnen,
sondern Ihre Worte gut abwägen, den Dialog eröffnen
und nicht die Tür zuschlagen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
({13})
Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Schwabe hat einen erheblichen Teil seiner Redezeit darauf verwandt, darüber zu spekulieren, wer
möglicherweise wann und wo was gesagt hat. Ich finde,
wenn wir uns hier mit Klimaschutz und Energiepolitik
beschäftigen, dann sollten wir nach den Fakten fragen:
Wofür treten wir gemeinsam ein? Was haben wir gemeinsam beschlossen? Was haben wir in unseren Erklärungen zur Klimapolitik und zum Energiekonzept gemeinsam festgehalten?
Andreas Jung ({0})
Ich möchte zunächst auf den Ausgangspunkt, auf Kopenhagen, zurückkommen. Wir haben mit Unterstützung
aller Fraktionen dieses Hauses gesagt: Das Ziel der Bundesregierung, das 2-Grad-Celsius-Ziel völkerrechtlich
verbindlich zu verankern, ist richtig. Wir haben das in
Kopenhagen nicht geschafft. Dennoch ist das, was vor
und während des Gipfels in Kopenhagen richtig war,
nach wie vor richtig. Die neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnisse zeigen, dass die Entwicklung, die im letzten Bericht des IPCC beschrieben wurde, was den Anstieg des Meeresspiegels, die Auswirkungen auf die Biodiversität und die Bedrohung der Korallenriffe angeht,
eher noch gravierender verlaufen könnte.
({1})
Deshalb ist das 2-Grad-Celsius-Ziel nach wie vor richtig. Deshalb ist es nach wie vor auch richtig, dass die
Bundesregierung dieses Ziel international verfolgt. Bei
diesem Kurs haben die Bundeskanzlerin und der Bundesumweltminister die volle Unterstützung der Unionsfraktion; da gibt es überhaupt kein Vertun.
Das, was wir international für richtig halten, das 2-GradCelsius-Ziel, ist auch die Grundlage für unsere nationale
Politik. Das ist die Grundlage für unsere nationalen
Ziele. Ich möchte herausstellen, dass sich diese Bundesregierung ehrgeizigere Ziele gesetzt hat als alle Regierungen zuvor.
({2})
Wir haben erklärt: Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren, und zwar unbedingt, egal was andere machen,
egal ob es zu dem ehrgeizigen Weltklimaschutzabkommen, das wir anstreben, kommt oder vorläufig nicht. Wir
gehen voran. Wir sind Vorreiter. Das gilt genauso für die
langfristigen Ziele. 2050 soll die Reduzierung gegenüber
1990 80 bis 95 Prozent betragen.
({3})
Gerade mit unserem Energiekonzept machen wir
deutlich, dass es nicht bei den Zielen bleiben darf, sondern der Zielformulierung Taten folgen müssen, weil nur
aus der Umsetzung Glaubwürdigkeit erwächst. Aus diesem Grund greifen wir den Gedanken des Monitorings
auf. Zum ersten Mal soll dieses Instrument jetzt genutzt
werden. Alle drei Jahre soll ein wissenschaftlich fundierter Bericht vorgelegt und öffentlich diskutiert werden.
Wie schnell erreichen wir unsere Ziele? Können wir die
Zehnjahresschritte, die in dem Energiekonzept festgelegt
sind - 2030 minus 55 Prozent, 2040 70 Prozent -, einhalten? Wir stellen uns der Diskussion. Das Erreichen
solcher Ziele war in der Vergangenheit unsere Stärke;
Stichwort: Kioto. Wir Deutsche hatten ehrgeizige Ziele
und haben sie umgesetzt. Das muss auch in Zukunft die
Basis unserer Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik sein.
Ziele sind das eine, Instrumente sind wichtig, aber
entscheidend sind am Ende die Taten. Ich möchte dafür
werben, dass wir uns dieses Energiekonzept genau anschauen. Ich finde, aus Umweltgesichtspunkten enthält
es etliche Punkte, über die wir uns freuen können. In diesem Gesamtkonzept wird gesagt: Wir wollen den Weg in
Richtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren
Energien beschreiten. Wir wollen, dass unsere Energieversorgung bis 2050 nahezu vollständig durch erneuerbare Energien gedeckt wird. Die Grundlage dafür soll
das Erneuerbare-Energien-Gesetz sein, das wir weiterentwickeln wollen. Wir halten an dem fest, was ich für
zentral halte, an dem unbedingten Vorrang erneuerbarer
Energien bei der Einspeisung.
({4})
Das zeigt, dass wir ein klares Ziel haben, und das Ziel
heißt: Wir wollen hin zu erneuerbaren Energien.
Auf dem Weg zu diesem Ziel ist noch die eine oder
andere Hürde zu überwinden, gibt es noch die eine oder
andere offene Frage.
({5})
Dabei geht es zum Beispiel darum, dass wir den Strom
nicht immer dort brauchen, wo Wind weht, und dass wir
Energie häufig nicht gerade dann erzeugen, wenn sie gebraucht wird. Der Wind weht nicht unbedingt genau
dann, wenn die Nachfrage am größten ist. Wir brauchen
den Ausbau von Netzen, wir brauchen intelligente Netze
und neue Speichertechnologien, um die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass erneuerbare Energien verlässlich
und grundlastfähig an die Stelle der heutigen Struktur
der Energieversorgung treten können. Das ist unser Ziel.
Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ganz konkrete
Maßnahmen beschrieben. Aber wir brauchen noch etwas
Zeit und vor allem Geld. Deshalb ist es ein Riesenerfolg
der Umweltpolitik, dass in dem Energiekonzept die Zusage des Finanzministers festgehalten worden ist, dass
die Mehrerlöse aus der Versteigerung der Emissionsrechte ab 2013 vollständig einem Fonds für erneuerbare
Energien, für Energieeffizienz, für internationalen und
nationalen Klimaschutz zugutekommen werden. Ich
finde, das ist ein Erfolg, über den wir uns freuen können,
weil dadurch all das, was wir gemeinsam wollen, einen
Schub bekommen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ott?
Ja, bitte.
Vielen Dank. - Herr Kollege Jung, ich glaube Ihnen,
dass Sie und andere in Ihrer Fraktion durchaus bemüht
sind, den Klimaschutz voranzubringen. Sie versuchen ja
gerade, uns das hier zu erklären. Ich komme zu meiner
Frage. Kollege Schwabe hat darauf hingewiesen, dass es
in Ihrer Fraktion Personen gibt, beispielsweise Frau Dött
- sie ist genannt worden -, die als umweltpolitische
Sprecherin Ihrer Fraktion einem in der Szene weltbekannten Klimawandelleugner, nämlich Fred Singer, zustimmt und seine Thesen, dass der Klimawandel eine
Schimäre ist, dass diejenigen, die Klimapolitik vorantreiben, die eigentlich Gefährlichen sind, einleuchtend findet
und sich selber noch zu der Aussage versteigt - dem hat
sie nicht widersprochen; sie hat nur gesagt, dass es aus
dem Zusammenhang gerissen worden ist -, die Klimapolitik sei eine Ersatzreligion.
Bei uns drängt sich natürlich der Eindruck auf, dass,
auch wenn es, wie gesagt, einige unter Ihren Kolleginnen und Kollegen gibt, die Klimaschutz wirklich vorantreiben wollen, in der Sache die anderen die Oberhand
behalten. Denn Ihre Klimaschutzgesetzgebung und Ihre
Energiegesetzgebung, die Sie uns hier verkaufen wollen,
entsprechen so ganz und gar nicht dem Ziel, die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Deshalb bitte
ich um Folgendes: Können Sie klarstellen, dass Ihre
Fraktion im Gegensatz zu dem, was Ihre umweltpolitische Sprecherin sagt, den Klimawandel und den Anteil
der Menschen am Klimawandel für unabweisbar hält?
Damit wäre uns sehr geholfen.
({0})
Herr Kollege, das war eher eine Frage an die Kollegin
Dött als an mich;
({0})
aber ich kann auf die letzte Sitzung des Umweltausschusses verweisen, wo ich, als wir dort über Klimaschutz gesprochen haben, dieselben Standpunkte vertreten habe
wie hier. Sie haben danach die Kollegin angesprochen,
und sie hat darauf verwiesen, dass das, was ich als Berichterstatter für Klimaschutz im Ausschuss, im Plenum
oder an anderer Stelle vertrete, die abgestimmte Position
unserer Fraktion ist, die im Koalitionsvertrag und auch
im Energiekonzept ihren Niederschlag gefunden hat.
Demnach ist unbestritten und unbestreitbar, dass es einen
menschengemachten Klimawandel gibt und dass die
Konsequenz aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis
die Herausforderung ist, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts den CO2-Ausstoß weltweit zu halbieren.
({1})
Die Konsequenz daraus wiederum ist, dass die Industriestaaten einen höheren Anteil als 50 Prozent übernehmen
müssen. So kommen wir zum Minderungsziel der Bundesrepublik Deutschland von 80 bis 95 Prozent bis 2050,
das wir auch in unserem Energiekonzept niedergelegt
haben.
({2})
Wenn Sie nach den konkreten Maßnahmen fragen,
verweise ich zum einen darauf, was ich schon beim
Thema erneuerbare Energien beschrieben habe.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
und zwar des Kollegen Fell von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Bitte schön.
Herr Kollege Jung, die Aussage, Ihre Fraktion würde
den Klimaschutz massiv unterstützen, befriedigt mich
angesichts der Tatsache, dass Ihre Fraktion eine umweltpolitische Sprecherin gewählt hat, die eine aktive Klimawandelleugnerin ist, nicht.
({0})
Das ist offensichtlich Fraktionsmeinung. Anders wäre
nicht zu erklären, warum Ihre Fraktion eine solche Person in diese Funktion gewählt und mit der wichtigsten
Fragestellung der Umweltpolitik betraut hat.
Herr Kollege Fell, Fraktionsmeinung ist das, was wir
in der Fraktion gemeinsam beschließen. Diese Inhalte
können Sie in unserem Energiekonzept nachlesen; da
steht genau das drin, was ich gerade gesagt habe. Es ist
ein klarer Pfad auf dem Weg der Bekämpfung des Klimawandels hin zu einer Reduktion der CO2-Emissionen
in einem Umfang von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr
2050. Das ist die abgestimmte Linie dieser Bundesregierung, unserer Bundestagsfraktion und der Koalition insgesamt.
Im Übrigen nehmen wir neben den Bereichen, die ich
bereits angesprochen habe, auch alle anderen relevanten
Bereiche in den Blick. Lassen Sie mich das Beispiel Gebäudesanierung ansprechen. Wir werden finanzielle Mittel brauchen, um die große Aufgabe, die vor uns liegt, zu
bewältigen und das Ziel der Kohlenstoffneutralität zu erreichen.
({0})
- Genau deshalb führen wir doch die Diskussion, wie
wir vermeiden können, dass wir jedes Jahr beim Finanzminister als Bittsteller auftreten müssen.
({1})
Die Förderung von Gebäudesanierung, erneuerbarer
Wärme und Klimaschutzprogrammen muss aus dem
jährlichen Klein-Klein um Fördermittel herausgelöst
werden. Deshalb ist es gut, dass ein Klimaschutzfonds
eingerichtet wird. Er stellt nämlich eine verlässliche
Grundlage für die Förderung der Gebäudesanierung und
der anderen Aufgaben, die ich erwähnt habe, dar.
({2})
Andreas Jung ({3})
Auch im Verkehrsbereich setzen wir uns klare Ziele
in Richtung nachhaltiger Mobilität. Wir setzen einen
Schwerpunkt bei der Elektromobilität und verknüpfen
die Themen Elektromobilität und erneuerbare Energien.
Ich bin der Überzeugung, wir müssen daran arbeiten,
dass Ökostrom unser Benzin der Zukunft wird, sodass
wir die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch reduzieren
können. Bis 2020 wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge
und bis 2030 sogar 6 Millionen Fahrzeuge auf die Straße
bringen. Wir unterlegen die Ziele, die wir uns setzen, mit
ganz konkreten Maßnahmen, und wir verfolgen einen
Pfad, auf dem wir unsere Ziele Stück für Stück erreichen.
Ich finde, mit unserem Energiekonzept bleiben wir in
Europa Vorreiter und Antreiber im Klimaschutz. Wie Sie
es mit Ihren Anträgen tun, so beteiligen auch wir uns an
der Diskussion, ob es richtig ist, dass die Europäische
Union unbedingt erklärt, das Reduktionsziel von 30 Prozent bis 2020 zu erreichen. Auch ich verfolge natürlich
die Debatte auf europäischer Ebene. Zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Parlament finden
noch Diskussionen statt, und wir wissen, dass auch die
Bundesregierung noch keine abgestimmte Position hat.
Ich persönlich sehe keinen Grund, warum das, was in
der Bundesrepublik richtig ist, nämlich eine Verpflichtung zu unbegrenzten Emissionszielen, in der Europäischen Union falsch sein sollte. Ich will hinzufügen: Ich
bin sogar der Auffassung, dass es geradezu im deutschen
Interesse wäre, wenn sich auch die anderen Staaten der
Europäischen Union zur Erreichung so ehrgeiziger und
unbegrenzter Ziele verpflichten würden, wie wir es in
Deutschland bereits getan haben.
({4})
Ich halte es für richtig, dass auch der Bundesumweltminister diese Position vertritt.
({5})
Ich bin der Auffassung, wir Umweltpolitiker sollten ihn
auf diesem Weg und in dieser Diskussion unterstützen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung will noch in diesem Monat, also ganz
schnell, ein Energiepaket, von dem sie behauptet, es
würde die Erreichung der Klimaziele befördern, durchpeitschen. In Wirklichkeit geht es vor allem um eine
Laufzeitverlängerung von AKWs
({0})
und die Profite der großen Energiekonzerne, aber nicht
vordringlich um die Klimaziele.
({1})
Wenn man die Anträge der Fraktionen der SPD, der
Linken und der Grünen liest, stellt man fest: Es besteht
große Einigkeit. Die Notwendigkeit, zu handeln, wird
erkannt.
Ich stelle noch einmal die Frage: Warum brauchen wir
ein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momentan die Klimaschutzziele von der Regierung geändert
werden können, da sie nicht gesetzlich festgeschrieben
sind.
Immer wird so toll über Selbstverpflichtungen gesprochen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Selbstverpflichtung eingehalten wurde. Ich möchte Sie daran
erinnern, dass die Selbstverpflichtung 2005, die eine Reduktion um 25 Prozent beinhaltete, auch nicht erfüllt
wurde.
Warum brauchen wir dieses Gesetz? Abweichungen
bleiben folgenlos. Zwischenziele müssen überprüfbar
werden. Wir müssen früh genug, wenn das nicht funktioniert, die Notbremse ziehen können. Das halte ich für
dringend notwendig. Darin sind wir uns einig.
Jetzt komme ich zum Ansatz der Linken. Dabei zeige
ich auch einige Differenzen auf. Der Wissenschaftliche
Beirat Globale Umweltveränderungen hat Konzepte dargestellt. Wenn jeder Mensch auf der Welt die gleichen
Rechte auf Emissionen hätte, hätte Deutschland bei
gleichbleibenden Emissionen ab 2010 in zehn Jahren
sein klimaverträgliches Budget verbraucht. In der EU
würde das zwei Jahre später passieren. Ich spreche von
den Pro-Kopf-Zahlen.
Das heißt, die Industrieländer brauchen ambitionierte
Sparziele. Wir, die Linken, sagen: Wir müssen den globalen Süden entschädigen, wenn wir über unserem Budget - das ist der Fall - und die Entwicklungsländer unter
ihrem Budget bleiben. Das ist auch der Grund, weshalb
die Linke in ihrem Entwurf für das Klimaschutzgesetz
Transfergelder an Entwicklungsländer vorschreibt. Denn
unsere nationalen Einsparziele sind nur gerecht, wenn
die ärmeren Länder den Deal akzeptieren. Das kostet
Geld.
({2})
Wie wichtig das ist, zeigt das Trauerspiel um das ITTYasuní-Projekt in Ecuador. Der Plan: keine Zerstörung
des Regenwaldes in der Region und kein Abbau von
Erdöl, dafür aber ein Ausgleich der Industriestaaten.
Übersetzt heißt das: Der Norden bezahlt ein armes lateinamerikanisches Land für einen Teil der Exportverluste und zugleich für den Schutz von Klima und Biodiversität, also Artenschutz.
Alle Fraktionen waren in der letzten Legislaturperiode dafür, haben das unterstützt und Signale gesetzt.
Das war auch noch letzte Woche beim Besuch der
ecuadorianischen Umweltministerin der Fall. Aber der
Entwicklungsminister, Herr Niebel, will die Gelder streichen.
({3})
Die Umweltministerin wurde nicht einmal von Herrn
Niebel empfangen, sondern nur von einem Abteilungsleiter des BMZ. Das finde ich schäbig.
Genau so organisiert man auf internationaler Ebene
Blockaden zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Das ist ein Beispiel dafür. Das ist der Weg, wie internationale Klimaverhandlungen gegen die Wand gefahren werden. Ich warne davor.
({4})
Natürlich haben wir die Pflicht, zu Hause ambitionierte Einsparziele zu erreichen. Da gibt es eine Menge
Luft. Da können wir sehr viel tun. Denn die Frage ist:
Sind wirklich 40 Prozent bis 2020 für Deutschland angemessen? Das gilt auch für das magere EU-Ziel von
20 Prozent.
Krisenbedingt ist der Ausstoß von CO2 gesunken. Die
Zahl liegt bei fast minus 30 Prozent in Deutschland; in
der EU beträgt sie minus 17 Prozent. Das heißt, der Anteil regenerativer Energien wächst noch schneller - das
wollen wir -, als wir erwarten.
Die EU sagt dazu, man brauche ein anspruchsvolleres
Ziel. Die Kosten dafür lägen niedriger, als vor der Krise
errechnet wurde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen dieses Ziel. In Deutschland sollten wir über 50 Prozent und
in der EU - das sagte auch Herr Jung - über 30 Prozent
reden. Ich denke, darüber können wir uns relativ schnell
einigen.
Jetzt zum SPD-Antrag: Darin steht, dass die Emissionsminderung im Inland stattfinden solle. CDM und JI
- das sind internationale Projekte in anderen Ländern,
für die es Zertifikate gibt - seien zur Ergänzung da. Jetzt
würde ich gerne wissen, was das heißt.
({5})
Was meinen Sie damit? Das hat nämlich eine starke Auswirkung auf die Erfüllung der Minderungsziele. Deshalb
meinen wir: Dort dürfen Sie nicht unklar bleiben.
Deutsche Unternehmen können sich vom nationalen
Klimaschutz freikaufen, wenn sie CO2-Gutschriften aus
dem Ausland vorweisen. Das ist inzwischen bekannt und
ginge auch in Ordnung, wenn dahinter tatsächlich Klimaschutz stehen würde. Ich denke, das meinen Sie auch.
Die Hälfte der Zertifikate ist aber heiße Luft. Dadurch
wird der Klimaschutz hier im Land aufgeweicht.
Das ARD-Magazin Monitor hat über HFC-23-Projekte berichtet. Dabei geht es um Abfallprodukte aus der
Kältemittelherstellung. Damit wird getrickst. Sie werden
auf Halde produziert, damit der Klimakiller als Nebenprodukt wieder vernichtet wird. Dafür gibt es eben
diese Emissionszertifikate. 19 Chemieunternehmen auf
der Welt - meist in China und Indien mit Investoren aus
Europa und Japan - arbeiten daran. Aus diesen wenigen
Anlagen stammt - das ist eigentlich unglaublich; ich
nenne jetzt noch einmal die Zahl - die Hälfte aller weltweit gehandelten Emissionszertifikate.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns also noch
einmal intensiv darüber reden, was wir hier wirklich
wollen; denn so hat das keinen Sinn.
Ich komme zum Schluss. Wir haben im Umweltausschuss über Peak Oil gesprochen. Dabei haben wir darüber gesprochen, welche Auswirkungen das haben
wird. Das müssen wir weiter tun.
In der vorherigen Debatte haben wir gerade gehört:
Es ist wieder ein Soldat in Afghanistan gestorben. - Ich
meine, wir sollten darüber diskutieren:
({6})
Regenerative Energien tragen zum Frieden bei. Kriege
werden um Öl und um natürliche Ressourcen geführt.
({7})
Es gab einen Bundespräsidenten - er ist zurückgetreten -,
der gesagt hat: Aus wirtschaftlichen Gründen werden
Kriege geführt. - Das hat er gesagt, auch wenn Sie das
leugnen. Auch aus diesem Grund müssen wir mehr Klimaschutz betreiben. Die Gelder für die Kriege könnten
auch dort gut investiert werden.
({8})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundlage
der Klimapolitik der FDP ist der Mainstream der Wissenschaft. Die FDP verbietet aber keinem ihrer Abgeordneten eine Diskussion oder eine eigene Meinung.
Entscheidend ist am Schluss - ich denke, das wird bei
CDU/CSU genauso sein -, was Mehrheiten entscheiden,
und Mehrheiten in der FDP haben sich auf Parteitagen
und in der Fraktion überwältigend klar für die Klimapolitik ausgesprochen, die diese Bundesregierung hier
vereinbart hat und umsetzt.
({0})
Herr Kollege, Sie haben sofort eine Zwischenfrage
provoziert. Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern, dann
sagen Sie zu.
Gerne.
Herr Kollege Schwabe, bitte.
Herr Kollege Kauch, ich begrüße diese Aussage der
FDP ausdrücklich. Gleichzeitig will ich Sie aber fragen:
Was halten Sie dann davon, dass es Ihre Partnerfraktion
in der Koalition so hält, dass sie eine Person, die den
menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel in
der Tat infrage stellt, zu ihrer Sprecherin für das Thema
Umweltschutz macht? Spricht das aus Ihrer Sicht dafür,
dass die Mehrheit in dieser Fraktion diese Meinung teilt?
({0})
Lieber Kollege Schwabe, ich würde es mir verbitten,
wenn die CDU/CSU-Fraktion unsere Personalentscheidungen kommentieren würde. Deshalb kann ich nur sagen, dass der Kollege Jung alles Notwendige zu dieser
Frage gesagt hat.
({0})
Meine Damen und Herren, wir stehen zur Politik der
Emissionsminderung von Treibhausgasen, weil das für
uns geradezu eine Frage der Generationengerechtigkeit
ist. Wir müssen den Generationen, die nach uns folgen,
nämlich Lebensräume hinterlassen, die lebenswert sind,
und Ressourcen für sie erhalten, die sie vielleicht noch
einmal brauchen werden. Das betrifft Rohstoffe, das betrifft aber eben auch natürliche Ressourcen und die Biodiversität.
Deshalb hat diese Bundesregierung - haben CDU/
CSU und FDP im Deutschen Bundestag - höhere CO2Minderungsziele beschlossen, als es jede Regierung zuvor getan hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020,
80 Prozent bis 95 Prozent bis 2050.
({1})
Deshalb brauchen wir in der Klimapolitik absolut keine
Nachhilfe von der Opposition.
({2})
Im Energiekonzept gehen wir noch weiter. Wir haben
im Koalitionsvertrag vereinbart, Zwischenschritte für einen Entwicklungspfad zur Emissionsminderung zu setzen. Das ist auch richtig so. Dann kann sich jeder darauf
einstellen, welche Schritte in Politik und Wirtschaft in
den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen werden.
Wir haben das Energiekonzept klar beschlossen. Der
Deutsche Bundestag wird das mit einem Antrag von
CDU, CSU und FDP unterstützen, zumindest dann,
wenn Sie uns die Gelegenheit geben, endlich zu Entscheidungen zu kommen, statt immer wieder nur durch
formale Obstruktion die Prozesse in die Länge zu ziehen.
({3})
Wir haben eine CO2-Minderung um 55 Prozent bis 2030
und um 70 Prozent bis 2040 sowie ein Monitoring durch
die Bundesregierung beschlossen, das alle drei Jahre
durchgeführt werden soll. Das sind genau die Ziele, die
Sie mit Ihrem Klimaschutzgesetz erreichen wollen. Wir
werden das auch mit dem Energiekonzept, das wir beschlossen haben, erreichen können.
Das ist ein realistischer Pfad. Es ist alles durchgerechnet worden. Die Opposition - das wird auch in dem Antrag der SPD deutlich - folgt in ihren Forderungen immer dem Grundsatz „Es darf ein bisschen mehr sein“.
Die SPD hat im Januar und im Oktober Anträge vorgelegt. Im Januar hat sie unter dem Titel „Die richtigen
Lehren aus Kopenhagen ziehen“ eine CO2-Minderung
von 80 bis 95 Prozent gefordert. Das fanden wir gut. Inzwischen, ein Dreivierteljahr später, boomen die Grünen
im Gegensatz zu Ihnen, und deswegen müssen Sie jetzt
ein bisschen nachlegen, indem Sie 95 Prozent fordern.
Das war vorher offensichtlich nicht die Lehre, die Sie
aus Kopenhagen gezogen haben, und macht deutlich,
worum es hier geht: Sie veranstalten eine Zahlenspielerei. Das bringt uns in der Sache nicht weiter. Sie betreiben eine PR-Strategie, um ein paar Wähler mehr von den
Grünen zu bekommen.
({4})
Der Kollege Schwabe will noch eine Zwischenfrage
stellen.
Nein, jetzt nicht mehr. - Deshalb rufe ich in Erinnerung, was aus den Zielen wird, die sich rot-grüne Regierungen gesetzt haben. Helmut Kohl und Angela Merkel
haben in den 90er-Jahren als nationales Klimaschutzziel
eine CO2-Minderung von 25 Prozent bis 2050 beschlossen.
({0})
Das wurde 1998 von der rot-grünen Regierung übernommen.
Dann war Jürgen Trittin sieben Jahre lang Umweltminister dieser Republik. Am Ende - ich glaube, es war im
Jahr 2003 - hat die Bundesregierung klammheimlich
dieses nationale Klimaschutzziel aus allen Berichten getilgt, weil sie es nicht erreicht hat. Ihre Politik erreicht
die Klimaschutzziele nicht, die Sie der Bevölkerung vorgaukeln.
({1})
Diese Koalition macht realistische Politik. Deswegen
bringen wir ein Energiekonzept auf den Weg, das den
Aufbruch in das Zeitalter der erneuerbaren Energien
nicht nur einfordert, sondern auch die Wege aufzeigt,
wie man ihn erreichen kann.
Herr Kollege, es gibt noch einmal den Wunsch nach
einer Zwischenfrage vom Kollegen Kelber.
Ich möchte gerne meine Ausführungen zu Ende führen. - Bis 2050 soll der Anteil der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien 80 Prozent betragen und eine
Minderung von mehr als 50 Prozent beim Primärenergieverbrauch erreicht werden. Das wird durch zahlreiche
Maßnahmen unterlegt.
Die wichtigste ist zunächst einmal, dass wir den Einspeisevorrang verankern und dadurch dafür sorgen, dass
es keinen Wettbewerb zwischen Kernkraft und erneuerbaren Energien gibt. Der Einspeisevorrang bewirkt, dass
der Wettbewerb bei der Laufzeitverlängerung zwischen
Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerken stattfindet. Das
ist auch aus Klimaschutzgesichtspunkten der richtige
Weg.
({0})
Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekonzept nicht nur 30 dürre Seiten geschrieben, wie der Kollege Schwabe gesagt hat, sondern wir haben ein konkretes Sofortprogramm zum Beispiel für die OffshoreWindkraft und den Netzausbau verabschiedet.
Ich sage Ihnen von der Opposition ganz klar: Wir
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, im Deutschen
Bundestag für erneuerbare Energien einzutreten und
dann die Stromleitungen, die notwendig sind, um den
Strom auch in den Süden zu transportieren, zu blockieren und zu obstruieren.
({1})
Ich sehe schon voraus, dass die Kollegin Höhn auch bei
den nächsten Bürgerinitiativen dabei sein wird, um Infrastrukturprojekte für erneuerbare Energien zu verhindern.
({2})
Wir setzen uns für Netzausbau und Speicherförderung
ein. Wir legen einen Geothermieatlas auf, damit klar ist,
wo Chancen auf Geothermie bestehen.
({3})
Wir stärken die Stellung von Biogas im Wärmebereich,
was die SPD nicht gewollt hat. Wir werden das Förderinstrumentarium für erneuerbare Wärme ausweiten. Last,
but not least ist der Energie- und Klimafonds das größte
Förderprogramm für erneuerbare Energien, das diese
Republik jemals gesehen hat. Alle Mehrerlöse aus dem
CO2-Handel fließen in diesen Fonds. Hinzu kommt die
Gewinnabschöpfung bei den Kernkraftwerksbetreibern.
Sie dagegen haben damals vertraglich zugesichert, die
Gewinne nicht abzuschöpfen. In Ihrem Atomvertrag ist
zu lesen: kein Geld von den Kernkraftwerksbetreibern.
- Wir nehmen das Geld von den Kernkraftwerksbetreibern, um es in erneuerbare Energien zu investieren.
({4})
Wenn man sich die Anträge der Opposition zum Klimaschutzgesetz anschaut, stellt man fest, dass sie durchaus nachdenkenswerte Punkte enthalten. Aber ich sage
Ihnen ganz klar: Einen Punkt halte ich für absolut inakzeptabel, nämlich den Weg in die Räterepublik. Ihnen
fällt, wenn Sie nicht weiterwissen, immer nur ein: Dann
gründen wir einen neuen Arbeitskreis. - In diesem Fall
soll es eine sogenannte unabhängige Klimaschutzkommission sein. Im Antrag der SPD steht:
In der Kommission erhalten der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der Rat für nachhaltige Entwicklung, der Wissenschaftliche Beirat für globale
Umweltveränderungen sowie namhafte Wissenschaftler Sitz und Stimme.
Sie selber zählen auf, wie viele Gremien diese Republik
schon hat, die sich mit dem gleichen Thema befassen.
Dennoch wollen Sie ein neues Gremium sozusagen als
Dach für all die Gremien, die Sie eingerichtet haben, damit alles koordiniert wird. Wenn Sie neue Gremien wollen, dann müssen Sie auch sagen, wo etwas bereinigt
werden soll. Ansonsten bleiben wir bei den bewährten
Strukturen, deren Aufbau wir gemeinsam hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben.
({5})
Ich sage ganz klar: Wir Liberale sowie die Kolleginnen und Kollegen von der Union gehen voran in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir stehen für
Treibhausgasminderung. Wir brauchen hier keine Nachhilfe. Unsere Ziele sind ambitioniert. Wir zeigen auf, wie
man sie erreichen kann.
({6})
Der Kollege Kelber wünscht eine Kurzintervention.
Er soll sie bekommen. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Kauch, in der letzten
Debatte hatten Sie die Behauptung aufgestellt, im Land
Nordrhein-Westfalen hätte Schwarz-Gelb eine anspruchsvollere Klimapolitik gemacht, als es die Nachfolgeregierung vorhat. Das konnte durch Zitate aus dem
Umweltbericht der schwarz-gelben Landesregierung
leicht widerlegt werden. Tatsächlich sind die Emissionen
angestiegen. Heute haben Sie gesagt, die alte schwarzgelbe Bundesregierung hätte bis 1998 eine anspruchsvollere Klimapolitik als die Nachfolgeregierungen gemacht. Können Sie bestätigen, dass in der Zeit der
schwarz-gelben Bundesregierung die Treibhausgasemissionen ausschließlich in den Jahren 1991, 1992 und 1993
zurückgegangen sind, dass dieser Rückgang ausschließlich aufgrund des Zusammenbruchs der Industrie in OstUlrich Kelber
deutschland sowie der Modernisierungen dort erfolgte,
dass die Treibhausgasemissionen von 1994 bis 1999
auch in Ostdeutschland wieder angestiegen sind und erst
unter der rot-grünen Regierung sanken und dass die
CO2-Emissionen in Westdeutschland in den gesamten
16 Jahren der Kohl-Regierungen, zum Teil unter Beteiligung von Frau Merkel - das sind die beiden Namen, die
Sie genannt hatten; offenbar fiel Ihnen kein Name von
der FDP ein -, angestiegen sind und zum ersten Mal im
Jahr 1999 unter der rot-grünen Regierung gesunken
sind? Sind Ihnen die Zahlen bekannt?
Herr Kollege Kauch, zur Erwiderung.
Lieber Kollege Kelber, es ist schon erstaunlich, dass
Sie sich hier offensichtlich zum Anwalt von Herrn
Trittin machen wollen, weil es die Grünen nicht tun. Ich
kann Ihnen nur sagen: Wir haben es durch den Zusammenbruch alter Industrien in Ostdeutschland am Anfang
der 90er-Jahre natürlich leichter gehabt als andere Länder; das ist völlig unstreitig. Aber wir haben auch anspruchsvollere Ziele gesetzt. Es hat sich kein anderer
Umweltminister so mir nichts, dir nichts von Umweltschutzzielen verabschiedet wie Herr Trittin.
An der Stelle muss man mal Herrn Gabriel loben, der
hat nämlich am Schluss seiner Amtszeit die Kioto-Ziele
umsetzen können. Herr Trittin hat es offensichtlich nicht
geschafft.
({0})
Jetzt hat Kollegin Höhn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
hier eben einen Ihrer wirklich legendären Auftritte erlebt. Sie versuchen, einfach durch Lautstärke zu überzeugen. Was Sie zu Jürgen Trittin gesagt haben, macht
deutlich, dass Sie nichts verstanden haben. Durch Jürgen
Trittin sind die erneuerbaren Energien erst mal auf den
Weg gekommen, auf dem sie heute sind.
({0})
Niemand anders als die Grünen hat die Erneuerbaren
eingeführt.
({1})
Alle Welt guckt auf Deutschland, weil wir das damals
unter Rot-Grün geschafft haben. Davon sind Sie von der
FDP meilenweit weg.
Ich muss ehrlich sagen, ich finde diese Debatte traurig. Eigentlich möchte ich an das anknüpfen, was der
Kollege Jung gesagt hat. Bei allen Auseinandersetzungen, die wir hatten, haben wir hier im Bundestag eine
Gemeinsamkeit gehabt, und das war der Klimaschutz. Es
gab immer eine gemeinsame Basis bei den internationalen Zielen des Klimaschutzes. Die einen wollten mehr
als die anderen, aber vom Grundsatz her haben wir es in
diesem Bundestag sogar geschafft, vor Klimakonferenzen einstimmige Beschlüsse zu Klimaschutzzielen hinzubekommen.
Ich muss sagen, das war eine gute Leistung, weil wir
erkannt haben: Das ist ein globales Problem, darauf
müssen wir auch gemeinsam als gesamter Bundestag reagieren. Daher können wir eine solche Auseinandersetzung, wie Herr Kauch sie wieder einmal begonnen hat,
nicht gebrauchen. Es geht um viel mehr als um das Gezänk hier untereinander.
Es ist schade, dass Herr Kauch genau diese Debatte
beginnt. Ich meine, wenn Herr Kauch jetzt zum Beispiel
sagt, wir würden die formalen Prozesse, gerade was all
die Atomgesetze, über die wir jetzt diskutieren, angeht,
verzögern, dann muss ich sagen: Herr Kauch, denken Sie
mal einen Moment nach. Machen Sie nicht immer den
Mund auf, sondern denken Sie einen Moment nach, was
Sie uns bei diesen Anhörungen zumuten: zwei Gesetze
in vier Stunden. Das heißt, wir haben für die Sicherheit
von Atomkraftwerken und für die wirklich entscheidende Frage des Atommülls gerade mal 30 bis
45 Minuten, um uns damit zu beschäftigen. Das ist eine
Farce, und Sie haben uns diese eingebrockt. Das ist die
Wahrheit.
({2})
Sie haben die Erkundung von Gorleben wieder auf
die Tagesordnung gesetzt. Gorleben, wo es unten eine
Riesenblase mit Gas und oben eine wasserlösliche
Schicht gibt, soll als Endlager dienen. Die Fachleute behaupten, da könnte man Müll 1 Million Jahre zwischen
dem Gas und der wasserlöslichen Schicht sicher aufbewahren. Dazu muss ich sagen: Gehen Sie in sich. Sie haben eine verdammte Verantwortung allen nachfolgenden
Generationen gegenüber. Mit einfachen Sprüchen kommt
man da nicht weiter.
({3})
Wir diskutieren hier und sagen: Klimaschutz und Klimaziele dürfen nicht einfach nur irgendwelche Ziele sein,
vielmehr brauchen wir Instrumente, die dazu dienen,
diese Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Deshalb haben wir hier als Grüne im Dezember letzten Jahres einen Antrag gestellt - die SPD hat jetzt einen Antrag gestellt -, der in folgende Richtung geht: Wir
können uns auf Klimaziele einigen und sollten zum Erreichen dieser Ziele hier gemeinsam Instrumente beschließen. Wir sagen: Wir verfolgen beim Klimaschutz
ein großes Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen,
egal unter welcher Regierung.
Deshalb meinen wir: Wir brauchen ein Klimaschutzgesetz, weil es drei ganz entscheidende Vorteile hat. Es
ist verlässlich, es ist transparent und konsequent. Und
genau das brauchen wir bei dem globalen Problem, das
wir mit dem Klimawandel haben. Ein solches Klimaschutzgesetz brauchen wir in diesem Land.
({4})
Warum ist das verlässlich? Wir haben momentan unverbindliche politische Vorgaben, und wir wollen diese
unverbindlichen Vorgaben in rechtsverbindliche Ziele
umsetzen. Das ist das Ziel eines Klimaschutzgesetzes.
Bei der Vorgabe können wir uns auch darüber streiten,
ob es jetzt 80 Prozent oder 95 Prozent CO2-Reduktion
bis 2050 geben soll.
Über verbindliche Ziele würde genau das erreicht,
was wir brauchen, eine langfristige Planungssicherheit
für die Menschen.
Was Sie mit Ihrem Energiekonzept gegen die Mehrheit der Bevölkerung erreicht haben, ist doch, dass es einen Stillstand bei den Investitionen gibt. Die Stadtwerke
investieren nicht mehr. In die Erneuerbaren wird nicht
mehr investiert. Durch Ihr Energiekonzept gibt es in den
nächsten drei Jahren einen Stillstand, nicht mehr und
nicht weniger. Dann werden wir kommen, das Ganze
nach der Wahl umändern, und es kann wieder losgehen.
So ist die Politik, und das ist auch gut so.
({5})
Es wäre auch vor Cancún ein schönes Zeichen, wenn
man wirklich sagen würde: Ja, Deutschland verabschiedet ein Klimaschutzgesetz; wir wollen nicht nur Klimaschutzziele beschließen, sondern auch zeigen, wie sie
umgesetzt werden können.
Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauch?
Ja, bitte schön.
Frau Kollegin Höhn, Sie haben angemahnt, dass wir
eine gemeinsame Basis für die internationale Klimapolitik brauchen. Ich stelle fest, dass diese gemeinsame Basis immer noch da ist. Wir debattieren aber heute hier
über die nationale Umsetzung. Der Kollege Schwabe hat
die Auseinandersetzung um das nationale Energiekonzept in die Debatte eingeführt. Dies sei vorausgeschickt.
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich
glaube, es ist wichtig und es ist zentral, dass wir vor
Cancún und darüber hinaus in den internationalen Verhandlungen eine Basis haben. Wir haben nämlich ein gemeinsames nationales Interesse, das, was wir hier tun,
auch in anderen Teilen der Welt zu sehen.
Zu meiner Frage. Sie haben gesagt: Die Menschen
müssen sich auf die Zielvorgaben, Zielentwicklungspfade, die wir beschließen, verlassen können. Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Energiekonzept, das Sie hier in Bausch und Bogen verdammen
- Sie haben das Recht, das eine oder andere zu kritisieren; insbesondere in der Kernenergiefrage sind wir halt
nicht auf einer Linie -, genau dieser klimapolitische Entwicklungspfad hin zu einem Anteil von 80 bis 95 Prozent bis 2050 entwickelt worden ist, dass dieses Konzept
im Deutschen Bundestag beschlossen werden wird und
dass dies letztendlich Grundlage sein sollte für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die über Legislaturperioden hinweg verfolgt wird? Sind Sie bereit, diese parteiübergreifenden Punkte - ich glaube, sie können auch
nach den Änderungen verfolgt werden, die Sie am Energiekonzept vornehmen wollen, wenn Sie wieder einmal
regieren - gelten zu lassen? Oder wollen Sie sie nach einer Regierungsübernahme vom Tisch wischen?
Herr Kauch, der entscheidende Punkt ist, ob die Ziele,
die Sie festgeschrieben haben, erreichbar sind. Wir bieten Ihnen mit dem Klimaschutzgesetz ein Instrument,
wie die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, auch erreicht werden können. Wir fordern: Die Ziele müssen
überprüft werden, sie müssen transparent dargestellt
werden, und wenn sie nicht erreicht werden, dann müssen Sanktionen verhängt werden. Genau dieses Instrument verweigern Sie. Deshalb müssen Sie sich nicht
wundern, dass wir glauben, dass Ihre Ziele nur auf dem
Papier stehen. De facto wissen Sie selber, dass Sie mit
der Art und Weise, wie Sie Politik machen, diese Ziele
nie und nimmer erreichen werden. Das ist der Unterschied.
({0})
Ein Klimaschutzgesetz stünde einerseits für Verlässlichkeit und andererseits für Transparenz. Wir wollen
Zwischenziele. Übrigens, Großbritannien hat sie sich bereits gesetzt; es gibt also auch Länder, die diesen Weg
gehen. Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen,
dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hier
funktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa im
Verkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, da
müssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maßnahmen ergreifen. - Das ist die Transparenz, die wir mit
dem Klimaschutzgesetz wollen. Wenn wir es hätten,
dann könnten wir schnell reagieren und könnten letzten
Endes dafür sorgen, dass diese Ziele wirklich erreicht
werden.
Dazu gehört natürlich, dass wir konsequent sein müssen. Wenn die Ziele nicht erreicht werden, dann müssen
wir in der Tat Sanktionen verhängen. Dann müssen verstärkt Klimaschutzanstrengungen unternommen werden. Damit würden wir versuchen, der Erreichung all
dieser Ziele Biss und Nachdruck zu verleihen. Wir wollen nicht nur, dass Ziele formuliert werden, sondern
auch, dass sie umgesetzt werden, und deshalb fordern
wir das Klimaschutzgesetz.
({1})
Die Alternative ist nämlich das, was Sie, Herr Kauch,
mit dem Klimakonzept machen. Wir haben den Eindruck: Das ist unverbindliche Lyrik. Das Energiekonzept
der Bundesregierung enthält 36 Prüfaufträge, und zwar
ohne Substanz. Schauen wir uns doch einmal die Gebäudesanierung an. Durch die Gebäudesanierung kann viel
CO2 reduziert werden. Im letzten Jahr standen 2,2 Milliarden Euro für die Gebäudesanierung zur Verfügung.
In diesem Jahr sind es 1,5 Milliarden Euro, und der Wert
für das nächste Jahr ist - erst nach großem Protest - auf
950 Millionen Euro aufgestockt worden. Wenn Sie dann
sagen: „In diesem Atomfonds sind noch 300 Millionen“,
dann sage ich: Der Unterschied zwischen 1,5 Milliarden
und 950 Millionen beträgt fast 600 Millionen. Wenn Sie
die Mittel mit Ihren 300 Millionen aufstocken, dann sind
Sie immer noch nicht bei dem Wert von diesem Jahr.
Das heißt de facto, dass Sie viel hineinschreiben, aber
bei der Gebäudesanierung nicht die Finanzen zur Verfügung stellen, um die Ziele am Ende wirklich durchsetzen
zu können. Das machen wir Ihnen zum Vorwurf.
({2})
Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Sache noch einmal im Ausschuss diskutieren. Nach meiner
Auffassung gibt es Gemeinsamkeiten; Herr Jung hat das
noch einmal dargestellt. Ich würde gerne ausloten, ob es
diese Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt und wie weit wir
da gehen können. Das sollten wir machen. Sollten wir
dies in einer Zeit der Konfrontation, die wir momentan
erleben, schaffen, dann wäre das ein gutes Zeichen, weil
wir deutlich machen, dass wir bei globalen Fragen, deren
Lösung wir hier national umsetzen, am Ende noch Gemeinsamkeiten hinbekommen. Darauf hoffe ich ein
Stück. Ich sehe den einen und anderen, mit dem man
vielleicht zusammenarbeiten kann; Herr Kauch, vielleicht auch mit Ihnen in einer ruhigen Stunde, wenn es
nicht darum geht, hier am Rednerpult zu demonstrieren,
wie aufgeregt und engagiert Sie sein können. Ich hoffe
auf gute Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Christian Hirte für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir eine etwas hektische Debatte jetzt
hatten, versuche ich, ein klein bisschen Ruhe hineinzubringen und auch etwas sachlich zu diskutieren.
Kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Kopenhagen im Dezember letzten Jahres hat der Bundesumweltminister in einer Rede vor diesem Haus drei zentrale Gesichtspunkte einer europäischen Klimaschutzinitiative
formuliert, die ich auch gerade vor dem Hintergrund der
heutigen Debatte für wesentlich erachte:
Erstens muss es uns bei Klimapolitik um Nachhaltigkeit gehen. Wenn wir die natürlichen Ressourcen unseres
Planeten verbrauchen - wir haben viel über Energie gesprochen; das heißt, dass wir die kohlenstoffbasierten
Ressourcen verbrauchen - und damit den CO2-Ausstoß
weiter in dem Maße vorantreiben, wie wir das bis heute
tun, werden wir den nächsten Generationen einen Bärendienst erweisen. Vielleicht diskutieren wir in Europa und
insgesamt heute manchmal auch noch das falsche
Thema. Manche klagen über mögliche Jobverluste wegen Klimaschutzauflagen. Ich glaube, viel größere Sorgen müssten wir uns machen, wenn wir nicht über Klimaschutz diskutieren würden. Deswegen will ich an
dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich freue
und es begrüße, dass wir in dieser Runde auch so engagiert das Thema gemeinsam miteinander debattieren.
Es geht aber natürlich zweitens auch um die Art, wie
wir wirtschaften. Bis 2050 werden wahrscheinlich auf
unserer Erde etwa 9 Milliarden Menschen leben, und
viele von ihnen werden natürlich ein Stück von dem
Wohlstand beanspruchen, den wir bei uns in Europa als
selbstverständlich erachten. Dass dies mit einem enormen Anstieg des Energiebedarfs verbunden sein wird,
liegt auf der Hand. Diesen Wohlstandsanspruch mit
knappen Ressourcen in Einklang zu bringen, heißt, Energie und knappe Lebensgüter künftig vernünftig zu bewirtschaften. Wir müssen also ein Gut wie Energie nicht
nur bereitstellen; zu unserem Wohlstand gehört es auch,
dass dies zu bezahlbaren Preisen erfolgen kann.
({0})
Energie, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist also
ein Grundbedürfnis und kein Luxusgut.
Und um dieses grundlegende Bedürfnis zu befriedigen, geht es drittens darum, sich damit zu beschäftigen,
mit welchen Technologien man dies dauerhaft ermöglichen will. Nach dem Verständnis unserer Koalition
- und ich will das hier in aller Deutlichkeit sagen - sind
es dauerhaft nicht die Kernkraft und nicht die Kohle,
sondern die erneuerbaren Energien. Wir haben schon in
unserem Koalitionsvertrag und in unserem Wahlkampfpapier ausdrücklich davon gesprochen - das tun wir
auch heute noch, nachdem wir gewählt sind -, dass es
sich bei der Kernkraft um eine Brückentechnologie handelt.
Wenn ich vorhin das Jahr 2050 angesprochen habe,
habe ich das nicht ganz ohne Bedacht gewählt, weil natürlich auch das Energiekonzept der Bundesregierung
diesen Zeithorizont zugrunde legt. Zum ersten Mal - hier
gebe ich dem Kollegen Kauch ausdrücklich recht - hat
sich eine Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetzt
und sich zu drei Punkten, nämlich Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Technologie, offen und konkret bekannt. Mit dem Energiekonzept werden Leitlinien für
den Einstieg in eine umweltschonende, zuverlässige und
vor allem auch bezahlbare Energieversorgung formuliert.
Ich will aber noch einen vierten Gesichtspunkt hinzufügen. Es geht am Ende auch immer um Glaubwürdigkeit. Richtig ist - Andreas Jung hat das ausgeführt -,
dass der Klimagipfel von Kopenhagen nicht die Ergebnisse gebracht hat, die wir uns, ich glaube, alle gemeinsam in diesem Hause, erhofft haben. Das Ziel muss
trotzdem bleiben, die globale Erwärmung auf unter
2 Grad zu begrenzen.
({1})
Und dieses Ziel müssen wir in Deutschland glaubwürdig
vertreten. Wir haben in Deutschland in den vergangenen
Jahren hohe Ansprüche beim Klimaschutz formuliert
und eingehalten. Das wird sich auch künftig nicht ändern.
Die internationale Rolle Deutschlands beim Klimaschutz erwächst aber nicht aus nationalen Klimaschutzgesetzen, wie sie die Oppositionsfraktionen in ihren Anträgen fordern. Sie erwächst auch und gerade aus der
Gestaltung der konkreten Energie- und Klimapolitik im
eigenen Land. Deutschland muss und wird also durch
seine eigene Vorreiterrolle beispielgebend sein; darauf
hat die Bundeskanzlerin immer deutlich hingewiesen.
Die Frage ist jetzt, wie wir unsere Vorreiterrolle forcieren können. Die Antwort darauf ist: Deutschland
muss durch sein eigenes Beispiel führen. Wir müssen beweisen, dass Wachstum und der Ausstoß von Treibhausgasen voneinander entkoppelt werden können. Deutschland muss zeigen, dass es möglich ist, den Wohlstand zu
mehren und das Klima zu schützen. Die unkonditionierte
40-prozentige Reduktion des Klimagasausstoßes ist
schon angesprochen worden; ich muss das nicht weiter
auszuführen. Das Energiekonzept ist also der richtige
Weg, um auch anderen Ländern ein Beispiel zu geben
und zu zeigen, wie Wohlstand und Ressourcenverbrauch
in Einklang gebracht werden können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, das von Ihnen so verschmähte Energiekonzept
wird - und das werden Sie sehen - Modell und Maßstab
für die Lösung der Energiefragen vieler anderer Länder
werden.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt beleuchten, der oft vergessen wird: Aktiver Klimaschutz
bedeutet im Ergebnis auch eine größere Unabhängigkeit
von ausländischen fossilen Energieträgern. Europa ist
von Energieimporten abhängig, und die Tendenz ist steigend. Zeitgleich verschärft sich der globale Wettbewerb
um Rohstoffe und Energieträger. Die Nachfrage wächst
wesentlich schneller als das Angebot. Die Sorge um Verlässlichkeit und Stabilität der europäischen Hauptenergielieferanten erhöht noch einmal den Handlungsdruck.
Daher ist aktiver Klimaschutz nicht nur Garant für die
wirtschaftliche Selbstständigkeit. Er bietet gleichzeitig
eine Chance, aus dem Teufelskreis von Knappheit und
Abhängigkeit zu entkommen. Klimaschutz liegt also
durchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands, weil
wir uns damit von ausländischen Ressourcen abkoppeln.
Als Technologieführer bei den erneuerbaren Energien
kann Deutschland dabei seine Position weiter ausbauen,
und ich bin auch sicher, dass das gelingen wird. Ökonomische Modernisierung und technologische Innovation das ist der Weg, auf dem wir Wohlstand erreichen,
Wachstum ausbauen und gleichzeitig ressourcenschonend wirtschaften und leben können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegin!
Herr Hirte, damit kein falscher Eindruck entsteht: Zum
Maßstab wird Ihr Energiekonzept hundertprozentig nicht
werden.
({0})
Spätestens in Karlsruhe oder spätestens 2013 ist das vom
Tisch, sind auch die Laufzeitverlängerungen vom Tisch.
({1})
Herr Kauch, was Sie gesagt haben, war ein bisschen
entlarvend. Sie haben davon gesprochen, dass Sie Angst
vor der sogenannten Räte-Republik haben. Dabei geht es
nur darum, dass Politik den Mut hat, durch ein unabhängiges Gremium prüfen zu lassen, ob die Maßnahmen
ausreichen, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu erreichen. Das zeigt, welches Demokratieverständnis Sie
haben. Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, dass die
Politik Rückkopplung mit unabhängigen Wissenschaftlern zulässt.
({2})
Genau deswegen ist das, was wir mit dem Klimaschutzgesetz vorschlagen, ein richtiger Schritt in die richtige
Richtung.
Ihre Aussage spricht überhaupt Bände. Jetzt ist klar,
was Sie von unabhängigen Expertengremien halten.
({3})
Ihr eigener Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
Sie davor gewarnt, die Laufzeitverlängerungen zu beschließen.
({4})
Ihr eigener Sachverständigenrat, dem viele unabhängige
kompetente Wissenschaftler angehören, hat gesagt, dass
das alles kontraproduktiv ist, was die erneuerbaren Energien anbelangt, und dass die Laufzeitverlängerungen in
die völlig falsche Richtung gehen.
Die gehen mit einem Federstrich darüber hinweg und
nehmen den eigenen Sachverständigenrat nicht ernst. Sie
haben es heute sehr schön auf den Punkt gebracht, als
Sie sagten, es sei ein Rückschritt in die Räte-Republik,
wenn man auf unabhängige Experten hört.
({5})
In der Politik muss immer wieder darauf geachtet
werden, dass Taten und Worte übereinstimmen. In der
Umweltpolitik haben wir augenblicklich das Problem,
dass Sie Superlative wählen, um Ihre Konzepte anzupreisen, aber die Taten dem in keiner Weise entsprechen.
Das ist Ihr Problem.
Fangen wir mit Kopenhagen an, Herr Hirte. Was haben wir in Kopenhagen erlebt? Ihre Bundesregierung ist
dort Verpflichtungen eingegangen und hat finanzielle
Zusagen gegenüber anderen Staaten gemacht. Was erleben wir nun? Nichts davon bilden Sie im neuen Haushalt
ab. Es sind keine entsprechenden Mittel eingestellt. Wir
werden nichts von dem einlösen können, was wir versprochen haben. Wir schlagen somit mit unserem
Gesicht auf und können deswegen nicht von anderen
Staaten glaubwürdiges Verhalten verlangen.
({6})
Mit dieser Politik verspielen Sie auf internationaler
Ebene das hohe Ansehen, das sich Deutschland in den
letzten 15 Jahren in diesem Bereich durchaus erarbeitet
hat.
Es geht aber noch weiter. Die Kürzungen bei den Gebäudesanierungsprogrammen hat Kollegin Höhn schon
angesprochen. Dann geht es aber auch um den Stil, wie
Sie Politik machen. So sagt der Bundesumweltminister
erst, mit den großen Vier dürfe man keinen Deal machen, einen Monat später erfahren wir aber zufällig, weil
sich ein Verantwortlicher verplappert, dass Sie längst einen Geheimvertrag abgeschlossen und in den Schubladen liegen hatten. Auch hier stimmen Worte und Taten
nicht überein. So etwas trägt, wie ich denke, zur Politikverdrossenheit bei.
({7})
Wir müssen also, wie ich glaube, einen neuen Politikstil finden. Es geht nicht darum, in schönen Hochglanzbroschüren zu schreiben, was man 2050 oder 2025 erreichen will, sondern Politik muss sagen: Das nehmen wir
uns vor, und wir sind bereit, das Erreichen der Ziele regelmäßig kontrollieren zu lassen. Darüber hinaus wollen
wir ständig überlegen, ob wir nicht weitere Maßnahmen
ergreifen müssen, wenn wir feststellen, dass das, was wir
erreichen wollen, nicht erreicht wird. - Das Klimaschutzgesetz, das die Oppositionsparteien hier nun vorschlagen, leistet dies.
Wir treten jetzt im Ausschuss in die Diskussion ein.
Ich rate Ihnen: Schauen Sie es sich noch einmal genau
an! Mit diesem Gesetz könnten tatsächlich erste Schritte
unternommen werden, damit Sie wenigstens zum Teil an
das herankommen, was Sie in Hochglanzbroschüren ankündigen. Ich lade Sie ein, sich konstruktiv an den Ausschussberatungen zu beteiligen. Vielleicht gelingt es so,
das Klimaschutzgesetz, das wir als Fraktion im Übrigen
unter Beteiligung vieler Verbände erarbeitet haben, hier
einstimmig zu verabschieden. Ich hoffe, dass die Ausschussberatungen dazu beitragen werden. Sie sind herzlich dazu eingeladen.
Vielen Dank.
({8})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Josef Göppel für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
Verständnis für das Drängen der Opposition und damit
auch für den vorliegenden Antrag, ein Klimaschutzgesetz zu verabschieden, um all die bestehenden Einzelmaßnahmen in einen gesetzlichen Rahmen einzubinden.
Allerdings, werte Kollegen von der SPD, haben wir dies
in der Großen Koalition nicht zustande gebracht. Wir
waren all die Jahre mit konkreten Maßnahmen beschäftigt.
Ab 2007 ist durch Kanzlerin Merkel das Thema Klimaschutz auf die internationale Ebene gebracht worden.
Somit möchte ich Ihnen sagen: Solange Frau Merkel
Kanzlerin ist, wird es da auch bleiben, weil Frau Merkel
als Physikerin weiß, dass in wenigen Jahrzehnten 9 Milliarden Menschen auf dieser Erde leben werden und wir
nicht mit den bisherigen Formen der Energieversorgung
werden weiterarbeiten können.
({0})
Deswegen ist ja das Energiekonzept aufgestellt worden.
Natürlich kann man jetzt fragen, ob nicht die 60 Einzelmaßnahmen, die viele Gesetze berühren, in einem
Klimaschutzgesetz gebündelt werden sollten. Ich sage es
noch einmal: Ich persönlich bin offen für diese Idee, bin
aber im Moment nicht davon überzeugt, dass dieses Verfahren das richtige wäre; denn es geht darum, eine ganze
Reihe von Lebensbereichen im Hinblick auf eine andere
Lebens- und Wirtschaftsweise umzuorientieren.
Die Gebäudesanierung ist hier angesprochen worden.
Natürlich ist es richtig, die Schaffung von Möglichkeiten
der steuerlichen Abschreibung von Energiesparinvestitionen in Gebäuden zu prüfen, entsprechend der früheren
Regelung in § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung, die eine Abschreibung von jährlich
10 Prozent ermöglichte. Dies war eine entscheidende
Maßnahme. Deswegen haben die Umweltpolitiker der
Union so sehr darauf gedrängt, dass dies im Energiekonzept erscheint. Ich möchte auch den alten bayerischen
Vorschlag erwähnen, Energiesparinvestitionen von der
Erbschaftsteuer absetzen zu können. Auch das erscheint
mir in diesem Zusammenhang überlegenswert. Wichtig
ist schließlich eine haushaltsunabhängige Finanzierung
für erneuerbare Energien im Wärmebereich.
({1})
Auch das steht nicht ohne Grund im Energiekonzept.
Wenn man all dies zusammennimmt, wird aus meiner
Sicht schon deutlich, dass wir von der Koalition im Ziel
mit Ihnen, Frau Kollegin Höhn, Herr Miersch, Herr
Schwabe, nach wie vor einig sind. Kollege Jung hat es
klar gesagt:
Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis
2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren …
Der Deutsche Bundestag hat das beschlossen; die Regierung hat das übernommen. Es ist im deutschen Interesse,
dass die EU ein 30-Prozent-Ziel verabschiedet. Wir erwarten von der Regierung, die wir tragen, dass sie sich
jetzt im Vorfeld der Konferenz in Cancún dafür einsetzt;
denn es ist im deutschen Interesse. Damit würde ein Erfolg der wichtigen Konferenz in Cancún wahrscheinlicher.
Ich möchte in dem Zusammenhang auf einen anderen
Bereich verweisen. Wir haben zu einem gemeinsamen
Antrag zum Schutz der Biodiversität gefunden. Leider
wird dieses Thema heute zu später Nachtstunde behandelt. Deswegen möchte ich schon jetzt anführen: Klimaschutz und Artenvielfalt hängen ganz eng zusammen.
Das UNEP hat einen Atlas mit den Gebieten der Erde
herausgegeben, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen.
Das sind genau die Gebiete, in denen die größte Kohlenstoffspeicherung stattfindet. Klimaschutz und Artenvielfalt hängen also zusammen.
({2})
Da, wo hohe Artenvielfalt besteht, sind die Lebensräume
widerstandsfähiger gegenüber den Folgen von Klimaveränderungen. Um es ganz praktisch für uns in Deutschland darzustellen: Dort, wo wir Mischwaldbestände haben, können zwar auch Borkenkäfer sein; aber sie
können nicht alles kahlfressen, weil es da auch noch andere Arten von Bäumen gibt. Dieses Beispiel zeigt, wie
sehr die Dinge zusammenhängen. Wir brauchen in Klimaschutzfragen eine Gemeinsamkeit.
Ich will noch einmal auf die aktuelle Situation im Zusammenhang mit dem Energiekonzept zu sprechen kommen, und zwar auf den Bereich der Mobilität. Die Maßnahmen, die das Energiekonzept für den Bereich der
Mobilität vorsieht, sind von Ihnen in der bisherigen Debatte gar nicht angesprochen worden. Ich nehme an, dass
Sie gegen diese Maßnahmen nichts einzuwenden haben.
Es ist entscheidend, dass wir die europäischen Grenzwerte im Bereich der herkömmlichen Mobilität mit Benzin- und Dieselkraftstoffen weiterhin konsequent senken
- so wie der Weg vorgezeichnet ist -, damit auch in diesem Sektor ein Beitrag zum Klimaschutz erbracht werden kann. Es darf keiner der drei großen Verbrauchsbereiche ausgelassen werden: Strom, Heizen und
Mobilität.
Ich glaube, dass wir im Gesamtkontext nach wie vor
auf einem guten Weg sind. Dass andere Länder den Weg,
den Deutschland geht, sehr aufmerksam beobachten,
muss für uns allerdings weiterhin ein Ansporn sein, bei
den konkreten Maßnahmen nicht nachzulassen.
Das ist meine abschließende Bitte an die Opposition:
Auf die konkreten Maßnahmen kommt es an. Ich habe
eine gewisse Skepsis Zielen gegenüber, die 30 Jahre in
der Zukunft liegen. Die konkreten Maßnahmen, die jetzt
ergriffen werden, entscheiden über die Fortschritte im
Klimaschutz.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3172 und 17/2485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/2318.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/522 mit dem Titel
„Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1475 mit dem Titel „Klimaschutzziele gesetzlich verankern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD und
Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/132 mit dem Titel „Klimaschutzgesetz vorlegen - Klimaziele verbindlich festschreiben“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung
Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates
über Einlagensicherungssysteme [NeufasVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
sung] ({1}) ({2})
- Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Manfred Zöllmer
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme ({3}) KOM-Nr. ({4}) 368
endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Sicherungssysteme als Modell für Europa
- Drucksache 17/3191 Zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute steht der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme auf der Tagesordnung, ein wichtiges
Thema. Denn es geht um Vertrauen, über das wir heute
diskutieren, über das Vertrauen der Sparer und Sparerinnen, die ihr Geld bei Kreditinstituten, Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken angelegt haben.
In Deutschland haben wir seit jeher ein hohes Sicherungsniveau für die Spareinlagen. Gerade die Finanzkrise der letzten Monate hat uns aber gezeigt, dass es
nicht nur in Deutschland diese Sicherheit und dieses Vertrauen geben muss, sondern auch in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Deswegen ist die
Zielsetzung einer weiteren Harmonisierung der Einlagensicherungssysteme, ein hohes Niveau des Einlagenschutzes europaweit zu schaffen, grundsätzlich begrüßenswert. Aber das darf nicht dazu führen, dass die
Harmonisierung auf europäischer Ebene zu einer Verringerung des Anlegerschutzes in Deutschland führt, und es
darf nicht dazu führen, dass das Wettbewerbsgleichgewicht im deutschen Bankensystem gefährdet wird. Gerade deswegen kann es nicht sein, dass Europa zur Erreichung dieser Ziele über das erforderliche Maß
hinausgeht.
Der europäische Gedanke bezieht sich auf das Subsidiaritätsprinzip, das eine wichtige Grundlage ist. Diesem
Prinzip zufolge sollen die staatlichen Aufgaben von der
Ebene übernommen werden, die sie am besten und effektivsten regeln kann. Auch bei der Einlagensicherung
ist dieses Prinzip zu beachten. Man kann über Mindeststandards reden. Man muss aber beachten, dass es bereits
Standards darüber hinaus gibt, so wie das zum Beispiel
in Deutschland der Fall ist. Es ist gut, dass für alle Anleger in der EU im Falle der Insolvenz eines Kreditinstituts
ein einheitliches Schutzniveau errichtet werden soll. Es
ist gut, dass die Stabilität des Bankensystems auf europäischer Ebene gestärkt werden soll. Es kann aber nicht
sein, dass neben einer garantierten Mindestabsicherung
eine Höchstgrenze eingeführt werden soll. Es kann nicht
sein, dass die Europäische Union zu stark in nationale
Interessen eingreift oder Regeln für Politikgebiete erlässt, für die Brüssel gar nicht zuständig ist.
Die vorliegende Richtlinie darf nicht zu einer Verringerung des Anlegerschutzes in Deutschland führen. Die
Wettbewerbsgleichheit im deutschen Bankensystem darf
nicht gefährdet werden. Deshalb muss es das Ziel der
deutschen Politik sein, dass die Befreiung der Institutssicherungssysteme von der Pflicht zur Mitgliedschaft in einem Einlagensicherungssystem erhalten bleibt, dass eine
freiwillige Einlagensicherung über die gesetzlich vorgesehene Deckungssumme von zukünftig 100 000 Euro hinaus erhalten bleibt, dass eine flexible Ausgestaltung der
Höhe der Beitragsbemessung erhalten bleibt und dass im
europäischen Finanzsektor durch eine eventuelle Vernetzung der nationalen Sicherungssysteme kein Einstieg in
eine Art Transferunion erfolgt.
Europa muss lernen, Rücksicht auf die gewachsenen
Strukturen und Eigenheiten der Mitgliedsländer zu nehmen. Gerade das deutsche Bankensystem hat die Finanzkrise gut überstanden, dank unserer Sicherungssysteme,
dank der engagierten Arbeit unserer Bundeskanzlerin
Angela Merkel und des damaligen Finanzministers, aber
auch dank des Vertrauens, das die Menschen in unsere
Sicherungssysteme haben und hoffentlich auch in Zukunft haben werden. Es gilt, für dieses erfolgreiche System der Sicherung einzustehen.
Bedenklich sind die EU-Vorschläge insbesondere bezüglich institutssichernder Systeme, der Finanzierung
von Einlagensicherungssystemen und der Beitragsbemessung. Lassen Sie uns hier in diesem Hohen Haus gemeinsam die Botschaft nach Brüssel schicken, dass wir
zwar alle überzeugte Europäer sind, unsere nationalen
Eigenheiten aber nicht über Bord werfen wollen. Wir
wollen das behalten, was sich bewährt hat. Deswegen
sind wir für eine Subsidiaritätsrüge.
Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.
({0})
Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den inhaltlichen
Zielen stimmen wir mit dem überein, was Herr Kollege
Aumer gesagt hat: Wir müssen das Bewährte in den Ländern erhalten. Der Kollege Sänger von der FDP hat gestern im Ausschuss gesagt: Man muss es auch mal rumsen lassen. - Das ist eine Sache, der wir nicht unbedingt
folgen können. Er meinte damit die Subsidiaritätsrüge,
also das schärfste Schwert, das wir haben. Wir wollen
mit diesem schärfsten Schwert vorsichtig umgehen.
Mein Kollege Manfred Zöllmer hat ein sehr schönes
Bild geprägt. Er hat gesagt: Wir haben eine riesige Kanone und füllen sie mit einer dicken Kugel. Wir zünden
das Pulver, und dann rollt die Kugel vorne aus der Kanone und fällt uns auf die Füße. - Das kann mit einer
Subsidiaritätsrüge sehr leicht passieren, wenn man die
Instrumente nicht klug wählt.
Ich möchte einen Grund nennen, warum wir die Subsidiaritätsrüge als kritisch ansehen. Eigentlich ist sie die
Folge dessen, dass wir die Verhandlungen bisher
schlecht geführt haben. Man muss sagen: Wir sind im
Moment international nicht sehr gut, wenn nicht sogar
schlecht aufgestellt. Ich möchte ein weiteres Beispiel
nennen - das gilt für viele Politikfelder -: Wir haben nur
wenige im internationalen Bereich wichtige Ressorts;
aber dazu gehört das Ressort von Herrn Niebel. Da läuft
es im Moment folgendermaßen: Die Kanzlerin verspricht etwas. Der Fachminister kämpft dafür. Der
Finanzminister kämpft dagegen. Die Koalition beantragt
etwas. - Insgesamt entsteht nach außen ein völlig diffuses Bild. Wir beobachten, dass es auch bei den europäischen Verhandlungen keine klare Linie gibt. Ich glaube,
dass man da sehr viel sensibler vorgehen muss. Deshalb
sagen wir: Wir müssen eine kritische Subsidiaritätsstellungnahme gegenüber der Kommission abgeben, und
wir müssen versuchen, im Europäischen Parlament entsprechend zu wirken, damit wir uns alle diplomatischen,
formalen und inhaltlichen Optionen offenhalten. Mit einer Subsidiaritätsrüge setzt man sich sehr schnell ins Unrecht. Deshalb ist es klüger, sich für die Zukunft mehrere
Verhandlungsoptionen offenzuhalten.
Vielleicht müssen wir mit der Kommission auch noch
einmal über die Interpretation der Grundfreiheiten reden;
denn wenn sie die Regeln zu Wettbewerbsgleichheit und
Harmonisierung zum Nachteil und nicht zum Vorteil der
Länder auslegt, dann ist die Kommission aus meiner
Sicht auf dem Holzweg und interpretiert die Ziele der
Harmonisierung, der Grundfreiheiten und der Wettbewerbsgleichheit völlig falsch.
({0})
Der Richtlinienvorschlag greift sehr tief in das Dreisäulensystem der Bundesrepublik ein; das haben Sie
schon erwähnt. Die privaten Banken, die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen wirkten in der Finanzkrise wie Stabilisatoren. Das hat wirklich gut funktioniert.
Wenn man das Einzige, was wirklich gut funktioniert,
mit einem Richtlinienvorschlag gefährdet, dann kann
das nicht richtig sein.
({1})
Zentrale Begriffe sind „Haftungsverbund der Sparkassen“ auf der einen Seite und „Sicherungseinrichtung der
Volksbanken und Raiffeisenbanken“ auf der anderen
Seite. Das war das bewährte duale System der Sicherung, das in Deutschland funktioniert hat.
Diese freiwilligen Sicherungssysteme haben gut
funktioniert, weil sie als institutionensichernde Stützungsmaßnahmen verhindern, dass der Entschädigungsfall überhaupt eintritt. Das ist das kluge Instrument dieses Systems. Das wollen wir natürlich erhalten. Warum
ist das Instrument klug? Weil es präventiv, krisenabwehrend wirkt. Dieses System ist einmalig. Ich finde, dass
die Kommission einmal überlegen sollte, dieses System
in Europa als Option einzuführen, um auch den anderen
Ländern dieses kluge Sicherungssystem zu eröffnen.
({2})
Schließlich müssen auch wir in Deutschland immer darauf achten, dass die international gut funktionierenden
Systeme auch bei uns eingeführt werden. Doch was soll
stattdessen passieren? Alle Kreditinstitute in Europa sollen einem Einlagensicherungssystem unterworfen werden. Das heißt, alles, was besser als das jetzt Vorgeschlagene ist, soll abgeschafft werden. Das wollen wir
natürlich nicht.
Es gibt aber noch einen gravierenden Fehler in dem
Vorschlag der Kommission: Die Absicherung der Kunden soll, wie es heißt, auf 100 000 Euro harmonisiert
werden. Das heißt, es soll eine Begrenzung hinsichtlich
der Höhe der Spareinlagen, die man besichern will, geben. Wir sind der Meinung, dass die gegenwärtige, unbeschränkte Besicherung das Maß der Dinge sein soll. Wir
wollen die Kunden nicht aufgrund einer europäischen
Harmonisierung schlechterstellen. Um die Dimension
dessen, was das für unsere Sparkassen bedeuten würde,
deutlich zu machen: Wenn 1,5 Prozent der erstattungsfähigen Kundeneinlagen in den nächsten zehn Jahren aufgebracht werden müssen, sind das mehr als 12 Milliarden
Euro. Dann gibt es noch eine Nachschussverpflichtung
im Wert von 4 Milliarden Euro. Insgesamt wären es also
16 Milliarden Euro Zusatzbelastung, die auf die Sparkassen zukämen. Jeder weiß, was das für die Zinsen, die
man bei einem Sparbuch bekommt, und für die Zinsen,
die man für einen Kredit zu zahlen hat, konkret bedeuten
würde. Das wollen wir nicht. Deshalb sagen wir: Wir
müssen kritisch über das Thema Subsidiarität reden. Allerdings sollten wir keine Rüge aussprechen, um uns die
Verhandlungsfreiheiten zu erhalten.
({3})
Wir glauben - das ist die zentrale Kritik -, dass trotz
dieser enormen Belastungen die Sicherheit der Einleger
geschwächt würde. Es wäre also teurer und hätte ein
schlechteres Ergebnis. Diese Politik können wir nicht
unterstützen. Deshalb ist es gut, dass Koalition und weite
Lothar Binding ({4})
Teile der Opposition diesbezüglich an einem Strang ziehen. Wir sagen nur, dass die Idee mit der Rüge etwas zu
hoch gegriffen ist.
Wir von der SPD fordern in unserem Entschließungsantrag, dass die Bundesregierung im Wesentlichen drei
Verhandlungsziele verfolgt.
Erstens soll die Pflichtmitgliedschaft in dem neuen
Sicherungssystem aufgehoben werden, sofern es in den
einzelnen Ländern Sicherungssysteme gibt, die besser
als die angebotenen sind. Das heißt, dass die Ausnahmeregelung für institutsbezogene Sicherungssysteme bestehen bleiben soll; wir wollen dies für Deutschland erhalten.
Zweitens wollen wir, dass freiwillige Einlagensicherungssysteme erhalten bleiben und vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden können.
Das dritte Hauptziel des Entschließungsantrags der
SPD ist, dass keine Obergrenzen mit maximalen Deckungssummen festgelegt werden sollen; denn das ist
nicht nur wettbewerbsfeindlich, sondern schadet auch
dem einzelnen Einleger. Wettbewerb darf ja nicht so begrenzt werden, dass man sagt: Wenn jemand etwas Besseres anbietet, verbieten wir das und schaffen so Wettbewerbsgleichheit. Dann müssten wir auch bei anderen
Gütern auf qualitativ schlechtere zusteuern, um die Wettbewerbsgleichheit zu bewahren. Das würde gar keinen
Sinn haben und wäre für Europa auch nicht zielführend.
Deshalb sagen wir: Keine Beschränkungen für ein höheres Schutzniveau! Das haben unsere Bürger verdient. Ich
glaube, es ist gut, dass wir hier an einem Strang ziehen.
Schönen Dank.
({5})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Herr Binding, Sie haben gerade bemängelt, dass wir nicht klar Stellung beziehen. Genau das
tun wir aber heute, und das schließt Verhandlungen bei
weitem nicht aus.
Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, und gut
gemeint ist die Neufassung der EU-Richtlinie ganz sicher. Für die FDP-Fraktion kann ich ganz klar feststellen: Das Ziel der Europäischen Kommission, eine Mindesteinlagensicherung für Banken europaweit einheitlich
zu regeln, ist richtig. Das Ziel, einen europaweit vergleichbaren Schutzrahmen für Bankkunden zu schaffen
und die Schwachstellen in den bestehenden Einlagensicherungssystemen zu beseitigen, ist auch richtig. Das
ist wichtig, um verloren gegangenes Vertrauen in Banken und Finanzmärkte wieder herzustellen.
({0})
Deshalb begrüßen wir diesen Vorstoß der EU-Kommission im Grundsatz.
Wir kritisieren allerdings, dass aus deutscher Sicht
dabei das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. Der
jetzt vorliegende Entwurf ist zu detailliert, ja detailverliebt; er reicht vom Deckungsumfang bis zu Einzahlungsmodalitäten und Auszahlungsfristen. Sinnvoller
wäre, auf europäischer Ebene Mindeststandards für die
Einlagensicherung zu definieren, die konkrete Ausgestaltung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten zu überlassen. Statt sich auf die Schaffung der notwendigen
Rahmenbedingungen zu beschränken, werden bis ins
Kleinste Festlegungen getroffen, die für einzelne Banken
- vor allem im anglo-amerikanischen Bankensystem gut sein mögen, aber eben nicht für alle Banken im EURaum. Die Besonderheiten des dreisäuligen Bankensystems - da sind wir uns ja alle einig - werden in keinster
Weise berücksichtigt. Im Gegenteil: Die bisherige Ausnahmeregelung, die Banken mit institutsbezogenen Sicherungssystemen von der Pflichtmitgliedschaft in einem EU-weiten gesetzlichen Einlagensicherungssystem
befreit, soll jetzt gestrichen werden. Zusätzlich wird eine
Obergrenze für gesetzliche Einlagensicherungen eingezogen.
Das will keiner von uns. Das ist für das deutsche System hochproblematisch und trifft gerade unsere Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die stabilisierende Wirkung des deutschen Modells hat sich in der
Finanzmarktkrise bewährt. Diese Institute schützen bereits seit Jahrzehnten ihre Mitglieder innerhalb des eigenen Verbundes vor Insolvenz, ohne auf die Steuerzahler
zurückzugreifen, und schützen damit auch die Einlagen
ihrer Kunden vor Verlust. Die Einlagensicherung deutscher Institute geht weit über die vorgeschlagene Haftungsgarantie der EU über 100 000 Euro für Privatkunden hinaus.
Die Umsetzung dieser Richtlinie, wie sie heute vorliegt, hätte für Deutschland zwei gravierende Auswirkungen: Erstens müssten die deutschen Institute in ein
paralleles System einzahlen, was mit deutlich höheren
Kosten verbunden wäre, und das, obwohl sie das Klassenziel schon längst erreicht, ja sogar überschritten haben. Zweitens würde unser hohes Sicherungsniveau
hierzulande auf einen niedrigeren EU-Standard abgesenkt. Beides ist für die christlich-liberale Koalition
nicht akzeptabel.
({1})
Wir brauchen keine maximale Harmonisierung der
Einlagensicherungssysteme, wir brauchen maximale Sicherheit für die Einlagen der Kunden. Der vorliegende
Vorschlag der Europäischen Kommission verstößt nach
Auffassung der Koalitionsfraktionen gegen die in Art. 5
des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Die EU darf ein
Gesetz nur erlassen, wenn die Mitgliedstaaten selbst dessen Ziel nicht ausreichend verwirklichen können. Der
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass die EU
nicht stärker als nötig eingreifen darf, um dieses Ziel zu
erreichen. Beides wird hier nicht eingehalten.
Insbesondere die weitreichenden Vorschläge zur Finanzierung der Einlagensicherungssysteme und zur Beitragsbemessung stehen wegen ihres Umfangs und ihrer
Intensität in keinem Verhältnis. Um die Schwachstellen
der bestehenden Einlagensicherungssysteme der Mitgliedstaaten zu beseitigen und die Vorzüge des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen auf europäischer
Ebene sicherzustellen, ist eine Vollharmonisierung nicht
erforderlich. In vielen Mitgliedstaaten bestehen bereits
funktionierende Sicherungssysteme. Eine zusätzliche
Einlagensicherung würde die Sicherheit der Anleger in
Deutschland in keiner Weise erhöhen, aber die Wettbewerbsbedingungen für Sparkassen und Genossenschaftsbanken massiv einschränken. Dies ist mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht
zu vereinbaren.
Wenn ich mir die vorliegenden Anträge von SPD und
Grünen sowie die Stellungnahme des Bundesrates anschaue, stelle ich fest: Wir sind inhaltlich nah beieinander.
Wir sind uns einig, dass die Vorschläge, die auf europäischer Ebene gemacht wurden, erhebliche Auswirkungen
auf den gesamten Bankensektor in Deutschland haben
werden, die in dieser Form nicht akzeptabel sind, da hiermit nachteilige Eingriffe in bestehende Strukturen der Finanzwirtschaft verbunden sind. Doch wie vertreten wir
die Belange Deutschlands gegenüber der EU? Geben wir
nur den Hinweis: „Ihr macht da etwas, was wir nicht so
gut finden“, oder sagen wir: „Stopp, wir wollen das
nicht“?
Die Koalition hat sich entschlossen, das Kind beim
Namen zu nennen. Deshalb strengt die Koalition eine
Subsidiaritätsrüge an. Das ist ein starkes Signal an Brüssel, das dafür sorgen soll, dass die deutsche Position klar
und deutlich wahrgenommen wird.
({2})
Frankreich beurteilt das genauso, Schweden hat sich
gestern in diesem Sinne entschieden, und Österreich und
Italien prüfen diese Frage gerade. Wir stehen also nicht
allein.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Richard Pitterle hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlass der heutigen Diskussion ist der
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Einlagensicherungssysteme.
Sein Inhalt wurde im Wesentlichen schon wiedergegeben:
Alle Kreditinstitute in Europa sollen gesetzlich verpflichtet werden, einem Einlagensicherungssystem anzugehören, und die bisherige Freistellung der Institutssicherung
der Genossenschaftsbanken und Sparkassen soll aufgehoben werden. Auch wenn wir das Vorhaben, die Bürger
davor zu schützen, ihre Ersparnisse auf der Bank zu verlieren, begrüßen, halten wir dieses Vorhaben für den falschen Weg. Ich glaube, in diesem Punkt sind sich alle
Fraktionen im Bundestag einig.
Wir Linke kritisieren die Nivellierung, die dieser Vorschlag mit sich bringen würde. Es ist von einer Maximalsicherung in Höhe von 100 000 Euro pro Anleger die
Rede. Man mag sagen, 100 000 Euro seien viel Geld.
Aber einem Bürger, der, beispielsweise für den Erwerb
einer Eigentumswohnung, 200 000 Euro gespart und
dieses Geld bei einer Bank angelegt hat, würden, wenn
diese Bank pleitegeht, in Zukunft nur noch 100 000 Euro
erstattet werden. Dadurch würde er im Vergleich zur jetzigen Situation, mit der Institutssicherung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, schlechter gestellt.
Wir sind der Meinung, dass der vorliegende Vorschlag nicht zur Bankenrealität in Deutschland passt. Ich
habe meinen Vorrednern zugehört: Es besteht Einigkeit
darin, dass ein Handeln auf EU-Ebene nicht erforderlich
ist und sogar das Subsidiaritätsprinzip verletzt, wonach
all das, was vor Ort geregelt werden kann, nicht europaweit zu regeln ist.
Wir werden dem Koalitionsantrag unsere Zustimmung geben, insbesondere auch der Subsidiaritätsrüge,
weil wir finden, dass die Subsidiaritätsrüge ein wichtiges
Signal des Bundestags ist, dass wir die in der Krise erprobten Institutssicherungssysteme der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken nicht gefährdet sehen wollen.
Sie mag vielleicht die Unterstützung der Linken für
Ihren Antrag überraschen; aber im Gegensatz zu Ihnen
machen wir unsere Abstimmung vom Inhalt abhängig
und nicht von der Urheberschaft der Partei.
({0})
Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie würden eher behaupten, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die Linke
etwas Gegenteiliges in einen Antrag schreiben würde.
({1})
Aber das ist kein seriöses Politikverständnis.
Ich muss aber sehr deutlich sagen: Es gibt sehr wohl
Handlungsbedarf beim Thema Einlagensicherung jenseits der Genossenschaftsbanken und der Sparkassen.
Wenn man sich den Fall HRE anschaut, merkt man, dass
da nicht alles in Butter ist, wie Sie es hier dargestellt haben. Ich muss Sie fragen: Warum handeln Sie nicht endlich? Wenn Sie sagen, es brauche diesen Vorschlag von
der Europäischen Union nicht, dann müssten Sie hier
endlich handeln. Ich habe Ihren Reden eben gut zugehört
und nichts dazu vernommen, was Sie machen wollen,
um die Einlagensicherung in Deutschland jenseits von
Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu verbessern.
Im Ausschuss wurden von den anderen Oppositionsfraktionen Bedenken gegen die Subsidiaritätsrüge erhoben. Es wurde gesagt, wir erreichten vielleicht nicht das
Quorum. Man braucht ein Drittel der Parlamente, die das
Quorum bilden. Es wurde gesagt, es sei besser, Gespräche zu führen. Nun muss man sagen: Die Subsidiaritätsrüge ist eher ein politisches als ein rechtliches Instrument. Sie ist auch nicht, wie hier gesagt wurde, das
schärfste Schwert; denn es gibt noch die Subsidiaritätsklage. Wir wissen nicht, ob das Quorum erreicht wird.
Die Parlamente einiger Staaten haben sich schon angeschlossen; das ist bereits gesagt worden. Aber wichtig
ist, dass durch die Subsidiaritätsrüge eine öffentliche
Aufmerksamkeit erzielt wird, die vielleicht auch andere
Parlamente motiviert, sich damit auseinanderzusetzen
und ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
({2})
Das heißt, das Reden mit dem zuständigen Kommissar oder mit dem EU-Ausschuss ist keine Alternative zur
Subsidiaritätsrüge. Man kann sowohl öffentlich rügen
als auch das Gespräch suchen. Zu beidem fordern wir
die Bundesregierung auf.
