Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nach Ablauf der dafür
in der Geschäftsordnung vorgesehenen Fristen einen Antrag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung um eine
vereinbarte Debatte oder hilfsweise um eine Aktuelle
Stunde zu den Demonstrationen in Stuttgart gestellt.
Der Erweiterungsantrag kann daher nur unter Abweichung von der Geschäftsordnung gemäß § 126 mit
Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.
Wer wünscht das Wort zur Geschäftsordnung? - Bitte
schön, Frau Haßelmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit gestern am späten Nachmittag und am
Abend muss den meisten Menschen klar sein, dass die
Auseinandersetzung um Stuttgart 21 absolut eskaliert.
({0})
Es gibt Hunderte Verletzte, darunter Jugendliche und ältere Menschen. Lesen Sie die heutigen Zeitungen! Dort
finden sich Überschriften wie: „CDU zielt auf die
Mitte.“ - Deshalb überdenken Sie bitte einmal Ihre Empörung.
({1})
Es handelt sich bei den Verletzten um ganz normale
Menschen; das konnten Sie alle gestern in den Medien
sehen. Die Lage vor Ort spitzt sich absolut zu. Es gibt
anscheinend überhaupt keine Ebene mehr, auf der man
miteinander reden könnte, weder in Stuttgart vor Ort
noch auf der Landesebene in Baden-Württemberg.
Es ist noch nicht lange her, da haben wir hier und in
der Öffentlichkeit mit Joachim Gauck einen interessanten Diskurs über die Einmischung und Teilhabe von
Menschen, über das Stärken der Demokratie und den
Einsatz und das Engagement der Menschen für ihr Gemeinwesen gesprochen. In diesem Zusammenhang hat
Joachim Gauck von Sprachstörungen zwischen Regierenden und Regierten gesprochen. Sehen Sie sich vor
dem Hintergrund dieser Aussagen die Lage in Stuttgart
an. Ich finde, wir hier im Deutschen Bundestag müssen
uns mit dieser Situation beschäftigen.
({2})
Es reicht nicht aus, zu sagen, das sei ein Thema in
Stuttgart und Baden-Württemberg. Wir hier im Bundestag sind Teil dieser Debatte. Der Bund gibt Geld für das
Projekt Stuttgart 21, ohne das dieses Projekt nicht realisiert werden könnte. Die Deutsche Bahn AG, für die das
Parlament die Mitverantwortung trägt, hat Verantwortung für die Planung dieses Projekts. Nicht zuletzt hat
die Kanzlerin bei der Einbringung des Haushalts
Stuttgart 21 hier in diesem Parlament zum Thema gemacht, als sie sagte, die Landtagswahl in BadenWürttemberg sei die Abstimmung über das Projekt
Stuttgart 21.
({3})
Das sind mindestens drei Gründe, die uns verpflichten,
nicht länger wegzugucken und hier im Parlament die Debatte über Stuttgart 21 und die Frage zu führen, welche
Wirkungen dies für unser Gemeinwesen hat.
({4})
Über den Polizeieinsatz, den unmittelbaren Zwang
wird noch an geeigneter Stelle zu reden sein. Meinen Sie
eigentlich Ihren Hinweis ernst, die Polizei habe so handeln müssen und was 14-Jährige überhaupt auf Demonstrationen machen würden? Gestern hörte ich gar das Argument, es handele sich nicht um eine genehmigte
Demonstration. Meine Damen und Herren, in diesem
Land muss man Demonstrationen nicht genehmigen lassen.
({5})
Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist.
Redetext
Das alles zeigt doch: So ist dieses Projekt nicht durchzusetzen. Man hat doch das Gefühl, es gehe nach dem
Motto: Augen zu und durch. Das wird so nicht gehen,
wenn man die Bilder der letzten Nacht gesehen hat. Deshalb müssen wir auch hier eine Debatte darüber führen,
welchen Beitrag der Deutsche Bundestag leisten kann,
um die völlig eskalierte Situation in Stuttgart zu befrieden. Es geht jetzt doch darum, die Frage des Miteinanderredens, die Frage, wie man zu einer befriedeten Situation kommen kann, auch in diesem Haus zu erörtern und
hier seine Verantwortung wahrzunehmen. Deshalb haben wir den Geschäftsordnungsantrag gestellt. Wir
möchten, dass Sie diese Debatte mit uns in Verantwortung für die Zivilgesellschaft führen, in Verantwortung
für das Gemeinwesen. Kommen Sie da nicht mit irgendwelchen Sprüchen, man müsse nicht auf solche Demonstrationen gehen!
({6})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat jetzt der Kollege
Peter Altmaier von der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zunächst einmal von dieser Stelle
aus im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - und
ich denke, ich spreche für das ganze Haus - allen, die im
Laufe des gestrigen Tages und der heutigen Nacht verletzt worden sind,
({0})
Genesungswünsche aussprechen. Das gilt für die Demonstranten, es gilt für Unbeteiligte, und es gilt ausdrücklich auch für die Polizistinnen und Polizisten, die
dort ihren Dienst tun und für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie kämpfen.
({1})
Herr Kollege Trittin, der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ist durchsichtig, er ist taktisch, und er ist vor allen Dingen politisch schädlich.
({2})
- Hören Sie bitte genau zu. - Wir lehnen ihn insbesondere aus drei Gründen ab:
Erstens. Die Geschäftsordnung dieses Hauses, die wir
gemeinsam beschlossen haben, sieht vor, dass Änderungen der Tagesordnung dem Präsidenten am Vortag bis
18 Uhr vorzulegen sind. Die ersten Meldungen über die
Ereignisse in Stuttgart liefen gestern am frühen Nachmittag über den Ticker.
({3})
Der Kollege Beck fand dann immerhin Zeit, gegenüber
der Presse zu erklären, der Polizeieinsatz sei unverhältnismäßig.
({4})
- Ich komme darauf zurück. - Ihren Antrag haben wir
gestern um 20.44 Uhr bekommen, mehr als zweieinhalb
Stunden nach Fristablauf. Meine Damen und Herren, wir
sind hilfreich, edel und gut; aber wir sind nicht dafür da,
offensichtliches Organisationsversagen der Fraktionsund Parteiführung der Grünen zu kaschieren
({5})
und Ihnen dabei zu helfen, Ihre parteitaktisch motivierten Ziele durchzusetzen.
({6})
Zweitens. Wir sind ein föderales Land. Das Grundgesetz kennt eine klare Ordnung von Zuständigkeiten, was
nichts darüber aussagt, wie wichtig eine Materie ist; aber
es ist geregelt, ob Bund oder Land für etwas zuständig
ist. Das, was Sie als Thema in Ihrem Antrag bezeichnen,
nämlich die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der
Polizei, ist in allererster Linie eine Landeszuständigkeit.
Das schließt nicht aus, dass man darüber auch auf Bundesebene diskutiert.
({7})
Aber es ist für uns eine Frage des demokratischen Respekts, dass wir zunächst dem gewählten Landtag von
Baden-Württemberg Gelegenheit geben,
({8})
sich mit dieser Frage zu beschäftigen, und dass wir die
Dinge nicht gleich zu uns auf die Bundesebene ziehen.
({9})
Drittens; das ist für meine Kollegen und mich das entscheidende Argument. Ich habe mich schon gewundert,
als ich heute Morgen im Tagesspiegel gelesen habe - er ist
immerhin ein paar Stunden vorher gedruckt worden -, der
Parlamentarische Geschäftsführer Volker Beck habe gestern von einem unverhältnismäßigen Polizeieinsatz gesprochen.
({10})
Ich war gestern über weite Strecken mit dem Kollegen
Beck zusammen: bei einer Fernsehdiskussion, im Ältestenrat und bei anderen Gelegenheiten. Ich wundere
mich, wie der Kollege Beck über eine Entfernung von
700 Kilometer Luftlinie durch Inhalation von Agenturmeldungen feststellen kann, ob der Polizeieinsatz verhältnismäßig war oder nicht. Das ist eine unverantwortliche Zuspitzung der Situation, und da machen wir nicht
mit.
({11})
Wir sind nicht bereit, ohne Kenntnis der Fakten, die
uns eine seriöse und angemessene Auseinandersetzung
mit dieser Thematik erlauben,
({12})
eine Debatte zu führen, die vor dem Hintergrund der
Umstände dazu beitragen wird, dass die Situation nicht
deeskaliert, sondern eskaliert.
({13})
Wir wollen nicht, dass diese Debatte mit Vorverurteilungen und Verdächtigungen geführt wird, weil Sie die
Dinge durch eine parteipolitisch gefärbte Brille sehen
und ein bestimmtes Ergebnis voraussetzen, ganz egal,
wie die Abläufe vor Ort waren.
({14})
Wir werden alles dafür tun, dass das Demonstrationsrecht geschützt wird, auch im Zusammenhang mit
Stuttgart 21. Aber wir werden uns auch dafür einsetzen,
dass die rechtsstaatlichen Verfahren respektiert werden
und dass das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt
wird. Wir werden keine rechtsfreien Räume dulden, weder in Stuttgart noch anderswo. Darüber lasst uns gemeinsam streiten.
({15})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Christian Lange.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind erschüttert über die Nachrichten und
Bilder, die uns gestern und heute aus Stuttgart erreicht
haben, erschüttert über die Eskalation der Gewalt. Uns
zeigt dies: Stuttgart 21 kann man nicht mit Gewalt
durchknüppeln.
({0})
Herr Kollege Altmaier, im Hinblick auf das Thema
„staatliches Gewaltmonopol“ habe ich zur Kenntnis genommen, dass das Landesinnenministerium gestern
Abend, um 22.56 Uhr, eine Meldung über Steinewerfer
zurückziehen musste, weil die Demonstrationen friedlich verlaufen sind. Bitte, nehmen Sie auch das zur
Kenntnis. Das ist die Wirklichkeit in Stuttgart.
({1})
Die Frage ist nun: Wie entkommen wir einer Spirale
der Gewalt und einer Spirale der Sprachlosigkeit? Die
SPD Baden-Württemberg hat dazu einen Vorschlag gemacht: Eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist der
einzige verbliebene Weg, aus der Eskalation herauszukommen. Ich fordere deshalb CDU und FDP im Landtag
auf, diesen Weg endlich freizumachen.
({2})
Es gibt natürlich immer eine Alternative im Leben, zumal die Bahn eine Baugenehmigung hat und Stuttgart 21
durchprozessiert ist. Die Alternative zur Volksabstimmung heißt: Augen zu und durch. Dafür hat sich Herr
Mappus entschieden, und deshalb trägt er die politische
Verantwortung für die Eskalation des Konflikts.
({3})
Mir tun die Polizisten leid, auf deren Rücken diese
Rambopolitik ausgetragen wird.
({4})
Wenn man die Bilder - wir alle haben sie im Fernsehen
zur Kenntnis genommen - insbesondere von verletzten
Schülern und älteren Damen sieht, dann frage ich mich,
ob Landesinnenminister Rech seiner Aufgabe gewachsen ist. Ich meine, er sollte besser zurücktreten.
({5})
Wir alle hier im Bundestag müssen uns fragen: Wie
gehen wir eigentlich mit Menschen um, von denen viele
das erste Mal ihre politische Stimme erheben? Unsere
Aufgabe muss es doch sein,
({6})
sie für die repräsentative parlamentarische Demokratie
zu gewinnen, egal wie wir zum Projekt selbst stehen.
({7})
Deshalb frage ich mich: Wo war der Ministerpräsident?
Wo war der Oberbürgermeister? Wo war die Gesprächsbereitschaft der Demokraten? Deshalb gehört dieses
Thema in den Deutschen Bundestag.
({8})
Ich prophezeie: Die Landesregierung wird scheitern,
wenn sie das Bauprojekt mit aller Gewalt gegen die Bürger durchdrücken will. Der Bundestag ist der Ort, über
die Rolle der Bahn zu sprechen. Deshalb darf es keine
Denk- und Sprechverbote geben; genau diese Denk- und
Sprechverbote haben uns nämlich dahin geführt, wo wir
heute sind.
({9})
Christian Lange ({10})
Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Aufsetzungsantrag zustimmen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Jörg van Essen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dieser platten Wahlkampfrede des Kollegen Lange
({0})
werde ich mir vier kurze Bemerkungen zur Geschäftsordnung erlauben.
Die erste Bemerkung: In meinem früheren Leben als
Staatsanwalt war ich sehr oft mit dem Geschehen rund
um Demonstrationen befasst.