({3})
Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eines sage ich gleich vorneweg und zur Sicherheit: Auch wir Grünen kämpfen für das erfolgreiche Modell der Institutssicherung bei regional operierenden
Sparkassen und Genossenschaftsbanken.
({0})
Wir wollen, dass regional operierende Institute, Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken, das erfolgreiche
Modell ihrer Institutssicherung behalten dürfen. Dafür
streiten wir mit unserem Antrag, einer Stellungnahme
nach Art. 23.
({1})
Wir wollen aber auch, dass dieses Haus daraus lernt,
welche Milliardenspritzen es zur Rettung von Privatbanken in den letzten Jahren aufwenden musste. Nicht zuletzt die Rettung der Hypo Real Estate, die uns immer
noch beschäftigt, hat doch gezeigt, dass der Einlagensicherungsfonds der Privatbanken eben nicht in der Lage
war, einzuspringen, sodass wir mit Steuergeldern einspringen mussten. Deswegen unterschlagen Sie in der
Debatte, dass die Großbanken vom vergleichsweise hohen Sicherungsniveau in Deutschland auch im europäischen Wettbewerb profitieren. Die geschützten Einlagen
sind eine sehr günstige Art, um eine Refinanzierung zu
gewährleisten. Das Risiko tragen am Ende aber doch die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({2})
Somit - ich wende mich auch an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei - schützen Sie
nicht nur das richtige Ansinnen, regionale öffentlichrechtliche oder genossenschaftliche Institute zu schützen, sondern Sie schützen auch den Wettbewerbsvorteil
der großen kapitalistischen deutschen Banken. Das verstehe ich nicht. Ich finde das schade; ich finde das ärgerlich.
Jetzt kommen wir aber zu einer neuen Qualität dieser
Debatte. Sie wollen rügen. Der Kollege hat gesagt - ich
habe das mitgeschrieben -: Es kann nicht sein, dass
Brüssel in Bereiche eingreift, für die es nicht zuständig
ist. - Ich halte das nicht für klug. Ich habe ziemlich
große Zweifel, ob das Prinzip der Subsidiarität und auch
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hier herangezogen
werden können. Ich halte es sogar für fahrlässig, dieses
Instrument gerade jetzt zum ersten Mal zu nutzen, wo
aus meiner Sicht alles auf sehr wackeligen Beinen steht.
Dies ist der falsche Sachverhalt, um das Schwert der
Rüge zu benutzen.
({3})
Dass Sie diesen Fall jetzt auch noch zum Exempel aufmotzen, nutzt nicht den Rechten dieses Hauses, sondern
damit schaden Sie den Rechten dieses Hauses.
({4})
- Sie, Herr Kollege Aumer, kommen mit einer AntiBrüssel-Rhetorik daher.
({5})
Ich kann Ihnen mit einer Düsseldorfer Rhetorik von
Heinrich Heine entgegnen:
Nur Narren wollen gefallen; der Starke will seine
Gedanken geltend machen.
Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie die inhaltlichen
Bedenken, die Sie zu großen Teilen mit uns teilen, geltend machen und sich hier nicht auf den Pfad begeben,
wo die Europäische Kommission mit Begriffen wie
„Wettbewerb“, „Wettbewerbsvorteil“ und „Verwirklichung des Binnenmarktes“ klar darstellen kann, was ihre
Position ist und wo die Rechtsposition der Koalition unsicher ist. Ich halte es auch für komisch, den Wettbewerbsvorteil deutscher Banken, vor allem der Großbanken, mit der Subsidiarität zu begründen. Sowohl unser
Anliegen, regional operierende Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu schützen, als auch Ihr Anliegen, die
Großbanken mit hineinzunehmen, sind inhaltliche Anliegen. Diese vertritt man nicht per Rüge, sondern per
Stellungnahme.
({6})
Auch wir wollen den Entwurf der Europäischen
Kommission verändern. Subsidiarität ist das falsche Argument. Wenn Sie hier die Rüge beschließen, dann sind
Sie nicht stark, sondern eher das Gegenbeispiel im Gedicht von Heinrich Heine.
Vielen Dank.
({7})
Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier irrlichtert, das werden wir am Schluss dieser Sitzung und
in den nächsten Monaten noch feststellen.
Was mich an den Argumenten der SPD und der Grünen wundert, ist Folgendes: Sie ziehen hier eine inhaltliche Debatte vor. Wir alle haben hier offensichtlich dieselbe Meinung. Das ist richtig, und das finde ich auch
gut so. Das ist ein deutliches Signal des Deutschen Bundestages, dass das bewährte System der deutschen Sparkassen und Volksbanken richtig ist. Es hat sich auch in
der Krise bewährt, es ist bürgerfreundlich, und das wollen wir von Brüssel aus nicht schädigen lassen.
({0})
Wir sind heute aber hier, um innerhalb der Frist, die uns
durch den Lissabon-Vertrag vorgegeben wird, zu prüfen,
ob diese Regelungsvorschläge der Europäischen Kommission gegen den fundamentalen europäischen Grundsatz der Subsidiarität verstoßen. Dazu höre ich von SPD
und Grünen gar nichts, außer der Aussage: Nein, das
verstößt nicht dagegen. - Besser wäre es gewesen, wenn
Sie einmal begründet hätten, warum die Europäische
Union dies Ihrer Meinung nach so regeln kann.
Ich werde Ihnen jetzt beweisen - selbst in der kurzen
Zeit, die ich habe -, dass die Europäische Kommission
mit ihren Vorschlägen ganz klar gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt.
({1})
Beim Subsidiaritätsprinzip - das ist natürlich etwas
kompliziert, wenn man das erste Mal davon hört; so
schwer ist es dann aber doch nicht zu verstehen - haben
wir drei Aspekte zu prüfen.
Erstens. Wenn die Europäische Union in ganz Europa
mit seinen 500 Millionen Einwohnern etwas regeln will,
dann kann sie dies nur - das ist die erste Prüfung -, wenn
sie gemäß den europäischen Verträgen das Recht dazu
hat. Bei der Einlagensicherung ist dies unbestritten; das
geht aus Art. 53 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hervor. Das heißt, die Europäische Union kann das regeln. Das wäre also grundsätzlich okay.
Zweitens. Auch wenn die Europäische Union das regeln kann, muss sie es nicht unbedingt; denn sie darf es
nur, wenn eine europäische Regelung die einzig mögliche Garantie dafür ist, dass es einen vergleichbaren
Schutz in ganz Europa für alle Bürger gibt, und wenn
nur Europa das regeln kann.
Diese Frage ist im Grundsatz auch positiv beantwortet worden. Auch dies stimmt. Denn in einem freien Binnenmarkt muss man vergleichbare Mindestregeln schaffen, die in ganz Europa gelten, um sicherzustellen, dass
Bankkunden in ganz Europa einen vergleichbaren Mindestschutz haben, den es bisher nicht in ausreichendem
Maße gibt.
Es gibt im Übrigen seit 1994 eine Einlagensicherungsrichtlinie der Europäischen Union. Sie ist im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärft
worden - das war notwendig -, und sie wird jetzt noch
einmal geändert.
({2})
Das ist grundsätzlich richtig.
Wenn die Europäische Union tätig werden muss - damit komme ich zum nächsten Punkt -, bedeutet das aber,
dass es einen europäischen Mehrwert geben muss, es also
für die Menschen in Europa besser werden muss. An dieser Stelle frage ich Sie: Wo wird es mit dem Richtlinienvorschlag besser, wenn in Zukunft sich diese Rechtsetzung durchsetzt und unsere Sparkassen und Volksbanken
in einen Sicherungsfonds einzahlen müssen, obwohl es
ganz sicher ist, dass sie diesen Fonds niemals in Anspruch
nehmen müssen? Das ist so ähnlich, als wenn wir in
Deutschland ein Gesetz machen würden, mit dem wir alle
Menschen vom Säugling bis zum Greis verpflichten würden, eine Autohaftpflichtversicherung abzuschließen,
egal ob sie ein Auto oder eine Fahrerlaubnis haben. Die
Versicherungen würden sich freuen, aber die Regelung
wäre falsch.
Die Europäische Union geht hier über ihre Regelungskompetenz hinaus. Denn sie verschlechtert die Wettbewerbsfähigkeit eines nachhaltig funktionierenden Bankensystems der Volksbanken und Sparkassen. Es wird
schlechter und nicht besser.
({3})
Herr Stübgen, hätten Sie Freude an einer Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin?
An Zwischenfragen des Herrn Kollegen Sarrazin
habe ich immer sehr große Freude.
Bitte schön.
Herr Kollege Stübgen, was die regional operierenden
Volksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen angeht,
sind wir beieinander. Ich möchte aber doch nachfragen.
Sie haben den europäischen Mehrwert infrage gestellt.
Glauben Sie vor dem Hintergrund, dass die Kommission
zur Verwirklichung des Binnenmarkts eine wettbewerbsverzerrende Situation aufgrund des deutschen Einlagensicherungssystems bei den Privatbanken mit einem gemeinsamen Maximalsatz beseitigen möchte, nicht, dass
die Subsidiaritätsrüge nicht angemessen ist, weil Ihnen
die Kommission darlegen wird, dass Ihre Argumentation
nicht schlüssig ist?
Vielen Dank. Denn diesen Punkt wollte ich als Nächstes ausführen. Jetzt kann ich ihn in der zusätzlichen Redezeit zur Beantwortung der Frage aufgreifen. Sie haben
recht - darauf wollte ich noch kommen -: Es trifft zu,
dass die Europäische Kommission von dem bisherigen
Grundsatz abgeht, Mindestsicherungsniveaus zu schaffen. Damit sind wir in Europa bisher immer gut zurechtgekommen. Stattdessen kommt sie jetzt auch zu einem
Höchstsicherungsniveau. Sie argumentiert damit, dass
das sein müsse. Dabei ist es ein massiver Einschnitt,
wenn man plötzlich zur Höchstsicherung kommt. Sie
sagt, dass das nötig sei, weil es im Zuge der Finanzkrise
Verschiebungen von Sparguthaben und Einlagen zum
Beispiel zu den Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken gab. Das hat aber doch wohl etwas damit zu tun,
dass die Menschen nicht nur in Deutschland Vertrauen in
dieses bewährte System haben. - Ich bin noch bei der
Antwort, Herr Sarrazin.
({0})
- Nein, das ist noch die Antwort. Es war ja eine umfängliche Frage.
Wenn die Europäische Kommission in der Replik darauf, dass es in der Tat in Europa Bankensysteme gibt,
die besser sind und bei den Menschen mehr Vertrauen
erzeugen, auf die Idee kommt, diese Systeme zu zwingen, schlechter zu werden bzw. Mittelmaß wie überall,
dann kann das nicht der richtige Weg sein. Das ist meine
Antwort darauf. Die Kommission geht weiter, als es ihre
Aufgabe ist. Das ist kein europäischer Mehrwert.
({1})
Ich komme aber zu einem weiteren Punkt. Dieses
Thema haben vor allen Dingen der Bundesrat in seiner
Stellungnahme und der federführende Finanzausschuss
gerügt. Wir haben in unserer Stellungnahme des Europaausschusses ein anderes Thema, nämlich das dritte
Prüfraster, genau untersucht und sind zu dem Ergebnis
gekommen, dass auch das auf jeden Fall ein klarer Verstoß der Europäischen Kommission gegen die Subsidiaritätsgrundsätze ist. Es geht dabei um die Frage der
Verhältnismäßigkeit, die im Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll eindeutig geregelt ist, und was auch heute
noch im Lissabon-Vertrag eindeutig so weitergilt.
Was heißt Verhältnismäßigkeit? Das bedeutet die Verpflichtung der Europäischen Union, wenn sie zu Regelungen kommt, die notwendig, nützlich und erlaubt sind,
zur Erreichung des Ziels mildeste Mittel anzuwenden.
Damit kommen wir zur Wir-Frage.
Die Kommission neigt gerne dazu, wenn es etwas zu
regeln gibt, zum Instrument der Vollharmonisierung zu
greifen. Das heißt Gleichschaltung von ganz Europa,
zwischen Nordkap und Sizilien, zwischen Schwarzmeer
und Atlantik. Überall muss alles gleich sein. Dann wäre
alles gut. Ich sage Ihnen: Unsere Überzeugung ist, dass
das nicht der richtige Weg ist. Es ist gut, dass es Unterschiede in Europa gibt. Die Europäische Kommission
bewirkt durch die Gleichschaltung eine Schwächung bewährter Systeme. Dadurch, dass zusätzlich gezahlt werden muss, kommt das bewährte System der Sparkassen
und Raiffeisenbanken im Prinzip schlecht weg. Es wird
also im Wettbewerb beschädigt.
Das verstößt eindeutig gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Denn es ist eine klare Vorgabe: Wenn es im
Vergleich zur Vollharmonisierung ein gleich wirksames
milderes Mittel gibt, dann ist diesem in jedem Fall der
Vorzug zu geben. Das gleich wirksame mildere Mittel ist
ganz eindeutig eine Verschärfung der Mindestnorm. Wir
finden es richtig, dass in Zukunft statt 50 000 Euro
100 000 Euro pro Einlage gesichert werden sollen. Der
Vorschlag der Europäischen Kommission ist richtig,
Banken, die keinem starken, wirksamen Sicherungsmechanismus angehören, zu verpflichten, in einen zu schaffenden Sicherungsmechanismus einzuzahlen. Aber es
gehört auch dazu, dass bewährte Sicherungssysteme, wie
sie unsere Sparkassen und Volksbanken, die seit Jahrzehnten jeder Krise trotzen, haben, wie bisher als vollwertig anerkannt werden. Das ist das mildere Mittel. Das
hätte die Kommission vorschlagen müssen. Da sie das
nicht getan hat und zur Vollharmonisierung greift, verstößt sie eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über Einlagensicherungssysteme. Eine persönliche
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung liegt vom
Kollegen Luksic vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3239, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum
Vertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Inte-
grationsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es han-
delt sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung an-
genommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und die
Fraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen gab es keine.
Wir stimmen über den Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3240 ab. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Frak-
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
tion. CDU/CSU und FDP haben dagegengestimmt.
Bündnis 90/Die Grünen und Linke haben sich enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3191
mit dem Titel „Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale
Sicherungssysteme als Modell für Europa“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist ebenso abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt. SPD und Linke haben sich
enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren
- Drucksachen 17/798, 17/1075 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Dr. Gerhard Schick
Vorgesehen ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ralph Brinkhaus.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über einen Antrag der Grünen, die die Auswahl der Bundesbankvorstände reformieren möchten.
Wie läuft das bisher? Bisher ist es so, dass der Bundespräsident einen Bundesbankvorstand bestellt, dass der
Präsident und der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank sowie ein einfaches Mitglied auf Vorschlag der
Bundesregierung bestellt werden und dass drei weitere
Vorstände auf Vorschlag des Bundesrates bestellt werden. Alle sechs müssen fachlich geeignet sein, eine solche Position zu bekleiden.
Wenn ich dieses Verfahren reformieren möchte, dann
muss ich Gründe dafür haben. Ein Grund könnte darin
liegen, dass ich mit den Ergebnissen dieses Verfahrens
nicht zufrieden bin.
({0})
Ein zweiter Grund könnte sein, dass ich ein besseres
Verfahren habe. Fangen wir mal einfach mit den Ergebnissen dieses Verfahrens an. Warum könnte ich denn
vielleicht nicht zufrieden sein? Zum Beispiel, wenn der
von diesem Vorstand, der so bestellt worden ist, geleitete
Apparat, das Institut der Bundesbank, schlecht arbeitet.
Ich glaube, wir können uns nicht über die Qualität der
Arbeit der Bundesbank beklagen. Die Bundesbank ist
für die Preisstabilität und den Zahlungsverkehr verantwortlich. Sie hütet unsere Währungsreserven und vertritt
unsere Interessen auf europäischer Ebene. Ich denke, das
läuft hervorragend. Das ist in der Vergangenheit - teilweise unter erschwerten Bedingungen - hervorragend
gelaufen.
({1})
Die Bundesbank hat die Währungsunion mit der ehemaligen DDR organisiert. Sie hat die Euro-Einführung organisiert. Das alles ist gut gelaufen. Sie ist dabei politisch immer unabhängig geblieben. Auch das war nicht
immer so einfach. Da sind insbesondere von einer Seite
dieses Parlamentes einige Ansprüche gestellt worden.
Also, damit sind wir zufrieden.
Aber vielleicht geht es um die Qualität der handelnden Personen, der Vorstände der Bundesbank. Da gab es
sicherlich in der Vergangenheit das eine oder andere Gespräch, die eine oder andere Diskussion; aber ganz generell ist es doch so, dass die Qualität der Bundesbankvorstände in der Vergangenheit hervorragend war. Wir
hatten beeindruckende Zentralbankpersönlichkeiten, die
an der Spitze der Bundesbank gestanden haben.
({2})
Insofern halte ich es schon für sehr, sehr gewagt, in diesem Antrag die Qualität des Bundesbankvorstandes pauschal zu diskreditieren.
({3})
Die aktuellen Vorstände sind ein gutes Team. Sie sind
gut zusammengesetzt und machen eine gute Arbeit. Wir
haben heute einen weiteren Vorschlag bekommen. Dieser Vorschlag wird dazu beitragen, dass die Qualität
noch weiter steigen wird.
Ein dritter Punkt, warum ich nicht zufrieden bin,
könnte sein, dass ich sage: Na ja, die sind von einer Regierung, vom Bundesrat ins Rennen geschickt worden, vielleicht ist es so, dass die dann parteipolitisch handeln. - Ich
glaube, das ist gerade nicht der Fall gewesen. Die Bundesbankvorstände waren immer zwei Prinzipien verpflichtet: der Preisstabilität und auch der Marktwirtschaft. Das hat ganz hervorragend geklappt. Wenn man
natürlich Preisstabilität und Marktwirtschaft als parteipolitisch betrachtet, dann mag es so sein, dass die Bundesbankvorstände parteipolitisch gehandelt haben.
Ich fasse das zusammen. Die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens waren so schlecht nicht. Das kann eigentlich nicht die Ursache dafür sein, dass man es ändern möchte.
({4})
Zweiter Punkt. Vielleicht haben Sie ja ein besseres
Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
({5})
Das Verfahren - um es kurz vorzustellen - beginnt damit, dass man eine öffentliche Ausschreibung macht,
dass in einem zweiten Schritt die Bundesregierung vorsortiert, in einem dritten Schritt der Finanzausschuss mit
den verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten eine
Anhörung macht und in einem vierten Schritt dann das
Parlament ohne Beteiligung des Bundesrates die entsprechenden Vorstände wählt.
Fangen wir mit der öffentlichen Ausschreibung an.
Dahinter steht der Gedanke, dass man bessere und qualifiziertere Kandidaten bekommt, als das vielleicht in der
Vergangenheit der Fall war. Wenn wir das jetzt vom Fall
der Bundesbank abstrahieren, dann ist es durchaus ein
ehrenwertes, ja geradezu ein notwendiges Ansinnen,
dass wir darauf achten, dass die Qualität und die fachliche Expertise der Menschen, die für uns in Spitzenpositionen in Verwaltung und Politik arbeiten, gut ist. Das ist
überhaupt keine Frage.
({6})
Ob das durch eine öffentliche Ausschreibung garantiert
wird, wage ich zu bezweifeln; denn wer so ein bisschen
in die Landschaft hineinschaut, der weiß, dass Spitzenpositionen eigentlich weniger durch öffentliche Ausschreibungen, sondern mehr durch Direktansprache besetzt werden. Insofern ist da der eine oder andere
Zweifel angebracht.
Ich denke, wir müssen viel, viel mehr darauf achten
- das gilt eigentlich für alle Bereiche -, dass wir einen
größeren Wechsel, einen größeren Austausch zwischen
Wirtschaft und Wissenschaft auf der einen Seite sowie
Politik und Verwaltung auf der anderen Seite haben. Und
das funktioniert in Deutschland - insofern ist der Anspruch dieses Antrages vielleicht nicht ganz falsch noch nicht gut genug. Wir brauchen mehr Austausch.
Dafür müssen wir aber auch arbeiten. Wir müssen nämlich daran arbeiten, dass wir den Menschen, die dann
beispielsweise aus der Wirtschaft in Spitzenpositionen
der Politik und der Verwaltung wechseln, auch ein entsprechendes Umfeld geben. Viele scheuen sich, weil sie
sich einfach sagen: Das tue ich mir doch nicht an, mich
so öffentlich zu exponieren, mich für jede Kleinigkeit
beschimpfen zu lassen. - Insofern müssen wir da einige
Hausaufgaben machen. Wir könnten jetzt noch über Bezahlung und ähnliche Dinge reden. Insofern: Öffentliche
Ausschreibung reicht da nicht. Der Anspruch, dass wir
gute Leute gewinnen müssen, ist in Ordnung und richtig.
Zweiter Schritt ist, dass die Bundesregierung eine
Vorauswahl treffen soll. Das wundert mich jetzt ein bisschen. Ich finde es ja gut in der Konsequenz, aber Sie haben in Ihrem Antrag der Bundesregierung eigentlich
abgesprochen, dass sie eine vernünftige Auswahl machen kann. Jetzt sagen Sie, sie soll vorsortieren. Das
passt nicht ganz zusammen.
Der dritte Schritt ist sehr, sehr interessant, meine Damen und Herren: öffentliche Anhörung im Finanzausschuss. Ich stelle mir vor, wie das Ganze laufen wird.
({7})
Die erste Frage, die sich bezüglich solcher öffentlichen Anhörungen stellt: Inwieweit ist gesichert, dass die
Mitglieder des Finanzausschusses über die entsprechende Expertise verfügen, das Ganze überhaupt beurteilen zu können? Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein
Bundesbankvorstand muss ein guter Geldpolitiker sein.
Geldpolitische Expertise im Finanzausschuss ist sicherlich bei dem einen oder anderen gegeben. Außerdem soll
ein Bundesbankvorstand führen und organisieren können. Ob so viele Mitglieder des Bundestages die Expertise mitbringen, dass sie tatsächlich schon einmal geführt
oder organisiert haben, das wage ich bei dem einen oder
anderen zu bezweifeln. Darüber hinaus soll ein Bundesbankvorstand internationale Erfahrung besitzen; das
spielt auch immer eine große Rolle. Wir können uns ja
einmal unsere Biografien anschauen und dann sagen,
wer internationale Erfahrungen hat. Ich muss sagen: Politisch können wir die ganze Sache sicherlich gut einschätzen; aber an der einen oder anderen Stelle sollten
wir doch ein bisschen mehr Demut walten lassen, was
unsere tatsächlichen Fähigkeiten angeht.
Die zweite Frage, die sich bezüglich solcher öffentlichen Anhörungen stellt: Wie wird das Ganze ablaufen?
Ich kann es Ihnen prophezeien. Es wird so ablaufen: Die
Koalitionsfraktionen werden die Kandidaten, die die
Regierung ausgewählt hat, verteidigen. Die Opposition
wird sich einen Spaß daraus machen, zu versuchen, diese
Kandidaten auf das Glatteis zu führen, nicht unbedingt
aus fachlichen Gründen, sondern ganz einfach funktional, um der Regierung zu schaden.
({8})
Insofern frage ich mich: Wer von den Spitzenkräften
wird sich dieses öffentliche Tribunal antun? Ich habe
Zweifel, dass das funktionieren wird.
Vierter Schritt: Der Bundestag entscheidet. Ich frage
mich: Hat der Bundestag dann eine andere Mehrheit als
die jeweilige Regierung? Wahrscheinlich nicht. Insofern
ist also auch da eine gewisse Inkonsequenz enthalten.
Ganz entscheidend dabei ist: Im letzten Satz der Antragsbegründung wird kurz über den Bundesrat hinweggewischt. Es wird gesagt: Das ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, wir können sicherlich gerne und ausführlich
über unser föderales System diskutieren, dabei haben Sie
mich sicherlich an der einen oder anderen Stelle an Ihrer
Seite. Aber anlässlich der Bestellung der Bundesbankvorstände mit einem Federstrich das sehr austarierte Verfahren, die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag
außer Kraft setzen zu wollen, das halte ich für abenteuerlich. Das ist mit uns nicht zu machen.
({9})
Ich fasse das Ganze zusammen. Der Anspruch, mehr
Spitzenkräfte für Spitzenpositionen in Verwaltung und
Politik zu gewinnen, ist durchaus gerechtfertigt. Dass
wir dabei am Rekrutierungs- und Auswahlverfahren ansetzen, das halte ich auch nicht für falsch, weil es ein
entscheidender Punkt ist.
({10})
Das ist eine gute Sache. Dass man ausgerechnet die Bundesbank dafür als Beispiel nimmt, halte ich angesichts
der Qualität der Arbeit der Bundesbank doch für weit
hergeholt. Im Übrigen hat das Verfahren, das Sie da auf
den Weg bringen wollen, durchaus Schwachpunkte, wie
ich gerade erläutert habe. Was gar nicht geht, ist, dass
wir durch Ihren Vorschlag die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag, zwischen Ländern und Bund aus
dem Gleichgewicht bringen.
Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Für
Diskussionen darüber, wie wir die Qualität der in Politik
und Verwaltung handelnden Personen steigern können,
sind wir gerne zu haben. Lassen Sie uns dies fortsetzen!
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Bei der Einführung des Euros sagte der französische
Staatsmann Jacques Delors:
Nicht alle Deutschen glauben an Gott; aber alle
glauben an die Bundesbank.
Auch das hätte letztendlich vom Kollegen Brinkhaus
kommen können. Trotzdem muss man sagen, dass in den
letzten Monaten Zweifel geäußert worden sind. Auch
hier hat die Finanzkrise Spuren hinterlassen: Es ist Kritik
geäußert worden, beispielsweise am bestehenden Auswahlverfahren. Auch so manche fachliche Eignung, was
die Verantwortlichen im Finanzbereich anbelangt, ist angezweifelt worden. Natürlich ist das auch an der Bundesbank nicht einfach so vorbeigegangen.
Wir sind sehr froh, dass der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck, der zusammen mit dem saarländischen Ministerpräsidenten das Vorschlagsrecht für die
Neubesetzung hat, gegenüber dem Bundesbankvorstand
gleich klargestellt hat: Fachkompetenz ist das entscheidende Kriterium bei dieser Besetzung. Wir glauben, dass
dies bei dem Namen, der heute über den dpa-Ticker
läuft, letztendlich der Fall ist. Es ist richtig, aktuell nicht
über das Berufungsverfahren zu diskutieren, sondern,
wie es im Antrag der Grünen vorgesehen ist, über die
Perspektiven, was dieses Berufungsverfahren anbelangt.
Wir haben auch im Finanzausschuss darüber gesprochen. Es ist ja nicht neu, was die Grünen hier vorlegen.
Vielmehr haben wir dies schon im Februar, März im Finanzausschuss diskutiert. Ich muss sagen, dass ich schon
ein bisschen enttäuscht bin, weil wir vonseiten der SPD
bereits im Ausschuss unsere Bedenken deutlich gemacht
haben, was das neue Verfahren anbelangt, das Sie vorschlagen.
Grundsätzlich müssen wir sicherlich auch darüber
diskutieren, ob es vielleicht ein besseres Verfahren, ein
optimales Verfahren gibt, das gegenüber dem jetzigen zu
bevorzugen wäre.
({0})
Die Grundidee des Antrags ist sicherlich gar nicht so
schlecht; denn die Diskussion über die fachliche Qualifikation der Verantwortlichen im Finanzbereich darf natürlich auch bei der Bundesbank nicht haltmachen. Für
uns ist eine gut funktionierende Bankenaufsicht ohne
Zweifel notwendig. Deswegen verschließen wir uns
grundsätzlich natürlich auch nicht verfahrenstechnischen
Neuregelungen.
({1})
Dennoch muss man jetzt einmal auf Ihren Vorschlag
eingehen. Was mich schon ein bisschen verwundert hat
- das habe ich auch schon im Ausschuss deutlich gemacht -, ist, dass es in der Begründung ganz plakativ
heißt: „Kompetenz vor Parteibuch und Regionalproporz“. So etwas sollten wir uns im Deutschen Bundestag
verkneifen. Wir dürfen nicht so tun, als schließe ein Parteibuch oder eine Mitgliedschaft in einer Partei Kompetenz aus.
({2})
So etwas kann man einfach nicht verbreiten, weil man
damit der grassierenden Parteien- und Politikverdrossenheit Vorschub leistet.
Jetzt schauen wir uns einmal Ihr Verfahren an - Kollege Brinkhaus ist auch schon darauf eingegangen -: In
dem vierstufigen Verfahren, das Sie jetzt vorgeschlagen
haben, entscheidet de facto doch noch viel mehr der Parteienproporz. Zunächst einmal gibt es eine öffentliche
Ausschreibung; das mag man ja noch gutheißen. Aber
bei der Vorauswahl durch die von der Parlamentsmehrheit getragene Bundesregierung sind natürlich Parteien
dabei. Dieselben Parteien stellen dann auch die Mehrheit
im Finanzausschuss, in dem sich die Kandidaten und
Kandidatinnen - vielleicht gibt es auch einmal eine Kandidatin - vorstellen. Auch dort ist die entsprechende
Mehrheit wieder gegeben. Letztendlich soll im Plenum
des Deutschen Bundestages darüber abgestimmt werden,
wer zum Zuge kommt. Wer entscheidet denn dann da?
Es sind auch wieder die Parteien. Deswegen sind Ihr
Vorschlag und dessen Begründung überhaupt nicht stimmig.
({3})
Nach unserer Auffassung wird also das Problem eher
noch verschärft, als dass es gelöst würde.
({4})
An die Mitbestimmung der Bundesländer möchte ich
nicht heran, weil ich glaube, dass die Bundesländer hier
auf jeden Fall mitreden sollten; ich nenne an dieser
Stelle nur das Stichwort Landesbanken. Es ist eine Errungenschaft unseres föderalen Systems, dass unsere
Länder bei Gremienbesetzungen mitentscheiden können.
Trotzdem gibt es Fragen, über die wir in den nächsten
Wochen und Monaten noch einmal reden müssen. Ich
denke da zum Beispiel an die Frage, ob wir wirklich
sechs Mitglieder im Bundesbankvorstand haben müssen.
Ich sehe, dass es eine Verschiebung der Aufgaben gibt,
beispielsweise durch die Einführung des Euros wichtige
Beratungsfunktionen zur internationalen Finanzmarktreform oder auch offene Fragen bei der Aufsicht. Wenn
wir BaFin und Bundesbank in puncto Aufsicht anschauen, ergibt sich daraus vielleicht auch noch eine
neue Aufgabenstellung. Ihr Europaabgeordneter Sven
Giegold geht ja in eine ganz andere Richtung. Er macht
die Frage auf, ob wir nicht durch eine ganz andere Eingruppierung bei der Vergütung erreichen müssen, dass
dieser Job für die Besten aus der Branche mit entsprechender Expertise attraktiv ist. Auch diese Frage muss
im Hinblick auf die Bundesbank diskutiert werden. Im
Übrigen weist unsere Kollegin Ingrid Arndt-Brauer darauf hin, dass wir darüber diskutieren müssen, ob es
nicht an der Zeit ist, dass eine Frau in den Bundesbankvorstand kommt. Vielleicht sollten wir auch dafür eine
entsprechende Regelung andenken.
({5})
Fazit: Die Absichten sind okay. Wir nehmen Ihren
Antrag als Denkanstoß mit, um zu überprüfen, ob es
nicht vielleicht doch ein besseres Verfahren, ein optimales Verfahren gibt. Was heute vorliegt, ist, ehrlich gesagt,
ein Schnellschuss, noch dazu einer mit altem Pulver aus
dem Frühjahr. Es ist schade, dass Sie unsere Anregungen
nicht aufgenommen haben.
({6})
Wir sind dafür, zu überlegen: Was passt für den bundesdeutschen Föderalismus? Wie bekommen wir die Besten
für diese wichtige Aufgabe? - Das sollte unsere Marschroute sein.
Ihr Vorschlag ist ein Denkanstoß, aber sicher nicht die
optimale Lösung. Deswegen werden wir Ihrem Antrag
heute leider nicht zustimmen können.
Danke schön.
({7})
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mit ihrem Antrag verspricht uns die Fraktion Die Grünen fachliche Exzellenz an der Spitze der Bundesbank.
({0})
„Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind allerdings auch
hier zwei unterschiedliche Dinge.
Man sollte auch einmal in die Geschichte der Regelung zur Besetzung des Bundesbankvorstands schauen.
Die Besetzung wurde zuletzt im Bundesbankgesetz in
der Fassung vom 23. März 2002 unter einer rot-grünen
Bundesregierung geregelt, beschlossen mit den Stimmen
der rot-grünen Koalition in diesem Parlament. Insofern
ist das wieder ein Beispiel dafür, dass Sie sich von Entscheidungen, die Sie in der Regierungsverantwortung
getroffen haben, in der Opposition einfach mal so mir
nichts, dir nichts verabschieden wollen.
({1})
Was hier vorliegt, ist ein absoluter Schnellschuss
- Kollege Gerster hat es schon ausgesprochen -, ein
Schnellschuss aus der Opposition heraus, um sozusagen
vergessen zu machen, was Sie in Ihrer Regierungszeit
getan haben.
({2})
Wir als FDP-Fraktion haben uns damals intensiv in
die Beratungen eingebracht. Wir haben sehr wohl auf die
Gefahr einer politischen Einflussnahme durch das Verfahren, das damals dann ins Gesetz geschrieben wurde,
hingewiesen.
({3})
Aber nichtsdestotrotz haben Sie das Gesetz durchgeboxt,
wollen damit aber jetzt nichts mehr zu tun haben.
({4})
Das Vorschlagsrecht des Bundesrates, also der Bundesländer, halte ich für eine ganz wesentliche Komponente der Regelung im Bundesbankgesetz; denn ich
glaube, dass eine Verteilung des Vorschlagsrechts auf
unterschiedliche Akteure eher geeignet ist, eine politische Einflussnahme auszuschließen, als eine Konzentration auf Bundesregierung und Bundestag.
({5})
Der entscheidende Punkt ist: Bei mehreren Akteuren ist
eine politische Einflussnahme weniger leicht möglich.
Sie haben vorgeschlagen, dass nach der öffentlichen
Ausschreibung und Vorsortierung der Bewerbungen
durch die Bundesregierung der Finanzausschuss eine öffentliche Anhörung durchführt, so nach dem Motto:
Deutschland sucht den Superbanker. Dann dürfen die
alle dort antanzen, und dann dürfen sich die Mitglieder
des Finanzausschusses ein Bild machen. Ich wage, ehrlich gesagt, nicht so genau zu sagen, wie das in einer solchen Finanzausschusssitzung ausgehen wird. Möglicherweise ist es sogar eine öffentliche Sitzung, eine
öffentliche Vorführung, und der Finanzausschussvorsitzende übernimmt die Rolle von Dieter Bohlen.
({6})
Ich glaube, dass ein solches Verfahren der Wichtigkeit
dieses Amtes in keiner Weise gerecht werden könnte.
({7})
Ich möchte noch auf eines hinweisen. Es gibt ein ehemaliges Bundesbankvorstandsmitglied, das durch Tätigkeiten neben seiner eigentlichen Vorstandstätigkeit Aufsehen erregt hat. Dieses Mitglied war von den Ländern
Berlin und Brandenburg vorgeschlagen worden. Ich
habe einmal herausgesucht, was der damalige und immer noch im Amt befindliche Regierende Bürgermeister
von Berlin, Klaus Wowereit, damals über diese Person
gesagt hat:
Mit Sarrazin geht einer der profiliertesten Finanzpolitiker nicht nur des Landes Berlin, sondern in
der Bundesrepublik Deutschland.
({8})
Weiter sagte er über Sarrazin:
Ich lasse ihn ungern ziehen.
({9})
In einer öffentlichen Anhörung werden möglicherweise auch solche Überzeugungen geäußert, die sich ein
paar Jahre später als falsch erweisen. Insofern wird vielleicht auch durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfahren wohl die eine oder andere Fehleinschätzung bei der
Besetzung von Bundesbankvorstandsposten nicht vermieden werden können.
Im Übrigen sehen wir in dem von Ihnen vorgeschlagenen Verfahren tatsächlich eine Gefährdung, vielleicht
sogar einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Bundesbank. Ich möchte schon noch einmal darauf hinweisen,
was die Bundesbank in den Zeiten der Finanzkrise für
dieses Land getan hat und mit welch unglaublich hohem
Ansehen die Bundesbank in diesem Land agiert. Dementsprechend sind wir als FDP eigentlich schon immer,
traditionell, Verfechter der Unabhängigkeit der Bundesbank. Wir werden schon allein aus diesem Grund Ihrem
Antrag nicht zustimmen können, weil wir einfach eine
Gefährdung der Bundesbank sehen.
Außerdem wird solch ein Schnellschussantrag, wie
Sie ihn hier vorgelegt haben, wenig tauglich für die Praxis sein.
({10})
Dementsprechend werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({11})
Axel Troost hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist richtig, sich anlässlich der Zusammensetzung des
Bundesbankvorstandes Gedanken über die Wahl des
Gremiums zu machen. Das ist auch notwendig, nachdem
wir nun wissen, wie schwierig und teuer es ist, offensichtliche Fehlbesetzungen wieder loszuwerden. Von daher begrüßen wir den Antrag der Grünen.
Fachliche Eignung - nicht Regionalproporz und Parteibuch - muss bei der Besetzung des Bundesbankvorstandes ausschlaggebend sein.
({0})
Eine öffentliche Ausschreibung von Vorstandsposten
entspricht durchaus diesem Ziel. Auch eine Anlehnung
an international erfolgreich praktizierte Besetzungsverfahren ist zu begrüßen.
Tatsächlich sind die wohldotierten und prestigeträchtigen Posten beim Bundesbankvorstand in den letzten
Jahren etliche Male an verdiente Parteikollegen vergeben worden. Der mit goldenem Handschlag verabschiedete Sarrazin - das ist eben noch einmal dargestellt worden ({1})
stellt aus unserer Sicht das abschreckendste Beispiel dafür dar. Herrn Sarrazin kann man nur wünschen: Allah
gebe ihm Verstand!
({2})
- Ja, aber Moment: Parteiproporz betrifft nicht nur die
eine oder die andere Partei, sondern das trifft für alle hier
zu. Da will ich gar keine Ausnahmen machen. Ich finde
es schon bedenklich, dass daraus letztlich keine Konsequenzen gezogen werden.
Es ist auch nicht richtig, hier von Schnellschuss zu
sprechen. Es geht ja nicht um eine Sofortabstimmung
über irgendetwas; der Antrag liegt vielmehr schon seit
langer Zeit vor und ist im Finanzausschuss behandelt
worden.
({3})
Selbst wenn man nicht dem Antrag folgen will, hat das
jetzt nicht dazu geführt, dass man sich einmal Gedanken
macht, auf welche andere Weise die Besetzung realisiert
werden könnte.
({4})
Klar ist doch, dass eine öffentliche Ausschreibung etwas ganz anderes ist, als wenn die Besetzung ausschließlich in Parteigremien ausgemauschelt wird. Das ist im
Augenblick sozusagen das Verfahren, um auf die Vorschlagsliste zu kommen. Insofern finden wir, dass das
Grundanliegen völlig richtig ist und man dem auch folgen sollte.
Trotzdem glauben wir, dass der Antrag der Grünen
insgesamt zu kurz greift. Selbst wenn man im Rahmen
einer Vorstandsbesetzung versucht, den besten Volkswirt
zu finden, ist derjenige, der auf diese Weise in das Gremium kommt, wegen der ausschließlichen Ausrichtung
der Bundesbank auf das Ziel der Preisstabilität weitestgehend gebunden und nicht in der Lage, eine aus unserer
Sicht notwendige umfassende Politik zu machen, das
heißt, die Politik der Bundesbank wie dann eben auch
der Europäischen Zentralbank an gesamtwirtschaftlichen
Zielsetzungen auszurichten.
Die Bundesbank ist aus unserer Sicht auf die Ziele
des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu verpflichten,
nämlich Beschäftigung zu erhöhen, angemessenes außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen und
für ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum
sowie Preisstabilität zu sorgen. Eine Ausrichtung auf
solche Ziele wird ja bereits von der amerikanischen Zentralbank praktiziert.
Das ist aus unserer Sicht eine absolute Notwendigkeit, um die Bundesbankpolitik wirklich in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu versuchen, damit
den Interessen der Bevölkerung nachzukommen, also
nicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auch
auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag von der großen
Mehrheit des Hauses nicht wirklich zum Anlass genommen wird, einmal nachzudenken, was man verändern
kann. Ich denke, das, was mit Sarrazin passiert ist, kann
jederzeit wieder passieren. Insofern fände ich es wichtig,
zumindest im Finanzausschuss weiter über diese Frage
zu diskutieren und uns wirklich Gedanken zu machen,
wie man hier Veränderungen herbeiführen kann.
Danke schön.
({5})
Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brinkhaus, Herr Gerster, Herr Volk, der vorliegende Antrag „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren“ ist in diesem Hohen Hause nicht neu.
Wir haben ihn aber heute auf die Tagesordnung setzen
lassen, weil wir gehofft haben, dass genau eine Woche
nachdem Thilo Sarrazin aus dem Bundesbankvorstand
ausgeschieden ist, ein guter Zeitpunkt sein könnte, um
jetzt endlich darüber zu sprechen, was man tun kann, um
das durch den Fall Sarrazin beschädigte Ansehen der Institution Bundesbank und ihre Unabhängigkeit wiederherzustellen.
({0})
Wir hatten gehofft, jetzt sei der Zeitpunkt günstig, endlich einmal frei von irgendwelchen Personalspekulationen darüber zu sprechen, inwieweit sich das bisher geltende Personalauswahlverfahren bewährt hat oder eben
nicht. Die heutige Debatte ist jedoch durchaus davon beeinflusst, dass von dpa gemeldet wurde, es gebe den
neuen Vorschlag, dass Joachim Nagel, bisher Leiter des
Zentralbereichs Märkte bei der Bundesbank, in den Vorstand wechselt. Wir begrüßen zunächst, dass bei dieser
Person offenbar nicht das bisherige Verfahren gewählt
worden ist: Der Bundesbankvorstand ist eine wunderbare
Endlagerungsstätte für altgediente Politikerinnen und
Politiker.
Nichtsdestotrotz: Diese Personalentscheidung, die
richtiger erscheint, löst nicht das strukturelle Problem,
das hier vorliegt. Deswegen ist dieser Antrag eine Einladung an Sie zur Debatte; leider haben Sie sie heute ausgeschlagen.
({1})
Trotzdem möchte ich die Argumente vortragen.
Wir haben diesen Antrag im Februar dieses Jahres
eingebracht. Damals haben Sie von der Koalition den
Antrag als durchsichtiges Oppositionsmanöver abgetan,
weil es seinerzeit unter anderem um die Berufung von
Carl-Ludwig Thiele von der FDP in den Vorstand der
Bundesbank ging;
({2})
Sie wollten ihn schützen, weil sein Berufungsverfahren
zu dieser Zeit lief. Wir hielten die Berufung zwar schon
damals für falsch; aber - das muss ich sagen - es bewegte sich im üblichen Rahmen von parteipolitischem
Geplänkel.
Heute haben wir aber eine vollkommen andere Situation. Inzwischen hat sich am Beispiel Thilo Sarrazin gezeigt, was passieren kann, wenn die Bundesbank von der
Politik als politisches Endlager missbraucht wird.
({3})
Thilo Sarrazin war zwar der spektakulärste, aber beileibe
nicht der einzige schwierige Entsorgungsfall. So wurde
zum Beispiel Rudolf Böhmler 2007 von Baden-Württemberg als Bundesbankvorstand durchgedrückt, obwohl
er in einem internen Anhörungsverfahren keine Mehrheit bei der Bundesbank fand.
({4})
Sarrazin wurde nicht wegen seiner Qualifikation
durchgedrückt - darüber könnte man diskutieren; die
fachliche Qualifikation war nicht das Problem -, sondern weil es dem Regierenden Bürgermeister von Berlin
- das konnte ich als Berlinerin wirklich live miterleben in sein politisches Schachspiel passte. Eines wusste
Klaus Wowereit wie die gesamte Stadt Berlin: Thilo
Sarrazin ist die denkbar ungeeignetste Person, um Teil
eines Kollegialorgans zu sein.
({5})
Dies hat er nicht erst als Berliner Finanzsenator unter
Beweis gestellt, sondern auch schon vorher, als er bei
der Bahn war, oder davor, als er Staatssekretär in Rheinland-Pfalz war. Das war also allgemein bekannt.
({6})
Jahrzehntelang galt der Spruch des französischen
Staatsmanns Jacques Delors:
Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle
glauben an die Deutsche Bundesbank.
({7})
- Herr Brinkhaus, genau das gilt aber nach der Causa
Sarrazin nicht mehr.
({8})
Deswegen sind wir gefordert, die Reputation der Bundesbank wieder herzustellen. Da braucht es eben einen
Ansatz für ein neues Verfahren.
({9})
Wenn Sie den Antrag so abtun, als sei er eine spinnerte grüne Idee,
({10})
dann möchte ich Ihnen schon sagen: Inzwischen befinden wir uns in guter Gesellschaft.
Lesen Sie die entsprechenden Blätter: WirtschaftsWoche, Handelsblatt bis hin zur Börsen-Zeitung. Dort finden Sie die Forderung, die wir in unserem Antrag erheben. Am 13. September fordert die WirtschaftsWoche
„eine Reform der Besetzungsprozedur“, um die angeschlagene Reputation der Bundesbank wieder herzustellen. Die Welt am Sonntag berichtet am 19. September:
Führende europäische Ökonomen fordern ein neues Berufungsverfahren für die Vorstände. Auch der ehemalige
Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schloss sich in einem Interview dieser Forderung an. Was machen Sie?
Sie machen nichts.
({11})
Wir brauchen eine Verbesserung der Legitimität beim
Auswahlverfahren. Wir schlagen ein Verfahren vor, das
mehr Transparenz schafft und dadurch die Legitimation
erhöht. Da die vier Stufen schon so oft Thema waren,
möchte auch ich noch einmal kurz auf sie eingehen.
Frau Kollegin, das könnte höchstens noch ein Satz
ohne Kommata sein.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Zur ersten Stufe. Wenn
Sie gerne noch zusätzlich Headhunter einschalten wollen, dann schalten Sie zusätzlich Headhunter ein. Die öffentliche Ausschreibung organisiert ein Mindestmaß an
Qualität. Das soll sie leisten.
Zur zweiten Stufe. Das Auswahlverfahren der Bundesregierung soll gewährleisten, dass Menschen nicht
beschädigt werden. Das kennen Sie auch. Sie thematisieren das als Problem der öffentlichen Ausschreibung.
Frau Kollegin.
({0})
Die dritte Stufe sieht vor - das ist für Sie das
Schlimmste -, dass der Finanzausschuss darüber beraten
soll. Ich sage Ihnen: Schauen Sie nach Großbritannien!
Schauen Sie auf die EU-Ebene!
Frau Kollegin.
Dann stellen Sie fest, dass dadurch keiner untergeht.
Formulieren Sie einfach einen Anspruch, der international gilt.
Frau Kollegin.
Überlegen Sie selber. Dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man unserem Antrag zustimmen sollte. Ich
hoffe, dass wir nicht zum letzten Mal über dieses Thema
debattieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/1075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/798 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenomVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, enthalten
haben sich SPD und die Fraktion Die Linke.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
- Drucksache 17/1215 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/3233 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann verfahren wir so.
Ich gebe dem Kollegen Marco Buschmann das Wort
für die FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen feierten wir
den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Vor 20 Jahren
endete damit endgültig die Existenz einer staatlichen
Ordnung, die auf Terror und Unterdrückung Andersdenkender gesetzt hat. Das Leid, das den Opfern von Terror
und Unterdrückung widerfahren ist, kann niemand ungeschehen machen. Wir können die Opfer aber rehabilitieren. Wir können ein Zeichen setzen, dass wir ihre Biografien würdigen. Wir können ein kleines, vielleicht
symbolisches Stück Wiedergutmachung leisten. Diese
symbolische Wiedergutmachung wollen wir verbessern.
Dazu legt Ihnen die Koalition den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes vor.
Er ist geboren aus einer Bundesratsinitiative der Länder Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Er nimmt eine ganze Reihe von Anregungen
aus dem Kreise der Opferverbände auf. Unser Gesetzentwurf enthält damit zahlreiche spürbare Verbesserungen für die Opfer des SED-Regimes, von denen ich hier
nur einige wenige erwähnen möchte.
Wir erweitern den Kreis der Anspruchsberechtigten.
Von nun an sind auch Personen anspruchsberechtigt, die
in einem Heim für Kinder und Jugendliche sowie in Jugendwerkhöfen untergebracht waren.
Wir erleichtern die Bewilligung der Opferpensionen.
Die erweiterte Härtefallregelung soll es ermöglichen,
dass die besondere Zuwendung nach § 17 a auch dann
gewährt werden kann, wenn die Mindesthaftdauer von
künftig 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde.
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Frau wegen einer Schwangerschaft vorzeitig aus der Haft entlassen
wurde. Ein anderes Beispiel ist die Haftentlassungspraxis in der DDR, durch die es immer wieder zu geringfügigen Unterschreitungen kam.
Weiterhin wurde aus dem Kreis der Opferverbände
immer wieder beklagt, dass es Landesbehörden gebe, die
gegen das Gesetz gehandelt hätten, weil sie unter Verweis auf den Amtsermittlungsgrundsatz jährlich wiederkehrende Einkommensermittlungen durchgeführt hätten.
Ein solches Vorgehen war mit diesem Gesetz natürlich
nicht vorgesehen. Der Grund dafür ist klar: Es darf nicht
sein, dass die Opfer von Überwachungsmaßnahmen den
Eindruck gewinnen, sie würden anlässlich ihrer Rehabilitierung nun wieder Gegenstand von Überwachungen.
Unser Vorschlag schließt turnusmäßige und anlassunabhängige Einkommensüberprüfungen in Zukunft aus.
({0})
Wir verlängern die Antragsfristen auf strafrechtliche,
berufsrechtliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung bis zum 31. Dezember 2019.
({1})
Damit geben wir sowohl allen Betroffenen als auch den
vom Gesetz neu erfassten Personengruppen wie beispielsweise den ehemaligen Insassen von Jugendwerkhöfen die Möglichkeit, ihren Antrag in aller Ruhe zu
prüfen und zu stellen. Ich denke, dass wir den Betroffenen mit dieser deutlichen Verlängerung der Frist ein großes Stück entgegengekommen sind.
({2})
Einen weiteren Punkt haben die Betroffenen wiederholt vorgetragen - auch mir ist er wichtig -: Es geht darum, den Gedanken der Ehrenpension stärker herauszustellen. Ein Vorschlag aus dem Kreis der Opferverbände
lautete, dass man Schwerkriminellen die Opferpension
künftig versagen solle. Diesem Wunsch kommen wir
nach. Die besondere Zuwendung wird zukünftig denjenigen Personen nicht mehr gewährt, gegen die nach einfacher Auskunft aus dem Bundeszentralregister eine
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer
vorsätzlichen Straftat rechtskräftig verhängt worden ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist
es so, dass man sich angesichts des geschehenen Unrechts immer noch mehr vorstellen kann; das ist überhaupt keine Frage. Ich glaube aber, dass die christlichliberale Koalition hier einen guten Vorschlag vorlegt.
Das gilt insbesondere auch, wenn Sie die Rahmenbedingungen bedenken, unter denen wir agieren. Zu diesen
Rahmenbedingungen gehört natürlich, dass wir die notwendige Haushaltskonsolidierung durchführen. Trotzdem weiten wir an dieser Stelle Leistungsansprüche aus.
Ich glaube, wir zeigen damit ganz deutlich, dass wir die
Opfer nicht allein lassen. Wir bewerten diese Frage mit
der notwendigen politischen Sensibilität und verleihen
ihr Bedeutung.
({3})
Die Fraktionen der Opposition regen nun weitere
Maßnahmen an.
Zum Vorschlag der SPD für ein einheitliches Anerkennungsverfahren ist zu sagen, dass die Idee grundsätzlich natürlich sympathisch ist. Die Regelungskompetenz
liegt aber bei den Ländern. Den Versuch, hier eine Einigungslösung herbeizuführen, gab es schon in der Vergangenheit. Er hat bloß nicht gefruchtet.
Den Kollegen der Grünen möchte ich sagen: Natürlich sind die Überlegungen, das System umzustellen,
durchaus sympathisch. Allerdings muss man berücksichtigen, dass Ihr System als Ganzes dazu führen würde,
dass die Opfer des Linkstotalitarismus in der DDR
besser gestellt würden als die Opfer des Nationalsozialismus. Sie kennen die Grundlagen, nach denen beispielsweise die JCC Beihilfen erteilt. Auch da gibt es
Mindesthaftdauern. Auch da ist die Beihilfe deutlich
niedriger als die, die Sie vorschlagen.
Den Kollegen der Linken möchte ich weiterleiten,
was mir aus dem Kreis der Opferverbände mitgeteilt
worden ist: Das sind die Rechtsnachfolger derjenigen
Partei, die all das Leid angeordnet hat, um dessen Bewältigung es heute geht. Wie können sie nur auf die Idee
kommen, sich als Anwälte der Opfer aufzuspielen?
({4})
In einer Zeit der Haushaltskonsolidierung, in der die
Zeichen auf Sparen stehen, weiten wir die Leistungen
aus. In Anbetracht des Sparhaushaltes und der Schuldenbremse können wir auf das Erreichte, auf das, was wir
Ihnen vorlegen, stolz sein. Trotzdem werden wir natürlich auch in Zukunft offene Augen und Ohren für die Belange der Opfer des SED-Regimes haben; denn der mutige Einsatz dieser Menschen für Freiheit, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit muss anerkannt und gewürdigt
werden.
({5})
Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten und beschließen heute die vierte
Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes.
Der Gesetzentwurf wurde im März 2010 - der Kollege
Buschmann hat es schon gesagt - vom Bundesrat in den
Bundestag eingebracht.
Wir erinnern uns alle: Die erste Lesung dieses Entwurfs fand an einem historischen Tag, am 17. Juni 2010,
statt. An diesem Tag haben wir in einer Feierstunde hier
im Hohen Haus an die schlimmen Ereignisse des
17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Am vergangenen
Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert. Dies ist an sich schon ein guter Grund, diesen Gesetzentwurf mit seinen sehr begrüßenswerten Änderungen zu verabschieden.
Natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass Gesetze,
insbesondere solche, die die Rechte der betroffenen Bürger stärken, möglichst zügig auf den Weg gebracht werden. Ich frage mich allerdings, ob die Hektik, die hier in
den letzten zwei Wochen an den Tag gelegt wurde, um
diesen symbolischen Termin einhalten zu können - Herr
Kollege Buschmann, Sie haben das ja gesagt -, wirklich
erforderlich und geboten war.
({0})
Ich will ganz kurz daran erinnern, dass erst in der letzten Woche ein Berichterstattergespräch zu dem Entwurf
stattfand, bei dem drei Sachverständige angehört wurden. Bereits einen Tag später fand sich der geänderte Gesetzentwurf auf der Tagesordnung dieser Sitzungswoche
wieder. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzentwurf an der einen oder anderen Stelle mit heißer Nadel gestrickt wurde und eine intensive Auseinandersetzung mit dem, was die Sachverständigen vorgebracht
haben, nicht erfolgt ist, weil das nicht möglich war. Es
wäre wünschenswert gewesen, wenn die Opposition bei
einem so sensiblen Thema stärker in den Prozess einbezogen worden wäre.
An dem Gesetzentwurf ist begrüßenswert, dass der
Personenkreis der Antragsberechtigten erweitert wurde.
Nunmehr haben auch Menschen - wir haben es schon
gehört -, die als Kinder oder Jugendliche in einem Heim
bzw. in Jugendwerkhöfen unter schlimmsten, haftähnlichen Bedingungen ein jämmerliches Dasein fristen
mussten, einen Anspruch auf Rehabilitierung und soziale Ausgleichsleistungen.
Darüber hinaus hatten aber viel mehr Menschen unter
staatlichen Kontrollmaßnahmen zu leiden, die sich bis
heute auf ihr Leben auswirken. Zu erwähnen sind die
Vorkommnisse bei den Weltfestspielen 1973; der Kollege Montag hat sie in der Sitzung des Rechtsausschusses am Mittwoch erwähnt. Damals wurden mehr als
1 800 Personen in Haft genommen, 477 in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen, 639 in Jugendwerkhöfen und 1 163 in sogenannten Spezialkinderheimen untergebracht, und gegen 2 982 Personen wurden sonstige
staatliche Kontrollmaßnahmen wirksam. Ich hätte mir
zumindest eine Diskussion darüber gewünscht, ob die
Möglichkeit besteht, den Personenkreis auf Opfer solcher staatlichen Kontrollmaßnahmen auszuweiten.
Weiterhin begrüßenswert ist, dass die Frist zur Antragstellung von 2011 auf 2019 verlängert wurde, und
zwar insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass viele
Opfer in Unkenntnis oder wegen Verdrängung, weil sie
zum Teil traumatisiert sind, bislang keinen Antrag geSonja Steffen
stellt haben. In der Anhörung wurde von dem Sachverständigen Dollase, dem Justiziar der Bundesstiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur, anschaulich geschildert,
dass viele Opfer erst bei der Rentenbeantragung auf die
Opferrente hingewiesen werden. Es wäre daher ein zwar
mutiger, aber auch sinnvoller Schritt gewesen, eine Entfristung des Gesetzes vorzunehmen.
({1})
Darüber hinaus begrüßen wir es selbstverständlich,
dass zukünftig der Freibetrag für Familien mit Kindern
erhöht wird und das staatliche Kindergeld und die betriebliche Altersvorsorge nicht mehr als Einkommen angerechnet werden.
({2})
Auch der neu aufgenommene sogenannte Ausschlussgrund ist zu begrüßen. Zukünftig soll die Opferrente,
weil sie zu Recht „Ehrenpension“ genannt wird, Schwerverbrechern nicht mehr zuerkannt werden. Damit wird
sich das Gesetz an das Bundesentschädigungsgesetz anpassen, das die Opfer des Nationalsozialismus entschädigte, und an das Häftlingshilfegesetz.
Richtig ist auch, dass die Rente dann zuerkannt werden soll, wenn die Straftat in einer Auskunft aus dem
Zentralregister nicht mehr enthalten ist, weil auch Straftäter die Chance haben müssen, nach Löschung ihrer
Straftaten im Zentralregister als unbescholtene, gleichwertige Menschen zu gelten. Damit folgt das Gesetz der
Systematik des Registerrechts und dem Gedanken der
Resozialisierung.
Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass aufgrund der
Eile, mit der der Gesetzentwurf verabschiedet werden
soll, wichtige Aspekte nicht mehr näher geprüft wurden.
Dazu gehört auch ein Blick auf die Beschädigtenversorgung. Wer durch die Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach dem Gesetz
in der derzeitigen Fassung wegen der Folgen dieser
Schädigung auf Antrag eine weitere Versorgung. Die
Praxis in den einzelnen Bundesländern bei der Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden ist aber
leider sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in
Thüringen bis 2009 von 933 Anträgen 220 positiv beschieden wurden, sind es in Mecklenburg-Vorpommern
bei 825 Anträgen nur 90 Anerkennungen.
Ich will an dieser Stelle kurz ein Beispiel nennen, damit man sich klarmachen kann, um was es hier eigentlich geht. Ein Opfer stellte 1997 in einem westdeutschen
Bundesland einen Antrag auf Beschädigtenversorgung.
Er war als politischer Häftling von 1958 bis 1963 in den
Gefängnissen Bautzen, Neustrelitz und Schwerin inhaftiert. Das zuständige Versorgungsamt lehnte den Antrag
ab mit der Begründung, es sei nicht wahrscheinlich, dass
die geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch die
Inhaftierung hervorgerufen worden seien. Schon in der
Kindheit und Jugendzeit sei ein Gemütsleiden auffällig
gewesen. Für das Jahr 1957 finde sich ein Hinweis auf
eine Minderbegabung und Willensschwäche.
Hochproblematisch erscheint hier, dass man dem Antragsteller einen Begutachtungstermin verwehrt hat. Außerdem vernachlässigte man völlig die in den 50er- und
60er-Jahren besonders inhumane Züge tragenden Haftbedingungen in der DDR, denen der Betroffene über den
langen Zeitraum von immerhin fünf Jahren ausgesetzt
war. In der Anamnese verweist man mit „Minderbegabung“ und „Willensschwäche“ auf zwei Aussagen aus
DDR-Dokumenten. Sie werden kritiklos hingenommen,
zitiert und einem wissenschaftlichen Diagnosebefund
gleichgesetzt.
Wünschenswert wäre hier die Errichtung einer zentralen Stelle zur Bewertung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden, die man mit Fachleuten, die sich in dieser
Thematik besonders auskennen und damit besondere Erfahrungen haben, besetzen könnte. Auch die Union hat
dieser Idee in der letzten Legislaturperiode viel abgewinnen können. Wir haben vorhin gehört, dass auch Herr
Kollege Buschmann dieser Idee etwas abgewinnen kann.
Ich hoffe daher, dass unser entsprechender Entschließungsantrag auch die Zustimmung der Regierungskoalition findet.
({3})
Mir ist bewusst, dass ein solches Vorhaben nur in Zusammenarbeit mit den Ländern umgesetzt werden kann.
Dem Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung werden wir heute mit Blick auf die Opfer, die diese Besserstellung mehr als verdient haben, unsere Zustimmung erteilen.
({4})
Die Kollegin Andrea Voßhoff hat das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Steffen, zu
den Forderungen, die Sie hier neben den Forderungen in
Ihrem Entschließungsantrag erhoben haben, möchte ich
Ihnen sagen: Diese SED-Opferpension ist in Zeiten der
Großen Koalition entstanden. Es war damals die SPD,
die bei den Entschädigungsregelungen zu Recht, wie ich
finde, nicht nur nachhaltig dafür geworben, sondern
auch immer darauf bestanden hat, dass wir das mit anderem bestehendem Entschädigungsrecht - Stichwort: NSOpferentschädigung - austarieren. Damals waren Sie
aber noch nicht dabei. Das war die Conditio im Rahmen
dieser Opferpension.
Es ist schon gesagt worden: Am vergangenen Sonntag
haben wir nicht nur in Bremen und in Berlin, sondern in
zahlreichen Städten Deutschlands 20 Jahre deutsche Ein6882
heit gefeiert und ihrer gedacht. Wie sagte es der Bundestagspräsident, Dr. Lammert, sehr treffend - ich zitiere -:
Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre
seit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinander Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank.
({0})
20 Jahre deutsche Wiedervereinigung bedeuten neben
stillem Stolz und lautem Dank aber auch 20 Jahre Aufarbeitung der Folgen eines 40 Jahre währenden SED-Unrechtssystems. Einer der heute vorliegenden Entschließungsanträge ist von den Linken. Ich darf Ihnen, meine
Damen und Herren von den Linken, einmal sagen: Zur
Rehabilitierung gehören auch die Nennung der Täter und
Ihr immerwährendes und bis heute nicht erfolgtes entsprechendes Bekenntnis.
Von daher frage ich Sie in Anbetracht Ihrer Forderungen: Was tun Sie eigentlich in den Ländern, in denen Sie
leider mitregieren, im Hinblick auf eine Entschädigung
der SED-Opfer?
({1})
Mir ist keine Initiative, die Sie zu diesem Thema gestartet haben, bekannt.
Für die Union steht das Erinnern im Vordergrund. Für
uns gehören zum Erinnern aber auch die Aufarbeitung
und die Rehabilitierung; das haben wir uns gemeinsam
mit unserem Koalitionspartner vorgenommen, und das
hat sich in unserem Koalitionsvertrag niedergeschlagen.
Dazu liegt Ihnen heute, wie ich finde, ein guter Gesetzentwurf vor.
Wir alle wissen - darauf ist heute schon hingewiesen
worden; das sage ich auch mit Blick auf die Entschließungsanträge der Opposition -: Es wird nie möglich
sein, ein derartiges 40-jähriges Unrecht vollständig wiedergutzumachen. Manche Kollegen beschäftigen sich
seit Jahren mit diesem Thema, und hier im Parlament
gab es in dieser Zeit unterschiedlichste Mehrheiten. RotGrün beispielsweise hätte acht Jahre lang die Gelegenheit gehabt, weiter gehende Regelungen zu treffen.
({2})
Aber diejenigen, die regiert haben und entscheiden
mussten, sind immer an Grenzen gestoßen.
Aus Sicht der Opfer ist es verständlich, dass die Ansprüche immer weiter steigen. Aber es handelt sich auch
um ein Ritual: Diejenigen, die regieren und Verantwortung tragen, wissen, dass es Grenzen gibt und dass die
Opposition - weil sie weiß, dass sie die eigenen Forderungen nicht umsetzen muss - die Gelegenheit nutzt,
weiter gehende Forderungen zu erheben.
({3})
Dass das immer im Interesse der Opfer ist, wage ich zu
bezweifeln. Ich glaube, es hilft auch nicht weiter, Versprechen abzugeben, die bei Lichte betrachtet und bei
sorgfältiger Prüfung nicht einzuhalten sind.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die Große
Koalition im Jahre 2007 - ich erwähnte es - auf Initiative der CDU die sogenannte SED-Opferpension eingeführt hat. Sie wissen auch, dass mittlerweile fast 50 000
Opfer diese Rente beziehen. Diese Zahl ist beachtlich
und wächst stetig. Sie ist, wie ich finde, erschreckend
hoch und ein Beleg für das Unrechtssystem der DDR.
Dass es uns gelungen ist, die SED-Opferpension einzuführen, ist auch aus heutiger Sicht nach wie vor sehr löblich und zu begrüßen.
Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf - die
Details wurden schon genannt -, mit dem konkrete Verbesserungen und Erleichterungen beim Bezug der SEDOpferpension erzielt werden sollen. In der Praxis haben
wir festgestellt, dass es Fehlentwicklungen gab, die wir
heute klugerweise korrigieren. Ich bedanke mich schon
jetzt für Ihre Signale der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf; ich weiß, wie intensiv und häufig auch Sie mit
den Opfern reden.
Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf machen:
Erstens. Ich freue mich - ich sagte es bereits -, dass
es dafür offenkundig eine breite Zustimmung in diesem
Hause gibt. Diese einmütige Zustimmung ist auch ein
wichtiges und nicht zu unterschätzendes Signal an die
Opfer und ihre Verbände, die unsere Diskussion sicherlich aufmerksam verfolgen. Ich habe feststellen dürfen,
dass auch die mitberatenden Ausschüsse einstimmig dafür votiert haben; auch dies ist zu begrüßen.
Im Gegensatz zur Kollegin Steffen bin ich der Meinung, dass wir am letzten Mittwoch konstruktive Berichterstattergespräche geführt haben und dass auch nach
Vorlage unserer Änderungsvorschläge am vergangenen
Montag ein weiteres konstruktives Berichterstattergespräch stattgefunden hat. Der Umfang der Gesetzesänderungen ist überschaubar, sodass von einem eiligen Verfahren wirklich keine Rede sein kann. Dieser Kritikpunkt, den Sie, Frau Kollegin Steffen, vorhin erwähnt
haben, ist auch nicht von allen Oppositionsfraktionen
geäußert worden.
Frau Kollegin, mich tröstet diese Kritik insofern, als
ich sagen kann: Wenn man in der Sache keinen Kritikpunkt findet, weil der Gesetzentwurf richtig gut ist, dann
muss man als Opposition natürlich das Verfahren beanstanden. Das sei Ihnen auch zugestanden; aber ich
denke, sachlich ist diese Kritik nicht berechtigt.
({5})
Zweitens. Mit diesem Gesetzentwurf werden nicht
nur die vom Bundesrat geforderten verwaltungsrechtlichen Änderungen beim Bezug der SED-Opferpension
geändert, sondern - der Kollege Buschmann hat es angesprochen - man ist teilweise weit darüber hinausgeAndrea Astrid Voßhoff
gangen. Ein Beispiel sind die Regelungen des Kinderfreibetrages. Für Opferfamilien mit Kindern soll ein
Kinderfreibetrag eingeführt werden. Das Kindergeld
soll bei der Berechnung des Einkommens nicht angerechnet werden. Im Ergebnis sollen Opfer mit Kindern
und Opfer ohne Kinder gleichgestellt werden. Das ist
eine notwendige und gebotene Regelung.
({6})
Wir sind nicht nur froh, sondern auch unseren Haushältern dafür dankbar, dass sie dieser Regelung trotz des bestehenden Konsolidierungsdrucks zugestimmt haben.
Erwähnt wurde auch - das ist nicht unwichtig, sondern eine wesentliche Änderung des Gesetzes -, dass die
in den Rehabilitierungsgesetzen enthaltene Härtefallregelung, die bisher nur für die Kapitalentschädigung galt,
jetzt auf die Opferpension ausgedehnt wird; Beispiele
sind bereits genannt worden. Es hat Fälle gegeben, in denen aufgrund der willkürlichen DDR-Verwaltungspraxis
die von uns geforderte Haftzeit von 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde. Weil das eine Härte im Sinne
einer Ungerechtigkeit ist, haben wir die besondere Zuwendung der Opferpension in die Härtefallregelung des
§ 19 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes aufgenommen. Auch ist es ein wichtiger und guter Schritt,
dass wir in dieser Frage zu einer Härtefallregelung gekommen sind.
({7})
Wir haben Klarstellungen vorgenommen, die nicht
nur redaktionell, sondern auch grundsätzlich sind. Wir
haben klargestellt, dass die Mindesthaftzeit 180 Tage beträgt. Jeder von uns, der die Gespräche mit den Opfern
und den Opferverbänden geführt hat, weiß, dass das unterschiedlich gehandhabt wurde. In einigen Fällen wurden volle sechs Monate berechnet, in anderen 180 Tage.
Es gab keine einheitliche Regelung. Das haben wir klargestellt und auch dabei für etwas mehr Gerechtigkeit gesorgt. Jedenfalls weiß ich aus vielen Gesprächen mit Opfern, dass das häufig als Problem empfunden wurde.
Auch wurde erwähnt, dass die Länder teilweise anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensnachweise
fordern. Das ist von vielen Opfern, insbesondere von den
älteren, als Demütigung empfunden worden, weil sie nur
eine Rente beziehen und sich deshalb die Einkommensverhältnisse nicht ändern. Das war vom Bundesgesetzgeber nie vorgesehen, wird von den Ländern aber praktiziert. Auch deshalb schreiben wir ins Gesetz, dass eine
anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensüberprüfung nicht stattfinden soll.
({8})
Die Einbeziehung von DDR-Werkhof- und Heimkindern ist genannt worden. Auch sie wurde damals vom
Gesetz intendiert, ist aber in unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedlich gehandhabt worden. Deshalb schreiben wir das zur Klarstellung ins
Gesetz.
Auch der Ausschluss Schwerkrimineller ist erwähnt
worden. Frau Kollegin Steffen, Sie hatten in diesem Zusammenhang ein Problem, weil in Mecklenburg-Vorpommern die obersten Landesbehörden die Opferpensionen bearbeiten. Klären Sie das doch im Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern.
({9})
Wir können gern gemeinsam ein Schreiben aufsetzen.
Das Land kann das ändern, sodass sich die von Ihnen geschilderte Problematik aus unserer Sicht in der Praxis
gar nicht stellt. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern ist
es unbenommen, auch von den obersten Landesbehörden einfache Registerauskünfte einzuholen. Daher ist
das Problem aus meiner Sicht nicht nennenswert.
Die Verlängerung der Antragsfristen ist auch genannt
worden. Wir haben sie häufig in diesem Hause verlängert und immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das
notwendig ist. Aber gerade mit der Einführung der SEDOpferpension im Jahre 2007 haben wir Material erhalten, dem wir entnehmen können, dass die Zahl der Rehabilitierungsanträge deutlich nach oben geschnellt ist,
weil die Rehabilitierung Voraussetzung für die dann unbefristet zu beantragende Rente oder SED-Opferpension
ist. Demzufolge haben wir die Fristen noch einmal bis
2019 verlängert. Wenn wir die Rehabilitierungsantragsfristen verlängert haben, haben wir immer auch die verwaltungs- und berufsrechtlichen Fristen entsprechend
verlängert. Deshalb haben wir im Lichte des Berichterstattergesprächs, das wir sehr aufmerksam verfolgt haben, diese Fristverlängerung umgesetzt. Daher denke
ich, dass dieser Gesetzentwurf alles in allem - das ist
heute schon gesagt worden - sehr gut ist.
Gestatten Sie noch einige abschließende Bemerkungen zu den Entschließungsanträgen der Opposition. Ich
sagte eingangs, dass es immer leichter ist, mehr zu fordern, wenn man in der Opposition ist, weil man die Forderungen, da man nicht in politischer Verantwortung ist,
nicht umsetzen muss. Als ich den Entschließungsantrag
der Grünen gelesen habe, habe ich mich etwas gewundert,
({10})
dass er vom Kollegen Montag mitgetragen wird; denn er
hat im ersten Berichterstattergespräch sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Entschädigungsregelungen sehr wohl mit Blick auf das gesamte Entschädigungsrecht - das betrifft auch Zahlungen für NS-Opfer auszutarieren sind.
({11})
Deshalb, Herr Kollege Montag, hat mich Ihr Antrag etwas gewundert. Aber der Kollege Wieland sagte, Sie
seien überzeugt worden. Vielleicht kann er das noch etwas ausführen.
({12})
Abschließend, Frau Kollegin Steffen, sage ich Ihnen
zu dem, was Sie in Ihrem Entschließungsantrag erwähnt
haben, Folgendes: Sie wissen, dass es der Bund schon
einmal versucht hat, dass sich die Länder an dieser Stelle
nicht einig sind und dass die Länder dazu nicht zu bewegen waren. Ich weiß, dass Sie - leider - sechs Landesjustizminister und sieben Landessozialminister stellen. Frau
Kollegin Steffen, fangen Sie an, diese zu überzeugen.
Wenn Sie all diese hinter sich haben, sollten wir uns über
das Thema noch einmal unterhalten. Wenn die Länder
wollten, könnten sie das Verfahren, das Thüringen praktiziert, umsetzen. Traurig ist, dass das nicht geschieht.
Aber fangen Sie bitte bei Ihren Ministern an, dafür zu
werben. Ich will das gerne auch bei den unsrigen tun.
Aber Sie haben leider Gottes eine größere Anzahl aufzubieten.
({13})
Versuchen Sie bitte nicht, das Problem auf die christlich-liberale Koalition zu schieben. Die Länder sind in
der Pflicht. Die Länder könnten es machen. Thüringen
hat gute Vorlagen dafür geliefert. Ich warte auf Ihre
Rückmeldung, ob Sie Ihre SPD-Kollegen überzeugen
können.
Vielen Dank.
({14})
Die Kollegin Wawzyniak hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte mit dem anfangen, was Frau Steffen
angesprochen hat. Ich hätte mir gewünscht - ich habe
das auch im Ausschuss gesagt -, dass wir mehr Zeit gehabt hätten, die Vorschläge der Sachverständigen nach
den zwei Berichterstattergesprächen noch einmal gemeinsam im Detail zu prüfen und sie in den Gesetzentwurf einzuarbeiten. Sie haben einige Sachen aufgenommen, andere Sachen fehlen.
Ich möchte Ihnen heute ein Buch empfehlen, und
zwar das Buch Knastmauke von Sibylle Plogstedt. In
diesem Buch wird die heutige Lage von ehemaligen
Häftlingen in der DDR untersucht, und es werden die
Fragen aufgeworfen, warum diejenigen, die die deutsche
Einheit erkämpft haben, zu Menschen wurden, denen es
heute besonders schlecht geht,
({0})
und inwieweit die schlechtere soziale Situation auf den
traumatischen Störungen als Folge der Haft beruht.
Ich glaube, es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir
die Anerkennung der Zivilcourage und die Anerkennung
des Eintretens für Bürgerrechte und Demokratie daran
knüpfen, dass eine Freiheitsentziehung stattgefunden haben muss, wie Sie es beim Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz tun.
({1})
Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass wir auch für
andere Formen der Benachteiligung Regelungen finden,
die in Richtung Opferrente gehen. Ich denke beispielsweise an Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur machen konnten, weil ihre Eltern in der Kirche waren.
({2})
Ich finde, der 20. Jahrestag könnte Anlass sein, diesen
Menschen gegenüber ein Symbol zu setzen.
({3})
Trotz der Fehler, die dieser Gesetzentwurf aufweist,
wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen zustimmen - aus Verantwortung, die wir
für die DDR-Geschichte tragen, aber auch, weil 3 000
Anspruchsberechtigte mehr in den Genuss der Opferrente kommen.
({4})
Es ist ausgesprochen erfreulich, dass in den Änderungsantrag der Koalition die Jugendwerkhöfe aufgenommen wurden. Ich sage es sehr deutlich: Wer sich einmal mit dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau
beschäftigt, für den ist klar: Durch diesen Jugendwerkhof wird jede Relativierung des DDR-Unrechts delegitimiert.
({5})
Es ist erfreulich, dass die Fristenregelung ausgeweitet
wird. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass es eine
unbefristete Möglichkeit der Antragstellung gibt, weil
gerade jüngere Menschen in einem Alter von Mitte 40
bis Anfang 50 sind, wenn die Frist ausläuft, und die Erfahrung zeigt, dass häufig erst bei Rentenantragstellung
darauf hingewiesen wird oder die Menschen erst dann in
der Lage und bereit sind, einen Antrag nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu stellen.
Mit unserem eigenen Entschließungsantrag gehen wir
ein bisschen über den Gesetzentwurf hinaus. Wir wollen,
dass nicht an den 180 Tagen Haft festgehalten wird. Wir
haben in der Anhörung der Sachverständigen gehört,
dass sehr häufig Menschen nur kurzfristig in Haft genommen und dann durch Zersetzungsmaßnahmen des
Ministeriums für Staatssicherheit weiteren Repressalien
unterworfen wurden. Wir wollen, dass auch solche Opfer in den Genuss der Opferrente kommen.
({6})
Wir finden das Grundprinzip falsch, dass die Opferrente als soziale Ausgleichsleistung gestaltet ist. Wir finden, für die Zivilcourage und das Engagement für Bürgerrechte und Demokratie muss unabhängig vom
Einkommen ein Anspruch auf Opferrente gewährt werden.
({7})
Wir fordern eine höhere Leistung, und wir fordern vor
allem, dass die Vermutung, dass die Schäden aus der
Haft herrühren, der Regelfall wird und dass nicht die
Opfer beweisen müssen, dass die Schäden Folge der
Haft sind.
Herr Buschmann, Sie haben gesagt, wir legen etwas
vor, was Ihnen nicht gefällt. Hätten wir nichts vorgelegt,
dann hätte Ihnen das auch nicht gefallen. Ich sage Ihnen
ganz ehrlich: Mir ist es egal, was Ihnen gefällt, mir ist
nur unsere Verantwortung gegenüber den Opfern wichtig.
({8})
Ich komme zum Schluss. Wir werden diesen Gesetzentwurf jetzt hier im Bundestag einstimmig verabschieden, wenn die Grünen zustimmen, wovon ich ausgehe.
Die anderen haben das ja schon erklärt. Mir ist wichtig,
dass wir das Thema damit nicht zu den Akten legen, sondern dass wir weiter über die weiter gehenden Forderungen auch der Opferverbände nachdenken und das bei
Gelegenheit sehr gerne auch gemeinsam wieder aufgreifen.
({9})
Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Wawzyniak
({0})
- ja, jetzt kommt das mit dem Geld; Sie haben es geahnt,
und auch Ihr Kollege Dietmar Bartsch ist ja wieder hier -,
({1})
was Sie gesagt haben, war inhaltlich weitestgehend richtig.
({2})
Aber die Attitüde, aus Verantwortung für die Opfer zu
handeln, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({3})
Verantwortung für die Opfer heißt zunächst, dass die
Täter finanziell für diese einzustehen und finanzielle
Wiedergutmachung zu leisten haben. Das haben Sie nie
getan. Sie haben Ihre Parteimilliarden veruntreut. Sie haben sie ins Ausland geschafft und im Inland versickern
lassen. Dazu sollten Sie Stellung nehmen. Herr Bartsch
hat das letztens versucht und sinngemäß gesagt, dass
Ihre Partei notariell erklärt habe: All das Geld, das jetzt
noch auftaucht, geben wir ab. - Das erinnert an einen
Räuber, der seine Beute versteckt hat und sagt: Wenn
doch noch etwas gefunden wird, dann bekommt es der
Staat. - Das ist wirklich großzügig. So billig kommen
Sie hier nicht davon.
({4})
Der Kollege Bartsch war Bundesschatzmeister, als ihm
Gregor Gysi als Vorsitzender Briefe geschrieben hat mit
Tipps, wie man Firmen gründet und Gelder zur Seite
schafft. Der letzte Satz lautete, wie von einem Mafiapaten: Dieses Schreiben bitte vernichten. - Das hat er
zwei-, dreimal versäumt. Deswegen wurde es bei Durchsuchungen gefunden. Von ihm wird der Satz kolportiert:
Das wird mir Gregor nie verzeihen.
({5})
So weit dazu, ob Sie sich ehrlich oder unehrlich verhalten haben, vom Parteivorsitzenden bis hin zum Schatzmeister.
Jetzt zu dem Gesetz. Frau Kollegin Voßhoff, wir haben in der Frage der Opferpension nie auf einem hohen
Ross gesessen. Das können wir auch nicht; denn Sie haben zu Recht gesagt: Weder Schwarz-Gelb unmittelbar
nach der friedlichen Revolution noch Rot-Grün haben
diese Pension zustande gebracht. Es war die Große Koalition. Das erkennen wir an und haben das auch immer
so gesagt.
Nun kommt ein gewisses Aber. Unser Entschließungsantrag ist wie die anderen Entschließungsanträge
auch ein Memo, wohin sich das eigentlich weiterentwickeln müsste. Wenn wir wieder regieren - stellen Sie
sich das einfach einmal vor ({6})
- tun Sie das, auch wenn Schwarz bei der Vorstellung
verzweifelt, dann dürfen Sie uns an dieses Memo erinnern; denn auch damit haben Sie recht: Das ist ein langer
Prozess, der selten zu einem befriedigenden Ende findet.
({7})
Eine echte Opferpension wäre eine Anerkennungsund Ehrenpension. Sie wäre mehr als eine Haftentschädigung. Die sechs Monate oder 180 Tage - das ist uns
doch allen klar - sind ungerecht gegenüber denen, die
diese Grenze knapp verfehlen. Da könnte man abgestuft
mehr geben. Ich weiß, dass man offene Türen einrennt,
was die Schülerinnen und Schüler, die Dopingopfer und
die Menschen angeht, die in der Zwangspsychatrie waren. Deswegen erkenne ich an, dass es einen kleinen
Schritt gegeben hat. Der ist gut. Dem stimmen wir zu.
Es bleibt aber sehr viel zu tun. Es gibt immer noch
Opfer, die vergessen wurden. Es gibt immer noch Opfer,
die draußen vor der Tür stehen. Wir alle sind aufgefordert, dies zu ändern. Aber wir sollten aufhören, uns gegenseitig vorzuwerfen, wer jeweils mehr bewilligt bzw.
nicht bewilligt hat.
Wie gesagt, es ist ein kleiner Schritt in die richtige
Richtung. Weitere müssen folgen.
In diesem Sinne vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Dietmar Bartsch das Wort.
({0})
- Jetzt ist es günstig, zuzuhören.
Herr Wieland, Sie wissen sicherlich, dass ich im Januar 1991 Schatzmeister geworden bin. Sie wissen auch,
dass die Vermögensfragen der Partei danach abschließend geklärt worden sind.
Erstens zum Auslandsvermögen: Das Auslandsvermögen ist in einer Bundestagsdrucksache aufgeführt
worden.
({0})
Wir haben dieses zusammen mit der unabhängigen
Kommission ermittelt, und es ist dem Staatshaushalt zugeflossen, wie es das Gesetz für den Aufbau Ost vorsieht.
Zweitens. Das sonstige Vermögen der SED ist geprüft
worden - übrigens genau wie das Vermögen der Blockparteien, weil Sie da drüben so eine große Klappe haben -,
({1})
und das, was auf rechtsstaatliche Weise erworben wurde,
durfte die PDS behalten. Dabei handelte es sich um vier
Immobilien, nicht mehr und nicht weniger, kein Cent
Geldvermögen.
({2})
Alles, was Sie behaupten, ist schlicht die Unwahrheit.
Denn in allen Verfahren hat es an keiner Stelle auch nur
einen Vorwurf gegen die neue Partei, die PDS, gegeben,
der hätte aufrechterhalten werden können.
({3})
Das Letzte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie das
wirklich ernsthaft mit Mafiamethoden vergleichen, dann
muss ich sagen, dass das unter Ihrem Niveau ist, Herr
Wieland. Wir haben Aufklärung geleistet und etwas für
die neuen Länder getan. Das Geld ist verteilt worden.
Die PDS hat im Jahre 1992 den Vorschlag gemacht,
Geld aus dem infrage stehenden Vermögen für die Opfer
bereitzustellen. Aber unser Vorschlag ist im Deutschen
Bundestag abgelehnt worden. Das ist die Realität. Das,
was nun gemacht wird, hätten wir schon lange haben
können. Aber nehmen Sie wenigstens zur Kenntnis, dass
dies die Fakten sind.
Danke schön.
({4})
Der Kollege Wieland zur Antwort.