({1})
Ich habe dabei eines gelernt: Unmittelbar nach den Ereignissen, wenn die Aufregung groß ist, gibt es kein klares Lagebild. Aus dieser Erfahrung heraus empfehle ich
deshalb allen, und zwar aus Respekt vor den Demonstranten, aber auch aus Respekt vor den Polizisten, dass
wir uns erst ein klares Lagebild verschaffen, bevor wir
im Deutschen Bundestag darüber debattieren.
({2})
Meine zweite Bemerkung. Zu meinen dienstlichen
Erfahrungen gehört die Gladbecker Geiselaffäre. Auch
damals waren Polizisten aus ganz vielen Ländern, unter
anderem auch vom Bund eingesetzt. Als Vorwürfe gegen
die Polizei wegen des Einsatzes erhoben worden sind,
gab es natürlich auch eine parlamentarische Aufarbeitung. Diese Aufarbeitung fand aber in Nordrhein-Westfalen und in Bremen statt, weil genau da die Einsatzleitung lag.
({3})
Wir lassen es als Koalition nicht zu, dass hier der Föderalismus auf den Kopf gestellt wird,
({4})
dass hier Verantwortung beim Bund abgeladen wird, die
der Bund nicht zu tragen hat. Wir werden das nicht zulassen und stimmen deshalb Ihrem Antrag nicht zu.
({5})
Die dritte Bemerkung: In der nächsten Zeit werden in
Hamburg 280 Bäume gefällt, nicht weil es die Bundesregierung will,
({6})
sondern weil es die grüne Verkehrssenatorin will.
({7})
Mir ist nicht bekannt, dass sich der Bundestag mit dieser
Baumfällaktion beschäftigen wird.
({8})
Auch das unterstreicht, wie richtig es ist, dass wir die
Debatte heute hier nicht führen.
({9})
Die vierte Bemerkung: Viele wissen, dass ich ein sehr
engagierter Eisenbahnfreund bin. Deshalb kenne ich
auch die Geschichte der Eisenbahn. Wir feiern in wenigen Wochen 175 Jahre Eisenbahn in Deutschland.
({10})
Viele wissen nicht, dass der Weg zur ersten Eisenbahn
außerordentlich schwierig war; denn die Bürger fühlten
sich in ihrer Biedermeieridylle gestört. Es gab Wissenschaftler, die vorhersagten, ab etwa 25 Stundenkilometern würde man wahnsinnig, die Frauen würden unfruchtbar.
({11})
Damals hat sich Gott sei Dank die Vernunft durchgesetzt, sodass wir heute dieses sehr ökonomische und
ökologische Verkehrsmittel haben. Wir wissen, was wir
der Eisenbahn in der Entwicklung der Industrie zu verdanken haben.
({12})
Wir sorgen für die Zukunft der Bahn.
({13})
Auch deshalb sind wir gegen Ihren Antrag und lehnen
ihn ab.
Ganz herzlichen Dank.
({14})
Jetzt hat die Parlamentarische Geschäftsführerin der
Fraktion Die Linke, Dr. Dagmar Enkelmann, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke wird dem Aufsetzungsantrag, also dem
Antrag auf Änderung der Tagesordnung, zustimmen.
({0})
Wer die Bilder aus Stuttgart gesehen hat, den darf das
nicht kaltlassen.
({1})
Herr Kollege van Essen, wir beide mögen uns sehr;
({2})
aber das, was Sie hier vorgetragen haben, war mehr als
peinlich. Es gehörte nicht in diese Debatte.
({3})
Wir sind der Auffassung: Wir dürfen nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen.
({4})
- Ich stehe am Mikro, Herr Kauder; insofern kann ich
lauter reden als Sie. ({5})
Seit Wochen demonstrieren in Stuttgart friedlich viele
Tausende Menschen. Da sind Demonstrationserfahrene,
aber auch viele Demonstrationsneulinge dabei, auch
viele CDU-Wählerinnen und -Wähler. Das dürfen Sie
nicht vergessen.
({6})
Diese Demonstranten nehmen ihr Recht auf Demonstration wahr. Das geschieht nicht im rechtsfreien Raum.
({7})
Das gilt im Übrigen auch für die Schülerinnen und
Schüler, die dort gestern eine genehmigte Veranstaltung
durchgeführt haben.
({8})
Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ob Sie das
Entsetzen und die Tränen in den Augen der Schülerin
gesehen haben, die gestern auf allen Sendern zu sehen
war. Was lernen eigentlich Schülerinnen und Schüler an
einem solchen Tag?
({9})
Lernen sie Demokratie? Lernen sie freie Meinungsbildung? Was lernen sie über die Institutionen dieses Staates?
({10})
Was lernen sie, wenn plötzlich Wasserwerfer auffahren,
wenn Pfefferspray eingesetzt wird?
({11})
Wenn Schülerinnen und Schüler so etwas erfahren, sollen sie Vertrauen in die Institutionen des Staates gewinnen? Das können Sie vergessen.
({12})
Hier geht es nicht um Wahlkampf. Hier geht es um
Demokratie.
({13})
Ich sage Ihnen eines: Demokratie heißt auch, dass man
Entscheidungen, die man einmal getroffen hat, gegebenenfalls überprüft. Deswegen fordert die Linke an dieser
Stelle einen Baustopp für Stuttgart 21.
({14})
Der Bundestag ist sehr wohl involviert. Deshalb gehört dieses Thema heute auf die Tagesordnung. Er war
beteiligt bei der Entscheidung zu Stuttgart 21, und es
sind Bundespolizisten im Einsatz gewesen.
({15})
Damit ist das auch Sache dieses Bundestages. Damit
müssen wir uns beschäftigen.
({16})
Wir müssen heute und hier in einer öffentlichen Debatte
über dieses Thema reden und Rede und Antwort stehen.
Ich denke, das sind wir denen schuldig, die in Stuttgart
brutal bedroht und verletzt worden sind. Die Bilder haben Sie alle gesehen.
Der Linken ist das Thema so wichtig, dass wir bereit
sind, den von uns beantragten Tagesordnungspunkt zurückzuziehen, wenn stattdessen eine Debatte zu den gestrigen Vorgängen in Stuttgart durchgeführt wird.