Herr Kollege Bartsch, ich nehme Ihre Worte zur
Kenntnis. Zutreffend sind sie in keiner Weise. Ihre Partei
ist keine Neugründung gewesen. Sie wurde sogar fortgeführt, um die Kasse zu retten; so hat es Herr Gysi ausdrücklich gesagt. Das gilt sowohl im Hinblick auf den
Kaderstamm als auch im Hinblick auf den Milliardenschatz.
({0})
Der Milliardenschatz Ihrer Partei war das Hundertfache dessen, was die sogenannten Blockparteien hatten,
die im Übrigen wie die LDPD sehr schnell auf alles,
auch auf Grundstücke, verzichtet haben. Was haben Sie
als SED gemacht? Sie haben im Jahre 1990 Ihre Betriebe
systematisch umgewandelt und privatisiert sowie dubiosesten Privatleuten Darlehen gegeben, die das Geld teilweise nie zurückgezahlt haben. Da waren Sie die betrogenen Betrüger. Sie konnten Ihr Parteivermögen gar
nicht schnell genug verschleudern. Dann haben Sie sich
irgendwann hingestellt und gesagt: Nun haben wir nichts
mehr. - Sie haben alles weggegeben.
Luxemburg und Liechtenstein waren - ich verweise
auf die Putnik-Affäre; über die rote Fini haben wir das
letzte Mal geredet; dabei rümpfen Sie über Zumwinkel
und andere zu Recht die Nase - auch Ihre Anlageparadiese. Gesteuert wurden die Aktivitäten von der Parteispitze. Da sind nicht irgendwelche Funktionäre aus dem
Ruder gelaufen. Das wurde generalstabsmäßig geplant.
In der Putnik-Affäre wurden Pohl und Langnitschke freigesprochen mit der Begründung, dass sie auf Anweisung
von Gysi und dem Parteivorstand die Gelder nach Moskau bringen wollten.
Seien Sie ganz ruhig! Sie haben alles versteckt und
ausgegeben. Dann haben Sie einen Vergleich abgeschlossen und gesagt: Wir haben nichts mehr. Nun erklären wir, dass den Rest, wenn es denn einen gibt, der Staat
bekommt. - Ganz schäbig! Sie haben Volksvermögen,
das Sie sich zu DDR-Zeiten zu Unrecht angeeignet und
das Sie veruntreut haben, in Kanälen versickern lassen,
in denen es heute - so mutmaßen wir - zu Ihnen zurückfließt.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3233, den Gesetzentwurf des Bundesrates
auf Drucksache 17/1215 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3236? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linken. Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wer stimmt für den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3237? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktion Die Linke und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und
FDP. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3238? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist - bei dem gleichen Stimmenverhältnis
wie vorher - ebenfalls abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Moderne verbraucherbezogene Forschung
ausbauen - Tatsächliche Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen
- Drucksache 17/2343 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch.
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit ungefähr zehn Jahren haben wir ein Verbraucherministerium, das dank der von Gerhard Schröder geführten rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde.
Fast parallel dazu hat sich vor zehn Jahren der Verbraucherzentrale Bundesverband gegründet. Einige von uns
waren in dieser Woche beim zehnten Geburtstag des
vzbv.
Die Politik hat sich also des Schutzes und der Interessen der Verbraucher angenommen - einmal mit mehr,
einmal mit weniger Erfolg, derzeit mit etwas weniger.
Doch insgesamt hat sich für die Verbraucherinnen und
Verbraucher einiges bewegt. Dennoch ist die Verbraucherin bzw. der Verbraucher bisher für die Politik ein
wenig bekanntes Wesen; denn während die Anbieter am
Markt viel Geld in die Erforschung des Verbraucherverhaltens und in entsprechende Werbestrategien investieren, überprüft die Politik bisher kaum, ob ergriffene oder
geplante verbraucherpolitische Maßnahmen auch der
Realität der Verbraucher entsprechen und diese von Nutzen sind.
Einen ersten Versuch hat die SPD bereits in der letzten
Legislaturperiode unternommen. Wir haben gegenüber
der CDU/CSU eine Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes durchgesetzt, die zeigen sollte, ob das
Gesetz seinen Zweck einer verbesserten Information der
Verbraucher erfüllt. Eine kritische Überprüfung auf Basis
der gesammelten Erfahrungen hatten wir damals zur Bedingung für die Zustimmung zum VIG gemacht. Doch
die schwarz-gelbe Bundesregierung will diese Chance
nicht nutzen. Stattdessen droht die Evaluierung als PREvent instrumentalisiert zu werden, um zu rechtfertigen,
dass diese Bundesregierung trotz der Unzulänglichkeiten
und Fehlentwicklungen, die die Verbraucherverbände anhand ihrer mit dem VIG gemachten Erfahrungen vorweisen können, keinen Handlungsbedarf sieht.
Wie wollen Verbraucher denn informiert werden?
Wie müssen die Informationen aussehen? Wo müssen sie
zugänglich sein, um alltagstauglich - das heißt verständlich und für Verbraucher schnell und unkompliziert - im
Bedarfsfall abrufbar zu sein? Woran orientieren sich
Verbraucherinnen und Verbraucher bei ihren Entscheidungen denn tatsächlich? Bisher bleiben solche Fragen
bei dem Vorhaben der Bundesregierung völlig unberücksichtigt.
Die SPD fordert ein Gesamtkonzept zum Ausbau der
modernen verbraucherbezogenen Forschung. Neue wissenschaftliche Ansätze der Verhaltensökonomik sollten
aufgegriffen und systematisch erforscht werden, um zu
klären, wie das tatsächliche Verhalten von Verbrauchern
durch gesetzliche Regelungen beeinflusst wird. Meine
Fraktion hat einen hierzu vorliegenden Antrag bereits im
Juli verabschiedet. Wir brauchen ein Konzept, eine Systematik für eine Gesetzesfolgenabschätzung, einen wissenschaftsbasierten Verbrauchercheck; denn wenn wir
gute Gesetze machen wollen, brauchen wir mehr empirisches Wissen über das tatsächliche Verhalten der Verbraucher. Die Verhaltensökonomie kann hierzu einen
Beitrag leisten. Davon würden nicht nur die Verbraucher
profitieren; vielmehr würden Regulierungen auch insgesamt effektiver werden.
Verbissen hält indes die Bundesregierung am Leitbild
des Homo oeconomicus, des ausschließlich rational entscheidenden Verbrauchers, fest. Informiert soll er sein,
der Verbraucher, und dies, obwohl in vielen Bereichen
die Transparenz fehlt und Informationen gar nicht oder
nur schwer zugänglich sind. Aber Informationen und
Rationalität allein werden dem Verbraucher, der vielschichtigen und verschiedensten Einflüssen ausgesetzt
ist, nicht gerecht. Das wissen wir doch alle von uns
selbst und von unseren wahrlich nicht immer rationalen
Kaufentscheidungen. Den Verbraucher, der unentwegt
Kosten-Nutzen-Berechnungen durchführt und zur einzigen Grundlage seiner Kaufentscheidung macht, den gibt
es nicht; von ihm auszugehen, ist unrealistisch.
Gerade deshalb spricht auch die Werbung Verbraucher auf einer ganz anderen Ebene an. Produkte sollen
nicht nur gekauft und benutzt, sondern auch geliebt werden. Bei McDonald’s liebt man es. Die Leute von Edeka
lieben die Lebensmittel, und irgendein Autohersteller
liebt Autos. Das heißt, Einkaufen soll zum Erlebnisshopping werden. Lebensmittel werden nicht mehr gegessen,
sondern mit allen fünf Sinnen genossen. Böse könnte
man dies auch als gezielte Verblödung der Verbraucher
bezeichnen;
({0})
denn aus der Sicht einiger Anbieter ist der rational konsumierende Verbraucher möglicherweise gar nicht gewünscht.
Umso wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, welche Faktoren die Konsumentenentscheidungen beeinflussen und wie der Verbraucheralltag aussieht, in dem
solche Entscheidungen getroffen werden. Die Wahlmöglichkeiten haben nämlich durch technologischen Fortschritt und Liberalisierung der Märkte zugenommen.
Gleichzeitig sind Tarifstrukturen und Angebotsbedingungen komplexer und schier unüberschaubar geworden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbraucher oft mehr für Produkte ausgeben als notwendig, dass
sie kaufen, was sie nicht gebrauchen können, oder dass
sie aus Überforderung vor der Angebotsvielfalt gar keine
Entscheidung treffen und so zum Beispiel nicht ausreichend für ihr Alter vorsorgen. Eine stärkere Ausrichtung
auf real existierende Verbraucherinnen und Verbraucher
könnte uns unverständliche Informationsblätter beim
Handel mit Finanzprodukten ebenso ersparen wie undurchschaubare Auflistungen von Inhaltsstoffen bei Lebensmitteln oder versteckte Kosten bei Handyverträgen.
Für eine stärkere Vernetzung zwischen Verbraucherforschung und Politik brauchen wir natürlich auch
Mittel. Wir haben entsprechende Forderungen in die
Haushaltsberatungen eingebracht. Ich kündige hier
schon einmal an: Wir reden heute sicherlich nicht zum
letzten Mal über das Thema Verbraucherforschung.
Ganz im Gegenteil, wir stehen erst am Anfang dieser
Debatte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden nicht lockerlassen. Wir bleiben dran. Verbraucherpolitische Instrumente und Maßnahmen müssen
endlich den realen Verbraucher im Blick haben und alltagstauglich sein.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was
gut gemeint ist, ist noch längst nicht gut gemacht. Dies
zeigen Sie heute sehr deutlich mit Ihrem Antrag zur Verbraucherforschung. Aber der Antrag behandelt ein wichtiges Thema, um das wir uns verstärkt kümmern müssen.
In diesem Punkt sind wir einer Meinung, und ich bin
auch Ihrer Meinung, Frau Kollegin, dass wir tatsächlich
am Anfang der Debatte stehen.
Um welche Frage geht es? Es geht darum, wie wir dem
Verbraucher in den von Schnelllebigkeit, Vielfältigkeit
und Unübersichtlichkeit geprägten globalen Märkten das
notwendige Rüstzeug zu seinem Schutz mitgeben können. Ich denke, insoweit besteht Übereinstimmung.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe Probleme, den verbraucherpolitischen Geist in Ihrem Antrag nachzuvollziehen. Steigen wir einmal in Ihren Antrag ein. Die Basis für Ihre Forderungen zur Verbraucherpolitik lautet hier folgendermaßen:
Bisher ging die Verbraucherpolitik mit dem Leitbild
des „mündigen Verbrauchers“ davon aus, dass der
Verbraucher sich im Sinne eines Homo oeconomicus als rationaler Akteur eines perfekten Marktes
verhält, der alle verfügbaren Informationen vollständig verarbeitet, sich dabei zukunftsorientiert
und den eigenen Bedürfnissen entsprechend verhält
und aus seinen Erfahrungen lernt.
Meine Damen und Herren, was für ein Quatsch!
({0})
Vielleicht haben Sie den Homo oeconomicus als Leitbild Ihrer Verbraucherpolitik verstanden, wir garantiert
nicht! Der mündige Bürger und der Homo oeconomicus
als theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt haben
nun wirklich gar nichts gemein. Vielleicht passt der Vergleich einer Currywurst mit einer Tofuwurst - mehr aber
nicht.
Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er
für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet …
Dieser sehr zutreffende Gedanke von Adorno spiegelt
den Leitgedanken der Union in der Verbraucherpolitik in
diesem Fall sehr gut wider. Natürlich wissen wir, dass
auch der Verbraucher nicht immer rational entscheidet Franz-Josef Holzenkamp
mit all seinen Folgen. Natürlich wissen wir auch, dass
die Anbieter sich das zunutze machen. Mit Verlaub, das
ist wirklich ein alter Hut.
Nur, was lernen wir daraus, meine Damen und Herren? Sie wollen Ihrem Antrag entsprechend, dass Verbraucherverhalten und Verbraucherentscheidungen „in
Einklang stehen mit einer Verbesserung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt“.
({1})
Dafür wollen Sie sich der Verbraucherforschung und der
Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bedienen. Das
heißt für mich nichts anderes, als dass der Staat den Verbrauchern vorschreibt, was und wie sie zu verbrauchen
haben.
({2})
- Die Verbraucher, verehrte Kollegin, werden sich bedanken.
Das ist nicht unsere Vorstellung von einem mündigen
und freien Verbraucher. Wie eine solche Politik aussieht,
erleben wir doch zum Beispiel bei der Nährwertkennzeichnung. Mit Ihrer Ampel
({3})
wollen Sie den Verbraucher in seinem Ernährungsverhalten lenken. Offensichtlich sind Sie davon überzeugt,
dass der Verbraucher nicht in der Lage ist, selbst zu entscheiden, was oder wie er letztendlich isst. Ich sage dazu
Nein, Nein und nochmals Nein. Das hat mit moderner
Verbraucherpolitik überhaupt nichts zu tun. Das erinnert
eher an Orwells 1984.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Niemand kann den Menschen zum Homo oeconomicus
formen. Niemand kann die Unsicherheiten, die aus globalisierten Lebenswelten und zunehmender Produktund Angebotsvielfalt kommen, völlig tilgen. Niemand
kann den Verbrauchern die letzte Entscheidung abnehmen. An dieser Stelle sage ich deutlich: Das wollen wir
auch nicht. Wir in der christlich-liberalen Koalition
trauen den Menschen etwas zu,
({5})
ganz im Gegensatz zu Ihnen.
({6})
Was aber kann und muss Verbraucherpolitik wirklich
leisten? Sie muss Regeln für größtmögliche Markttransparenz schaffen und zielgenaue Informationen bieten.
Das ist ein permanent zu verbessernder Prozess. Sie
muss echte Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Preises
und der Vielfalt des Warenangebots gewährleisten. Nicht
zuletzt muss sie Maßstäbe hinsichtlich gesundheitlicher,
technischer und umweltfreundlicher Produktstandards
setzen.
Verbraucherforschung - hier sind wir uns einig - unterstützt dies. Dass dabei auch Erkenntnisse der Verhaltensökonomie eingebunden werden können, ist eine
Selbstverständlichkeit.
({7})
Dies befürworten wir als Fraktion, und das befürwortet
auch das zuständige Bundesministerium. Wie Sie wissen, sind hier eine Menge Aktivitäten im Gange: in der
Anlageberatung,
({8})
bei der Überprüfung von Produktinformationsblättern
und auch beim VIG. Wir fragen jeden Menschen im Internet: Wie groß war der Nutzen? Mehr Transparenz,
meine Damen und Herren, geht überhaupt nicht.
Darüber hinaus startet ab diesem Wintersemester an
der Uni Bayreuth der Studiengang „Rechtlicher Verbraucherschutz“ im Rahmen einer Stiftungsprofessur. Zwei
weitere werden folgen. Eine wird sich mit dem Entscheidungsverhalten von Verbrauchern beschäftigen. Parallel
wird das Ministerium den Aufbau eines Netzwerkes zur
Verbraucherforschung vorantreiben.
Sie sehen: Die Bundesregierung ist zum Wohle des
mündigen Verbrauchers gut unterwegs. Hier verhält es
sich wie beim Hasen und dem Igel: Die Bundesregierung
ist längst da, wo die Opposition erst hin will.
({9})
Aus diesem Grunde können wir den Antrag nur ablehnen.
({10})
Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unternehmen geben in Deutschland jährlich
rund 30 000 Milliarden für Marktforschung und Werbung aus - ({0})
Eine enorme Summe dient nur dazu, herauszufinden,
was für die Unternehmen gut ist. Was gibt demgegenüber der Staat aus, um zu erforschen, was aus der Sicht
der Verbraucherinnen und Verbraucher gut ist? 3 Millionen Euro!
Auch wir als Linke sind der Auffassung, dass hier zu
wenig getan wird und dass die Prioritäten in der Forschungspolitik falsch gesetzt werden.
({1})
Ich setze die 3 Millionen Euro für die Verbraucherforschung einmal ins Verhältnis zu anderen Ausgaben des
Bundes. Es gibt für die Raumfahrt etwa 1 Milliarde
Euro, für die Atomforschung 135 Millionen Euro, und
für Sicherheitstechnologien wie den Nacktscanner sind
immerhin 60 Millionen Euro im Staatssäckel vorhanden.
Zukunftsorientierte Forschungspolitik sieht wirklich anders aus.
In der Tat brauchen wir eine starke und unabhängige
Verbraucherforschung. Verbraucherinnen und Verbraucher verlieren jährlich 20 bis 30 Milliarden Euro allein
durch Falschberatung bei der Geldanlage. Kein Mensch
kann die immer komplexer werdenden Märkte vollständig überblicken. Globalisierung hat neue Märkte geschaffen. Privatisierung, etwa von Wasser, Energie und
Telekommunikation, hat Bürgerinnen und Bürger zu
Kunden gemacht. Deswegen müssen wir als Politik auch
mehr darüber erfahren, welche Instrumente Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen, um sich im Dschungel globaler Märkte zurechtzufinden.
Berlin ist übrigens mit gutem Beispiel vorangegangen. Hier hat die linke Verbrauchersenatorin Katrin
Lompscher den „Verbrauchermonitor“ eingeführt. Berliner Verbraucherinnen und Verbraucher werden gefragt,
wo ihrer Ansicht nach verbraucherpolitisch gehandelt
werden muss.
({2})
Außerdem werden in Berlin die Auswirkungen von Gesetzen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich überprüft.
Auch die Verbraucherverbände sollten unserer Auffassung nach Bestandteil einer besseren Verbraucherforschung sein; denn sie werden als Erste auf die Missstände
aufmerksam. Jede Förderung, die wir in die Verbraucherverbände stecken würden, wäre wirklich Gold wert.
Anders als Sie, Herr Holzenkamp, finde ich es sehr
gut, dass die SPD in ihrem Antrag sagt: Das Leitbild des
mündigen Verbrauchers ist in dieser Art und Weise nicht
mehr haltbar. Es muss überarbeitet und auch diskutiert
werden. - Die schwarz-gelbe Bundesregierung benutzt
das Leitbild des mündigen Verbrauchers in aller Regel,
um politisch untätig zu bleiben.
({3})
Deswegen müssen wir diese Leitbilddebatte jetzt führen.
({4})
Hier geht es nicht um die Bevormundung. Auch wir
als Linke wollen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher selbst entscheiden. Aber die Grundlage der Entscheidung muss stimmen, und diese Grundlage ist häufig
nicht gegeben. Deswegen sind auch wir beispielsweise
für die Nährwertampel. Es muss an der Stelle gesagt
werden, dass Verbraucherforschung wenig nützt, wenn
sich die Regierung an das, was die Forschung herausgefunden hat, nicht hält. Die Nährwertampel ist ein sehr
gutes Beispiel dafür. Die Wissenschaft hat sie empfohlen. Frau Aigner hat sie wider besseres Wissen abgelehnt. Stattdessen folgt sie den Lobbyinteressen der Lebensmittelindustrie.
Ein anderes Beispiel ist die Finanzberatung. Hier hat
der Sachverständigenrat des Ministeriums eine Reihe
von guten Vorschlägen gemacht. Auf die Umsetzung
durch die Bundesregierung warten wir hier vergeblich.
Meine Damen und Herren, auch in der Verbraucherpolitik betreibt die Koalition Klientelpolitik
({5})
statt guter Verbraucherpolitik. Wir als Linke wollen Verbraucherpolitik mit Weitblick statt eine skandalgetriebene. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen eine
starke Stimme auf allen Ebenen, in der Politik und auch
in der Forschung. Auf dieser sachlichen Grundlage sollten wir dann den Antrag der SPD in den Ausschüssen
diskutieren.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lay,
30 000 Milliarden Euro - diese Zahl würde ich noch einmal revidieren. Ich glaube, da sind Millionen und Milliarden durcheinandergekommen.
({0})
Ich finde es aber toll, dass wir uns dem Thema jetzt
widmen. Nachdem die SPD in der Opposition angekommen ist, ist sie der Meinung, man könne da jetzt etwas
tun. Da muss man sich jetzt schon einmal Gedanken machen, wie man dazu steht. Wir Liberale bauen auf eine
Stärkung der Menschen am Markt und nicht auf den
Schutz vor dem Markt.
({1})
Wir trauen den Verbrauchern etwas zu. Die Stichworte
„mündiger Bürger“ und „mündiger Verbraucher“ sind
genannt worden. Wir sind der Meinung, bessere Informationen und mehr Wissen über Produkte, um dann
selbst entscheiden zu können, sind wichtig. Deswegen
ist für uns Bildung und Information der Verbraucher das
Gebot der Stunde.
({2})
Wir sind nicht der Meinung, dass der Verbraucher ein
Wesen mit null Konsumwissen ist, also jemand, der
keine Ahnung hat. Das könnte man aber manchmal denken, wenn man Ihren Antrag liest. Der Verbraucher steht
im Fokus der Forschung. In vielen Studiengängen wird
verbraucherbezogen geforscht, und nicht nur im Sinne
von Verkaufs- und Manipulationsstrategien, wie hier unterstellt wird. Ich selbst gebe an der Hochschule RheinDr. Erik Schweickert
Main am Campus Geisenheim Vorlesungen, die sich unter anderem mit Verbraucherländern befassen. Da wird
sehr genau erforscht, was der Verbraucher denn möchte.
Hier richten wir unser Augenmerk insbesondere auf den
informierten Verbraucher. In anderen Fachrichtungen
- Kollege Holzenkamp hat es gesagt - ist es genauso: sei
es in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften
oder auch in den Rechtswissenschaften oder in der Psychologie. An Ergebnissen mangelt es uns hier also nicht.
Aber nicht nur die Forschung, auch der Verbraucher
selbst ist manchmal viel weiter, als es ihm die SPD in ihrem Antrag zutraut. Er ist nicht der tumbe Hans-guck-indie-Luft. Die Realität sieht anders aus. Der Verbraucher
hat keine Angst vor Innovationen und Wahlmöglichkeiten. Im Wettbewerb ist der Verbraucher immer noch König. Das zeigen uns die Rabattschlachten im Einzelhandel, die ohne Wettbewerb gar nicht stattfinden würden.
({3})
Die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest
sind, staatlich gefördert, unverzichtbare Informationsquellen für den eigenverantwortlich handelnden Bürger.
Mit dem Internet als weiteren Ratgeber hat er ganz tolle
Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten.
Waren Sie schon einmal auf der Funkausstellung? Ich
bin dagewesen. Schauen Sie sich die Begeisterung der
Verbraucher an. Da hat keiner gejammert, dass er nun
zwischen LED-, LCD- und 3D-Fernsehern eine Auswahl
treffen kann. Es ist ja auch kein Zufall, dass genau zeitgleich in den Berliner Multimediamärkten diese Produkte laufen. Die Verbraucher sind also Innovationen
gegenüber aufgeschlossen; ich glaube, viel aufgeschlossener, als es die SPD jemals war. Als Sie von der SPD
1998 in Ihrem Wahlslogan noch den Begriff „Innovation“ benutzten, waren Sie erfolgreich. Ich glaube, ein
erfolgreicher Verbraucher ist der, der an Innovationen
glaubt. Leider hat sich die SPD vom Thema Innovation
wieder ein bisschen entfernt.
Wenn Sie auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben, der
Verbraucher habe bisweilen unklare Ziele und handle
nicht im Sinne der gesellschaftlichen Wohlfahrt, kann
ich Ihnen nur entgegnen: Na und? Soll er das doch tun.
Es ist mir wesentlich lieber, der Verbraucher handelt eigenverantwortlich, als so, wie es ihm der Staat vorschreibt.
({4})
Wir wollen den mündigen Bürger und nicht den staatlich
bevormundeten.
({5})
Der Verbraucher ist dabei nicht so hilflos, wie die Opposition behauptet.
Bei einem Punkt, Frau Drobinski-Weiß, gebe ich Ihnen allerdings recht. Wir benötigen bisweilen etwas
mehr Evidenzbasierung. Gerade für mich als Wissenschaftler ist das Vorgehen der Politik manchmal etwas
ungewohnt und unbefriedigend. Ich habe mich schon oft
gefragt, ob Warnungen vor 1-Cent-Überweisungen für
den Verbraucher wirklich relevant bzw. wichtig sind. Ich
glaube, solche Warnungen kommen daher, dass es an
empirischen Studien darüber mangelt - das wissen wir
als Politiker nämlich häufig nicht -, was die Verbraucher
wirklich wollen und was sie fordern. Der Verbraucher ist
nämlich manchmal weiter, als wir es ihm zugestehen
wollen.
Wir, die Verbraucherpolitiker aller Fraktionen, die
wir hier sitzen, erfahren aus Zuschriften, aus Gesprächen in den Wahlkreisbüros oder aus Gesprächen mit
den Bürgern, wo der Schuh drückt. Es kann aber nicht
schaden, wenn wir durch Umfragen die relevanten Themen und die tatsächlichen Problemlagen der Verbraucher herauszufiltern versuchen. Ein entsprechender Posten für sogenannte Entscheidungshilfe-Vorhaben steht
dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz im Haushalt zur Verfügung. Diesen sollten wir nutzen.
Wir gehen hier auch auf meine Initiative hin voran.
Frau Lay hat vorhin die sogenannte Berlin-Stichprobe angesprochen. Vielleicht war es früher, als Berlin ein abgegrenzter Markt war, ausreichend, dort zu fragen, was gewünscht wird. Heute steht Berlin mit seinen ganzen
Problemlagen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik
Deutschland. Deswegen stellen wir jetzt die Fragen - wir
haben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben -: Welche Felder können priorisiert werden? Welche
Themen sind für die Verbraucherinnen und Verbraucher
tatsächlich wichtig? Ähnlich wie bei einem Consumer
Board wollen wir feststellen, was den Verbrauchern
wichtig ist. Dann begehen wir nicht mehr den Fehler, vor
Sachen zu warnen - beispielsweise vor 1-Cent-Überweisungen -, die sich nachher als nicht sehr problematisch
herausstellen.
Ich möchte wissen, was für die Verbraucherinnen
und Verbraucher im Fokus steht. Da haben wir wirklich
einen Nachholbedarf. Wir werden hier nachbessern;
denn wir von der christlich-liberalen Koalition setzen
klare Schwerpunkte. Eine evidenzorientierte Politik
bringt den effizienten Verbraucherschutz voran. Wir
brauchen keine neue Forschungsrichtung, keine neuen
Forschungseinrichtungen, Studiengänge oder Marktwächter, erst recht keine Bevormundung der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangenen Jahren hat die Verbraucherpolitik kontinuierlich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Menschen auf immer komplexeren, oft globalen Märkten
behaupten müssen. Neue Angebote und technische
Innovationen, aber auch ganz neue Märkte, die durch Li6892
beralisierungen oder die Notwendigkeit zur privaten
Vorsorge entstanden sind, machen es uns allen schwer,
den Überblick zu behalten und eine gute Wahl zu treffen.
Natürlich wollen wir den Menschen nicht vorschreiben,
was sie konsumieren; zum Glück können wir das auch
nicht. Es gibt aber durchaus ein Gemeinwohlinteresse an
der guten Wahl.
({0})
Das wird auch von CDU/CSU und FDP so gesehen. Herr
Holzenkamp und Herr Schweickert, ich will Ihnen zwei
Beispiele nennen:
({1})
Erstes Beispiel: eine Informationskampagne der Drogenbeauftragten der Bundesregierung - sie gehört der
FDP-Fraktion an - für schwangere Frauen. Sie rät dazu,
während der Schwangerschaft möglichst keinen Alkohol
zu sich nehmen.
({2})
Das ist nicht wertneutral. Natürlich hat der Staat ein Interesse an gesunden Kindern und Müttern. Deshalb beeinflusst man die Verbraucherinnen und Verbraucher in
eine bestimmte Richtung. Hierbei handelt es sich um
Einflussnahme, auch wenn es mit einem Faltblatt und
damit sehr rückhaltend und vorsichtig geschehen ist.
Zweitens: private Altersvorsorge. Wenn man meint,
man dürfe überhaupt keinen Einfluss nehmen, dann
dürfte man nicht bestimmte Produkte steuerlich günstiger stellen, wie wir es bei der Riester-Rente machen.
Wenn der Staat völlig wertneutral wäre, hätte man sich
auch hier den Schubs in eine bestimmte Richtung verkneifen müssen. Das machen Sie natürlich nicht; es wäre
auch völlig unsinnig, die Menschen von der privaten
Vorsorge fernzuhalten.
Damit will ich sagen: Der Staat ist in der Verbraucherpolitik - auch bei der von FDP und CDU/CSU - natürlich nicht wertneutral. Wir schubsen sozusagen die
Verbraucher gemeinwohlorientiert in eine bestimmte
Richtung.
({3})
Leider werden sowohl die Verbraucherinformationen
als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen oft auf
unzureichenden empirischen Grundlagen erstellt bzw.
geschaffen. Stattdessen geht man von theoretischen Leitbildern aus, die oft illusorisch sind; der Homo oeconomicus wurde hier schon oft gescholten. Es ist leider eine
Illusion, dass Verbraucher immer die für sie günstigste
Entscheidung treffen, alle Informationen aufnehmen und
diese dann auch noch berücksichtigen.
({4})
Wir Verbraucherpolitiker sind es gewohnt, alltagsempirisch zu diskutieren: Wir kennen Herrn Blesers 85-jährige Mutter aus den Debatten im Ausschuss.
({5})
Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder Spielzeug in den
Mund nehmen, auch wenn es dafür nicht gemacht ist.
Das heißt, wir argumentieren nicht mit dem Leitbild des
Verbrauchers, sondern beziehen uns auf die gelebte Realität. Natürlich wäre es noch schöner, wenn wir nicht nur
die gelebte Realität der Mitglieder des Verbraucherschutzausschusses berücksichtigen könnten, sondern unsere Politik evidenzgeleitet und forschungsbasiert betreiben könnten.
({6})
Dafür fehlt uns oft noch die wissenschaftliche Grundlage. Wir wissen beispielsweise nicht, ob die Mütter, an
die die Faltblätter Ihrer Kollegin Frau Dyckmans gerichtet sind, die Faltblätter auch wirklich lesen. Wir wissen
nicht, ob für diese Personengruppe ein Fernsehwerbespot nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre.
Es ist sehr wichtig, die vorhandenen Instrumente zur
Verbraucheraufklärung und zur Verbraucherinformation
empirisch abzusichern. Deshalb haben wir Grüne uns
überlegt, dass wir in einem Antrag zum Haushalt
2 Millionen Euro zusätzlich für die verbraucherbezogene Forschung einsetzen wollen. Vielleicht knapsen Sie
diesen Betrag bei der Gentechnikforschung ab.
({7})
Damit wäre allen gedient. In diesem Sinne freue ich
mich auf die weiteren Beratungen.
({8})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Verbraucher ist überfordert. Er
reagiert längst nicht so rational, wie es das Bild des mündigen Verbrauchers suggeriert. Er muss gelenkt und sein
Handeln muss erforscht werden. ({0})
Dieser unterschwellig sozialistische Ansatz in Ihrem Antrag
({1})
deckt sich nicht mit unserem Verbraucher- und Menschenbild.
({2})
Wir glauben an den eigenverantwortlichen, an den mündigen Verbraucher.
({3})
Ich plädiere an dieser Stelle für Verbraucher- und
Wirtschaftsinteressen auf Augenhöhe. Deshalb ist es unser Ziel, zuverlässige, umfassende, sachliche und klare
Informationen über die Produkte zu erzielen. Ich zitiere
Ihren Antrag:
Die Anbieterseite wendet viele Erkenntnisse der
Verhaltensökonomik bei der Ausgestaltung ihrer
Geschäftsmodelle bereits an.
Das ist richtig.
({4})
Die Anbieterseite weiß, wie der Verbraucher tickt. Der
Verbraucher ist kein unbekanntes Wesen. Er trifft seine
Verbrauchsentscheidungen selten rational.
({5})
Als Beispiel will ich Rabatte oder Preisabschläge
nennen. Sie wirken oft - das beobachte ich immer wieder - wie eine Droge. Neulich traf ich eine Taxifahrerin,
die mir erzählte, sie habe eine Frau in den Supermarkt
gefahren, weil es dort die Hähnchen im Angebot günstig
gab. Die Taxikosten waren Nebensache.
Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Skandale.
Jedes Jahr im Sommerloch - danach kann man schon die
Uhr stellen - entdecken einschlägige Organisationen das
Geschäft mit der Angst, um ihre eigene Kasse zu füllen.
Pestizide in Paprika, Tomaten oder Trauben, egal in welcher Menge: Hauptsache Skandal. Skandale bringen
Aufmerksamkeit, machen dem Verbraucher Angst und
verunsichern ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, spendet er wiederum an diese Organisationen, damit sie wieder Skandale produzieren können.
Gutachten werden oft monatelang zurückgehalten.
Ein Beispiel in diesem Jahr war die Verpackung von
Fleisch unter Schutzgasatmosphäre. Wenn es wirklich
gesundheitliche Gefahren gab, dann frage ich mich, warum Foodwatch seine Erkenntnisse bis zum Sommerloch
zurückgehalten hat.
({6})
Ein solches Verhalten ist unredlich. Hier besteht akuter
Handlungsbedarf. Deshalb setzen wir auf eine unabhängige Verbraucherberatung. Wir unterstützen die Arbeit
von Stiftung Warentest und des Verbraucherzentrale
Bundesverbands konstant und verlässlich.
Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug, liebe Kollegin Drobinski-Weiß, in die Welt von Mann und Frau.
({7})
Kürzlich hörte ich: Das Auto ist das moderne Reittier
des Mannes. Es gibt Automarken, die mit den Begriffen
„Freude“ und „Zukunft“ beworben werden. Wollen Sie
dem Mann die Freude wirklich nehmen?
({8})
Für uns Frauen gibt es ein kleines Auto, das das emotionalste Auto der Welt ist. Die Werbung fragt uns Frauen:
„Is it love?“ - Ist es Liebe? -, und wir steigen ein.
({9})
Menschen kaufen Problemlösungen und Gefühle.
Menschen wollen sich glücklich kaufen. Wer die Herzen
gewinnt, hat heutzutage mit dem Geldbeutel der Kunden
ein leichtes Spiel. Ich gebe es zu.
Aber genau das ist heute der Schlüssel in gesättigten
Märkten. Diese Erkenntnisse will die SPD nun weiter
vertiefen und dem Handel teure Einkaufsstudien ersparen. Das zahlt schließlich der Bund.
Im Ernst: Auch wir sprechen uns für interdisziplinäre
Forschungseinrichtungen und für die Prüfung weiterer
Stiftungsprofessuren aus.
({10})
Es gibt sie aber schon. An der TU München zum Beispiel gibt es seit 2004 den Masterstudiengang „Consumer Science“. An der Hochschule Calw gibt es die „Stiftungsprofessur für Konsumverhalten und europäische
Verbraucherpolitik“.
({11})
Mein Kollege Holzenkamp hat darüber hinaus bereits erwähnt, dass die Uni Bayreuth im Jahr 2010 mit der „Stiftungsprofessur Verbraucherrecht“ ausgestattet wurde.
All dies wird mit Mitteln des Bundes finanziert und in
meinem Heimatland Bayern angeboten.
({12})
Ich will damit nur sagen: Ilse Aigner, unsere Ministerin,
ist schon da.
Die Probleme bestehen nicht in der Gesetzgebung,
sondern sind der Rechtsdurchsetzung geschuldet. Bernd
Krieger, der Leiter des Europäischen Verbraucherzentrums, hat das diese Woche beim 14. Tourismusgipfel
hier in Berlin deutlich gemacht. Er sagte außerdem, dass
das Europäische Verbraucherzentrum in den wenigsten
Fällen Beschwerden aus Deutschland erhält.
Wir brauchen sicherlich keine Forschungseinrichtungen. Damit möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag und
Ihr schräges Beispiel des Fluggastes zurückkommen, der
mit der Buchung eines Fluges automatisch eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen hat. Hier müssen
andere Maßnahmen greifen.
Der traurige Höhepunkt Ihres Antrages ist aber die
Forderung eines sogenannten Verbraucherchecks für alle
Gesetze.
({13})
Sie wollen allen Ernstes alle Gesetze, die in den Deutschen Bundestag eingebracht werden, einem Verbrauchercheck unterziehen.
({14})
Schlaumeier in Ihren Reihen sagen auch noch: Was wollen Sie denn? Auch Bürokratie schafft Arbeitsplätze.
({15})
Wissenschaftsbasierte Forschung und empirische Untersuchungen sind notwendig und müssen intensiviert
werden; so steht es auch in unserem Koalitionsvertrag.
Ich persönlich bin aber nicht nur Verbraucherin, sondern
auch Unternehmerin.
({16})
Der Verbrauchercheck, von dem in Ihrem Antrag die
Rede ist, schreckt derart ab, dass man diesen Antrag mit
gutem Gewissen ablehnen kann.
Vielen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2343 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung
- Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18,
17/3158 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Ulla Burchardt
Patrick Meinhardt
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits Erasmus von Rotterdam sagte: Die größte Hoffnung
einer Nation liegt in der richtigen Erziehung ihrer Jugend. - Genau darüber wollen wir heute sprechen. Ich
glaube, Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein,
wenn nicht sogar das Thema für unsere Gesellschaft. In
unserem Beirat haben wir schon darüber gesprochen.
Man kann sicherlich sagen, dass wir uns in vielen Punkten, die wir jetzt vortragen, sehr einig sind.
Unser Ziel ist es, ein ökologisch, ökonomisch und natürlich auch sozial intaktes Gefüge an unsere Kinder
weiterzugeben. Die Instrumentarien dafür müssen wir in
unserem Bildungssystem verankern.
Worum geht es dabei? Zunächst einmal geht es darum, Talente und Fähigkeiten zu fördern und den Kindern beizubringen, wo ihre Leistungsgrenzen sind, sodass sie die Möglichkeit haben, eine ausgewogene,
selbstkritische und starke Persönlichkeit auszubilden,
um dann das eigene Leben gestalten, das Umfeld mitgestalten und etwas zur Gemeinschaft beitragen zu können.
Das gilt natürlich nicht nur für die frühkindlichen Bildungseinrichtungen und die Schule, sondern zieht sich
durch das ganze Leben.
Wir befinden uns in der UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“. Sie läuft seit 2005 und geht
noch bis 2014. Das heißt, wir haben etwas mehr als die
Hälfte hinter uns. Ich denke, wir können schon jetzt auf
einige positive Aspekte zurückblicken. Vier Aspekte
möchte ich kurz anführen:
Erster Bereich: Es gibt tausend erfolgreiche Projekte
zum Thema nachhaltige Entwicklung. Diese Projekte
sind insofern von besonderer Bedeutung, als die praktische Erfahrung oft wertvoller ist als der theoretische Unterricht. Es gibt Schülerprojekte, in denen Wollprodukte
hergestellt werden. Es gibt Schülerfirmen an den Schulen, die zum Beispiel Kioske betreiben. Wenn man einen
solchen Kiosk betreibt, muss man sich überlegen, welche Produkte man einkauft. Wo kommen die Produkte
her? Was für eine Qualität haben sie? Welchen Preis
kann ich dafür erzielen? Kann ich einen fairen Preis erzielen? Wie kann ich das System so nachhaltig gestalten,
dass an jedem Tag Kinder bei mir einkaufen, und wie
kann ich dafür sorgen, dass sie wiederkommen? Habe
ich auch genug Kinder, die den Schülerkiosk betreuen?
Ich denke, diese Projekte sind besonders wertvoll, weil
die Kinder dadurch viele Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Thema Nachhaltigkeit machen.
({0})
Ein weiteres kleines Beispiel, das uns alle angeht: Oft
haben wir hier, im Bundestag, Besuch von Schülergruppen. Hinterher kommen die Lehrer häufig zu mir - ich
denke, das geht Ihnen auch so - und sagen: Theoretischer Unterricht ist das eine, aber es ist etwas anderes,
hier mit den Abgeordneten persönlich über Inhalte der
Politik, über die Struktur des Bundestages und die Aufgaben der Parlamentarier zu diskutieren. Dieser Einblick
in die Praxis ergänzt den Unterricht sehr gut; denn, wer
Zusammenhänge erkennt und versteht, der ist eher beDr. Philipp Murmann
reit, Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, es muss
auch unser Ziel sein, unsere Jugend zur Verantwortung
zu erziehen.
Zweiter Punkt: persönliches Verhalten und Engagement. Eine Umwelt-AG, die im Bereich „nachhaltige
Pflanzenzüchtung“ schon mehrere Preise gewonnen hat,
hat meine Fraktion angeschrieben. Diese AG hat das
Problem, dass der Lehrer nun in Pension geht und die
Nachfolge noch nicht geregelt ist. Auch die Schüler, die
das Projekt betreiben, verlassen die Schule und haben
ebenfalls noch keine Nachfolger gefunden. Das heißt,
auch diese Schüler müssen sich mit dem Thema beschäftigen, wie eine nachhaltige Struktur verankert werden
kann. Deswegen brauchen wir Leute, die sich über das
normale Maß hinaus für diese Themen engagieren, damit nachhaltige Entwicklung über den normalen Unterricht hinaus verankert werden kann.
({1})
Ich denke, das ist ein gesellschaftliches Thema. Wir
brauchen mehr gesellschaftliches Engagement und vorbildhaftes Verhalten in vielen Bereichen. Sie alle kennen
den Werbespruch „Geiz ist …“ Ich will gar nicht sagen,
wie das Wort lautet; das gehört nicht in den Bundestag.
Jeder Konsument muss sich die Frage stellen, inwieweit
er zur Nachhaltigkeit beiträgt, wenn er solchen Parolen
folgt. Inwieweit können Produkte überhaupt nachhaltig
gestaltet sein, wenn man so um den Preis kämpft und mit
solchen Werbelinien agiert? Das kann nicht im Sinn einer nachhaltigen Politik sein. Insofern müssen wir uns
auch darüber Gedanken machen.
({2})
Dritter Bereich: nachhaltige Entwicklung als Teil des
Unterrichts. Ich habe vorhin von den Projekten gesprochen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Natürlich müssen wir uns auch die Frage stellen, inwieweit
wir das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den Unterricht einbinden können. Dabei geht es natürlich darum,
Elemente der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Fächer einzubinden. Lehren, Lernen und Erleben - diesen
Dreiklang zur Nachhaltigkeit sollten wir verankern.
Der letzte Punkt: Natürlich müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, welche Instrumente und welche Infrastruktur wir weiter ausbauen müssen. Wir sind
zwar schon sehr weit gekommen, aber ich denke, wir
müssen dennoch die Instrumente Lehrerausbildung,
Lehrerfortbildung, Schulbücher, Schulmaterialien, Rahmenlehrpläne und Projektangebote weiterentwickeln.
Bis 2014 haben wir noch etwas Zeit.
Ich denke, die Bundesregierung hat sehr gut damit angefangen. Projekte wie „Jugend forscht“ und die Initiative „Forschung für Nachhaltigkeit“ sind eine gute
Grundlage. Eines ist sicher: Ohne Bildung gibt es keine
nachhaltige Entwicklung. Deswegen ist das Thema so
wichtig und sollten wir hier über alle Fraktionen hinweg
gemeinsam um dieses Thema ringen und daran arbeiten.
Ich danke Ihnen herzlich.
({3})
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
In Rio de Janeiro haben im Jahr 1992 178 Staaten die
Agenda 21 verabschiedet. Sie ist die Grundlage für die
weltweit nachhaltige Entwicklung bzw. für das Streben
nach dieser nachhaltigen Entwicklung. Man war der
Auffassung, dass die Forderung nach gerechten sozialen
Verhältnissen, nachhaltigen Formen im Umgang mit der
Natur und beim Wirtschaften sowie nach der Partizipation von Kindern, Jugendlichen und Frauen an den Entscheidungsprozessen nicht ohne neue Kompetenzen und
einen mentalen Wandel umgesetzt werden kann. Dieser
mentale Wandel ist die Grundlage für das, was wir heute
Bildung für nachhaltige Entwicklung nennen. Bei uns
begann die Diskussion in den 90er-Jahren. Man hat gesehen: Es gibt globale, ökologische Probleme, die wir
gar nicht alleine lösen können, es gibt wenig zukunftsfähige Entwicklungen und eine fehlende Generationengerechtigkeit. Das alles sollte eigentlich bekämpft werden;
diese Probleme sollten behoben werden.
Eine Möglichkeit hierzu besteht im Bildungsbereich.
Es ist natürlich sinnvoll, bei den Kindern anzufangen,
wenn man darauf aufbauend Erwachsene erziehen
möchte. Erwachsene umzuerziehen ist, wie wir alle im
politischen Bereich wahrscheinlich erleben, ungleich
schwieriger. Deshalb haben die Vereinten Nationen für
die Zeit von 2005 bis 2014 die Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. 2004 hat die Bundesregierung, vom Bundestag aufgefordert, die Deutsche
UNESCO-Kommission mit der organisatorischen Ausgestaltung dieser UN-Dekade beauftragt und finanziell
ausgestattet. Die Ziele wurden im Nationalen Aktionsplan zusammengefasst.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung - er ist schon angesprochen worden -, dem viele
der hier Anwesenden angehören, versucht, Projekte zur
Erreichung der gesteckten Ziele im Konsens zu beschließen; meistens gelingt ihm dies. Wir haben uns im März
2008 und im März 2009 mit der Umsetzung der Ziele
beschäftigt und festgestellt, dass weiterhin Ausbaupotenzial vorhanden ist.
Ich denke, auch die Parteien und Fraktionen sind gefordert. Wir haben als SPD-Fraktion im Mai 2009 eine
Veranstaltung unter dem Titel „Mit guten Beispielen voran“ durchgeführt. Hier wurden beispielhaft Aktionen
vorgestellt, die in verschiedenen Bundesländern erfolgt
sind, und zwar in den Bereichen Schule, Ausbildung und
Kindergarten bis hin zu städtischen Aktionen im Müllbereich. Wir haben sehr viel gefunden. Das zeigt, dass es
eine ganze Menge an Projekten gibt. Sie haben schon ei6896
nige schulische Projekte angesprochen. Ich denke, das
ist durchaus erwähnenswert, aber auch ausbaufähig.
Wir haben das Problem, dass wir hier Werte und Prinzipien fördern müssen, die teilweise nicht vorhanden
oder erst im Kleinen angelegt sind. Diese Prinzipien stellen jedoch die Basis für nachhaltige Entwicklung dar.
Die Bundesregierung - das haben wir in der Beschlussempfehlung geschrieben - wird aufgefordert,
weiterhin an ihrer Zielsetzung festzuhalten und das Programm „Transfer 21“, das leider ausgelaufen ist, dahin
gehend weiterzuentwickeln, dass immer mehr Schulen
an Programmen für nachhaltige Entwicklung teilnehmen. Als Mutter von vier Kindern, deren Kinder in der
Zeit zwischen 1999 und 2004 alle in der Schule waren,
muss ich sagen, dass mir persönlich solche Programme
nicht begegnet sind, obwohl meine Kinder auf unterschiedlichen Schulen waren. Im Schülercafé wurde ein
bisschen fairer Handel betrieben, aber mehr Projekte
habe ich nicht erlebt. Das fand ich im Nachhinein ziemlich schade. Ich denke, die jetzt betroffenen Eltern sollten das verstärkt einfordern.
Wir fordern die Bundesregierung in unserer Beschlussempfehlung auch auf, davon zu berichten, inwieweit die Aktionen, die angestoßen und weitergeführt
worden sind und werden, finanziell unterstützt werden.
Im Moment hat der entsprechende Ansatz im Etat des
Bundesministeriums ein Volumen von 450 000 Euro pro
Jahr; dieser Betrag kommt mir, ehrlich gesagt, nicht besonders hoch vor. Davon werden vor allen Dingen BestRunner-Projekte ausgezeichnet. Aber auch dies entfaltet,
wie ich finde, nur wenig öffentliche Wirkung. Ich zumindest wüsste nicht, welches das Best-Runner-Projekt
2010 war, und ich weiß nicht, ob es einer meiner Kollegen kennt. Ich denke, hier kann man, auch was die Öffentlichkeitsarbeit angeht, noch eine ganze Menge tun.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Regierungsmitglieder herausragende Schülerprojekte oder
Schulen auszeichnen. Ich jedenfalls würde mir das wünschen.
Des Weiteren ist an die Länder zu appellieren, auf die
Lehrpläne Einfluss zu nehmen und das Projekt „Nachhaltige Bildung“ nicht nur nachmittags in irgendeiner
AG durchzuführen, sondern man sollte dieses Thema
auch im Unterrichtsplan immer wieder aufgreifen. Es
gibt mehrere Fächer, die sich hierfür anbieten, nicht nur
das Fach Biologie. Ich denke, es gibt viele Fächer, deren
Unterrichtsinhalte auf Nachhaltigkeit hin überprüft und
überarbeitet werden müssten. Dass dies geschieht, müssen wir von den Ländern fordern. Denn wir wissen: Aufgrund des Föderalismus ist der Bund nur begrenzt in der
Lage, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen.
Ich plädiere an alle Beteiligten, von der Regierung
über die Kultusministerien bis hin zu uns in den Fraktionen und Parteien, mehr für den Bereich nachhaltige Bildung zu tun. Wir tun das übrigens für uns. Denn wenn
unsere Kinder nachhaltig gebildet sind, dann werden sie
sich später hoffentlich auch um uns kümmern. Themen
wie der demografische Wandel und die Generationengerechtigkeit betreffen nämlich auch uns, nicht nur nachfolgende Generationen. Wir alle werden immer älter.
Hoffentlich werden wir gesund älter; wenn nicht, müssen wir versorgt werden. Auch deswegen ist die Bildung
unserer Kinder im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehr
wichtig. Ich möchte alle Beteiligten bitten, dieses Projekt zu unterstützen und daran weiterzuarbeiten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mit einem Zitat des Präsidenten der Deutschen
UNESCO-Kommission, Walter Hirche, beginnen:
Bildung für nachhaltige Entwicklung vermittelt
Werte, Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse,
die für die verantwortliche Gestaltung der Zukunft
erforderlich sind.
Wir alle merken doch, dass sich weltweit ein starker
gesellschaftlicher und ökologischer Wandel vollzieht. Im
Namen der FDP-Fraktion begrüße ich die vorgelegte Beschlussempfehlung und den Bericht der Bundesregierung.
In der zweiten Hälfte der UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ muss das Bewusstsein der
Menschen für Nachhaltigkeit noch mehr gestärkt werden.
({0})
Der Bevölkerung muss das nötige Verständnis und Wissen an die Hand gegeben werden, damit sie die sozialen,
ökologischen und ökonomischen Auswirkungen auf ihr
Handeln verinnerlicht. International, insbesondere aber
in Deutschland, ist das Interesse an Nachhaltigkeitsthemen mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ immens gewachsen. Diesen Trend hat
der Staat aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen
auf den Weg gebracht.
Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten das Nationalkomitee und der Runde Tisch. Beide Foren sind für die
Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“ unerlässlich. Sie fördern die Vernetzung
und den Austausch der verschiedenen Akteure untereinander. Die im Nationalen Aktionsplan von Bundestag,
Nationalkomitee und Rundem Tisch festgeschriebenen
Ziele, zum Beispiel die Verstärkung internationaler Kooperation und die Weiterentwicklung und Bündelung
von Aktivitäten, tragen zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Bildung und Nachhaltigkeit bei.
({1})
Besonders wichtig war die Einbindung der Kommunen im Rahmen eigener Dekadeprojekte. Dadurch
konnte das Thema in den Köpfen der Bevölkerung vor
Ort verankert werden. Alle deutschen Gebietskörperschaften werden in diesen Entwicklungsprozess eingebunden. Um eine noch stärkere Verflechtung zu erzielen,
sollten wir uns dafür starkmachen, dass die Kommunen
einen Sitz im Nationalkomitee bekommen. Das wäre
wirklich zielführend.
({2})
Bei der Aus- und Weiterbildung spielen Hochschulen
eine zentrale Rolle. Viele Hochschulen bieten inzwischen ein vielfältiges Studienangebot zur Nachhaltigkeit
an und haben innovative Lernkonzepte entwickelt. Ein
exzellentes Beispiel dafür ist die Leuphana-Universität
in Lüneburg. Kürzlich wurde sie mit dem renommierten
International Sustainable Campus Excellence Award
ausgezeichnet.
Herausragend ist darüber hinaus, dass die Leuphana
sogar eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeitswissenschaften etabliert hat. Das ist ein Ansporn für weitere
Hochschulen in Deutschland.
({3})
Als niedersächsische Bundestagsabgeordnete freut es
mich, Ihnen mitteilen zu können, dass insbesondere Niedersachsen ein Impulsgeber beim Thema „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ war und auch ist. So hat der
Niedersächsische Landtag vor knapp drei Jahren einen
Entschließungsantrag angenommen, um den Nationalen
Aktionsplan aktiv zu unterstützen.
Das Schulprojekt „Transfer 21“ - das wurde bereits
erwähnt - wurde mit großem Erfolg umgesetzt. Circa
17 Prozent der niedersächsischen Schulen waren 2008 in
das Programm eingebunden. Dieser Anteil lag weit über
dem Bundesdurchschnitt.
Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in vielen
Schulen implementiert und sehr praxisbezogen mit dem
landesweiten Projekt „Nachhaltige Schülergenossenschaften“ umgesetzt. Insbesondere haben sich Grund-,
Förder-, Haupt- und Realschulen am Programm „Transfer 21“ beteiligt, in denen man in erster Linie praktische
Lerninhalte anbietet und wo eher praktisch orientierte
Schüler gefördert werden. Insofern war dies genau richtig. Schüler konnten Wirkungsketten kennenlernen, in
Teams zusammenarbeiten, ihre Rolle einnehmen, auf ihrem Posten Verantwortung übernehmen und - das ist
entscheidend - Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl
generieren.
Warum war dieses Programm gerade in Niedersachsen so erfolgreich? Wir haben ein langjähriges und solides Netzwerk gepflegt und als einziges Bundesland einen Fokus auf die Gründung nachhaltiger Schülerfirmen
gelegt.
Auch die von der Stiftung „Innovations- und Zukunftsfonds Niedersachsen“ finanzierte Beratungs- und
Serviceagentur zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
liefert aus liberaler Sicht entscheidende Impulse gerade
auch für andere Bundesländer. Zehn Bundesländer haben inzwischen das Multiplikatorenprogramm aus Niedersachsen übernommen. Damit ist die Agentur ein
Leuchtturmprojekt im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Erfreulich ist außerdem die Vernetzung einzelner Bundesländer im Rahmen der Norddeutschen Partnerschaft zur Unterstützung der UN-Dekade.
Deutschland hat viel im Hinblick auf das Thema „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ erreicht. Das von der
Regierung verabschiedete Lateinamerika-Konzept hat
die Forderung der FDP-Fraktion nach neuen Lernorten
aufgegriffen und entscheidende Weichen auf internationaler Ebene gestellt. Ich begrüße diese Entwicklung und
möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion allen
Anerkennung zollen, die sehr engagiert und mit Leidenschaft das Projekt „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ vorantreiben - und das ebenso ganz nachhaltig.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Rosi Hein für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
möchte mit einem Zitat beginnen:
Bei Nachhaltigkeit geht es um die Erreichung von
Generationengerechtigkeit, sozialem Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahrnehmung internationaler Verantwortung.
So, verehrte Kolleginnen und Kollegen, steht es im „Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“, der bereits vor mehr als einem Jahr
von der damaligen Bundesregierung verabschiedet
wurde. Er beschreibt die Aktivitäten der Bundesregierung
zur Halbzeit der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
Entwicklung“. Er hat in der Tat eine Reihe beachtlicher
Ergebnisse aufzuweisen, auch wenn man sagen muss,
dass einiges aus deutlich älteren Programmen stammt.
Insbesondere ist es gelungen, durch zahlreiche Programme und Initiativen umweltbewusstes Verhalten bei
Kindern und Jugendlichen deutlich zu fördern. In meinem Wahlkreis in Magdeburg beteiligten sich Schulen
am Fifty-fifty-Programm zur Energieeinsparung. Sie sind
dabei sehr engagiert. Ich finde das gut.
({0})
Aber der Bericht spricht nicht ohne Grund von einem
ganzheitlichen Ansatz für nachhaltige Entwicklung, der
soziale und demokratische Aspekte ebenso umfasst wie
das Wissen um eine umweltbewusste und gesunde Lebensweise.
Wer nämlich über kein ausreichendes Einkommen
verfügt, der kann sich trotz besseren Wissens nicht immer umweltbewusst verhalten und gesund leben. Er
kann auch fair gehandelte Produkte oder ökologisch hergestellte Produkte unter Umständen nicht erwerben,
wenn er die Mittel dazu nicht hat; denn sie sind etwas
teurer.
Gute Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung
für soziale Teilhabe, also für die Möglichkeit, auch entsprechend nachhaltig zu handeln. Darum muss Bildung
unbedingt selbst nachhaltig sein, wenn man Bildung für
nachhaltige Entwicklung verwirklichen will,
({1})
und das ist sie nur, wenn der Zugang zu Bildung für jede
und jeden gleichermaßen möglich ist.
({2})
Davon ist Deutschland aber weit entfernt.
Hier ist der Nachholbedarf am größten. Individuelle
Förderung schon im Kindergarten und in der Schule, damit Schulabschlüsse nicht mehr nachgeholt werden müssen: Das wäre nachhaltig und zudem preiswerter. Hierzu steht in dem Bericht nur eine lapidare Feststellung, aber keine einzige Idee. Das kritisieren wir daran.
({3})
Es wundert uns schon, dass im Berichtsteil des Bildungsministeriums nichts zur Notwendigkeit des Nachholens von Schulabschlüssen zu finden ist, sondern in
dem des Arbeitsministeriums, so, wie übrigens auch die
Bildungschipkarte im Arbeitsministerium verhandelt
und ausgehandelt wurde und nicht im Bildungsministerium. Wir stellen uns schon besorgt die Frage - ich habe
das in meiner letzten Rede schon einmal getan -, ob sich
das Bildungsministerium für Bildung nicht mehr zuständig fühlt oder sich abschaffen will. Ich finde, darüber
muss man einmal ernsthaft nachdenken.
({4})
Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass das
Thema „nachhaltige Entwicklung“ und der Beitrag der
Bildung dazu innerhalb der Bundesregierung wenig aufeinander abgestimmt sind. Die Berichte der einzelnen
Ministerien stehen ziemlich unverfänglich und unabgestimmt nebeneinander. So stellt die Bundesbeauftragte
für die Belange behinderter Menschen fest: „Eine Schule
für alle macht ein Umdenken in unserem Bildungssystem erforderlich“. - Eine Schule für alle: Das finde ich
völlig richtig.
({5})
Als wir auf diese Aussage hin im Bildungsausschuss
nachgefragt haben, hatten wir aber den Eindruck, dass
das zuständige Bildungsministerium diese Aussage zum
ersten Mal hörte.
({6})
- Wir haben schon öfter darüber gesprochen, aber irgendwie haben wir auf unsere Frage keine Antwort bekommen.
({7})
Wir hatten das Gefühl: Es hat noch gar keiner gelesen,
dass das da drinsteht. - Ich finde es ja gut, dass es drinsteht, aber das ist offensichtlich noch nicht weiter durchgedrungen.
Es geht aber noch weiter: Im Nationalen Aktionsplan
„Für ein kindgerechtes Deutschland 2005-2010“ hat
man sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Dazu gehören ein
„Aufwachsen ohne Gewalt“ und mehr „Beteiligung von
Kindern und Jugendlichen“. Davon muss man in Stuttgart noch nichts gehört haben.
({8})
Was meinen Sie eigentlich, welche nachhaltigen Demokratieerfahrungen die Schülerinnen und Schüler bei ihrer
angemeldeten Demonstration gewonnen haben? Das,
was durch den Polizeieinsatz dort zerstört wurde, können Lehrerinnen und Lehrer in noch so vielen Sozialkundestunden nicht wieder reparieren. Wer Belege dafür
sucht, der schaue sich bitte die Internetseiten der Schülerzeitung Spießer an.
Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ stand in der ersten Hälfte der Dekade jährlich unter einem bestimmten Thema, so zum Beispiel „Wasser“
in 2008, „Energie“ in 2009 und „Geld“ in 2010 - wie
passend. Ich finde, die verbleibenden Jahre sollten anderen Themen gewidmet werden, zum Beispiel dem
Thema „soziale Chancengleichheit“
({9})
und dem Thema „demokratische Teilhabe“.
Wenn das ins Zentrum der Bemühungen der Bundesregierung gestellt würde, dann würde man auch dem
Eingangsziel, das ich vorhin zitiert habe, der Generationengerechtigkeit und dem sozialen Zusammenhalt in der
Gesellschaft besser gerecht werden, aber Sie haben die
Themen schon durchgeplant. Vielleicht ist das aber auch
ein Grund, noch einmal darüber nachzudenken.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zahlreiche Initiativen bemühen sich bundesweit, den Gedanken einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in
der Gesellschaft stärker zu verankern. Diesen Pionierinnen und Pionieren, den vielen engagierten Lehrern und
Schülern, gebührt fraktionsübergreifend unser Dank, weil
sie dazu beitragen, das wichtige Zukunfts- und Gegenwartsthema Nachhaltigkeit noch stärker ins Bewusstsein
der Menschen zu rücken.
({0})
Die zweite Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist bereits angebrochen. Es ist daher höchste Zeit, dass die Bundesregierung darlegt, wie
ihre zukünftigen Förderstrategien aussehen sollen. Dies
muss sie zügig tun, damit dieser Prozess in der zweiten
Hälfte der Dekade und darüber hinaus mit Schwung weitergehen kann und nachhaltig ist.
Es ist zum Glück unstrittig, dass wir Bildung für eine
nachhaltige Entwicklung brauchen. Wir brauchen sie in
allen Bildungseinrichtungen, also endlich auch stärker in
der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Wir brauchen
sie für alle Generationen im Sinne von lebenslangem
Lernen von Jung bis Alt, und wir müssen nachhaltige
Entwicklung enger mit Themen wie Demografie, Chancen- und Generationengerechtigkeit verknüpfen. Darum
muss es jetzt in der zweiten Hälfte der UN-Dekade gehen.
Wir meinen, dass Projektförderung nur der Auftakt
dazu sein kann, aus den vielfältigen lokalen Ansätzen,
die es gibt, ein breites Netzwerk mit guten Beispielen zu
knüpfen, aus dem ein umfassendes Leitbild zur Umgestaltung unseres Bildungssystems erwachsen kann.
Gemeinsame Ziele für ein nachhaltiges Bildungssystem müssen sein, die Potenziale und Talente von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen stärker zu erkennen, die
Zahl der Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrüche
deutlich zu reduzieren und jedem eine zweite, dritte oder
vierte Chance zu eröffnen sowie mehr individuelle Förderung, eine höhere Durchlässigkeit und somit auch
mehr Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg in unserem
Bildungssystem zu gewährleisten, unabhängig von Herkunft und Geldbeutel der Eltern. Das ist ein sehr wichtiges Anliegen.
({1})
Das wären wichtige Beiträge, um bundesweit zu mehr
Nachhaltigkeit im Bildungssystem zu kommen. Denn
Fakt ist, dass unser Bildungssystem ungerecht, unterfinanziert und ineffizient ist. Leider werden viel zu viele
Talente vergeudet, und es mangelt an Chancengerechtigkeit. Das liegt auch an vielen falschen politischen Weichenstellungen in der Bildungspolitik.
Ein aktuelles Beispiel, über das wir immer wieder diskutieren, ist das bildungs- und gleichstellungspolitisch
aberwitzige Betreuungsgeld, an dem Schwarz-Gelb nach
wie vor festhält. Ein weiteres Beispiel ist die frühe Trennung von zehnjährigen oder gar neunjährigen Kindern
nach der vierten Klasse, wenn sie in unterschiedliche
Schulformen aufgeteilt werden, wie es in vielen Bundesländern der Fall ist. Das ist aus unserer grünen Sicht das
glatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik.
({2})
Ich möchte auch die Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzentwürfen ansprechen. Aus unserer Sicht ist das sehr
sinnvoll, und es ist ein wichtiger Schritt. Diskutieren
sollten wir aber über die Aussagekraft der Prüfergebnisse und die Frage, wie sie kommuniziert werden. Ein
aktuelles Beispiel ist das nationale Stipendienprogramm.
Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass den
ungerechten Elitestipendien für wenige das Etikett
„wirkt nachhaltig“ angepappt wird. Ich finde, dazu gibt
es noch Diskussionsbedarf, um zu argumentieren und zu
kommunizieren, was die Nachhaltigkeitsprüfung bedeutet.
Wir meinen, dass Bund und Länder gemeinsam stärker ihrer nationalen und internationalen Verantwortung
gerecht werden müssen, Bildung für eine nachhaltige
Entwicklung zu einem Schwerpunkt zu machen.
Das rot-grüne Ganztagsschulprogramm wurde auch
in dem Bericht interfraktionell als ein Motor für die Verankerung von Nachhaltigkeitsthemen in Schulen gelobt.
Gleiches gilt für das Modellprojekt „Transfer 21“ der
BLK. All diese fraktionsübergreifend gelobten Initiativen gibt es nicht mehr, weil inzwischen eine verkorkste
Föderalismusreform mit einem Kooperationsverbot in
Kraft gesetzt wurde, das die Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern im Bildungsbereich weitgehend verbietet.
({3})
Deshalb möchte ich - ich denke, ich spreche im Namen der gesamten Opposition - Ihnen, meine Damen
und Herren von der Koalition, an dieser Stelle anbieten,
dass wir gemeinsam zu mehr Tatkraft und Kooperation
von der Kita bis zur Weiterbildung insbesondere im
Schulbereich kommen und das Kooperationsverbot im
Grundgesetz wieder aufheben.
({4})
Ich gehe davon aus, dass es dafür noch in dieser Legislaturperiode eine Mehrheit im Bundesrat gibt und
dass wir dann die Chance haben, Bildungsblockaden
endlich wieder nachhaltig aufzubrechen. Das wäre ein
großer Beitrag für ein nachhaltiges Bildungssystem und
eine gute Bildungsfinanzierung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre
enttäuscht gewesen, wenn Kollege Gehring das Kooperationsverbot außer Acht gelassen hätte. Aber er hat es in
vier Minuten geschafft, den Bogen zu spannen.
Nun haben schon viele Kollegen zitiert. Ich möchte
- es ist abgesprochen, dass ich das darf - kurz den Kollegen Murmann zitieren. Er hat richtigerweise gesagt: Unser Ziel ist, ein intaktes Gefüge an unsere Kinder weiterzugeben. - Das nehme ich gerne auf und darf es um
Folgendes ergänzen: Es ist auch unsere Verantwortung
und unser Ziel, dass wir unsere Kinder in die Lage versetzen, dieses intakte Gefüge weiter zu verbessern. - Das
ist mit Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint.
Wir müssen zielorientiert steuern und Verantwortungsbewusstsein für das persönliche Verhalten und Engagement schaffen, wie es Herr Murmann bereits beschrieben
hat.
Der Deutsche Bundestag zeigt eine gewisse Geschlossenheit, wenn es um die Frage geht, wie man
Nachhaltigkeit entwickelt. Das wird auch im Entschließungsantrag deutlich. Aber, Frau Hein, nicht alles im Leben ist nachhaltig. Ich erinnere jedenfalls daran, dass der
Deutsche Bundestag bereits 2004, also noch vor Beginn
der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,
einen Aktionsplan für Deutschland beschlossen hat. Frau
Arndt-Brauer, Kollege Murmann und Herr Gehring haben Beispiele für das genannt, was seither geschehen ist.
Dabei geht es nicht nur um Schülercafés. Schulen und
Kindertagesstätten haben sich mit dem Thema Ressourcenschonung befasst. Unter anderem ging es um die
Frage, wie man mit Wasser umgeht. Klimaschutz war
ein Schwerpunkt im Elementarbereich der Kindertagesstätten. Über 2 500 Schulen - das sind über 10 Prozent haben im Rahmen des Programms „Transfer 21“ einzelne Projekte gesteuert. Die Zielvorgabe von 10 Prozent haben wir also deutlich erreicht. Das ist ein gutes
Ergebnis. Auch dass über 800 einzelne Projekte ausgezeichnet wurden, spricht für sich.
Es geht nun aber um Verbindlichkeit und die Verstetigung von Nachhaltigkeit im Bildungsbereich. Wenn ich
sehe, dass nun Umweltbildung in allen Rahmenrichtlinien der Länder verankert ist, dann darf ich feststellen,
dass wir deutliche Schritte nach vorne gekommen sind.
Ziel ist, dieses Thema systematisch und dauerhaft zu
verankern. Die Herausforderung in den nächsten Jahren
wird sein, dafür zu sorgen, dass das gelingen kann. In
den Debatten hier im Deutschen Bundestag müssen wir
aber immer wieder darauf verweisen, dass die Länder in
weiten Teilen die Kompetenzhoheit haben. In Zukunft
müssen die Länder - das ist wichtig - verbindlich nachweisen, wie sie Bildung für nachhaltige Entwicklung gestalten wollen.
Wir, die Koalition, haben unser Bekenntnis zur Nachhaltigkeit im Koalitionsvertrag deutlich formuliert:
Die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist
Ziel und Maßstab unseres Regierungshandelns, auf
nationaler, europäischer und internationaler Ebene.
Das heißt für uns, im Bildungsbereich Einstellungen längerfristig zu verändern.
({0})
Nun umfasst Bildung für nachhaltige Entwicklung
noch einen anderen Aspekt, Stichwort „Grundbildung
für alle“. Kollege Gehring von den Grünen hat bereits
das eine oder andere angesprochen, das mit unseren Indikatoren im Bildungsbereich korrespondiert, zum Beispiel die Schulabbrecherquote, die Ausbildungsquote,
die Zahl der Studienabschlüsse sowie die Ausgaben für
Bildung und Forschung. Das 10-Prozent-Ziel der Bundesregierung passt genau dazu. Um Verständnis für
Nachhaltigkeit zu entwickeln, muss man sich schließlich
auch mit der Frage befassen, wie viel Geld wir als
Gesellschaft - ob privat oder öffentlich - für Bildung
ausgeben. Über Bildungspositionen kann man lange diskutieren, so auch über die Frage, ob die Schulabbrecherquote als Indikator geeignet ist. Was nutzen weniger
Schulabbrecher, wenn gleichzeitig die Ausbildungsfähigkeit sinkt? Ist nicht alternativ die Frage zu stellen,
welche anderen Indikatoren ebenfalls eine Rolle spielen?
({1})
Ich glaube aber, dass die Indikatoren insgesamt durchaus
geeignet sind, deutlich zu machen, wie sich die Bildung
entwickelt. Ich teile hier nicht - dafür müssen Sie von
der Opposition Verständnis haben - die Meinung des
Kollegen von den Grünen. Die Indikatoren zeigen deutlich, dass wir nicht nur wieder mehr Geld ausgeben - es
gibt erneut eine Steigerung um über 7 Prozent -, sondern
dass wir auch deutlich bessere Ergebnisse erzielen als in
den letzten Jahren. Das ist ein Beweis, dass die Bundesregierung mit ihrer Bildungspolitik richtigliegt.
({2})
Wenn wir über Nachhaltigkeit nachdenken, dann
müssen wir uns auch die Frage stellen, wo 1 Euro den
größten Nutzen bringt. Auch das ist nachhaltig. Wir
müssen - ich denke, darüber herrscht Einvernehmen bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. Aufgabe der
CDU/CSU-Fraktion wird es in den nächsten Monaten
sein, Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der frühkindlichen Bildung zu thematisieren.
Was die Quantität des Krippenausbaus angeht, haben
wir viel erreicht. Im nächsten Schritt werden jetzt auch
die Qualität und Standards zu erörtern sein. Denn es
kommt gerade in Kindertagesstätten darauf an, das Themengebiet „nachhaltige Entwicklung“ in den Bildungsplänen zu verankern, also das frühe Bewusstsein zu
schaffen, was Nachhaltigkeit heißt. Das ist dann so banal, als wenn man irgendwann feststellt, dass es Sinn
macht, das Licht auszumachen, wenn man als Letzter einen Raum verlässt, oder Wasser zu sparen. Dies hat aber
eine unheimlich große Wirkung nicht nur für die Kinder,
sondern auch für die Familien, die teilweise erst dann erfahren, was Nachhaltigkeit mit sich bringt. Dabei geht es
auch - darüber kann man diskutieren - um die Frage eines Kita-TÜVs. Es geht dabei um die Baumaterialien,
die verwendet werden, und um die Frage, ob denn Energieeffizienz gegeben ist. Weiter geht es darum, die QuaMarcus Weinberg ({3})
lität von Erzieherinnen unter dem Gesichtspunkt nachhaltiger Entwicklung zu hinterfragen.
Ich glaube - damit komme ich auch gerne zum
Schluss -, es wird unsere Aufgabe sein, die Länder mehr
und mehr zu fordern. Viele Länder haben gerade in diesem Bereich - im schulischen wie auch im vorschulischen Bereich - unter Qualitätsgesichtspunkten viel erreicht. Für uns ist es wichtig, dass diese Bereiche
zusammengeführt und stetig weiterentwickelt werden. Es
ist auch eine Aufforderung an die Länder, diese Projekte
im Bereich der Elementarpädagogik oder der Primarpädagogik, die vorhin von vielen Rednern angesprochen wurden, zu verstetigen. Daneben muss ein Abgleich von Bildungsplänen möglich werden. Es wird ja immer wieder
darüber diskutiert, wie man bundeseinheitliche Rahmenpläne auf freiwilliger Basis - das föderative System
funktioniert, das ist ein gutes System - gestalten kann.
Unterm Strich bleibt festzuhalten: Wir haben weiter
unsere Aufgaben zu machen. Aber insgesamt kann man
sagen, dass wir durchaus zufrieden auf die einzelnen
Punkte zurückblicken können, die wir erreicht haben.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Das sind die
Drucksachen 16/13800 und 17/3158.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
- Drucksache 17/3173 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Bildungsrepublik ausruft, wird das Echo „faire
Arbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik“ bekommen. Genau hier, bei fairen Arbeitsbedingungen in der
Bildungsrepublik, versagt Ursula von der Leyen als
Ministerin; denn sie lehnt Mindestlöhne für die Ausschreibungen der Bundesagentur für Arbeit ab. Begründung: Die Mindestlöhne liegen nicht im öffentlichen Interesse. Dabei geht es um Löhne von 12,28 Euro für
ausgebildete Fachkräfte, die Kurse im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit durchführen. Also verhindert
Ursula von der Leyen Mindestarbeitsbedingungen der
Behörde Bundesagentur für Arbeit, für die sie die
Rechtsaufsicht hat, mit der Begründung: kein öffentliches Interesse. Wenn das kein öffentliches Interesse ist,
was soll denn dann öffentliches Interesse sein?
({0})
Das ist aus meiner Sicht Bildung nach dem Motto
„Geiz ist geil“, hat aber beim Thema Bildung nichts zu
suchen; denn Bildung bildet Menschen. Da darf es nicht
um „Geiz ist geil“ gehen, sondern da braucht es Qualität.
Es muss darum gehen, dass Qualität ihren Preis hat.
({1})
Ich bin dem Diakonischen Werk Württemberg dankbar, das Frau von der Leyen, nachdem sie den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat, dazu
aufgefordert hat, nun doch den Mindestlohntarifvertrag
zu unterzeichnen und damit faire Arbeitsbedingungen in
der Weiterbildungsbranche zu schaffen.
Ich weiß ganz genau, was gleich nach meiner Rede in
Bezug auf den Antrag der SPD passieren wird:
({2})
Die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb werden
sprechen - das ist richtig, Kollege Lehrieder -, und sie
werden Folgendes tun: Sie werden den Mindestlohn in
der Weiterbildungsbranche ablehnen, mit dem Argument: kein öffentliches Interesse.
({3})
Auf das öffentliche Interesse bin ich in meiner Rede
schon eingegangen. Viel schlimmer als die Ablehnung
des Mindestlohns empfinde ich aber, dass die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb
({4})
keine Alternative aufzeigen werden, wie wir zu fairen
Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche kommen können.
({5})
Außerdem werden einige sagen: Die SPD hat doch elf
Jahre den Arbeitsminister gestellt. Warum ist es denn so,
wie es heute ist? - Auch da gilt, dass wir heute überhaupt
nur deswegen über einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche reden können, weil die SPD in der Großen
Koalition dafür gesorgt hat, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf diese Branche ausgedehnt wurde
({6})
und das Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedet
worden ist, dass also die rechtlichen Grundlagen für
Mindestlöhne in der Weiterbildungsbranche geschaffen
worden sind.
Ich will an dieser Stelle den Lehrkräften in der Weiterbildung danken; denn sie sind es, die durch ihr alltägliches, unermüdliches Engagement für lebenslanges Lernen und Chancenvermittlung in dieser Gesellschaft
sorgen. Sie sind es, die oft trotz schlecht bezahlter Arbeit
dafür sorgen, dass etwa Langzeitarbeitslose, Fachkräfte,
Arbeitsuchende Chancen in dieser Gesellschaft bekommen. Hier ein herzliches Dankeschön an die Lehrkräfte
in der Weiterbildungsbranche!
({7})
Ich verspreche Ihnen allen: Wir von der SPD werden
nicht aufhören, für den Mindestlohn zu kämpfen, weder
im Bereich Weiterbildung noch auf dem Gebiet der
Leiharbeit, noch in anderen Branchen. Wir wollen einen
flächendeckenden Mindestlohn.
({8})
Ich weiß, dass Sie, Schwarz-Gelb, das nicht vertreten
können; aber Sie können für faire Bedingungen in der
Weiterbildung über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
sorgen. Sorgen Sie dafür, dass 12,28 Euro zu einem fairen Lohn in der Weiterbildung werden. Das ist unsere
gemeinsame Verantwortung, um die Würde der Arbeit in
der Weiterbildung zu schützen.
In diesem Sinne: Glück auf!
({9})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Mast, Sie haben, was in der Tat nicht sehr
gewagt ist, angekündigt, dass unmittelbar nach Ihnen
Vertreter der christlich-liberalen Koalition sprechen werden. Jetzt spricht zunächst einmal ein Vertreter der Bundesregierung. Dieser Unterschied ist nicht ganz unbedeutend. Denn Sie haben als frei gewählte Abgeordnete
in einem freien Land das Recht, hier all Ihre persönlichen Befindlichkeiten auszubreiten. Dieses Recht hat die
Bundesregierung, in diesem Fall die Bundesarbeitsministerin, beim Erlass von Verordnungen so nicht. Die
Bundesregierung ist an Recht und Gesetz gebunden,
wenn sie Verordnungen erlässt, und nicht nur an ihre Befindlichkeiten.
({0})
Sie fordern einen Mindestlohn in der Weiterbildung.
Ich halte diese Forderung im Grundsatz für richtig. Um
dafür den Rahmen zu schaffen, ist das Arbeitnehmer-Entsendegesetz da. Frau Kollegin Mast, die Erweiterung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist in der
letzten Legislaturperiode von der Großen Koalition beschlossen worden. Die Große Koalition hat auch eine
Mindestlohnverordnung unter bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gestellt, und zwar mit den Stimmen der
SPD-Fraktion. Es waren nicht Sie, die die Branche ins
Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen hat, und
die CDU/CSU-Fraktion, die das an Bedingungen geknüpft hat, sondern die frühere Regierung und die sie
tragenden Fraktionen haben gemeinsam diese Branche
ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen und
gleichzeitig den Erlass einer Mindestlohnverordnung
durch die Regierung an bestimmte, wohldurchdachte Voraussetzungen geknüpft, und die sind leider nicht erfüllt.
Deswegen konnte es hier nicht zum Erlass einer Mindestlohnverordnung kommen. Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren, nicht aber die Legendenbildung, die von anderer Seite betrieben wird.
({1})
Die Zweckgemeinschaft von Mitgliedsunternehmen
des Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung,
die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft haben am
12. Mai letzten Jahres einen Mindestlohntarifvertrag
abgeschlossen und für diesen Tarifvertrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Allgemeinverbindlicherklärung beantragt. Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales hat unter Leitung des damaligen
Ministers Olaf Scholz den Tarifausschuss an diesem Verfahren beteiligt. Dieser Ausschuss hat sich in seiner Sitzung am 31. August letzten Jahres mit diesem Thema
befasst. Die drei Arbeitgebervertreter haben gegen, die
drei Arbeitnehmervertreter für den Verordnungserlass
gestimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu
dem, was gestern von der grünen Fraktion beispielsweise im Ausschuss fälschlicherweise behauptet wurde,
nämlich dass das die generelle Linie der BDA und der
Arbeitgeberverbände sei, ist diese Entscheidung im letzten Jahr die Ausnahme gewesen, und zwar die einzige
Ausnahme. Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz im letzten Jahr um mehrere Branchen erweitert, und
wir haben in der Großen Koalition vereinbart, dass diejenigen Branchen, die erstmals einen Tarifvertrag schließen und die Allgemeinverbindlicherklärung beantragen,
mit ihren Verträgen dann auch durch den Tarifausschuss
müssen. Dies waren fünf Branchen. Es hat im letzten
Jahr drei 6 : 0-Entscheidungen gegeben. Bei den textilen
Dienstleistungen, bei den Bergbauspezialarbeiten und in
der Entsorgungswirtschaft war es Konsens im Tarifausschuss, diese Branchen ins Entsendegesetz aufzunehmen, und so ist es passiert. In zwei Branchen gab es keinen Konsens. Bei den Sicherheitsdienstleistungen haben
die Gewerkschaftsvertreter des DGB dagegen gestimmt
und damit verhindert, dass Menschen, die im Sicherheitsbereich tätig sind, deutlich höhere Mindestlöhne bekommen, die der CGB gegenüber den Verdi-Tarifverträgen in verschiedenen Ländern ausgehandelt hat. Das war
die souveräne Entscheidung der Gewerkschaftsvertreter.
Nur bei der Weiterbildungsbranche hat die BDA dagegengestimmt. Das Ergebnis der Abstimmungen war also
dreimal 6 : 0 und zweimal 3 : 3; einmal gab es Gegenstimmen der Arbeitgeber, einmal Gegenstimmen der Gewerkschafter. Das zeigt, dass sich die Mitglieder des Tarifausschusses mit den einzelnen Branchen durchaus
sorgfältig beschäftigt haben.
Es ist Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums, zu
prüfen, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse liegt. Dabei ist ganz klar das Interesse derer, die die Allgemeinverbindlichkeit beantragen, gegen das Interesse derjenigen abzuwägen, die
durch eine solche Verordnung dann auch gebunden würden. Das war die Aufgabe, die sich für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gestellt hat.
In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich
die Tarifbindung eine wichtige Rolle. Zur Ermittlung der
Tarifbindung hat das Bundesarbeits- und -sozialministerium in einem aufwendigen Verfahren und mit sorgfältiger Prüfung alle erreichbaren Statistiken ausgeschöpft,
was in dieser Branche deutlich schwieriger ist als in anderen. Trotz intensiver Prüfung war eine sichere Datenbasis nicht zu erlangen, aber selbst unter Zugrundelegung der von den Tarifvertragsparteien des Mindestlohntarifvertrages vorgetragenen und für sie günstigsten
Zahlen ergibt sich, dass die Tarifbindung allenfalls
25 Prozent beträgt. Ein Tarifvertrag mit vergleichbar
niedriger Tarifbindung ist in der Vergangenheit noch nie
Gegenstand einer Verordnung nach dem ArbeitnehmerEntsendegesetz gewesen. Das ist keine neue Politik der
christlich-liberalen Koalition, sondern es ist eine Kontinuität in der Politik der Bundesregierung auch aus der
vergangenen Zeit, weil jede Bundesregierung an Recht
und Gesetz gebunden ist und nicht an persönliche Befindlichkeiten einzelner Akteure. Darum geht es hier.
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das geteilte Votum des Tarifausschusses unterstreicht von daher die Einschätzung, dass die erforderliche Repräsentativität der Mitglieder der Zweckgemeinschaft und damit das erforderliche öffentliche Interesse
am Erlass der Verordnung nicht gegeben sind. Das ist
keine generelle Linie einer Tarifvertragspartei, eines
Teils des Tarifausschusses, sondern das war im letzten
Jahr in diesem Ausnahmefall ein Votum, sicherlich auch
vor dem Hintergrund der Repräsentativität.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Die Kollegin Kramme möchte Ihnen noch eine Frage
stellen.
Sehr gern. Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Brauksiepe. - Ich habe folgende
Frage an Sie: Ist es richtig, dass ein Beamter des Ministeriums für Arbeit und Soziales in der Ausschusssitzung
am gestrigen Tag erklärt hat, bei der Auslegung des Begriffs „öffentliches Interesse“ gebe es einen politischen
Ermessensspielraum? Ist diese Aussage nur dahin gehend zu verstehen, dass die Möglichkeit besteht, diesen
Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären?
({0})
Frau Kollegin Kramme, es ist gestern im Ausschuss
von allen damit befassten Vertretern der Bundesregierung zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Begriff des öffentlichen Interesses selbstverständlich einer
Ausfüllung bedarf; das ist kein Geheimnis. Nicht nur das
Sozial- und das Arbeitsrecht haben eine Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen. In vielen Gesetzen steht das
Wort „angemessen“, das konkretisiert werden muss. Natürlich muss auch der Begriff „öffentliches Interesse“
konkretisiert werden.
Gestern im Ausschuss ist das deutlich geworden, was
ich hier noch einmal sagen will: Für uns ist bei der Beurteilung, ob ein öffentliches Interesse besteht, wesentlich
- das ist nichts Neues -: Wer soll über wen entscheiden,
und wie wird das von den branchenübergreifenden Tarifvertragsparteien gesehen? - Wenn im günstigsten Fall
25 Prozent über 75 Prozent entscheiden sollen, dann ist
das für uns kein öffentliches Interesse,
({0})
vor allem wenn gleichzeitig im Tarifausschuss keine
Mehrheit ein öffentliches Interesse feststellt.
({1})
Nichts anderes ist gestern im Ausschuss gesagt worden,
und das ist auch sachgerecht.
({2})
Die Frage von Mehrheit und Minderheit spielt also
eine Rolle. Hier gibt es keine Mehrheit, die tarifgebunden ist. Alle diese Fakten sind den Antragstellern seit
mehr als einem Jahr bekannt und sind mehrfach im Gespräch mit ihnen erörtert worden.
Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefordert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder
zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in
der gesamten Branche zu kommen.
Das Ministerium konnte zum jetzigen Zeitpunkt
nichts anderes tun, als dieses Verfahren mit einer Ablehnung abzuschließen,
({3})
weil es an Gesetz und Recht gebunden ist. Die Bindung
an Gesetz und Recht wird das Handeln des Bundesarbeitsministeriums auch weiter bestimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau von
der Leyen hat am Montag den Branchenmindestlohn in
der Weiterbildung beerdigt, einfach so; keine Gespräche
mit den Verbänden, keine ausreichende Begründung.
Gestern hat Herr Staatssekretär Brauksiepe im Ausschuss für Arbeit und Soziales die Entscheidung damit
begründet, dass das öffentliche Interesse fehlt. Allerdings stellte ein Referent aus dem Ministerium kurz darauf fest, dass das öffentliche Interesse gar nicht definiert ist.
Ich schließe daraus: Sie hätten, wenn Sie gewollt hätten, Herr Brauksiepe, trotz „25 Prozent“ - es ist nicht definiert! - den Branchenmindestlohn durch eine Rechtsverordnung erlassen können. Sie hätten handeln können.
Sie haben gehandelt, aber politisch. Sie wollen nämlich
keinen Branchenmindestlohn in der Weiterbildung. Dies,
Herr Brauksiepe, erklären Sie doch bitte mal meinen
Kolleginnen und Kollegen in Bremen!
({0})
Herr Brauksiepe, erinnern Sie sich noch? Anfang vergangenen Jahres, als die Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenommen wurde, haben Sie gesagt:
Deshalb ist dieser Tag heute ein großer Tag für die
christlich-soziale Bewegung in Deutschland. … Es
ist immer schon der Anspruch der Christdemokraten gewesen … das Richtige zu tun.
({1})
Aber hier zählen keine Ansprüche, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU; hier zählen Taten.
({2})
Ihre Taten gehen genau in die falsche Richtung. Heute
verhindern Sie den Mindestlohn, und morgen kommt
auch noch Ihr sogenanntes Sparpaket in der Arbeitsförderung. Die Bundesregierung will da im nächsten Jahr
um 2 Milliarden Euro kürzen. Die Qualität wird schlechter, der Kampf um den niedrigsten Preis wird härter, und
die Löhne werden geringer. Das ist weder christlich noch
sozial.
({3})
Dennoch ist es erstaunlich, dass der vorliegende Antrag ausgerechnet von der SPD kommt. Noch im Januar
2009 brüstete sich ihr damaliger Arbeitsminister Scholz
mit der Aufnahme der Weiterbildungsbranche in das
Entsendegesetz. Es könne nicht sein, dass ausgebildete
Akademikerinnen und Akademiker zu Löhnen beschäftigt werden, die nicht in Ordnung sind, um Erwerbslosen
gute Berufe beizubringen und zu zeigen, wie man gut arbeitet. Irgendwie komisch. Dabei haben Sie unter RotGrün mit der Einführung der Hartz-Gesetze bei den Weiterbildungsmaßnahmen im SGB II und III massiv gekürzt und durch das Vergaberecht die Preise gedrückt.
({4})
Seitdem gingen dadurch bundesweit über 30 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Die übrigen Beschäftigten hatten Lohneinbußen von bis zu
30 Prozent.
({5})
Nun sitzen Sie hier und spielen den großen Retter der
Weiterbildungsbranche. Dabei hätten Sie doch schon in
der letzten Wahlperiode in der Großen Koalition den
Mindestlohn durchsetzen können.
({6})
Ich frage Sie: Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen
und der CDU/CSU sowie der FDP, wenn es um die Taten
geht?
({7})
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Ablehnung der Einführung eines Mindestlohns in diesem
Bereich rückgängig zu machen und das Vergaberecht der
Bundesagentur zu ändern. Preisdiktate in Ausschreibungsverfahren führen bei Bildungsträgern zwangsläufig zu Qualitätseinbruch und Dumpinglöhnen.
Für uns Linke bleibt es dabei: Einführung eines Mindestlohns und gute Tarife für alle.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Mast, ich habe mich sehr gefreut, dass
Sie eben so empathisch, ruhig und mit klaren Worten Ihren Antrag vorgebracht haben.
({0})
- Empathisch und sympathisch liegen nahe beieinander,
müssen aber nicht immer identisch sein. Ich würde aber
so weit gehen, zu sagen: Bei der Kollegin Mast ist es
identisch.
({1})
- Ich würde mich freuen, wenn mich auch die eigene
Fraktion eventuell zum Thema kommen ließe.
Ich finde aber, dass es nicht angeht, wie sich die SPD
ansonsten zum Thema eingelassen hat. Die Kollegin
Kramme ist zwar immer für deutliche Worte gut; aber
wenn sie sagt, die Regierung verweigere die Unterschrift
oder das sei ein Skandal und ein Schlag ins Gesicht der
Beschäftigten: Sie von der SPD holzen hier schon ziemlich.
({2})
Da fällt mir das gute Goethe-Wort ein: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an
Kräften fehlt.“
({3})
Ich habe das Gefühl, das trifft auch hier zu; denn wenn
Sie so heftige Worte wählen müssen, wird es dafür auch
einen Grund geben.
Ehe Sie von Hungerlöhnen sprechen, wäre es vielleicht als erster Schritt für eine ernsthaftere Beschäftigung mit dem Thema gut, wenn Sie uns belastbare Daten
zur Lohnsituation in der Weiterbildung vorlegen würden.
({4})
Es gab ja eine entsprechende Anfrage der Linken an die
Bundesregierung. Deren Antwort stützt sich auf Daten
aus dem Dezember 2009. Ich möchte nur einige Aussagen daraus vortragen: Wir haben 215 000 Personen in
der Weiterbildung, 155 000 davon arbeiten sozialversicherungspflichtig in Vollzeit, 13 000 davon, ein kleiner,
aber nennenswerter Teil, bezieht ergänzende Leistungen
aus dem Arbeitslosengeld II. All das ist richtig. Es liegen
uns allerdings keinerlei Daten über den Haushaltskontext der Betroffenen vor. Wenn man dann berücksichtigt,
dass diese 13 000 Personen im Durchschnitt 700 Euro
ergänzendes ALG II beziehen, ist es wohl eher nicht so,
dass es sich um alleinstehende Personen handelt, die in
Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, aber zu niedrige Löhne
bekommen. Dieses wirkt eher so, als sei der Anspruch
entstanden, weil diese Personen eine Familie mit hohen
Ansprüchen haben und eine große Bedarfsgemeinschaft
bilden.
({5})
Natürlich ist jedes einzelne Lohnproblem eines zu
viel. Aber wenn Sie hier alle über einen Kamm scheren,
von Hungerlöhnen sprechen und behaupten, das Problem sei mit einem für allgemeinverbindlich erklärten
Mindestlohn zu lösen, dann machen Sie es sich zu einfach.
({6})
- Liebe Kollegin Mast, ich war eben so nett zu Ihnen,
ich möchte aber jetzt an dieser Stelle weiterkommen.
Die Zeit ist durch das kleine charmante Geplänkel eben
leider schon sehr weit fortgeschritten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Mast?
Nein, ich habe ihr gerade erklärt, warum nicht.
Ich will zur nächsten Behauptung kommen: Die Bundesregierung verweigere eine Unterschrift. Ich bin großer Anhänger der Gewaltenteilung; dazu können wir
gerne politische Positionen austauschen. Die Bundesregierung kann jedenfalls immer noch selbst entscheiden,
ob sie etwas für allgemeinverbindlich erklärt oder eben
nicht. Das muss sie natürlich auf der Grundlage von klaren Kriterien und einer gründlichen Prüfung machen.
Liebe Kollegin Mast, ich würde schon sagen - der
Parlamentarische Staatssekretär hat es eben ausgeführt -,
dass es gute Gründe gibt, im Falle der Weiterbildungsbranche zu sagen: Hier ist möglicherweise weder Repräsentativität noch öffentliches Interesse gegeben.
({0})
Im Tarifausschuss gab es nämlich keine Mehrheit für
eine entsprechende Regelung. Die Kollegin MüllerGemmeke wird bestimmt gleich darauf hinweisen, dass
es nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz keine Mehrheit im Tarifausschuss geben muss.
({1})
Trotzdem muss die Regierung klare Kriterien suchen.
({2})
Da liegt es nicht fern, die Kriterien des Tarifvertragsgesetzes anzulegen. Es macht Sinn, dass es eine Mehrheit
im Tarifausschuss geben muss, bevor irgendetwas für
allgemeinverbindlich erklärt wird.
Der Tarifausschuss wird nicht ohne Grund eingeschaltet. Er ist dafür da, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Der Parlamentarische Staatssekretär hat es ausgeführt: Bei anderen Branchen gab es
auch in letzter Zeit ein einstimmiges Votum im Tarifaus6906
Johannes Vogel ({3})
schuss. Hier war das eben nicht der Fall. Deshalb gibt es
gute Gründe, hier die Allgemeinverbindlichkeit abzulehnen.
({4})
Auch Repräsentativität ist nicht gegeben. Wenn die
Bindungswirkung des Tarifvertrags bei 45 oder 47 Prozent läge, könnte man noch darüber diskutieren, ob man
ihn nicht vielleicht trotzdem für allgemeinverbindlich erklären sollte. Hier sind aber maximal 25 Prozent der Arbeitnehmer an den Tarifvertrag gebunden. Da ist die Repräsentativität nicht fraglich, sondern fern. Es wäre
falsch, wenn hier ein Minderheitsinteresse über das Mehrheitsinteresse dominieren würde.
({5})
Deshalb ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität richtig, das Ganze abzulehnen.
Liebe Frau Kollegin Mast, ich nehme die Koalitionsfreiheit sehr ernst. Ich finde es gut, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer organisieren und gemeinsam für
die Lohnfindung zuständig sind. Ich nehme die Koalitionsfreiheit auch dadurch ernst, dass ich nicht politisch
definiere, wann mir das Ergebnis passt. Ich habe das Gefühl, Sie halten den Wert der Koalitionsfreiheit nur dann
hoch, wenn Ihnen das politische Ergebnis zupasskommt.
Das hat nichts mit dem Wert der Tarifautonomie und der
Koalitionsfreiheit in Deutschland zu tun.
({6})
- Hier geht es um die Würde der Arbeit. Es geht aber
auch darum, dass wir faire Bedingungen brauchen. Minderheitsinteressen dürfen hier nicht Mehrheitsinteressen
diktieren.
({7})
Deshalb ist es richtig, dass die Allgemeinverbindlichkeit
hier abgelehnt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
Beim Kollegen Schaaf kann ich natürlich nicht Nein
sagen.
Das ist jetzt nicht ganz so charmant.
({0})
Herr Kollege Vogel, ich danke Ihnen sehr. Ich hätte
zwar mit einer ähnlich charmanten Absage wie bei der
Kollegin Mast gerechnet; aber Sie haben wahrscheinlich
einkalkuliert, dass ich dann eine Kurzintervention hinterherschiebe.
Das wäre nicht so schlimm. Dann könnte ich ja antworten.
Ich möchte eine Anmerkung machen. Das Verhältnis
der Minderheit zur Mehrheit ist so eine Sache. Es gibt in
Bezug auf die Mindestlohnregelung eine Lex FDP. Eigentlich kann der Arbeitsminister oder die Arbeitsministerin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären. In Ihrem Fall - so haben Sie das vereinbart - darf
die Minderheit im Kabinett, nämlich die FDP, das verhindern. Da könnte man fragen: Wie steht es hier um das
Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit? Aber das lasse
ich jetzt einmal.
({0})
Die Frage, die ich konkret stellen und von Ihnen beantwortet bekommen möchte, bezieht sich auf das öffentliche Interesse. Hier wurde deutlich gesagt, es gebe
kein besonderes öffentliches Interesse, den Tarifvertrag
für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Falle ist
es mit dem öffentlichen Interesse so eine Sache; denn
hier werden Dritte im Auftrage des Staates tätig, nämlich
im Auftrag der BA. Hier stellt sich die Frage, ob es ein
besonderes öffentliches Interesse gibt. Würden Sie ausdrücklich ausschließen, dass das besondere öffentliche
Interesse, das dahinterstecken könnte, darin liegt, dass
die BA höhere Aufwendungen hätte, wenn man in der
Weiterbildungsbranche mehr Geld zahlen würde? Das
könnte das besondere Interesse sein, das zu der politischen Entscheidung geführt hat, hier keine Mindestlöhne
einzuführen.
Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie werben immer für
faire Löhne. Ich glaube, wir alle wollen faire Löhne.
({0})
Es geht aber auch um faire Regeln in der Demokratie.
Die faire Regel lautet hier: Eine Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit - das ist ein Eingriff - kann es nur
geben, wenn der Verfahrensweg, der vereinbart worden
ist, eingehalten wird, nämlich wenn es zunächst eine Befassung im Tarifausschuss dazu gibt und die Bundesregierung auf der Grundlage dieser Befassung entscheiden
kann. Die Zusammensetzung der Bundesregierung folgt
demokratischen Regeln. Insofern kann ich hier keine
Minderheitsblockade durch die FDP erkennen. Wir haben nämlich ein vereinbartes demokratisches Verfahren,
das eingehalten wird.
({1})
Johannes Vogel ({2})
Insofern glaube ich, dass Ihre Frage ins Leere geht.
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung klare Kriterien hat, um zu definieren, ob ein öffentliches Interesse
vorliegt. Deshalb orientiert sie sich am Votum des Tarifausschusses, der dafür da ist - ich habe es schon gesagt -,
die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Auch
in diesem Fall geht es um eine Wirtschaftsbranche, auch
wenn hier öffentliche Auftraggeber im Spiel sind. Sie haben das Verfahren doch erfunden.
({3})
Es ist richtig, dass wir es vernünftig anwenden und nicht
behaupten, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe das Gefühl, dass Ihr Antrag - Herr Kollege Schaaf,
Sie können sich setzen; ich komme zum Schluss - insgesamt eher auf die Innenwirkung abzielt. Ich glaube, es ist
eine Art Olaf-Scholz-Gedächtnisantrag. Sie wollen nachträglich legitimieren, dass in der letzten Legislaturperiode
alle Register gezogen wurden, um verschiedene Branchen einzubringen, und täuschen die Öffentlichkeit mit
Ihrem rhetorischen Geholze.
({4})
Das finde ich unredlich.
Sie übersehen, dass alles dagegenspricht: Man kann
weder von grassierenden Dumpinglöhnen in der Branche
sprechen,
({5})
noch gibt es eine Repräsentativität. Wir wollen eben
nicht, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren. Es
gibt auch kein öffentliches Interesse, weil der Tarifausschuss nicht dafür ist. Insofern freue ich mich auf die
Diskussion im Ausschuss. Es gibt noch spannende Detailfragen zu klären. Wir können unseren Disput im Ausschuss gerne fortsetzen.
({6})
Um die Koalition bzw. die FDP von Ihrem Antrag zu
überzeugen, müssen Sie sich schon noch bessere Argumente einfallen lassen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Weg ist frei für einen Mindestlohn, so lautete Anfang 2009 die frohe Botschaft, als die
Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenommen wurde. Nun ist die Euphorie verflogen. Am letzten
Montag ging der Brief der Bundesregierung an die Antragsteller heraus. In ihm heißt es lapidar: Ein öffentliches
Interesse liegt nicht vor. Der Mindestlohn ist abgelehnt. Es wurde keine Begründung genannt. Da verschlägt es
mir fast die Sprache.
({0})
Gestern im Ausschuss - es wurde schon angesprochen - hat Herr Staatssekretär Brauksiepe auf Nachfrage
das fehlende Interesse mit der niedrigen Tarifbindung
begründet. Ich kann nur sagen: Ich finde es unglaublich,
dass dem Ministerium wohl nicht bekannt ist, welche
Kriterien bei der Prüfung des öffentlichen Interesses angelegt werden müssen. Laut einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
1977 liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn eine Gefährdung des Arbeitsfriedens durch eine Aushöhlung des
Tarifvertrags vorliegt oder wenn durch eine AVE für Außenseiter, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag, angemessene Arbeitsbedingungen gesichert und damit Lohndrückerei und sogenannte Schmutzkonkurrenz beseitigt
werden können.
({1})
Die niedrige Tarifbindung ist also kein Ablehnungsgrund, im Gegenteil.
({2})
Legt man die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts
an, dann ist der Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche sehr wohl im öffentlichen Interesse.
({3})
Die Prüfung des Bundesarbeitsministeriums ist also völlig verfehlt.
Ein paar Worte zur Branche selbst. Sie betonen immer
wieder: Bildung, Arbeitsmarktintegration, aber auch der
Fachkräftemangel stehen im Mittelpunkt Ihrer Politik. Doch nun müssen viele Lehrkräfte weiter unter schlechten oder sogar prekären Bedingungen arbeiten. Wir dürfen nicht vergessen: Wir reden über Beschäftigte, deren
Aufgabe es ist, erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen zu qualifizieren. Ich kenne die Branche.
Ich war nämlich früher dort tätig. Anhaltender Preisverfall für Bildungsmaßnahmen, beispielloses Lohndumping und massive Tarifflucht der Arbeitgeber - das ist die
Realität. Die Beschäftigten haben zum großen Teil einen
Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, und doch werden sie behandelt wie Pädagogen zweiter Klasse.
({4})
Bedenken Sie auch, dass der Mindestlohn nur ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre; denn viele, die
in dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und Honorarkräfte. Auch sie müssen Arbeitsbedingungen und
Honorare hinnehmen, die alles andere als angemessen
sind. Deswegen sind neben Mindestlöhnen auch Min6908
desthonorare notwendig, um dieser besonderen Branche
gerecht zu werden. Ich appelliere an die Regierungsfraktionen und übrigens auch an die Gewerkschaften: Befassen Sie sich auch mit diesem Thema! Vor allem aber revidieren Sie Ihre Meinung zum Mindestlohn! Setzen Sie
sich für die Einführung des Mindestlohns ein!
({5})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion, am letzten Donnerstag sagte Ministerin
von der Leyen bei Maybrit Illner, es sei absolut richtig,
dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Mindestlöhne für
Einzelbranchen aushandeln können.
Warum zeigen Sie eigentlich keine Geschlossenheit?
Warum unterstützen Sie Ihre Ministerin nicht? Warum
setzen Sie sich nicht einmal gegen die FDP durch? Ich
gehe davon aus, dass die FDP auch bei diesem Mindestlohn wieder auf der Bremse stand.
({6})
Zeigen Sie der FDP bei diesem Thema endlich einmal
Kante. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern: Wir
Grünen werden bei diesem Thema nicht aufgeben. Wir
streiten so lange mit Ihnen, bis Sie endlich die Realität
auf dem Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen und Mindestlöhne im Sinne der Beschäftigten einführen.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Kollegin, Sie haben uns pünktlich zu Ihrem
50. Geburtstag das Geschenk einer Rede gemacht. Herzlichen Dank und Gratulation zu Ihrem Geburtstag!
({0})
Ich erteile nun Kollegen Ulrich Lange für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch ich
gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wir beschäftigen uns heute mal wieder mit dem Thema Mindestlohn.
({0})
Frau Müller-Gemmeke, es geht Ihnen nicht nur um die
Weiterbildungsbranche, sondern auch um das Thema
„Mindestlohn im Allgemeinen“.
({1})
Dagegen möchte ich meinen heutigen Beitrag ganz
konkret auf die Branche beschränken. Der Staatssekretär
Brauksiepe hat die Daten bereits vorgelegt. Es steht
keine Entscheidung aus. Der Tarifausschuss hat mit 3 : 3
abgestimmt. 3 : 3 heißt: keine positive Entscheidung.
({2})
Bevor wir jetzt in die Diskussion über das öffentliche
Interesse einsteigen, sollten wir uns einem kleinen
Grundlagenseminar zum Thema Tarifrecht widmen. Ich
habe mir gestern Abend die Mühe gemacht, den Kommentar von Däubler zum TVG herauszusuchen. Ich bin
froh, dass ich ihn mitgenommen habe, und hoffe, dass
ich hier nicht in die falsche Ecke gestellt werde.
({3})
- Ja. Aber wichtig im Zusammenhang mit der Allgemeinverbindlicherklärung ist die Definition des Begriffs
„öffentliches Interesse“. - Es ist ganz klar festzuhalten,
dass die Exekutive, also das Ministerium, diese Frage in
völlig eigenständiger Verantwortung prüft;
({4})
das hatte der Herr Kollege Vogel vorhin schon einmal in
aller Deutlichkeit gesagt.
Frau Kollegin Kramme, in der gestrigen Ausschusssitzung waren wir uns alle einig, dass es einen breiten
Beurteilungsspielraum und ein weites normatives Ermessen gibt. Sie werden dem Ministerium am Ende
nicht vorhalten können - nur dann bestünde der Anspruch -, dass ein Nullermessen oder ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt. Ich glaube nicht, dass Sie zu dieser
Einschätzung kommen können. Nur dann, wenn das Ergebnis schlechthin unvertretbar ist, würde überhaupt ein
Anspruch auf die Einführung eines Mindestlohnes über
die Allgemeinverbindlichkeit bestehen - sonst nicht.
({5})
- Wir sind gerade bei der Definition des öffentlichen Interesses.
({6})
Ich habe gerade gesagt, dass wir im Ausschuss gerne ein
Grundlagenseminar abhalten können, bevor wir hier wirr
durcheinanderreden und über Begriffe reden, die wir
manchmal nicht richtig ausfüllen können.
({7})
Schreiben Sie sich bitte ganz dick in Ihr Buch hinein:
Die Allgemeinverbindlichkeit ist Ausdruck der Subsidiarität und kann nur in dieser Funktion konkretisiert
werden. Auch das müssen Sie in die Abwägung einbeziehen. Genau das hat das Ministerium getan.
({8})
Im Rahmen dieser Abwägung spielt es natürlich eine
Rolle, ob Repräsentativität gegeben ist oder nicht. Bitte
bedenken Sie, dass wir hier über ein grundgesetzlich geschütztes Recht sprechen. Wir reden über die Koalitionsfreiheit, auch über die negative Koalitionsfreiheit, einem
Tarifvertrag nicht beizutreten. Das müssen Sie in die Abwägung einbeziehen.
({9})
Wir werden nicht die Hand dazu reichen, den Vorrang
der autonomen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien durch eine rundum gültige Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auszuhöhlen. Sie versuchen,
damit durch die Hintertür den gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen.
({10})
Bitte halten Sie sich an Recht und Gesetz! Manchmal
hilft auch ein Blick in das Grundgesetz.
({11})
Liebe Kollegin Mast, Sie hatten in einem Punkt recht:
Die SPD hatte das BMAS viele Jahre in Händen.
({12})
Ich werde jetzt ein paar Zahlen nennen, um deutlich zu
machen, wie die Situation wirklich ist: 2009, als Sie den
Bundesarbeitsminister stellten, hatten wir in Deutschland rund 71 000 Tarifverträge. 2009 hatten wir 463 für
allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge; das sind
0,65 Prozent. Diese Tarifverträge galten in erster Linie
für die Baubranche im Rahmen von Ausgleichs- und Urlaubskassen. Wir haben aber nur - das gilt für Ihre Zeit 44 Tarifverträge im Entgeltbereich im engeren Sinn; diesen Bereich wollen Sie hier regeln. Also tun Sie nicht so,
als hätten wir eine Lücke geschaffen oder als würden wir
eine Lücke nicht schließen. Sie hätten diese Lücke längst
schließen können, wenn Sie damals dieser Ansicht gewesen wären.
({13})
Ich fasse zusammen: Bundesarbeitsministerin von der
Leyen hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Sie hat
ordnungsgemäß geprüft. Sie weigert sich aber - wir weigern uns auch -, eine Allgemeinverbindlicherklärung
nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten abzugeben. Nehmen Sie im Sinne von Recht und Gesetz Ihren
Antrag zurück!
Herzlichen Dank.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Lange, zunächst einmal herzlichen Dank für die Nachhilfe in Sachen öffentliches Interesse. Ich komme gleich
darauf zurück und sage, wie ich das definieren würde.
Wir haben in dieser Woche eine Hiobsbotschaft erhalten: Frau von der Leyen hat es abgelehnt, den Tarifvertrag für Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung im
Rahmen von SGB II und III für allgemeinverbindlich zu
erklären. Die Regierung lehnt also einen Mindestlohn ab
und schaut damit dem Lohndumping in dieser Branche
tatenlos zu. So muss man das sehen.
({0})
Herr Vogel, da hilft auch kein Zitat von Goethe. Die
Begründung für die Entscheidung des BMAS bleibt
nicht nachvollziehbar. Es liegt kein öffentliches Interesse
vor? Liegt es nicht im öffentlichen Interesse, Bildungsanbieter für ihre Arbeit angemessen zu bezahlen? Gute
Bildung braucht Qualität, und - das haben wir gerade
von Frau Mast gehört - Qualität hat ihren Preis. Herr
Staatssekretär Brauksiepe, liegt tatsächlich kein öffentliches Interesse vor, wenn der Tarifvertrag für mehr als
23 000 Beschäftigte gelten würde? Das ist völlig inakzeptabel. 23 000 Menschen sind keine kleine Gruppe.
Hier geht es um Tausende Ausbilder, Meister, Lehrkräfte
und Sozialpädagogen. Da hilft kein Schönreden. Was sagen Sie den Betroffenen?
({1})
Wir erwarten äußerst viel von der Weiterbildungsbranche: Sie soll Berufstätige weiterqualifizieren, sie
soll den drohenden Fachkräftemangel abwenden, sie soll
Arbeitslose für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
fitmachen, und sie soll Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft integrieren. Kurz gesagt:
Die Branche wird in politischen Sonntagsreden zum
Heilsbringer hochstilisiert und soll helfen, unsere dringendsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Weiterbildung wird mit Wohlstand und Teilhabe gleichgesetzt.
Da sind wir uns alle einig, im Handeln aber nicht. In der
Praxis können Weiterbilderinnen und Weiterbilder ihre
Aufgaben nicht erfüllen, weil ihnen schlichtweg die Mittel fehlen. Das fängt beim Unterrichtsmaterial an und
hört bei den Gehältern auf. Die notwendigen Investitionen in die Weiterbildung sind unterblieben. Wenn Weiterbildung eine echte und tragfähige Säule in unserem
Bildungssystem werden soll, müssen wir für eine solide
Finanzierung sorgen.
({2})
Nachhaltig finanzierte Weiterbildung ist die beste Form
der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Viele hochqualifizierte Lehrkräfte müssen trotz
Hochschulabschluss mit einem Bruttoeinkommen zwischen 1 200 und 1 800 Euro auskommen. Manche sind
gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Leistungen
nach dem SGB II aufzustocken. Ich frage Sie: Ist das
nicht an der Grenze zum Hungerlohn?
({3})
- „Das ist Hungerlohn“, sagt mein Kollege.
({4})
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert gemeinsam mit
den Gewerkschaften einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche.
({5})
Ich habe den Eindruck, dass einige Redebeiträge nicht
von praktischer Erfahrung getragen sind. Deswegen
möchte ich meine Gründe für diese Forderung darlegen.
Mindestlöhne sind ein Garant für faire Arbeitsbedingungen, weil sie die Existenz sichern. Mindestlöhne verhindern Lohndumping. Mindestlöhne verhindern Altersarmut
und machen unabhängig von staatlichen Transferleistungen.
({6})
Mindestlöhne wirken sich positiv auf die Marktwirtschaft aus, weil sie die Nachfrage stärken. Und Mindestlöhne fördern die Gleichberechtigung, weil momentan
vor allem Frauen von Niedriglöhnen betroffen sind. So
viele Argumente sind kein öffentliches Interesse?
Zu Ihrer Anmerkung, die Erde sei eine Scheibe,
möchte ich sagen: Dies war über viele Jahre eine anerkannte Lehre. Irgendwann hat sich etwas geändert, und
wir haben festgestellt, dass die Erde eben keine Scheibe
ist, Herr Kollege, sondern rund.
({7})
Deswegen haben Sie vielleicht noch die Chance, irgendwann festzustellen, dass Mindestlöhne europaweit anerkannt sind und in der EU als Selbstverständlichkeit gelten.
({8})
Meine Damen und Herren, Herr Lange, wir werden
jedenfalls nicht mal wieder, sondern immer wieder an
diesem Thema festhalten.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3173 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({0}), Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ausländische Bildungsleistungen anerkennen Fachkräftepotentiale ausschöpfen
- Drucksache 17/3048 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Priska Hinz ({4}), Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie statt Streit - Fachkräftemangel beseitigen
- Drucksache 17/3198 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Als erster Redner
zu diesem Tagesordnungspunkt
({0})
- die Letzten werden die Ersten sein; das ist richtig möchte ich zum Anfang meiner Rede auf die Debatte
von heute Morgen zurückkommen. Die Staatsministerin
hat zu Recht gesagt, dass ein solches Anerkennungsgesetz ein Meilenstein in der Integrationspolitik sein wird.
Diese Ansicht teilen wir ausdrücklich.
Marcus Weinberg ({1})
Ich komme deswegen auf die Debatte von heute Morgen zurück, weil ich glaube, dass dort, aber auch in der
Integrationsdebatte insgesamt einiges falsch dargestellt
worden ist. Zwei Punkte haben mich besonders geärgert.
Der eine ist, dass von der Opposition immer wieder der
Eindruck erweckt wurde, dass sich in den letzten Jahren
bei der Integration nichts verändert hätte. Da muss man
ganz deutlich sagen: Das ist falsch. Ich zitiere einmal aus
dem Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010.
Dort heißt es:
Sie
- die Integration ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut
gelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft den Anforderungen von Zuwanderung und Integration pragmatisch und zuversichtlich gegenüber.
Weiter heißt es:
Die deutschen Regelungen zu Migration und Integration unterscheiden sich in ihren Grundelementen
kaum mehr von denen der europäischen Nachbarn.
Sie sehen, es gibt einen Prozess, der durchaus zufriedenstellend ist.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Alpers von der Linksfraktion?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Sie haben gerade betont, welche Entwicklungen es bei der Integration gab. Ich glaube, auch
Sie haben zur Kenntnis genommen, dass im Berufsbildungsbericht explizit hervorgehoben wurde, dass junge
Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt
einen schlechteren Schulabschluss haben als junge Menschen ohne Migrationshintergrund, dass sie aber selbst
dann, wenn sie einen gleichwertigen Schulabschluss
oder sogar gleiche bzw. bessere Noten als Menschen
ohne Migrationshintergrund haben, nicht integriert werden, weil sie zum Beispiel Ali heißen. Im Berufsbildungsbericht wird die Frage aufgeworfen, warum das so
ist. Wie passen diese Fakten zu der von Ihnen erwähnten
massiven Entwicklung bei der Integration?
Darauf will ich gerne eingehen. Das Zitat, das ich angeführt habe, bezog sich auf die Gesamtbetrachtung der
Integration. Für uns ist von elementarer Bedeutung, Entwicklungen zu bewerten. Völlig richtig ist - darauf
wollte ich gerade hinaus -, dass insbesondere bei der
Entwicklung im schulischen Bereich, auch was die Abschlüsse angeht, nach wie vor große Defizite bestehen.
Zum Beispiel ist der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der keinen Abschluss hat, doppelt so
hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Jugendlichen. Der Anteil der Eltern mit Migrationshintergrund, der seine Kinder in eine Krippe gibt, ist nur halb
so hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Eltern. Hier gibt es, wie gesagt, noch große Defizite.
({0})
Ein Problem ist die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen; deshalb will ich jetzt auf diesen
Punkt zu sprechen kommen. An der Debatte heute Morgen hat mich in diesem Zusammenhang etwas geärgert.
Man kann natürlich immer wieder den Vorwurf erheben:
Das kommt alles zu spät; ihr redet doch nur.
({1})
Ich möchte daran erinnern: Eine Integrationsbeauftragte,
einen Integrationsplan und eine Islam-Konferenz hat es
1992 und 1998 noch nicht gegeben. Hinzu kommt unser
Gesetz, das im Dezember dieses Jahres hoffentlich vorliegen wird.
({2})
Man kann, wie es der Kollege von der SPD heute Morgen getan hat, monieren, dass erst spät gehandelt wird.
Aber jetzt handeln wir. Richtig, das hätte man schon vor
zehn Jahren tun können. Damals haben wir diese Möglichkeit aber leider nicht gehabt.
Ein zentraler Punkt ist, wie gesagt, die Anerkennung
von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Ein Problem
dabei ist das mangelnde Bewertungs- und Anerkennungsverfahren. Hier sind zwei Ebenen der Betrachtung
voneinander zu unterscheiden.
Zunächst zur gesamtgesellschaftlichen Betrachtung,
die auch eine volkswirtschaftliche ist. Auf einige der negativen Daten, von denen in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede ist, möchte ich kurz eingehen. Die
Erwerbsquote von Zugewanderten beträgt 68 Prozent
und liegt damit deutlich unter der Erwerbsquote von Personen ohne Migrationshintergrund, die 75 Prozent beträgt. Die Arbeitslosenquote von Akademikern mit Migrationshintergrund ist dreimal so hoch wie die der
Deutschen, die einen akademischen Abschluss haben.
Hier geht Potenzial verloren. Das sind volkswirtschaftliche Ressourcen, die wir dringend heben müssen.
Die andere Ebene der Betrachtung bezieht sich auf
die Einzelschicksale der betroffenen Personen. Wir alle
kennen entsprechende Fälle, möglicherweise sogar aus
dem Wahlkreis. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen.
Erstes Beispiel. Denken Sie an die Frau, die aus Russland kommt und dort Medizin studiert hat, momentan
aber „nur“ eine Anstellung als Arzthelferin hat. Stellen
Sie sich einmal vor - die meisten von uns haben ja einen
Abschluss -, dass Sie ins Ausland gehen, Ihr Abschluss
dort aber nicht anerkannt wird, und stellen Sie sich die
Frage, welche Folgen es für Sie, Ihre Biografie und Ihre
Psyche hätte, nicht in dem Bereich arbeiten zu können,
Marcus Weinberg ({3})
in dem Sie ausgebildet wurden. Es ist ein Paradoxon,
dass uns 8 600 Mediziner fehlen, gleichzeitig aber junge
ausgebildete Menschen aus Russland oder anderen Ländern nicht im Medizinbereich arbeiten können.
Zweites Beispiel. Vergegenwärtigen Sie sich, welche
Entwicklungen im Pflegebereich auf uns zukommen. Im
Jahre 2020 werden uns 200 000 bis 300 000 Pflegefachkräfte fehlen. In Deutschland arbeiten viele Menschen
aus dem Ausland, die in dem Beruf, den sie erlernt haben, nicht arbeiten können. Wir haben also eine volkswirtschaftliche Verantwortung. Unter Integrationsgesichtspunkten haben wir aber auch eine Verantwortung
für die Menschen und ihre weitere Entwicklung.
Mit Blick auf die bisherige Rechtslage und aufgrund
der Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft haben wir entschieden, möglichst zügig ein Anerkennungsgesetz auf den Weg zu bringen; im Dezember dieses Jahres wollen wir einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen. 300 000 Akademikerinnen und Akademiker
sollen derzeit nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten.
Der Grund ist oft, dass kein allgemeiner Rechtsanspruch
auf ein Verfahren existiert. Richtig ist, dass ein Anerkennungsverfahren in reglementierten Berufen bisher zumindest für Spätaussiedler und EU-Bürger garantiert
wurde. Alle anderen Personen können zum Beispiel ein
im Ausland erworbenes Examenszeugnis nicht verwenden. Sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Berufen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen.
Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Mit einer
gesetzlichen Regelung müssen wir drei Ziele verfolgen:
Erstens brauchen wir die Verbindlichkeit, dass im
Ausland erworbene Abschlüsse und Qualifikationen zügig, nämlich innerhalb von sechs Monaten, bewertet
werden. Außerdem muss transparent gemacht werden,
welche Kriterien dabei zugrunde gelegt wurden. Es ist
wichtig, diese Bewertung innerhalb von sechs Monaten
vorzunehmen; denn nur so kann Verbindlichkeit geschaffen werden.
Zweitens sollten entsprechende Bescheide über den
Abschluss bzw. über die Qualifikation vorliegen bzw.
ausgestellt werden.
Drittens ist das alles nur sinnvoll, wenn man jedem
Bewerber die Chance gibt, durch Qualifizierung, wo Defizite bestehen, nachzuschulen. Das heißt, entsprechende
Angebote müssen vorliegen.
Was sind die Anforderungen an eine gesetzliche Regelung? Wichtigster Regelungsgegenstand eines entsprechenden Gesetzes muss die Festlegung eines Rechtsanspruchs auf ein Anerkennungsverfahren mit einer
tatsächlichen Besserstellung sein. Im Zusammenhang
damit - ich glaube, dass das sinnvoll und auch notwendig ist - muss die statistische Datenlage für Anerkennungsuchende und die zuständigen Stellen verbessert
werden, nicht wegen der Statistik, sondern weil wir sehen wollen, wo die Defizite liegen und wo nachgearbeitet werden muss, damit die verschiedenen Akteure
- Bund, Länder und andere - wissen, wo Defizite so
schnell wie möglich ausgeräumt werden müssen.
Nur mit einem solchen Gesetz schaffen wir politische
Ernsthaftigkeit. Es wird schon beobachtet werden, ob
wir die mittlerweile achte oder neunte Rede zu diesem
Thema halten.
({4})
Wer das tut, wird sagen, „Verbindlichkeit“ bedeute, dass
es auch irgendwann ein Gesetz gebe; denn nur mit einem
Gesetz erreichen wir, dass sich Zugewanderte aufgenommen fühlen.
({5})
Nur so erreichen wir, dass deren Potenziale unsere Gesellschaft bereichern, und nur so erreichen wir, dass deren intellektuelle Ressourcen unserer Wirtschaft nicht
verloren gehen.
({6})
Zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungen
zur Qualitätssicherung machen; das war uns auch in der
Diskussion wichtig.
({7})
Man kann natürlich die Quote erhöhen, indem man die
Qualität senkt. Das machen wir nicht, sondern wir legen
Wert darauf, dass es den Erhalt der Qualität des deutschen Ausbildungssystems weiterhin gibt, gerade weil
wir festgestellt haben, dass diejenigen, die in Deutschland eine Ausbildung gemacht haben, im Ausland erfolgreich sind, weil die Ausbildungsgänge anerkannt
werden. Deshalb gehen wir den Weg, die Qualifizierung
aufzuwerten und die Standards nicht abzusenken. Dann
haben wir beides erfüllt: Wir haben die Qualitätsstandards gehalten und denjenigen, die nach Deutschland gekommen sind, eine Chance gegeben, in ihrem jeweiligen
Beruf zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Swen Schulz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was machen
der Arzt, die Ingenieurin oder der Facharbeiter aus der
Türkei, aus Osteuropa oder aus einem arabischen Staat,
wenn der eigene Abschluss hier nicht anerkannt wird?
Heute früh haben wir den Achten Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer debattiert. Geschätzte 500 000 Menschen in Deutschland sind von der
Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse betroffen. Sie können nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten; sie müssen
aber irgendwie zurechtkommen. Sie leben hier legal und
wollen ihre Kenntnisse sowie ihre Fähigkeiten einbrinSwen Schulz ({0})
gen, doch sie werden daran gehindert. Das ist eine unglaubliche Dummheit. Wir lassen Potenziale ungenutzt
links liegen, obwohl immer lauter und immer drängender über Fachkräftemangel geklagt wird. Es gibt immer
mehr Rufe nach Zuwanderung von Fachkräften, aber wir
kümmern uns nicht um die Menschen, die bereits hier leben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir
ändern.
({1})
Diese Erkenntnis ist nicht neu.
Lieber Kollege Weinberg, zu den Fortschritten sage
ich so viel: In der Großen Koalition hat die SPD dazu
Vorschläge gemacht. CDU und CSU haben sie abgelehnt.
({2})
Im letzten Jahr haben wir Anträge von der SPD, von den
Grünen und von der Linksfraktion diskutiert. Langsam,
ganz langsam kommt die Bundesregierung in die Gänge.
Erst wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier der Bundesregierung in die Welt gesetzt. Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführt und das Thema
mehrfach diskutiert. Neulich hat die Bundesministerin
einen Referentenentwurf für ein Anerkennungsgesetz für
die zweite Oktoberhälfte angekündigt. Im Dezember soll
dann der Gesetzentwurf kommen. Herr Kollege
Weinberg, Sie haben recht: Heute hat Staatsministerin
Böhmer gesagt, dass wir dieses Gesetz ganz schnell
bräuchten. Ich finde es super, wie die Regierungskoalition darauf jetzt endlich kommt.
({3})
In dieser Situation präsentieren nun auch die Koalitionsfraktionen einen Antrag zum Thema. Wow, wir sind
echt beeindruckt, wie engagiert Sie dieses Thema forcieren. Das ist super mutig, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition.
({4})
Allein: Der Antrag hilft jetzt nicht weiter, weil wir alle
über den Punkt, dass ganz dringend etwas gemacht werden muss, längst weit hinaus sind. Beim heutigen Stand
der Debatte ist von den Regierungsfraktionen eigentlich
mehr als ihr vorliegender Antrag mit solchen Allgemeinplätzen zu erwarten. Wenn dann der Gesetzentwurf endlich, endlich zur Beratung vorliegt, werden wir sehen,
was der Gesetzentwurf im Einzelnen enthält und ob er
ausreicht.
Was muss getan werden? Wir leiden derzeit unter einem wahren Anerkennungschaos. Es wird nach Berufsgruppen unterschieden, nach Anerkennungszwecken
und danach, ob es sich um Spätaussiedler, um EU-Bürger oder um Drittstaatler handelt. In den einzelnen Bundesländern herrschen völlig unterschiedliche Verwaltungspraktiken. Wenn man einmal ehrlich ist, dann muss
man sagen: Letztlich blickt niemand wirklich durch. Das ist bürokratisch und ungerecht.
({5})
Nötig ist ein Rechtsanspruch für alle auf Bewertung
der eigenen Abschlüsse und auf Durchführung eines Anerkennungsverfahrens. Wir brauchen ausreichend viele
Anerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahren
darf höchstens sechs Monate dauern, damit in absehbarer Zeit auch tatsächlich Klarheit herrscht. Das Ziel muss
eine zentrale Steuerung und eine bundesweit verbindliche Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilanerkennungen ausgesprochen werden können, müssen Informationen und Angebote über Nach- und Weiterqualifizierungen - auch für die Sprache - verlässlich zur Verfügung gestellt werden.
({6})
Damit diese Angebote tatsächlich angenommen werden
können, sind entsprechende finanzielle Förderinstrumente nötig. Es hilft ja nichts, wenn es Angebote gibt,
die Leute sie sich aber gar nicht leisten können. Wir haben darum schon im letzten Jahr in unserem Antrag ein
Einstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vorgeschlagen. Das wäre dann wirklich ein großer Schritt. Wir
freuen uns - so viel dann doch positiv -, dass die Koalitionsfraktionen diesen Punkt in ihrem Antrag aufgegriffen haben, wenn auch mit einer noch etwas zarten Formulierung.
({7})
Wie gesagt: Wir sind gespannt auf den Gesetzentwurf
der Bundesregierung. Hier kommt es dann tatsächlich
zum Schwur. Ich hoffe, ich täusche mich nicht; aber da
die Bundesregierung schon die bescheidene BAföG-Erhöhung fast an die Wand gefahren hat,
({8})
bin ich bei diesem Thema ziemlich skeptisch.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier auch über einen wichtigen Beitrag zur Integration. Es geht hier um die Anerkennung von Qualifikationen; das heißt, es geht um die Anerkennung der
Lebensläufe der Menschen. Es geht darum, ihnen zu vermitteln, dass sie auch tatsächlich gewollt sind und gebraucht werden, und darum, ihnen die Möglichkeit zu
verschaffen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich hier
als aktive, produktive Mitglieder der Gesellschaft einzubringen. Mit einem Wort: Es geht auch um Respekt. Dieser Gedanke wird in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, leider mit keinem
Wort erwähnt. Sie verstehen noch immer nicht, wie
wichtig eine Anerkennungskultur ist.
({9})
Ich möchte noch auf den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen eingehen, den wir heute auch diskutieren.
Selbstverständlich haben Sie recht, liebe Kolleginnen
Swen Schulz ({10})
und Kollegen: Es ist ein Gesamtkonzept mit unterschiedlichen Maßnahmen zur Behebung des Fachkräftemangels nötig. Natürlich haben auch wir von der SPD umfassende Überlegungen angestellt. Sie haben Ihre jetzt in
einem Antrag zusammengeschrieben. Vieles von dem
können wir - zumindest in der Zielrichtung - unterschreiben.
Ich will auf einen besonders wichtigen Bereich eingehen, nämlich auf die Kindertagesstätten und die Schulen.
Lieber Kollege Weinberg, das hat ja auch eine ganze
Menge mit Integration zu tun.
({11})
Ich will einmal daran erinnern, dass es die rot-grüne
Bundesregierung war, die gegen den Widerstand aus der
Union ein Ganztagsschulprogramm in ganz Deutschland
durchgesetzt hat.
({12})
Inzwischen hört sich das bei der CDU und der CSU ganz
anders an. Sie sind hier durchaus positiv gestimmt.
Heute früh hat sogar Staatsministerin Böhmer ausdrücklich mehr Ganztagsschulen gefordert. Das ist gut; aber
ich frage: Warum machen Sie dann an dieser Stelle
nichts?
Im Rahmen der Umsetzung des Hartz-IV-Urteils des
Bundesverfassungsgerichts wollen Sie ein paar Bildungsgutscheine verteilen. Was aber fehlt, ist ein Angebot an die Länder und an die Kommunen, die Kindertagesstätten und die Schulen zu verbessern. Es kann doch
nicht darum gehen, Nachhilfe zu vermitteln, wenn alles
schon ganz schwierig ist, sondern die Kitas und die
Schulen müssen so gut werden, dass Nachhilfe unnötig
wird. Das muss doch das Ziel sein.
({13})
Es ist ja nicht so, dass Sie sich da nichts vornehmen;
es ist noch schlimmer. Sie torpedieren sogar die Förderung von Kindern.
({14})
- Ja, hören Sie mal zu. - Sie halten stur daran fest, den
Eltern ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie auszahlen
zu wollen, dafür, dass sie ihre Kinder nicht in die Kita
schicken.
({15})
Herr Weinberg, Sie haben eben beklagt, dass es gerade
im Migrantenbereich an der Stelle Probleme gibt. Ich
glaube, dass das tatsächlich der völlig falsche Weg ist,
der im Übrigen auch Milliarden kosten wird, die viel
besser in die Kitas und in die Schulen investiert wären.
Ob bei der vorschulischen Bildung, den Ganztagsschulen oder der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen: Immer und immer wieder sehen
wir, dass die CDU/CSU erst blockiert und dann ganz
mühsam hinterherschleicht. Kommen Sie bitte endlich
einmal voran!
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Heiner Kamp für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir über
ein wesentliches Anliegen verschiedener Politikfelder:
die Bekämpfung des Mangels an Fachkräften und Hochqualifizierten in Zeiten des demografischen Wandels.
Dieser hat den deutschen Arbeitsmarkt bereits mit voller
Wucht erreicht. Fehlende Fachkräfte stellen in vielen
Branchen schon heute ein strukturelles Problem dar.
Der durch den Fachkräftemangel verursachte Wertschöpfungsverlust ist gewaltig: Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln schätzt den Wohlstandsverlust für
unser Land auf rund 15 Milliarden Euro, und das im Krisenjahr 2009. Nun müssen wir aufpassen, dass der sich
abzeichnende wirtschaftliche Aufschwung im XL-Format nicht am Mangel an gut ausgebildeten Kräften
scheitert. Insofern freue ich mich über die Wachstumsprognose des IWF von 3,3 Prozent für 2010. Das ist ein
Anstieg um 1,9 Prozentpunkte, nämlich von 1,4 auf
3,3 Prozent. Über diese schönen Zahlen können wir uns
alle freuen.
({0})
Nun gilt es, dem Fachkräftemangel mit einem breiten
Ansatz zu begegnen, um unsere Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit einerseits und Wachstum und Wohlstand andererseits nachhaltig zu sichern. Diese Herausforderung ist vorwiegend eine Querschnittsaufgabe, bei
der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zusammenwirken müssen. Aber auch Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Problematik ernst nehmen und
frühzeitig bei der Entwicklung von Handlungskonzepten
mitwirken.
({1})
Der Fachkräftemangel wird schon allein aufgrund seiner demografischen Dimension alle Wirtschaftsbereiche
betreffen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass selbst
Großunternehmen wie die Deutsche Telekom bereits
heute Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze in den
neuen Bundesländern zu besetzen, wird deutlich, wie
ernst die Lage schon heute ist. In den nächsten zehn Jahren werden 6,5 Millionen Personen mit abgeschlossener
Lehre das Rentenalter erreichen. Zwischen 2020 und
2030 werden es sogar 8,4 Millionen sein. Gerade im Bereich der Facharbeiter werden wir es also mit einem gravierenden Mangel an entsprechend Qualifizierten zu tun
bekommen.
Auf dem Ausbildungsmarkt werden die Azubis rar.
Vor allem ostdeutsche Ausbildungsunternehmen suchen
händeringend nach Azubis. Da liegt der Gedanke nahe,
sich in der Tschechischen Republik oder Polen nach motivierten jungen Interessenten umzusehen.
Im Juli 2010 fehlten in Deutschland 36 800 Ingenieure.
Der Fehlbedarf wird in den nächsten Jahren noch drastisch steigen. Der Aufschwung wird die Nachfrage weiter verstärken. Eine solide Wirtschaftspolitik muss auf
dieses Problem aufmerksam machen. Sie darf sich pragmatischen Lösungsansätzen nicht verschließen. So verwundert es nicht, dass Rainer Brüderle jüngst die Zuwanderungsdebatte angestoßen hat.
({2})
In dem heute zur Debatte stehenden Antrag haben die
Koalitionsfraktionen einen wesentlichen Aspekt zur Milderung des Fachkräftemangels aufgegriffen: die Anerkennung ausländischer Bildungsleistungen. Wir nutzen
noch zu wenig Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt
und unsere Gesellschaft. Derlei Vergeudung können wir
uns als Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht mehr leisten.
({3})
Überschriften wie „Putzen trotz Promotion“ in der Financial Times Deutschland Anfang dieses Monats
möchte ich möglichst nicht mehr lesen.
FDP und Union sind überzeugt, dass der beste Weg zu
erfolgreicher Integration über die Teilhabe am Arbeitsmarkt und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung
führt. Wenn zugewanderte Ingenieure Taxi fahren oder
sogar auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind,
ist das einerseits für den Betroffenen frustrierend. Die
Gesellschaft hat andererseits gleich den doppelten Schaden: ein unglückliches Mitglied sowie entgangene Steuern und Abgaben.
Wir wollen für Zuwanderer einen Rechtsanspruch auf
eine Bewertung ihrer im Ausland erworbenen Abschlüsse schaffen. Die Regelungen für das Bewertungsund Anerkennungsverfahren wollen wir vereinfachen
und das Verfahren selbst - wir halten eine Frist von
sechs Monaten für angemessen; Herr Schulz hat das bereits angesprochen - beschleunigen. Beim Verfahren ist
uns insbesondere die Transparenz ein wichtiges Anliegen. Zuwanderer sollen möglichst schon in ihrem Heimatland Zugang zu Informationen über das Bewertungsund Anerkennungsverfahren betreffend ihren Bildungsabschluss in Deutschland haben. In diese Informationsanstrengungen wollen wir die deutschen Auslandsvertretungen, die Außenhandelskammern und die GoetheInstitute natürlich einbeziehen.
Mit dem heutigen Antrag machen wir einen weiteren
wichtigen Aufschlag, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Mit den Bildungsketten kümmern wir uns bereits
um bessere Ausbildungschancen für junge Menschen, indem wir bestehende Förderinstrumente zusammenführen
und dann in die Fläche tragen. Sie sind ein wesentlicher
Baustein bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Noch in diesem Monat werden wir den außerordentlich
erfolgreichen Ausbildungspakt mit einer qualitativen
Aufwertung verlängern. Integration gelingt über Teilhabe
und Einbindung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Sozialhilfekarrieren zementieren Differenzen, weil sie Abhängigkeit
und Abgeschiedenheit zementieren. Deswegen kann es
nicht richtig sein, unser Sozialsicherungssystem über das
jetzige Maß auszuweiten. Nein, wir müssen die Wege in
die Arbeit erleichtern und durch entsprechende Bildungsangebote begünstigen.
({4})
Eine kluge und zugleich aktive Zuwanderungspolitik
müssen wir zeitnah auf den Weg bringen. Der mit dem
demografischen Wandel Hand in Hand gehende Fachkräftemangel gibt uns hier klare Leitlinien. Wir brauchen
ein modernes Recht, das Zuwanderung über transparente
Kriterien wie Qualifikation, Integrationsfähigkeit und
Bedarf steuert. Mit der Anerkennung ausländischer Bildungsleistungen schaffen wir eine wichtige Voraussetzung für die Zuwanderung von Hochqualifizierten.
({5})
Sie sehen: Diese Koalition packt die Herausforderungen und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft an. Die
drei Punkte aus der Überschrift des Koalitionsvertrages
sind dabei der Kompass: Wachstum sehen alle Wirtschaftsforschungsinstitute. Bildung bringen wir durch
unsere zahlreichen Initiativen wie die heute vorgestellte
und den größten Mittelaufwuchs in der Geschichte richtig voran. Zusammenhalt erreichen wir durch echte Teilhabe und Mitwirkungsmöglichkeiten zum Beispiel für
Migranten. Ich lade Sie ein: Machen Sie doch bitte mit!
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Agnes Alpers.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Schon lange versprochen und doch noch immer nicht in Sicht! Herr Kollege,
wir nehmen die Einladung gern an, wenn der Gesetzentwurf nur endlich käme und das Ganze nicht dahinschleichen würde. Vielen Dank.
({0})
Sie reden immer vom Fachkräftemangel. Aber die
Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen kriecht und siecht dahin und liegt eigentlich
noch immer auf Eis. Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und FDP, haben nun einen Antrag vorgelegt,
der schon erahnen lässt, welche Gruppe beim Thema
Anerkennung besonders in den Fokus gerät, Ihnen am
Herzen liegt. Das sind die Akademikerinnen und Akademiker, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben.
Ich war erstaunt, wie schnell Sie die Migrantinnen und
Migranten unter den Tisch fallen lassen, die keinen akademischen, sondern „nur“ einen schulischen oder beruflichen Abschluss haben. Diese werden immer nur am
Rand erwähnt. Damit ignorieren Sie auf einen Schlag
über 2 Millionen Menschen, die ihren Bildungsabschluss
im Ausland erworben und sich inzwischen zusätzliche
Qualifikationen angeeignet haben.
Das alles zeigt für mich eines: Es geht Ihnen gar nicht
darum, alle Migrantinnen und Migranten mit ihren beruflichen Kompetenzen und Leistungen anzuerkennen.
Sie wollen lediglich - ich zitiere aus Ihrem Antrag „eine bedarfsorientierte Arbeitsmarktintegration“. Von
Integration zu sprechen und dann nur scharf auf die verwertbaren akademischen Qualifikationen zu sein, das hat
nichts mit Integration zu tun.
({1})
Die Bundesregierung grenzt die Gruppe der Berechtigten noch weiter ein. Sie ignoriert im Achten Ausländerbericht einfach die Gruppe der über 55-Jährigen.
Auch Bildungsabschlüsse, die vor mehr als zehn Jahren
erworben wurden, sind nutzlos bei der Anerkennung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt etliche Abgeordnete, die schon über zehn Jahre hier im Parlament
sind. Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie bekämen
morgen die Mitteilung, dass all ihre Berufsabschlüsse
nicht mehr gelten. Na, da hätten wir richtig Stimmung
im Parlament.
({2})
Ich kann nur feststellen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und FDP: Sie sind nicht bei
den Sorgen und Nöten der Menschen angekommen.
In Ihrem Antrag ist zu lesen, dass Sie die Kriterien zur
Bewertung bundeseinheitlich regeln wollen. Aber wie
sieht es denn mit den Gesetzen zur Anerkennung aus?
Für jeden gilt etwas anderes. Wir haben insgesamt weit
über 100 Gesetze in den Ländern und im Bund. Wie soll
die Anerkennung denn nun geregelt werden: bundeseinheitlich oder wieder in Stufen für EU-Bürger, Aussiedler
und Bürger aus Drittstaaten? Und was ist mit den Asylbewerbern? Welche Stellen bewerten denn ihre beruflichen Abschlüsse? Wie genau wird die Nachqualifizierung geregelt, und wer ist dafür zuständig? - Fragen
über Fragen. Zu diesen Fragen sagen Sie allerdings
nichts in Ihrem Antrag.
({3})
- Ich habe ihn ausdrücklich drei Mal gelesen.
({4})
All die wichtigen Fragen, die ungeklärt sind, die wir
auch im Fachgespräch mit Ihnen nicht haben klären können, nehmen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Ich glaube,
Herr Kollege, Sie sollten mal Ihren Antrag lesen.
({5})
- Es ist kein Gesetzentwurf. Den haben Sie aber schon
vor einem halben Jahr versprochen.
Bei dem Antrag der Grünen frage ich mich: Warum
lassen Sie sich auf die Diskussion dieser Damen und
Herren ein? Es geht hier doch insgesamt nicht um die
Verwertung auf dem Arbeitsmarkt, sondern um die Anerkennung von Menschen und ihrer beruflichen Abschlüsse. So eine Schieflage in der Debatte lehnen wir
als Linke ab.
({6})
Die Linke hat 2007 das Thema „Anerkennung“ als
Erste eingebracht. Wir wollen ein Anerkennungsgesetz
für alle - egal ob Akademiker oder Handwerker. Wir
wollen einen Rechtsanspruch auf Anerkennung und
Nachqualifizierung mit einer Verfahrensdauer von maximal drei Monaten.
Meine Damen und Herren, Migrantinnen und Migranten brauchen endlich berufliche Perspektiven. Aus unserer Sicht haben alle Menschen ein Recht, als Person anerkannt zu sein. Ansonsten bleibt Ihr Gerede über
Integration nicht mehr als eine hohle Phrase.
Vielen Dank.
({7})
Krista Sager ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer Integrationsbereitschaft von Migrantinnen und Migranten
einfordert und den demografisch bedingten Fachkräftemangel beklagt, der muss in der Tat dringend etwas tun,
damit das Anerkennungswesen für im Ausland erworbene Qualifikationen und Bildungsabschlüsse in
Deutschland verbessert wird.
({0})
Wir haben hier gravierende Defizite, und das ist seit langem bekannt. Hunderttausende Menschen arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus oder sind sogar arbeitslos, nicht zuletzt wegen Defiziten im deutschen
Anerkennungswesen. Nur: Das wurde schon auf dem
Bildungsgipfel 2008 gemeinsam festgestellt; das ist inzwischen zwei Jahre her. Wir sind in Worten weitergekommen, aber leider nicht in Taten.
Die grüne Fraktion hat schon Anfang der Legislaturperiode einen Antrag mit konkreten Vorschlägen eingeKrista Sager
bracht, die SPD und die Linke ebenfalls. Das alles liegt
vor. Die Bundesregierung hat vor über einem Jahr Eckpunkte vorgelegt, mit denen sie im Wesentlichen - da hat
der Kollege Swen Schulz vollkommen recht - die Vorschläge und Ankündigungen der Vorgängerregierung
wiederholt hat.
Was ist seitdem passiert? Im Grunde nichts! Angekündigt war eine gesetzliche Regelung zum Jahreswechsel 2010/2011. Ich habe erhebliche Bedenken, dass die
Bundesregierung eine solche Regelung zustande bringt.
({1})
Ich glaube, ich bin hier nicht die Einzige, die diese Bedenken hat. Erst hieß es, der Gesetzentwurf solle im
Sommer kommen; dann hieß es, Ende der Sommerpause. Jetzt heißt es, Mitte Oktober werde ein Referentenentwurf vorgelegt. Ein Referentenentwurf ist allerdings noch kein Gesetzentwurf im Parlament.
Ich habe den Eindruck, dass auch Ihnen jetzt langsam
mulmig wird. Welchen Sinn hat denn sonst Ihr Antrag?
Er enthält keinen einzigen neuen Gedanken, Herr
Weinberg; inhaltlich kommen wir mit ihm keinen Schritt
weiter. Wenn dieser Antrag nicht nur ein Pausenfüller
sein soll, weil von der Regierung nichts kommt, dann hat
er offensichtlich den Zweck, Druck auf die Regierung
auszuüben. Herr Kamp, es ist schon etwas merkwürdig,
dass Sie meinen, es sei nötig, die Regierung aufzufordern, etwas zu tun, obwohl sie selber sagt, sie arbeite daran ganz intensiv.
({2})
Es geht offensichtlich darum, dass auch Sie meinen, man
müsse die Regierung jetzt einmal ein bisschen unter
Druck setzen und ihr auf die Sprünge helfen.
Herr Braun, dieses Vorhaben ist in unserem föderalen
System nicht gerade ein leichtes Vorhaben. Das weiß
auch hier inzwischen jeder.
({3})
Aber was ich bedauerlich finde, ist, dass in Ihrem Antrag
überhaupt keine Hinweise zu finden sind, wie Sie die
kniffligen Fragen, die wir auch in einem Fachgespräch
im Ausschuss behandelt haben, eigentlich beantwortet
haben möchten. Wie schaffen wir es, dass eine Bewertung bundesweit Anerkennung findet? Oder wie schaffen wir es, dass es nicht nur einen Rechtsanspruch gibt,
sondern auch Beratung, Information, Bewertung und
Qualifizierungsanschlussangebote? Ohne all das werden
wir nämlich weiter ganz viele Potenziale verlieren. Vielen ist nicht nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Verfahren geholfen; vielmehr brauchen sie eben auch Qualifizierungsangebote.
In einer Hinsicht bin ich gegenüber dem, was Sie wollen, sehr skeptisch: Auch Sie halten nach wie vor an dem
Gedanken fest, dass man im Wesentlichen Dokumente
formal abgleicht, dass man sich im Wesentlichen auf den
Vergleich von Ausbildungswegen und ihrer Gleichartigkeit konzentriert. Darum kann es aber nicht gehen, sondern es geht um die Betrachtung des individuellen Kompetenzprofils.
({4})
Bei einem anderen Ansatz werden wir die Integration in
den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Die Integration in den
deutschen Arbeitsmarkt muss wirklich im Vordergrund
stehen. Wenn das durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht geschieht, dann werden wir weiter
Bildungsressourcen vergeuden und vielen Menschen in
diesem Land mit guten Voraussetzungen nicht gerecht
werden können.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Herausforderungen, vor denen wir in unserem Land
stehen, sind allgemein bekannt, und sie sind hier auch
benannt worden. Der sich abzeichnende Wandel in der
demografischen Entwicklung führt zunehmend zu einem
Fachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt sagt uns,
dass das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis zum
Jahr 2030 wegen des Geburtenrückgangs um über
6 Millionen zurückgeht.
Schon heute fehlen 36 000 Ingenieure und 43 000 ITFachkräfte, also Computerfachleute. Gleichzeitig wissen
wir, dass allein rund 300 000 zugewanderte Akademikerinnen und Akademiker ihr Wissen und ihre Kompetenz
in unserem Land einbringen wollen; aber ihre ausländischen Hochschulabschlüsse werden in Deutschland nicht
oder nur mit großer Verzögerung anerkannt. Deshalb
müssen wir trotz der Komplexität der Aufgabe alles tun,
damit wir zügig gemeinsam mit den Ländern bundesweit
nachvollziehbare und verbindliche Bewertungskriterien
schaffen. Das gilt für Akademiker und auch für alle anderen Berufsgruppen.
({0})
Wie komplex das in Deutschland ist, zeigt sich - auch
Frau Sager hat es schon angesprochen - allein darin,
dass die Gesetzgebungszuständigkeit je nach Beruf beim
Bund oder bei den Ländern liegt, dass hingegen die Anerkennungsverfahren immer von Länderstellen, also Behörden, Kammern oder beauftragten Stellen, durchgeführt werden.
Wenn Sie, Herr Kollege Schulz, so unendlich traurig
sind, dass die christlich-liberale Koalition es innerhalb
eines Jahres noch nicht geschafft hat, die Probleme, die
ich eben benannt habe, zu lösen, dann muss man hier immer wieder darauf hinweisen, dass Sie elf Jahre mit in
der Regierungsverantwortung waren. Sieben Jahre haben Sie ohne die böse CDU regiert, die an allem schuld
ist. Wenn Sie das alles so beklagen, wie Sie es hier getan
haben,
({1})
frage ich mich schon, warum Sie sieben Jahre gar nichts
auf den Weg gebracht haben. Wir packen es an, Herr
Schulz!
({2})
Wie viele Abstimmungsprozesse und wie viel Zeit es
erfordert, wenn unterschiedliche Stellen bzw. verschiedene Ebenen sich einigen müssen, zeigen uns die Erfahrungen mit diesem Thema in der Europäischen Union.
Es hat Jahre gedauert, sich auf europäischer Ebene über
die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu einigen,
und dabei ging es ausschließlich um die Anerkennung von
Berufsqualifikationen, die in den inzwischen 27 Mitgliedstaaten erworben werden. Das lag weder am Unwillen
noch am Phlegma der beteiligten Fraktionen oder der
Mitgliedstaaten; vielmehr lag es an den früher sehr
schwer vergleichbaren Studien- und Ausbildungsgängen. Der Durchbruch im Jahr 2005, von dem wir bereits
jetzt alle zehren, gelang im Wesentlichen, weil es inzwischen zu einer weitgehenden Harmonisierung der Ausbildungen in der Europäischen Union gekommen ist. Es
sollte allen Bildungspolitikern klar sein, dass es noch
weitaus schwieriger ist, weltweit erworbene Abschlüsse
mit unseren nationalen Qualitätsstandards zu vergleichen und Anerkennungskriterien zu schaffen.
({3})
Denn diese Kriterien müssen - auch das gehört zur Lösung dieser Aufgabe - das Qualitätsniveau deutscher Abschlüsse erfüllen; denn mit Recht weisen Gewerkschaften und Arbeitnehmer darauf hin, dass sonst unsere
hohen Standards unterlaufen werden.
({4})
Im Bereich der Hochqualifizierten hat die Europäische Union unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands
in den letzten beiden Jahren entscheidend zu einer Lösung beigetragen. Die Einigung auf europäischer Ebene
hat zu einem Ergebnis geführt, auf das wir jetzt zurückgreifen können: Mit der Entscheidung für eine europäische Bluecard sind einvernehmlich Kriterien für Hochqualifizierte festgelegt worden. Diese Richtlinie befindet
sich derzeit in der Phase der Umsetzung in deutsches
Recht.
Entsprechend der Bluecard gilt als hochqualifiziert,
wer einen Hochschulabschluss nach mindestens dreijährigem Hochschulstudium an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule in dem betreffenden Staat
erworben hat. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, mit
dem Nachweis einer mindestens fünfjährigen einschlägigen Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulabschluss vergleichbar ist, als Hochqualifizierter
anerkannt zu werden.
Deshalb können wir heute mit Fug und Recht sagen,
dass nicht nur wichtige Vorarbeiten für eine zukünftige
Zuwanderung geleistet wurden, sondern gleichzeitig
Kriterien geschaffen wurden, die es der Bundesregierung
ermöglichen, zügig das umzusetzen, was wir in unserem
Antrag „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen Fachkräftepotentiale ausschöpfen“ fordern. Die Punkte
sind alle bereits von meinen Vorrednern genannt worden; darum erspare ich mir, sie noch einmal aufzuzählen.
Ich möchte aber festhalten, dass wir mit der Umsetzung
dieser Forderungen sowohl dafür sorgen, dass die Potenziale der zum Teil gut qualifizierten Migrantinnen und
Migranten in unserem Land gewürdigt werden, als auch
dafür, dass den Migrantinnen und Migranten in Zukunft
die Möglichkeit gegeben wird, sich hier mit ihrem Können und ihren Fähigkeiten einzubringen.
({5})
Denn fest steht: Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt
ist immer noch der beste und effektivste Weg der Integration, und sie stellt gleichzeitig auch die gesellschaftliche Anerkennung dar, die sich jeder von uns wünscht.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3048 und 17/3198 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Sicherung und Bewahrung der Wandbilder
von Prof. Ronald Paris und Prof. Walter
Womacka in Berlin
- Drucksache 17/2020 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Konzept für die Bewahrung kulturhistorisch
bedeutsamer Kunst am Bau der jüngeren Zeit
entwickeln
- Drucksache 17/3186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden.
Dann eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin
hat das Wort die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die
Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeden Tag verlieren wir Kunstwerke von hohem Rang,
Zeugnisse der jüngeren Kunstgeschichte durch Abriss,
durch Neubauten und durch Privatisierungen öffentlicher Gebäude. Das ist ein generelles, bundesweites Problem, betrifft in den neuen Bundesländern und in Berlin
aber insbesondere das künstlerische Erbe der DDR.
Aktuelles Beispiel für den Umgang mit diesem Erbe
sind die Preisgabe des Wandgemäldes Lob des Kommunismus von Ronald Paris im ehemaligen Zentralamt für
Statistik der DDR und des Emaillewandbildes Der
Mensch, das Maß aller Dinge am ehemaligen Bauministerium der DDR von Walter Womacka aus der öffentlichen Hand.
Welch trauriges Zusammentreffen: Walter Womacka
ist heute in Berlin beerdigt worden, ganz in der Nähe
von Käthe Kollwitz. Wie und wo sein Kunstwerk in Berlin wieder einen Platz finden wird, trieb ihn um, bis zuletzt.
Das ehemalige Bauministerium und das ehemalige
Zentralamt befinden sich im Besitz des Bundes und wurden für viel Geld veräußert. Die bundeseigenen Kunstwerke wurden im Internet feilgeboten. Die Kosten für
die Abnahme mussten die Käufer tragen. Wieso der
Bund die Käufer seiner Immobilien nicht verpflichtete,
die Kunstwerke angemessen in die Neubauten zu integrieren, ist nicht zu verstehen und nicht zu billigen.
({0})
Aufgrund unserer Initiativen wurde versucht, Bundesund Landeseinrichtungen zur Übernahme zu bewegen vergeblich. Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche Hand zu sichern. Sie wurden durch private Initiative
- wohlgemerkt: private Initiative - jetzt gerettet und so
nicht zerstört. Ich finde es großartig, dass übermorgen
das Bild von Ronald Paris im DDR-Museum in Berlin
zu sehen sein wird. Aber für die Zukunft ist ein Bild im
Privatbesitz nie gesichert. Der Eigentümer kann es ausstellen oder nicht, kann es verkaufen oder nicht.
Von einem bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz und mit dem künstlerischen Erbe der DDR kann in diesen Fällen jedenfalls
keine Rede sein.
({1})
Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept für den
Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz, der sich in Gebäuden befindet, die ihren Zweck verlieren, umgewidmet oder privatisiert werden, und das im 20. Jahr der
deutschen Einheit.
Wo sind eigentlich die großen Bilder von Tübke,
Heisig, Mattheuer, Sitte und auch Womacka, die im Palast der Republik hingen? Eingelagert, irgendwo, heißt
es. Sie sind unsichtbar geworden, nirgends und für niemanden zu sehen. Darf man das Abwertung der DDRKunst nennen oder nicht?
({2})
Eine Übersicht über das Verlorene gibt es im Westen
wie im Osten bisher genauso wenig wie über die derzeit
gefährdeten Werke. Was fehlt, ist eine flächendeckende,
interdisziplinär vernetzte Recherche. Für die zu erstellende Bestandsübersicht der nach 1945 geschaffenen
baubezogenen Kunstwerke müssten Kriterien zur Systematisierung des Bestandes und seiner Bewertung unter
historischen, sozialen wie künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten entwickelt werden.
Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass die
kulturelle Substanz im Ostteil Berlins und in den neuen
Bundesländern keinen Schaden nimmt. Die Kunstwerke
von Womacka und Paris befanden sich im Ostteil Berlins. Die gesamtdeutsche Bewahrung und Sicherung von
baugebundener Kunst ist Teil politischer und kultureller
Bildung und wichtig für die nächsten Generationen.
({3})
Ganz besondere Verantwortung hat der Bund in jenen
Fällen, in denen die Kunstwerke Bestandteil seines Immobilienbesitzes sind. Dieser Verantwortung muss der
Bund auch durch die Übernahme der Kosten für die
Pflege und Sicherung der Kunstwerke gerecht werden.
Geschichtsbewusstsein ist eine Aufgabe und Kulturbewusstsein dazu.
Deshalb stellen wir unsere beiden Anträge, den bedeutenden Schatz der Bau-Kunst in Bundesbesitz zu sichern und zu katalogisieren. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Monika
Grütters für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Jochimsen, Sie
haben uns ja den Weg der Wandbilder von Ronald Paris
und Walter Womacka dargelegt. Ich bin zumindest froh,
dass für beide jetzt erst einmal eine Bleibe gefunden ist.
Das Bild von Womacka soll in einem neuen Gebäude der
entsprechenden Wohnungsbaugesellschaft - er war lange
Mieter dort - unterkommen.
Ich gebe Ihnen aber in einem Punkt recht: Wir müssen
- das zeigen diese zwei Beispiele - grundsätzlich, also
gerade unabhängig von diesen beiden Fällen, Antworten
finden auf die Frage nach dem Umgang mit der Kunst
am Bau, wenn es ebendiesen Bau einmal nicht mehr
gibt. Interessanterweise sind dafür bislang in den einschlägigen Richtlinien kaum Hinweise zu finden. Ich
habe jetzt auch noch einmal mit dem Kunstbeauftragten
des Bundestages, Herrn Kaernbach, sehr intensiv danach
recherchiert. Ich finde nur - insofern greift Ihr Antrag
auch zu kurz -, dass das beileibe nicht nur die DDRKunst betrifft.
Aber noch einmal zu den konkreten Fällen, weil Sie ja
auch den Vorwurf erhoben haben, der Bund habe sich
nicht anständig oder korrekt oder verantwortungsbewusst genug verhalten: Sie haben recht, bei beiden
Wandgemälden handelt es sich um Zeugnisse der Kunstgeschichte, sowohl das Wandgemälde Der Mensch, das
Maß aller Dinge von Womacka als auch das Wandgemälde Lob des Kommunismus von Ronald Paris. Darüber muss man sich jetzt hier nicht in der Sache streiten.
Beide Künstler sind über die Grenzen der DDR hinaus
bekannt und auch anerkannt. Beide Künstler haben die
bildende Kunst der DDR durchaus wesentlich mitgeprägt. Beide Kunstwerke befinden sich an bzw. in Gebäuden, die jetzt abgerissen werden sollen und von denen eines in der Tat dem Bund gehört, und in beiden
Fällen waren zum Erhalt der Wandgemälde deren Ausbau und Verbringung an einen neuen Standort erforderlich.
Bevor der Bund diese Kunstwerke dann im Internet
angeboten hat, hat er alle einschlägigen Museen gefragt.
Involviert war übrigens eine Kommission, die sehr hochrangig besetzt war - das wissen Sie auch -: Es waren die
Förderkommission Bildende Kunst, die Stiftung Stadtmuseum, die Berlinische Galerie, die Senatskanzlei Berlin und das Deutsche Historische Museum an diesem
Prozess beteiligt. Das zeigt, dass der Bund nicht verantwortungslos, wie Sie sagen, damit umgegangen ist, sondern es handelte sich um ein, wie ich finde, durchaus
sehr verantwortungsbewusstes Verfahren.
({0})
Wir zumindest können den Museen keinen Vorwurf
daraus machen, dass sie dafür keine Verwendung haben,
weil die Restaurierung und Einlagerung natürlich auch
kostenaufwendig ist. So wie man das den Museen nicht
vorwerfen kann, darf die Politik die Museen auch nicht
dazu zwingen.
({1})
Ganz abgesehen davon, dass es dafür auch keine entsprechende Handhabe gibt.
Ihr Vorschlag, Frau Jochimsen, dass die Kunstwerke
dann eben am neuen Gebäude angebracht werden müssten, würde, wie ich finde, einer Vergewaltigung der Architekten, die das neue Gebäude planen, gleichkommen.
Das darf man denen nicht aufzwingen.
({2})
Das ist also ein nicht handhabbarer Vorschlag.
Ich will aber nicht leugnen, dass hier das Dilemma
deutlich wird, dass es für derartige Fälle keine einschlägigen Richtlinien gibt, weil die öffentliche Hand offensichtlich bisher davon ausgegangen ist, dass es solche
Fälle selten oder gar nicht geben würde. Dabei gibt es
die institutionalisierte Kunst am Bau bereits seit der
Weimarer Republik.
Auch damals lag der Anteil an der Bausumme bei 1, 2
oder 2,5 Prozent. 1993 sollte die Maßnahme ganz abgeschafft werden. Das haben wir verhindert.
Ich muss einmal sagen: Der Bundestag benimmt sich,
was das angeht, vorbildlich. Im Reichstagsgebäude wurden 3 Prozent der Bausumme für Kunst am Bau ausgegeben; bei den anderen Parlamentsbauten waren es
2 Prozent. Wir müssen uns nicht verstecken.
Ähnliche Vorgänge wie den eben beschriebenen hat
es hier aber auch schon gegeben, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Sgraffito von Carl-Heinz
Kliemann an der Wand des Reichstagsgebäudes, das
dem Umbau durch Foster weichen musste. Da hat der
Urheberrechtsgrundsatz gegolten: Zerstören darf man,
wenn das Gebäude - es war an einer Wand, die abgerissen wurde - nicht mehr da ist. Aber man darf es nicht
verändern, wenn die Architektur als Bezugsrahmen verschwunden ist. Allerdings gilt hier - wie überall - auch
der Grundsatz: Rückgabe vor Zerstörung. Das Urheberrecht sieht zu Recht vor, von der Dauer des Kunstwerkes
auszugehen, aber nicht von der Dauer des Gebäudes.
Ich finde, in solch einem Fall kann das Kunstwerk,
selbst wenn es abgenommen wird und in einem anderen
Kontext, vielleicht irgendwann in einer Ausstellung, und
sei es nur zeitweise, wieder auftaucht, Erzähler einer Geschichte sein, zum Beispiel einer Geschichte des Verlustes. So geschah es mit der Arbeit Kosmos 70 von
Bernhard Heiliger, die im Westeingang des Reichstagsgebäudes hing. Künftig wird sie im neuen Eingang des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hängen. Daran sieht
man, dass es sich lohnt, immer in eine Einzelfallprüfung
einzutreten.
Sie heben zuallererst auf die Kunst aus der DDR-Zeit
ab. Dazu muss ich sagen: Ja, hier besteht eine besondere
Notwendigkeit, weil auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR mehr neu gebaut und damit mehr abgerissen wird.
Aber es ist natürlich nicht nur ein Problem dieses Segments. Deshalb finde ich, dass wir uns an die Grundsätze
halten sollten, die die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland niedergeschrieben hat. Dort heißt es:
Inventarisation ist in allen Bundesländern
- es ist wohlgemerkt vor allen Dingen Sache der Bundesländer gesetzlicher Auftrag der staatlichen Denkmalpflege. … Inventarisation ist Grundlage jeden
denkmalpflegerischen Handelns. … Denkmäler
({3}) sind alle Objekte,
die im eigentlichen Sinn des Begriffs einer Erinnerung wert sind und deren Erhaltung und Pflege im
öffentlichen Interesse liegen. … Es werden also im
weitesten Sinn materielle Zeugnisse menschlichen
Lebens erfasst, die nicht notwendig
- das muss man übrigens den Kollegen auch einmal sagen ästhetische Qualität haben müssen. Auch mit negativen Erinnerungen besetzte Objekte, wie solche
der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, gehören in die Reihe der zu bewahrenden
Überlieferungen. Ausschlaggebend ist ihre in der
Geschichte verankerte Bedeutung. Die Denkmaleigenschaft ist damit nicht von einem festgelegten
Mindestalter des Objekts abhängig.
So schreibt es die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger.
Es ist also meines Erachtens nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll, Kunst am Bau aus 40 Jahren
DDR zu dokumentieren und - das ist vom Denkmalschutz im großen Stil gemacht worden - zu katalogisieren. Es gibt einschlägige Veröffentlichungen und Publikationen wie das Handbuch der Deutschen
Kunstdenkmäler und das Buch Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR.
Sie haben zu Recht Art. 35 des Einigungsvertrages zitiert. Ich finde, das gehört durchaus hierhin. Daraus kann
man aber meines Erachtens nicht - wie Sie es machen eine generelle Verantwortung des Bundes oder gar eine
Zuständigkeit des Bundes ableiten. Sie haben die Fälle,
in denen der Bund die Zuständigkeit haben soll, auf jene
Fälle beschränkt, in denen der Bund Gebäudeeigentümer
ist. Ich meine, hier muss man die Länder, die sonst überall ihre föderalistische Hoheit bei diesen Themen verteidigen, heranziehen. Das wiederum bedeutet Freiheit,
aber auch Verantwortung.
({4})
Der Bund hat in den letzten 20 Jahren weit über die
Grenzen der Zuständigkeit im Föderalismus hinaus viel
für die Aufarbeitung und Bewahrung der Denkmäler in
der ehemaligen DDR getan: restaurierte Altstädte, Museen, Bibliotheken, Theater und Opernhäuser. Es wäre
also falsch, hier den Bund anzuprangern.
({5})
Generell, Frau Jochimsen, gilt außerdem: Wenn wir
die Kunst der DDR musealisieren, ist das eine komplexe
Aufgabe, an der nicht nur die Länder zu beteiligen sind.
Es muss aber um mehr gehen als nur um die Erfassung.
Sie kann nur mit dem Ziel durchgeführt werden, geeignete Vermittlungskonzepte zu entwickeln. Heute gibt es
das DDR-System zum Glück nicht mehr. Umso mehr
müssen wir darauf aufpassen, dass wir Auftragskunst
- die offiziellen Kunstwerke - angemessen interpretieren und sie in der Retrospektive nicht verharmlosen oder
verniedlichen. Deshalb finde ich, dass sie heute nicht in
den Kontext anderer Bauten gehören. Man sollte das
nicht ins Nostalgische schieben. Schließlich haben sich
allzu viele Künstler vor ästhetischer Doktrin, auch vor
der des sozialistischen Realismus, in die Abstraktion,
manche in die innere Immigration geflüchtet. Viele durften nicht weiterarbeiten. Ich finde, das gehört auf jeden
Fall auch in diesen Kontext. Das spricht gegen eine
simple Verschiebung vom Gestern ins Heute.
({6})
Die Denkmalpflege hat genau zu diesem Zweck einen
Kriterienkatalog entwickelt, der im Wesentlichen zwischen einem ästhetischen und einem historischen Wert
differenziert. Das Sammeln ist mit Kosten verbunden.
Schließlich geht es nicht nur um eine einmalige Aktion,
sondern um Restaurierung, Aufbewahrung und wissenschaftliche Bearbeitung. Diese Einordnung des Wertes
und der materiellen wie immateriellen Bewertung, finde
ich, sollten wir den Fachleuten überlassen. Einen generellen Rahmen - auch das muss ich feststellen - müssen
wir in der Politik aber einmal beschreiben.
Frau Kollegin, über die zwei genannten Einzelwerke
- dazu haben Sie Ihren ersten Antrag eingebracht - sollten und brauchen wir nicht mehr abzustimmen, auch
wenn es privaten Initiativen zu verdanken ist, dass die
beiden Arbeiten eine Bleibe gefunden haben. Sie haben
auf ein generelles Desiderat hingewiesen: dass es kaum
Richtlinien für den Verbleib auch öffentlich geförderter
Kunst am Bau gibt. Die Beispiele zeigen: Das kann so
nicht bleiben, selbst wenn bisher dabei vor allem Urheberrechtsrichtlinien oder der Denkmalschutz im Einzelfall erfolgreich angewendet wurden.
Eine Verpflichtung zum Handeln liegt aber ganz sicher nicht nur beim Bund, und die Problematik gilt sicher nicht nur für die Kunst der ehemaligen DDR. Deshalb finde ich, dass Ihr zweiter Antrag zu kurz greift.
Wenn wir das genereller beschreiben, füllen die von Ihnen beklagten Tatbestände auf jeden Fall einen größeren
Rahmen. Im Geiste des Einigungsvertrages - jetzt ist die
richtige Stunde, um darauf hinzuweisen - gilt für uns
alle:
In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur
- trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden
Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten
im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen
auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung
und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der
Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht
und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso
von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.
In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Thierse
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Jochimsen, ich fürchte, ich werde zu Ihren Anträgen etwas kritischer sein müssen als die Kollegin
Grütters. Das liegt vermutlich daran, dass ich die DDRKunst wirklich erlebt und erlitten habe und mich deswegen an vieles erinnere.
Ihr erster Antrag, der Antrag zu den Wandbildern von
Ronald Paris und Walter Womacka, ist, wie schon gesagt, in bestimmter Weise bereits erledigt;
({0})
denn das Lob des Kommunismus von Ronald Paris
wurde vom privaten DDR-Museum übernommen. Das
ist ein nicht zu beanstandender Vorgang; dieses Bild
wird öffentlich zugänglich bleiben.