({17})
Wir stimmen jetzt über den Geschäftsordnungsantrag
ab. Wer für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Grünen stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag hat
nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Gefordert ge-
wesen wäre eine Zweidrittelmehrheit, die, wie ich
glaube, unzweifelhaft nicht erreicht wurde. Damit ist der
Antrag abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 f sowie
die Zusatzpunkte 8 bis 12 auf:
25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Energiekonzept umsetzen - Der Weg in das
Zeitalter der Erneuerbaren Energien
- Drucksache 17/3050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Elften Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 17/3051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zwölften Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
- Drucksache 17/3052 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Energie- und Klimafonds“ ({3})
- Drucksache 17/3053 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Kernbrennstoffsteuergesetzes ({5})
- Drucksache 17/3054 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({6})
Finanzausschuss ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Federführung strittig
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes
- Drucksache 17/3055 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Steinkohlevereinbarung gilt
- Drucksache 17/3043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für einen geordneten und sozialverträglichen
Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau
- Drucksache 17/3044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energie 2050 - Sicher erneuerbar
- Drucksache 17/3061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({12}), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines
Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung
der Laufzeiten von Atomkraftwerken
- Drucksache 17/3083 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({13})
Rechtsausschuss ({14})
Federführung strittig
ZP 12 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Energiekonzept für eine umweltschonende,
zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung
und
10-Punkte-Sofortprogramm - Monitoring und
Zwischenbericht der Bundesregierung
- Drucksache 17/3049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich bitte nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen,
die an dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal
möglichst zügig zu verlassen, damit wir mit den Beratungen beginnen können.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem
Redner dem Bundesminister Rainer Brüderle das Wort.
({16})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Koalition ist keine Regierung des Ausstiegs. Diese Koalition ist eine Regierung des Einstiegs, des Einstiegs in
mehr Wachstum, des Einstiegs in mehr Beschäftigung,
des Einstiegs in gesunde Staatsfinanzen und eben auch
des Einstiegs in das Zeitalter der erneuerbaren Energien.
({0})
Erstmals nach vielen Jahren haben wir jetzt in Deutschland ein langfristig angelegtes Energiekonzept vorgelegt.
Die rot-grüne Ausstiegsregierung hat es jedenfalls nicht
geschafft, ein solches Konzept zu erarbeiten. Wir setzen
um, was wir im Koalitionsvertrag angekündigt haben.
Wir zeigen unsere Entschlossenheit, wir zeigen unseren
Gestaltungswillen, wir richten die Energiepolitik langfristig aus.
Nach intensiven Beratungen haben wir am Dienstag
dieser Woche unser Energiekonzept im Kabinett beschlossen. Es ist ein wirklich umfassendes Energiekonzept für Strom, für Wärme und für Verkehr. Im Koalitionsvertrag haben wir uns ambitionierte
Klimaschutzziele gesetzt. Das Energiekonzept zeigt
Wege auf, wie wir diese Ziele erreichen können. Es beschränkt sich also nicht auf wohlfeile Zielbeschreibungen und schöne Worte.
({1})
Die Opposition will so schnell wie möglich aus der
Kernkraft aussteigen. Gleichzeitig wollen weite Teile
der Opposition aus der Kohleverstromung aussteigen,
die derzeit noch für rund 40 Prozent unserer Stromversorgung sorgt. Außerdem wollen Sie vor Ort den Bau
neuer Netze verhindern. Wenn das Realität würde, gingen in Deutschland die Lichter aus.
({2})
Man hat fast den Eindruck, Sie wollen eine Art energiepolitischen Morgenthau-Plan. Wer das ernsthaft will,
steigt aus der internationalen Wettbewerbsfähigkeit aus
und verspielt leichtfertig zentrale Grundlagen für Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land. Die Rechnung
würden die Menschen zahlen. Das ist keine seriöse Energiepolitik. Das machen wir nicht.
({3})
Mit diesem Energiekonzept beenden wir die energiepolitische Flickschusterei. Wir wollen, dass Energie in
unserem Land sauber, sicher und bezahlbar ist.
({4})
Diesem Zweck dient auch die Laufzeitverlängerung nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir setzen uns
Ziele. Wir benennen die konkreten Maßnahmen, um die
Ziele zu erreichen, und wir legen ein solides Finanzierungskonzept vor. Wir schöpfen die Gewinne der Kernkraftwerkbetreiber in Milliardenhöhe ab, zu rund
50 Prozent. Zum Vergleich: Im grün regierten Freiburg
werden gerade einmal 10 Prozent der städtischen Konzessionsgewinne für Klimaschutzprojekte verwendet.
({5})
In unserem Konzept werden Wind- und Solarstrom
mit zweistelligen Milliardenbeträgen gefördert. Noch
mehr Mittel kommen hinzu. Hinzu kommen die Einnahmen aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten für
die Kohle- und Gaskraftwerke ab 2013.
({6})
Sie werden fast ausschließlich in erneuerbare Energie,
Energieeffizienz und in die Forschung gesteckt. Das
heißt konkret: Die konventionelle Energieerzeugung aus
Kernenergie, Kohle und Gas bezahlt letztendlich den
Umbau ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.
Wir wollen faire Wettbewerbsbedingungen zwischen
großen und kleinen Unternehmen, zwischen konventionellen und neuen Energieformen. Wir flankieren das mit
dem Wettbewerbsrecht: mit der neuen Markttransparenzstelle beim Bundeskartellamt,
({7})
mit der neuen Gasnetzzugangsverordnung und mit der
Umsetzung des Dritten Binnenmarktpaketes.
({8})
Mit diesen Maßnahmen verfolgen wir ein Ziel: bezahlbare Energiepreise für Bürger und Unternehmen in
Deutschland.
({9})
Die Opposition scheint eher auf hohe Energiepreise zu
setzen.
({10})
Anders lassen sich manche Zahlen, mit denen Sie derzeit
hausieren gehen, überhaupt nicht erklären.
({11})
Wenn der Wind über die Nordsee weht und die Sonne
in der Wüste scheint, dann können erneuerbare Energien
erzeugt werden. Wir müssen den Strom aber auch zu den
Verbrauchern bringen: nach Berlin, Hamburg, München,
Stuttgart oder ins Ruhrgebiet. Deswegen ist für mich das
Thema Energienetze ein wirklich entscheidender Punkt
in unserem Konzept.
({12})
Deshalb ist dieses Thema auch einer der ersten Punkte in
unserem Sofortprogramm. Wir müssen die Windparks
vor der Küste möglichst schnell und effizient an das
Festlandnetz anbinden. Wir wollen, dass in die Netze der
Zukunft investiert wird. Wir wollen, dass im Bereich
Speichertechnologien geforscht und entwickelt wird.