({1})
Wenn Ihre Leidenschaft, zum Beispiel für dieses Bild,
wirklich so groß gewesen wäre, wie Frau Kollegin
Enkelmann das hat verlauten lassen - man solle es in
den Bundestag übernehmen -, dann frage ich mich: Warum haben Sie es nicht in Ihren Fraktionssaal übernommen?
({2})
Wir hätten Sie daran nicht hindern können oder wollen.
Das ist ein Beleg von Übereinstimmung von Wort und
Tat.
({3})
Das Wandbild Der Mensch, das Maß aller Dinge, das
ich - wenn Sie mir ein persönliches Geschmacksurteil
erlauben - für nicht ganz so gewaltig halte - es ist groß,
aber künstlerisch vielleicht nicht ganz so gewaltig -, ist
von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mit erheblichen Kosten abgenommen, gelagert und damit zunächst einmal erhalten worden. Insofern hätten Sie den
Antrag zurückziehen können, aber Sie haben noch einmal nachgelegt und das Problem sozusagen verallgemeinert. Sie fordern ein umfassendes Konzept zur Sicherung
der nach 1945 geschaffenen baugebundenen Kunstwerke
im öffentlichen Dienst, aber es geht Ihnen dabei vor allem um das künstlerische Erbe bezogen auf die baubezogene Kunst der DDR. Das verstehe ich. Ja, auch mit diesem Erbe sollte man behutsam und auch differenziert
umgehen. Aber - wie soll ich das nennen? - sollen wir
Hegel folgen: Nur weil einmal etwas gewesen ist, war es
auch vernünftig?
Bedeutet das, dass alles, was einmal gebaut oder geschaffen wurde, dauerhaft erhalten bleiben muss? Ich zögere, diesem Grundsatz zu folgen. Nein, nicht jedes
Kunstwerk muss unter Denkmalschutz gestellt werden.
({4})
Wir müssen immer wieder neu und am konkreten Objekt
über die Denkmalwürdigkeit, also den historischen Dokumentationscharakter, einerseits und die künstlerische,
ästhetische Qualität andererseits streiten und dann entscheiden.
({5})
Es geht um Kunst am Bau, und nicht um die allgemeine bildende Kunst. Kunst am Bau ist immer Auftragskunst, zumal in der DDR. Sie ist also in besonderer
Weise historischer Vergänglichkeit unterworfen. Das ist
ihr Schicksal. Es kann durchaus passieren, dass die Zeit
über den Auftraggeber und auch über die von ihm beauftragte Kunst hinweggeht. Wir haben heute den 7. Oktober. In der ehemaligen DDR wurde an diesem Tag der
Tag der Republik begangen.
({6})
Dieser Staat ist verloren gegangen. Wir können nicht
all seine Hinterlassenschaften erhalten. Wir müssen immer wieder neu entscheiden, was wir erhalten wollen.
Kunst am Bau ist immer zweckgebunden und auf den
jeweiligen Raum bezogen. Wenn dieser Raum bzw. das
Gebäude aus Gründen, die nicht immer des Teufels sind,
wegfällt, dann ist das Schicksal baugebundener Kunst
ein anderes als das von Gemälden, die im eigenen, im
künstlerischen Auftrag produziert wurden. Das ist nicht
nur das Schicksal von baugebundener Kunst in der ehemaligen DDR. Das gilt generell und ist daher nichts Besonderes.
({7})
Es kommt hinzu, dass in der DDR im Hinblick auf die
baugebundene Kunst ein ganz praktisches Problem entstanden ist: Sie war etwas groß dimensioniert. Das Womacka-Werk misst 15 mal 6 Meter. Es wiegt 1,2 Tonnen
und besteht aus 360 emaillierten Kupferplatten. Ich erwähne das nur, um klarzustellen, dass ich etwas gegen
falsche Verallgemeinerungen habe. Es geht hier um ganz
konkrete Probleme und ihre Lösungen. Folgende ironische Bemerkung kann ich mir deshalb nicht verkneifen:
Wie wäre es denn, wenn Sie das große Kunstwerk, das
Sie so schätzen, an Ihrer Parteizentrale, dem KarlLiebknecht-Haus, anbringen würden? Dann wäre es erhalten und öffentlich sichtbar.
({8})
- Eben. Sie geben mir genau die richtige Antwort. Das
Gebäude, für das es einmal geschaffen worden ist, ist
nicht mehr da. Deswegen entsteht das praktische Problem: Was machen wir nun damit? Wir können niemanden auf Dauer verpflichten, es zu erhalten, nur weil es
einmal da war.
({9})
Ich sage es noch einmal: Nicht alles kann und muss
aufgehoben und aufbewahrt werden. Es darf aber auch
nicht alles beseitigt, abgerissen oder versteckt werden.
({10})
Das gilt selbstverständlich sowohl für Kunst aus der
DDR als auch für Kunst aus der alten Bundesrepublik.
({11})
Wir müssen uns der Mühe unterziehen, immer wieder
neu zu einer fairen und differenzierten Bewertung von
Kunst - auch aus der DDR - zu kommen.
({12})
Das kann allerdings nicht von oben diktiert und gewissermaßen per Dekret durch die Bundesregierung
durchgesetzt werden. Das ist unweigerlich - wie immer
bei der Kunst - Aufgabe und Gegenstand der öffentlichen Debatte und des Streits. Dann muss man sich zu einigen versuchen. Wir Bundespolitiker können nicht einfach so allgemeine ästhetische Maßstäbe festlegen.
({13})
In dieser Hinsicht bin ich ein gebranntes Kind der
DDR. Damals hat das Politbüro der DDR solche Dinge
festgelegt. Alle naselang wurde ein zentraler Forschungs- und Publikationsplan der Gesellschaftswissenschaften verabschiedet, und zwar nicht von den Wissenschaftlern, sondern vom Politbüro. Ich habe vor solchen
Dingen Angst und wünsche mir sehr - das ist mein Anliegen -, dass im Angesicht des einzelnen Kunstwerkes,
vor Ort debattiert und am Schluss entschieden wird. Ich
bin eher skeptisch, ob das über das hinaus, was Kollegin
Grütters in Bezug auf unser Verständnis von Erbe und
Dokumentationscharakter gesagt hat, gelingt. Aber wir
können in dieser Sache miteinander streiten.
Das wirkliche Motiv Ihres Antrags wird in der Begründung deutlich. Ich zitiere:
Hintergrund für die anhaltende Zerstörung von
Bauwerken und baugebundener Kunst der DDR ist
die nach wie vor vorhandene Abwertung und Delegitimierung der DDR und ihrer Kunst.
({14})
Ich höre das öfters von Ihnen. Ich kann nur daran erinnern - so ist Geschichte -: Die DDR ist 1989/90 von einer Mehrheit ihrer Bevölkerung durch die friedliche Revolution und die erste freie Wahl delegitimiert worden.
Das ist so.
({15})
Trotzdem weiß ich genau um den Unterschied zwischen dem System und der Kunst, die in der DDR entstanden ist.
({16})
Das ist wichtig.
({17})
Aber da gibt es einen Unterschied zu Ihnen. Sie wollen
alles erhalten, während ich sage: Schauen wir genau hin;
streiten wir darüber, was erhaltenswert ist, wer dafür zuständig ist und wie das verantwortet werden kann. Ich
habe etwas gegen ästhetischen Zentralismus.
Art. 35 des Einigungsvertrages - an den halten wir
uns - spricht von der Erhaltung kultureller Substanz. Da
ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel geschehen.
Auf diesem Gebiet muss zwar weiterhin allerhand geschehen, aber wir müssen auch immer wieder neu darüber diskutieren, was des Erinnerns wert ist. Ich glaube
nicht, dass das durch eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission definiert werden kann. Das ist ein
offener Prozess des demokratischen Streits miteinander.
Da gehört es hin.
({18})
Das Wort erhält nun der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute vorliegenden
Anträge der Fraktion Die Linke greifen ein Thema auf,
das sicherlich Emotionen hervorruft. Beim Thema Kunst
liegen Zustimmung und Ablehnung, leider oftmals auch
Desinteresse nah beieinander. Der öffentlichen wie der
privaten Hand kommt in diesem Spannungsbogen die
Aufgabe zu, besonders schützenswerte Kulturgüter über
Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte für die Nachwelt zu
bewahren. Dabei haben Kulturgüter nicht nur ästhetische
Qualitäten. Sie sind auch Objekte des historischen Gedächtnisses von Kulturräumen.
Walter Womacka und Ronald Paris, um die es in dem
einen Antrag geht, haben prägende Kunstwerke geschaffen. Es gibt wohl kaum jemanden, der in der DDR aufgewachsen ist und das Bild Womackas „Am Strand“ von
1962 nicht kennt. Es hing in Schulen und öffentlichen
Einrichtungen, zierte Bücher und Kalender und sogar
eine Briefmarke. Heute befindet es sich in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Sein Fries „Unser Leben“ am Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexanderplatz aus dem Jahr 1964 wurde nach der Wende
aufwendig restauriert. Das von Ronald Paris für den ehemaligen Palast der Republik geschaffene Wandbild „Unser die Welt - trotz alledem“ aus den 70er-Jahren befindet sich heute im Deutschen Historischen Museum.
Diese Beispiele zeigen, dass die Kunstwerke beider
Künstler auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung in
unserem Land durchaus geschätzt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie berufen sich in Ihrer Partei auf ein Erbe und damit auf eine
Tradition, die mit überlieferter Kunst und Kultur oftmals
nicht gerade zimperlich umging.
({0})
Schließlich ließ die Staatsführung der DDR unliebsame
Kulturdenkmäler ersten Ranges vernichten, weil sie
nicht in die Staatsideologie passten.
({1})
So mussten architektonisch bedeutsame Schlösser und
zahlreiche Sakralbauten weichen. Die Sprengung der
Potsdamer Garnisonkirche sowie der Leipziger Universitätskirche, die von Martin Luther geweiht wurde, rissen Lücken in die städtebauliche Identität von Potsdam
und Leipzig, die nur mit Mühe geschlossen werden
konnten.
({2})
Gerade Walter Ulbricht, der Förderer Womackas, hat
ohne Rücksicht auf kulturelle Belange vernichten lassen,
was über Jahrhunderte bewahrt worden ist.
({3})
Gefördert wurde im Gegenzug eine Kunst und Kultur,
die den Arbeiter- und Bauernstaat hochleben ließ, aber
nicht die Wirklichkeit widerspiegelte. Dabei wurde auch
noch versucht, die Künstler auf Linie zu bringen. Ich
verweise nur auf den Bitterfelder Weg.
Ihr Antrag zur Sicherung der zwei Wandbilder ist inzwischen überholt. Die Werke haben eine neue Nutzung
bekommen - das steht so gut wie fest - und erhalten so
eine Aufwertung. Erlauben Sie mir aber trotzdem zwei
Bemerkungen dazu.
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche
Hand zu sichern.
Ich muss fragen: Muss denn immer die öffentliche Hand
alles richten?
({4})
Es ist einfach, nach dem Staat zu rufen und dessen Handeln einzufordern. Dabei ist es gerade durch das von uns
Liberalen immer wieder eingeforderte bürgerschaftliche
Engagement gelungen, diese Bilder zu bewahren und zukünftig einer noch prominenteren Nutzung zuzuführen.
({5})
Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ist dies
eine Leistung, die gewürdigt werden muss. Ich wünsche
mir mehr solch privates Engagement in allen Bereichen
der Kultur.
Mit Ihrem zweiten Antrag verfolgen Sie einen allgemein gehaltenen Ansatz, aber eigentlich geht es Ihnen
um die Wahrung sozialistischer Kunst aus DDR-Zeiten.
({6})
Bevor ich exemplarisch drei Punkte aus Ihrem Antrag
herausgreife, möchte ich darauf verweisen, dass das
Bundesbauministerium bei baubezogener Kunst keinen
Unterschied zwischen Ost- und Westkunst macht.
({7})
Ich komme zu den drei Punkten.
Erstens. Muss der Bund eine Bestandsaufnahme aller
nach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke erarbeiten und ein Rechercheprojekt auf den Weg bringen?
Der Einigungsvertrag, den Sie zitieren, bindet nicht nur
den Bund, sondern auch die Länder. Der Bund kann nur
tätig werden, wenn ihm kraft Grundgesetzes die Kompetenz erteilt wurde. Im vorliegenden Fall sind überwiegend die Länder und Kommunen zuständig, insbesondere wenn es um Denkmalschutz geht. Denkmalschutz
ist Ländersache.
({8})
Zweitens. Muss der Bund Kriterien zur Systematisierung und Bewertung des Bestands entwickeln? Auch das
liegt nicht in seiner Zuständigkeit.
Drittens. Muss der Bund Strategien zur Sicherung von
Kunst am Bau entwerfen? Dazu verweise ich auf den
Leitfaden „Kunst am Bau“, der durch das Bundesbauministerium herausgegeben wurde. Dieser verdeutlicht
den baukulturellen Anspruch des Bundes als Bauherrn
und verbindet diesen mit der Notwendigkeit angemessener und praktikabler Verfahren. Darin ist auch der Umgang mit Kunstwerken an Gebäuden geregelt, die vom
Abriss bedroht sind.
Im Übrigen gibt es unter Federführung des Bundesbauministeriums die Veranstaltungsreihe „Werkstattgespräche“, in deren Rahmen seit November 2007 an verschiedenen Orten über den Umgang mit architekturbezogener
Kunst diskutiert wird. So fand in Leipzig ein Werkstattgespräch unter dem Titel „Kunst am Bau als Erbe des geteilten Deutschlands“ statt. Sie sehen, obwohl es nicht zuständig ist, nimmt sich das Bundesbauministerium dieses
Themas an.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, über den einen oder anderen Punkt in Ihrem Antrag kann man sicherlich reden. Ich will aber darauf verweisen, dass vom Bund geförderte Einrichtungen wie
das Deutsche Historische Museum schon jetzt mit der
Sicherung von DDR-Kunst betraut sind. Die Aufbewahrung der Bilder des ehemaligen Palastes der Republik
habe ich schon erwähnt.
Über Kunst kann man trefflich streiten, nicht nur über
ästhetische Fragen. Wo hört der Schutzauftrag des Staates auf, und wo muss man auf privates Engagement setzen? Ich denke, der Bund tut das in seinen Möglichkeiten Stehende zur Erhaltung und Erschließung der DDRStaatskunst. Der Bund ist jedoch nicht in der Pflicht, alle
Werke zu bewahren, die von der DDR-Führung als besonders wertvoll eingestuft wurden.
({9})
Allein durch die Kosten der hier geforderten Maßnahmen würden wir die tagesaktuelle Kulturförderung gefährden. Das Geld der Steuerzahler ist endlich. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das sollten
Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({10})
Es steht Ihnen aber frei, Ihre Forderung exemplarisch im
Land Berlin umzusetzen; denn dort sind Sie schließlich
Mitregierende.
Danke schön.
({11})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Kunst am Bau, das ist ein sperriges Thema,
und darüber sprechen wir jetzt auch noch zu so später
Stunde. Dabei ist es ein ganz altes Thema. Seit über
90 Jahren hat sich der öffentliche Bauherr in Deutschland verpflichtet, 1 bis 2 Prozent einer Bausumme in
Kunst am Bau zu investieren. Im Rahmen der baugebundenen Kunst - das ist ein schöner Fachbegriff - sind
Kunstwerke, Objekte und Skulpturen entstanden. Dabei
wurde sehr viel Geld investiert. Sehr viele Objekte sind
über die Historie entstanden. Dabei sind öffentliche Gelder verwendet worden. Für diese Gelder haben wir Verantwortung. Wir haben Verantwortung für die Steuergelder, die dort hineingeflossen sind, aber wir haben auch
eine Verantwortung vor den Künstlern, die diese Objekte
erstellt haben.
Jetzt muss ich Ihnen leider sagen: Wenn ich an meinen Wahlkreis denke, fällt es mir sehr schwer, ein Beispiel für Kunst am Bau zu nennen. Mir fällt nur ein Objekt ein: ein Bergmann, vier bis fünf Meter hoch, in
Fliesen an einer Wand in einem alten Rathaus. Er ist dokumentiert worden. Er fristet ein trauriges Dasein; aber
er hängt dort noch. Selbst an diesem kleinen Beispiel
kann ich erkennen, dass der Umgang mit Kunst am Bau
sehr schwierig ist.
Wir sollten an dieser Stelle vorsichtig sein und uns
nicht auf eine reine DDR-West-Diskussion einlassen,
({0})
sondern wir sollten es als Ganzes betrachten. Denn wir
haben auch in den anderen Bundesländern ein Erbe, das
Unterstützung benötigt; dort sehen wir durchaus Bedarf.
Wir haben ein historisches Erbe, das Respekt und
Wertschätzung verdient. Es dokumentiert unsere Wurzeln. Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Frage
geht, welchen Maßstab wir anlegen. Ich bin der Kollegin
Grütters sehr dankbar dafür, dass sie sehr stark die fachliche Ebene, den Denkmalschutz, dargelegt hat, aber
auch auf die Bewertung von Kunstwerken eingegangen
ist.
Ich glaube, dass wir heute nicht unbedingt über den
ersten Antrag der Linken reden müssen; er hat sich erübrigt. Wir müssen aber über den zweiten Antrag der Linken reden, in dem eine grundsätzliche Dokumentation
verlangt wird.
Lassen Sie mich zuvor einen Schlenker machen und
über dieses Gebäude sprechen. Gerade hier im Reichstag
gibt es einige Bau- und Kunstobjekte, die ich sehr beeindruckend finde und die ich nur ungern missen würde.
Jetzt sind sie aktuell. Aber wir wissen nicht, wie in
20 oder 30 Jahren über sie gedacht wird. Mit dieser
Frage müssen wir uns beschäftigen und Regulative finden.
({1})
Eigentümerwechsel, die Unkenntnis der Bauherrin,
aber auch die Ignoranz von Politik und Verwaltung führen in vielen Kommunalverwaltungen, Landesbauverwaltungen und Bundesbauten zum Verlust von Kunstobjekten. Wir müssen unserer Verantwortung für diese
Objekte gerecht werden. Insofern muss überprüft werden, ob die Dokumentation, die bisher stattfindet, ausreichend ist. Ich verstehe den Antrag der Linken so, dass es
Ihnen darum geht, dass wir über diese Frage noch einmal
nachdenken sollten.
Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein,
dass wir nicht nach Himmelsrichtung entscheiden dürfen, sondern uns grundsätzlich über das Thema „Kunst
am Bau“ unterhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
Hausmeister über ein Kunstobjekt entscheiden - hop
oder top -, sondern es muss katalogisiert und bewertet
werden. Die Entscheidung, ob man es archiviert und für
unsere Nachkommen bewahrt oder nicht, kann man, wie
ich denke, ruhig Fachleuten und Künstlern überlassen.
Darüber müssen nicht wir Politiker entscheiden.
Das Erbe, das wir haben, ist ein relativ großes, und es
ist von ganz unterschiedlicher Qualität. Aber diese Frage
steht im Moment, wie ich glaube, nicht im Mittelpunkt.
Im Moment geht es vor allem darum, ein Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass wir dieses Erbe bewerten und uns
genau überlegen: Was davon wollen wir erhalten und für
unsere Nachkommen sichern? Dies ist ein Gedanke, den
wir aufgreifen sollten. Wie wir wissen, ist das Bauministerium an diesem Thema durchaus interessiert. In den
verschiedenen Werkstattgesprächen hat es in den letzten
Jahren einiges bewegt. Auf diesem Weg sollte man weitergehen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/2020 und 17/3186 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Todesstrafe weltweit abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschaffung der Todesstrafe weltweit
- Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131,
17/3181 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Angelika Graf ({1})
Annette Groth
Ingrid Hönlinger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Folter bekämpfen und Folteropfer unterstützen
- Drucksachen 17/2115, 17/3180 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Marina Schuster
Annette Groth
Ingrid Hönlinger
Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Todesstrafe gehört weltweit geächtet und
abgeschafft. Denn sie negiert auf berechnende und zugleich kaltblütige Art und Weise das elementarste Menschenrecht: das Recht auf Leben. Menschliches Leid
kann durch sie weder gutgemacht noch ungeschehen gemacht noch zukünftig verhindert werden. Im Gegenteil,
die Todesstrafe verursacht neues Leid und offenbart ein
Gesellschaftsverständnis, das wir ablehnen. Sie ist mit
unseren Werten nicht vereinbar.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Iran werden
Menschen zu Tode gesteinigt. Allein in den ersten zwei
Monaten nach der Präsidentenwahl 2009 sind dort nach
Schätzungen von Amnesty International 112 Menschen
hingerichtet worden. Unter Ahmadinedschad sollen im
Iran im letzten Jahr insgesamt 388 Menschen hingerichtet worden sein, auch durch grausame Steinigung.
Ähnlich geschockt hat uns die Hinrichtung durch ein
Erschießungskommando in den USA. Unabhängig von
der Tat, unabhängig davon, ob schuldig oder gar unschuldig, und losgelöst von der martialischen Art und
Weise der Vollstreckung ist für uns klar: Die Todesstrafe
gehört geächtet und abgeschafft.
({1})
Auch die erbarmungslose Hinrichtung eines britischen Staatsbürgers in China hat uns zutiefst bestürzt.
Ich könnte hier und heute noch viele weitere Beispiele
nennen. Nach den Schätzungen von NGOs werden mehrere Tausend Personen jedes Jahr hingerichtet, wobei wir
oftmals nicht davon erfahren. Auch gibt es oft keine
Pressemeldung dazu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, worauf
ich hinauswill. Anders als die Anträge der Opposition
wollen wir den Schwerpunkt auf den Kern des Problems
legen. Je mehr man versucht, eine Debatte durch Gesichter oder durch die Nennung von einigen Namen plakativ
zu machen, desto mehr gerät man in gefährliches Fahrwasser.
({2})
Wir dürfen uns nicht den Anschein geben, als würden
wir priorisieren. Wir dürfen nicht eine Debatte führen,
als könnte uns ein Mensch wichtiger sein als ein anderer,
der von Todesstrafe bedroht ist.
({3})
Das ist gefährlich. Deswegen habe ich einen Wunsch in
Richtung Opposition: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dann haben wir ein klares Signal aus diesem Haus.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminister Westerwelle hat erst am Montag bei seiner Rede vor
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
zur Menschenrechtspolitik gesprochen, unter anderem
die Todesstrafe verurteilt und die Ablehnung deutlich
gemacht.
Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung,
Markus Löning, setzt sich ganz besonders für die Abschaffung der Todesstrafe ein.
({5})
Er hat jüngst in seinem Bericht im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe vom Menschenrechtsdialog mit China berichtet. Ein erstes kleines und positives Zeichen aus China ist die Reduzierung der Zahl von
Straftatbeständen, die mit dem Tode geahndet werden
können. Das gilt insbesondere für Wirtschaftsverbrechen.
Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt. Da ist noch
viel zu tun.
({6})
Der Kampf für die weltweite Ächtung und Abschaffung
der Todesstrafe ist und bleibt ein Kraftakt. Ein Punkt ist
mir dabei wichtig: Ob ein Staat die Todesstrafe abschafft
oder nicht, hängt nicht davon ab, ob er reich oder arm ist,
sondern hängt allein vom politischen Willen der Verantwortlichen ab.
({7})
Daher müssen wir die politisch Verantwortlichen in unseren Gesprächen immer wieder zur Abkehr bewegen
und sie von der Todesstrafe abbringen.
Ich sage ganz ehrlich: Ich finde es schade, dass wir
keinen interfraktionellen Antrag haben. Umso bedauerlicher ist, dass die Opposition für einen gemeinsamen Antrag die Nennung eines ganz bestimmten Namens zur
Bedingung gemacht hat.
({8})
Die Herausstellung Einzelner wird der Tragweite des
Unrechts nicht gerecht. Wir möchten, dass die vielen
Namenlosen, die weder eine prominente Stimme noch
eine große Pressewirksamkeit haben, gehört werden und
zur Geltung kommen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die FDP ist klar:
Das Todesstrafen- und Folterverbot muss umfassend und
absolut gelten. Der Koalitionsantrag verfolgt ein wichtiges Ziel. Die Bundesregierung unternimmt im weltweiten Kampf gegen Folter und für Folterprävention bereits
große Anstrengungen. So setzt sich die Bundesregierung
unter anderem durch Demarchen für die Ratifizierung
des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention ein.
Entsprechende Erfolge werden sichtbar: Die Zahl der
Ratifizierungen steigt. Das ist eine gute Nachricht, aber
wir dürfen nicht lockerlassen.
({10})
Zusammen mit unserem Antrag „Menschenrechte
weltweit schützen“, den wir im Dezember 2009 in diesem Hohen Hause beraten haben, bildet unser Antrag
das Fundament für unsere Arbeit gegen Todesstrafe und
Folter weltweit. Wir sind auf dem Weg. Wir halten Kurs.
({11})
Christoph Strässer ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte mir heute eigentlich vorgenommen, mich bei diesem ernsten und wichtigen Thema nicht aufzuregen,
({0})
insbesondere nicht bei Ihren Ausführungen, Frau Kollegin Schuster. Diese waren aber wirklich an der Grenze
dessen, was noch mit der Wahrheit zu tun hat; das will
ich ganz deutlich sagen.
({1})
Erlauben Sie mir zwei Bemerkungen zum Thema
Wahrheit. Der erste Versuch, einen gemeinsamen, interfraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, kam in erster Linie aus der Fraktion der Grünen und ist dann gemeinsam mit uns in der Position eingebracht worden,
einen Kompromiss zu finden, den wir alle gemeinsam
tragen können. Wenn Sie jetzt sagen, wir sollten einfach
Ihren Antrag abschreiben, ist das pure Geschichtsklitterung.
({2})
Tatsache ist: Drei Viertel Ihres Antrags wurden bei RotGrün abgeschrieben. Ich denke, das muss man denjenigen, die hier zuhören, auch einmal zur Kenntnis bringen.
({3})
Deshalb ist Ihr Antrag nicht insgesamt falsch; das will
ich hier gar nicht behaupten. Ihre Begründung, die Sie
hier heute vorgetragen haben, will ich Ihnen aber gerade
in Vorbereitung des Internationalen Tages gegen die Todesstrafe doch einmal vorführen, weil ich glaube, Sie
machen hier einen riesengroßen Fehler. Wir machen
diese Veranstaltung nämlich nicht für uns und nicht für
die Galerie, sondern wir setzen uns gerade am
10. Oktober für die Menschen ein, die weltweit in Knästen sitzen - zum Teil seit vielen Jahren - und mit der Todesstrafe bedroht sind. Denen wollen wir helfen.
Jetzt muss ich Ihnen wirklich sagen: Ich kann Sie
nicht begreifen; Sie haben sich ja nicht auf diese eine
Person kapriziert.
({4})
Wir haben im Wege des Kompromisses einen Vorschlag
gemacht - hören Sie mir bitte zu -, den ich nach wie vor
für richtig halte und der dem Thema auch angemessen
ist. Wir haben gesagt: Wir wollen diese eine Person
exemplarisch, aber doch nicht wertend benennen. Wenn
jemand in China, im Iran, im Irak, im Jemen oder in den
USA hingerichtet wird, dann ist das nicht weniger
schlimm, als wenn jemand in anderen Regionen dieser
Welt hingerichtet wird. Ich finde aber, man muss in einer
solchen Debatte auch einmal Klartext reden und sagen,
dass im Iran - Sie haben es gesagt - 388 Menschen hingerichtet wurden: schwangere Frauen, Behinderte, Minderjährige. Sollen wir dazu schweigen?
({5})
Sollen wir so tun, als sei das ein Problem, mit dem wir
gar nichts zu tun haben?
Sie haben auch den Irak nicht angesprochen. Wir holen Menschen aus dem Irak zurück, weil sie dort bedroht
sind. Dort sind 120 Menschen hingerichtet worden. Dürfen wir im Deutschen Bundestag in einer Resolution
zum Internationalen Tag gegen die Todesstrafe nicht
mehr den Namen „Irak“ erwähnen? Ich bitte Sie allen
Ernstes! Ich finde, das kann nicht sein.
Sie haben jetzt China angesprochen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie unserem Antrag nicht zugestimmt haben, obwohl Sie die einzelnen Länder, um die
es geht, jetzt hier in dieser Debatte als Beispiel anführen.
Ich sehe keine Begründung dafür, warum Sie dies hier
nicht tun. Ich sage ganz deutlich: Es ist insgesamt - ich
schließe das ganze Haus hier ein, aber insbesondere Sie,
weil Sie nicht kompromissbereit gewesen sind; das ist
der Punkt - ein wirklich schlechtes Zeugnis für den
Deutschen Bundestag, dass er zum ersten Mal, seit es
diesen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe gibt,
nicht zu einer gemeinsamen Resolution gefunden hat.
({6})
Ich will das noch einmal sagen: Sie haben all diese
Einzelfälle angesprochen. Entschuldigung! Um was geht
es denn eigentlich? Glauben Sie denn allen Ernstes, dass
Menschen, deren Namen wir nicht kennen und die irgendwo in irgendeinem Knast auf dieser Welt auf ihre
Hinrichtung warten - zum Teil seit mehr als 20 Jahren -,
uns hier nicht zuhören, wenn Sie uns sagen, hier werde
priorisiert, wenn einzelne Beispiele genannt werden?
Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Es geht darum, in der Öffentlichkeit Interesse zu wecken und Meinungen herzustellen. Dabei geht es nicht darum, abstrakte Themen zu diskutieren und auf hohem Niveau
die Einhaltung internationaler Vereinbarungen einzufordern. Es geht dabei vielmehr um Menschen, um Gesichter und um Geschichten. Um diese Geschichten müssen
wir uns heute kümmern. Deshalb sind die Beispiele, die
wir angeführt haben, überhaupt nicht dafür geeignet,
dass irgendein anderes Schicksal vernachlässigt wird.
Wir müssen diese Beispiele nennen, damit sich die Öffentlichkeit von diesen Menschen ein Bild machen kann,
damit wir in der Öffentlichkeit Wirkung erzielen. Darum
und um nichts anderes geht es.
({7})
Ich will jetzt noch ein anderes Thema ansprechen, da
wir auch einen Antrag zum Folterverbot debattiert haben. Der Kollege Heinrich hat sich schon beim letzten
Mal interessanterweise dazu geäußert - so wie Sie jetzt
auch wieder, Frau Schuster. Sie haben einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Es wird zwar viel geredet,
aber dann heißt es: Damit brauchen wir uns gar nicht
mehr zu beschäftigen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Arbeit
im Ausschuss auch komplett einstellen. Wenn Sie sagen,
Sie haben einen Koalitionsantrag gemacht, in dem alle
Punkte irgendwie erwähnt sind, dann brauchen wir hier
gar nicht mehr zu sitzen.
Ich darf aber einmal darauf hinweisen, dass wir mit
unserem Antrag auf konkrete Ereignisse, und zwar nicht
irgendwo anders, sondern hier in Deutschland, Bezug
genommen haben. Dabei geht es zum Beispiel um die
Frage, wie wir eigentlich das von Ihnen angesprochene
und sehr wichtige Zusatzprotokoll zur UN-Anti-FolterKonvention umsetzen.
Ich darf Sie einmal ganz aktuell darauf verweisen
- das konnten Sie in Ihrem damaligen Antrag leider noch
nicht berücksichtigen -: Es gibt seit wenigen Wochen den
ersten Bericht der Bundesstelle zur Verhütung von Folter.
Der Leiter dieser Stelle, der uns nicht sehr nahe steht, der
Kollege Lange-Lehngut, hat ganz deutliche Dinge dazu
gesagt. Er hat gesagt: Wir als Bundesstelle müssen
300 Gewahrsamseinrichtungen begutachten. - Er ist ehrenamtlicher Chef, und die Bundesstelle verfügt über
eine gewisse Ausstattung. Er hat für diese Aufgabe zwei
Stellen in Wiesbaden und 200 000 Euro zur Verfügung.
Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir mit erhobenem
Zeigefinger auf die Menschenrechtsverletzungen in der
ganzen Welt zeigen, aber eine Präventionsstelle zur Verhinderung von Folter, die beispielhaft für solche Stellen
in anderen Ländern sein soll, so ausstatten, dann ist das
für Deutschland und diese Bundesregierung schlicht und
ergreifend peinlich. Das ist der eine Punkt, um den es
geht.
({9})
Deshalb werden wir das möglicherweise in den Haushaltsberatungen aufgreifen. Es geht schließlich nicht um
weltbewegende Größenordnungen. Wir wollten das
Thema wieder auf die Tagesordnung bringen. Wir haben
erst einmal eine Erhöhung der Mittel um 30 000 Euro
gefordert, um deutlich zu machen, dass wir uns mit diesem Thema befassen. Aber selbst dabei sind Sie nicht
bereit, sich zu bewegen. Wenn wir aber selbst unsere
Hausaufgaben in diesem wichtigen Punkt nicht machen,
dann ist es nicht in Ordnung, auf die Welt um uns herum
zu blicken und dafür zu sorgen, dass andere Länder etwas unterschreiben, was wir zwar auch unterschrieben
haben, aber ungenügend umsetzen. Das ist die Wahrheit.
Darum geht es an dieser Stelle.
Der letzte Punkt, der auch eine aktuelle Dimension
hat, ist die Frage, wie wir mit den sogenannten diplomatischen Zusicherungen umgehen. Auch das ist in den Berichten der Bundesregierung kritisch angesprochen worden. Diplomatische Zusicherungen sind Vereinbarungen
auf Regierungsebene über Menschen, die in Deutschland
unter Terrorismusverdacht festgenommen und inhaftiert
worden sind und die aufgrund von Zusicherungen ausländischer Regierungen in bestimmte Länder überstellt
werden, in denen sie sonst nicht nach völkerrechtlichen
Standards behandelt würden.
Ich sage: Es kann Überstellungen geben, aber sie dürfen nicht auf der Basis von relativ unverbindlichen diplomatischen Zusicherungen erfolgen. In dem „hochdemokratischen“ Land Syrien zum Beispiel werden, wie
wir mittlerweile wissen, Terrorverdächtige bei einer
Rückführung unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder verhaftet und in bestimmten Einrichtungen gefoltert. Deshalb kann diese Bundesregierung, die sich auf einem guten Weg sieht, aus meiner Sicht nur sagen: Wir machen
nur dann beim Antiterrorkampf mit, wenn völkerrechtliche Standards eingehalten werden. Sofern es noch die
Praxis der Überstellung aufgrund diplomatischer Zusicherungen gibt, muss sie beendet werden. Aus meiner
Sicht können Menschen nicht in Staaten zurückgeführt
werden, in denen es noch Folter gibt.
Das ist eine konkrete Forderung. Ich lade Sie gerne
ein, mit uns darüber zu diskutieren. Ansonsten hoffe ich,
dass wir uns trotz aller möglichen Missverständnisse im
Vorfeld und Streitigkeiten, die wir jetzt haben, bei dem
Thema einig sind. Ich bin sicher, dass die Todesstrafe
insgesamt abgeschafft wird. Das Folterverbot muss weltweit, also auch in Deutschland, gelten. Dafür müssen wir
mit den Instrumentarien, die wir zur Verfügung haben,
sorgen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Frieser für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich unterstelle dem Kollegen Strässer immer das
Beste. Das gilt gerade für diese Debatte, in der es um die
Todesstrafe geht. Allerdings halte ich die Aufregung für
etwas gespielt, insbesondere im Hinblick auf den historischen Kontext, in dem wir uns bewegen.
Am Anfang stand der Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ der Koalitionsfraktionen, in dem bereits
auf die Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden
Ländern eingegangen worden ist. Ich will das kurz aufrollen, damit nichts unverstanden bleibt. Daraufhin hat
die Fraktion Die Linke einen zu einem großen Teil wortgleichen Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich entschlossen, diesen Antrag abzulehnen und einen eigenen
Antrag einzubringen. Dann gab es ein Problem. Wir sind
nämlich der Auffassung, dass wir einen gemeinsamen
Grundlagenantrag zur Ächtung der Todesstrafe erarbeiten sollten. Das hat nichts mit fehlender Kompromissbereitschaft oder Ähnlichem zu tun. Das Thema ist und
bleibt grundsätzlich immer aktuell; denn für uns sind
Menschenrechte unteilbar und universell, und die Todesstrafe ist die ultimative Form der Menschenrechtsverletzung. Deshalb muss man immer wieder grundsätzlich
feststellen, dass sich kein Mensch als Richter über Leben
und Tod aufspielen kann, weil er damit auch immer ein
Stück weit über sich selbst urteilt. Deshalb müssen Sie,
Herr Strässer, damit leben, dass Sie immer, wenn Sie einen Einzelfall herausgreifen, werten und gewichten
müssen.
({0})
Ich unterstelle Ihnen beste Absichten. Sie tun das
selbstverständlich nicht, um unbedingt eine andere Konnotation mitschwingen zu lassen und eine andere Auseinandersetzung zu führen. Ein gemeinsamer Antrag ist
aber definitiv gescheitert, weil wir nicht bereit sind, anhand von Einzelfällen eine Form von Landeskritik, die
ideologisch getragen ist, zu üben. Wir sind der Auffassung, dass wir als Mitglieder des Bundestages, wenn wir
ein Land besuchen, selbst Kritik üben können oder dass
die Exekutive auf der Grundlage eines Antrages dieses
Bundestages das tun soll. Aber wir lassen uns nicht instrumentalisieren. Wenn es um Einzelfälle geht, machen
wir nicht Politik in dem betreffenden Land, und das auch
noch ideologisch verbrämt. Dann können Sie mit unserer
Zustimmung nicht rechnen.
({1})
Die generelle Ablehnung der Todesstrafe eint uns sicherlich. Ich glaube auch, dass wir an dieser Stelle Gott
sei Dank nicht sehr weit auseinanderliegen. Ich kann Ihnen aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass sich
unsere grundsätzlichen Denkansätze unterscheiden. Das
mag nicht immer hinlänglich klar sein. Aber die Verantwortungsethik im Max Weber’schen Sinn besagt, dass
der nächste Schritt der wesentliche ist und dass es um
das Bohren dicker Bretter geht. Wir können durchaus darauf verweisen, dass es weltweit Erfolge gibt. Es gibt immer mehr Staaten, die entweder auf die Todesstrafe verzichten oder zumindest ihre Anwendung aussetzen und
sie nicht mehr praktizieren. Dieser Weg ist lang und stei6930
nig. Aber ich glaube, dass wir kleine Schritte machen
müssen und bilaterale Gespräche der bessere Weg sind.
Eine ideologische Auseinandersetzung sollte in diesem
Kontext nicht geführt werden.
({2})
Ich kann nicht sagen, dass das Ganze durch den Änderungsantrag, den die Grünen heute kurzfristig eingebracht haben, besser wird. Dort wird auf noch mehr Dramaturgie gesetzt. Natürlich verträgt der Einsatz gegen
die Todesstrafe durchaus etwas Dramaturgie und Pathos.
Trotzdem bin ich der Auffassung: Wenn wir Staaten auffordern, sich diesem Thema im kulturhistorischen Kontext zu nähern, dann sollten wir das, vor allem wenn es
um Einzelfälle geht, auf bilateraler Ebene tun. Herr
Strässer, wenn Sie ein Land besuchen, können Sie den
entsprechenden Einzelfall anprangern. Aber Sie müssen
auch damit leben, dass es im Einzelfall nicht einfacher
wird, wenn man auf ihn hinweist. Die Situation kann
auch schlimmer werden.
Im Grunde dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, das
grundsätzliche Anliegen des Koalitionsantrages zu unterstützen; denn das tut Ihrem Anliegen keinen Abbruch.
Ich hoffe, dass wir weiterhin darin geeint sind, dass das
Thema, über Tod und Leben zu entscheiden, gleichzeitig
auch eine Frage der Existenz ist. Aber im Einzelfall kann
dies nur ein Thema sein, wenn ich dem Betreffenden von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und etwas für
ihn erreichen kann. Wir sind der Auffassung, dass wir
das mit unserem Grundlagenantrag besser können als
mit Ihrem. Deshalb werden Sie mit unserer Ablehnung
Ihres Antrags leben müssen.
({3})
Niema Movassat ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Die Todesstrafe ist das bezeichnende und ewige
Merkmal der Barbarei“, schrieb Victor Hugo. Dieser Gedanke wohnt auch dem Grundgesetz inne; denn die Todesstrafe verstößt gegen Art. 1, die Unantastbarkeit der
Würde des Menschen. Darin sind sich alle Fraktionen in
diesem Haus einig.
Einig sind sich zumindest SPD, Grüne und Linke in
ihren Anträgen auch bei Mumia Abu-Jamal. Der politische Gefangene und Journalist Mumia kämpft in den
USA seit 29 Jahren um ein neues Verfahren. Im November gibt es eine mündliche Anhörung über die Frage der
Todesstrafe gegen ihn. Was wir schon im Dezember
2009 hier gefordert haben, bleibt damit aktuell. Die gegen ihn ausgesprochene Todesstrafe muss in eine Haftstrafe umgewandelt und der Fall frei von Rassismus erneut untersucht werden.
({0})
Nach China sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die
USA und der Jemen die Länder mit den meisten Exekutionen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen - das wurde
schon gesagt - erwähnt dies mit keinem Wort. Mit vier
dieser fünf traurigen „Tabellenführer“ unterhält Deutschland umfangreiche Programme zur Polizei- und Militärkooperation, liefert Technologie und Ausrüstung oder
tauscht personenbezogene Daten zur sogenannten Terrorbekämpfung aus. Das ist nicht der Weg, mit dem man
seinen Protest gegen eine so krasse Menschenrechtsverletzung wie die der Todesstrafe glaubwürdig vertritt.
({1})
Leider geht auch niemand von Ihnen in den Anträgen
auf extralegale bzw. gezielte Tötungen ein. Das ist eine
andere Form der Todesstrafe. Diese Abwandlung der
klassischen Todesstrafe hat in den letzten Jahren im Rahmen von Kriegen und Konflikten erschreckende Ausmaße angenommen.
Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten verbietet aber nicht nur die Todesstrafe,
sondern erlaubt auch keine Abweichungen in Notstandsfällen wie beispielsweise im Krieg. Im Zuge des sogenannten Krieges gegen den Terrorismus ist aber offensichtlich jedes Mittel recht.
Am Montag berichteten zahlreiche Medien von der
Hinrichtung mutmaßlicher deutscher Terroristen in Pakistan durch US-Drohnen. Seit 2008 sind schon 1 150 Menschen so hingerichtet worden: kein Prozess, keine Beweisführung, kein rechtsstaatliches Urteil, vielmehr
Todesstrafe auf Verdacht und Knopfdruck. Das ist menschenverachtende Willkür und wird von der Fraktion
Die Linke in aller Deutlichkeit verurteilt.
({2})
Die Bundesregierung betont gerne, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht direkt an extralegalen Tötungen beteiligt ist, sondern lediglich Personen benennt, die
gefangen genommen werden sollen. Aber zum einen
weiß auch die Bundesregierung, dass diese Personen
schon einmal getötet statt gefangen genommen werden,
zum anderen hat das Bundesverteidigungsministerium
im August 2010 mitgeteilt, dass entsprechend dem
ISAF-Regelwerk eine Liste mit Zielpersonen geführt
wird, bei denen die Möglichkeit besteht - ich zitiere „die Anwendung gezielt tödlich wirkender militärischer
Gewalt zu empfehlen“. Also leistet die Bundeswehr
doch indirekte Unterstützung für gezielte Tötungen
durch andere ISAF-Truppen. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({3})
Extralegale und gezielte Tötungen sind im sogenannten Krieg gegen den Terror zu einem Standardmittel der
sogenannten westlichen Wertegemeinschaft geworden.
Dabei sind Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil erst
recht ein Rückschritt in die Barbarei. Wer gibt einer kleinen Gruppe von Politikern, Geheimdienstlern und Militärs das Recht, über Leben und Tod von Menschen zu
entscheiden? Diese Vorgehensweise widerspricht eindeutig rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies sieht übriNiema Movassat
gens auch Wolfgang Bosbach so, Mitglied der CDU/
CSU-Fraktion und Vorsitzender des Innenausschusses.
Ich zitiere aus seinem Interview mit dem Deutschlandradio aus dem Jahr 2007:
Die gezielte Tötung halte ich für mehr als problematisch, denn dafür sehe ich keine Rechtsgrundlage
… Und selbst wenn man sagen würde, hier geht es
nicht um Strafe, sondern um Gefahrenabwehr, …
kann ich mir … keine Rechtsnorm vorstellen, wo
wir das vorsätzliche Töten zum Zwecke der Gefahrenabwehr in das Gesetzbuch nehmen …
Es gilt: Auch in einem sogenannten Krieg gegen den
Terrorismus dürfen zivilisatorische Werte und menschenrechtliche Errungenschaften nicht über Bord geworfen werden. Wer dies tut, begibt sich auf das Niveau
derjenigen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag
ist sich einig in der Frage, dass wir die Todesstrafe weltweit abschaffen und zurückdrängen wollen. Bei der Abschaffung der Todesstrafe geht es einerseits darum,
rechtliche Prinzipien durchzusetzen und für sie international zu werben, andererseits geht es um konkrete
Schicksale und konkrete Menschen, die unmittelbar von
der Todesstrafe bedroht sind. Sich für diese einzusetzen,
ist auch für Konservative, Christdemokraten in anderen
Parlamenten - wie dem Europäischen Parlament - eine
Selbstverständlichkeit. Dort gibt es dauernd Resolutionen zu Einzelfällen. Auch diese Christdemokraten reden
über Einzelfälle.
Ich darf Sie auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung hinweisen. Da liegt ein Antrag der Koalition, ein
Antrag der Grünen und ein Antrag der Linken zu Freiheit und zur Freilassung von Gilad Schalit vor, einem israelischen Gefangenen, der vor vier Jahren von der
Hamas verschleppt wurde und seitdem gefangen gehalten wird. Natürlich reden wir da über einen Einzelfall
und nicht über ein abstraktes Prinzip, weil es bei dem
Schutz der Menschenrechte immer um ganz konkrete
Menschen geht, für die wir uns einsetzen müssen und für
die sich auch die Bundesregierung einsetzt. Ich muss sagen: Sie als Koalition blamieren sich, weil unsere Bundesregierung weitaus besser ist, als es Ihre Anträge vermuten lassen.
({0})
Selbstverständlich hat sich die Europäische Union zum
Beispiel im Fall von Teresa Lewis in den letzten Wochen
massiv gegen deren Tötung eingesetzt. Selbstverständlich kämpft man weltweit darum, Frau Aschtiani vor der
Steinigung zu retten.
({1})
Selbstverständlich geht es um Einzelfälle. Es ist kein
Schaden, wenn Personen im Rahmen einer solchen
Kampagne prominent werden, weil sie das unter Umständen vor der Vollstreckung der Todesstrafe schützt.
Deshalb ist unsere Strategie richtig.
Aber Sie gehen noch weiter. 14 Tage nachdem wir unseren Antrag eingebracht hatten, haben Sie ihn übernommen und einfach Punkte herausgestrichen. Da möchte
ich Sie schon fragen, was der Sinn Ihrer Streichungen
ist. Sie fordern in Ihrem Antrag zu Recht zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Russland auf, die
die Abschaffung der Todessstrafe betreffenden Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterschreiben.
Aber warum haben Sie unsere Forderung an China
aus dem Antrag gestrichen,
({2})
seine Zusage - es hat sie im Rahmen der Olympiade gemacht und immer wiederholt -, endlich den UN-Zivilpakt, durch den die Todesstrafe wesentlich zurückgedrängt, wenn auch nicht ganz abgeschafft würde, zu
unterschreiben? Weil Ihnen das Urheberrecht und das
Markenrecht in China und gute Beziehungen wichtiger
sind, als hier Klartext zu reden?
({3})
Warum haben Sie aus Ihrem Antrag die Aufforderung an
den Iran herausgenommen, der den UN-Zivilpakt zwar
unterschrieben hat, sich aber einen feuchten Kehricht um
seine Einhaltung kümmert? Wir wissen doch, dass
Frauen und Homosexuelle im Iran für einfache Sexualund Moraldelikte reihenweise erhängt oder gesteinigt
werden. Warum sprechen Sie den Iran hier nicht direkt
an, obwohl das ein ganz konkretes Thema ist? Liegt es
vielleicht ebenfalls an den guten wirtschaftlichen Beziehungen, die Deutschland zum Iran hat, dass man hier
nicht Ross und Reiter nennt? Warum, obwohl wir gerade
den Fall Lewis diskutiert haben, erinnern wir unseren
Bündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika nicht
explizit daran, dass wir von ihm erwarten, dass er sich,
wenn er eine Führungsrolle in der Welt für sich beansprucht, auch bei der Beachtung der Menschenrechte im
eigenen Land an die Maßstäbe hält, die er von anderen
Ländern immer selbstverständlich einfordert?
({4})
Warum schweigen Sie in Ihrem Antrag zu diesen Fällen, obwohl Sie andere Länder durchaus benennen?
({5})
Da fragt man sich: Welcher Gedanke steckt hinter diesem selektiven Abschreiben unseres Antrages? Ich muss
sagen: Heute ist kein guter Tag für die Menschenrechte.
Das zeigt sich darin, dass wir uns bei einer solchen Frage
über den Text nicht einigen konnten, obwohl wir das
versucht haben.
({6})
Volker Beck ({7})
Ich möchte etwas zu der Partei sagen, die in ihrem
Namen ein großes C trägt, was ich respektiere. Sie reden
in letzter Zeit viel über das christliche Menschenbild und
machen sich darüber Gedanken. Um etwas zu den Einzelfällen zu sagen, möchte ich gerne mit einem Wort aus
der Bibel schließen:
Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan.
Oder auch nicht. Matthäus 25, 40.
({8})
Frank Heinrich ist der letzte Redner in dieser Debatte
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht erwartet, dass nicht
ich, sondern mein Vorredner einen Vers aus der Bibel
- ich habe sie zu Hause; ich war Pastor - vorliest. Ich
werde darauf gleich noch kurz eingehen. Ich glaube, darin steckt die Botschaft, dass es einen Unterschied gibt
zwischen dem, was wir als ganzes Haus machen und repräsentieren, und dem, was einer einem Geringsten getan hat.
({0})
Ich will damit einfach vorwegnehmen: Ich glaube, dass
wir als Einzelne sehr wohl in der Lage sind, die Menschenrechte hochzuhalten, Einzelpersonen zu nennen.
Ich möchte auf den zweiten Schwerpunkt dieser Debatte zu sprechen kommen. Er ist von Ihnen, Frau
Schuster, und von anderen am Rande erwähnt worden.
Es geht nicht nur um die Todesstrafe, sondern auch um
die im Antrag der SPD und in der Beschlussempfehlung
behandelte Folter.
Die weltweite Bekämpfung der Folter ist eine der
wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben.
Das ist der letzte Satz im ersten Absatz Ihres Antrags,
den wir heute abschließend beraten. Ja, vollkommen unterstütze ich ihn. Ich betone: ein ausdrückliches und
deutliches Ja. Folter erniedrigt, entwürdigt, entrechtet
die Opfer. In aller Entschiedenheit müssen wir Folter bekämpfen und Folteropfer unterstützen.
({1})
Deswegen hat die Koalition ganz zu Beginn der Legislaturperiode den eben erwähnten Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ eingebracht und sehr deutlich
formuliert: Das Folterverbot gilt absolut für alle, und es
darf nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden.
Trotzdem ist Folter in 81 Staaten - Sie schreiben von
111 Staaten, Amnesty spricht von 81 Staaten - traurige
Realität. Ich erinnere mich, dass auch Freunde von mir
damals hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gefoltert wurden. Einmal war ich sehr wahrscheinlich der Anlass, weil ich einen Fehler gemacht hatte, und mein
Freund wurde danach von der Securitate aufgesucht, abgeholt, verhört - und ich weiß nicht und möchte mir
auch nicht vorstellen, was noch folgte.
Gravierend ist die Lage - das haben wir bereits von
Frau Schuster und auch von anderen gehört - im Iran.
Hauptbeweismittel in den dortigen Verfahren sind oft
Geständnisse, die regelmäßig und systematisch durch
Folter erzwungen werden. Politische Häftlinge reden
von Misshandlungen, Schlafentzug, Vergewaltigungen,
Drohungen gegen die Familie. Unsere Fraktion wird daher einen gesonderten Antrag zur Lage im Iran vorlegen.
({2})
Dass neben Industriestaaten wie Italien, Spanien und
den USA auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, auf
der Amnesty-Liste erscheinen, ist erschütternd und lässt
sich letztlich nicht rechtfertigen. Mit der Einrichtung der
Bundesstelle für Verhütung, die Sie auch in Ihrem Antrag erwähnen, verfügt die Bundesrepublik allerdings
über einen wirksamen Präventionsmechanismus.
({3})
Noch ist keine Länderkommission zur Verhütung von
Folter eingerichtet. Sie wird aber, wie Sie in Ihrem Antrag richtig sagen, in nächster Zeit konstituiert.
Dem ersten Jahresbericht - Herr Strässer, Sie haben
darauf hingewiesen -, der in diesem September erschienen ist, ist zu entnehmen, dass die Überprüfung von Einrichtungen aufgrund der personellen Ausstattung nur
stichprobenartig erfolgen kann. Das kann man in methodischer Hinsicht infrage stellen. Man kann es aber auch
begrüßen;
({4})
denn flächendeckende Untersuchungen bringen unter
Umständen eher geschönte Ergebnisse hervor, als das
bei Stichproben der Fall ist.
Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen auf jeden Fall - auch das steht im jetzt erschienenen Jahresbericht -, dass die menschenrechtliche Lage in den Gewahrsamseinrichtungen der Bundesrepublik erfreulich
positiv ist. Daher ist es, finden wir, nicht legitim, die
Ausstattung der deutschen Präventionsstelle zur Verhütung von Folter mit denen anderer Länder zu vergleichen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.
Weiterhin enthält der Antrag die Forderung, Flüchtlinge und Schutzbedürftige nicht in Staaten abzuschieben, in denen gefoltert wird.
({5})
Diese Forderung ist inhaltlich richtig, allerdings, wie wir
finden, sachlich überflüssig. Für die Ausländer in unserem Land gibt es das Asylrecht und das Ausländerrecht.
Herr Kollege, wollen Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck beantworten?
Ich bitte Sie, Herr Beck.
({0})
Ich finde es sehr gut, dass wir uns darüber verständigen, dass wir keine Flüchtlinge in Länder abschieben,
wo gefoltert wird. Wir haben gegenwärtig den Fall, dass
ein deutscher Staatsbürger in Syrien verschwunden ist.
An diesem Fall können wir sehen, wie der syrische
„Rechtsstaat“ funktioniert. Trotzdem ist vor einiger Zeit
mit den Stimmen dieser Koalition das deutsch-syrische
Rücknahmeabkommen geschlossen worden. Wir erleben
regelmäßig, dass politische Oppositionelle oder Teile der
kurdischen Minderheit, die wir nach Syrien zurückschieben, dort verschwinden. Stimmen Sie mir zu, dass man,
wenn man nach Ihren Worten verantwortlich handeln
will, nach Syrien keine Kurden, keine Oppositionellen
und keine Menschen, die dort womöglich strafrechtlich
verfolgt werden, zurückschieben darf?
({0})
Ich gebe Ihnen recht; ich habe selber mit syrischen
Staatsbürgern gesprochen. Es gibt im Hinblick auf Ausländer, die wegen bestimmter Angelegenheiten in ihrem
Herkunftsland mit Problemen - unter anderem solchen,
wie Sie sie beschrieben haben - zu rechnen haben, inzwischen dieses Rücknahmeabkommen.
({0})
Wir haben aber die deutliche Aussage, dass in Asylverfahren, die die unmittelbare Rückführung zur Folge haben könnten - Sie sprachen Syrien an -, vorerst auf Ablehnung verzichtet werden soll. Da ist also vonseiten
unseres Innenministeriums schon eingeschritten worden.
({1})
Die Innenbehörden unseres Landes wurden zudem
aufgefordert, jeden Einzelfall der Rückführung besonders sorgfältig zu prüfen. Das heißt, man ist sich dessen
in einem gewissen Maße bewusst und verändert seine
Haltung dazu.
({2})
Im vorliegenden Antrag - ich komme darauf zurück wird die stille Diplomatie teilweise direkt oder indirekt
kritisiert. Ich kann mich daran erinnern, dass vor zwei
Wochen der Außenminister bei uns im Ausschuss war
und anschaulich, wie ich finde, klargemacht hat, dass gerade das Mittel der stillen Diplomatie sehr effektiv sein
kann und Opfer schützt, weil sich Staaten so nicht brüskiert fühlen müssen.
Noch einmal zum Iran. Dort wird beispielsweise den
Bahai oft vorgeworfen, Spionage zu betreiben. Von ähnlichen Anschuldigungen gegen christliche Organisationen hören wir auch. Wir in Chemnitz haben das im
Zusammenhang mit der verstorbenen Daniela Beyer
schmerzlich erfahren müssen. Dieser Vorwurf wurde
auch mit ihr in Verbindung gebracht. Wenn so etwas
überhöht und in der Öffentlichkeit laut geäußert wird,
unter anderem von unserer Ebene, dann kann das für Betroffene zu noch stärkeren Repressalien führen. Die stille
Diplomatie ist ein unverzichtbarer Teil sowie die andere
Seite der Medaille, auf deren erster Seite der Aufdruck
„Menschenrechte weltweit schützen“ steht.
Herr Strässer, Sie haben gesagt: exemplarisch und
nicht wertend. - Wir befürchten, dass das dann passiert.
Wir nehmen keine Wertung vor, aber die Länder, die wir
verurteilen, nehmen eine Wertung vor. Die sagen dann
mit Blick auf die Namen, die nicht genannt werden: Auf
die brauchen wir nicht ganz so genau zu achten.
({3})
NGOs, einzelne Abgeordnete und viele Bürger sollten
sich dafür einsetzen, dass Sachverhalte und Personen genannt werden - das ist wirklich zu begrüßen -; aber im
Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme dieses Hauses
wäre das fehl am Platze.
({4})
Herr Kollege.
Deshalb begrüßen wir jeden Antrag, in dem wir uns
generell gegen Folter aussprechen. Damit handeln wir,
schaffen wir Handlungsmaximen, die Resolutionscharakter besitzen und den Bezugsrahmen für einzelne Aktivitäten darstellen können.
({0})
Herr Kollege.
Das halten wir für selbstverständlich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Bevor wir nun zu einer Reihe von Abstimmungen
kommen, bedanke ich mich bei all den Kolleginnen und
Kollegen, die die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse
für das Präsidium übersichtlicher gestaltet haben, als es
noch vor wenigen Minuten der Fall war.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/3181. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
der Drucksache 17/2331 mit dem Titel „Todesstrafe
weltweit ächten und abschaffen“. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor,
über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/3235?
({1})
- Das ist jedenfalls nicht die Mehrheit. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist
mit Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung ab.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2114 mit
dem Titel „Todesstrafe weltweit abschaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2131
mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe weltweit“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Folter bekämpfen und Folteropfer
unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3180, den Antrag
der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/2115 abzulehnen.
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier ist die
Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver
Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
- Drucksache 17/3182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Dazu
gibt es offenkundig keine Einwände. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß,
Dr. Georg Nüßlein, Rolf Hempelmann, Klaus Breil,
Dorothée Menzner und Oliver Krischer.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 17/3182 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es andere Vorschläge, Einwände, Widerstände? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 18:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksachen 17/2866, 17/3034 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
- Drucksache 17/3169 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({4})
Ute Vogt
Ralph Lenkert
Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben. - Einwände sind nicht erkennbar. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Dr. Michael Paul, Ute Vogt, Michael Kauch, Ralph
Lenkert und Hans-Josef Fell.2)
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3169, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 17/2866 und 17/3034 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der Gesetzentwurf ist mit gleicher Mehrheit gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Biologische Vielfalt für künftige Generationen
bewahren und die natürlichen Lebensgrundla-
gen sichern
- Drucksache 17/3199 -
Die hierzu vorgesehenen Reden sollen zu Protokoll
gegeben werden. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest.
Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol-
legen Josef Göppel, Dr. Matthias Miersch, Angelika
Brunkhorst, Sabine Stüber und Undine Kurth.1)
Wir kommen zur Abstimmung.
Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der
Drucksache 17/3199? - Alle beteiligten Fraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke ist dieser Antrag angenommen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die richtigen Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen Klimaforschung und Geowissenschaften stärken und die Voraussetzungen für ein nationales und europäisches Krisenmanagement im
Luftverkehr schaffen
- Drucksache 17/3174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel,
Ulrike Gottschalck, René Röspel, Torsten Staffeldt,
Herbert Behrens und Winfried Hermann.
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-
kull war eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes,
die sowohl die Bundesregierung als auch die Beteiligten
der Luftverkehrsbranche vor dem Hintergrund der Kon-
taminierung des deutschen Luftraumes mit Vulkanasche
vor bis dahin noch unbekannte Herausforderungen ge-
stellt hat. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion
fordert nun dazu auf, die richtigen Lehren aus dieser
Ausnahmesituation zu ziehen.
1) Anlage 7
Ich wiederhole an dieser Stelle zunächst gerne, dass
die Vorgehensweise der Entscheidungsträger angemessen und zu jedem Zeitpunkt richtig war. Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich
bei seinen gemeinsam mit der Deutschen Flugsicherung
und dem Deutschen Wetterdienst abgestimmten Entscheidungen zur Sperrung des Luftraums an den internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Die
für den weltweiten zivilen Luftverkehr geltenden Sicherheitsstandards der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation, die in einer Ausnahmesituation wie dem Vulkanausbruch gelten, haben die Freigabe der betroffenen Gebiete aufgrund der Kontaminierung des Luftraums nicht
zugelassen. Auch der im Lage- und Informationszentrum
der Deutschen Flugsicherung eingerichtete Krisenstab
konnte nicht zuletzt durch den Zugriff auf die vor Ort vorhandene technische Infrastruktur und den unmittelbaren
Kontakt mit dem BMVBS, dem Bundesaufsichtsamt für
Flugsicherung, dem Deutschen Wetterdienst, allen DFSNiederlassungen und Eurocontrol entscheidend zum Management der Ausnahmesituation beitragen. Nicht zuletzt hat insbesondere die schnelle und unbürokratische
Realisierung von eigenen Messflügen des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem Forschungsflugzeug „Falcon“ die Ermittlung aussagekräftiger und
verlässlicher Messwerte ermöglicht.
Diese Maßnahmen belegen das hervorragende Krisenmanagement der Bundesregierung, die zu jedem
Zeitpunkt der Krisensituation der Sicherheit der Passagiere allerhöchste Priorität eingeräumt hat. Die Vorbehalte im vorliegenden Antrag, die Reaktion der Regierung sei unzureichend und eine politische Führung sei
nicht vorhanden gewesen, sind dementsprechend haltlos. Gerade weil der Vulkanausbruch für alle beteiligten
Entscheidungsträger eine neue Situation dargestellt hat,
ist das gelungene Krisenmanagement der Regierung
umso höher zu bewerten.
Rückblickend betrachtet hat die Naturkatastrophe
Deutschland und ganz Europa überraschend getroffen
und Regelungslücken sichtbar gemacht, die vorher nicht
ersichtlich waren. Die betreffenden Herausforderungen
im zukünftigen Umgang mit Vulkanausbrüchen werden
nun seit der Wiederaufnahme des regelmäßigen Flugbetriebes entschieden und konsequent verfolgt. Der Bundesverkehrsminister hat hierzu eine Expertenrunde installiert, die einen entsprechenden Maßnahmenkatalog
entwickelt und bereits spürbare Fortschritte erzielt hat.
Der Zirkel, der neben Entscheidungsträgern der Ministerien und Verbände auch den DWD, die DFS, die Luftverkehrswirtschaft und Triebwerkshersteller vereint, ist
erst vor wenigen Wochen im September zu seiner dritten
Sitzung zusammengekommen und wird auch weiter effektiv und nachhaltig arbeiten. Zudem werden im Bundesministerium derzeit in einer verkehrsträgerübergreifenden Arbeitsgruppe Notfallkonzepte und Strategien
zur Krisenbewältigung erarbeitet, die insbesondere ein
koordiniertes Vorgehen und die Optimierung des Informationsmanagements für den Fall eines Komplettausfalls eines Verkehrsträgers zum Inhalt haben.
Der Anschein des vorliegenden Antrages, die Lehren
aus dem Ausbruch des Vulkans seien bisher nicht gezo6936
gen worden, ist dementsprechend nicht richtig. Der Bundesverkehrsminister hat seit der Ausnahmesituation gemeinsam mit seinem Haus mit Nachdruck an den
bestehenden Herausforderungen gearbeitet und wird
dies auch weiterhin tun. Dieses Engagement wird von
der CDU/CSU-Fraktion anerkannt, begrüßt und nachhaltig unterstützt.
Die Zielsetzungen der installierten Expertenrunde
verdeutlichen das konsequente und plausible Vorgehen
der beteiligten Akteure. So benötigt der Luftverkehr gesicherte Erkenntnisse und zuverlässige Vorhersagen
über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkanasche, die nur durch ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung von Messdaten und die Verbesserung von Modellberechnungen erreicht werden können. Erste Vorschläge
der Expertengruppe skizzieren ein nationales Messsystem, das Teil eines auf EU-Ebene diskutierten einheitlichen europäischen Messsystems sein könnte. Die
fortgeschrittenen Bestrebungen für ein nationales Messnetz fußen auf dem bereits existierenden CeilometerMessnetz des Deutschen Wetterdienstes, das für die Aufgabe einer Messung von Vulkanaerosolen qualifiziert
ist. Zudem sollen Hochleistungslidarsysteme helfen, die
Ceilometermessungen zu kalibrieren und verlässliche
Aussagen über die Vulkanaschebelastung der Luft zu ermöglichen. Zusätzlich soll mit Satellitensensorik die flächenhafte Verteilung der Vulkanasche überwacht und
mit den Ergebnissen der Computersimulationen verglichen werden. Auch Flugzeugmessungen sollen durchgeführt und mit Messungen der bodengestützten Systeme
sowie der Flächeninformation aus Satellitendaten verglichen werden.
Dieser Einblick verdeutlicht das Engagement der
Bundesregierung, ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung
aller Mess- und Modellinformationen sowie die Verbesserung computergestützter Ausbreitungsprognosen für
eine zuverlässige Bewertung der Gefährdung der Luftfahrt durch Vulkanasche zu installieren. Dieses Vorhaben, das in stetiger Abstimmung mit den europäischen
Entscheidungsträgern umgesetzt wird, unterstützen wir
ausdrücklich.
Neben den gesicherten Erkenntnissen und zuverlässigen Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkanasche benötigt der Luftverkehr zudem
verlässliche Angaben über die Auswirkungen von Vulkanasche auf die Flugzeuge, insbesondere auf die Triebwerke. Eine Festlegung verbindlicher Grenzwerte für
sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken und Luftfahrzeugen im Falle einer Kontamination der Luft mit
Vulkanasche ist ebenso hilfreich wie notwendig. Wir begrüßen vor diesem Hintergrund die auf europäischer
Ebene bereits sichtbaren Bestrebungen, gemeinsam mit
der Europäischen Agentur für Flugsicherheit mögliche
Grenzen für eine akzeptable Vulkanaschekontamination
zu ermitteln. Die Anhebung eines Grenzwertes von 2 mg/m3
auf 4 mg/m3 Asche durch einzelne EU-Mitgliedstaaten
ohne nachvollziehbare, methodisch belastbare Ableitung
wird von der Bundesregierung allerdings zu Recht nicht
mitgetragen. Auch die Hersteller von Flugzeugtriebwerken stützen dies ausdrücklich nicht.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund betonen wir
deutlich unsere Auffassung, dass in erster Linie die
Flugzeug- und Triebwerkhersteller in der Verantwortung stehen, sichere Betriebsbedingungen für ihre Produkte zu bestimmen. Intensive Forschungsbemühungen
seitens der Industrie sind unerlässlich für das Gewinnen
von belastbaren Grenzwerten. Nur so können die Auswirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und die
Flugsicherheit erarbeitet und eine europaweite Festlegung auf verbindliche Grenzwerte vorangetrieben werden. Wir begrüßen dementsprechend ausdrücklich, dass
die Expertenrunde des Bundesverkehrsministeriums
hierzu eng mit den Herstellern von Triebwerken zusammenarbeitet. Ich betone diesen Aspekt bewusst deutlich,
da wir die Generierung verlässlicher Angaben zu sicheren Betriebsbedingungen der Triebwerke als zentralen
Bestandteil der Vorsorgemaßnahmen für die Zukunft
verstehen. Wir teilen dabei die Ansicht der Bundesregierung, dass eine letztendliche Festlegung belastbarer
Grenzwerte von der EASA in enger Abstimmung mit den
Herstellern vorgenommen werden sollte.
Ein dritter und zentraler Punkt, den wir ebenso wie
die Bundesregierung und das Expertengremium als wesentlich im Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise bei
Vulkanausbrüchen erachten, ist ein international einheitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden. Vor dem
Hintergrund des internationalen Charakters des Luftverkehrs müssen einheitliche Verfahren entwickelt werden, um in einer vergleichbaren Situation wie im April
dieses Jahres angemessen und rechtssicher reagieren zu
können.
Erste richtungsweisende Maßnahmen, die bereits wenige Wochen nach der Naturkatastrophe auf europäischer Ebene durch das Engagement des Bundesverkehrsministers und dessen Amtskollegen aus den EUStaaten getroffen wurden, begrüßen wir an dieser Stelle
ausdrücklich. So orientieren sich die Luftüberwachungsbehörden aller EU-Länder gegenwärtig an dem
vom Londoner Vulcan Ash Advisory Center und Eurocontrol entwickelten „Drei-Zonen-Modell“, das eine angemessene Risikobewertung und Entscheidungsfindung
im Falle eines Vulkanausbruches ermöglicht. Das System definiert je nach der vorhergesagten Aschekonzentration drei Gebiete, die sich in eine Flugverbotszone,
eine Zone mit erweiterten Verfahren und eine Normalzone aufteilen und alle sechs Stunden neu definiert werden. So wird ein größerer Zugang zum europäischen
Luftraum unter uneingeschränkter Gewährleistung des
höchsten Sicherheitsniveaus ermöglicht, und alle EUMitgliedstaaten sind in der Lage, auf gemeinsamer Basis ihrer Verantwortung bezüglich ihres Luftraumes und
einer Entscheidung über die Luftraumschließung nachzukommen.
Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
unterstützt diese Methodik ebenso wie das Vorhaben der
Europäischen Kommission, das gegenwärtig als Empfehlung für die Mitgliedstaaten bestehende System gesetzlich zu verankern. Auch die Bundesregierung hat immer wieder mit Nachdruck darauf gedrängt, ein
einheitliches Vorgehen aller Luftfahrtbehörden auf die
Grundlage abgestimmter Verfahren zu stellen. Wir beZu Protokoll gegebene Reden
grüßen es daher ausdrücklich und bewerten es als weiteren Erfolg, dass Deutschland in der momentan laufenden 37. Versammlung der Internationalen ZivilluftfahrtOrganisation in Montreal darauf hingewirkt hat, dass
auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse international einheitliche Verfahren zum Umgang mit Luftkontaminationen herbeigeführt werden. Auch wenn die
ICAO-Versammlung zurzeit noch läuft, ist bereits ersichtlich, dass die von der EU vorgeschlagene ICAOStrategie zum Umgang mit Gefährdungen der Luftfahrt
durch Vulkanasche angenommen wurde. Die besagte
Strategie schreibt der ICAO eine Führungsrolle mit dem
Ziel zu, ein weltweit harmonisiertes Vorgehen zu ermöglichen. Die geltenden ICAO-Vorschriften werden nun
dementsprechend überarbeitet.
Die Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene und in der Versammlung
der ICAO ist an dieser Stelle gesondert hervorzuheben.
Bundesminister Dr. Ramsauer hat gemeinsam mit seinem Haus seit der Ausnahmesituation im April überaus
engagiert auf ein zeitnahes einheitliches Vorgehen der
Luftfahrtbehörden hingearbeitet und mit der von der
ICAO angenommenen Strategie einen weiteren großen
Schritt in diese Richtung getan. Ich betone ausdrücklich,
dass die CDU/CSU-Fraktion diesen Einsatz begrüßt,
unterstützt und zu schätzen weiß.
Zusammenfassend betrachtet wird deutlich, dass die
Bundesregierung ebenso engagiert wie erfolgreich daran arbeitet, ein effektives und nachhaltiges nationales
Konzept für den Umgang mit einer vergleichbaren Ausnahmesituation zu installieren. Durch den Aufbau einer
Expertengruppe und einer verkehrsträgerübergreifenden Arbeitsgruppe werden die drei vorrangigen Ziele eines zur Bewertung der Gefährdung benötigten dichten
Messnetzes, verlässlicher Angaben über die Auswirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und eines einheitlichen Vorgehens der europäischen Luftfahrtbehörden mit
Nachdruck verfolgt. Die ersten Ergebnisse des Engagements, die teilweise bereits wenige Wochen nach der Naturkatastrophe vorzuweisen waren, belegen den Erfolg
der Arbeit des Bundesverkehrsministeriums. Die Weichen für nachhaltige Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum
sind gestellt, die Entwicklungen werden auch weiterhin
konsequent verfolgt werden. Die Fraktion der CDU/
CSU begrüßt das bisherige Engagement der Bundesregierung und unterstützt deren weitere Vorgehensweise.
Zugleich wird ebenso deutlich, dass der vorliegende
Antrag dem Engagement der Bundesregierung und allen
Beteiligten nicht gerecht wird. Nicht nur die Argumentation, das Krisenmanagement sei unzureichend gewesen,
sondern insbesondere der erweckte Eindruck, die Lehren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull seien bisher noch nicht gezogen worden, decken sich nicht mit den Tatsachen. Zwar sind nicht alle
Ziele der Bundesregierung bis heute voll und ganz erreicht worden. Das ist aber schlicht der Tatsache geschuldet, dass die zu bewältigenden Aufgaben in jeglicher Hinsicht komplex sind. Ein verbindlicher
Grenzwert für sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken lässt sich ebenso wenig in kurzer Zeit ermitteln,
wie sich komplexe gesetzgeberische Rahmenbedingungen für ein europaweites oder gar internationales Vorgehen der Luftfahrtbehörden nicht kurzfristig installieren lassen. Das Zusammenspiel zwischen Politik,
Forschung und Industrie oder zwischen Entscheidungsträgern auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene kann nicht nach wenigen Wochen bereits abschließende und rechtssichere Resultate liefern. Dass
aber mit Nachdruck an den Herausforderungen gearbeitet wird, belegen die überaus ermutigenden Resultate,
die zum jetzigen Zeitpunkt bereits vorliegen. Nicht zuletzt die hervorragende Arbeit der Expertenrunde des
Bundesministeriums verdeutlicht, dass sowohl die Zielsetzungen als auch die Realisierung der Vorhaben absolut stimmig sind. Aus diesem Grund werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
Die Bundesregierung hat es als ihre Aufgabe verstanden, die Lehren aus der Vulkanaschewolke zu ziehen und
sich nachhaltig mit den Vorsorgemaßnahmen und Vorgehensweisen in der Zukunft auseinanderzusetzen. Nicht
zuletzt die erfolgreiche Arbeit des Bundesverkehrsministers belegt, dass dies geschehen ist und die Sicherheit
der Passagiere - die von Beginn an immer im Mittelpunkt des Engagements gestanden hat - auch in Zukunft
gewährleistet sein wird.
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull liegt jetzt einige Monate zurück. Die Auswirkungen
dieses Naturereignisses beschäftigen uns heute noch.
Die durch diesen Vulkanausbruch notwendig gewordenen Flugverbote haben Schätzungen zufolge 1,2 Millionen Passagiere pro Tag betroffen. Wir müssen davon
ausgehen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieses
Ausbruchs mehrere Milliarden Euro betragen. Allein die
Luftverkehrsunternehmen hatten laut Schätzungen
1,3 Milliarden Euro Verlust zu verkraften.
Ein wesentliches Kennzeichen dieses Naturereignisses war das Fehlen politischer Führung in der Krise.
Keiner wollte die Verantwortung übernehmen, bis sie
schließlich abgewälzt wurde auf die schwächsten Glieder der Kette, die sich nicht entziehen konnten, weil sie
Angst um ihren Job hatten. Diese Glieder der Kette waren die Fluglotsen und die Flugkapitäne. Wir alle haben
noch den Begriff kontrollierte Sichtflugverfahren im
Ohr. Während der Beeinträchtigungen des deutschen
Luftverkehrs haben die deutschen Fluggesellschaften
Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren beim Luftfahrt-Bundesamt beantragt und durchgeführt. Das Luftfahrt-Bundesamt ist dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordnet. Es hat
diese Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren als unbedenklich gewertet. Der Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung Herr Dr. Peter Ramsauer hat
sich jedoch im ARD-Magazin „Report München“ am
17. Mai 2010 von der Zustimmung zur Durchführung
dieser kontrollierten Sichtflüge distanziert.
Dieses Szenario dokumentiert die Hilflosigkeit und
Führungslosigkeit, denen wir in dieser Krise ausgesetzt
waren. Ein einheitliches und koordiniertes KrisenmaZu Protokoll gegebene Reden
nagement fand weder innerhalb Deutschlands noch auf
europäischer Ebene statt. Die Einführung eines so genannten Drei-Zonen-Modells der europäischen Flugsicherungsorganisation Eurocontrol hatte lediglich
empfehlenden Charakter. Zu dem unkoordinierten Handeln auf politischer Ebene kam das Fehlen von Faktenwissen, mangels fundierter und wissenschaftlich belegter Daten und Fakten als notwendige Grundlage für
politische Entscheidungen zum Beispiel über die Notwendigkeit der Durchsetzung oder Aufhebung von Flugverboten - hinzu.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen aus den Erfahrungen in dieser Krise lernen und die
notwendigen Vorkehrungen treffen, damit zukünftig auf
ähnliche Ereignisse professioneller und für alle Beteiligten zielführender reagiert werden kann. Wir setzen uns
daher in dem vorliegenden Antrag für die Stärkung der
Klimaforschung und Geowissenschaften und für die
Schaffung eines nationalen und europäischen Krisenmanagements im Luftverkehr ein.
Der Ausbruch des Eyjafjallajökull war, wenn auch
der spektakulärste und bekannteste Vorfall, nur einer
von insgesamt vier bekannt gewordenen Ereignissen, bei
denen es im Luftverkehr zu Problemen mit Vulkanasche
gekommen ist. In der Sondersitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages am 20. April 2010
wurde sehr deutlich, dass vor allem zu wenig Erkenntnisse darüber vorliegen, welche Folgen Vulkanasche auf
Flugzeugtriebwerke hat und welche Faktoren - zum Beispiel Flugdauer, Partikelkonzentration usw. - sich in
welcher Form qualitativ wie quantitativ auswirken. Die
Einrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschung
sowie der Geowissenschaften und der Deutsche Wetterdienst haben die Herausforderung durch den Ausbruch
des Eyjafjallajökull angenommen und wichtige Daten
und Fakten zur Fundierung weitreichender, politischer
Entscheidungen gesammelt. Es hat sich aber ganz deutlich gezeigt, dass die vorhandenen Kapazitäten und
Strukturen nicht ausreichen.
In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass die Bundesregierung die Forschungsförderung zum Klimawandel in den nächsten drei Jahren um zusätzliche
255 Millionen Euro erhöhen will. Die Förderung der Erforschung des Klimawandels und der Geowissenschaften kann uns nicht nur darin unterstützen, koordinierter
durch unerwartete Krisen, wie einen Vulkanausbruch, zu
kommen, sondern trägt auch zur Stärkung des Innovationsstandortes Deutschland bei.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grenzwerte
für Luftfahrzeuge und Triebwerke wissenschaftlich fundiert und verbindlich auf Ebene der EU festzulegen und
diese Definition auf internationaler Ebene rechtsverbindlich zu verankern. Eine gute Gelegenheit hierfür
wäre die Generalversammlung der Internationalen
Zivilluftfahrt-Organisation gewesen, die gegenwärtig in
Montreal tagt und morgen endet. Auf diese Art hätte eine
wichtige rechtliche Regelungslücke geschlossen werden
können.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung
auf, die Voraussetzungen für ein nationales, europäisches und internationales Krisenmanagement zu schaffen. Für den Fall eines erneuten Ausbruchs eines Vulkans in Europa soll die Bundesregierung einen
nationalen Krisenstab beim Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung entwickeln und einrichten.
Wir fordern die Erarbeitung und Festlegung eines einheitlichen Messystems zur Erhebung von Messdaten
über Konzentration, Verbreitung und örtlicher Veränderung von Vulkanasche. Wir müssen die Umsetzung des
Einheitlichen Europäischen Luftraums - Single European Sky - vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass
der Abschluss des Staatsvertrages zur Errichtung des
funktionalen Luftraumblocks FABEC noch in diesem
Jahr erfolgt.
Besonders wichtig ist die Unterstützung von Forschungsprojekten und die Entwicklung von Maßnahmen,
die bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und dem Auftreten von Aschewolken eine Gefährdung des Luftverkehrs
vermeiden und solch ein Ausmaß an Chaos und Vakuum,
wie wir es im April und Mai diesen Jahres erleben mussten, verhindern. Durch verstärkte auch finanzielle Unterstützung der Forschung sowie durch eine bessere Zusammenarbeit national, international, politisch und
zwischen den Fachleuten, Ingenieuren und Wissenschaftlern können wir bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und ähnlichen Krisen für eine sichere Flugplanung
sorgen und Aschekonzentrationen besser vorhersagen.
Außerdem müssen wir für die betroffenen Passagiere
bessere Möglichkeiten für alternative Transportwege
finden und für sie fundierte Informationen und Unterstützung bereitstellten. So können wir es möglich machen, bei einer ähnlichen Krise nicht wieder so hilflos zu
sein wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull in diesem
Frühjahr.
Anfang des Jahres brach der Vulkan Eyjafjallajökull
auf Island aus und ganz Europa stand still - nun ja, still
vielleicht nicht. Es war über den europäischen Flughäfen stiller als sonst, auf Autobahnen und Bahnhöfen
herrschte hingegen Hektik bis Chaos. Denn der gesamte
Flugverkehr in Europa musste aufgrund der Vulkanasche für mehrere Tage eingestellt werden. Die plötzliche Ruhe freute die Anwohner von Flughäfen. Die pro
Tag circa 1,2 Millionen betroffenen Fluggäste fanden es
hingegen weniger angenehm, von den Fluggesellschaften und von den vom Flugverkehr abhängigen Industriezweigen ganz zu schweigen. Insgesamt geht man heute
davon aus, dass die mehrtägige Luftraumsperrung einen
finanziellen Schaden von mindestens 1,3 Milliarden
Euro verursacht hat.
Hätte man dieses Chaos vermeiden können? Ja und
nein. Ja, weil, wie meine Kollegin Ulrike Gottschalck in
ihrem Redebeitrag darstellen wird, auf der Ebene des
Bundesministeriums in den Tagen einiges schiefgelaufen
ist und enormer organisatorischer Verbesserungebedarf
besteht. Nein, da vonseiten der Forschung alles zu diesem Zeitpunkt Machbare getan wurde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist nicht das erste und ganz bestimmt nicht das
letzte Mal, dass in Europa Vulkane ausbrechen. Jeder
Vulkanausbruch ist aber anders. Das Außergewöhnliche
an dem Ausbruch von Eyjafjallajökull war die Produktion besonders kleinkörniger Asche, die wiederum länger als andere Vulkanasche in der Luft blieb. Hinzu kam
die Windrichtung, welche die Aschewolke über das europäische Festland trieb.
Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, einem Institut der Helmholtz-Gemeinschaft, wurde diese
Entwicklung frühzeitig wahrgenommen. Ihre Erkenntnisse erhielten sie durch den von DLR maßgeblich entwickelten und betriebenen Erdbeobachtungssatelliten
TerraSAR-X. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern war klar, welche Auswirkungen die Aschewolke für den europäischen Flugverkehr haben könnte.
Neben Satelliten betreibt das DLR mehrere Forschungsflugzeuge. Eines davon, die Falcon 20E, war bereits in
Saharastaub geflogen und bot sich deshalb für die
Durchführung von Tests in der Nähe der Aschewolke an.
Die Mitarbeiter des DLR machten sich sofort an die
Arbeit, um das Flugzeug, das ansonsten für andere Forschungszwecke genutzt wird, mit den nötigen Instrumenten zu bestücken.
In dieser Situation erwies es sich als großes Glück,
dass das DLR aufgrund der Forschungsgelder des Bundes im Bereich Atmosphärenforschung gut aufgestellt
ist. Denn erst durch die Messdaten der Falcon konnten
die im Modell berechneten Eckdaten der Aschewolke
überprüft werden. Die Ergebnisse wurden dann an die
nationalen, europäischen und internationalen Luftfahrtstellen weitergegeben, führten am Ende zur Festlegung
von Grenzwerten und zur Öffnung des Luftraums. Ohne
den Einsatz des deutschen Forschungsflugzeugs wäre
der Luftraum wohl noch viel länger geschlossen geblieben. Den vielen helfenden Händen im DLR gilt deshalb
unser besonderer Dank.
Was bedeutet der Vulkanausbruch forschungspolitisch für die Zukunft? Es zeigt einmal mehr, dass Erkenntnisse der Grundlagenforschung sehr schnell auch
in der Anwendung konkrete Bedeutung erlangen können.
Die Grundlagenforschung finanziell auszubauen und
dabei auch „Orchideenfächer“ wie die Vulkanologie zu
unterstützen, ist deshalb dringend geboten. Die schnelle
Einsatzbereitschaft der Falcon war ein Glücksfall und
ist dem Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des DLR zu verdanken. Es fehlt aber eine institutionelle
Lösung. Denn für Vulkanausbrüche - aber auch Waldbrände oder Großunfälle können ähnliche Wolken hervorbringen - besitzen wir keine jederzeit einsetzbaren
Forschungsflugzeuge. Krisenmanagement und Forschung eng miteinander zu verzahnen, hat sich in diesem
Fall als großes Glück erwiesen. Die Stationierung eines
solchen Flugzeugs, wozu immer eine Crew und erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Auswertung von Daten gehören, bei einem Forschungsinstitut wie dem DLR macht deshalb Sinn. Dafür müsste das
DLR aber einen klaren Auftrag aus der Politik erhalten,
der sich auch finanziell im Budget niederschlägt. Jetzt
müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden.
Deutschland ist im Bereich Forschungsflugzeuge und
der dazugehörigen Wissenschaften dank der Forschungsförderung des Bundes sehr gut aufgestellt.
Eyjafjallajökull hat aber auch gezeigt, welche Bereiche
weiter ausgebaut werden müssen. Ich bitte Sie deshalb,
unserem Antrag zuzustimmen, damit die vor uns liegende Arbeit schnell angepackt werden kann. Denn der
Nachbarvulkan von Eyjafjallajökull scheint ebenfalls
nicht zu schlafen.
Der Eyjafjallajökull hat uns in dramatischer Art und
Weise vor Augen geführt, wie schnell unsere hochtechnologisierte, arbeitsteilig organisierte Welt in Bedrängnis gebracht werden kann. Wir sollten dies nutzen, um
innezuhalten und uns die Frage zu stellen, ob und wie
wir mit derartigen „Ausbrüchen“ umgehen können.
Dazu gibt es selbstverständlich unterschiedliche mögliche Reaktionsweisen: von Fatalismus - nach der
Devise: „Da kann man nichts dran machen“ - bis zu
aufgeregtem Aktionismus, wie er im Antrag der SPD
festzustellen ist. Wir als FDP halten eine sachgerechte
und realistische Betrachtung der Vorgänge für nötig.
Wir halten das Ableiten von vernünftigen Maßnahmen
aus den Vorgängen im April für sinnvoll, und wir sind sicher, dass diese Regierung und der Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auch genau dies machen.
Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Aufgrund einer bisher nicht erlebten Sicherheitslage ist im April des
Jahres der Luftraum über Deutschland zeitlich befristet
gesperrt gewesen. Dies ist verantwortliches Handeln.
Alles andere hätte in Anbetracht der Lage, für die es
keine Erfahrungswerte gab, zu Recht einen Aufschrei
der Bevölkerung und des Parlaments bewirkt. Daraus zu
schlussfolgern, dass das Krisenmanagement unzureichend war oder politische Führung fehlte, ist durchsichtiges Oppositionsgetöse. Die Einrichtung eines nationalen Krisenstabes, wie gefordert von der SPD, ist blanker
Aktionismus, der nichts, aber auch gar nichts an der
Lage und den Entscheidungen geändert hätte. Man kann
vermuten, dass SPD-Politiker solche Situationen gerne
nutzen, um sich als Retter in der Not darzustellen. Beispiele dafür gibt es ja bei den Überschwemmungskatastrophen zu Genüge. In solchen Situationen geht es
nämlich nicht darum, sich als Retter medial zu inszenieren, sondern sachgerechte, fundierte Entscheidungen zu
treffen. Das können die Deutsche Flugsicherung und
das BMVBS mit den beteiligten Fachleuten sicher besser.
Andere Länder wie die Schweiz, die im Übrigen nur
einen äußerst geringen Bereich des deutschen Luftraums über die Schweizer Flugsicherung Skyguide abdeckt, mögen zu anderen Ergebnissen kommen, insbesondere auch, da der Süden weniger beeinträchtigt war.
Im Übrigen sollte Skyguide, wie der Unfall über Überlingen vom 1. Juli 2002 bedauerlicherweise bestätigte,
nicht unbedingt als Referenz für verantwortliches Handeln herangezogen werden.
Die weitere Argumentation des SPD-Antrags läuft
ähnlich weiter. Mit einer gefährlichen Mischung aus
Halbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten
Zu Protokoll gegebene Reden
und populistischen Forderungen versucht dieser Antrag
den Eindruck zu erwecken, dass das Handeln der Verantwortlichen nicht sachgerecht war. Das weise ich mit
Empörung zurück. Denn nachträglich erlangtes Wissen
über die Bedrohung des Flugverkehrs zu nutzen, um
situationsgerechte Entscheidungen anzugreifen, entspricht nicht einer vernünftigen Aufarbeitung. Die Opposition vergibt hier die Chance, darzulegen, dass sie
zur Übernahme von Verantwortung fähig ist.
Denn es muss doch festgestellt werden: Es gab und
gibt bisher so gut wie keine Erkenntnisse über das Verhalten von Flugzeugtriebwerken beim Einflug in Vulkanaschewolken. Es gab und gibt glücklicherweise wenig
vulkanische Eruptionen, anhand derer man die nötigen
Versuche an Flugzeugtriebwerken durchführen könnte.
Selbst bei Befolgung der im SPD-Antrag aufgelisteten
zusätzlichen kostenintensiven Maßnahmen gibt es Restrisiken, die nicht erfasst werden können, wie zum Beispiel die chemische Zusammensetzung von Vulkanaschen unterschiedlicher Vulkane, die meteorologische
Vorhersage von Aschewolken, deren Absinkverhalten in
Abhängigkeit der Teilchendichte und -größe, mögliche
chemische Reaktionen in Wasserwolken, die Auswurfhöhe der Vulkane usw.
Die Vorschläge sind populistisch, zielen darauf, ein
gigantisches Programm mit hohen Kosten aufzusetzen,
versteigen sich gar darauf, eine Professur für Vulkanologie zu fordern, und führen am Ziel vorbei. Vor allem
aber sind sie ohne vernünftige Abwägung des nutzbaren
Erkenntnisgewinns zu den eingesetzten Mitteln. Dies
sind wir von der SPD gewohnt, die aus fehlender Sachkenntnis heraus Steuermillionen in der Vergangenheit,
und wenn es nach ihr gehen würde, auch in der Zukunft,
aus dem Fenster werfen würde, und das, weil einmal in
100 Jahren ein Vulkan ausbricht.
Das BMVBS unter Minister Ramsauer handelt verantwortungsvoll, zieht die notwendigen Schlüsse aus
dem Vorgang und bereitet mit Augenmaß die notwendigen Änderungen vor. Dazu zählen die auf der Verkehrsministerkonferenz am 6. und 7. Oktober des Jahres und
vorher vorgestellten Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum.
Das ist Politik mit Augenmaß und Verstand. Das Gegenteil davon ist dieser SPD-Antrag.
Am 20. März brach der isländische Vulkan Eyjafjallajökull aus und überzog den europäischen Luftraum mit
der sogenannten Aschewolke. Dies ist Grund genug,
sich als Gesetzgeber mit den Folgen zu beschäftigen.
Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war ein
Akt höherer Gewalt und hat drei Probleme deutlich werden lassen: Erstens. Unsere hochtechnisierte Gesellschaft ist sehr anfällig; sie ist ein sensibles System ohne
Netz und doppelten Boden, wenn kein entsprechendes
Krisenmanagement für Notfälle zur Verfügung steht.
Zweitens. In Europa sind Verfahren zur effizienten Bewertung meteorologischer Probleme noch nicht genügend entwickelt, und es fehlt an Krisennotfallplänen.
Drittens. Dr. Ramsauer, Verkehrsminister der Koalition,
hat als starker Mann mit der Wiederfreigabe des Luftraums politische Entscheidungen getroffen, also Entscheidungen auch zugunsten der Luftfahrtindustrie, zugunsten der gestrandeten Reisenden, jedoch nicht
zugunsten der Piloten. Hier wurde keine vernünftige
Abwägung vollzogen. Wir lernen daraus, dass der
Minister noch einen Kurs in Krisenmanagement belegen
müsste. Darauf werden wir in Zukunft unser spezielles
Augenmerk richten.
Die Bedrohung der modernen Welt durch immer kompliziertere Netze in Verkehr, Kommunikation, Logistik
und Elektrizität wird heute nicht durch ausreichende
staatliche Notfallpläne abgedeckt. Im Zuge des Vulkanausbruchs kam es zu einer Kettenreaktion, Tausende Urlauber saßen auf den Flughäfen, warteten auf die Aufhebung der Luftraumsperrung und stritten um die vorhandenen Steckdosen, um Handys, Laptops, iPhones und
andere Geräte zu laden. Geschäftsreisende erreichten
ihre Kunden nicht, Luftfracht blieben liegen, bei BMW
in Dingolfing standen die Bänder still. Die Komplexität
unserer hochtechnisierten Welt wurde selbst zum Sicherheitsrisiko. Geradezu unverschämt war vor diesem Hintergrund das Auftreten von Lufthansachef Mayrhuber,
der das Aschechaos benutzte, die Aussetzung des Emissionshandels für den Luftverkehr zu fordern.
Erst seit dem Jahr 1991 wissen wir, dass Vulkanausbrüche eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen können. An dieser Stelle helfen weder Demutsgesten angesichts der übermächtigen Mutter Natur noch das starke
Mann Gehabe von Verkehrsminister Ramsauer. Wie im
Antrag der SPD richtig angemerkt wurde, fehlt es an
Grundlagenforschung. Verschiedene Meldungen, was
die Aschepartikel. genau in den Turbinen, auf der Außenhaut und an den Instrumenten der Flugzeuge anrichten können, widersprachen sich erheblich. Das einzige,
was man relativ klar feststellen konnte, war, dass sicherer Flugverkehr nicht mehr zu gewährleisten war.
Grundlagenforschung nicht nur in Bezug auf meteorologische Phänomene, sondern auch in Bezug auf ihre konkrete Auswirkung auf den Luftverkehr - ist dringend notwendig. Die Einschätzung, die das Verkehrsministerium
nach der Veröffentlichung des Falcon-Reports traf,
wurde nicht von allen Meteorologen geteilt.
Wir teilen die Einschätzung der SPD-Fraktion, dass
das deutsche Krisenmanagement schwach war. So wurden beispielsweise eigene Messdaten zu spät erhoben, es
wurde kein richtiger Krisenstab gebildet und Fluglotsenkapitäne und die Gewerkschaftsvereinigung Cockpit
e.V. kritisierten die Übertragung der alleinigen Verantwortung auf die Piloten. Die Schweizer Flugsicherung
Skyguide wickelte über deutschem Hoheitsgebiet weiterhin den vollständigen Flugverkehr ab, eine Praxis, die
unserer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetz
vereinbar ist. Die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft, die
unter ihrem Dach das Deutsche Zentrum für Luft- und
Raumfahrt und damit die besten deutschen Wissenschaftler beherbergt, ist als Betreiberin der Asse leider
bereits negativ aufgefallen. Aufgrund der aktuellen
Debatte um Atomendlager und Standortauswahl müsste
man noch einmal überlegen, ob sie tatsächlich als Dach
Zu Protokoll gegebene Reden
für deutsches Krisenmanagement in ähnlichen Fällen
fungieren kann.
Kurz und gut: Wir unterstützen den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, auch wenn wir einige Schwerpunkte anders setzen würden.
Die Grundaussage des hier zu behandelnden Antrags
ist richtig: Die Politik muss aus dem Geschehen rund um
den Ausbruch eines isländischen Vulkans im April dieses
Jahres einige Lehren ziehen, institutionelle Strukturen
etablieren, politische Handlungskonzepte präzisieren
und die Forschung rund um das Themenfeld Gefährdung
öffentlicher Infrastrukturen durch Naturkatastrophen
deutlich stärken.
Gleichwohl schießt die SPD mit ihrem Angriff auf das
politische Management in der Krise weit über das Ziel
hinaus. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bis zum
Ausbruch des Eyjafjallajökull war kein deutscher Verkehrsminister egal welcher Parteienzugehörigkeit, kein
Deutscher Bundestag oder eine deutsche Flugsicherungsorganisation mit einer derartigen Situation großflächiger Kontamination des deutschen Luftraumes
durch Aschepartikel. konfrontiert. Alle einschlägigen
politischen Akteure, auch die Airlines, die Flughäfen
und nicht zuletzt die betroffenen Passagiere wurden von
der Vulkanaschewolke nachgerade überrascht.
Vor diesem Hintergrund war die rasche Einrichtung
des bestehenden Krisenstabes bei der für den Luftraum
verantwortlichen Deutschen Flugsicherung, DFS, in
Langen der richtige Schritt. Schließlich verfügt die Zentrale der DFS im Gegensatz zum Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin über die
entsprechende technisch-instrumentelle Infrastruktur,
auch die Einbindung des Deutschen Wetterdienstes, des
Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung, des BMVBS
und der Maastrichter Kontrollzentrale Eurocontrol
wurde so sichergestellt.
Das politische Management in der Aschekrise war
geprägt vom „Handeln unter den Bedingungen größtmöglicher Unsicherheit“ in Bezug auf folgende Fragen:
Wie bewegt sich die Aschewolke, welche Konzentration
von Partikeln enthält sie, wie gefährlich ist welche Konzentration für Flugzeugturbinen etc. Insofern war die
Entscheidung, den Luftraum zu sperren und so der
Sicherheit von Flugpersonal und Passagieren höchste
Priorität einzuräumen und dabei kein Risiko einzugehen, die richtige Entscheidung!
Zweifellos ist bei der großflächigen Kontamination
des europaweiten Luftraumes eine EU-weite Abstimmung notwendig. Ein einheitliches Verfahren in solchen
Krisenfällen garantiert nicht nur eine bessere Abschätzung der Gefahrenlage und die größtmögliche Sicherheit des europäischen Luftverkehrs, sondern ist auch unter wettbewerblichen Gesichtspunkten der richtige Weg.
Dass in Europa unterschiedliche politische Entscheidungen mit Blick auf Öffnung oder Sperrung von hoheitlichen Lufträumen gefällt wurden, hat viele zu Recht
verwirrt. An dieser Stelle ist ein eindrückliches Plädoyer
für den einheitlichen europäischen Luftraum SES angebracht! Denn nur so können sich zukünftig einheitliche
Verfahren bei der Datenerhebung und Messung, Abstimmungen im Flugverkehrsmanagement und Luftraumsperrungen auf der Basis gemeinsam verabredeter
Grenzwerte durchsetzen.
Weitere Lehren sind aus den Ereignissen zu ziehen.
Etwa muss zukünftig sichergestellt werden, dass Messund Beobachtungssysteme und entsprechend ausgerüstete Flugzeuge - wie die Falcon des DLR - bereit stehen.
Und nicht, wie in der Krise dankeswerter Weise geschehen, von einer Vielzahl von Ingenieuren des DLR unter
anderem Institutionen unter Hochdruck erst umgerüstet
werden müssen. Möglicherweise brauchen wir EU-weit
eine kleine Flotte solcher Messflugzeuge, die miteinander vernetzt jederzeit aufsteigen können. Selbstverständlich müssen für die Zukunft dann aber auch Mittel bereitgestellt werden, die etwa das DLR in die Lage
versetzen, ein solches Flugzeug mit der entsprechenden
technischen Ausrüstung und hochqualifiziertem Personal quasi abrufbar vorzuhalten.
Es gab zur recht Irritationen angesichts unterschiedlicher Vorgaben der UN-Zivilluftfahrtbehörde, ICAO,
bei der Unterscheidung von Sichtflug und Instrumentenflug. Kein Wunder, ist doch in einer bestimmten Höhe
und bei bestimmtem Wetter ({0}) der sogenannte
Sichtflug auch im kontaminierten Luftraum erlaubt, hingegen der Instrumentenflug nicht. Hier müssen Widersprüche im Regelwerk der ICAO entsprechend aufgelöst
und im Sinne konsistenter und sicherheitswirksamer
Regeln geändert werden. In Zukunft müssen ICAO und
Flugüberwachsungsbehörden wie die europäische
EASA klare Vorgaben zu Grenzwerte für Stoffeinträge
({1}) im Triebwerk machen können.
Die europäischen Verkehrsminister haben in diesem
Jahr eine Reihe von Maßnahmen zur Festlegung einer
neuen europäischen Methodik, eines kohärenten Vorgehens bei der Bewertung und dem Management von
Sicherheitsrisiken, zur Definition einheitlicher Grenzwerte ({2}) und zur Optimierung technischer und methodologischer Instrumente der ICAO verabschiedet bzw. auf
den Weg gebracht. An diesen Vorhaben muss mit Konzentration weitergearbeitet werden. Auch wurden mit
dem Szenario „Option 3“ drei Flugzonen mit unterschiedlichen Risiken für Flüge definiert. Im Kern der
Emissionswolke der No-Fly Zone mit einer Aschekonzentration über 4 000 Mikrogramm je Kubikmeter bleibt
der Flugverkehr künftig vollständig untersagt, abgestuft
kann Flugbetrieb in den anderen beiden Zonen erfolgen.
Wesentlich ist darüber hinaus die beschleunigte Umsetzung des luftverkehrswirtschaftlich in vielerlei - etwa
klimapolitischer - Hinsicht bedeutsamen Projektes
Single European Sky, SES II, sowie die Einrichtung
funktionaler Luftraumblöcke und Verbesserung des
Europäischen Air Traffic Managements, ATM. Durch
den Vulkanausbruch auf Island und die Folgen für den
Flugverkehr in Europa ist überdeutlich geworden, dass
es über das Gefährdungspotenzial durch Vulkanasche
zahlreiche Erkenntnis- und Wissenslücken gibt. Diese
Zu Protokoll gegebene Reden
bestehen vor allem an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Technikwissenschaften.
Gleichwohl haben insbesondere die Einrichtungen der
Atmosphären- und Klimaforschung sowie die Observatorien des Deutschen Wetterdienstes in engerer Koordination und Kooperation mit ihren europäischen und
internationalen Partnern in beeindruckender Weise gezeigt, wie wichtig trans- und interdisziplinäre Grundlagenforschung auch für aktuelle Ereignisse sein kann.
Systematische Forschungen in diesem Schnittstellenbereich müssen gestärkt werden. Weiter gilt es spezielle
Studien zu Grenzwerten und Aschewirkungen in Triebwerken auf den Weg zu bringen. Denn Forschungsdefizite führten ja bisher zu erheblichen Problemen bei der
Festsetzung von Grenzwerten. Das konkrete Gefährdungspotenzial hängt dabei von vielen Faktoren ab: zum
Beispiel davon, welchen Ursprungs und Beschaffenheit
die Asche ist, welche Konzentration vorliegt, ebenso
vom Zeitraum in dem die Triebwerke der Asche ausgesetzt sind oder welche Art von Triebwerk überhaupt betroffen ist. Es steht unter den betroffenen Akteuren heute
außer Frage, dass die Wissens- und Erkenntnisdefizite
ausgeräumt werden müssen, um zukünftig angemessen
reagieren zu können. Hier sind allerdings auch Eigenleistungen in der Forschung bei den Triebwerksherstellern gefragt.
Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbessern, dass zum Beispiel überschneidende Forschungsbereiche wie Vulkanologie, Meteorologie und Luftfahrttechnik bei ihren Forschungstätigkeiten verstärkt
miteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse abstimmen können. Dabei ist von zentraler Bedeutung und
vielerorts längst Praxis, dass nicht jedes Land isoliert
an den wissenschaftlich relevanten Fragestellungen arbeitet, sondern in Absprache und in Kooperation mit den
internationalen Partnern vorgeht. Forschungsbedarfe
und neue Bedarfe an Forschungsinfrastruktur und Forschungsprogrammen sollten daher international wenigstens aber EU-weit abgestimmt werden.
Zwar gibt es durch die europäischen Forschungsrahmenprogramme gute Möglichkeiten, Messgeräte und
Messungen im Rahmen von zeitlich begrenzten Projekten finanziell zu fördern. Wenn die Förderung aber ausläuft, fehlt häufig die Kontinuität, die man für eine
dauernde Überwachung bräuchte. Bei Messungen und
Datenerfassung brauchen wir also deutlich mehr Verstetigung.
Zum Schluss benötigen wir - auch das ist für mich
eine wichtige Konsequenz - einen Plan B für mögliche
Katastrophen dieser Art. Wir haben quasi kein Konzept
für den Fall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehr
in einer Region oder in einem Staat plötzlich komplett
ausfällt. Man kann daraus lernen, dass auch, mit Blick
auf die Sicherheit und Verfügbarkeit von Infrastrukturen, Konzepte entwickelt werden müssen, die dann rasch
abrufbar und einsetzbar sind und auch solche Fragen
beantworten, wie: wer ist zuständig und wer wickelt die
zum Beispiel die Rückführung von Passagieren ab, die
fern der Heimat gestrandet sind. Wir müssen daher auch
über die Verbrauchersituation und die Kundenrechte
nachdenken. Es hat sich gezeigt, dass sich manche Regeln an Einzelfällen orientieren und dass es keine flächendeckende Lösung gibt. Auch hier gilt es nachzuarbeiten.
Fazit: Wesentliche Fragen sind in dem Antrag der
SPD angesprochen, die Herausforderungen müssen jetzt
aufgearbeitet werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/3174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einwände? Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung
Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Europäi-
sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen
Ratsdok. 9145/10
- Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Hierzu hatten eigentlich die Kolleginnen und Kolle-
gen Ansgar Heveling, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann,
Raju Sharma und Jerzy Montag reden wollen. Sie geben
ihre Reden zu Protokoll.1) - Einwände dazu sind nicht
erkennbar.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/3234, in Kenntnis
der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Hierbei handelt es sich um keinen Routinevorgang.
Darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen.
Unbeschadet der Frage, ob und wann ein dazu in den
Verträgen vorgesehenes Quorum zustande kommt,
macht damit der Deutsche Bundestag zum ersten Mal
einvernehmlich Bedenken gegen eine Regelungsabsicht
der Europäischen Kommission deutlich. Wir erwarten,
dass unabhängig von den statistischen Relationen die
Europäische Kommission diesen Hinweis so ernst
nimmt, wie er von diesem Parlament offenkundig gemeint ist.
({1})
1) Anlage 8
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
20 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Evaluierung der Neuorganisation der Bundespolizei durch einen wissenschaftlichen Sachverständigen
- Drucksache 17/3068 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich
fortsetzen - Bundespolizistinnen und Bundespolizisten unterstützen
- Drucksache 17/3187 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
Die Reden der Kollegen Günter Baumann, Stephan
Mayer, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Petra Pau und
Wolfgang Wieland werden zu Protokoll gegeben.
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen
sicher leben und stellen mit Recht die Forderung an den
Staat, dass dieser alles in seiner Macht Stehende hierfür
unternimmt. Unter den verschiedenen Sicherheitsbehörden nimmt die Bundespolizei auch aufgrund ihrer besonderen bundesländerübergreifenden Kompetenz eine
Schlüsselposition ein. Ich möchte heute hier an dieser
Stelle die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten für ihre hervorragende Arbeit, die sie täglich für unser aller Sicherheit
leisten, zu bedanken.
Zu den verschiedensten Aufgaben der Bundespolizei
gehören Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraumes, bahnpolizeiliche Aufgaben, Kontrollen an
Flughäfen, die Unterstützung von besonderen Einsätzen,
wie zum Beispiel bei Fußballspielen oder bei Fanmeilen. Erwähnt werden muss auch, dass die Bundespolizei
nicht nur im Inland ihre wichtige gesetzliche Aufgabe
erfüllt, sondern in vielen Auslandseinsätzen unter verschiedenen Mandaten tätig ist.
Durch die Schengen-Osterweiterung sind entscheidende Veränderungen der Bundespolizei und damit eine
umfangreiche Neuorganisation notwendig geworden.
Die hierzu am 25. Januar 2008 im Deutschen Bundestag
beschlossene Reform war richtig, und es gab hierzu
keine Alternative. Die Bundespolizei stand jedoch damit
in wenigen Jahren vor ihrer dritten Reform, wobei diese
nun die Beschäftigten der Bundespolizei vor die größten
und einschneidendsten Veränderungen und Herausforderungen in ihrer Aufgabenwahrnehmung gestellt hat.
Ziele der Neuorganisation sind unter anderen: keine Reduzierung der Personalstärke und durch Aufgabenbündelung „mehr Personal auf die Straße“ und somit mehr
Effektivität.
Bei mehreren Besuchen bei den Bundespolizistinnen
und Bundespolizisten vor Ort habe ich neben der guten
Arbeit und hohen Motivation auch eine teilweise aufkommende negative Stimmung zu einzelnen Folgen der
Neuorganisation registriert. Darunter kann natürlich
sehr leicht auch das Engagement der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter leiden.
Da verschiedene Kritikpunkte über die Umsetzung
der Reform an die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen herangetragen wurden, fand im Deutschen Bundestag am 5. Juli 2010 eine öffentliche Anhörung zur
Thematik der Neuordnung der Bundespolizei statt. Alle
angehörten Fachexperten waren der Meinung, dass die
eingeleitete Reform notwendig war und diese auch bis
zum Ende durchgeführt werden muss. Ein Nachjustieren
in einzelnen Punkten ist jedoch notwendig.
Hierzu gehört nicht nur die Stärkung in den Ballungsräumen und auf den Flughäfen, sondern auch eine ausreichende personelle Besetzung der Inspektionen in den
ländlichen Räumen und in den Grenzregionen. Gerade
der Freistaat Sachsen, mit seinen 139 Kilometern
Grenze zur Republik Polen und 453 Kilometern Grenze
zur Tschechischen Republik, ist von einem deutlichen
Anstieg der Kriminalität, insbesondere bei Autodiebstählen und Einbrüchen, im Grenzbereich betroffen. In
diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die
Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei
und Zoll in der Praxis schon gut gelingt, jedoch muss
man auch hier weitere Verbesserungen erreichen, um
Doppelarbeit und Reibungsverluste zu vermeiden.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundespolizei wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt.
Dies ist ein selbstverständlicher Teil des Berufsbildes,
da die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten mit
dem Wissen leben, dass ihr Einsatzort in ganz Deutschland sein kann. Jedoch muss die letzte Phase der Strukturreform in der Bundespolizei gerade im Hinblick auf
die Um- und Versetzungen sozialverträglicher gestaltet
werden. Sicherlich müssen Bundesbeamte bundesweit
einsetzbar sein, jedoch sollte der lokale Bezug zukünftig
bei der Nachwuchsgewinnung eine größere Rolle spielen. Deshalb sehe ich das in Frankfurt geplante Modellprojekt des Bundesministeriums des Innern als einen
Schritt in die richtige Richtung.
Im Zuge der Neugründung des Bundespolizeipräsidiums in Potsdam sind Aufgaben aus dem Bundesministerium des Innern dahin übertragen worden. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang, dass ein Gleichgewicht zwischen einer Zentralisierung und Entscheidungsbefugnissen für ein sachkundiges Vorgehen vor Ort vorherrschen
muss. Es kann nicht sein, dass ein Einsatzfahrzeug von
der grünen Grenze zur Reparatur 120 Kilometer in die
Werkstatt des zuständigen Präsidiums geschickt wird,
wenn es vor Ort eine Werkstatt gibt.
Das heißt, dass nunmehr zum einen in der letzten
Phase der Bundespolizeireform die Kernkompetenzen
des Bundespolizeipräsidiums durch das Bundesministerium des Innern klar umrissen und gestärkt werden
müssen. Zum anderen sollte jedoch auch das Subsidiaritätsprinzip bei der Aufgabenwahrnehmung wesentlich
stärker als bisher in den Fokus rücken.
Ich möchte nur eine Bemerkung zum Antrag der SPD
machen, einen wissenschaftlichen Sachverständigen mit
einer weiteren Evaluierung zu beauftragen. Wir haben
eine öffentliche Anhörung mit sieben Fachexperten abgehalten, die die Vorzüge, aber auch die Probleme und
Sorgen der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
dargelegt haben. Hierauf haben wir mit unserem Antrag
reagiert. Eine weitere Evaluierung auf Kosten der Steuerzahler halte ich für obsolet. Deshalb kann man den
Antrag der SPD nur ablehnen. Der Antrag von CDU/
CSU und FDP weist in die Richtung, um die begonnene
Bundespolizeireform erfolgreich abzuschließen.
Es ist unstrittig, dass die Bundespolizei über eine
sehr hohe Kompetenz verfügt, national wie international. Diese Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, sondern auch für die Zukunft zu sichern und auszubauen.
Der Wegfall der stationären Grenzkontrollen zu
Polen und Tschechien sowie die immer knapper werdenden Haushaltsmittel haben in den vergangenen Jahren
den Reformdruck auf die Bundespolizei erhöht. Die im
März 2008 begonnene Bundespolizeireform war daher
logische Konsequenz dieser vorgenannten Ereignisse.
Ziel der Neuorganisation der Bundespolizei war es, die
Strukturen zu straffen, um Personalressourcen für operative Aufgaben zu gewinnen. Durch die Zusammenfassung und Aufwertung der bisherigen Bundespolizeiämter wurden die regionalen Zuständigkeiten auf allen
Ebenen gebündelt und die vorhandenen Kräfte auf die
Schwerpunkte der bundespolizeilichen Arbeit verteilt.
Die vorgenannten Reformziele haben sich bisher insbesondere auf die Behördenstruktur und somit natürlich
auch auf die Beschäftigten ausgewirkt.
Sowohl die Stellungnahme des Bundesministeriums
des Innern als auch die Anhörung im Innenausschuss am
5. Juli 2010 haben gezeigt, dass die Umsetzung der Reform nach wie vor andauert. Auch wenn viele Strukturen
bereits aufgebaut wurden - beispielsweise das Bundespolizeipräsidium in Potsdam -, befinden wir uns derzeit
erst in der dritten von vier Phasen der Personalumsetzung. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum jetzt
durch einen unabhängigen Sachverständigen eine umfassende Evaluation vorgenommen werden soll. Eine
umfangreiche Bewertung käme aus meiner Sicht allenfalls nach Abschluss der Reform in Betracht, aber doch
nicht mitten in der Phase der Personalumsetzung. Daher
ist der Antrag der SPD-Fraktion schlicht abzulehnen. Er
ist zur Unzeit gestellt und würde nur zu einer Behinderung des weiteren Vollzuges der Reform führen. Er ist
somit keineswegs dienlich.
Im Übrigen haben wir sowohl durch den Bericht des
Bundesministeriums des Innern als auch durch die öffentliche Anhörung im Innenausschuss bereits ein sehr
gutes Abbild der derzeitigen Situation bei der Bundespolizei erhalten. Ergänzend darf ich anmerken, dass wir
zudem als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag
stets intensiven Kontakt zu den Inspektionen und Direktionen vor Ort unterhalten.
Eine Versetzung stellt einen tiefgreifenden Einschnitt
in den persönlichen Lebensabschnitt eines Beamten dar.
Aber auch eine zeitweilige dienstliche Abordnung, die
mit mehrstündigen täglichen Reisezeiten verbunden sein
kann, kann letztlich zum gleichen Ergebnis führen - einer hohen psychischen und physischen Belastung für
den Beamten und sein Umfeld. Auch wenn vielen Bundespolizisten ihre Verpflichtung zur Mobilität und Flexibilität bewusst ist, stellt sie die derzeitige Situation vor
große Herausforderungen. Lassen Sie mich das in einem
Beispiel näher ausführen: Selbst wenn sie einem festen
Standort im ländlichen Raum, wie beispielsweise Rosenheim, fest zugewiesen sind, kann für Sie die Verpflichtung bestehen, täglich am Flughafen München tätig zu
werden. Dies beruht auf dem nach wie vor vorhandenen
Personalmangel - zahlreiche Dienstposten sind auch in
der Bundespolizeidirektion München unbesetzt -, aber
auch den noch nicht abgeschlossenen Versetzungsmaßnahmen als Bestandteil der Reform der Bundespolizei.
Der vorliegende Antrag der christlich-liberalen Koalition geht auf diese Belange ein und versucht, die für
viele unbefriedigende Situation kurz- und mittelfristig zu
verbessern. Er ist daher für mich ein richtiges Signal zur
richtigen Zeit.
Angesichts dessen, dass die meisten Aufgriffe von unerlaubt Eingereisten derzeit an deutschen Flughäfen erfolgen, ist auch das im Antrag angeregte besondere Augenmerk auf die Personalsituation an den Flughäfen
nachvollziehbar. Schließlich reisten alleine am Flughafen Frankfurt am Main und dem Flughafen München in
den ersten sechs Monaten dieses Jahres fast 2 000 Menschen unerlaubt ein. Mehr als 100 davon wurden von organisierten Schleuserbanden in die Bundesrepublik
Deutschland geschickt. Da in den nächsten Jahren mit
einem weiteren Anstieg der Passagierzahlen im grenzüberschreitenden Flugverkehr zu rechnen ist, wird die
Situation an den Flughäfen sicher weiter fortbestehen.
Ich warne jedoch davor, dass die Stärkung der Flughäfen zum Nachteil des ländlichen Raumes geschieht.
Gerade die Aufgriffszahlen der Bundespolizeidirektion
München für die deutsch-österreichische Grenze belegen, dass nach wie vor auch im ländlichen Raum viele
Aufgriffe erfolgen. Alleine an dieser Grenze werden
40 Prozent aller illegal nach Deutschland auf dem
Landweg einreisenden Personen aufgegriffen. Aber
nicht nur die Vielzahl, sondern auch die Qualität der
Aufgriffe ist von besonderer Bedeutung. So konnten beispielsweise mehrere Mitglieder der italienischen Mafia
in den letzten Monaten in Südbayern aufgegriffen werden.
Insgesamt stieg die Anzahl der erfassten Verdächtigen im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vergleichszeitraum im Vorjahr sogar um fast 300 Prozent in Bayern. In absoluten Zahlen sind dies 2 364 Verfahren, die
Zu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({0})
nach durchgeführten Kontrollen eingeleitet werden
konnten. Vergleicht man diese Zahl mit der vorgenannten Zahl an illegal Eingereisten an den beiden größten
deutschen Flughäfen Frankfurt am Main und München,
wird die Relevanz der Kontrollen im ländlichen Raum
sichtbar. Hinzu kommt, dass alle Routen illegaler Migration, sei es über Italien oder den Balkan, letztlich
über die deutsch-österreichische oder aber die deutschtschechische Grenze nach Bayern führen. Es ist bekannt
und belegt, dass diese Routen vornehmlich für illegalen
Drogen- und Menschenhandel genutzt werden. Die Aufgriffszahlen aus dem letzten Jahr und den ersten Monaten dieses Jahres belegen dies nachdrücklich.
Für mich muss daher auch der ländliche Raum aus
der Reform der Bundespolizei gestärkt hervorgehen. Die
Höhe der Aufgriffszahlen belegt, dass die Kompetenz
und Erfahrung der Bundespolizei auch dort unverzichtbar ist.
Anfang März dieses Jahres legte uns das Bundesinnenministerium einen „Evaluationsbericht“ zur Neuorganisation der Bundespolizei vor. Den Begriff „Evaluationsbericht“ muss man an dieser Stelle mit Absicht mit
Anführungszeichen versehen, denn er ist kaum das Papier wert, auf dem er steht. Neben der dürftigen Faktenlage, mit der er aufwartet, wird eines sehr deutlich: Die
Schlüsse, die der Bericht aus den erhobenen Fakten
zieht, stimmen in keiner Weise mit den polizeilichen Realitäten der Beamtinnen und Beamten vor Ort überein.
Da sprechen die Ergebnisse der Beerlage-Studie der
Hochschule Magdeburg-Stendal vom September 2009,
die jedem vierten Angehörigen der Bundespolizei das
Burn-Out-Syndrom attestiert, eine andere Sprache.
Nach dieser Studie fühlen sich 65 Prozent der Beamtinnen und Beamten zu wenig mit ihrer Organisation verbunden. Die umfangreiche Umstrukturierung der Organisation, die mit der Reform einherging, hat diese
Probleme noch verschärft. Denn den Beamtinnen und
Beamten wird mit Abordnungen, Mehrarbeit und der Erbringung von Kennzahlen sehr viel zugemutet. Die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zu
keinem Zeitpunkt relevantes Organisationsziel der Reform, die sich damit gravierend negativ von den Organisationszielen der Länderpolizeien unterscheidet. Im vorliegenden Bericht wird demnach auch nicht auf die
Mitarbeiterzufriedenheit eingegangen.
Der damalige Bundesinnenminister Schäuble begründete die Reform mit der veränderten Sicherheitslage im Zuge des weltweiten Terrorismus und des
fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses.
Insbesondere die Tatsache, dass Deutschland seit 2007
nur noch von Ländern, die dem Schengen-Abkommen
angehören, umgeben ist und deshalb die Grenzkontrollen wegfallen, war der Anlass, die bisherigen Strukturen
zu überdenken und zu verschlanken.
Jedoch wurde im Zuge der Reform eins nicht getan:
Es wurde nicht evaluiert, wie sich die Lage nach der Öffnung der Grenzen verändern würde. Nun, mit Vorlage
dieses Berichts, lässt sich unschwer erkennen, dass es
falsch war, die Präsenz im ehemaligen Grenzgebiet zu
reduzieren, denn es gibt einen signifikanten Anstieg von
Eigentumsdelikten und illegaler Migration. Von dem
weiteren Reformziel, der so oft zitierten Bekämpfung des
internationalen Terrorismus, spricht der Bericht schon
gar nicht mehr.
An dieser Stelle ist bereits festzustellen, dass der
Zweck der Reform nicht erreicht wurde. Aber auch die
organisatorischen Ziele wurden weitestgehend nicht umgesetzt. Mit der Reform sollte die operative Basis deutlich gestärkt werden. Die Präsenz in der Fläche sollte
spürbar ansteigen. Die Losung lautete, 1 000 Beamtinnen und Beamte mehr auf die Straße zu bringen. Dennoch wurde die Anzahl der Inspektionen von 128 auf 77
reduziert. Damit betreuen die Beamtinnen und Beamten
flächenmäßig ein viel größeres Gebiet; eine stärkere
Präsenz in der Fläche ist damit nicht zu erreichen. Die
zusätzlichen Reviere können dabei nur wenig Abhilfe
schaffen. Denn weil viele Aufgaben vom Bundespolizeipräsidium in Potsdam gesteuert werden, wird der Verwaltungsaufwand für die Beamtinnen und Beamten vor
Ort deutlich größer.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine große Anzahl
von Beamtinnen und Beamten an Flughäfen abgeordnet
wird - etwa 450 - oder im Auslandseinsatz - etwa 400 ist. Außerdem gibt es zu wenig Neueinstellungen, sodass
sich die personelle Situation der Bundespolizei insgesamt verschärft. Ausweislich des Bundeshaushaltes
2005 Einzelplan 06 hatte die Bundespolizei im Jahr
2004 nur 648 eingerichtete Beamtenplanstellen nicht
besetzt. Nach dem Bundeshaushaltsgesetz 2010 sind
diese unbesetzten Beamtenplanstellen im Jahr 2009 auf
inzwischen 1 195 Stellen angewachsen. Durch dieses gestiegene Fehl kann kaum von einer „Stärkung der operativen Basis“ die Rede sein. Darüber hinaus hat die
Bundespolizei 500 Dienstposten - Funktionen im ODP mehr eingerichtet, als sie haushaltsmäßig über Planstellen verfügt. Im Ergebnis werden dadurch nach der
kompletten personalwirtschaftlichen Umsetzung der
Neuorganisation mehr als 1 800 eingerichtete Arbeitsplätze nicht besetzt sein.
Das Ziel, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen,
wurde somit deutlich verfehlt. Es gibt eine Organisationsstruktur, die bezogen auf die breite Fläche misslungen ist. Dort, wo jetzt Inspektionen sind, wären Reviere
vielleicht angebrachter und umgekehrt. Sicherheitsdefizite sind vorprogrammiert. Dem steht entgegen, dass die
Anzahl der Plätze in den Direktionen, in den Leitungsstäben und anderswo zum Teil um bis zu 200 Prozent
aufgestockt wurde. Das ist ein krasses Missverhältnis
und steht im Gegensatz zu dem, was Ansatz der Bundespolizeireform war.
Da die Aufgaben der früheren Präsidien nun einfach
auf die neuen Direktionen übertragen werden, führte die
Abschaffung der Bundespolizeipräsidien als Mittelbehörde nicht zum gewünschten Erfolg. Die operative Basis wurde nicht gestärkt. Es gibt entgegen der Ankündigung vor der Reform weniger Präsenz in der Fläche.
Die Neuorganisation hat zu einem organisatorischen
Zu Protokoll gegebene Reden
und personellen Chaos geführt, das schnellstmöglich
beendet werden muss.
Dem drohenden Personalkollaps innerhalb der Bundespolizei muss dringend Einhalt geboten werden. Es
kann nicht sein, dass immer weniger Beamtinnen und
Beamte eine immer größere Fülle von Aufgaben erledigen müssen. Der Bereich der Neueinstellungen wurde
sträflich vernachlässigt. Hier gilt es, anzusetzen und
verstärkt um Anwärterinnen und Anwärter zu werben.
Die Sozialverträglichkeit der Umsetzung war eine
große Überschrift der Reform, sie wird aber nicht erreicht. In Wirklichkeit verspielt das Bundesinnenministerium mit dieser Reform die Einsatzfähigkeit der Bundespolizei. Die Darstellung des Bundesinnenministeriums, dass mit dem Abschluss von Dienstvereinbarungen für die Beamten und Tarifbeschäftigten die Neuorganisation sozialverträglich umgesetzt wird, entspricht
nicht dem bisherigen Verlauf der Umsetzung der Neuorganisation. Dass die Dienstvereinbarungen im Maßstab
1 : 1 umgesetzt wurden, ist einzig und allein den zuständigen Personalvertretungen zu verdanken. Bei Abschluss des ersten und zweiten Schrittes der Reform war
jeweils ein Beschluss des Bundespolizeihauptpersonalrates erforderlich, um vor Beginn des nächsten Umsetzungsschrittes die vereinbarten Bilanzierungen durchzuführen. Es gibt eine Vielzahl berechtigter Beschwerden
und Klagen von Beamtinnen und Beamten, die aus sozialen Gründen nicht versetzt werden wollen, trotzdem
aber versetzt werden sollen, um die Fehlorganisation
auszugleichen.
Die soziale Betroffenheit derjenigen, die nach dem
sozialen Ausleseprozess von heimatferner Verwendung
betroffen sind und noch betroffen sein werden, mildern
diese Vereinbarungen allerdings nicht. Besonders Beschäftigte in unteren und mittleren Einkommensgruppen
laufen dabei Gefahr, ihre Existenz und ihre finanzielle
Zukunft zu riskieren. Das ist in unseren Augen keine Sozialverträglichkeit, sondern in vielen Fällen eine Zumutung. Wenn sich Bedienstete dann gegen Zwangsversetzungen wehren oder krank werden, bleiben wichtige
Planstellen unbesetzt.
Extrem defizitär ist die Situation in der Aus- und
Fortbildung. Dieser Bereich wurde im Zuge der Vorbereitung der Neuorganisation nicht tiefgründiger analysiert, was sich nun rächt. Die Bundespolizei hat seit Jahren schlichtweg zu wenig Nachwuchs eingestellt und ist
auch mit ihrer Struktur der Personalwerbung und der
Schwerpunktbestimmung von Werberäumen hoffnungslos abgehängt. Insgesamt besteht das Problem der
Überalterung der Bundespolizei, so sind über 2 500 Polizeiobermeister älter als 40 Jahre.
Inzwischen gibt es extreme Kapazitätsengpässe. So
waren die Kapazitäten der Bundespolizeiakademie und
der Aus- und Fortbildungszentren bereits im Jahr 2008
zu 84 Prozent mit Ausbildungsaufgaben ausgelastet, im
Jahr 2009 zu 92 Prozent. Das führt dazu, dass bereits
heute kaum noch zentrale Fortbildungsmaßnahmen angeboten werden können. Es droht eine sich permanent
wandelnde Bundespolizei, die ihre Mitarbeiter aus Kapazitätsgründen nicht fortbilden kann. In der Folge
kommt es zum Entzug von Polizeibeamten - vor allem
des gehobenen Dienstes - aus der operativen Linie und
ihren Abordnung in die Ausbildungsorganisation, um
die Ausbildung sicherstellen zu können.
Wir Sozialdemokraten wollen, dass das Bundesinnenministerium das Versprechen von der sozialverträglichen Umsetzung einhält und die Beamtinnen und Beamten zu ihrem Recht kommen. Wir fordern die schnellstmögliche Besetzung der 1 195 unbesetzten Stellen bei
der Bundespolizei, um die Überbelastung der Beamtinnen und Beamten abzubauen.
Die Arbeitszeit - besonders für Schichtdienstleistende - muss wieder auf ein erträgliches Maß zurückgeführt werden. Wir fordern eine regelmäßige Untersuchung der sozialverträglichen Umsetzung in Intervallen
von sechs Monaten. Aus unserer Sicht müssen sofort
Maßnahmen ergriffen werden, welche die Bezeichnung
„sozialverträglich“ auch verdienen. Der Bundesrechnungshof bestätigt mit seinem Prüfbericht, dass der
Personalbedarf der sogenannten bundespolizeilichen
Schwerpunktdienststellen - wie Bahnhöfen und Flughäfen - nicht auf Dauer durch Abordnungen aus Dienststellen in den Personalabbaubereichen abgefedert werden kann. Die massenhaften Abordnungen durch das
Bundespolizeipräsidium müssen ein Ende haben und
dürfen nicht noch stetig gesteigert werden. Familien
dürfen nicht vierteljährlich und wiederholt getrennt
werden. Wenn Abordnungen erfolgen, dann müssen sie
ein logisches polizeitaktisches System erkennen lassen.
Die Verwaltungsservicestellen, die bisher befristet werden, sind umgehend zu entfristen und im ODP der Bundespolizei auf Dauer einzurichten.
Mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen im Ausland und dem Wegfall der östlichen
Schengen-Außengrenzen leiden die Flughäfen unter besonderen Belastungen. Zum einen sind sie nun an Stelle
der alleinig bisherigen Landesgrenzen neue SchengenGrenze, auf der anderen Seite bedienen überwiegend die
Flughafendienststellen die Auslandseinsätze der Bundespolizei.
Das Ergebnis der Organisationsüberprüfung aus dem
Jahr 2008 wurde bis heute nicht umgesetzt, der Organisations- und Dienstpostenplan dementsprechend nicht
angepasst. Das hat zur Folge, dass die Flughafendienststellen mit einem Organisations- und Dienstpostenplan
ausgestattet sind, der auf Daten zurückliegender Jahre
basiert. Auf wechselnde Bedingungen, wie zum Beispiel
Ausbauplanungen in Berlin und Frankfurt am Main und
damit verbundene steigende Fluggastzahlen, kann somit
nicht reagiert werden. Im Ergebnis muss das Bundespolizeipräsidium regelmäßig auf Abordnungen aus anderen Dienststellen oder der Bundesbereitschaftspolizei
zurückgreifen, um die Flughafendienststellen zu verstärken. Die im Bericht angesprochenen Abordnungen
von Beamtinnen und Beamten aus den sogenannten Personalüberhangbereichen der Direktionen Bad Bramstedt, Berlin und Pirna an die Flughäfen sind kritisch zu
betrachten.
Das bitter notwendige Umsteuern im System der Personalgewinnung und -steuerung für die FlughafenZu Protokoll gegebene Reden
dienststellen wurde zwei Jahre lang nicht bearbeitet.
Insgesamt sind gegenwärtig circa 850 Polizeibeamtinnen und -beamte innerhalb ihrer Direktionen und circa
450 Polizeibeamtinnen und -beamte zu Dienststellen außerhalb ihrer Direktionen - Flughäfen - abgeordnet.
Das entspricht in etwa dem Personalfehl, welches durch
sträfliche Vernachlässigung von Neueinstellungen entstanden ist.
Das Bundesinnenministerium versichert in seinem
Bericht, dass die Anzahl der erforderlichen Polizeivollzugsbeamten grundsätzlich jährlich nach einheitlichen
Kriterien und auf Grundlage bundesweit gültiger Fachkonzepte überprüft werde. Dem steht entgegen, dass seit
den Vorfällen im Dezember 2009 - Stichwort: Detroit keine großen Veränderungen, die zur Verbesserung der
Sicherheit beigetragen hätten, erfolgt sind. Damit ist
diese Aussage des Bundesinnenministeriums anzuzweifeln. Sollte es wirklich eine derartige jährliche Überprüfung geben, so müsste im Ergebnis zutagetreten, dass
der Organisations- und Dienstpostenplan und der damit
verbundene Dienstpostenansatz zukünftig anzupassen
ist.
Die Aufgabenwahrnehmung an den Flughäfen ist
eine Kernkompetenz der Bundespolizei; sie muss auch
als solche behandelt werden. Wir wollen, dass die Stellen langfristig fest besetzt sind und nicht durch Abordnungen aus anderen Bereichen ersetzt werden. Die Personalzumessung muss so gestaltet sein, dass die Anzahl
der Abordnungen so gering wie möglich ausfällt. In der
Konsequenz fordern wir eine gezielte regionale Einstellungspolitik. Wir favorisieren dabei regionale Werbemaßnahmen zur Personalgewinnung für die Bundespolizei. Der Dienst nach der Ausbildung muss schon in der
Ausbildung regional planbar sein. Freie Dienstposten,
die bis heute nicht vollständig besetzt sind, obwohl die
finanziellen Mittel, nämlich Planstellen, schon lange
vorhanden sind, müssen als Erste besetzt werden.
Es gibt noch viele Baustellen bei der Umsetzung dieser Reform, einer Reform, die ich schon von Anfang an
kritisch begleitet und als überstürzt betrachtet habe. Die
von mir angesprochenen Problempunkte wurden von mir
bereits vor zweieinhalb Jahren benannt. Die Sachverständigenanhörung am 5. Juli hat zum großen Teil
meine Ansichten bestätigt. Die Anhörung belegte zudem
sehr deutlich, dass die Evaluierung der Reform nur sehr
unzureichend gelungen ist, der Bedarf an einer sachgerechten Bewertung ist sogar noch größer geworden. Es
steht nicht zu erwarten, dass eine erneute interne Untersuchung objektivere Ergebnisse bringt. Wir fordern deshalb, dass die Bundespolizeireform durch einen wissenschaftlichen Sachverständigen untersucht wird, der im
Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt
wird. Ich bitte um Unterstützung dieser Forderung und
unseres Antrags.
Die Bundespolizei befindet sich derzeit noch in der
dritten großen Strukturreform. Reformen bringen immer
Unruhe, Verwirrungen und Unzufriedenheit mit sich.
Die Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir wollen auch keine Dauerreform der Bundespolizei. Wir wollen, dass die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
im Interesse unserer Sicherheit ihren Job machen können. Das brauchen wir - und nicht Unruhe und Unzufriedenheit.
Diese Unruhe und Unsicherheit liegt vielleicht auch
daran, dass die Reformvorhaben erst zu spät bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Beamtinnen
und Beamten angekommen sind, diese also quasi vor
vollendete Tatsachen gestellt wurden.
Weil wir nicht wollen, dass nun auf die Reform die
Reform der Reform folgen soll und alles wieder auf den
Kopf gestellt wird, ist die christlich-liberale Koalition
der Überzeugung, dass Fehlentwicklungen begegnet
werden muss, aber innerhalb des nun vorgegebenen
Konzepts. Denn das, was vielleicht in der Wirtschaft
üblich ist, dass eigentlich die Reorganisation der Normalfall ist, das wollen wir den Mitarbeitern der Bundespolizei nicht zumuten, und das können wir nicht verantworten, weil es um die Sicherheit zum Beispiel an den
Grenzen und an den Flughäfen geht, die Verlässlichkeit
braucht.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf - und
wir wissen, dass diese Forderungen vom Bundesinnenministerium aufgegriffen werden -, die Dinge zu ändern,
die aus der Reform einen Erfolg machen können.
Wenn ich hier auf die SPD-Position schaue, dann
muss ich mir hingegen verwundert die Augen reiben. Ich
frage hier mal: Wer hat es erfunden? Das waren doch
Sie, die SPD, in der vorigen Wahlperiode. Das waren
doch Sie, die SPD, die eine Reform mitgetragen hat, die
die Mitarbeiter nicht mitgenommen hat. Wo waren denn
da Ihre mahnenden Worte? Wo war denn die gelebte Sozialdemokratie, als es um die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ging, die vor den Kopf gestoßen
wurden? Jetzt verlangen Sie scheinheilig eine externe
Evaluation. Da hätten Sie vielleicht vorher mal - ganz
intern - in sich gehen können, bevor Sie so ein Projekt
absegnen.
Wir, die FDP-Fraktion, haben die Bundespolizeireform skeptisch gesehen. Das will ich gar nicht verhehlen. Aber wir wollen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, die sich gerade in der neuen Struktur
zurechtfinden wollen und müssen, nicht nochmals vor
eine Reorganisation im Stile einer Umwälzung stellen.
Vielmehr wollen wir nun ihre Bedenken, ihre Erfahrungen, ihre Anregungen aufnehmen, um es besser zu machen.
Denn die Bundespolizei muss ihre Aufgaben wahrnehmen können - und dazu braucht sie engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihrer Organisation angenommen fühlen und sich einbringen, die ihre
Arbeit gut machen wollen und können. Genug zu tun gibt
es für die Bundespolizei dabei: Nach der SchengenOsterweiterung sind die Aufgaben an den östlichen Bundesgrenzen ja nicht auf einmal weggefallen, sondern die
Bundespolizei steht vor neuen Herausforderungen.
Durch die Zunahme des Reiseverkehrs an Flughäfen und
die zunehmende Zahl von Menschen in Ballungsräumen
Zu Protokoll gegebene Reden
stehen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
vor anspruchsvollen Aufgaben, für die stetig ausreichend Personal vorhanden sein muss.
Notwendig ist auch ein langfristiges Personalentwicklungskonzept, damit die Bundespolizei sich für die
Zukunft richtig aufstellen kann. Dazu gehören die Nachwuchswerbung ebenso wie die Aufstiegschancen innerhalb der Bundespolizei, die Auslandseinsätze ebenso
wie die Spezialisierung, die in einer zunehmend komplexen Welt bei den Sicherheitsbehörden allenthalben erforderlich ist.
Verantwortung muss man übernehmen - und man
muss dafür auch die entsprechenden Freiräume haben,
um sie auszufüllen. Deshalb wollen wir, dass das Bundespolizeipräsidium in seinen Kernaufgaben gestärkt
wird, um seiner Verantwortung eigenständig auch nachkommen zu können, zugleich aber die Entscheidungsebenen vor Ort in angemessener Weise berücksichtigt
werden, denn vieles muss nicht zentral geregelt werden.
Wir setzen uns nicht für zentralisierte Entscheidungen
fernab der Belange vor Ort, fernab der Belange und der
Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer
alltäglichen Arbeit ein, sondern wollen die Entscheidungskompetenz da verorten, wo sie hingehört.
Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten verdienen unseren Respekt und unseren Dank für die Wahrnehmung vielfältiger Aufgaben. Der Antrag der christlich-liberalen Koalition gibt diesem Ausdruck.
Die Reform der Bundespolizei, über die wir heute reden, wurde 2008, vor nunmehr zweieinhalb Jahren, vom
Bundestag beschlossen. Im Juni 2010, also vor vier Monaten, fand im Innenausschuss eine Expertenanhörung
statt. Das Fazit: Keins der vorgegebenen Reformziele
wurde erreicht. Wie ein Sachverständiger es zuspitzte:
Die Geschichte dieser Reform ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. Kurzum, das Urteil
der Fachleute war mehr oder weniger vernichtend.
Im Bundesinnenministerium sah man das natürlich
anders. Die interne Überprüfung habe ergeben, dass die
Reform der Bundespolizei im Großen und Ganzen gelungen sei. Wir kennen dieselben Fehleinschätzungen auch
von anderen Beispielen, etwa von Überprüfungen der
Sicherheitsgesetze. Deshalb noch mal ganz klar: Überprüfung bedeutet nicht, dass sich das Bundesinnenministerium selbst bescheinigt, es sei alle Zeiten super.
Ich will hier nur die offensichtlichsten Mängel kurz
auflisten. Erstens, die Präsenz der Bundespolizei in der
Fläche ist ebenso wenig gesichert wie die Sicherheit an
Brennpunkten, seien es Flughäfen oder Bundesgrenzen
im Süden und im Osten. Zweitens, es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen dem, was an Personal und
Ausstattung nötig wäre, und dem, was an Personal und
Ausstattung gewährt wird. Drittens, beide Diskrepanzen, die mangelnde Präsenz und die Unterausstattung,
werden auf Kosten der Beschäftigten und zulasten ihrer
Familien übertüncht. Viertens, praktisch unbeantwortet
ist auch die Frage, wie der Beruf einer Bundespolizistin
bzw. eines Polizisten auch künftig attraktiv sein könnte.
Es fehlt ein Zukunftsplan.
Fehlende Ressourcen, demotiviertes Personal, mangelnde Perspektiven und löchrige Sicherheit - ein
schlechteres Zeugnis kann man einer sogenannten Reform nicht aussprechen. Ich will als Linke nicht unerwähnt lassen: einer Reform unter CDU-Führung. Die
Fraktion Die Linke fordert daher dreierlei: Erstens, die
Ergebnisse bzw. Mängel der bisherigen Reform der Bundespolizei sind durch unabhängige Sachverständige zu
überprüfen. Zweitens, die Fehlentwicklungen, insbesondere die, die zulasten der Beschäftigten gehen, sind unverzüglich zu korrigieren. Drittens, bei allen weiteren
Schritten sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften endlich ernst zu nehmen und einzubeziehen.
Abschließend will ich für die Fraktion Die Linke allerdings noch einmal grundsätzlich unterstreichen: Alle
Gelüste, die öffentliche Sicherheit zunehmend privaten
Anbietern anzudienen und die Polizei zweckfremd einzusetzen, werden wir nicht hinnehmen. Ich sage das so allgemein und für manche auch kryptisch, weil bisher nie
offen gesagt wurde, welchem Sinn und Zweck diese Reform der Bundespolizei eigentlich folgte und welche
politischen Absichten möglicherweise wirklich dahinter
stecken. Wir erleben immer wieder Vorstöße, mit denen
die Trennungsgebote des Grundgesetzes zwischen Polizeien, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeweicht
werden sollen. Die Linke wird daher auch alle weiteren
Reformen der Bundespolizei mit genau diesem Argwohn
begleiten.
Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang
Schäuble die Bundespolizeireform in Gang setzte, da
dachte er, er bräuchte für dieses Vorhaben noch nicht
einmal ein Gesetz. Dem Organisationserlass folgte dann
doch noch ein Gesetz und Anfang des Jahres dann die
erste Beurteilung der Folgen der Reform. In dieser Beurteilung kommt das Bundesinnenministerium - man
kann das ruhigen Gewissens so zusammenfassen - zu
dem Ergebnis: Alle Ziele sind erreicht oder mindestens
sehr weit gediehen, ein richtiger Plan wurde gut umgesetzt, und die Zeit wird vielleicht doch noch verbliebene
Wunden schon heilen.
Den Leser dieser Bewertung beschlichen von Anfang
an die Zweifel, dass so ein großes Projekt so problemlos
umgesetzt werden kann. Denn mit der Reform wurde
gleichzeitig dreierlei getan: Erstens wurde die Organisation massiv umgekrempelt, es wurden Standorte genauso verändert wie die ganze Struktur und die Zuständigkeiten. Zweitens wurde die Leitung neu gestaltet und
vom Ministerium in eine neue Oberbehörde verlegt das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Drittens wurden die Ziele und Aufgaben teilweise neu definiert. Das
hat zur Folge, dass eine große Zahl von Polizistinnen
und Polizisten neue Aufgaben an einem neuen Ort übernehmen müssen, dass Verwaltungsabläufe neu gestaltet
werden müssen, dass Stellen noch zu besetzen sind.
Dass alles im Fluss ist, spiegelt sich auch in den vielen, vielen Zuschriften und Stellungnahmen, die wir InZu Protokoll gegebene Reden
nenpolitiker erhalten haben. Praktiker aus den Inspektionen und den Revieren haben eine sehr viel kritischere
Einschätzung als das Innenministerium. Sie klagen über
einen regelrechten Bürokratieverhau an Vorgaben, Formularen, zu sammelnden Kennzahlen, über unbesetzte
Stellen und darüber, dass die Reform insgesamt dazu geführt hat, dass mehr Zeit am Schreibtisch verbracht wird
und darunter die eigentliche Kernaufgabe, nämlich Sicherheit zu schaffen, leidet. Nicht zuletzt leiden auch
viele Beamtinnen und Beamte unter der Reform, sei es
durch Umzüge oder durch Überstunden.
Dass es diese Probleme gibt, haben unisono alle
Sachverständigen bestätigt, die wir im Juli im Innenausschuss angehört haben. Immerhin hat diese Einstimmigkeit bei der Bundesregierung zu der Einsicht geführt,
dass wohl doch nicht alles von alleine geht. Das räumen
die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ja auch mehr
oder weniger freimütig ein.
Um die Probleme nun ehrlich angehen zu können,
braucht es aber nicht das, was die Koalition will, nämlich mehr Selbstbeurteilung des Ministeriums. Das führt
vielleicht zur Lösung der auffälligsten Probleme. Aber
es ist nicht der richtige Weg, um wirklich zu erfassen, wo
die Probleme stecken und wie die Lösung aussehen
könnte. Deswegen unterstützen wir die Forderung der
SPD, wissenschaftlichen Sachverstand hinzuzuziehen,
um eine umfassende, professionelle Evaluierung durchzuführen. Das darf nicht nur heißen, dass jemand das
BMI berät, wie es sich am besten selbst evaluiert. Es
muss bedeuten: Sachverständige evaluieren Organisation und Praxis der Bundespolizeireform. Nur so lassen
sich die Missstände wirklich angehen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3068 und 17/3187 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine Normalisierung der Beziehungen der
Europäischen Union zu Kuba
- Drucksache 17/3188 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Holger
Haibach, Dr. Egon Jüttner, Klaus Barthel, Marina Schuster,
Sevim Dağdelen und Hans-Christian Ströbele ihre Reden
zu Protokoll.
Das politische und wirtschaftliche Modell Kubas ist
nicht zukunftsfähig und dringend reformbedürftig. Zu
dieser Einsicht ist mittlerweile sogar die kubanische
Führung selbst gelangt und hat daher kürzlich beschlossen, stärker auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirtschaftssystem des Landes zu setzen. In vielen Bereichen
der Wirtschaft ist nunmehr privates Unternehmertum
möglich, gleichzeitig wird die aufgeblähte Zahl der
Staatsbediensteten drastisch reduziert. Manche Kommentatoren sehen hierin bereits den Beginn einer kubanischen Perestroika. Einzig die Fraktion Die Linke stellt
sich gegen die Zeichen der Zeit und legt uns heute einen
Antrag vor, der sich liest, als wären wir noch in den
sechziger Jahren und als würde sich das kommunistische und planwirtschaftliche System Kubas immer noch
als eine ernsthafte Konkurrenz zu liberalem Rechtsstaat
und sozialer Marktwirtschaft in der Region präsentieren. Das kubanische System ist aber von Grund auf marode und eine grundlegende Verbesserung der Beziehungen zwischen Europa und Kuba kann nur die Folge
tiefgreifender Reformen und einer Öffnung des Landes
sein.
Es ist ja richtig, dass sich Kuba bemüht, uns ein Stück
weit entgegenzukommen. So muss wohl jedenfalls die
Freilassung der in dem Antrag erwähnten 52 Dissidenten verstanden werden. An sich wäre diese Freilassung
ja auch zu begrüßen, wenn ihre Begleitumstände nicht
so tragisch wären. Was die Kollegen von der Linksfraktion in ihrem Antrag unter den Tisch fallen lassen, ist
nämlich, dass diese 52 Dissidenten nicht einfach nur aus
ihren Zellen entlassen wurden. Sie wurden vielmehr direkt nach ihrer Freilassung nach Spanien abgeschoben
und ihnen wurde de facto die Staatsbürgerschaft entzogen. Solange das kommunistische Regime in Kuba
herrscht, werden diese Menschen ihre Heimat nicht wiedersehen können. Einen solchen Umgang mit unliebsamen Menschen durch eine kommunistische Diktatur kennen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte, und
er ist weder zu begrüßen, noch sollte er von uns oder der
EU belohnt werden. Wir müssen vielmehr weiterhin auf
Kuba einwirken, alle politischen Gefangenen bedingungslos freizulassen und das Regime zu demokratischen Reformen ermutigen. Das ist auch kein Verstoß
gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot,
wie es in dem Antrag behauptet wird. Das Eintreten für
die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit
für alle Demokraten sein, und ich dachte bisher auch,
dass es in diesem Haus darüber einen breiten und stabilen Konsens zwischen allen Fraktionen gibt. Wenn es
aber wirklich die Meinung der Fraktion der Linken ist,
dass die Forderung nach Demokratie und Freilassung
von politischen Gefangenen in Kuba ein illegitimer Eingriff in die staatliche Souveränität des Landes ist, dann
wirft sie damit die aktive Menschenrechtspolitik um
vierzig Jahre zurück. Mit solchen Ansichten können Sie
im 21. Jahrhundert keine glaubhafte Außenpolitik mehr
betreiben.
Auch die Beurteilung der Rolle Kubas in der regionalen Integration stellt das Ausmaß der Realitätsverweige6950
rung der Antragsteller heraus. Es ist eben so, dass
zunehmend deutlich wird, dass die ALBA keine Organisation ist, von der Wachstumsimpulse für ihre Mitglieder
ausgehen, wie das in der EU der Fall ist, sondern dass
dies eine Organisation zur gemeinsamen Verwaltung des
Mangels ist. Der Einfluss, den Kuba auf die Region zu
nehmen versucht, ist unter diesen Vorzeichen eher als
schädlich zu betrachten. Versuche der kubanischen Regierung, ihr System in andere Staaten zu exportieren,
müssen zum Scheitern verurteilt sein.
Vollends skurril wird die Argumentation des Antrags,
wenn es um die Forderung nach einer Freilassung der
sogenannten Miami Five geht. Diese Menschen werden
nicht „in der USA gefangen gehalten“, wie es hier geschrieben steht. Sie wurden in einem rechtsstaatlichen
Verfahren wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum
Mord zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten einen
unabhängigen Richter, frei gewählte Verteidiger und ein
faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile
in Berufung zu gehen. All dies sind Dinge, von denen die
in Kuba eingekerkerten Dissidenten nicht einmal zu
träumen wagen können. Irgendwelche Parallelen zwischen den „Miami Five“ und den eingesperrten Dissidenten in Kuba zu ziehen, ist daher mehr als hanebüchen und eine Verhöhnung derjenigen Kubaner, die sich
unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und auch ihrer
Gesundheit für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in
ihrem Land einsetzen.
Aus all diesen Gründen ist der Antrag abzulehnen.
Kuba ist kein normales Land, sondern immer noch eine
Diktatur, in der Menschen, die die Regierung kritisieren,
weggesperrt werden. Solange noch über 200 Menschen
aus politischen Gründen in Kuba eingesperrt sind, solange Menschen wie Juan Carlos Herrera Acosta und
die anderen Mitglieder der „Gruppe der 75“ in Haft
bleiben, weil sie sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, solange kann die EU ihre Beziehungen
zu Kuba nicht normalisieren. Es ist nur zu begrüßen,
dass sich die Bundesregierung entsprechenden Bestrebungen vonseiten mancher unserer Partner entschlossen
entgegenstellt. Der Gemeinsame Standpunkt der EU
muss daher bestehen bleiben.
Mit ihrem Antrag möchte die Fraktion Die Linke erreichen, die Beziehungen der Europäischen Union zu
Kuba zu normalisieren. Selbst wenn man die politische,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba in den
vergangenen Monaten mit viel Wohlwollen betrachtet,
kann dem unter keinen Umständen zugestimmt werden.
Eine Normalisierung der Beziehungen würde der aktuellen Lage in Kuba in keiner Weise gerecht werden: So sind
die bürgerlichen und politischen Rechte in Kuba weiterhin stark eingeschränkt. Regierungskritiker werden nach
wie vor inhaftiert. Freigelassene Häftlinge berichten,
dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung
sind an der Tagesordnung. Das Recht auf Vereinigungsund Versammlungsfreiheit ist stark beschnitten.
Die menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Kuba lassen eine Normalisierung der Beziehungen nicht zu. Bei der aktuellen
Lage der Presse in Kuba kann man nicht von einer Einschränkung der Pressefreiheit sprechen. Bei einer zu
100 Prozent staatlichen Presse ist die Pressefreiheit
nicht eingeschränkt, sondern es gibt schlicht und einfach
keine Pressefreiheit. Der Freiheitsgrad der Presse auf
Kuba liegt bei null. Die absolute staatliche Kontrolle erstreckt sich auf sämtliche Presseorgane. Sie macht auch
vor dem Internet nicht halt. Die Behörden sperren nach
wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern und
Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberstehen. Sobald regierungsabweichende Publikationen im
Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger
Verfolgung ausgesetzt. Nach wie vor hindert die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürger
an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitäten.
Es mag zwar sein, dass sich dank der Vermittlung des
spanischen Außenministers Moratinos und der katholischen Kirche die Situation in den letzten Wochen und
Monaten etwas gebessert hat und über 50 politische Gefangene freigekommen sind. Man darf aber nicht vergessen: Die menschenrechtliche Situation im Jahre 2009
und in der ersten Jahreshälfte 2010 hat sich extrem verschlechtert. Ein Beispiel dafür ist der Tod des politischen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo. Er starb im
Februar dieses Jahres infolge eines Hungerstreiks.
Natürlich begrüßen wir die Freilassung politischer
Gefangener. Es ist aber nicht so, dass die Freigelassenen nun unbehelligt in Kuba leben können und dort frei
ihre Meinung äußern dürfen. Nein, sie müssen vielmehr
ihr Land verlassen. Sie haben mehrheitlich in Spanien
Zuflucht gefunden.
Ist es nicht bezeichnend, dass gerade die freigelassenen Dissidenten, die ihre Dankbarkeit gegenüber Spanien durchaus zum Ausdruck gebracht haben, dennoch
deutlich klar gemacht haben, dass sie den Vorstoß der
spanischen Regierung, die Beziehungen zu Kuba zu entspannen, strikt ablehnen? Sie haben sowohl Spanien als
auch die gesamte Europäische Union zu mehr Härte gegenüber Kuba aufgefordert. Auch uns ist es nicht verständlich, dass nun die Fraktion Die Linke eine Normalisierung der Beziehungen verlangt, während diese
Dissidenten aus eigenem Erleben des Systems einen härteren Umgang mit dem kommunistischen Inselstaat fordern.
Eine Normalisierung der Beziehungen ist auch im
Hinblick auf das derzeitige Engagement der EU in Kuba
nicht erforderlich. Allein zwischen 1993 und 2003 hat die
Kommission 145 Millionen Euro an Hilfsmaßnahmen finanziert, davon 90 Millionen Euro im humanitären Bereich. Im Jahre 2009 hat Kuba weitere 36 Millionen Euro
für die Bereiche Wiederaufbau, Grundversorgung mit
Nahrungsmitteln, Umwelt und Klima sowie Management
und Kultur erhalten. Und schließlich hat die Europäische
Kommission erst kürzlich 20 Millionen Euro für 2011 bis
2013 im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in
Zu Protokoll gegebene Reden
Aussicht gestellt. Hinzu kommt noch Soforthilfe, um auf
Notlagen durch Hurrikane zu reagieren. Man kann deshalb nicht behaupten, die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten sähen weg, wenn es um das Leiden der
kubanischen Bevölkerung geht.
Wir halten den im Jahre 1996 festgelegten „Gemeinsamen Standpunkt“ der EU weiterhin für richtig. Das
heißt: Kuba muss die Menschenrechte wahren, bevor ein
direkter Dialog mit seiner Regierung eröffnet wird. Von
einem politischen oder gar von menschenrechtlichem
„Tauwetter“ auf Kuba zu sprechen, halten wir für verfehlt. Über eine Normalisierung nachdenken können wir
erst, wenn diese fundamentalen Bedingungen erfüllt
sind. Der „Gemeinsame Standpunkt“ verstößt entgegen
der Behauptung der Linken in dem Antrag auch nicht
gegen das Nichteinmischungsverbot der Charta der Vereinten Nationen. Es ist legitim, an eine enge politische
und wirtschaftliche Kooperation Bedingungen zu knüpfen. Nichts anderes macht der „Gemeinsame Standpunkt“ aus dem Jahre 1996 mit seiner Forderung an die
kubanische Seite, die Menschenrechte zu achten.
Der Vergleich mit den Beziehungen der Europäischen
Union zu anderen lateinamerikanischen Ländern wie
Mexiko oder Kolumbien, den die Fraktion Die Linke in
ihrem Antrag aufstellt, kann so nicht hingenommen werden. Meine Damen und Herren von den Linken, Sie lassen dabei außer Acht, dass die staatliche Integrität dieser Länder durch Drogenkartelle und terroristische
Organisationen ernsthaft gefährdet wird. Gerade Kolumbien sieht sich seit Jahren mit einer terroristischen
Organisation konfrontiert, die eine ernsthafte Bedrohung für den Staat darstellt. Dennoch befinden sich
diese Länder auf einem guten Weg und sind im Unterschied zu Kuba bemüht, trotz erheblicher Bedrohungen
freie Wahlen abzuhalten. Die Situation in Kuba ist doch
wirklich eine völlig andere. Dort regiert eine Partei, und
wer sich ihrem Diktat nicht beugt, der ist nicht hinnehmbaren, menschenverachtenden Einschränkungen ausgesetzt.
Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem
Antrag gefordert wird, wäre deshalb unseres Erachtens
ein falsches Signal an die kubanische Führung.
Wir werden dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
Kaum ein Land erhitzt seit über 50 Jahren weltweit
die Gemüter so wie Kuba. Für Freund und Feind übt die
Insel eine besondere Faszination aus. Dies ist nicht die
Stelle, das zu analysieren und sich in die Ursachen zu
vertiefen.
Auch die EU - sonst in vielen Fragen der internationalen Politik durchaus differenziert aufgestellt - hat es
für nötig befunden, zu Kuba einen „Gemeinsamen
Standpunkt“ zu formulieren. Das ist durchaus eine besondere Ehre für so ein kleines Land in weiter Ferne.
Aus europäischer Sicht wäre es sicher wünschenswert,
für wichtigere Fragen in der internationalen Politik einen Gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln und umzusetzen.
Der Gemeinsame Standpunkt zu Kuba ist jetzt
14 Jahre alt und war damals von aktuellen Entwicklungen geprägt, vor allem von einer Zuspitzung wirtschaftlicher Probleme, von Konflikten und staatlichem Druck
in Kuba, aber auch von Stimmungen und Strömungen
neuer Mehrheiten und neuer Regierungen in der EU, die
ein außenpolitisches Profil suchten. Die Frage, ob der
europäische Standpunkt damals, 1996, angemessen war,
kann aber heute offen bleiben.
Heute besteht eine andere Situation. Selbst die USA
überprüfen ihre Blockadepolitik. Eine Blockade übrigens, die bei sämtlichen UN-Vollversammlungen fast
einstimmig, mit den Stimmen einzelner EU-Mitgliedstaaten, immer wieder verurteilt wurde, über die aber im
Gemeinsamen Standpunkt nichts zu lesen ist. Auch die
Entwicklung in Kuba selbst muss man zur Kenntnis nehmen. Alle Hoffnungen bzw. Befürchtungen, man könne
durch äußeren Druck, durch wirtschaftlichen Boykott,
durch außenpolitische Isolierung, durch Einmischung
von außen einen Systemwechsel herbeiführen, sind gescheitert, auch nach weiteren 14 Jahren EU-Sanktionen.
Die Freilassung von 52 Gefangenen ist vor allem auf einen innerkubanischen Dialog unter Beteiligung der katholischen Kirche zurückzuführen, bei dem die spanische Regierung hilfreich vermitteln konnte. Die
kubanische Regierung selbst setzt wirtschaftliche Reformen in Gang. Kuba wächst schließlich mehr und mehr in
die Staatengemeinschaft Lateinamerikas hinein. Längst
ist die Isolation in dieser Region durchbrochen und einer Integration in regionale Bündnisse gewichen.
Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion fordert
daher zu Recht eine Korrektur der europäischen KubaPolitik und weist damit in die richtige Richtung. Auch
wir kritisieren die Haltung der Bundesregierung, entgegen den Bestrebungen Spaniens und anderer Mitgliedsländer am bestehenden Standpunkt festzuhalten. Das ist
plumpe Kalte-Krieg-Mentalität, die belegt, dass CDU
und CSU rechtskonservatives Lagerdenken noch lange
nicht überwunden haben. So kann man aber keine internationale Politik machen. Und, ganz nebenbei, Außenminister Westerwelle kann seine Lateinamerika-Strategie damit gleich wieder vergessen.
Die Menschen, die sozialen Bewegungen und die Regierungen in der gesamten Region haben genug davon,
von den USA oder Europa gesagt zu bekommen, was sie
zu tun und zu lassen haben. Dialog, Bi- und Multilateralität, gleiche Augenhöhe - das wird heute von uns erwartet. Das heißt nicht, dass wir kritikwürdige Zustände
nicht kritisieren dürfen oder dass wir Verstöße gegen
Demokratie und Menschenrechte einfach hinnehmen
oder verschweigen dürfen. Das gilt dann aber auch für
alle Länder, nicht nur für Kuba.
Insoweit können wir der Intention des Antrags folgen.
Zweifel können erlaubt sein, ob es realistisch ist, die
Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes zu fordern.
Erstens würde der geforderte bilaterale Ansatz ja ebenfalls einen Gemeinsamen Standpunkt erfordern, zwar einen anderen, einen überarbeiteten, aber eben doch einen solchen Standpunkt. Zweitens wäre es schon ein
großer Fortschritt, wenn der künftige EU-Standpunkt
Zu Protokoll gegebene Reden
wenigstens eine Öffnung zugunsten eigener Aktivitäten
und Beziehungen der Mitgliedstaaten enthielte - was
ohnehin der Realität entspräche. Dann würde sich sehr
schnell eine neue Dynamik in den Beziehungen von EUMitgliedstaaten zu Kuba entwickeln. Wir begrüßen es
auch, dass die Linksfraktion - meines Wissens erstmalig - von „inhaftierten Dissidenten in Kuba“ spricht,
ein Stück mehr Realismus auch an dieser Stelle.
Was Punkt I.7 bzw. II.4 des Antrags betrifft, kann man
zwar dem Wunsch nach Freilassung der „Miami Five“
folgen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was das
mit der Korrektur des europäischen Standpunktes zu tun
haben soll. Vieles wäre einfacher, wenn die Linke bei berechtigten Anliegen darauf verzichten würde, das Anliegen selbst durch parteipolitische Profilierungssucht zu
belasten.
Vielleicht gibt es ja im Zuge der Beratungen noch hier
und da ein Einsehen. Gespannt bin ich vor allem darauf,
wie die Koalitionsfraktionen zur Haltung der Bundesregierung stehen und ob letztlich Kanzleramt oder
Außenministerium die Kubapolitik bestimmen - oder
vielleicht das Parlament. Es könnte dem Deutschen Bundestag als Ganzem gut anstehen, ein deutliches Signal
nach Brüssel zu senden und damit von seinen neuen
Rechten in der europäischen Politik Gebrauch zu machen.
Betrachtet man die gesellschaftspolitische Lage auf
Kuba, muss man nüchtern feststellen:
Der Sozialismus unter Palmen ist endgültig gescheitert. Zu diesem Schluss ist selbst Fidel Castro gekommen
und gibt offen zu, dass der kubanische Sozialismus nicht
mal mehr auf Kuba funktioniert. Ich zitiere: „Das kubanische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“
Zitatende. Diese Erkenntnis ist ebenso richtig wie längst
überfällig.
Schauen wir uns die Tatsachen an: In Kuba nimmt
der Staat eine zu große Rolle im Wirtschaftsleben ein. So
kontrolliert der Staat mehr als 95 Prozent der Wirtschaft
und zahlt den Arbeitern einen Lohn von etwa 20 Dollar
pro Monat. Die immer mal wieder angekündigten wirtschaftlichen Reformen müssen nun endlich auch angepackt und in die Tat umgesetzt werden. Kuba ist durch
die Weltwirtschaftskrise und Unwetterkatastrophen,
aber auch durch Korruption und sozialistische Misswirtschaft in eine schwere Krise geraten. Das Land
muss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über
1 Milliarde Euro importieren.
Die Pläne zur Aufweichung der Planwirtschaft, indem in 178 verschiedenen Bereichen Kubaner künftig
selbstständig werden können, sind begrüßenswert. Jedoch müssen wir sehen, dass sie auch aus der Not gewachsen sind: Damit muss auch die angekündigte Entlassungswelle im Staatsdienst abgefedert werden; und
was diese bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Nach den
Plänen der Regierung verlieren in den ersten drei Monaten des kommenden Jahres rund 500 000 Angestellte aus
unproduktiven staatlichen Betrieben ihren Job - das ist
jeder zehnte staatlich Beschäftigte. Begründet werden
beide Maßnahmen mit einer Stärkung der Planwirtschaft. Da tun sich mir einige große Fragezeichen auf,
denn unter anderem ist doch auch die sozialistische
Planwirtschaft ein Grund für die wirtschaftliche Misere.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
neben dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit der
kubanischen Wirtschaftspolitik wird doch eines wieder
einmal offensichtlich: Ihre Doppelstandards in Ihrer
Menschenrechtspolitik. Sie kritisieren zum Beispiel die
Vereinigten Staaten von Amerika für deren Hilfsmaßnahmen nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti. Aber dass
man mal ein Wort der Kritik hört, wie die kubanischen
Verantwortlichen mit Regimekritikern und Menschenrechtsverteidigern umgehen, dazu kommt dann nicht
viel. Sie begrüßen in Ihrem Antrag, dass die kubanische
Regierung inhaftierte Dissidenten freigelassen hat, und
das ist auch richtig so. Aber Sie verurteilen nicht, dass
diese Menschen wegen ihrer politischen und gesellschaftlichen Kritik überhaupt in Haft saßen. Politische
Gefangene gehören leider zum System auf Kuba, und
das ist entschieden zu verurteilen.
Vor allem hört man dann oft von Ihnen: Ja, dafür hat
Kuba aber gute Lehrer und Ärzte. - Das mag ja so sein,
nur heißt das doch nicht, dass man deswegen auf Meinungsfreiheit und auf die Gewährung von Menschenrechten verzichten kann.
Zudem möchte ich, dass wir uns als Parlamentarier
die jüngsten Freilassungen genau ansehen. Und ich
möchte einen Punkt zu bedenken geben: Die Freilassung
von Oppositionellen, um sie dann nach Spanien zu drängen, um sich damit quasi der lästigen Opposition zu entledigen, ist keine echte Freilassung. Mit einer Freilassung, die wahren Willen zur Versöhnung zeigt und den
Weg für Reformen ebnet, hat das nicht viel zu tun. Mit
„Freilassung“ meine ich echte Freilassung aller politischen Häftlinge. Die Freiheit darf nicht an Bedingungen
geknüpft werden. Es darf nicht sein, dass die Regierung
von Raul Castro die Dissidenten vor die Wahl „Gefängnis oder Exil“ stellt. Es darf nicht sein, dass die Menschen nur deswegen ihre Freiheit zurückerhalten, weil
sie danach nicht mehr in ihrem Heimatland am Erstarken der kritischen Stimmen in der Zivilgesellschaft teilnehmen können.
Ich erwarte, dass das kubanische Regime endlich Reformen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
einleitet, die der kubanischen Bevölkerung zugutekommen, und aufhört, die Menschenrechte zu verletzen.
Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, sollten endlich aufwachen und der Realität ins Auge sehen, statt auf dem linken Auge blind zu
sein. Ihre Gesamtposition gegenüber Kuba ist unausgewogen und einseitig. Denn wir müssen unseren Blick
auch werfen auf die desolate Lage der Menschenrechte,
den Druck auf Dissidenten, die rechtswidrige Inhaftierung der politisch Andersdenkenden, deren inhumane
Behandlung in den Gefängnissen und die Übergriffe auf
deren Familienangehörige. Die FDP wird nicht zulassen, dass man dies außer Augen lässt. Uns geht es darum, Kuba auf dem Weg in eine freie, demokratische ZuZu Protokoll gegebene Reden
kunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischen
Bevölkerung endlich zu beenden.
Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für den
Inselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Doch auch die
geografische Ferne der EU und der Bundesrepublik
Deutschland hat nicht gerade zu einer rationaleren Beziehung geführt. Dafür wäre es notwendig, dass die
Sanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern endgültig aufgehoben werden. Der Gemeinsame Standpunkt
der EU zu Kuba, der nach wie vor gültige Grundlage der
Politik der EU gegenüber Kuba ist, muss endlich aufgegeben und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden. Die
Zeichen stehen gut. Denn die spanische Regierung drängt
nach der Freilassung von 53 Inhaftierten auf Kuba vehementer auf eine Abschaffung des Gemeinsamen Standpunktes. Seit 1996 verknüpft der Gemeinsame Standpunkt die Bereitschaft der EU zur politischen und
wirtschaftlichen Kooperation mit Kuba ausdrücklich mit
dem Ziel eines Systemwechsels. Die, die an diesem Gemeinsamen Standpunkt festhalten, wollen, dass Kuba
seine Suche nach einem eigenständigen Entwicklungsweg, nach einer Alternative zum profitorientierten
Gesellschaftsmodell aufgibt. Für die Linke ist die aggressive politische Intervention, die im Gemeinsamen
Standpunkt zum Ausdruck kommt, keine akzeptable
Grundlage für eine Zusammenarbeit.