Das haben Sie in der Vergangenheit nicht betrieben.
({13})
Ich muss ganz klar sagen: Wer für eine dezentrale, regenerative Energieerzeugung ist, aber nicht Ja sagt zu einem umfassenden Netzausbau, der will in Wahrheit
keine dezentrale, regenerative Energieerzeugung. Anders geht es nämlich gar nicht.
({14})
Es ist scheinheilig, einerseits für die dezentrale Energieversorgung zu sein und andererseits als Erste vor Ort gegen den Bau von Leitungen zu sein. Damit verhindern
Sie das Umsteuern in der Energiepolitik. Das ist unaufrichtig.
({15})
Wir wollen, dass Strom jederzeit und ohne Unterbrechung zur Verfügung steht. Wir wollen zu jeder Zeit unser
Handy aufladen, Kaffee kochen oder das Licht anschalten. Dieses Energiekonzept steht für Verlässlichkeit, für
Klimaschutz und für bezahlbare Energiepreise. Wir steigen ein. Wir packen es an. Wir machen es.
({16})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bundesminister Röttgen hat einen Satz geprägt, der
mich fasziniert hat: „Politik durch die Augen unserer
Kinder machen.“ Für mich als fünffachen Familienvater
war das eine interessante Idee. Es besteht allerdings die
Gefahr, dass sich nachkommende Generationen tatsächlich an Minister Röttgen erinnern:
({0})
als Minister, der zusätzlich 5 000 Tonnen atomaren Müll
verantworten wollte, die für 30 000 nachfolgende Generationen tödlich bleiben, als Minister, der die Sicherheitsanforderungen an die Endlager senken wollte, als
Minister, der die Sicherheitsanforderungen an die Atomkraftwerke senken wollte. Im Interesse der Kinder ist
diese Politik sicherlich nicht.
({1})
Wir kritisieren den Stil, mit dem dieses sogenannte
Energiekonzept zustande gekommen ist. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen und die Frage zu stellen, wer
an der Erarbeitung nicht beteiligt wurde. Dies waren die
Branche der erneuerbaren Energien, die kommunalen
Spitzenverbände, die Stadtwerke, die Wettbewerber der
großen Energiekonzerne, die Monopolkommission, das
Bundeskartellamt, die unabhängige Wissenschaft, die Umweltschutzverbände, Verbraucherschutzverbände wie Mieterbund und Verbraucherzentrale Bundesverband. Diese
durften sich monatelang nicht beteiligen. Sie schreiben
Ihnen jetzt Briefe und versuchen, Ihnen Argumente zu liefern, die aber an Ihnen abprallen, frei nach Max
Pallenberg: Argumente nützen gegen Vorurteile wie
Schokoladenplätzchen gegen Verstopfung.
In den letzten Tagen ist herausgekommen, dass das
Drücken der Sicherheit ein zusätzliches Element des
Energiekonzeptes ist. Die Deutsche Umwelthilfe spricht
bei dem Gesetz von einer „Gesetzesnovelle von der
Atomlobby für die Atomlobby“ und spielt darauf an,
dass der Bundesumweltminister einen Vertreter der
Atomlobby zum obersten Atomaufseher im Bundesumweltministerium gemacht hat.
Statt sich um die Sicherheit zu kümmern, stellt sich
der Minister hin und sagt über seinen eigenen Entwurf
wissentlich die Unwahrheit. Er behauptet, er sei der erste
Minister, der dynamische Sicherheitsanforderungen an
Atomkraftwerke stelle.
({2})
Ich zitiere aus einem Brief der schwarz-gelben Landesregierung Schleswig-Holsteins an den Minister - vielleicht sollte er ihn einmal den Fraktionen der CDU/CSU
und FDP vorlegen -:
Bereits auf der Basis des geltenden Rechts sind
Kernkraftwerksbetreiber zu einer dynamischen Anpassung ihrer Anlagen an aktuelle Entwicklungen
und damit zu einer bestmöglichen Schadensvorsorge verpflichtet.
Die Behörden könnten Nachrüstungen auch ohne Neuregelung durchsetzen, so die Meinung der schwarz-gelben
Landesregierung Schleswig-Holsteins zu den Plänen der
schwarz-gelben Bundesregierung.
Schon in den 70er-Jahren hat das Bundesverfassungsgericht die dynamische Anpassung durchgesetzt. Jetzt
möchte der Bundesminister neben den Kategorien der
„bestmöglichen Vorsorge“ und des „hinnehmbaren Restrisikos“ eine neue Kategorie ins Atomrecht einführen. Er
verkauft das als eine Verbesserung. Das ist der brutale
Röttgen’sche Trick: In Zukunft können die Aufsichtsbehörden Maßnahmen, die bisher Teil der „bestmöglichen
Vorsorge“ waren und durch die Anlieger gerichtlich
überprüft werden konnten, aus dieser Kategorie herausnehmen und damit den Anliegern das Klagerecht nehmen, das das Bundesverwaltungsgericht noch 2008 bestätigt hat. Mit diesem Urteil wurde gesagt: Jawohl,
Anwohner können zum Beispiel die Sicherheit eines
Atommeilers gegenüber Terrorangriffen einklagen. Die
Folge wäre gewesen: mehr Sicherheit am Atommeiler,
nicht das Schleifen der Rechte der Anlieger, wie es
Schwarz-Gelb jetzt plant.
({3})
Nach den Berichten der Medien hat es gestern wohl
ein Treffen zu Sicherheitsanforderungen für Endlager
gegeben. Seit heute lassen Sie in Gorleben wieder die
Bohrer dröhnen. In dem Entwurf, der der Frankfurter
Rundschau vorliegt - dem Parlament nicht -, ist die
Rückholbarkeit des Atommülls gestrichen, wird der Sicherheitsnachweis geschleift, werden viele Grenzwerte
abgeschafft und durch Gummiparagrafen ersetzt. Auch
dieses Papier war geheim, bis die Medien darüber berichtet haben. Das ist der neue Stil der Regierung: Papiere werden so lange geheim gehalten, bis die Medien
es herausbekommen; dann werden sie in Nacht-und-Nebel-Aktionen auf die Webseiten der Regierung gestellt.