Bisher konnte Kuba seine Souveränität gegen vielfältige Widerstände verteidigen. Und das ist gut so. Aufgeben würde Kuba mit einem Systemwechsel seine für die
meisten Länder der sogenannten Dritten Welt beispielhaften Errungenschaften auf dem Gebiet des Bildungs-,
Sozial- und Gesundheitswesens. Diese Errungenschaften hat es trotz US-Embargo und gravierender wirtschaftlicher Schwierigkeiten bis heute aufrechterhalten.
An den Errungenschaften des kubanischen Bildungsund Gesundheitswesens hat nicht nur die kubanische
Bevölkerung teil. So wurde durch das seit Dezember
1998 andauernde Engagement medizinischer Fachkräfte aus Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erstmals ein Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht.
Diese Hilfe kam der Bevölkerung Haitis zuletzt bei
der Erdbebenkatastrophe zugute. Diese einmalige,
schnelle und unbürokratische Solidarität ist es, die Kubas Ansehen insbesondere in den Ländern des Trikont
ausmacht und die darüber hinaus gute Anknüpfungspunkte für die Kooperation mit Kuba bietet - im Sinne
einer trilateralen Kooperation, von der ärmere Drittstaaten wie Haiti profitieren könnten. Leider wurde der
Appell des damaligen kubanischen Präsidenten Fidel
Castro von 1998 an die Industriestaaten, das kubanische
Engagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Bereitstellung von Medizintechnik, Material und Medikamenten zu unterstützen, seinerzeit nicht aufgegriffen.
Die Linke begrüßt aber sehr, dass Ende Januar 2010 die
norwegische Regierung ein Abkommen mit Kuba unterzeichnete, demzufolge Norwegen die Arbeit der kubanischen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp
900 000 US-Dollar unterstützt. Und wir begrüßen, dass
mittlerweile die Diskussion um eine solche trilaterale
Kooperation auch in der EU-Kommission angekommen
ist. Millionen Menschen könnten davon profitieren,
wenn ich zum Beispiel an die äußerst effektiven kubanischen Alphabetisierungsprogramme und die Augenbehandlungen durch kubanische Ärzte in vielen Ländern
Lateinamerikas denke.
Doch statt dem Beispiel Norwegens zu folgen, versucht die Bundesregierung, Kuba in altbekannter Art
und Weise zu diskreditieren. Und sie versucht, die sich in
vielen EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer Aufhebung
des Gemeinsamen Standpunktes ändernde Haltung gegenüber Kuba zu blockieren.
Vorgeschobener Grund für diese negative Haltung
gegen Kuba ist die heuchlerische und selektive Behandlung der Menschenrechte. Das haben wir erst kürzlich
wieder erlebt, als die Bundesregierung ihr neues Lateinamerika-Konzept vorgestellt hat. Als einziges Land mit
problematischer Menschenrechtslage wird dort Kuba
explizit genannt. Honduras, wo vor anderthalb Jahren
ein Militärputsch stattgefunden hat, wo seither Hunderte Menschen ermordet, Tausende willkürlich verhaftet und teilweise schwerer Gewalt ausgesetzt worden
waren; Kolumbien, wo weltweit die meisten Gewerkschafter ermordet und Menschenrechtsverteidiger jeden
Tag bedroht werden, wo extralegale Hinrichtungen an
der Tagesordnung sind und nicht geahndet werden; oder
Mexiko, wo die tödliche Gewalt zum Alltag für Millionen
geworden ist - diese Länder werden nicht kritisch erwähnt. Im Gegenteil: Sie sind Partner der deutschen Lateinamerika-Politik gegen den sozialen Aufbruch, der
sich derzeit in Lateinamerika vollzieht. So war es nach
der FDP-Unterstützung für den Putsch in Honduras besonders bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung
im Gegensatz zu Spanien, Frankreich und anderen Staaten zu dem letzte Woche in Ecuador stattgefundenen
Putschversuch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Rafael Correa erst nach dem Scheitern des Putsches erklärte. Diese Erklärung beinhaltete aber noch
nicht einmal eine eindeutige Verurteilung des Putschversuchs.
Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie in
Afghanistan und im Südsudan meint, wer politische
Rechte für Bürgerinnen und Bürger in anderen Staaten
einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denen
ihnen Folter droht, wer zur Flüchtlingsabwehr mit Regimen wie in Libyen kooperiert, wer Meinungsfreiheit anderswo einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder
vorbereitet, der verwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik. Menschenrechte sind nur dann von
Dauer, wenn sie auf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die die strukturellen Ursachen der andauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigen.
Wie Venezuela ist auch Kuba ein wichtiger Motor des
sozialen Wandels und der lateinamerikanischen Integration und leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur
Durchsetzung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller
Menschenrechte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich innerhalb der Europäischen Union dafür einzusetzen, endlich den Gemeinsamen Standpunkt zu Kuba aufzuheben
und diesen durch einen bilateralen Ansatz zu ersetzen.
Es sollen Verhandlungen mit Kuba über ein Kooperationsabkommen eingeleitet werden, die gleichberechtigt,
ohne Vorbedingungen und mit vollständigem Respekt für
die Souveränität der beteiligten Partner und das Nichteinmischungsgebot der VN-Charta geführt werden.
Auch sollte die Bundesregierung mit der kubanischen
Regierung ohne Vorbedingungen Gespräche über Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen und dabei auch
die Möglichkeit trilateraler Zusammenarbeit zugunsten
Dritter erörtern.
Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegenüber der Regierung der USA dafür einsetzt, dass diese
eine ähnliche humanitäre Geste zeigt, wie dies Kuba mit
der Freilassung der 53 Inhaftierten getan hat, damit die
seit 1998 in den USA inhaftierten und als „Miami Five“
bekannt gewordenen kubanischen Gefangenen Antonio
Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo
Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und René
González Sehwerert freigelassen werden. Bis zu dem
Zeitpunkt ihrer Freilassung muss die Bundesregierung
humanitäres Handeln der US-Regierung einfordern.
Dazu zählt, dass die Ehefrauen der kubanischen Inhaftierten Besuchsrecht erhalten.
Mein ganzes politisches Leben lang stand ich auf der
Seite Kubas, wenn es darum ging, Versuche des mächtigen Nachbarn USA abzuwehren, Kuba mit militärischer
Gewalt, Mord und Totschlag oder Wirtschaftsboykott in
die Knie zu zwingen. Das sehe ich auch heute nicht anders, zumal das Embargo der USA und die Bedrohung
Kubas ja andauern. Aber Solidarität mit Kuba heißt
doch nicht, Menschenrechtsverletzungen und Misswirtschaft zu übersehen und totzuschweigen. Vielmehr gehört es dazu, solche Missstände zu kritisieren und sich
für die einzusetzen, die wegen ihrer Kritik in Gefängnisse gesteckt wurden und werden. Dies gilt unabhängig
davon, dass Kuba seit Jahrzehnten unter der massiven
Bedrohung von außen, unter Boykott und Blockade leidet.
Aus Kuba hören wir jetzt Bemerkenswertes. Fidel
Castro verurteilt die frühere Verfolgung von Homosexuellen im Land und kritisiert das alte verkrustete Wirtschaftssystem scharf, das nicht mehr in der Lage sei, den
Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Aber die
Verletzungen von Menschenrechten sind nicht nur dann
Menschenrechtsverletzungen, und Missstände der Wirtschaft nicht erst dann zu kritisieren, wenn der ehemalige
Präsident Kubas dies öffentlich eingesteht.
Damit gibt er den Kritikern im eigenen Land, die für
solche Äußerungen verfolgt wurden und im Gefängnis
leiden, ebenso wie internationalen Menschenrechtsorganisationen und auch der Europäischen Union recht.
Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden,
dass der „gemeinsame Standpunkt“ der EU zu Kuba von
1996 aufgehoben wird. Der Antrag geht von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Ziel dieses Standpunktes war
explizit, „einen Prozess des Übergangs in eine pluralistische Demokratie und die Achtung der Menschenrechte
und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholung
und Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen
Bevölkerung“ zu erreichen. Es ging also um die Intensivierung eines Dialoges vor allem zur Förderung der
Achtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts
auf freie Meinungsäußerung. Von einem „Systemwechsel“ ist keine Rede. Zwangsmaßnahmen wurden ausdrücklich ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung der
Entwicklung in Kuba und der massiven Kritik internationaler Organisationen wie Amnesty International an
den skandalösen Menschenrechtsverletzungen dort wie
der Inhaftierung von Dutzenden sogenannter Dissidenten und gar der Hinrichtung von drei Flüchtlingen im
Jahr 2003 ist diese Forderung nach wie vor aktuell.
Auch nach der Freilassung von 52 Inhaftierten befinden
sich noch zahlreiche „Dissidenten“ im Gefängnis, die
Meinungsfreiheit ist nicht gewahrt und freie politische
Betätigung ist nicht möglich.
Die Kritik und die Forderung nach der Achtung der
Menschenrechte verstoßen auch nicht gegen ein Gebot
der Nichteinmischung. Die Vereinten Nationen haben in
Resolutionen immer wieder festgestellt, dass es eine Verantwortung aller Staaten für die Wahrung der Menschenrechte auch in anderen Staaten gibt und die Souveränität eines Staates und das Nichteinmischungsgebot
dem keineswegs entgegenstehen. Das Argument kann
die Antrag stellende Fraktion auch nicht ernsthaft vorbringen. Damit widerspricht sie eigenen Anträgen etwa
zur Menschenrechtssituation in Kolumbien oder im
Gaza-Streifen. In diesen hat sie selbst die Einmischung
Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft in
die Belange anderer Staaten zur Wiederherstellung und
Wahrung von Menschenrechten befürwortet und gefordert.
Die Forderung nach der Achtung der Menschenrechte und der politischen Freiheitsrechte bleibt von
zentraler Bedeutung. Die Verletzung dieser Rechte kann
auch nicht durch eine Bedrohungslage gerechtfertigt
werden. Zusammenarbeit und kritischer Dialog - auch
bilateral - sind jetzt die richtige Option, wie es auch der
Entwicklungsausschuss des EU-Parlaments gefordert
hatte. Dabei sind die Entwicklungen in der Region und
die bilateralen Kooperationserfahrungen Frankreichs
und Spaniens von Bedeutung. Ein Einwirken der EU auf
die USA für ein Ende der Embargo-Politik wäre eine
wichtige Unterstützung. Der EU-Rat hat sich bei Verbesserungen im Menschenrechtsbereich auch zum Dialog bereit erklärt. Die Entlassung und Ausreise eines
großen Teiles der Inhaftierten ist ein erster wichtiger
Schritt zur Wahrung der Menschenrechte.
Eine Politik der Entspannung kann eher zu einer
Demokratisierung der Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen, als Kuba zu isolieren. Das waren
auch die deutschen Erfahrungen vor der Wende. Vordringlichste Aufgabe der EU und bilateral muss sein,
auf allen Ebenen vorbehaltlos alle Möglichkeiten und
Gespräche mit Regierungsstellen und Sektoren der GeZu Protokoll gegebene Reden
sellschaft für Bemühungen zur sofortigen Freilassung
der übrigen Dissidenten zu nutzen.
Zur Unteilbarkeit der Forderung nach der Achtung
der Menschenrechte gehört auch der Einsatz für die
Freilassung der sogenannten Miami Five aus US-Gefängnissen. Rechtsstaatliche Haftbedingungen, wozu
auch die Besuchsmöglichkeiten für die Ehefrauen gehören, sind unerlässlich. Richtig ist deshalb die Aufforderung des Parlaments an die Bundesregierung, sich bei
der EU einzusetzen auch dafür, dass diese auch mit diesem Ziel tätig wird.
Wir verkennen nicht, dass auch in anderen Staaten
Lateinamerikas schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen wurden und werden, häufig mit viel mehr
Opfern und Leiden der Bevölkerung, etwa in Kolumbien
oder Mexiko. Wir haben deshalb auch Anträge im Bundestag eingebracht, die die Bundesregierung auffordern, sich etwa in Kolumbien und Venezuela für die Einhaltung dieser Rechte einzusetzen. Aber gerade weil
Kuba das Land in Lateinamerika ist, an das ich selbst
lange Zeit hohe Erwartungen und Hoffnungen gesetzt
hatte und partiell noch setze und auf das noch heute
viele Völker Lateinamerikas hoffnungsvoll schauen, ist
es so wichtig, nicht nachzulassen und die Einhaltung der
Menschenrechte und der politischen Rechte gerade dort
immer wieder einzufordern.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3188 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Einwände sind
nicht erkennbar. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({0}), Volker Beck ({1}), Agnes
Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stiftungszweck der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung erfüllen
- Drucksache 17/3064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Strobl, Klaus Brähmig, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Lars
Lindemann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth
ihre Reden zu Protokoll.
Zum dritten Mal ergreife ich in dieser Legislaturperiode das Wort, um auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einzugehen. Dies ist nötig, weil
Gegner der Stiftung nach wie vor den Stiftungszweck bezweifeln, ohne dies wirklich begründen zu können. Insbesondere die Grünen, von denen der Antrag stammt,
über den wir heute diskutieren, suchen mit notorischer
Penetranz angebliche Haare in der Suppe des Projekts
Aufarbeitung der Vertriebenengeschichte.
Dabei geht es ihnen weder um die Sache noch ernstlich um Inhalte oder Personen. Sie wollen lediglich taktisch motivierte Spielchen spielen, um Sand ins Getriebe
einer Sache zu streuen, die ihnen ideologisch verhasst
ist.
Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir
unternehmen alles, um der Stiftung nun ein rasches Beginnen ihrer Arbeit zu ermöglichen, damit der Zweck des
Ganzen erfüllt wird: Versöhnung unter den Völkern dauerhaft herzustellen.
In der Hoffnung, dies zu erreichen und alle Bedenkenträger endgültig von der Sinnhaftigkeit des verdienstvollen Unterfangens zu überzeugen, möchte ich
noch einmal den Sachverhalt beschreiben, der zur Stiftungsgründung führte.
In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezember 2006 wurde die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentationsund Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.
Die bisherige Stiftungsarbeit hatte indes gezeigt, dass
die Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates
und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den
Stiftungsrat angezeigt erscheinen ließen.
Die zentrale Neuerung der im Mai verabschiedeten
Novelle ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legislativen, statt sie wie bisher der Exekutiven anheimzustellen. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich
und objektiviert den Berufungsprozess.
Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen wie
etwa der Kirchen und des Zentralrats der Juden bürgt
für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungsarbeit.
Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja gewollte
Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und
genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, Vertreibung, Versöhnung.“
Noch einmal: Keine qualitativ-inhaltlichen Änderungen zur ersten Fassung des Gesetzes von 2008 waren beabsichtigt. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden
unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist es um rein organisatorische, also formale
Änderungen gegangen. Beispielsweise hat sich der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder erhöht, und auch dem
wissenschaftlichen Beraterkreis gehören nun mehr Personen an, nämlich bis zu 15, statt bis zu 9 wie bisher. Dadurch ist die gewünschte Verbreiterung des wissen6956
Thomas Strobl ({0})
schaftlichen Spektrums erreicht worden, insbesondere
auch mit Blick auf eine internationale Besetzung.
Für die Aufnahme weiterer Gruppen, wie nun von den
Grünen gefordert, besteht kein Anlass.
Der oberste Stiftungszweck Versöhnung wird nach
meiner festen Überzeugung bei den gegebenen Verhältnissen in bestmöglicher Form erreicht. Wir sollten die
Stiftung deshalb nun ihre Arbeit tun, ihr Versöhnungswerk vollbringen lassen, ohne ständig stets von neuem
Details der Ausgestaltung zu hinterfragen. Das wäre
nicht zielführend und dem hehren Zweck der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in keiner Weise angemessen.
Das 20. Jahrhundert könnte zukünftig als das „Jahrhundert der Vertreibungen“ in die Geschichtsbücher
eingehen. An seinem Beginn stand der Genozid an den
Armeniern durch die Türken 1915, an seinem Ende standen „ethnische Säuberungen“ im zerfallenden Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre: insgesamt mussten 50 bis
70 Millionen Menschen fliehen, ihre Heimat für immer
verlassen, wurden vertrieben oder deportiert. Die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges stellt dabei die größte Zwangsmigration der Geschichte dar. Zwischen 1945 und 1949 sind über
14 Millionen Deutsche aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa geflohen oder vertrieben worden, bis zu zwei
Millionen Menschen kamen dabei ums Leben.
„Es ist eines der erstaunlichen Phänomene der vielen
Jahre, die seither vergangen sind“, resümierte der
Schriftsteller Arno Surminski in einem Aufsatz 2004 treffend, „dass ein so gewaltiger Stoff, ein Drama von biblischen Ausmaßen, das nahezu jede Familie in Mittel- und
Osteuropa direkt oder indirekt berührt hat, nur am
Rande behandelt wurde“. Daher hat der Deutsche Bundestag mit dem Beschluss 2008, die „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zu errichten, einen
historischen Meilenstein für die Bewältigung unserer
nationalen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrieges gesetzt. Ich betone noch einmal: Diese mit breiter
Mehrheit getroffene Entscheidung war ein historischer
Meilenstein!
Es liegt in der Natur der Sache, dass über die Form
des angemessenen Erinnerns an die Vertreibungen eine
öffentliche Debatte absehbar war. Jeder konstruktive
Beitrag ist dabei willkommen und jeder vernünftige Diskutant kann zum Versöhnungsgedanken beitragen, indem er sich tatsächlich an der historischen statt an einer
ideologischen Wahrheit orientiert.
Aber was soll man davon halten, wenn, wie jüngst geschehen, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, der Präsidentin des
Bundes der Vertriebenen unterstellt, sie hätte die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiert? Erika
Steinbach hat dies nachweislich nie getan! Noch in ihrer
diesjährigen Rede zum Tag der Heimat erklärte sie ausdrücklich: „Jeder im Land weiß, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Jeder im Land kennt die Barbareien
des nationalsozialistischen Deutschland und das grenzenlose Leid, das dadurch über Europa gekommen ist.
Mein tiefes Mitgefühl gilt diesen Opfern.“ Die BdV-Präsidentin hat außerdem beim Jubiläum 60 Jahre Charta
der Heimatvertriebenen betont, dass vom Nationalsozialismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut niemals Eingang in ihre Verbandspolitik gefunden habe.
Trotzdem versucht die Linke, mit unsäglichen Nazi-Vergleichen Erika Steinbach in die rechte Ecke zu stellen.
Wieder wird völlig vergessen, dass Frau Steinbach es
war, die den Bund der Vertriebenen in die Mitte der Gesellschaft gebracht und in der Eigentumsfrage eine Nulllösung propagiert hat. Ich weise deshalb nochmals solche Diffamierungen auf das Schärfste zurück!
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zielt nun in dieselbe Richtung wie ein Änderungsantrag der Linken im Kulturausschuss des Bundestages: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
soll keinen „Neustart“ hinlegen - die Bundesvertriebenenstiftung soll am besten für immer gestoppt werden!
Laut den Grünen habe etwa die „nicht abreißende Kette
von Provokationen und Verwerfungen um die Stiftung“
dazu geführt, dass alle ausländischen Vertreter den wissenschaftlichen Beirat verlassen hätten. Erstens wird
hier einfach unter den Teppich gekehrt, dass es die Opposition ist, welche kräftig die Debatte anheizt mit der
Absicht, das ganze Projekt zu torpedieren. Ich will an
dieser Stelle daran erinnern, dass im Dezember 2009 die
Gegner der Vertriebenenstiftung selbst vor drastischen
Fälschungen nicht zurückschreckten: So wurden eine
gefälschte Internetseite der Bundeseinrichtung ins Netz
gestellt und Pressemitteilungen unter falschem Namen
versandt. Zweitens ist die Aussage über die ausländischen Experten schlicht unwahr. Denn der ungarische
Wissenschaftler Dr. Kristián Ungvary sitzt nach wie vor
im Beirat.
Zudem wird in dem Antrag Positives über die Stiftung
völlig ausgeblendet. So taucht an keiner Stelle der Hinweis auf das dreitägige internationale Symposium auf,
welches der Direktor Professor Kittel mitorganisiert
hatte und an dem auch Wissenschaftler aus Polen oder
Tschechien teilgenommen haben. Dort stellte er die Eckpunkte der Konzeption für die Dauerausstellung vor,
welche eine erfreuliche Resonanz fanden. Selbst die
„Frankfurter Rundschau“ räumte ein, dass Professor
Kittel sich „streng an dem noch von der schwarz-roten
Koalition auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf für
die Stiftung“ orientierte.
Die Kritik der Opposition, hier gehe ferner es um
„Erpressung“ durch den BdV oder Geschichte solle umgeschrieben werden, ist vollkommen ungerechtfertigt.
Denn die Novellierung berührt weder die Mehrheitsverhältnisse - der BdV kann mit lediglich sechs von
21 Stimmen nicht dominant sein - noch den Stiftungszweck.
Die christlich-liberale Koalition hat mit der Novellierung des Stiftungsgesetztes die nationale Bedeutung dieser Erinnerungseinrichtung und ihre staatliche Aufgabe,
das millionenfache Schicksal der deutschen HeimatverZu Protokoll gegebene Reden
triebenen zu dokumentieren, unterstrichen und wird sich
durch solche Ablenkungsmanöver nicht beirren lassen.
Über die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
haben wir hier schon so oft gesprochen, dass mittlerweile alle Argumente ausgetauscht sind. Wir teilen die
Kritik der Grünen an den vom BdV benannten stellvertretenden Stiftungsratsmitgliedern Arnold Tölg und
Hartmut Saenger. Das haben wir in der Bundestagssitzung am 8. Juli, in der die Liste der Stiftungsratsmitglieder beschlossen wurde, kritisiert. Genauso hat die SPD
die Erweiterung des Stiftungsrates und das Wahlverfahren scharf kritisiert. Wir haben aber auch immer wieder
deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich hinter dem
Projekt Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ stehen. Deshalb sind wir gegen ein Moratorium, wie es die
Grünen fordern. Deshalb sind wir auch gegen die vollständige Streichung der Mittel für die Stiftung.
Nichtsdestotrotz halten auch wir die 2,5 Millionen
Euro, die im Haushalt für die Stiftung eingestellt sind,
für viel zu hoch. Bisher ist nicht ersichtlich, wofür die
Stiftung die Mittel verwendet, denn bisher liegt noch immer kein Konzept für die Ausstellung vor. Wenn die Stiftung schon jetzt 2,5 Millionen Euro erhält, wie viel soll
sie bekommen, wenn sie erst mal richtig anfängt zu arbeiten?
Auch wir haben unsere Unterstützung für die Stiftung
davon abhängig gemacht, dass sie den im Stiftungsgesetz festgeschriebenen Zweck erfüllt - nämlich „im
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im
historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der
nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten“.
Die bisherigen Querelen haben diesem Zweck extrem
geschadet. Mit dem Beharren auf Erika Steinbach und
der Benennung der beiden Stellvertreter hat der BdV der
Legitimität der Stiftung massiv geschadet und damit
auch die Arbeit vieler Vereine des BdV, die aktive Versöhnungsarbeit leisten, in Misskredit gebracht. Der BdV
muss endlich begreifen, dass die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht das „Zentrum gegen Vertreibung“ ist. Die Stiftung ist ein Projekt des Bundes.
Mit dem Beschluss im Jahr 2008 hat der Bundestag die
Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu seiner Sache
und damit zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft
gemacht.
Wenn der BdV nicht möchte, dass die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheitert, muss er
die beiden kritisierten Stellvertreter zurückziehen. Das
ist Voraussetzung dafür, dass der Zentralrat der Juden
wieder für eine Mitarbeit gewonnen werden kann. Hier
ist die Regierungskoalition in der Verantwortung!
Das Ärgerliche an der Debatte um die Stiftung ist,
dass die Diskussion über die Themen Flucht und Vertreibung bereits viel weiter ist. Es gibt gemeinsame Historikerkommissionen mit Polen, Tschechen, Slowaken, die
seit vielen Jahren gemeinsam an den Themen Flucht und
Vertreibung arbeiten. Kürzlich wurde ein Ausstellungskonzept vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit Historikern aus Polen, Tschechien und der Slowakei erarbeitet
wurde. Es gibt viele Vereine und Initiativen, die Versöhnung leben.
Das letzte, was die Stiftung jetzt braucht, ist ein Moratorium - das wäre ihr Ende. Die Stiftung muss endlich
anfangen, richtig zu arbeiten, und sollte sich dabei nicht
von fatalen Äußerungen von Mitgliedern des BdV behindern lassen.
Für die Stiftungsratssitzung am 25. Oktober ist endlich die Vorlage des Ausstellungskonzepts angekündigt.
Es ist wichtig, dass das Konzept im wissenschaftlichen
Beirat und in der Öffentlichkeit und der Fachwelt diskutiert wird, bevor der Stiftungsrat dem zustimmt. Für den
wissenschaftlichen Beirat müssen renommierte Wissenschaftler gewonnen werden - nur so kann die Stiftung
Vertrauen und Legitimität gewinnen. Seit Beginn der
Debatte um die Stiftung fordern wir, dass es eine internationale Tagung gibt, bei der zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern diskutiert wird,
was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Diese Tagung muss nach Vorlage des Konzepts endlich stattfinden. Damit ließe sich verlorenes Vertrauen wieder aufbauen - aber nur, wenn auch die Bereitschaft da ist,
Anregungen in das Ausstellungskonzept aufzunehmen.
Das Konzept der Regierung, auf das sich der Stiftungsdirektor Manfred Kittel immer beruft, bildet nur den
Rahmen, innerhalb dessen das eigentliche Ausstellungskonzept erarbeitet und dann im wissenschaftlichen Beratungsgremium diskutiert werden soll. Gerade die wissenschaftliche Expertise ist Voraussetzung dafür, dass
die Ausstellung der Stiftung Akzeptanz auch bei unseren
Nachbarn finden wird.
Der Antrag der Grünen wird in den Fachausschüssen
weiter diskutiert. Ich sage schon jetzt: ein Moratorium
ist der falsche Weg. Die Stiftung muss endlich in die inhaltliche Offensive kommen und Offenheit für die inhaltliche Diskussion beweisen.
Der Antrag 17/3064 der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen beginnt mit der Forderung, zwei stellvertretende
Mitglieder des Stiftungsrates auszuschließen. Diese beiden stellvertretenden Mitglieder - Hartmut Sänger und
Arnold Tölg - haben sachlich betrachtet die Arbeit des
Stiftungsrates vollumfassend gesehen und nicht nur einseitig beleuchtet. Die Aufgabe und das Ziel der Arbeit
des Stiftungsrates bestehen darin, dass ein sichtbares
Zeichen im Geiste der Versöhnung gesetzt wird, für alle
noch immer Betroffenen.
Beide betonen, dass die Nazis schlimme Verbrechen
an anderen Völkern begangen haben, aber auch nicht
vergessen werden darf, dass als Folge dieser Verbrechen
Deutsche ebenfalls vertrieben, zwangsumgesiedelt und
an ihnen Verbrechen verübt wurden. Es wird damit
nichts verharmlost oder gar herabgesetzt. Der Hinweis
der beiden darauf, dass auch Deutsche von Vertreibung,
Zwangsumsiedlung und Verbrechen am Ende des ZweiZu Protokoll gegebene Reden
ten Weltkrieges betroffen waren, lässt einen Ausschluss
aus dem Stiftungsrat nach meiner Auffassung nicht zu.
Sinnvoll und angebracht wäre es derzeit, wenn endlich alle Stiftungsratsmitglieder und auch die Stellvertreter mit der eigentlichen Arbeit beginnen könnten.
Sollte sich dann im Verlauf der eigentlichen Tätigkeit
herausstellen, dass der eine oder andere - aus welchen
Gründen auch immer - für die Arbeit im Stiftungsrat untragbar ist, kann über ein mögliches Ausschlussverfahren zu jedem Zeitpunkt gesprochen werden. Vorerst jedoch stellt sich weder die Notwendigkeit noch die
Dringlichkeit, Mitglieder und stellvertretende Mitglieder auszuschließen. Vielmehr sollen hier durch den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Vorhinein
einzelne Beiträge für die gemeinsame Aufgabe in der
Stiftung ausgeschlossen werden.
Ich vermisse an dieser Stelle die Sachargumente meiner Kollegen von der Faktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sie verhindern mit ihren Vorhaltungen den Beginn der
eigentlichen Arbeit des Stiftungsrates. Ich bin darüber
hinaus weiter der Auffassung, dass jetzt zunächst der
Stiftungsrat die Diskussion darüber zu führen hat. Dies
ist auch - aber nicht nur - eine Aufgabe der breiten Medienöffentlichkeit. Würden wir dies zulassen, könnte der
Stiftungsrat nie mit der eigentlichen Arbeit beginnen.
Der Antrag ist daher zurückzuweisen.
Weiter fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
dass der Bundestag der Stiftung ein Moratorium auferlegt. Ihre Forderung bedeutet im Klartext, dass die Stiftung nicht arbeiten kann. Dies ist weder im Sinne der
Bundesregierung noch der Stiftung noch der Mehrheit
hier im Bundestag. Die Stiftung hat einen klaren Auftrag
erhalten. Sie als Antragsteller wollen eine weithin anhaltende medienöffentliche Diskussion über Personen,
aber nicht in der Sache!
Nicht nur der Direktor der Stiftung, Herr Professor
Dr. Kittel, sondern auch Kommissionsmitglieder aus
Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien haben
bereits erste Konzeptionen für die Stiftungsarbeit entwickelt. Diese werden am 25. Oktober 2010 dem Stiftungsrat vorgestellt.
In dieser Konzeption, beispielsweise von Professor
Dr. Kittel, fokussieren sich inhaltliche Vorschläge zur
Schaffung einer Dauerausstellung und Dokumentationsstätte, die in einem chronologischen Rundgang von der
Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die Zeit nach 1989 aufgebaut sein sollen. Fallstudien aus einzelnen Regionen
sollen darin eingebettet werden.
So weit der aktuelle Diskussionstand, lassen sie uns
darüber sprechen.
Als ebenfalls unsinnig ist darum der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu werten, die Mittel für die
Stiftung zu streichen. Würde diesem Antrag stattgegeben, könnte die Stiftung ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das
Ziel der Stiftung, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen,
das Bewusstsein um das tiefe menschliche Leid wachzuhalten und die junge Generation an dieses Thema heranzuführen, wäre mit einer Streichung der Finanzierungsmittel nicht mehr durchführbar. Die Stiftung
müsste ihre Arbeit aufgeben. Wir verlieren damit wertvolle Zeit.
Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen empfehle ich
dringend einen Blick in das Gesetz, konkret in § 19 des
Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung. Der Deutsche
Bundestag wählt Abgeordnete, die im Stiftungsrat tätig
werden sollen, aus. Somit ist gewährleistet, dass der
Deutsche Bundestag Mitglieder aus allen Fraktionen
vorschlagen kann. Eine Änderung des Gesetzes ergibt
daher keinen Sinn, da die geforderte Möglichkeit bereits
besteht.
Auszug aus § 19 des Gesetzes:
({0}) Die oder der Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien leitet die Vorschläge nach
Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 und Satz 2 mit einem entsprechenden Antrag zur Wahl der Präsidentin oder dem Präsidenten des Deutschen Bundestages zu. Der Deutsche Bundestag wählt auf Grund
der Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 4
und Satz 2 die Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder.
Auch wenn es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gerne anders darstellt, es gibt die Möglichkeit, einzelne
Personen nicht zu wählen. Es mag sein, dass nur ein Gesamtvorschlag angenommen oder abgelehnt werden
kann, dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Ablehnung des
Gesamtvorschlages einzelne Mitglieder nicht wieder
aufgestellt werden können.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vollumfänglich zurückzuweisen ist. Wir werden dem nicht zustimmen.
Für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
muss ein Neuanfang gefunden werden. So wie bisher
geht es nicht weiter. Das müsste allen Beteiligten inzwischen klar sein. Die Fraktion Die Linke hat bereits in einem Änderungsantrag zum Einzelplan 04 gefordert, die
für die Stiftung für 2011 vorgesehenen Mittel von
2,5 Millionen Euro zu streichen. Das bedeutet praktisch
ein Moratorium. Und dieses Moratorium sollte genutzt
werden, die Stiftung in einem einvernehmlichen europäischen Rahmen und im Geiste der Versöhnung neu zu
positionieren.
Um diese Neupositionierung zu ermöglichen, fordert
die Fraktion Die Linke:
Eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien
mit internationalen Wissenschaftlern, insbesondere aus
den Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowakei. Außerdem sollte die Historikergruppe um Professor
Schulze-Wessel eingeladen werden, die in Zusammenarbeit mit der „Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission“ sowie der „DeutschPolnischen Schulbuchkommission“ bereits ein Ausstellungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vorgestellt hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch sollte im Rahmen der Anhörung geprüft werden,
ob nicht doch ein anderer Standort für die Stiftung gefunden werden kann, zum Beispiel Görlitz/Zgorzelec
oder Wroclaw.
Den in der Gesetzesnovelle vom 14. Juni 2010 festgelegten Berufungsmechanismus für den Stiftungsrat im
Blockwahlverfahren aufzuheben. Die rein quantitative
Vergrößerung des Gremiums sollte durch eine qualitative Besetzung ersetzt werden. Neben Vertretern der
christlichen Kirchen sowie des Zentralrates der Juden in
Deutschland sollte eine Vertretung der Sinti und Roma
sowie der muslimischen Mitbürger gewährleistet sein.
Wenn es um Vertreibungen im 20. Jahrhundert geht, können besonders diese beiden Bevölkerungsgruppen Wichtiges für die Stiftungsarbeit beitragen. Außerdem finden
auch wir, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen verlangt, dass alle Fraktionen des Bundestages
im Stiftungsrat vertreten sein sollten.
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
stimmen wir zu.
Der Streit um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ beschäftigt seit vielen Monaten den Bundestag und die breite Öffentlichkeit. Im Abstand von wenigen Wochen brechen immer wieder neue Konflikte auf,
die die Arbeit der Stiftung und den Stiftungszweck der
Versöhnung mit unseren Nachbarländern infrage stellen. Inzwischen sind zwei Vertreter des Bundes der Vertriebenen in den Stiftungsrat gewählt worden, die offen
revanchistische Positionen vertreten. Wir haben die Regierungskoalition vor der Wahl von Arnold Tölg und
Hartmut Saenger eindringlich gewarnt und auf die Folgen hingewiesen, die das für die Stiftung und für das
Ansehen unseres Landes haben würde. Die Regierungskoalition hat unsere Warnungen nicht ernst genommen.
Sie ist voll verantwortlich für die inakzeptable Zusammensetzung des Stiftungsrats.
Wenn Arnold Tölg, Landesvorsitzender des Bundes
der Vertriebenen in Baden-Württemberg, in einem Interview der rechtsextremen „Jungen Freiheit“ gegen die
Zwangsarbeiterentschädigung wettert und die Schuld
des NS-Regimes gegenüber Zwangsarbeitern mit dem
Verweis relativiert, dass andere Länder auch „Dreck am
Stecken haben“, dann dient das nicht der Versöhnung,
sondern der Verhöhnung von NS-Zwangsarbeitern und
Ländern, die Opfer der NS-Aggression geworden sind.
Und wenn Hartmut Saenger, der Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, in einem Zeitungsbeitrag die
Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges relativiert - Äußerungen, die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach mit den Worten unterstützt: „Ich
kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im
März 1939 mobil gemacht hat“ -, dann ist endgültig die
Grenze überschritten, an der der Bundestag die Notbremse ziehen muß.
Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man die Dinge
nicht einfach weiter treiben lassen darf. Der Zentralrat
der Juden in Deutschland und das Dokumentations- und
Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma haben das
sehr deutlich gemacht, als sie ihre Mitarbeit im Stiftungsrat einstellten. Der Bundestag muss dringend handeln, zumal die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel
in dieser Frage offenkundig handlungsunfähig sind.
Sonst hätten sie das schändliche Schauspiel um die Stiftung schon längst gestoppt.
Wir brauchen jetzt ein Moratorium, während dem die
Arbeit der Stiftung ruht und die Haushaltsmittel, die für
sie vorgesehen sind, gestrichen werden. In dieser Zeit
muß der Bundestag klären, ob und in welcher Form die
Arbeit der Stiftung noch einen Sinn macht. Denn von der
ursprünglichen Idee, hier einvernehmlich in einem europäischen Netzwerk das Thema Flucht und Vertreibung
im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten, ist ja nicht mehr viel
übriggeblieben.
Die ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ursprünglich mitgearbeitet haben, sind
längst aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung
ausgetreten. Und Frau Steinbach betrachtet die Stiftung
inzwischen als Privatbesitz ihres Vertriebenenbundes.
Sinti und Roma oder Muslime als Opfer von Flucht und
Vertreibung in Europa kommen nicht vor.
Wenn die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn machen
soll, dann muß der gemeinsame europäische Rahmen für
die Arbeit geschaffen werden. Wer die Stiftung einfach
so weiterlaufen lässt, der ist mitverantwortlich dafür,
dass hier ein wahrer Schwelbrand in den Beziehungen
zu unseren Nachbarländern entsteht.
Ebenso dringlich ist die Abberufung von Tölg und
Saenger aus dem Stiftungsrat. Dafür muss der Bundestag die rechtlichen Voraussetzungen schaffen - und dabei auch das undemokratische Blockwahlverfahren abschaffen, in dem der Bundestag nur en bloc über eine
Liste von Stiftungsratskandidaten abstimmen kann, frei
nach dem Motto: „Friss, Vogel, oder stirb!“ Dieses
Blockwahlverfahren hat es erleichtert, dass ungeeignete
Kandidaten in den Stiftungsrat gelangen konnten.
Die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist insgesamt so zu verändern, dass alle Gruppen, die von Flucht
und Vertreibung betroffen sind, angemessen berücksichtigt werden. Und wir brauchen eine Vertretung aller
Fraktionen des Bundestages im Stiftungsrat. Was in vielen anderen Bereichen ganz problemlos geht, muss auch
in einem Bereich möglich sein, in dem demokratische
Mitwirkung besonders wichtig ist.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3064 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Friedens- und Konfliktforschung stärken Deutsche Stiftung Friedensforschung finanziell ausbauen
- Drucksache 17/1051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Anette
Hübinger, René Röspel, Dr. Peter Röhlinger, Kathrin
Vogler und Krista Sager ihre Reden zu Protokoll.
Die Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF, mit
Sitz in Osnabrück ist als gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts politisch und auch finanziell unabhängig.
Sie verfolgt als Einrichtung der Forschungsförderung
den Zweck, die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung der Friedensforschung insbesondere in Deutschland dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und
finanziellen Unabhängigkeit beizutragen.
Zehn Jahre nach ihrer Gründung können wir eine positive Bilanz ihrer Förderaktivitäten ziehen. Insgesamt
stellte die DSF in diesem Zeitraum fast 13 Millionen
Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konfliktforschung bereit. Dabei ist die DSF mit ihren Förderangeboten auf eine sehr positive Resonanz in der Fachcommunity gestoßen. Ihre Förderstandards haben breite
Anerkennung gefunden. Diese Leistungen sind unstrittig
und dementsprechend zu würdigen.
Neben der DSF sind in Deutschland aber eine Reihe
weiterer Akteure - wie die Hessische Stiftung Friedensund Konfliktforschung, HSFK, oder das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität
Hamburg, IFSH, in diesem Forschungsfeld tätig. Allen
Akteuren, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der
Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten
Mitteln auskommen zu müssen. Dies liegt in der Natur
der Sache.
Darüber hinaus gibt es weitere Förderangebote des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die unmittelbar die Kompetenzen der Friedens- und Konfliktforschung ansprechen, wie die Förderung der Regionalstudien im Rahmen der Förderinitiative „Freiraum für
die Geisteswissenschaften“ und die Förderung von Forschung zum Klimawandel im Rahmen des Programms
„Forschung für nachhaltige Entwicklungen“.
Des Weiteren ist die Verankerung der Friedens- und
Konfliktforschung im deutschen und europäischen Sicherheitsforschungsprogramm ein wichtiges Anliegen
der Bundesregierung. So fördert das BMBF aktuell die
Konferenz „Internationales Symposium Religionen und
Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspotential von Religionsgemeinschaften“, die vom 20. bis
23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfindet. Dies ist eine
von vielen Maßnahmen, um die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung in die gesellschaftliche und
politische Praxis einfließen zu lassen. In diesem Kontext
sind auch die schon vorhandenen Fördermöglichkeiten
im Rahmen des nationalen und europäischen Sicherheitsforschungsprogramms, die Verankerung des Themas im 7. Forschungsrahmenprogramm - Thema 8: Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften - und das
Engagement der DFG in dieser Thematik zu sehen.
Stiftungen sind in ihrer Fördertätigkeit in erster Linie
auf ihre jährlichen Erträge aus ihrem Stiftungsvermögen
angewiesen, aus denen die aufkommenden Ausgaben bestritten werden. Die Lage am Finanzmarkt hat damit
nicht unwesentlichen Einfluss auf die Höhe der Erträge.
Neben der Einnahmeseite ist natürlich auch die Ausgabenseite zu betrachten. Hier hat es, wie im Antrag richtig angeführt, in den letzten Jahren gestiegene Personalund Sachleistungskosten gegeben. Die Kombination beider Faktoren kann eine Stiftung vor Probleme stellen.
Auch dies ist unstrittig, trifft allerdings nicht nur auf die
DSF zu.
Natürlich sollten die aufgezeigten Faktoren bei einer
Stiftungsgründung berücksichtig werden und das Stiftungskapital in seiner Höhe angemessen ausgestaltet
sein. Ich unterstelle einmal, dass auch die damalige rotgrüne Bundesregierung diese Weitsicht besessen hat, als
sie die Stiftung ins Leben gerufen und mit einem Startkapital in Höhe von damals 50 Millionen DM ausgestattet
hat.
Geht man also davon aus, dass durch das vorhandene
Stiftungsvermögen und die daraus zu erwartenden Erträge grundsätzlich eine ausreichende Finanzausstattung vorlag, stellt sich für mich die Frage, wie temporären Schwierigkeiten - beispielsweise durch niedrigere
Erträge in Folge der Finanzmarktentwicklung - oder
dauerhaften Kostensteigerungen im Forschungsbereich
begegnet werden sollte. Eine Möglichkeit ist es natürlich, mehr Geld zu fordern. Dieser verständliche Reflex,
dem hier die Kollegen der SPD folgen, ist nicht meine
erste Devise. 5 Millionen Euro Finanzspritze durch den
Bund sind nun mal kein Pappenstiel.
Wer sich nach Alternativen umschaut, wird schnell in
der Satzung der DSF fündig. Dort ist nachzulesen, dass
auf Beschluss des Stiftungsrates aus dem Stiftungsvermögen für die Aufgaben der Stiftung jährlich bis zu
5 Millionen DM - in Euro also 2,56 Millionen - verwandt werden können. Dieser Passus beinhaltet die Einschränkung, dass mindestens 10 Millionen DM, dies
entspricht nach heutigem Stand 5,11 Millionen Euro, des
Stiftungsvermögens als Mindestbetrag ungeschmälert zu
erhalten sind. Für zeitlich beschränkte Schwierigkeiten
wäre dies ein Weg, den man gehen könnte.
Aktuell beläuft sich das Stiftungskapital der Stiftung
auf eine Höhe von 25,57 Millionen Euro. Es kann also
nicht davon gesprochen werden, dass eine finanzielle
Notlage vorliegt, die eine Finanzspritze des Bundes unabdingbar macht. Zu berücksichtigen ist auch, dass das
ursprüngliche Stiftungskapital in der Vergangenheit
schon mehrfach aufgestockt wurde.
Wenn im vorliegenden Antrag attestiert wird, dass die
DSF über keine zusätzlichen Mehreinnahmen verfügt,
um die Anhebung ihrer Förderhöchstbeträge zu stemmen, ist dies zwar nicht falsch, die Konsequenz aus dieser Feststellung muss aber nicht zwangsweise in nur
eine Richtung laufen. So kann die Einnahmeseite zusätzlich durch Drittmittel gestärkt werden. Dazu ist in der
Satzung vorgesehen, dass alle Zuwendungen Dritter
dem Stiftungsvermögen zufließen. Auch hier gilt: Erst
sollte diese Möglichkeit der Mittelbeschaffung ausgereizt werden.
Schwerpunktsetzungen und Aufgabenkritik sind in
Bezug auf die eigenen Forschungsfördertätigkeiten weitere Punkte, die dabei helfen können, mit den vorhandenen Mitteln auszukommen. Schwerpunktsetzungen und
die damit verbundenen Entscheidungen für oder gegen
bestimmte Projekte sowie die strategische Ausrichtung
der Stiftung betreffend sind zwar nicht immer leicht,
doch nach dem in der Satzung verankerten Grundsatz
der sparsamen Mittelverwendung geradezu geboten.
Wie aus den Gremien der DSF zu vernehmen ist, ist
eine Diskussion über die künftige Positionierung der
Stiftung als Einrichtung der Forschungsförderung angelaufen. Dieser Prozess ist gerade im Rückblick auf die
zurückliegende zehnjährige Fördertätigkeit zu begrüßen. Der angestoßene Diskussionsprozess rund um die
zukünftige Ausrichtung der DSF kann nur förderlich
sein.
Wie eingangs schon lobend festgestellt, hat die DSF
in den letzten zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet. Ein
zehnjähriges Jubiläum ist dabei aber auch eine geeignete Wegmarke, um einerseits Bewährtes zu identifizieren und andererseits Schwachstellen in der eigenen Ausrichtung aufzudecken. Eine solche Aufgabenkritik kann
eine Institution nur weiterbringen und kann - wie schon
gesagt - auch dazu führen, mit dem vorhandenen Budget
auszukommen. Dazu ist eine ausbalancierte Förderstruktur vonnöten, die sich beispielsweise stärker auf
kleinere Vorhaben konzentrieren könnte, die es bei anderen Förderern schwerer haben. Der aktuelle Diskussionsprozess innerhalb der DSF rund um das zukünftige
Förderrepertoire der Stiftung wird dazu beitragen, die
DSF fit für die Zukunft zu machen.
Die DSF ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen
gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln
auch weiterhin alle Satzungsziele umsetzen, ohne in finanzielle Bedrängnis zu geraten. Eine weitere Mittelaufstockung ist somit nicht notwendig. Daher lehnen wir als
CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag der SPDFraktion ab.
Letzten Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der
Deutschen Einheit gefeiert. Er symbolisiert auch das
Ende des Kalten Krieges. Im Deutschen Bundestag
mussten wir in den seither vergangenen zwanzig Jahren
trotzdem oft über Gewalt und Krieg sprechen. Denn mit
dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Welt leider
nicht friedlicher geworden. Laut dem Heidelberger Konfliktbarometer hat die Zahl der Konflikte weltweit seit
1990 sogar zugenommen. Bei den Debatten über aktuelle Konflikte suchen wir Abgeordneten Antworten auf
die Fragen von Gewalt. Dabei empfinden wir mitunter
das Gefühl, nur noch zwischen Nichtstun und dem Mittel
der Gegengewalt entscheiden zu können. Denn wenn wir
uns im Plenum mit Krieg und Gewalt beschäftigen, ist
das Kind meist bereits in den Brunnen gefallen. Wir versuchen dann die Symptome des Konflikts zu bekämpfen,
um deren Ursachen wir uns hingegen oft nicht oder erst
später kümmern können, weil die Symptome in Form von
Gewalt meist so brutal und unglaublich erscheinen und
für anderes keine Zeit mehr bleibt. Oft sind uns die genauen Ursachen des Konflikts aber auch unklar, oder es
fehlt die nötige Sensibilität, die Zeit, das Geld oder das
Durchhaltevermögen.
Verantwortungsvoller, humaner und deutlich effektiver und kostengünstiger, nicht nur fiskalpolitisch gesehen, ist es, den Frieden bereits in Friedenszeiten zu unterstützen und zu festigen. Denn neben den Frieden
gefährdenden Mechanismen existieren zum Glück auch
Strukturen, die den Frieden stärken und Konflikte verhindern können. Dabei spielen demokratische und
transparente Entscheidungsprozesse, soziale Rechte und
die gerechte Verteilung von Ressourcen und Gewaltfreiheit eine wichtige Rolle. Wir Parlamentarier wissen aus
unserer Arbeit, wie wichtig diese Aspekte auch für unsere Demokratie in Deutschland sind. Diese Prozesse
und die dazugehörigen Strukturen hier und weltweit zu
unterstützen, das ist Friedensarbeit.
Wie und unter welchen Umständen diese Strukturen
aufgebaut, erhalten und gestärkt werden können, damit
beschäftigt sich die Friedens- und Konfliktforschung.
Dazu suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen für Konflikte, aber auch die stabilisierenden Faktoren einer friedlichen Gesellschaft.
Dabei gibt es grundlegende Aspekte, die in allen Gesellschaften ähnlich sind. Jede einzelne Gesellschaft hat
aufgrund ihrer Tradition und Geschichte aber auch eigene Strukturen der Friedenssicherung bzw. des Gewaltpotenzials. Diese gilt es ebenfalls herauszufinden.
Um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland weiter zu festigen und zu unterstützen, wurde vor
zehn Jahren durch die damalige rot-grüne Bundesregierung die „Deutsche Stiftung Friedensforschung“ gegründet. Diese Stiftung betreibt keine eigene Forschung,
sondern wählt förderwürdige Projekte aus und unterstützt diese finanziell. Seit Gründung der Stiftung wurden über 46 große und über 100 kleine Forschungsvorhaben finanziert. Darunter sind zum Beispiel
Forschungsarbeiten zum Thema Parlamentsbeteiligungsgesetz, der Verwendung von nichtletalen Waffen
und der Rolle von Religion oder von föderalistischen
Strukturen in Konflikten.
Neben der Finanzierung von Forschungsprojekten
unterstützt die DSF auch Tagungen und Publikationen.
Denn Aufgabe der Stiftung ist es auch, die Ergebnisse
der geförderten Forschungsvorhaben in die politische
Praxis und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die parlamentarische Ebene veranstaltet die DSF zum Beispiel in
regelmäßigen Abständen Parlamentarische Abende zu
Zu Protokoll gegebene Reden
aktuellen Themen. Letzte Woche konnten wir Abgeordneten uns zum Beispiel mit den Experten aus der Wissenschaft über die Chancen und Risiken der Einbindung
von Gewaltakteuren in den Friedensprozess informieren. Die Friedensforscherinnen und Friedensforscher
zeigten dabei anhand der Taliban- und Hamas-Gruppierungen, welche Chancen für eine Einbindung dieser
Gruppen in den politischen Prozess bestehen, aber leider auch, welche Chancen zum Beispiel in Afghanistan
bereits vertan wurden.
Das sicherlich bekannteste Buchprojekt, das durch
die DSF finanziell unterstützt wird, ist das „Friedensgutachten“. Herausgeber sind die fünf großen deutschen
Friedensforschungsinstitute. In der aktuellen Ausgabe
beschäftigen sich die Autoren zum Beispiel mit der Situation in Afghanistan, dem Umgang mit Gewaltakteuren,
der Vision einer nuklearfreien Welt und den sicherheitspolitischen Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise.
Es ist wie immer ein sehr lesenswertes Jahrbuch - nicht
nur für Außen- und Sicherheitspolitiker.
Einige Friedens- und Konfliktforscherinnen und -forscher beschäftigen sich sehr intensiv mit den Themen
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.
Dabei spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse und
neue Technologien eine große Rolle, einerseits als Mittel
der Begrenzung der Bedrohung, andererseits als mögliche Instrumente des Missbrauchs. Die DSF hat in diesem Bereich zum Beispiel eine Bewertung der Nanotechnologien und einen Bericht über das Proliferationsrisiko
von Spallationsneutronenquellen finanziell unterstützt.
Da diese beiden Forschungsbereiche auch durch das
Bundesforschungministerium finanziert werden, sollten
wir Forschungspolitiker uns diesen Berichten ebenfalls
widmen.
Ich denke, alle hier Anwesenden sind mit mir einig,
dass alle von der DSF finanzierten Projekte relevante
Forschungsfragen bearbeiten. Die Ergebnisse daraus
sind für eine wissensbasierte politische Entscheidungsfindung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, der
Entwicklungszusammenarbeit, der Forschungspolitik,
aber auch anderen Politikbereichen äußerst hilfreich.
Auf der politischen Ebene existieren bereits erfolgreiche
Instrumente, in die diese Ergebnisse einfließen können.
Diese müssen dann nur noch nachjustiert bzw. richtig
eingesetzt werden. Einige Instrumente werden zum Beispiel durch das Auswärtige Amt finanziert. Dass die
schwarz-gelbe Regierung im aktuellen Haushaltsentwurf die Mittel für Krisenprävention, Friedenserhaltung
und Konfliktbewältigung um fast 40 Millionen Euro kürzen will, ist deshalb eine Schande und absolut kurzfristig
gedacht. Leider überraschen die Haushaltskürzungen
nicht. Bereits in der Haushaltsdebatte 2009 hat die
SPD-Bundestagsfraktion unter anderem eine Erhöhung
des Stiftungskapitals für die DSF gefordert. Diese Forderung wurde von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Bereits damals begann die Kürzungspolitik, die sich jetzt in
den Budgets anderer Ministerien fortsetzt.
Mit unserem heute debattierten Antrag fordern wir
eine Erhöhung des Stiftungskapitals der DSF um
5 Millionen Euro. Diese Forderung haben wir auch mit
einem entsprechenden Änderungsantrag zum Haushalt
flankiert. Diese Erhöhung ist nötig, damit die satzungsgemäßen Ziele der Stiftung weiterhin erfüllt werden können. Derzeit reicht das Geld nicht aus, um zum Beispiel
die wichtige Nachwuchsförderung fortzuführen. Grund
für die Finanzlücke sind unter anderem die in den letzten
Jahren allgemein gestiegenen Kosten bei Sachleistungen und Personal. Hier muss nun bei der DSF finanziell
nachgezogen werden.
Wir hoffen, dass dieses Jahr in den Reihen von CDU/
CSU und FDP doch ein wenig mehr Vernunft als letztes
Jahr vorherrscht und sie in der Haushaltsbereinigungssitzung für die DSF-Erhöhung stimmen. Denn die Gelder für die Friedens- und Konfliktforschung bereichern
die deutsche Forschungslandschaft. Die Ergebnisse
wiederum liefern wichtige Entscheidungshilfen zur weltweiten Friedenssicherung und können kostspielige und
wenig effiziente Symptombekämpfung vermeiden. Wenn
Friedens- und Konfliktforschung auch nur einen Konflikt verhindern, abmildern oder beenden kann, so hat
sich jeder Euro dafür gelohnt. Aber leider gibt es dafür
viel weniger Geld als für Waffen und Militär.
Nicht erst seit den weltweit zu spürenden Folgen des
Terroranschlages vom 11. September 2001 auf das
World Trade Center in New York hat die Friedens- und
Konfliktforschung die wissenschaftliche Bühne betreten.
Als Kind des Kalten Krieges und einer Zeit, in der die
europäischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien
in die Freiheit entließen, rückte sie schnell in das Bewusstsein der Nach-Weltkriegs-Gesellschaften.
Was sind die Ursachen von Konflikten, wie können sie
am Verhandlungstisch gelöst werden, und warum müssen Staaten auch heute noch zum letzten Mittel, dem
Krieg, greifen? Ist der Krieg überhaupt noch das letzte
Mittel der Wahl? Ist die Aussage des preußischen Generals Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, „Der Krieg
ist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel“ - siehe „Vom Kriege“, Buch I,
Kap. 1, Abschnitt 24 -, noch gültig? Ich meine Ja, denn
der Krieg ist so der Politik immer untergeordnet. Die
Verantwortung liegt also im wahrsten Sinne des Wortes
in unserer Hand. Der Deutsche Bundestag hat in jüngster Zeit hierzu weitreichende Beschlüsse gefasst. Ich
denke dabei vor allen an die Einsätze der Bundeswehr in
Afghanistan.
Die Friedens- und Konfliktforschung unserer Tage
entwickelte sich in dem Maße, wie sich die Menschen
der Gefahren einer atomaren Bewaffnung von sich ideologisch entgegenstehenden Staaten und ihren Bündnissystemen bewusst wurden. Der Kalte Krieg jener Jahre
ist spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und der
Vollendung der deutschen Einheit vorbei. Aber leider ist
auch unsere Zeit nicht gewaltfrei, auch wenn in ihren
zentralen Regionen weitgehend Friede herrscht!
Nicht zu übersehen sind heute noch die Folgen des
Kalten Krieges. Nach wie vor tragen Länder, die durch
das eine oder andere Lager in dessen jeweilige InteresZu Protokoll gegebene Reden
senshemisphäre einbezogen wurden, ein schweres Erbe
und sind Schauplätze brutaler regionaler Kriege.
Auch in unserer Zeit muss der Frieden bzw. die Friedenssicherung täglich neu erkämpft werden! Das führt
mir zumindest deutlich vor Augen: Der Frieden ist nicht
allein durch die Abwesenheit von Krieg gekennzeichnet.
Vielmehr muss er auch zum Beispiel durch ökonomische
Teilhabe der Länder der sogenannten Dritten Welt,
durch Gleichberechtigung der Geschlechter, durch Säkularisierung und durch die Überwindung nationaler
und ethnischer Stereotype sicherer gemacht werden. Das
bedeutet auch, Konfliktursachen genau zu untersuchen,
zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen.
Was kann heute nicht alles Bedrohungsängste und
Angriffslust auslösen? Weltweit identifizierte Konfliktfelder, die internationale Terrorismusbekämpfung durch
die Vereinten Nationen, der forcierte Unilateralismus
der USA, aber auch der Wandel der Bündnisverpflichtungen innerhalb der NATO setzen eine objektive wissenschaftliche Begleitung, Betrachtung und Wertung
durch die Friedensforschung in Deutschland voraus.
Friedens- und Konfliktforschung muss auch ein Instrument wissenschaftlicher Politikberatung sein. Der
Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan
und die daraus resultierenden möglichen Veränderungen der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten bedingen einen zeitnahen und effizienten Transfer von Forschungsergebnissen zu den politischen Entscheidungsträgern.
Dabei darf es nicht nur darum gehen, den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn den Bedürfnissen von
Entscheidungsträgern in Regierungen, Parlamenten,
Parteien und Organisationen anzupassen und ihn darauf
abzustimmen. Vielmehr muss die Friedensforschung
Theorien über die Ursachen von Krisen und Konflikten,
über Krisenprävention und Konfliktbewältigung entwickeln, der Politik Empfehlungen zu Handlungsmöglichkeiten geben und deren Konsequenzen aufzeigen.
Die Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Je
genauer die Fragestellungen, desto klarer sind die Antworten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit
möchte ich an dieser Stelle einige Fragen stellen:
Welche Auswirkungen hat zum Beispiel das scheinbar
freie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Stabilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel?
Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkungen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezogen werden? Welche Gefahren sind mit der geringen
Verfügbarkeit von Trinkwasser in bestimmten Gebieten
unserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Verknappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopolitische Verfügbarkeit für die Industrieländer mit sich? Auf
welchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Technologien und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirtschaft gewährleistet?
Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt.
Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beurteilung der Konflikte beigetragen. Sie hat belastende
ökonomische, ideologische, konfessionelle und religiöse
sowie ethnische Strömungen in der Welt aufgezeigt.
Hierzu gehören die Erkenntnisse und Erklärungsmodelle der verschiedenen Disziplinen, wie zum Beispiel
das Staats- und Völkerrecht, die Spieltheorie des strategischen Verhaltens und die Wachstumstheorie sowie deren Abgleich untereinander. Die Friedens- und Konfliktforschung hat im deutschen Wissenschaftssystem einen
festen Platz eingenommen. Sie wird zum großen Teil auf
gutem Niveau durch die öffentliche Hand des Bundes
und der Länder finanziert.
Jetzt komme ich zum Antrag der SPD. Sicherlich hat
Rot-Grün in seiner Regierungszeit mit der Gründung
der Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, ein
redliches Ziel verfolgt. Die Stiftung hat durch ihre Arbeit
und durch ihre Vermittlertätigkeit zwischen den Institutionen der Friedens- und Konfliktforschung und durch
direkte Projektförderung einen anerkennenswerten Beitrag geleistet. Sie hat durchaus eine institutionelle Lücke
zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik geschlossen.
Meine Fraktion hat aber bereits in den Gründungsjahren immer wieder gesagt: Die Stiftung muss ihren
Beitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängigkeit leisten und sie darf dieses Ziel nie aus dem Auge
verlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigen
Grundkapital in Höhe von 25,57 Millionen Euro ausgestattet. Der Bund hat auch danach noch „zugestiftet“.
Jetzt ist sie finanziell und politisch unabhängig. Sie finanziert sich aus Erträgen des Stiftungskapitals und
durch Zustiftungen. In dieser Phase muss sie zeigen, wie
tief sie im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist.
Die Anerkennung zeigt sich heute letztendlich im bürgerschaftlichen Engagement der Stifter, in ihrer persönlichen Identifikation mit dem Stiftungsgedanken und in
ihrem persönlichen Beitrag.
Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellung
der Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken.
Und genau dafür treten auch unsere Stiftungsratsmitglieder, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Herr Dr. Werner Hoyer, die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Gudrun Kopp,
und die Kollegin Frau Marina Schuster ein.
Meine Damen und Herren von der SPD, von einer auf
Dauer angelegten Subventionierung durch die öffentliche Hand war nie die Rede. Daher können wir dem Antrag der SPD nicht unsere Zustimmung geben.
Für die Fraktion Die Linke bedanke ich mich beim
Kollegen Röspel und der SPD-Fraktion für diesen Antrag. Ich will begründen, warum ich ihn für notwendig,
aber nicht hinreichend halte. Friedensforschung ist für
uns untrennbar verbunden mit großen Wissenschaftlern
wie Albert Einstein, Joseph Weizenbaum bis hin zu
Hans-Peter Dürr und den Göttinger Achtzehn. Dies sind
Menschen, die sich aus humanistischer und pazifistischer Überzeugung in ihrer Wissenschaft und der Friedensforschung über alle Anfeindungen hinweg für den
Frieden forschend und lehrend engagierten. So heißt es
in der Erklärung der Göttinger Achtzehn von 1957, zu
Zu Protokoll gegebene Reden
denen unter anderem die Nobelpreisträger Heisenberg,
Hahn und Born sowie Carl Friedrich von Weizsäcker
zählten: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichner bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem
Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“
Eine solche Absage ist heute aktueller denn je. Nach
Auskunft des Friedensforschungsinstituts SIPRI werden
jedes Jahr in Deutschland zwischen 5 und 7 Milliarden
Euro öffentliche Mittel für die Rüstungsforschung an öffentlich geförderten Instituten ausgegeben. Gegenüber
diesen Milliarden wirkt der Antrag der SPD-Fraktion
von einmalig 5 Millionen Euro für die Deutsche Stiftung
Friedensforschung noch deutlich zu bescheiden. Die
Stiftung wird im Jahr 2011 für friedenswissenschaftliche
Projekte circa 600 000 Euro ausgeben können, für
Kriegsforschung stehen Milliardenbeträge bereit.
Finanzielle Prioritäten zeigen den politischen Willen
der Handelnden. Wieder werden nach Bertolt Brecht
mehr „erfinderische Zwerge, die man für alles mieten
kann“, an den Hochschulen herangezogen als engagierte junge Menschen, die sich zu Hause und in der
Welt für den Frieden engagieren. Es hat doch nicht erst
des gescheiterten Krieges in Afghanistan bedurft, um erneut zu beweisen, dass Krieg und damit auch Kriegsforschung kein Problem dieser Welt löst.
Die Friedensforschung steht heute vor der großen
Aufgaben. Die Zusammenhänge zwischen Klimaveränderung, Ernährungsunsicherheit, Wasser- und Ressourcenknappheit, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen
erfordern neue Konzepte und Lösungsansätze im Sinne
ziviler Krisenprävention und nichtmilitärischer Konfliktbeilegung. Das sind enorme Zukunftsherausforderungen für Generationen junger Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler. Und wir diskutieren über eine Kapitalerhöhung von 5 Millionen Euro, die pro Jahr nicht
mehr als 200 000 Euro Ertrag für Projekte bringen
würde. Notwendig und sachgerecht wäre schon jetzt eine
Verdopplung des Stiftungskapitals um 25 auf 50 Millionen Euro. Ein Zigfaches solcher Summen haben die verschiedenen Mehrheiten dieses Hauses in den letzten
Jahren etwa für die Kostensteigerungen bei den Rüstungsprojekten Eurofighter, Kampfhubschrauber oder
Airbus A400M, ohne mit der Wimper zu zucken, durchgewinkt.
Ein deutlicher Anstieg der Förderung für die Friedensforschung gehört für die Linke zu dem notwendigen
Paradigmenwechsel deutscher Politik hin zu einer zivil
ausgestalteten, aktiven Friedenspolitik. Dazu sollten
nach meiner Auffassung auch Friedenswissenschaft und
Friedensbewegung noch enger zusammenarbeiten.
Dazu gehört auch, dass sich die Friedenswissenschaft
noch stärker grundsätzlicheren friedenspolitischen Fragen widmet, etwa der Erforschung der großen, vom
Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat formulierten
Vision, „die Institution Krieg von diesem Planeten zu
verbannen“.
Trotz der geringen Mittel leistet die Friedensforschung heute schon Beeindruckendes. Erinnert sei nur
an die Ausarbeitung der Nuklearwaffenkonvention. Dieses Modell für ein umfassendes Vertragswerk zur Abschaffung aller Atomwaffen wurde bei der letzten Überprüfungskonferenz von der großen Mehrheit der Staaten
der Welt unterstützt - leider noch nicht von der Bundesregierung, trotz der wiederholten Bekenntnisse von Außenminister Westerwelle zu einer atomwaffenfreien
Welt.
Ganz persönlich wünsche ich mir ein großzügig gefördertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm für
eine „Bundesrepublik Deutschland ohne Armee“. Die
Linke setzt sich dafür ein, dass die Vorschläge der Forscherinnen und Forscher auch in der politischen Praxis
berücksichtigt werden. Friedensforschung ist keine Elfenbeinturmwissenschaft, sondern Anleitung zum Handeln für eine bessere, friedlichere Welt.
Es war ein mühseliger Prozess, bis es im Jahr 2000
zur Errichtung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
schung kam. Mein ehemaliger Kollege Winfried Nachtwei,
der sich sehr für die Stiftung eingesetzt hat, könnte da-
von sicher manches Liedchen singen. Umso erfreulicher
ist es, dass sich dieses rot-grüne „Baby“ so positiv ent-
wickelt hat und inzwischen als wohlgeratenes Kind einer
parteiübergreifenden Großfamilie angesehen wird.
Wenn der Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik
der CSU Fachgespräche mit der Stiftung Friedensfor-
schung durchführt, kann man wohl davon ausgehen,
dass die Kompetenz der Stiftung inzwischen allgemein
anerkannt ist.
Die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
schung fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der - nach
Überwindung der Blockkonfrontation - durch eskalie-
rende ethnische und nationalistische Konflikte die Frage
nach der Prävention und Friedenserhaltung verstärkt
ins politische Bewusstsein gerückt war.
Der krisenpräventive Ansatz spielt nach wie vor eine
zentrale Rolle in der Mission und Arbeit der Stiftung. Wie
kann die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermie-
den und wie kann nach einer gewaltsamen Auseinander-
setzung wieder eine friedliche Entwicklung ermöglicht
werden? Diese Themen sind für die wissenschaftliche
Forschung von ungeschmälerter Relevanz.
Mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung Bür-
gerlichen Rechts wurde eine möglichst große Unabhän-
gigkeit für die Stiftung Friedensforschung angestrebt,
und zwar sowohl politisch, wissenschaftlich, aber auch
finanziell. Um dies zu gewährleisten, wurde die DSF mit
einem Stiftungskapital ausgestattet, das diese Unabhän-
gigkeit zumindest ein Stück weit sichert, dessen Erträge
aber keine großen Sprünge erlauben. Durch steigende
Sach- und Personalkosten werden die Spielräume für
neue Forschungsprojekte zunehmend eingeschränkt, ob-
wohl mit dem Stiftungskapital durchaus sorgsam umge-
gangen wurde.
Dabei sind die Erwartungen und Ansprüche an die
Stiftung eher gewachsen. So ist es zu begrüßen, dass die
Stiftung neben der Projektförderung auch mit Stiftungs-
professuren und Masterstudiengängen institutionelle
Zu Protokoll gegebene Reden
Lehr- und Forschungsstrukturen geschaffen hat, die zur
nachhaltigen Etablierung der Friedenswissenschaft bei-
tragen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Stiftung
sich gezwungen sähe, sich zum Beispiel aus der Promo-
tionsförderung für den wissenschaftlichen Nachwuchs
dauerhaft zurückzuziehen.
Die Stiftung leistet auch wichtige Beiträge zu aktuel-
len Debatten, zum Beispiel mit dem internationalen
Symposium „Religionen und Weltfrieden“, und riskiert
unerwartete, aber interessante Perspektiven, wenn sie
nach dem Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von
Religionsgemeinschaften fragt. Dies sind gute Gründe,
weshalb wir uns immer wieder dafür eingesetzt haben,
die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung zu erhalten
und zu fördern. Auch in den diesjährigen Haushaltsbe-
ratungen haben wir einen entsprechenden Antrag einge-
bracht.
Mit Sorge haben wir aber auch in den letzten Jahren
beobachtet, dass die Unterstützung für die Stiftung im-
mer wieder im Parteienstreit unterzugehen drohte. Das
wäre wirklich schade, und das hätte die Stiftung Frie-
densforschung auch nicht verdient. Sowohl ihre Unab-
hängigkeit als auch ihre gute wissenschaftsgeleitete
Praxis hat sie inzwischen hinlänglich unter Beweis ge-
stellt.
Sie verfügt über einen sinnvollen Mix an Förderins-
trumenten, einen 18-köpfigen wissenschaftlichen Beirat,
hat ein professionelles Begutachtungsverfahren eta-
bliert und orientiert sich konsequent an Exzellenz. Sie
gibt Anregungen, macht aber keine Vorgaben, sorgt aber
zum Beispiel dafür, dass nationale und internationale
Friedensforscher auf Fachtagungen und Konferenzen
einen intensiven Austausch pflegen können.
Dass durch die Arbeit der Stiftung Friedensforschung
ein erweitertes Sicherheitsverständnis und die zivile Kri-
senprävention und -bearbeitung ein stärkeres außen-
politisches Gewicht bekommen haben, ist ebenfalls zu
begrüßen und dürfte sicher kein parteipolitisches Son-
deranliegen sein. Ich würde mich deshalb freuen, wenn
im Zuge der weiteren Beratungen es doch noch zu einer
gemeinsamen Unterstützung der Deutschen Stiftung
Friedensforschung durch alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages kommen sollte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1051 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch das ist offen-
kundig einvernehmlich. Dann können wir die Überwei-
sung so beschließen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Die Steinkohlevereinbarung gilt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen geordneten und sozialverträglichen
Ausstieg aus dem subventionierten Stein-
kohlebergbau
- Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden
- Drucksache 17/3201 Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Ulla Lötzer und
Oliver Krischer ihre Reden zu Protokoll.
Wieder einmal reden wir über ein energiepolitisches
Thema, das die Opposition instrumentalisiert. Dieses
Mal ist die Steinkohle und deren Subventionierung Gegenstand der Diskussion. Die SPD und die Linken fordern in ihren Anträgen die Bundesregierung auf, sich in
Brüssel für ein Weiterbestehen des Steinkohlefinanzierungsgesetzes einzusetzen. Der Antrag der Grünen zielt
darauf ab, die Förderung des Steinkohlebergbaus frühzeitig zu beenden.
Wie in den anderen zahlreichen Anträgen im energiepolitischen Bereich sieht die Opposition die Thematik
allerdings zu kurzsichtig.
Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition
darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der
Steinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu diesem Entschluss. Der Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und wird
von Bund und Ländern getragen. Es gibt keinen Grund,
von diesem Fahrplan abzuweichen.
Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzierungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dass
für den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtliche
Genehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidung
der EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerechnet werden. Diese sieht nun in Form des aktuellen EUKommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschen
Subventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014
vor.
Ich begrüße den Vorstoß unseres Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle, zu prüfen, ob ein vorzeitiger
Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung zum Jahr
2014 überhaupt Geld einspart.
Die Absatzbeihilfen, gegen die die EU-Kommission
vorgehen will, gehen kontinuierlich zurück. Dagegen
wachsen die Zuschüsse zu Stilllegungen und zu dem Aufwand für die Alt- und Ewigkeitslasten. In den Jahren
2015 bis 2018 würden die vom Steinkohlefinanzierungsgesetz gesicherten Absatzbeihilfen in der Summe nur
noch circa 2 Milliarden Euro erreichen. Ein vorzeitiger
Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbedingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleuten
zur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie praktische und technische Probleme, die Bergwerke früher zu
schließen.
Es ist also durchaus erst einmal infrage zu stellen, ob
der von der EU-Kommission vorgesehene Ausstieg aus
den staatlichen Hilfen für den Steinkohlebergbau bereits
2014 tatsächlich günstiger wird. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt eingelegt.
Entscheidungen sollten nämlich erst getroffen werden, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst
dann macht es Sinn, über weitere Schritte nachzudenken. Die Oppositionsanträge leisten hierbei keinen konstruktiven Beitrag und müssen daher abgelehnt werden.
Nochmals will ich hervorheben, dass nicht in erster
Linie inhaltliche Gründe im Vordergrund stehen, sondern vor allem verfahrenstechnische. Der Zeitpunkt der
Entscheidung über das weitere Vorgehen wird noch
kommen. Gerne will ich aber natürlich unabhängig von
diesen beiden Anträgen auf die Thematik eingehen. Dabei möchte ich zunächst das Thema Kohle grundsätzlich
in den Rahmen des von der Bundesregierung jüngst beschlossenen Energiekonzepts setzen.
In dem Energiekonzept stehen die drei Eckpfeiler Klimafreundlichkeit, Verlässlichkeit und Wirtschaftlichkeit
im Vordergrund. Trotz ihres oftmals schlechten Rufs wird
Kohle auch mittelfristig aus verschiedenen Gründen
noch eine bedeutende Rolle im Energiemix einnehmen.
Die Verlässlichkeit spielt dabei eine große Rolle,
schließlich ermöglicht der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland zwar höhere Minderungsziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber
auch den Neubau von hocheffizienten Kohlekraftwerken
notwendig. Diese werden als Grundlastkraftwerke zur
Ergänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivität
schwankenden Angebots an erneuerbaren Energien
dringend gebraucht und ersetzen alte ineffiziente Kraftwerke.
In unserem Energiekonzept haben wir dies berücksichtigt: Zur Modernisierung des fossilen Kraftwerksparks wird die im europäischen Energie- und Klimapaket vereinbarte Möglichkeit genutzt, ab 2013 den Neubau von CCS-fähigen, hocheffizienten Kraftwerken mit
bis zu 15 Prozent der Investitionskosten zu unterstützen.
Vor dem Hintergrund des Klimaschutzes spielt in diesem Zusammenhang die CCS-Technologie - Carbon
Capture and Storage - eine wichtige Rolle. Deshalb
müssen wir jetzt alles daransetzen, dass das CCS-Gesetz
so schnell wie möglich verabschiedet wird, um in einem
ersten Schritt erste Demonstrationsvorhaben zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass viele Staaten auch in Zukunft
bei ihrer Energieversorgung auf Kohle setzen werden.
Dabei bieten sich im Bereich der CCS-Technologie
für die deutsche Wirtschaft zukunftsträchtige Exportchancen. In China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der
größte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren sie
sogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidung
der EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle im Zusammenhang mit CCS durchaus Zukunft hat.
Deutschland darf als Exportnation diesen technologischen Trend nicht verschlafen und muss technologieführend bleiben.
Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema
Steinkohleförderung im Plenum. Schließlich ist es nicht
zuletzt auch ein sehr emotionales. Dies hat verschiedene
Gründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierung
durch die große Bedeutung von Kohle in unserem derzeitigen Energiemix und zum anderen durch die langjährige Tradition in Deutschland und ihre Bedeutung als
langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet.
Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohleförderung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unserem
deutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteil
von rund 18 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Gemeinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil am
Stromkuchen über 40 Prozent.
Insbesondere die Menschen in der Region haben eine
besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem
historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeutendsten deutschen und europäischen Industrieregionen.
Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Steinkohlefinanzierungsgesetz und dem Auslaufen der Steinkohleförderung sagen. Mit dem Gesetz aus dem Jahr 2007
wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte Subventionsabbau
seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutschland ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, sozialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept
zur Beendigung der heimischen Steinkohleförderung
hat.
Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahren
aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen
international nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliardenschwere Subventionen, fast 2 Milliarden Euro pro Jahr
in den letzten Jahren, waren bisher notwendig, damit der
deutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt bereits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle
in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht erreichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit
aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll
nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in
Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern
dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträger gilt.
Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtig
und wichtig und stellt meines Erachtens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer in
dieser Branche dar.
Mit der Kommissionsentscheidung stehen wir nun vor
einer neuen Situation, die wir besonnen zu prüfen haben
werden, wie ich eingangs bereits erwähnt habe. Ein sich
anbahnender Kompromiss mit der Kommission könnte
lauten, dass die Förderung, wie im Steinkohlefinanzierungsgesetz vereinbart, bis zum Jahr 2018 - und nicht
wie von der EU gefordert bis 2014 - ausläuft.
Im Gegenzug müsste die Revisionsklausel des Gesetzes überdacht werden. Diese Klausel besagt, dass dem
Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 ein
Bericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmals
geprüft wird, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung
der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung
der Energieversorgung und der übrigen politischen
Ziele über das Jahr 2018 hinaus gefördert werden soll.
Wie ich in Gesprächen mit Brüsseler Kollegen erfahren haben, könnte sich die Kommission vorstellen, die
Förderung bis 2018 zu erlauben, wenn die Option der
Revisionsklausel gestrichen wird. Damit könnte die Förderung wie geplant bis 2018 laufen.
Ich denke, dass eine solche Förderung unter diesen
Umständen Sinn machen würde. Schließlich ist eine der
wichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile
Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es
wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die
sich die Region und die Menschen dort verlassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit sollten
wir auf keinen Fall gefährden. Im Sinne einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an einer
Förderung bis 2018 daher für richtig.
Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007
wurde ein historischer Schritt in Richtung Subventionsabbau getan. Damit wurde ein vernünftiger Konsens mit
allen Beteiligten - Beschäftigten, Unternehmen und
Politik - geschlossen, der seine Berechtigung hat. Diese
Regelung beendet die Subventionierung im deutschen
Steinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. So
stellt der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 sicher,
dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohlebergbau vermieden werden können.
Ferner sollten wir die durch langwierige politische
Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und
die damit entstandene Planungssicherheit und das Vertrauen in die getroffene Regelung nicht zerstören.
Angesichts der Größe der Branche, über die wir reden, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstieg
aus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen
Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will.
Wegen der genannten Gründe würde ich es für sinnvoll erachten, an dem im Jahr 2007 beschlossenen Ausstieg aus der Steinkohleförderung bis 2018 festzuhalten.
Wie ich zu Beginn dargelegt habe, müssen wir jetzt aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Brüssel besonnen
agieren und einen vernünftigen Kompromiss anstreben,
der eine Förderung bis 2018 weiter ermöglicht. Der von
der Bundesregierung gewählte Weg des Prüfvorbehalts
ist in diesem Zusammenhang richtig.
Eine Entscheidung sollte erst getroffen werden, wenn
die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann kann
über mögliche weitere Schritte entschieden werden. Dabei bin ich sehr zuversichtlich, dass es uns gelingen
wird, mit Brüssel auf einen gemeinsamen Nenner zu
kommen.
Wir beraten heute gleich drei Anträge zum deutschen
Steinkohlebergbau - von SPD, Grünen und von der Linken. Das allein zeigt schon den Stellenwert des Themas
für alle Parteien bis auf die der Regierung angehörigen
Fraktionen. Die Bundesregierung hat es verschlafen,
auf EU-Ebene eine Folgegenehmigung ab 2011 für den
vereinbarten Anpassungsprozess im deutschen Steinkohlebergbau bis zum Jahr 2018 zu erwirken.
Die Europäische Kommission hatte sich bislang
grundsätzlich offen gezeigt, die laut Steinkohlevereinbarung bis 2018 auslaufende subventionierte Förderung
auch über 2011 hinaus zu genehmigen. Nach der Neubesetzung des EU-Gremiums scheint jedoch nunmehr das
Kostenargument ausschlaggebend zu sein. Der im Juli
vorgelegte Verordnungsentwurf stützt sich allein auf das
Vorhaben, staatliche Beihilfen abzubauen, und sieht ein
vorzeitiges Auslaufen der Steinkohleförderung im Jahr
2014 vor. Die Kommission argumentiert, ein vorzeitiger
Ausstieg liege „auch im Interesse des Steuerzahlers und
der stark strapazierten Staatskassen“.
Anderen Gesichtspunkten wird offensichtlich keine
Beachtung geschenkt. Unbeachtet bleibt, dass es sich
bei unserem Steinkohlekompromiss um einen sorgsam
austarierten Kompromiss handelt, der einen sozialverträglichen Übergang gewährleistet. Außen vor bleibt
auch, dass die Steinkohlevereinbarung einen Weg aufzeigt, wie ein Auslaufpfad bis 2018 einschließlich der
sogenannten Ewigkeitslasten des Steinkohlebergbaus in
unternehmerischer Verantwortung von der RAG AG bewältigt werden kann. Schließlich spielt auch die in einer
Studie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohleförderung keine Rolle, die daher rührt, dass die in EU-Ländern nicht mehr abgebaute Steinkohle lediglich durch
Importkohle aus Drittländern ersetzt werden wird. Die
Beendigung der heimischen Steinkohleförderung wird
damit nicht automatisch zu einer Reduzierung der fossiZu Protokoll gegebene Reden
len Stromerzeugung und der damit zusammenhängenden
Treibhausgasemissionen führen.
Das Kostenargument aber relativiert sich mit Blick
auf den in Deutschland seit den 1990er-Jahren eingeleiteten Subventionsabbau bei der Steinkohle. Die Förderung wurde bis 2009 um mehr als die Hälfte reduziert.
Eine weitere Zahl macht die Dimensionen greifbar: Der
Anteil der Steinkohlehilfen am gesamten Subventionsvolumen in Deutschland lag nach den Untersuchungen des
Instituts für Weltwirtschaft ({0}), Kiel, bereits 2007 unter 2 Prozent.
Gegen potenzielle Einsparungen für den Bundeshaushalt müssen ehrlicherweise auch die sozialen Kosten eines überstürzten Abbaus der Förderung, der Verlust an Versorgungssicherheit und die Gefährdung des
Finanzierungsfahrplans für die Ewigkeitslasten in Anschlag gebracht werden. Diese Risiken wiegen schwer.
Und manches, wie Arbeitsplatzverlust und Perspektivlosigkeit, in die Bergleute und Beschäftigte der nachgelagerten Branchen mit einem frühzeitigen Ausstieg aus der
Vereinbarung gestürzt würden, lässt sich nicht in Zahlen
ermessen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, in welche Lage uns die Bundesregierung auf
EU-Ebene manövriert hat.
Es ist unglaublich, dass der deutsche EU-Kommissar,
der fachlich auch noch für das Energieressort zuständig
ist, bei den entscheidenden Abstimmungsprozessen mit
Abwesenheit glänzte! Und es ist untragbar, dass es die
aktuelle Bundesregierung zulässt, dass die Steinkohlevereinbarung von 2007 von den eigenen Reihen ausgehöhlt wird. Wo andere betroffene EU-Länder wie Rumänien und Spanien ihre Interessen mittels Widerspruch
klar verteidigen, legte Brüderle lediglich einen Prüfvorbehalt ein, und das, obwohl die Datenlage doch lange
klar ist. Der FDP-Wirtschaftsminister sitzt das ihm unangenehme Thema also aus.
Der Energiekommissar fabuliert kurz vor Zwölf über
mögliche Wege, die Vereinbarung so aufzuweichen, dass
sie auf EU-Ebene noch durchzubringen sei. Im Interview
mit der „Bild“-Zeitung sagte er kürzlich: „Ich schlage
vor, diese Revision in den nächsten Wochen schnell vorzuziehen und den Ausstieg 2018 zu bekräftigen. Das
würde auch die Skeptiker überzeugen, dass keine weitere
Verlängerung beantragt wird.“ Das heißt, der Kommissar wünscht sich formal eine vorgezogene Überprüfung
des Steinkohlebeschlusses, gibt aber gleichzeitig schon
das Ergebnis vor - den endgültigen Ausstieg im Jahr
2018. Damit wird die „Revision“ ad absurdum geführt.
Mit Blick auf die Lage an den Weltmärkten wäre es
ein Armutszeugnis, die Revisionsklausel leichtfertig den
Verhandlungen mit EU-Mitgliedsländern preiszugeben.
Die Wahrung einer Fortführungsperspektive der heimischen Steinkohleförderung ist eine Frage der Versorgungssicherheit. Auf den Weltmärkten verschärft sich
die Verknappungssituation für energetische und nichtenergetische Rohstoffe. Die wachsende Lücke zwischen
Angebot und Nachfrage führt zu teilweise erheblichen
Preissteigerungen, die den Erhalt eines Sockelbergbaus
wirtschaftlich machen könnten.
Das von EU-Kommissar Oettinger vorgeschlagene
„deutliche Zeichen aus Deutschland …, dass 2018 endgültig Schluss ist mit den Beihilfen“, werten wir allerdings als ein Signal dafür, dass die Revisionsklausel in
Brüssel bereits auf der Kippe steht. Die Regierung hat
den Karren so weit vor die Wand gefahren, dass die unter massivem Handlungsdruck stehenden Beteiligten,
aber auch die Betroffenen, am Ende sogar bereit sein
werden, auf die Revisionsklausel zu verzichten, um noch
schlimmeres Übel zu verhindern. Denn letztlich wird es
darum gehen, die Sozialverträglichkeit eines Auslaufpfads bis 2018 zu wahren und die Finanzierungsbasis
von RAG-Stiftung und der heutigen Evonik Industries
AG nicht zu gefährden.
Als SPD-Fraktion stehen wir zu den im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerten Vereinbarungen. Der
Steinkohlekompromiss darf weder der Haushaltskonsolidierung geopfert noch gegen den Klimaschutz ausgespielt werden. Die Gründe dafür habe ich bereits genannt.
Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht, zu handeln. Sie hat sich in eine äußerst heikle Lage gebracht,
die erfordert, dass eine Nachfolgeregelung für die Ende
2010 auslaufende Verordnung des Rates über staatliche
Beihilfen im Steinkohlebergbau unter erschwerten Bedingungen und unter massivem Zeitdruck durchgesetzt
wird.
Wir erwarten von der Bundeskanzlerin, dass sie innerhalb ihres Kabinetts zügig für eine einheitliche Linie
sorgt und auf EU-Ebene mit allen Mitteln gegen eine
vorzeitige Beendigung der Steinkohlebeihilfen vorgeht.
Es ist der Regierung nicht anzuraten, die Debatte um
die Zukunft der Kohleförderung wieder aufzumachen.
Diesen Knoten hatten wir 2007 unter Beteiligung aller
Betroffenen - der damaligen Bundesregierung und der
Landesregierungen NRW und Saarland, der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der RAG
AG - gelöst. Die Steinkohlevereinbarung von 2007 darf
nicht einfach aufgekündigt werden.
Es ist absehbar, dass die Kanzlerin diesen Job Mitte
Dezember auf dem Europäischen Rat selbst erledigen
muss. Wir erwarten, dass sie das durchsetzt, was wir in
Deutschland beschlossen haben und was die Kommission zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen
Politik gemacht hatte.
Mit dem Kohlekompromiss ist 2007 in Deutschland
das Auslaufen des subventionierten heimischen Steinkohlebergbaus zum Ende des Jahres 2018 beschlossen
worden.
Damit wurden einvernehmlich zwei Ziele umgesetzt:
Zum einen soll die Beendigung des Steinkohleabbaus
sozialverträglich erfolgen: Auf betriebsbedingte Kündigungen wird verzichtet.
Zum anderen wird mit der Gründung der RAG-Stiftung das Ziel verfolgt, Kapital anzusammeln, mit dem
die sogenannten Ewigkeitskosten des Bergbaus bedient
Zu Protokoll gegebene Reden
werden. Gemeint sind hier die Kosten für Maßnahmen,
die für die Nachsorge eines Bergwerkes nötig sind: Vor
allem Wasserhaltung und Versorgung der betroffenen
Flächen.
So wurde ein richtungsweisender Anpassungsprozess
ermöglicht. Mithilfe aller zur Verfügung stehenden sozial- und personalpolitischen Instrumente werden die
Konsequenzen des Ausstiegs für die Bergleute aufgefangen. Zudem sollen die betroffenen „Kohlerückzugsgebiete“ ausreichend Zeit haben, die regionalökonomischen Folgen eines Auslaufbergbaus abzufedern. Die
Vorgaben dieses Rahmens werden seit Jahren nun unternehmerisch schrittweise umgesetzt. Darüber hinaus
wurde beschlossen, die Option auf den Erhalt eines Sockelbergbaus offen zu halten - will heißen, dass der
Deutsche Bundestag den Auslaufbeschluss im Jahr 2012
revidieren kann.
Dies alles haben wir Ende 2007, Anfang 2008 durch
das neue Steinkohlefinanzierungsgesetz und ein begleitendes Vertragswerk rechtlich fixiert. Bedeutsam dabei
ist, dass hier in einmaliger Weise das Ende einer Subventionierung im industriellen Bereich beschlossen
wurde. Man tauschte Subventionen gegen soziale Sicherheit und wurde sich einig.
Hier sollten wir - meine ich - einen Moment innehalten und uns darüber klar werden, welche paradigmatische Ausstrahlung von diesem Kompromiss ausgeht. Zudem möchte ich einen berühmten und unvergessenen
Politiker aus meinem Wahlkreis zitieren, der den alten
römischen Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ in
den Mittelpunkt einer politischen Diskussion rückte: Es
ging seinerzeit um die Ostverträge. Diese mündeten
dann bekanntlich in der deutschen Wiedervereinigung.
Auch wir sollten an geschlossenen Verträgen festhalten!
Der nun vorliegende EU-Verordnungsvorschlag
wurde Ende September dieses Jahres in der Ratsarbeitsgruppe Wettbewerb auf Fachebene beraten. Zur Diskussion steht, Subventionen für nicht wettbewerbsfähige europäische Steinkohlebergwerke bereits 2014 auslaufen
zu lassen. Festzuhalten ist dabei, dass es bisher bei weitem keine europäische Einigkeit hinsichtlich eines Enddatums für diese Betriebsbeihilfen gibt. Sehr dankbar
bin ich diesbezüglich, dass die Bundesregierung alles
unternimmt, hier eine einvernehmliche Lösung zu finden. Sie hat in diesem Zusammenhang auf den deutschen
Steinkohlekompromiss hingewiesen und einen Prüfvorbehalt zur Frage des Enddatums eingelegt.
Auch unser EU-Energiekommissar Günther
Oettinger lässt positiv aufhorchen, wenn er in der Presse
verlautbaren lässt: „Für die deutschen Kumpel ist noch
nicht Schicht im Schacht“. Seinen Hinweis, es gebe gute
Argumente für die Kohleförderung bis 2018 - vor allem
wenn der Ausstieg zum besagten Datum glaubwürdig ist -,
sollten wir auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Insofern
liegt es insbesondere an uns, deutliche Zeichen zu setzen, dass 2018 auch wirklich Schluss ist:
Wir sind also wieder beim „pacta sunt servanda“.
Der Einwurf des SPD-Antrages, einen Sockelbergbau
auch nach 2018 betreiben zu wollen, ist hier mehr als
kontraproduktiv und schädlich.
Gleichwohl liegt es bei den Mitgliedstaaten der EU
und beim Europäischen Parlament, eine gangbare Einigung zu finden. Und wir können nicht die Europäische
Einigung allseits fordern, bei konkreten Maßnahmen
aber behaupten, dies ginge uns nichts an, oder wie es
der Antrag der Linken fordert, unseren nationalen Verträgen auf der EU-Ebene - gefälligsterweise - Geltung
zu verschaffen.
Anders sieht es da bei dem Antrag der Grünen aus:
Sie stehen zum Ausstieg 2018, zumindest im Bund. In
NRW allerdings sieht für die Grünen die Sache wieder
einmal ganz anders aus. Hier zeigt sich ihre janusköpfige Gesinnung: Vorne „hü“, hinten „hott“! Will doch
der rot-grüne Regierungspakt in NRW nichts Geringeres, als dass die Optionen auf Beendigung und Fortsetzung der Steinkohleförderung gleichberechtigt bei
weiteren Aktivitäten und Planungen des Bergbaues beibehalten werden.
Für die FDP liegt die Situation eindeutig auf der
Hand - die Entscheidungsträger sind klar benannt.
Diesbezügliche Anträge erübrigen sich. Auch deshalb
lehnen wir diese ab. Sollte nun die EU aber das Auslaufen der Beihilfen für 2014 vorgeben, wird die christlichliberale Koalition die Kumpel nicht im Regen stehen lassen.
Es handelt sich um eine Premiere: Die Linke im Bundestag bringt heute einen CDU-Antrag aus dem Landtag
NRW ein, der dort mit den Stimmen von CDU, SPD,
Grünen und Linken verabschiedet wurde. Nur die FDP
sprach sich im Landtag dagegen aus, am Steinkohlekompromiss festzuhalten, und nimmt damit Massenentlassungen bei den Bergleuten in Kauf. Die Bergleute haben letzte Woche machtvoll in Brüssel demonstriert.
Mittlerweile gibt es klare Beschlüsse des Bundesrates,
und gestern hat auch der DGB noch einmal das Festhalten am Steinkohlekompromiss gefordert.
Die Vorgänge um das Steinkohlefinanzierungsgesetz
zeigen nicht nur die Inkompetenz der Bundesregierung
bei der Interessenvertretung in den europäischen Institutionen. Sie zeigen auch zum wiederholten Male die
Ignoranz des Bundeswirtschaftsministers gegenüber
dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutung
von Industriearbeitsplätzen, wobei Nordrhein-Westfalen
stets besonders schlecht wegkommt. Herr Brüderle nutzt
das jahrelange europarechtliche Vakuum, das die Bundesregierung geschaffen hat, um sich über die deutsche
Gesetzeslage hinwegzusetzen. Das ist ein seltsames Demokratieverständnis und das ist ein weiterer Schlag ins
Gesicht der Bergleute.
Der über Jahrzehnte für NRW und das Saarland prägende Bergbau und seine Zulieferer brauchen die Zeit
bis 2018, um den Strukturwandel zu schaffen. Die Linke
im Bundestag will diesen Strukturwandel ohne Entlassungen bewältigen. Die Linke will die ökologischen Altlasten des Bergbaus verantwortlich und möglichst ohne
Zu Protokoll gegebene Reden
weitere Belastung der öffentlichen Kassen in Bund und
Ländern angehen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche
und strukturpolitische Aufgabe, denn die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands war nun einmal lange von Steinkohle, Koks, Eisen und Stahl geprägt. Der notwendige
Übergang zu nichtfossilen Energieträgern muss sozialverträglich erfolgen, der Übergang zur nachhaltigen
Produktion muss die Facharbeiterinnen und Facharbeiter und die Ingenieurinnen und Ingenieure mitnehmen
und darf sie nicht auf die Straße setzen.
EU-Kommissar Oettinger erklärte vorgestern, es sei
noch nicht Schicht im Schacht; er sehe gute Chancen für
eine Verlängerung der Steinkohlesubvention bis 2018.
Umso wichtiger wäre eine gemeinsame Erklärung aller
Fraktionen im deutschen Bundestag, sich hinter die Vereinbarungen im Steinkohlekompromiss zu stellen und ein
deutliches Signal nach Brüssel zu geben. Ich wollte ihnen gestern im Ausschuss die Möglichkeit dazu mit dem
verabschiedeten Antrag aus NRW geben. Stattdessen ist
die CDU im Ausschuss aus Koalitionsdisziplin und Parteiinteressen eingeknickt. Zehntausende Bergleute in
NRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlassen. Es geht deshalb nicht nur um Kohlepolitik, es geht
um Vertragstreue und Verlässlichkeit der Demokratie.
Die Schuld dafür trägt aber nicht zuerst die EU-Kommission, wie uns Herr Brüderle gerne glauben lassen
möchte. Die beiden Bundesregierungen und auch
Schwarz-Gelb in NRW haben es in den letzten Jahren
verschlampt - anders kann man es nicht sagen -, das
Gesetz auch europarechtlich abzusichern. Ex-Wirtschaftsminister Glos hatte klugerweise bereits in der
Presseerklärung vom 28. Dezember 2007 vermerkt:
„Die Beihilfen stehen unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die EU-Kommission. Die Bundesregierung hat das gesamte Auslaufpaket mit einer konkreten
Planung für die bis zum Ende des Jahres 2018 stillzulegenden Steinkohlebergwerke bei der EU-Kommission
notifiziert.“ Und was ist danach passiert? Offensichtlich
nichts, bis die EU-Kommission dann im Juli 2010 nach
einer Reihe von Konsultationen die Schließung der
Bergwerke für den 1. Oktober 2014 vorschlägt und damit die Beihilfen eben nicht bis 2018 notifiziert. Warum
dann in der Regierungskoalition ein offener Konflikt
zwischen dem zuständigen Wirtschaftsminister Brüderle
und der Kanzlerin losbricht, ist hingegen mehr als
durchschaubar. Wie schon im Falle Opel macht die
Kanzlerin auf der innenpolitischen Bühne Zusagen, die
ihr marktwirtschaftlicher Wirtschaftsminister einfach
nicht umsetzt. Sogar das Handelsblatt schreibt wörtlich,
dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel
nicht das beste Bild abgegeben habe. Anstatt die Pläne
für 2014 klar zu stoppen, legt der Wirtschaftsminister einen schwächlichen Prüfvorbehalt ein. So weit zum skandalösen Agieren der Bundesregierung und, an vorderster Front mal wieder, des Bundeswirtschaftsministers.
Wichtig bei dem Thema ist - und das sage ich vor allem an die Adresse von Herrn Trittin und den Grünen,
die sich in ihrem Antrag mit der FDP verbünden -, dass
die Steinkohlebeihilfen nichts mit Kohlekraftwerken und
damit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Keines
der längst überwiegend mit billiger Importkohle betriebenen Steinkohlekraftwerke ginge auch nur einen Tag
früher vom Netz, wenn sich die EU mit ihrer Kahlschlagpolitik durchsetzt. Wer von Kanzlerschaft träumt, der
sollte zumindest einen Grundkurs in sozialer Verantwortung belegen. Ich empfehle zur innergrünen Weiterbildung dazu die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Rainer
Priggen. Die Steinkohlebeihilfen können ein wichtiger
Baustein sein, um die Energiewende hin zu regenerativen Energieträgern sozialverträglich, das heißt ohne
Massenentlassungen, zu organisieren. Das ist zukunftsfähige Industriepolitik auch für die Zulieferer und nicht
wie bei den Grünen so oft einfach Marktgläubigkeit und
bloße Hoffung auf große Exportoffensiven für neue
Technologien.
Die Linke im Bundestag lehnt jeden Kuhhandel mit
Brüssel ab. Die Revisionsklausel steht nicht zur Debatte.
Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Kokspreise in
den letzten Monaten gestiegen sind. Fragen sie doch
einmal nach bei den Zechen, wie begehrt das technologische Know-how weltweit ist. Wir fordern in den nächsten Wochen ein deutliches, abgestimmtes Auftreten der
Bundesregierung in Brüssel mit dem Ziel, Massenentlasssungen im Bergbau zu verhindern. Das deutsche
Steinkohlefinanzierungsgesetz muss endlich europarechtlich abgesichert werden. Die Kanzlerin muss endlich von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen.
Der deutsche EU-Kommisar muss endlich aufhören,
schwäbisch zu schwätzen und handeln. Eine gemeinsame Erklärung im Parlament wäre ein guter Schritt
dorthin. Deshalb fordere Sie alle auf, ihre Entscheidung
im Wirtschaftsausschuss zu revidieren und dem Antrag
zuzustimmen.
Mal ehrlich: Es gibt eine Debatte über den Steinkohlebergbau, und die antragstellende SPD lässt zu Protokoll geben. Früher hätten Sie das zur Kernzeit gemacht
und die Bergleute zur Demo herangekarrt. Ist das ein
weiteres Indiz, dass die SPD bei ihrem Traditionsthema
langsam, aber sicher in der Realität ankommt? Der Sache wäre es zu wünschen.
Aber der Reihe nach. Es ist gut, dass die Debatte der
EU-Kommission am 20. Juli dieses Jahres über das
Ende der Steinkohlesubventionen in Deutschland eine
große Diskussion ausgelöst hat. Das war überfällig. Wir
brauchen in Deutschland endlich eine definitive Entscheidung, wann Schluss ist mit dem subventionierten
Steinkohlebergbau.
Auch der zuständige deutsche EU-Energiekommissar
Günther Oettinger scheint die Bedeutung des Themas
erkannt zu haben. Noch im Juli glänzte er mit Abwesenheit bei der entscheidenden Sitzung der EU-Kommission
und schien die Bedeutung des Themas völlig falsch eingeschätzt zu haben. Dass so etwas passiert, ist eine
desolate Handwerksleistung der Bundesregierung. Offensichtlich ist die Brisanz des Themas in der Bundesregierung überhaupt nicht präsent - frei nach dem Motto:
Die EU wird schon tun, was Deutschland will. Ein
Zu Protokoll gegebene Reden
schlimme Fehleinschätzung und eine Arroganz gegenüber den europäischen Institutionen.
Immerhin fand jetzt Herr Oettinger - fast drei Monate
nach der Kommissionsentscheidung - in einem Zeitungsinterview klare Worte: Er spricht sich für das Vorziehen der Revisionsklausel im Steinkohlebeihilfengesetz noch in diesem Jahr aus und fordert das definitive
Ende der Steinkohlesubventionen bis 2018.
Wir begrüßen diese Linie von Herrn Oettinger. Bei
der Steinkohle ist er auf dem richtigen Weg. Genau das
sagt auch der Antrag der grünen Bundestagsfraktion,
der heute zur Abstimmung steht. Und wenn wir es schaffen, sozialverträglich und ohne zusätzliche Kosten auch
schon vor 2018 aus dem subventionierten Bergbau herauszukommen, umso besser.
Die Debatte zeigt, dass Deutschland offensichtlich
den Druck aus Brüssel braucht, um sich endgültig von
der teuren und schädlichen Subventionierung des Steinkohlebergbaus zu verabschieden.
Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koalition im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus bis
zum Jahr 2018 geeinigt. Zwischen 2007 und 2018 sollen
demnach 13,9 Milliarden Euro Subventionen für den
Steinkohlebergbau bereitstehen. Insgesamt arbeiten in
den letzten fünf Zechen noch 25 000 Beschäftigte. Die
damalige Bundesregierung und auch die damalige
schwarz-gelbe Landesregierung in NRW haben es dabei
jedoch versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern - obwohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung
für ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab.
Die Haltung, die EU wird schon tun, was Deutschland
sagt, rächt sich nun. 2014 ist angesichts dessen schon
ein Entgegenkommen der EU-Kommission.
Das Datum 2014 wirft in Deutschland jedoch auch
Probleme auf. Denn es bedeutet, dass die bis heute verbliebenen fünf Bergwerke mit über 25 000 Beschäftigten
in nur vier Jahren geschlossen werden müssen, mit all
den Konsequenzen für die Beschäftigten. Ob dieses
überhaupt praktisch umsetzbar ist und im Ergebnis für
die öffentliche Hand billiger wird, erscheint angesichts
der notwendigen Kosten zur Gewährleistung der Sozialverträglichkeit zumindest fraglich. Die Verantwortung
für die Verunsicherung der Bergleute und der betroffenen Kommunen trägt damit die Bundesregierung, die
sich vorwerfen lassen muss, hier fahrlässig untätig gewesen zu sein. Anstatt sich zunächst um einen Konsens
mit der Kommission und eine Mehrheit im Rat zu kümmern, wurde nach dem Motto geplant: Europa hat das zu
akzeptieren, was Deutschland entscheidet. Die Empfehlung der EU-Kommission, die Steinkohlesubventionen
2014 auslaufen zu lassen, ist aus Sicht anderer Länder
bereits ein Kompromiss. Die jetzige EU-Regelung sieht
lediglich eine Beihilfe bis zum 31. Dezember 2010 vor.
Wir diskutieren heute hier über den sozialverträglichen Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen, der nicht
nur ökonomisch, sondern auch ökologisch sinnvoll erscheint. Doch der heute zur Abstimmung stehende Antrag der SPD „Die Steinkohlevereinbarung gilt“ ist dabei ein Schritt in die falsche Richtung. Die Forderung
des Sockelbergbaus konterkariert den vereinbarten Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen und die damit verbundene Entlastung für den Steuerzahler. Diese Position
ist nicht realitätstauglich; denn der deutsche Steinkohlebergbau ist aufgrund der immer schwieriger werdenden
geologischen Verhältnisse in den Lagerstätten meilenweit davon entfernt, zu Weltmarktpreisen produzieren zu
können. Es ist angesichts der Lage der öffentlichen
Haushalte unverantwortlich, einen dauerhaften steuerfinanzierten Sockelbergbau zu wollen, der zudem immer
neue Alt- und Ewigkeitslasten produziert, wo wir schon
heute nicht sicher sein können, ob die Mittel der RAGStiftung zur Finanzierung der bis heute aufgelaufen Altund Ewigkeitslasten ausreichen.
Der Antrag, den die Linken hier stellen, ist im Wesentlichen der Beschluss des Landtags NRW auf Antrag
von CDU, SPD und Grünen. Es ist ihr gutes Recht, wenn
auch nicht gerade ein feiner Stil, ohne Hinweis auf die
Urheberschaft hier die breit getragenen Beschlüsse anderer Parlamente einzubringen, die naturgemäß Kompromisse sind. Deshalb werden wir uns deshalb bei diesem Antrag enthalten.
Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wäre es, wenn Sie hier auch Ihren Entschließungsantrag aus dem Landtag von NRW eingebracht hätten.
Die Linken im Landtag von NRW fordern nämlich noch
offener als die SPD einen steuerfinanzierten nationalen
Steinkohlesockel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion: Wem soll man denn nun Glauben
schenken? Mit Ihrem heute zur Abstimmung vorliegenden Antrag machen Sie sich unglaubwürdig. Sagen Sie
uns die Positionen der Linken im Bundestag: Wollen Sie
wie Ihre Kollegen in NRW einen nationalen Steinkohlesockel?
Wie schon erwähnt, begrüßen wir die Positionierung
des Energiekommissars Oettinger zum Ausstieg aus den
Steinkohlebeihilfen. Unser Antrag „Subventionierten
Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“, der
heute zur Abstimmung steht, entspricht im Kern genau
dieser Position. Diesem Antrag zuzustimmen und damit
ein Signal in Richtung EU zu senden, dass spätestens
2018 mit dem Steinkohlebergbau Schluss ist und die Revisionsklausel fällt, wäre genau das, was alle Beteiligten
brauchen, um das Problem zu lösen. Die Anträge von
SPD und Linken sind da keine Hilfe.
Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen erwarten wir, dass sie dann schnell darangehen, die
deutsche Rechtslage endlich in Übereinstimmung mit
den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union zu bringen. Das heißt: endgültiger Schluss spätestens 2018 und
ernsthafte Überprüfung, ob nicht auch ein früherer Ausstieg möglich ist. Dies würde auch ein Ende der realitätsfremden Träumereien von SPD und Linken von
einem sogenannten dauerhaft steuerfinanzierten nationalen Steinkohlesockel bedeuten. Vor allem aber dürfen
durch einen fortgesetzten Bergbau über 2018 hinaus
nicht immer neue und zusätzliche Altlasten und Ewigkeitskosten produziert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 17/3231.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
SPD-Fraktion auf Drucksache 17/3043 mit dem Titel
„Die Steinkohlevereinbarung gilt“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit der
Mehrheit der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3044 mit dem Titel „Für einen geordneten und sozialverträglichen Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 17/3201 mit dem Titel „Subventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mehrheitlich
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden - Atomwaffenfreie Zone befördern
- Drucksache 17/2481 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Joachim
Hörster, Roderich Kiesewetter, Heidemarie WieczorekZeul, Christoph Schnurr, Wolfgang Gehrcke und Katja
Keul werden zu Protokoll gegeben.
Der Antrag der Fraktion Die Linke liefert keine
neuen Erkenntnisse und übersieht meines Erachtens einen entscheidenden Punkt, nicht durch den Stopp von
Rüstungsexporten wird ein tragfähiges Sicherheits- und
Friedenskonzept für den Nahen Osten auf den Weg gebracht, sondern nur durch den Willen der Konfliktparteien, sich zum Frieden zu bekennen und ihn auch durchsetzen zu wollen.
Des Weiteren halte ich die offenkundig einseitigen
Forderungen bezogen auf den Staat Israel, gerade vor
dem Hintergrund der besonderen Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel sowie der historischen Verantwortung Deutschlands, für nicht vertretbar. Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
sind ein tragender Pfeiler der deutschen Außenpolitik.
Eine Aufkündigung der Zusammenarbeit hätte weitreichende und nachteilige Folgen für das Gleichgewicht in
der Region des Nahen Ostens, insbesondere bei der fortschreitenden Aufrüstung des Irans und der von ihm
angestrebten Profilierung als Hegemonialmacht. Die
unerträglichen verbalen Angriffe des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad gegenüber Israel müssen
höchste Wachsamkeit auslösen.
Mögliche Szenarien eines mit Nuklearwaffen ausgestatteten Iran waren Inhalt einer vor kurzem in Berlin
abgehaltenen Konferenz des Aspen-Instituts. Dabei
wurde festgestellt, dass sich die Machtgeometrie der
Welt insgesamt verändern würde, wenn der Iran seine
möglicherweise dann atomar bestückten Trägerraketen
gegen die benachbarten Araber und Israelis, die USA
oder gegen Europa richtet. Infolge wäre der Atomwaffensperrvertrag nur ein nutzloses Stück Papier, und ein
nukleares Wettrüsten in den dem Iran benachbarten arabischen Staaten würde einsetzten. Auf der anderen Seite
ist nicht davon auszugehen, dass das Regime im Iran in
absehbarer Zeit ein Testverbot von Nuklearwaffen ratifizieren wird. Die gesamte arabische und westliche Welt
ist deshalb in großer Sorge und aufs Äußerste darauf bedacht, eine dauerhafte und sichere Lösung des Konfliktes
herbeizuführen. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung trotz der Ausführungen
des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad auf der
diesjährigen UN-Vollversammlung in New York weiterhin auf einen offenen Dialog mit dem Iran setzt und sich
auch die NATO in ihrem neuen Strategiekonzept für eine
Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit der
iranischen Führung ausspricht.
Die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
Osten, die auf ägyptische Initiative seit 1974 betrieben
wird und die seit 1990 auf das von der Bundesregierung
unterstützte Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone Naher Osten erweitert wurde - „Mubarak-Initiative“ -, kam angesichts der Lage in der Region auch
2009 nicht voran. Sowohl in der Internationalen Atomenergie-Organisation als auch im NVV-Überprüfungsprozess - NVV: Vertrag über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen - drängen die arabischen Staaten, und hier
vor allem Ägypten, mit zunehmender Vehemenz auf Fortschritte, während Israel weiterhin auf eine zuvor erforderliche Friedenslösung verweist. Die 8. Überprüfungskonferenz, die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York
tagte, hat sich erstmals seit dem Jahr 2000 wieder im
Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt, das einen vorwärtsschauenden Aktionsplan mit konkreten
Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags - nukleare
Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen und anderen
Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten
enthält.
Die Bundesregierung ihrerseits übt neben einer konfliktlösenden Außenpolitik eine verantwortungsvolle
Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus. Sie
entscheidet im jeweiligen Einzelfall nach einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung aller vorliegenden
Umstände. Grundlage dafür sind die „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom
19. Januar 2000 und der Verhaltenskodex der EU vom
8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat
verabschiedet wurde. Wesentlicher Bestandteil der Politischen Grundsätze ist die rechtliche Regelung des deutschen Rüstungsexportes durch das Grundgesetz, das Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen und das
Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit der Außenwirtschaftsverordnung. Wichtige Kriterien jeder Entscheidung sind dabei die Konfliktprävention sowie die
Kriegsgefährdung in der jeweiligen Region.
Von einer akuten Kriegsgefährdung, welche alle arabischen Staaten des Nahen Ostens einschließt, ist nicht
auszugehen, da gerade auch die arabische Seite erkannt
hat, dass ein Frieden in der Region nur durch eine aktive
Beteiligung bei der Lösung des Nahostkonfliktes zu erreichen ist. Das beste Beispiel ist die Friedensinitiative
aus dem Jahr 2002, auf die ich mich in jeder meiner Reden zur Lösung des Nahostkonfliktes beziehe. Diese Initiative kann zum Erfolg führen, denn sie ist nicht vom
Westen übergestülpt.
Der damalige saudische Kronprinz und heutige saudische König Abdallah präsentierte im Jahr 2002 beim
Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen Friedensplan, der entscheidende Neuerungen zu allen früheren Erklärungen erkennen ließ. Der Plan sieht vor, dass
Israel sich vollständig aus allen 1967 besetzten Gebieten zurückzieht: dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen und Ostjerusalem. Dort soll ein unabhängiger
Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt gegründet werden. Was die im Krieg von 1948 aus dem
heutigen Israel vertriebenen Araber angeht, soll eine
„faire Lösung“ für die Rückkehr in ihre Heimat gefunden werden. Jeder weiß, dass eine Rückkehr in das heutige Israel ausgeschlossen ist, da dies den Staat Israel in
seinen Fundamenten zerstören würde. Aber eine „faire
Lösung“ eröffnet auch andere Möglichkeiten als Rückführung. Jedenfalls steht das Existenzrecht des Staates
Israel für uns alle in diesem hohen Hause außer Frage.
Der Abdallah-Friedensplan wurde auf verschiedenen
Gipfeltreffen im März und Juni 2007 in Riad und
Scharm-el-Scheich wiederbelebt und floss auch in die
Internationale Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis
im November 2007 mit ein, wo die Verpflichtung der israelischen und palästinensischen Behörden gegenüber
der internationalen Gemeinschaft zur Wiederaufnahme
über alle Fragen, die den Endstatus der palästinensischen Gebiete betreffen, eingegangen wurde und die
Zweistaatenlösung in direkten Gesprächen innerhalb eines Jahres herbeigeführt werden sollte.
Aufgrund des Scheiterns der Annapolis-Gespräche
begrüße ich umso mehr das aktuelle Engagement der
Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahost-Quartett erstmals nach zwei Jahren wieder gemeinsame Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern initiieren
konnte. Seit dem 2. September 2010 fanden wieder direkte Verhandlungen statt, in denen man sich darauf verständigte, innerhalb von 12 Monaten ein Rahmenabkommen zu den Endstatusfragen zu erarbeiten. Eine
nachhaltige Lösung des Konflikts im Nahen Osten kann
nach deutscher und europäischer Auffassung nur in
einer Zweistaatenlösung und der Anerkennung Israels
durch seine arabischen Nachbarstaaten liegen. Ob die
Gespräche nach dem Ende des Siedlungsbaumoratoriums für das Westjordanland weitergehen, entscheidet
sich nach den Beratungen zwischen dem Palästinenserpräsidenten Abbas und der Arabischen Liga in diesem
Monat.
Neue Bemühungen um innerpalästinensische Aussöhnung nach der Zurückweisung des letzten von Ägypten
vorgelegten Vermittlungsvorschlags durch die Hamas
2009 zeigen sich in den aktuellen Gesprächen im September 2010 zwischen Hamas-Führung und Fatah-Delegation in Damaskus. Hamas-Chef Chalid Maschal
sagte dazu am 27. September: Beide Gruppen haben
„ernste und tatsächliche Schritte“ in Richtung Aussöhnung unternommen. Der Ausgang dieser Gespräche ist
offen.
Fest steht jedoch, dass die Bundesregierung bzw. die
EU auch weiterhin mit den regionalen Akteuren zusammenarbeiten muss, um auf eine dauerhafte und sichere
Lösung des Nahostkonfliktes hinzuwirken. In seiner Erklärung vom 21. September 2010 wies der Europäische
Rat auf Initiative Deutschlands ausdrücklich darauf hin,
dass „gerechter, dauerhafter und umfassender Friede im
Nahen Osten“ nur unter Einbindung der arabischen
Staaten möglich ist. In einer ausschließlich umfassenden
Friedensordnung liegt die Lösung der Konflikte im Nahen Osten.
Der Antrag der Linken ist nicht geeignet, den Frieden
in der Region auch nur einen Schritt näher zu bringen.
Das Bundeskabinett hat am 31. März 2010 den vom
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie vorgelegten zehnten Bericht über die Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter der Bundesregierung für das
Berichtsjahr 2008 verabschiedet und dem Bundestag zugeleitet. Hier wird deutlich:
Genehmigungen wurden erst nach eingehender Prüfung im Einzelfall erteilt und nachdem insbesondere sichergestellt wurde, dass deutsche Rüstungsgüter nicht
für Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden
oder zur Verschärfung von Krisen beitragen. Die Genehmigungsentscheidungen richteten sich nach dem Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, der
im Dezember 2008 verabschiedet wurde und den Verhaltenskodex der EU zu Rüstungsexporten aktualisiert,
ergänzt und rechtlich verbindlich gemacht hat. Ferner
gelten die teilweise noch strikteren Politischen Grundsätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport von
2000.
Zu Israel und dem Nahen Osten kann für uns als
Union Folgendes festgehalten werden: Israels legitime
Sicherheitsinteressen müssen vollständig gewahrt werden. Deutschland hat in der Frage der Sicherheit Israels
Zu Protokoll gegebene Reden
eine historische Verpflichtung, eine besondere Verantwortung gegenüber Israel als jüdischem Staat. Es ist
nach unserer tiefen Überzeugung Teil der deutschen
Staatsräson, die Sicherheit des Staates Israel zu garantieren.
Wie aus dem Jahresabrüstungsbericht 2009 hervorgeht, hat Israel seine militärischen Schwerpunkte auf
den Kampf gegen den Terrorismus und die Bedrohung
durch Massenvernichtungswaffen gesetzt. Drei vorrangige Ziele wurden definiert: Steigerung der taktischen
und strategischen Aufklärungsfähigkeit, Verbesserung
der Präzision der Waffensysteme, vor allem im Bereich
der Landstreitkräfte, und Digitalisierung sowie Befähigung zur vernetzten Operationsführung der Landstreitkräfte. Ferner ist Israel auch an dem Erwerb von
Abwehrsystemen für den Einsatz gegen ballistische
Flugkörper kurzer Reichweite interessiert.
Der zugrunde liegende Konflikt, der auch zu stetigen
Rüstungsimporten in der gesamten Region führt, kann
nur durch einen politischen Prozess auf der Grundlage
der Roadmap, den Initiativen des Nahost-Quartetts und
der arabischen Friedensinitiative gelöst werden. Nur so
kann ein tragfähiger Frieden im Nahen Osten erreicht
werden. Wir fordern daher die Bunderegierung auf, die
von den USA initiierten „Proximity Talks“ zu unterstützen und sich gegenüber Israel und den Palästinensern
dafür einzusetzen, dass beide diese konstruktiv führen,
damit eine rasche Aufnahme direkter Friedensgespräche mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung möglich
wird.
Deutschland ist an Israels Seite. Der Iran missachtet
seit Jahren die Auflagen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Organisation. Das Land schafft keine Transparenz über
sein Atomprogramm. Die Resolution des Sicherheitsrates zum iranischen Atomprogramm ist eine klare und
ausgewogene Antwort auf die anhaltende Weigerung des
Iran, die Zweifel an der friedlichen Natur seines Atomprogramms auszuräumen. Dabei hatte die Staatengemeinschaft dem Iran über einen langen Zeitraum hinweg
immer wieder die Möglichkeit gegeben, Klarheit zu
schaffen.
Als Partner und als Freunde Israels haben wir Deutsche vor dem Hintergrund der Drohgebärden des Iran in
dieser Frage eine ganz besondere Verantwortung. Die
Resolution ist ein deutliches Signal der internationalen
Gemeinschaft, dass eine atomare Bewaffnung des Iran
nicht akzeptabel ist. Die Resolution richtet sich nicht gegen die Menschen im Iran, sondern gegen die staatlichen Träger des Nuklearprogramms.
Unser aller Ziel bleibt aber eine diplomatische Lösung. Die Tür für Zusammenarbeit und Transparenz ist
weiter offen. Es ist jetzt an der Zeit, dass alle Staaten des
Nahen Ostens endlich ihrer Verantwortung gerecht werden und zur Entspannung beitragen.
Die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagende
8. Konferenz der Vertragsparteien zur Überprüfung des
Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hat
sich im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt.
Ein vorausschauender Aktionsplan mit konkreten Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags - nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung der
Kernenergie - sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen freien Zone im Nahen Osten ist das Ergebnis.
Dieser Erfolg stärkt den NVV als Fundament der internationalen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchitektur und überwindet die infolge der gescheiterten
Überprüfungskonferenz von 2005 und Belastung des
NVV durch Proliferationsfälle eingetretene Stagnation.
Das Ergebnis war angesichts erheblicher inhaltlicher
Positionsunterschiede unter den Teilnehmern und Belastung durch die Entwicklungen im Iran bis zum letzten
Moment offen. Der Abschluss eines neuen START-Vertrags im April und die Ankündigung zur Offenlegung des
US-Nukleararsenals durch Außenministerin Clinton zu
Konferenzbeginn trugen jedoch zu einer sachorientierten Debatte bei.
Wichtige Elemente des Aktionsplans und damit auch
für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
Osten sind die klare Zielsetzung der vollständigen Abschaffung aller Kernwaffen unter Einbeziehung aller
Arten von Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungsprozess sowie das Bekenntnis zur Reduzierung der Rolle
von Kernwaffen in den Sicherheitsstrategien der Kernwaffenstaaten.
Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der
Überprüfungskonferenz war die Einigung zur Ingangsetzung eines Prozesses, die - vor allem von den arabischen
Staaten angemahnte - Verpflichtung der Verlängerungskonferenz von 1995 zur Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone Nahost konkret anzugehen. An
einer unter anderem vom Generalsekretär der Vereinten
Nationen 2012 auszurichtenden Konferenz sollen alle
Staaten der Region teilnehmen.
Die EU hat mit dem erstmaligen Auftritt der Hohen
Repräsentantin Catherine Ashton in der Generaldebatte
sowie den erfolgreich arbeitenden Vorsitzenden der
Unterausschüsse zu nuklearer Abrüstung und zur Nahost-Frage Profil gezeigt. Zentrale Forderungen aus dem
zur Überprüfungskonferenz verabschiedeten EU-Standpunkt und dem darin auf Initiative Deutschlands hin verankerten Prioritätenkatalog konnten umgesetzt werden.
Deutschland hat sich stark für Präsenz und geschlossenes Auftreten der EU eingesetzt, ein wirksamer diplomatischer Erfolg für unser Land. Die deutsche Delegation
hat auch in der schwierigen Endphase der Verhandlungen zum Konferenzerfolg beigetragen.
Langfristig sollten wir gemeinsam mit unseren Partnern intensiv an einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone im Nahen Osten arbeiten. Die Unterstützung der israelischen konventionellen Verteidigungsfähigkeit liegt
allerdings in unserem ureigensten sicherheitspolitischen
Interesse; deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion
Die Linke „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens einstellen - Militärische Zusammenarbeit beenden Atomwaffenfreie Zone befördern“ ab.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele der Beschlusspunkte des Antrags teilen wir
nicht. Ich möchte aber die Beratung des Antrags in erster Beratung zum Anlass für zwei grundlegende Bemerkungen zur Frage der Genehmigungspraxis für Waffenexporte und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone
im Nahen Osten machen. Im schwarz-gelben Koalitionsvertrag kündigt die Bundesregierung an, die Genehmigungspraxis in der EU für Rüstungsgüter „auf hohem
Niveau harmonisieren“, „bürokratische Hemmnisse abbauen“ und „Verfahren beschleunigen“ zu wollen.
Diese Aufweichung der politischen Grundsätze soll angeblich „faire Wettbewerbsbedingungen“ ermöglichen
und lässt eine gefährliche Steigerung der Rüstungsexporte befürchten. Als Maßgabe wird auch nur noch
von einer „verantwortungsbewussten“ und nicht mehr
von einer „restriktiven“ Genehmigungspolitik gesprochen. Damit besteht die Gefahr, dass die politischen
Grundsätze, die Frieden sichern und Gewaltprävention
ermöglichen sollen, schlicht übergangen beziehungsweise real ausgehöhlt werden.
Die notwendige Transparenz der Rüstungsexportpolitik muss hergestellt werden, indem das Parlament nicht
nur nachträglich und auf verschlungene Weise über getroffene Exportentscheidungen informiert wird. Die Mitwirkung des Deutschen Bundestages muss gestärkt
werden. Dies kann erreicht werden, indem Kriegswaffenexporte gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss und
dem Wirtschaftsausschuss offengelegt werden müssen
oder indem, nach dem Vorschlag der Gemeinsamen
Konferenz Kirche und Entwicklung der evangelischen
und katholischen Kirche ({0}), der Unterausschuss
„Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“
des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Genehmigungsverfahren einbezogen wird.
Vom 3. bis zum 28. Mai hat dieses Jahr in New York
die 8. Überprüfungskonferenz des Vertrages über die
Nichtverbreitung von Atomwaffen stattgefunden. Eines
der innovativsten Ergebnisse der Konferenz ist die Forderung nach einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Osten. Der UN-Generalsekretär erhält dazu den Auftrag,
einen Koordinator für eine von Nuklear- und allen anderen Massenvernichtungswaffen freie Zone zu bestimmen.
Dieser Koordinator soll eine Konferenz der Staaten der
Region für 2012 vorbereiten. Außerdem wird im Beschluss der Friedensprozess im Nahen Osten begrüßt
und als ein Beitrag zur Schaffung einer kernwaffenfreien
Zone im Nahen Osten anerkannt. Die Bundesregierung
ist aufgefordert, diese Perspektiven nachhaltig und mit
eigenen Initiativen zu unterstützen.
Die Fraktion der Linken hat einen Antrag vorgelegt,
der vorgeblich zur Verminderung der politischen Spannungen im Nahen Osten die deutschen Rüstungsexporte
in die Region - insbesondere nach Israel - und die deutsche Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich beenden will. Auch wenn das Ziel einer nachhaltigen politischen Entspannung im Nahen Osten von allen
Fraktionen im Deutschen Bundestag geteilt wird, ist der
von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu
völlig ungeeignet. Wenn der Antrag suggeriert, dass
deutsche Rüstungsexporte in die Region, die sich insbesondere auf Israel fokussieren, zum arabisch-israelischen Konflikt beitrügen, ist dies völlig verfehlt.
Lassen Sie mich daher zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur deutschen Rüstungsexportpolitik
machen. Danach möchte ich auf die Rolle deutscher
Rüstungsexporte in den Nahen Osten - insbesondere
nach Israel - eingehen. Ferner werde ich einige Bemerkungen machen zur Frage der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in der Region. Ich werde schließen
mit einigen grundsätzlichen Anmerkungen zur aktuellen
Situation im Nahen Osten.
Wie wir alle wissen, unterliegen deutsche Rüstungsexporte neben den Vorgaben aus dem Außenwirtschaftsgesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export
von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern auch
den Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunktes der
EU zu diesem Bereich.
Die christlich-liberale Bundesregierung wird - wie
auch die Vorgängerregierungen - insbesondere den Export von Rüstungsgütern in Länder, die nicht Mitglied
der NATO und der Europäischen Union oder diesen
Ländern gleichstellt sind, weiterhin restriktiv handhaben. Die Genehmigung für eine Ausfuhr wird, wenn
überhaupt, nur nach intensiver Einzelfallprüfung erteilt
werden.
Eben diesem Verfahren unterliegen auch Entscheidungen über Rüstungsexporte in die Region des Nahen
und Mittleren Ostens. Sie werden daher nur nach sorgfältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und menschrechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen.
Deutschland hat als einer der weltweit größten Rüstungsexporteure eine besondere Verantwortung zu Zurückhaltung und Augenmaß, auch mit Blick auf eine
langfristig angelegte Sicherheitspolitik.
Im Hinblick insbesondere auf Israel möchte ich unterstreichen, dass Deutschland vor dem Hintergrund
seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für die
Existenz und Sicherheit des Staates Israel hat. Deutschland hat sich stets offen zu dieser Verantwortung bekannt. Daher ist diese deutsche Rolle auch von allen
Ländern der Region akzeptiert und bildet das Fundament für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland bei
allen Konfliktparteien genießt.
Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung schließt
ein, dass Deutschland eine enge Zusammenarbeit mit Israel auch im Verteidigungsbereich betreibt. Der Antrag
der Linken berücksichtigt in keiner Weise diese Sonderbeziehungen, die Deutschland mit dem Staat Israel
pflegt. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist schlicht unverantwortlich und nicht redlich. Insbesondere aus diesem Grund werden wir den Antrag ablehnen. Deutschland muss an seiner Verantwortung für die Sicherheit
Israels festhalten und in diesem Zusammenhang auch
den Export von Rüstungsgütern nach Israel fortsetzen.
Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel möchte
ich jedoch noch die Bemerkung machen, dass dies keine
Zu Protokoll gegebene Reden
Einbahnstraße ist. Auch Deutschland profitiert von der
Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich.
Die in Israel hergestellten Drohnen, welche die Bundeswehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des Lagebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur
Erhöhung der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet bei. Hierauf zu verzichten, wäre
rücksichtslos gegenüber der Bundeswehr.
Der Antrag der Linken behandelt ferner Aspekte der
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Nahen
Osten. Diese Problematik ist in größerem Kontext zu
analysieren. Die Überprüfungskonferenz zum nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag im vergangenen Mai war ein
elementarer Erfolg. Die Stärkung aller drei Säulen des
Vertrages - Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und
friedliche Nutzung der Kernenergie - durch das einstimmig verabschiedete Abschlussdokument ist ein wichtiger
und zukunftsweisender Schritt auf dem Weg in eine Welt
ohne Kernwaffen.
Das zentrale Vorhaben im Abschlussdokument ist die
Initiative zur Durchführung einer UN-Konferenz zur
Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone
im Nahen und Mittleren Osten. Die Bundesregierung hat
dieses Ziel begrüßt, und ich bin überzeugt, dass der Bundesaußenminister sich intensiv sowohl bilateral als auch
im Rahmen der EU dafür einsetzen und daran arbeiten
wird, dass alle Staaten in der Region an der Konferenz
teilnehmen werden.
Denn das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Zone im Nahen und Mittleren Osten kann nur durch das
konstruktive Engagement und die Mitwirkung aller
Staaten der Region - auch Israels - gelingen.
Bereits die ersten Schritte zur Realisierung einer solchen Zone können vertrauensbildende Wirkung entfalten
und so einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Abbau
von Spannungen in der Region leisten. Gerade deshalb
müssen wir uns dagegen verwahren, dass dieses wichtige Vorhaben vonseiten Irans instrumentalisiert und zur
Ablenkung von der mangelnden Einhaltung seiner nichtverbreitungspolitischen Verpflichtungen genutzt wird.
Hier gilt es wachsam zu sein und nicht auf das Taktieren
aus Teheran hereinzufallen.
Grundsätzlich befindet sich der Friedensprozess im
Nahen Osten derzeit in einer entscheidenden Phase. Der
offene Dialog zwischen Israelis und Palästinensern über
die Modalitäten einer Zweistaatenlösung sind der einzige Weg, um zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu
gelangen. Nur durch Kompromissbereitschaft auf beiden
Seiten wird ein Ende der jahrelangen Gewaltspirale zu
bewerkstelligen sein. Dieser Verhandlungsprozess erfordert von allen Beteiligten Geduld, diplomatisches
Fingerspitzengefühl und guten Willen. Jetzt geht es unmittelbar darum, nach dem Ende des israelischen Baustopps in der Westbank einen vorzeitigen Abbruch des
gerade erst aufgenommenen direkten Gesprächsfadens
zu verhindern. Hier wird Deutschland gemeinsam mit
seinen europäischen Partnern seinen Anteil zur vertrauensvollen Vermittlung leisten. Auch vor diesem Hintergrund ist der Antrag der Linken schädlich, denn er
würde die Verlässlichkeit der deutschen Politik in der
Region durch eine abrupte Kehrtwende gefährden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass Deutschland
eine verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungsexportpolitik verfolgt. Dies gilt insbesondere für den
spannungsgeladenen Nahen Osten. Im Verhältnis zu Israel verbindet uns eine vor dem Hintergrund unserer
Geschichte gewachsene Sonderbeziehung, die sich auch
auf den Sicherheitsbereich erstreckt. Diese infrage zu
stellen, wie die Linken es in ihrem Antrag vorschlagen,
wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Daher werden wir den Antrag ablehnen.
Wer Waffen in ein Spannungsgebiet liefert, zündelt an
einem brüchigen Frieden. Dass der Frieden im Nahen
Osten brüchig ist, wird niemand bestreiten. Verschiedenste Konflikte überlagern sich und bewegen sich nebeneinander und gegeneinander. Es sind Konflikte in
den Gesellschaften wie zum Beispiel in Ägypten, Jordanien, im Libanon, Iran, Irak und in vielen anderen Ländern. Zunehmend werden solche Konflikte auch in der
israelischen Gesellschaft sichtbar. Es sind auch Konflikte zwischen Staaten, und es gibt Konflikte, die aus
vergangenen Kriegen resultieren. Israel hält entgegen
allen Beschlüssen der Vereinten Nationen noch immer
palästinensische Gebiete in der Westbank und in Jerusalem besetzt, die syrischen Golanhöhen oder das Gebiet
der Shabaa-Farm, das zum Libanon gehört. Die israelische Besatzungspolitik ist ein Kern der Spannungen im
Nahen Osten.
Die Linke verfolgt eine Politik, Spannungen abzubauen und im konkreten Fall durch eine Zwei-StaatenLösung zumindest ein geregeltes Nebeneinander von
Israel und Palästina zu ermöglichen. Auch deshalb ist
unsere Forderung: keinerlei deutsche Waffenlieferungen
in den Nahen Osten und Beendigung aller Formen militärischer Zusammenarbeit mit Staaten in dieser Region!
Dazu haben wir einen Vorschlag eingebracht.
Wer Waffen liefert, das Geschäft mit dem Tod betreibt,
ist ungeeignet als Vermittler. Deutschland kann vermitteln. Deutschland könnte dazu beitragen, dass eine Vereinbarung über Sicherheit und Frieden durch Kooperation zwischen den Staaten in Nahost zustande kommt.
Unser Vorschlag für eine Konferenz über Sicherheit und
Zusammenarbeit im Nahen Osten ist nicht neu, aber er
ist richtig. Wer aber im Waffengeschäft steckt, ist untauglich, solche Vorschläge zu kommunizieren.
Israel verlangt von der Palästinensischen Autonomiebehörde, die besetzten Gebiete zu entwaffnen. Abgesehen davon, dass diese dazu gar nicht in der Lage ist,
wäre ein vernünftiger Vorschlag aus meiner Sicht, einen
Vertrag über Gewaltverzicht mit klaren Schutzregeln für
die ganze Region auf die Tagesordnung zu setzen. Darüber sollte nachgedacht und verhandelt werden. Wer
aber Waffen liefert, ist nicht glaubwürdig, wenn es um
Gewaltverzicht geht.
Ein wichtiger Beschluss der UNO-Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag aus dem Mai dieses
Zu Protokoll gegebene Reden
Jahres ist der Vorschlag zu einer Konferenz über eine
atomwaffenfreie Zone in Nahost. Die Linke will nicht,
dass der Iran und andere Staaten zu Atomwaffen greifen,
und wir wollen auch nicht, dass Israel an seinen Atomwaffen festhält. Es wäre wichtig, dass sich Deutschland
für eine solche Konferenz einsetzt. Ein von Atomwaffen
freier Naher Osten ist der Weg, auch die Konflikte mit
dem Iran zu lösen. Nicht Drohungen und Sanktionen,
sondern Verhandlungen Schritt für Schritt helfen voran.
Wie kann man aber glaubwürdig für ein anderes, nicht
militärisches Sicherheitskonzept werben, wenn man
selbst Waffen liefert bzw. Waffenlieferungen zulässt.
Warum hat die deutsche Regierung nicht längst und
ganz deutlich dem US-Präsidenten gesagt, dass das geplante Waffengeschäft mit Saudi-Arabien in Höhe von
fast 20 Milliarden Dollar Rüstung im Nahen Osten neu
ankurbeln muss?
Unser Antrag richtet sich an alle Konfliktparteien im
Nahen Osten. Oftmals wird Die Linke kritisiert, sie sei
einseitig. Ja, diese Feststellung ist richtig. Wir sind einseitig - für Frieden, für Abrüstung und für Gerechtigkeit. Wir müssen uns zum Beispiel nicht entscheiden zwischen Israel und Palästina. Wir müssen uns aber
entscheiden, Nein zu sagen, wenn vorhandene Spannungen durch immer neue Waffenlieferungen nur weiter angeheizt werden. Der Nahe Osten braucht politische Lösungen und nicht immer neue Waffenexporte.
Niemand wird bestreiten, dass der Nahe Osten durch
einen Konflikt geprägt ist, der in seiner Komplexität
kaum zu übertreffen ist. Kein anderer Konflikt strahlt in
vergleichbarer Weise politisch und religiös so weit über
die betroffene Region hinaus. Mit mehr oder weniger
Elan bemüht sich die internationale Gemeinschaft seit
Jahrzehnten um eine Verhandlungslösung. Einen nachhaltigen Erfolg konnte sie jedoch bisher nicht verzeichnen. Mauern - ob real oder in den Köpfen - verhindern
eine effektive Friedensregelung. Positiv zu bewerten ist,
dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama der
Region wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.
In Abwesenheit eines neuen strategischen Ansatzes für
die Wiederbelebung eines zielführenden Friedensprozesses ist ein Durchbruch jedoch noch nicht absehbar.
Die Linke greift in ihrem Antrag unter anderem die
wichtige Frage nach der Vertretbarkeit von Rüstungsexporten in diese Region auf. Die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung erlauben den Export von Rüstungsgütern in Länder, die weder EU- noch NATOMitglieder sind, also auch in den Nahen Osten nur, wenn
die Belange der Sicherheit, des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder der auswärtigen Beziehung nicht
gefährdet sind. Bei bewaffneten internen Auseinandersetzungen oder dem hinreichenden Verdacht, dass die
Güter für Menschenrechtsverletzungen oder innere Repression missbraucht werden, ist der Export von Rüstungsgütern jeder Art nicht genehmigungsfähig. Noch
strikter ist die Regelung für Kriegswaffen wie beispielsweise U-Boote. Derartige Exporte sind nur im Einzelfall
bei besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise
genehmigungsfähig. Wo bestehende Spannungen und
Konflikte durch den Export aufrechterhalten oder verschärft werden oder der Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen droht, dürfen solche Waffen nur im
Selbstverteidigungsfall nach Art. 51 der VN-Charta geliefert werden.
Der Libanonkrieg 2006 und der Gazakrieg 2009 haben deutlich gemacht, dass dies der Maßstab ist, der für
Exporte in den Nahen Osten angewendet werden muss.
Bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts darf
und muss sich Israel auf Deutschlands Unterstützung
verlassen können. Deutschland hat vor dem Hintergrund
seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber dem Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner
Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass Deutschland alle Forderungen der israelischen Regierung erfüllen muss. Es gibt keine historische Verpflichtung, Israel aufzurüsten. Waffen können auch destabilisierend und langfristig gewaltfördernd wirken.
Die Entscheidung über den Export von Rüstungsgütern in den Nahen Osten muss einer äußerst kritischen
Prüfung unterliegen. Voraussetzung ist dabei, dass die
Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards
für alle gleichermaßen verpflichtend ist. Der Einsatz aus
Deutschland gelieferter Rüstungsgüter in den Siedlungsgebieten oder unter Verletzung des Kriegsvölkerrechts muss ausgeschlossen werden.
Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte oder gar
staatliche Finanzierung von Kriegswaffenexporten wie
im Falle von U-Booten für Israel lehnen wir ab. Die Begründung für eine Genehmigung muss durch die Bundesregierung in jedem Einzelfall detailliert dargelegt
werden. Wichtig sind dabei transparente Entscheidungsverfahren. Wir Grünen fordern daher schon seit langem,
dass mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierung
bei der Genehmigung von Rüstungsexporten endlich
Schluss ist. Der Bundestag muss besser informiert und
eingebunden werden. Ein Widerspruchsrecht des Parlaments, wie es bereits in anderen Ländern besteht, muss
eingeführt werden.
Frieden im Nahen Osten wird nachhaltig nicht durch
militärische Mittel gewährleistet werden können. Politische Initiativen müssen darauf abzielen, die Rahmenbedingungen für eine umfassende Abrüstung der Region zu
schaffen. Ein Friedensschluss ist dafür unabdingbare
Voraussetzung. Durch positive und negative Anreize
müssen die Konfliktpartien dazu bewegt werden, zu direkten und substanziellen Friedensgesprächen zurückzukehren. Den Sicherheitsbedürfnissen der Konfliktparteien muss begegnet werden, um ihnen die gefühlte
Notwendigkeit der Entwicklung und Beschaffung neuer
tödlicherer Waffen zu nehmen.
Die Ratifizierung der Bio- und Chemiewaffenkonventionen und vor allem der Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrages für Atomwaffen durch die Länder der Region
sind wichtige Meilensteine mit dem Ziel eines atomwaffenfreien Nahen Ostens fest im Blick. Diesen Weg einzuschlagen, hatten bereits die Teilnehmer der NVV-Überprüfungskonferenz gefordert. Die Bundesregierung ist
Zu Protokoll gegebene Reden
aufgefordert, hier nun aktiv und mit Nachdruck zu unterstützen.
Der Antrag enthält viele richtige Forderungen. Wir
unterstreichen allerdings das Selbstverteidigungsrecht
Israels und unterstützen die vom Libanon und von Israel
gemeinsam gewünschte UNIFIL-Mission. Vor diesem
Hintergrund werden wir diesen Antrag in unserer Fraktion ergebnissoffen diskutieren.
Die Fraktionen schlagen die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 17/2481 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Das Plenum ist offenkundig
auch mit diesem Vorschlag einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Schließlich rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt,
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
- Drucksachen 17/1580, 17/3115 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Poland
Reiner Deutschmann
Agnes Krumwiede
Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang
Börnsen, Christoph Poland, Dr. Wolfgang Thierse, Reiner
Deutschmann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes
Krumwiede nachdenkenswerte Reden vorbereitet, die
alle im Protokoll nachgelesen werden können.
Allein der Titel des Antrages der Fraktion Die Grünen, über den wir heute beraten, unterstellt, dass das
„Parlament der Bäume“ nicht ausreichend geschützt ist.
Dies entspricht nicht der Wirklichkeit, und deshalb bedarf es gleich zu Beginn einiger wichtiger Klarstellungen.
Wir haben in den vergangenen Jahren immer - intern
und öffentlich - das große persönliche Engagement und
Verdienst von Herrn Ben Wagin und seines Lebenswerkes „Parlament der Bäume“ anerkannt. Auf dem Gelände im Regierungsviertel befinden sich Originalreste
der Berliner Mauer, um die Bäume gepflanzt wurden.
Eingravierte Namen erinnern an die Mauertoten, die
Bäume symbolisieren den Frieden. Es ist ein Mahnmal
gegen Krieg und Gewalt.
Das „Parlament der Bäume“ - und in Person Herr
Ben Wagin - leistet damit einen einzigartigen Beitrag
für unsere Erinnerungskultur, die gerade uns Christdemokraten am Herzen lag und liegt.
Sowohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als auch
die unionsgeführte Bundesregierung haben dieses Projekt stets nicht nur wohlmeinend begleitet, sondern auch
dort insgesamt unterstützt, wo es rechtlich möglich war,
allen voran unser Bundestagspräsident Norbert
Lammert, der erst im vergangenen Jahr erklärt hat, dass
diese Fläche bis mindestens 2019 geschützt ist, und der
sich auch für die Förderung dieses Platzes verwandt
hat. Wir sehen deshalb keinen aktuellen Handlungsbedarf.
Das „Parlament der Bäume“ kann sich auch unserer
finanziellen Unterstützung gewiss sein. Für die Umgestaltung des Ortes hat der Bund fast 50 000 Euro, das
Land Berlin weitere 190 000 Euro zur Verfügung gestellt. Mithilfe dieser Unterstützung konnten wichtige
Baumaßnahmen, Gartenarbeiten sowie die Einzäunung
des Areals und die Verlegung von Wasserleitungen realisiert werden. Auch das klingt nicht nach einer Gefährdung des Gedenkortes.
Es ist gerade einmal eine Woche her, da hat sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann, MdB, bei der Wiedereröffnung des Ortes wie folgt geäußert: „Mit seiner einzigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und
Hartnäckigkeit hat Ben Wagin für die Umsetzung seines
Projektes viele Mitstreiter gewonnen - so auch mich.“
Das Gelände „Parlament der Bäume“ befindet sich
auf dem Grundstück des Deutschen Bundestages. Es ist
planungsrechtlich durch den Bezirk Mitte von Berlin für
Erweiterungsbauten des Deutschen Bundestages ausgewiesen.
Die zuständige Kommission des Ältestenrates des
Deutschen Bundestages für Raumangelegenheiten hat
im April 2003 einstimmig - also mit den Stimmen aller
Fraktionen, das heißt der Fraktionen von SPD, CDU/
CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP - folgenden Beschluss gefasst:
Die Raumkommission hält daran fest, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für
Zwecke des Deutschen Bundestags ausgewiesen
wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung der Baukommission vom
12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer
Zeit nicht gefährdet ist.
Dieser einstimmige Beschluss erfolgte auf Vorschlag
der damaligen Vorsitzenden der Kommission, der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Mitglied der antragstellenden Fraktion Die Grünen.
Dieser Beschluss hat offensichtlich für die heutige
Fraktion Die Grünen keine Gültigkeit mehr, für uns, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schon.
Warum werden die gewichtigen Gründe, die
Irmingard Schewe-Gerigk damals leiteten, heute von
derselben Partei vom Tisch gewischt?
Auch der derzeitige Vorsitzende der Kommission, der
SPD-Kollege Wolfgang Thierse, hat verlauten lassen,
dass es derzeit keiner neuen Beschlussfassung bedürfe.
Wolfgang Börnsen ({0})
Daher ist dieser Beschluss für uns bindend, solange kein
anderer Beschluss gefasst wird.
Man mag gefühlsmäßig und aus Kunstneigung für
das Projekt sein - alles zugestanden -, aber die Kultur
befindet sich wie alle Politikfelder nicht in einem rechtsfreien Raum. Gerade als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages haben wir eine Vorbildverantwortung für
rechtsklares Handeln.
Es gibt aktuell auch keinerlei Anlass zu der Befürchtung, dass etwaige Bebauungspläne des Bundes den Gedenkort gefährden. Ganz im Gegenteil: In der Antwort
auf die Anfrage der Grünen vom 23. September 2010
stellt der Bund aktuell klar - so wörtlich -: „Derzeit
werden keine Veräußerungsflächen für die benannte
Fläche angestellt.“
Nicht nur der Bund steht bei diesem Projekt in der
Verantwortung und Pflicht, sondern auch das Land Berlin. Der Berliner Senat hat das „Parlament der Bäume“
bisher nicht unter Denkmalschutz gestellt. Nach deren
Einschätzung ist das „Parlament der Bäume“ ein entwicklungsoffenes, sich stets veränderndes Kunstensemble.
Allein aus Respekt vor der Verfassungsentscheidung,
dass die Kompetenz im Bereich Denkmalschutz bei den
Ländern liegt, kann und wird der Bund hier nicht aktiv
werden.
Ich fasse zusammen: Diese Klarstellungen führen aus
unserer Sicht hoffentlich dazu, dass über die Zukunft des
Gedenkortes „Parlament der Bäume“ objektiver und
differenzierter diskutiert und berichtet wird. Dazu gehört auch gegenseitiger Respekt. Niemand von uns lässt
sich gern als „Trillerpfeife“ bezeichnen, wie es unlängst
Herr Wagin getan hat. Dafür nehmen wir - da spreche
ich sicher für alle Kollegen und Kolleginnen hier im Hohen Haus - unsere Aufgabe und unsere Mehrheitsbeschlüsse viel zu ernst. Was die Kunst- und Kulturförderung der Bundesregierung angeht, belegen allein die
Haushaltszahlen für 2011, dass hier sehr wohl Verantwortung wahrgenommen wird.
Wir sind daher für eine sachliche Debatte und stimmen der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses
zu.
Das „Parlament der Bäume“ wurde von Ben Wagin
in der Wendezeit 1989/1990, genauer am 9. November
1990, gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm
ins Leben gerufen, anlässlich der ersten Plenardebatte
des wiedervereinigten Bundestages. Auf dem Gelände
lagern sowohl 58 originale Mauersegmente als auch
Steinplatten mit den Namen von 258 der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze von 1948 bis
1989 getötet wurden. Damit ist es nach der East-SideGallery das längste Mauerstück an originaler Stelle. Es
ist aber auch der einzige Gedenkort im Regierungsviertel, der authentisch an die deutsche Teilung und die
Mauertoten erinnert. So findet sich auf einer Fläche von
1 450 Quadratmetern ein Mahnmal, das eine Installation aus Bäumen, ehemaligen Grenzanlagen, Gedenksteinen, Sachzeugnissen, Bildern und Texten ist. Es
handelt sich um Umwelt- oder Aktionskunst, die das Verhältnis der Menschen zur Natur thematisiert. Darin
spiegelt sich die künstlerische Arbeit von Ben Wagin wider, die seine Arbeit seit Jahrzehnten prägt. Ben Wagin
feierte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag und engagiert sich bereits seit 20 Jahren für dieses Projekt. Wir
möchten ihm an dieser Stelle in Anbetracht seiner langjährigen Verdienste danken.
Das „Parlament der Bäume“ befindet sich auf einer
Fläche, die im Bebauungsplan als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des Bundestages ausgewiesen ist.
Aufgrund des notwendig gewordenen Neubaus des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, wurde das „Parlament
der Bäume“ geringfügig verkleinert und einige der
Bäume wurden umgesetzt. Ziel der Grünen ist es, das
bundeseigene Grundstück des „Parlaments der Bäume“
aus der Bauvorhabenplanung des Bundes herauszunehmen und den Gedenkort zum Kulturdenkmal zu erklären.
Sollte das „Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz gestellt werden, hat dies Einschränkungen der
Bebauungsmöglichkeiten des Grundstücks zur Folge.
Das Anliegen Ben Wagins kann man durchaus nachvollziehen, aber die sich daraus ergebenden Einschränkungen für den Bund bei einem Filetgrundstück in der Mitte
Berlins sind ebenfalls zu berücksichtigen.
Auf jeden Fall genießt das Denkmal auf zehn Jahre
Bestandsschutz. Zu erwähnen ist ebenfalls: Der Bund
kümmert sich schon um die Anlage. Im November 2009
gab der Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, die Zusage, mit 49 500 Euro die
Komplementärfinanzierung für die bauliche Unterhaltung des „Parlaments der Bäume“ zu sichern. Aus diesen Mitteln konnten Toranlage, Heckeneinfriedung, Beleuchtung, Wasseranschluss und Bodenmodellierung für
das Denkmal am historischen Ort finanziert werden.
Weitere 190 000 Euro wurden von Berlin über die
Lottostiftung mitgetragen. Entsprechend hat 2008
Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, versichert, dass der Bund die Zugänglichkeit zum
„Parlament der Bäume“ sicherstellen und die Anlage
gärtnerisch pflegen wird.
Deswegen halte ich abschließend fest: In der Sitzung
der Kommission des Ältestenrates für die Raumverteilung vom 2. April 2003 ist festgelegt worden, dass das
Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament
der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des
Deutschen Bundestages ausgewiesen wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung
der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist.
Vor einer Woche wurde das „Parlament der Bäume
gegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin feierlich wiedereröffnet, nachdem es mit Geldern der Stiftung Klassenlotterie und des BKM umgestaltet wurde. Ben Wagin
hat 1990 Mauerteile gesichert, Bäume gepflanzt und damit auf dem ehemaligen Grenzstreifen ein ErinnerungsZu Protokoll gegebene Reden
zeichen gegen Krieg und Gewalt geschaffen. Dafür gilt
ihm Dank und Respekt. Für sein großes Engagement hat
Ben Wagin den Verdienstorden des Landes Berlin erhalten.
Der Bundestag hat das Werk Ben Wagins für weitere
zehn Jahre gesichert. Ziel des Antrags der Grünen ist es
jetzt, das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ dauerhaft zu sichern und es unter Denkmalschutz
zu stellen. So sehr ich das Anliegen nachvollziehen
kann, bin ich skeptisch, ob das „Parlament der Bäume“
als Erinnerungsort durch Denkmalschutz dauerhaft gesichert werden sollte. Warum? Aus meiner Sicht ist nicht
ganz klar, was das „Parlament der Bäume gegen Krieg
und Gewalt“ eigentlich sein will und als was es dauerhaft geschützt werden soll. Ist es ein Kunstwerk oder ein
Gedenkort? Erinnert es an die Mauer und die Mauertoten oder an die Opfer von Krieg und Gewalt? Für beide
Anliegen gibt es in unmittelbarer Nähe weitere Gedenkorte. An Opfer von Krieg und Gewalt wird mit der Neuen
Wache gedacht, der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Außerdem gibt es das Holocaust-Mahnmal, das Homosexuellen-Mahnmal und das Mahnmal
für die ermordeten Sinti und Roma.
Ebenso viele Mauergedenkstätten gibt es in der Nähe.
Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ist ein Teil des Denkmals von Ban Wagin integriert. Das Mauermuseum am
Checkpoint Charly ist nicht weit. Im U-Bahnhof Brandenburger Tor gibt es eine Erinnerungsstätte. Demnächst
wird im „Tränenpalast“ vom Haus der Geschichte eine
Ausstellung zu Teilung und Grenze im Alltag der DDR
errichtet. In der Bernauer Straße befindet sich die zentrale Mauergedenkstätte. Hier ist der Schrecken der
Mauer am ehesten erfahrbar, weil ein langer Teil des Todesstreifens sichtbar ist, und hier wird darüber informiert, was die Mauer im Leben der Menschen bedeutete,
was es hieß, in einer geteilten Stadt zu leben.
Es ist nicht einfach, für ein Denkmal eine passende
Sprache, eine passende Gestalt zu finden. Das zeigen die
vielen künstlerischen Wettbewerbe zur Gestaltung von
Denkmälern und die Debatten darum. Ich denke dabei
an das Holocaust-Mahnmal oder erst kürzlich an das
Freiheit- und Einheitsdenkmal. Hier war der erste Wettbewerb gescheitert, weil die Aufgabe - gleichzeitig an
die deutsche Freiheitsgeschichte und an die friedliche
Revolution von 1989 zu erinnern - eine außerordentliche Herausforderung ist.
Beim „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ hat es keinen Wettbewerb gegeben. Ich vermute,
dieser wäre auch gescheitert, denn die Aufgabe, sowohl
an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern als auch
an den Mauerfall, ist eine ebenso große Herausforderung. Das Mahnmal befindet sich zwar an einem authentischen Ort und besteht teilweise aus historischen Teilen,
aber das Denkmal selbst ist nicht authentisch. Die Bemalung der Mauerteile ist nicht historisch, sie wurde
von Künstlern gestaltet. Die Zusammenstellung der
Mauerteile mit anderen Elementen des Grenzstreifens
entspricht nicht der Geschichte - für Besucher aber entsteht der Eindruck, dass so der Grenzstreifen ausgesehen hat. Der ist, erheblich authentischer, in der Bernauer Straße nachgezeichnet.
Aus diesen Gründen bin ich skeptisch, ob das Kunstwerk von Ben Wagin unter Denkmalschutz gestellt werden sollte. Deshalb hat sich die SPD bei der Abstimmung
im Kulturausschuss der Stimme enthalten. Nichtsdestotrotz gilt dem Engagement von Ben Wagin und seiner unermüdlichen Ausdauer, mit der er sich für seinen Erinnerungsort einsetzt und ihn pflegt, meine Hochachtung.
Als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission muss
ich aber auch auf die Interessen des Bundestages hinweisen. Die Fläche befindet sich im Eigentum des Bundes und wird freigehalten für einen Erweiterungsbau.
Solange nicht gebaut wird, kann das „Parlament der
Bäume“ weiter dort bleiben. Es ist ja für mindestens
zehn weitere Jahre gesichert - aber es ist eben kein authentisches Denkmal, das für immer gesichert werden
muss.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands
sind die Spuren von über 40 Jahren deutscher Teilung
kaum noch zu erkennen. Der Todesstreifen, der sich wie
eine menschenverachtende Narbe durch unser Land gezogen hat, ist inzwischen zu Europas längstem Grünstreifen geworden. In Berlin, der Stadt der Teilung, kann
man die Mauer nur noch sehen, wenn man genau weiß,
wo man suchen muss. Man findet sie zwar als Markierung auf Straßen und Gehwegen, doch nur wenige Mauerreste sind noch am Originalschauplatz zu besichtigen:
so zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer in
der Bernauer Straße, in der Nähe der Topographie des
Terrors in der Niederkirchnerstraße oder an der Eastsidegallery in Berlin-Friedrichshain.
Zu den wenigen Orten mit Mauerresten gehört aber
auch „Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ im Berliner Regierungsviertel. Ben Wagin hat dieses beindruckende Kunstwerk unter Einbeziehung der
Mauer Anfang der 90er-Jahre geschaffen. Ohne sein Engagement wäre vielleicht auch dieses Stück Berliner
Mauer nicht mehr existent. Ben Wagin erinnert mit seinem Projekt an die Mauertoten und mahnt zugleich zum
Frieden, versinnbildlicht durch verschiedene Baumarten. Zu Recht kann man hier vom Lebenswerk Wagins
sprechen, der weltweit über 50 000 Bäume gepflanzt
bzw. dazu angeregt hat.
Leider musste das „Parlament der Bäume“ für einen
Erweiterungsbau des Deutschen Bundestages bereits
einmal verkleinert werden. Dies geschah unter Einbeziehung und mit Zustimmung Ben Wagins. Damals wurde
deutlich gemacht, dass eine nochmalige Verkleinerung
des Projekts nicht in Betracht zu ziehen ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrücklich das Parlament der Bäume und wird sich für dessen
Weiterbestand einsetzen.
Der vergangene Woche nach der Umgestaltung wiedereröffnete Park ist einzigartig in Deutschland und womöglich in Europa. Dass sich dieses Kunstwerk in unmittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag
Zu Protokoll gegebene Reden
befindet, macht seinen ganz besonderen Reiz aus und
schafft eine gute Erreichbarkeit auch für Besucher der
Bundeshauptstadt, die zuvor zum Beispiel das Reichstagsgebäude besucht haben. Der Bund hat ein deutliches
Zeichen für den Erhalt dieses Ensembles gesetzt, indem
er den Umbau mit knapp 50 000 Euro gefördert hat.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum „Parlament der Bäume“ beschreibt die Wichtigkeit und Einmaligkeit des Werkes von Wagin zutreffend. Inhaltlich ist
dem Antrag nicht zu widersprechen. Er hat meine volle
Sympathie. Allerdings halten wir Liberale die Denkmalschutzforderung derzeit für nicht notwendig. Auch wenn
das Grundstück dem Deutschen Bundestag gehört und
dieser rein theoretisch dort kraft eines Bebauungsplanes
Gebäude errichten könnte, hat doch die Bau- und Raumkommission des Deutschen Bundestages mit Beschluss
vom April 2003 ganz deutlich gemacht, dass das Kunstwerk auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist, da der Deutsche Bundestag keine Pläne habe, das Grundstück für
eine bauliche Verwendung freizugeben. Dieser Beschluss ist immer noch gültig.
Der Deutsche Bundestag hat keine Einwände gegen
die Nutzung des Areals für das „Parlament der Bäume“,
übernimmt vielmehr sogar im Rahmen der Möglichkeiten die Pflegearbeiten des Grundstückes.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird darauf achten,
dass dieser Beschluss weiterhin gültig bleibt und dass
auch in Zukunft von einer Bebauung abgesehen wird.
Positiv ist zu werten, dass die Stiftung Berliner Mauer
ihre Bereitschaft erklärt hat, ab 2011 eine Patenschaft
für das Kunstwerk Wagins zu übernehmen. Die FDPBundestagsfraktion begrüßt dieses Engagement ausdrücklich, verfügt die Stiftung doch schon über eine besondere Expertise in Angelegenheiten der Pflege und
Bewahrung von Mauerresten, wie sie eindrucksvoll an
der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße
unter Beweis stellt. Damit ist das „Parlament der
Bäume“ sicherlich in guter Betreuung.
Bei aller Sympathie für den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen wird die FDP-Bundestagsfraktion wegen
der derzeit gesicherten Rechtslage und den Zusicherungen des Deutschen Bundestages den Antrag ablehnen.
Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Ein Baum, der fällt,
macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.“ Wir sorgen dafür, dass die Bäume weiter in Ruhe gedeihen können. Lärm gibt es im politischen Berlin schon genug.
Am 30. September ist das in Berlin einmalige Denkmal „Parlament der Bäume“ in neuer Gestaltung wiedereröffnet worden.
Der von Ben Wagin auf einem Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer mit Bildern, Skulpturen, einem Baumhain und Steinplatten entlang des ehemaligen Patrouillenweges angelegte Ort der Erinnerung
gedenkt deutscher und sowjetischer Soldaten des Zweiten Weltkrieges und Menschen, die an der innerdeutschen Grenze getötet wurden.
Das „Parlament der Bäume“ ist „ein Kunstwerk am
authentischen Ort, einzigartig in der Haltung gegen
Krieg und Gewalt“, wie es in der Begründung des vorliegenden Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
so richtig heißt.
Bei der feierlichen Wiedereröffnung hat Staatsminister Neumann viele Worte des Lobes gefunden, und es
wäre mehr als passend gewesen, wenn er - dem vorliegenden Antrag entsprechend - dem Gedenkort auf dem
Grundstück des Bundestages eine Sicherstellung für die
Zukunft hätte garantieren können; denn diese Sicherstellung gibt es nicht.
Aus dem Jahr 2003 stammt ein Beschluss der Bauund Raumkommission des Ältestenrates, dass das Kunstwerk „auf absehbare Zeit“ nicht gefährdet ist. Das ist
sieben Jahre her. Was heißt heute „absehbare Zeit“?
Und wenn dieser Beschluss heute noch so gilt wie vor
sieben Jahren, dann kann man doch ohne Schwierigkeit
jetzt einem Gesetzesantrag zustimmen, der das „Parlament der Bäume“ von jeglicher Bebauung in Zukunft
freihält.
Aber: Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP verweigern sich dem Anliegen. Im Frühjahr sollte ein fraktionsübergreifender Gruppenantrag das „Parlament der
Bäume“ schützen. Dieser Plan wiederum scheiterte an
der SPD, die sich nun auch bei der ersten Abstimmung
über den vorliegenden Antrag im Kulturausschuss enthalten hat - während ein Tag später der Berliner SPDKulturstaatssekretär André Schmitz öffentlich das Projekt enthusiastisch feierte.
Das alles verstehe, wer will. Das „Parlament der
Bäume“ muss für alle Zukunft gesichert und geschützt
sein. Es müssten geregelte Besuchszeiten für dieses einmalige Denkmal organisiert werden. Zurzeit kann es nur
besucht werden, wenn der Künstler selbst oder ehrenamtliche Helfer anwesend sind. Ein Unding für solch einen historischen Gedenkort.
Die Fraktion Die Linke unterstützte den Antrag der
Grünen, das „Parlament der Bäume“ dauerhaft zu
schützen, jedenfalls von Anfang an und tut das auch
heute.
Als Theaterstück inszeniert, wäre die jüngste Geschichte um Ben Wagins „Parlament der Bäume“ eine
entlarvende Satire auf den schwarz-gelben Regierungsstil. In der Realität gibt es Buhrufe für diese schlechte
Daily-Soap live aus dem Deutschen Bundestag: Es ist
ein politisches Trauerspiel.
Letzte Woche haben die Vertreter der Koalitionsfraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien einstimmig
gegen unseren Antrag zur dauerhaften Unterschutzstellung des „Parlaments der Bäume“ votiert. Unser Antrag
enthielt die Forderungen, das „Parlament der Bäume“
durch eine entsprechende Bauleitplanung zu schützen
und die Aufnahme als Kulturdenkmal in die Landesdenkmalliste Berlin anzuregen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Einen Tag später fanden die Feierlichkeiten zur Neugestaltung des „Parlaments der Bäume“ statt. Die Entscheidung der Koalition vom Tag zuvor gegen einen
dauerhaften Erhalt des Kunstwerks schien vergessen:
Vor den Vertretern der Presse und in Anwesenheit Ben
Wagins würdigte Kulturstaatsminister Neumann salbungsvoll die Arbeit des Künstlers. Am selben Tag erklärte der Kulturstaatsminister, dessen Parteifreunde
24 Stunden zuvor den dauerhaften Schutz des „Parlaments der Bäume“ abgelehnt hatten, in einer Pressemitteilung: „Für die Umsetzung seines Projekts gewinnt
Ben Wagin mit seiner einzigartigen Mischung aus
Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit - so auch
mich.“ Eine Würdigung in Worten allein wird jedoch
nichts zum dauerhaften Schutz des „Parlaments der
Bäume“ beitragen. Oder, um es mit Ben Wagins Worten
zu sagen: „Die schwingen immer alle nur große Reden,
aber wenn es drauf ankommt, kneifen sie.“
Es sind nicht schöne Worte, sondern unsere Handlungen, die Veränderungen bewirken. 1990 war der
Aktionskünstler Ben Wagin einer, der durch sein Handeln das heutige „Filetstück“ beim Elisabeth-LüdersHaus künstlerisch verändert hat. Trotz der Euphorie
über die Deutsche Wiedervereinigung setzte er sich gegen den Abriss dieses Mauerstücks ein und bewahrte damit einen im Regierungsviertel einzigartigen Erinnerungsort deutscher Geschichte.
In der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich
für das Niemandsland des Grenzstreifens keiner verantwortlich fühlte, entstand gegenüber dem Reichstag am
Schiffbauerdamm das „Parlament der Bäume gegen
Krieg und Gewalt“. Hier verwandelte Ben Wagin ein
Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer
zu einem „Erinnerungsgarten“. Es entstand eine kreative Geschichtsoase aus Bildern, Skulpturen, einem
Baumhain und Steinplatten mit den eingravierten Namen der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen
Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden.
Außerdem hält das „Parlament der Bäume“ den Tod
Tausender Soldaten in Erinnerung, die am Ende des
Zweiten Weltkriegs bei der Erstürmung des Reichstags
von einer SS-Einheit hinterrücks erschossen wurden. In
der Nachkriegszeit wurden hier Kartoffeln angebaut.
Den einzig übrig gebliebenen Baum, eine Eiche, will
Ben Wagin unter Denkmalschutz stellen.
Ben Wagins Werk ist ein Beispiel für die friedvolle
Macht der Kunst, die länger währt als Diktaturen. Das
Kunstwerk ist an seinem authentischen Ort einzigartig
in der Haltung gegen die Trennung der Stadtteile und ein
Mahnmal gegen Krieg und Gewalt und auch ein Mahnmal gegen die Mauern in unseren Köpfen. Das „Parlament der Bäume“ ist eine künstlerische Erinnerungsstätte gegen das Vergessen.
Trotz des Zuspruchs, den Ben Wagin und sein Werk
seit seiner Entstehung erfahren, ist das „Parlament der
Bäume“ dauerhaft in seiner Existenz bedroht. 2001
mussten von ursprünglich 400 gepflanzten Bäumen
300 für neu entstandene Bundesgebäude weichen; denn
das Kunstwerk befindet sich auf Baugrund des Bundes.
Seit Jahren kämpft Ben Wagin dafür, solche Eingriffe
in sein Werk für die Zukunft auszuschließen - bislang
ohne Erfolg.
Zu Ben Wagnis 80. Geburtstag im März dieses Jahres
häuften sich die Lippenbekenntnisse von Politikern, das
„Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz stellen zu
wollen. Sogar ein Gruppenantrag aller im Bundestag
vertretenen Parteien war geplant. Viel Lärm um nichts:
Das Zustandekommen des Gruppenantrags scheiterte
an den Mehrheiten aus Reihen der CDU/CSU und der
SPD.
Wenn es um die verbindliche Zusage zur dauerhaften
Unterschutzstellung des Kunstwerkes geht, kneifen die
verantwortlichen Politiker. Das hat die schwarz-gelbe
Koalition erst letzte Woche mit der Ablehnung unseres
Antrags im Kulturausschuss demonstriert. Auch anlässlich des 20. Jahrestages der deutschen Einheit wird es
folglich keinen Denkmalschutz für das „Parlament der
Bäume“ geben.
Das „Parlament der Bäume“ darf keine Baulandreserve und kein „Gedenkort auf Zeit“ bleiben. Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, das Grundstück, auf welchem sich das „Parlament der Bäume“
befindet, in Zukunft von der Bauleitplanung auszunehmen und Ben Wagins „Parlament der Bäume“ unter
Denkmalschutz zu stellen. Mündliche Versprechungen
zur Unterschutzstellung des Kunstwerkes bis 2018 reichen uns nicht. Das „Parlament der Bäume“ muss als
Erinnerungsstätte für nachfolgende Generationen erhalten bleiben. Dafür ist eine verbindliche schriftliche
Zusage vonseiten der Regierung notwendig.
Andernfalls schweben die Baukräne des Bundes wie
ein Damoklesschwert über Ben Wagins „Parlament der
Bäume“.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 17/3115. Bevor ich darüber abstimmen
lasse, weise ich darauf hin, dass es eine Erklärung nach
§ 31 der Geschäftsordnung der beiden Kolleginnen Petra
Merkel und Monika Grütters zu diesem Tagesordnungspunkt gibt.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1580. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern
- Drucksache 17/3202 Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Manfred Grund, Franz Thönnes, Michael Link, Sevim
Dağdelen und Viola von Cramon-Taubadel haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3202
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
1) Anlage 9
vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Oktober 2010,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen gemütlichen Abend.