Die Konzerne dürfen - das ist der interessante Punkt erhöhte Ausgaben für die Endlager sowie höhere Nachrüstkosten von ihren Zahlungen an die Regierung abziehen. Herr Röttgen, ich frage Sie: Sind das die ersten Folgen des Einwirkens des Finanzministers: Sie senken die
Sicherheitsforderungen ab, damit die Zahlungen an die
Regierung in voller Höhe erhalten bleiben?
Wir wissen seit vorgestern durch einen Bericht der
Zeit, dass der Rechtsanwalt, der diese Vereinbarung mit
RWE und Eon für die Bundesregierung ausgehandelt
hat, normalerweise als Berater der RWE tätig ist. Auch
da hat die Atomlobby mit sich selbst verhandelt.
Wir kritisieren aber auch die inhaltlichen Fehler Ihres
Energiekonzeptes. Sie werden höhere Preise und weniger Wettbewerb ernten. Sie zementieren die Monopole
der vier großen Energiekonzerne, die bereits heute 80 bis
90 Prozent der Stromproduktion stellen.
({4})
Schlimmer noch: Sie übertragen diese Monopole in den
Bereich der erneuerbaren Energien. Das Einzige, was
Sie uns anbieten - Minister Brüderle hat es hier wieder
getan -: Sie wollen eine Markttransparenzstelle einrichten. Entschuldigung, das schreibt das EU-Binnenmarktpaket vor! Das ist doch keine Erfindung von SchwarzGelb. Das soll alles sein, was Ihnen als Wirtschaftsminister zum Thema Wettbewerb einfällt? Ich halte das für
eine traurige Vorstellung.
({5})
Der Chef der Monopolkommission hat zu Ihrem Programm am 7. September der Rheinischen Post gesagt:
Langfristig wird der Wettbewerb nicht gestärkt, im
Gegenteil.
Herr Minister, diese Aussage stammt aus Ihrem Beratergremium. Der Präsident des Bundeskartellamts Mundt
sagte, damit werde der Wettbewerb geschwächt. Sein
Vorvorgänger Böge hat ein Gutachten erstellt, in dem er
nachweist, dass es zu höheren Preisen kommen wird.
Bernhard Heitzer, der bis Oktober 2009 Kartellamtspräsident war, schrieb:
Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die
hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten zementiert.
Herrn Heitzer haben Sie im November zum Staatssekretär in Ihrem Ministerium gemacht. Warum hören Sie
nicht auf den Sachverstand in Ihrem Ministerium, Herr
Minister?
Wir werden durch Ihr Energiekonzept Jobs verlieren.
({6})
In der Branche der erneuerbaren Energien, der dynamischsten Branche, wird es auch Firmenzusammenbrüche geben. Ich bitte alle Abgeordneten von CDU/CSU
und FDP: Lesen Sie, bevor Sie am Ende abstimmen werden, die Gutachten zu dem Energiekonzept dieser Regierung. Dort finden Sie die erwarteten Ausbauzahlen für
die erneuerbaren Energien:
({7})
ein Rückgang von 85 Prozent beim Biomasseausbau, ein
Rückgang von 94 Prozent beim Photovoltaikausbau, ein
Zusammenbruch von 98 Prozent beim Windenergieausbau an Land, das sind die Ziele dieser Regierung. Das
wird der Niedergang der Arbeitsplatzmöglichkeiten sein.
({8})
Deutschland verliert seinen Technologievorsprung vor
Konkurrenten. Sie führen die drei schlechtesten Merkmale Ihrer Politik in einem Konzept zusammen: ökologisch schädlich, wirtschaftlich unsinnig, sozial unausgewogen.
Wir lehnen Ihre Gesetzentwürfe ab.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Michael Fuchs.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Kelber, wann haben Sie eigentlich die ganzen von Ihnen
eben aufgezählten Vereine bzw. Organisationen beim
Ausstieg beschäftigt? Haben Sie sie jemals beschäftigt
oder eher überhaupt nicht? Ich glaube, überhaupt nicht.
Aber so machen Sie das ja immer.
Im Übrigen muss ich eine Zahl von Ihnen korrigieren:
({0})
Die Verlängerung der Laufzeit führt zu maximal 4 Prozent mehr Atommüll gegenüber heute.
({1})
Die Zahl, die Sie genannt haben, stimmt so also nicht.
Mit dem Energiekonzept der Bundesregierung liegt
erstmals seit 20 Jahren, seit Helmut Kohls Zeiten, ein
technologieoffenes, marktorientiertes und vor allen Dingen ideologiefreies Konzept vor.
({2})
Damit haben wir eine klare Linie bis zum Jahre 2050
aufgestellt, und wir haben jetzt erstmalig die notwendigen Mittel zum Forschen etc. zur Verfügung. Das ist
Rot-Grün in sieben Jahren überhaupt nicht gelungen. Sie
haben kein Energiekonzept; Sie haben auch nie eines
aufgestellt.
({3})
Wir fördern den weiteren Ausbau der erneuerbaren
Energien. Wir haben uns als Ziel gesetzt, bis zum Jahre
2020 35 Prozent und bis zum Jahre 2050 80 Prozent
Strom aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. Wir stärken die Forschung im Bereich Speichertechnologien und
vor allen Dingen im Bereich der Effizienzsteigerung.
Wir nehmen Geld in die Hand für den Klimaschutz, und
zwar in erheblichem Maße. Zur Finanzierung schaffen
wir ein rechtlich abgesichertes Sondervermögen. Die
Mittel kommen aus dem Emissionshandel und aus der
Laufzeitverlängerung und stehen damit für viele Jahre
regelmäßig und in voller Höhe zur Verfügung. Damit
vermeiden wir in Zukunft den jährlichen Verteilungskampf im Haushalt.
Es macht keinen Sinn, sichere, CO2-freie Kernkraftwerke abzuschalten und dafür Strom aus Kernkraftwerken in Frankreich, Polen und Tschechien zu beziehen.
({4})
Denn wie sagte Ihr - für die einen ist es ein früherer, für
die anderen ein aktueller - Parteifreund Otto Schily vor
kurzem:
Ich finde es sinnlos, die jetzt abgeschriebenen
Kernkraftwerke einfach abzuschalten. Das ist so,
als wenn Sie einen Lastwagen voller Bargeld verbrennen. Dann nimmt man doch lieber einen Teil
des Geldes … und investiert das in die erneuerbaren
Energien.
Recht hat er.
({5})
Lieber Herr Kollege Trittin, uns ist Sicherheit etwas
wert. Was Sie betrifft, zitiere ich aus der von Ihnen am
14. Juni 2000 gemachten Ausschlussvereinbarung:
({6})
- Herr Trittin, Sie haben das unterschrieben.
… die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem
zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen.
({7})
Sie haben damals keinerlei zusätzlichen Sicherheitsstandard vereinbart.
({8})
Kollege Röttgen hat etwas ganz anderes gemacht,
Herr Kelber: Er hat die Sicherheitsvorschriften verschärft. Wir führen eine zusätzliche Sicherheitsstufe ein.
Danach muss der Sicherheitsstandard von Kernkraftwerken permanent entsprechend dem fortschreitenden
Stand von Wissenschaft und Technik verbessert werden.
({9})
Das haben Sie nicht gemacht.
({10})
- Herr Kelber, regen Sie sich nicht auf! Sie müssen das
erleiden, weil Sie damals nicht bereit waren, zusätzliche
Sicherheitsstandards vorzusehen, so wie wir das in unserem Konzept vorgesehen haben.
({11})
Warum haben Sie denn nicht den Mut, das einmal zuzugeben?
({12})
Was wir hier machen, ist ein geschlossenes Konzept für
mehr Sicherheit und für mehr Investitionen im Bereich
der Photovoltaik,
({13})
im Bereich der Netze, im Bereich der Speichertechnologien etc.
Bis heute haben wir keine vernünftigen Speichermöglichkeiten in Deutschland. Ich will das einmal ganz
kurz auflisten: Wir haben momentan eine Speicherkapazität von rund 6 400 Megawatt. Die Deutsche EnergieAgentur beziffert das Ausbaupotenzial auf 2 500 Megawatt. Nötig wären im Bereich der erneuerbaren Energien
aber 25 000 Megawatt. Bis jetzt gibt es nur eine Planung
eines Neubaus eines Speicherkraftwerks, und zwar im
Südschwarzwald, in Atdorf. Dort sollen 700 Millionen
Euro investiert werden. Aber was passiert in Atdorf?
({14})
Es gibt massiven Widerstand. Vor allem sämtliche Grünen sind da und wollen genau das nicht. Das ist doch
eine verlogene Politik. Auf der einen Seite fordern Sie
einen Ausbau der erneuerbaren Energien, aber auf der
anderen Seite sind Sie gegen jede Möglichkeit zur Absicherung der erneuerbaren Energien.
({15})
Wenn man Ihren Antrag liest, so kann ich nur eines
sagen: So etwas Verlogenes habe ich selten erlebt.
({16})
Sie können doch nicht sagen, dass Sie keine Kernkraftwerke wollen, und gleichzeitig gegen den Bau von Speicherkraftwerken stimmen. Sie verhindern den Netzausbau, wo immer Sie das können. Mittlerweile gibt es
überall in Deutschland Initiativen gegen den Netzausbau, die von Ihnen ausgehen.
({17})
Das soll eine konsistente, vernünftige und zukunftsorientierte Energiepolitik sein? Es tut mir leid, aber so
werden wir das nicht machen. Wir werden uns dafür einsetzen und dafür kämpfen, dass ein vernünftiger Netzausbau betrieben wird. Wir werden die Planungs- und
Genehmigungsverfahren vereinfachen und beschleunigen. Das muss sein. Hierzu legt der Bundesumweltminister in Kürze Vorschläge vor. Genau das brauchen
wir.
({18})
Herr Kollege Fuchs, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nestle
von den Grünen?
Nein.
({0})
Nein, keine Zwischenfrage.
Das muss heute nicht sein.
Wir wollen die Energieeffizienz steigern. Die Kilowattstunde, die nicht verbraucht wird, ist die allergünstigste. Unser Ziel ist es, den Wärmebedarf des Gebäudebestandes zu senken. Wir werden die Sanierungsrate
von 1 auf 2 Prozent anheben,
({0})
aber nicht mit Zwang; das ist Ihre Politik. Die CDU, die
CSU und die FDP sind die Parteien des Eigentums.
({1})
Wir werden das nicht mit Zwang machen, sondern mit
Anreizsystemen. Das ist der richtige Weg. Wir müssen
die Bevölkerung auf dem Weg in Richtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren Energien mitnehmen. Das
ist unser Ziel. Das werden wir gemeinsam hinbekommen, und darauf werden wir stolz sein.
Es wird uns auch gelingen, Lösungen für das Problem
der Speicherkapazität zu finden. Man muss mit den
Nachbarländern verhandeln, um unter Umständen in den
Ländern, in denen aus topografischer Sicht der Bau von
Speicherkraftwerken möglich ist, Strom zu speichern.
Das kann Norwegen sein. Das wird aber nicht einfach,
weil die Norweger mittlerweile auch ein Moratorium gegen den weiteren Bau von Pumpspeicherkraftwerken haben.
Herr Kollege Fuchs, jetzt möchte Herr Kelber gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Von dem höre ich sie mir an.
({0})
Das war ja eine Umarmungsstrategie.
Nein, ganz sicher nicht! Da irren Sie sich.
Herr Fuchs, vielen Dank. - Sie haben gerade betont,
dass Ihre Partei die Partei des Eigentums ist. Ist Ihnen
bekannt, dass durch die Novelle, über die wir gerade
sprechen, ein neuer Enteignungsparagraf eingeführt
wird?
Mir ist das bekannt. Aber wir werden nicht hingehen
und jemanden zwingen, sein Haus zu sanieren. Das wollen wir nicht.
({0})
Wir wollen, dass die Leute einen Anreiz erhalten. Wir
wollen, dass die Leute bereit sind, mitzugehen. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen auf dem
Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien, aber wir
wollen sie nicht zwingen. Das werden wir nicht tun.
({1})
Wir werden die erneuerbaren Energien zügig an den
Markt heranführen. Wir werden Marktprämien aussetzen und den Druck erhöhen, um Innovationen und eine
Kostensenkung herbeizuführen. So bleiben unsere Unternehmen international wettbewerbsfähig.
Es muss unser zentrales Ziel sein, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Wir brauchen Strompreise, die nicht dazu führen, dass sich Unternehmen aus
Deutschland verabschieden müssen. Für mich ist das extrem wichtig;
({2})
denn Deutschland ist ein Industrieland, ein Industriestandort, wie es kaum einen besseren gibt. Der Beweis
dafür ist die wirtschaftliche Situation unseres Landes.
Hören wir doch einmal bitte hin: Deutschland hat gestern die beste Arbeitslosenzahl seit der Wiedervereinigung erlebt. Etwa 3 Millionen Menschen sind noch arbeitslos. Das sind immer noch viel zu viele. Aber wir
sind auf einem guten Weg, und wir können davon ausgehen, dass die Zahl von 3 Millionen bereits im Oktober
erstmalig unterschritten wird. Als Rot-Grün aufgehört
hat, da hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Das muss
doch hier in diesem Hause einmal gesagt werden.
({3})
Das muss Ihnen doch bewusst sein. Wir sorgen dafür,
dass Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Genau da
legen wir unsere Ziele hin.
Dazu gehört aber auch eine Energiepolitik, die nicht
dazu führt, dass energieintensive Unternehmen aus
Deutschland vertrieben werden. Deswegen werden wir
die Ausnahmen beim Ökostrom ebenso weiterführen,
wie wir auch für energieintensive Unternehmen Lösungen beim Emissionshandel finden werden. Es kann
nicht sein, dass die indirekten Kosten des Emissionshandels dazu führen, dass Unternehmen in Deutschland
nicht mehr weiterarbeiten können. Das muss unser Ziel
sein; das wird es auch sein. Eine Deindustrialisierung
kommt mit uns nicht infrage.
({4})
Wir brauchen die regenerativen Energien. Wir sehen
auch jede Menge Forschungspotenzial in den regenerativen Energien. Wir glauben daran. Aber wir müssen das
mit Behutsamkeit, Vernunft sowie mit Maß und Ziel machen. Ohne das wird es nicht gehen. Ohne das werden
wir Unternehmen aus Deutschland vertreiben.
Ich gehe davon aus, dass wir ein vernünftiges Konzept auf den Weg gebracht haben. Ich bin auch allen
dankbar - insbesondere den Kollegen Solms, Kauch und
Ruck -, dass wir gemeinsam an diesem Konzept so zügig und lautlos gearbeitet haben.
({5})
Dass es vernünftig umgesetzt wird, werden wir jetzt beweisen. Sie können davon ausgehen, dass dieses Konzept der richtige Weg in eine vernünftige Zukunft erneuerbarer Energien in Deutschland sein wird.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile dem Kollegen
Hermann Scheer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei beiden Rednern der Koalition ist wiederholt aufgetaucht,
dass es angeblich nur 4 Prozent zusätzlichen Atommüll
geben wird, und zwar unabhängig davon, dass er viele
Jahrtausende lagert.
Wenn jetzt - entgegen dem Gesetz von 2001 - die
Laufzeitverlängerung kommt, dann würde das bedeuten,
dass die Atomkraftwerke insgesamt 25 Prozent länger
laufen gelassen worden sind. Die tatsächliche Atommüllmenge wird sich genau um diese 25 Prozent erhöhen. Man darf diesen Atommüll nicht mit irgendwelchem anderen Atommüll vermischen. Es geht um den
besonders radioaktiven, der aus Atomkraftwerken
kommt. Das darf man nicht vernebeln.
({0})
Aber mein Hauptpunkt ist ein anderer. Es wird hier
der Köder ausgelegt, dass aus den zusätzlichen Einnahmen, aus den Gewinnen aus der Atomstromproduktion
irgendwelche Maßnahmen für erneuerbare Energien gemacht werden könnten. Das geht bis hin zu der Formulierung, dass man „möglichst schnell“ oder „langfristig“
aus der Atomenergie aussteigen und zum Einsatz erneuerbarer Energien kommen will. Das jedoch ist ein Widerspruch in sich.
Wir haben im Jahr 2000 einen Atomausstiegskonsens erlebt. Den haben die vier großen Atomkraftwerksbetreiber unterschrieben. Sie haben sich verpflichtet,
diese Vereinbarung auf Dauer einzuhalten. Das Gesetz
von 2001 stützt sich minutiös darauf. Diese Vereinbarung war eine von Leistung und Gegenleistung. Die
Leistung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages war, sich auf Dauer dazu zu verpflichten, nach einem
Stufenplan aus der Atomenergie auszusteigen. Die Gegenleistung der damaligen Mehrheit war - vertraglich
vereinbart -, Maßnahmen zu unterlassen, durch die die
wirtschaftliche Betätigung der Atomkraftwerksbetreiber
im Zuge der noch vorhandenen vereinbarten Restlaufzeit
beeinträchtigt werden könnte.
({1})
Das war die Gegenleistung. Die Gegenleistung bestand darin, keine Atombrennstäbesteuer zu machen, wie
Sie sie jetzt für sechs Jahre - warum angesichts von
zwölf Jahren Laufzeitverlängerung eigentlich nur für
sechs Jahre? - einführen wollen. Das bedeutet für die
letzten zehn Jahre einen wirtschaftlichen geldwerten
Vorteil im Umfang von 23 Milliarden Euro für die
Atomkraftwerksbetreiber. Die Gegenleistung bestand
ferner darin, dass die Haftungsvorsorge nicht angetastet
wurde. Sie wurde zwar ein bisschen erhöht, es blieb aber
bei der Regelung, dass nur ein Atomreaktor und nicht 17
versichert werden mussten. Das machte einen geldwerten Vorteil in Höhe von 4 Milliarden Euro im Jahr aus.
Die steuerfreie Rückstellung, die beliebig verwendet
werden kann, wurde wegen des Konsenses ebenfalls
nicht angetastet.
Herr Kollege Scheer, die Zeit ist abgelaufen.
Ich bin am Ende, Herr Präsident.
({0})
Es handelt sich hierbei um einen hochbrisanten rechtlichen und ökonomischen Vorgang. Dass den AKW-Betreibern die Gegenleistung in Form des Ausstiegs jetzt
erlassen werden soll und damit ein geldwerter Vorteil im
Umfang von in zehn Jahren fast 60 Milliarden Euro
nachträglich zugestanden wird, können Sie nicht als Köder für die Förderung erneuerbarer Energien verkaufen.
Vielen Dank, Herr Scheer.
Hier geht es um die Sanktionierung eines Vertragsbruchs der Atomstromkonzerne. An diesem Punkt können Sie nicht vorbei.
({0})
Herr Kollege Fuchs zur Erwiderung.
Herr Kollege Scheer, Sie haben völlig übersehen, dass
wir dadurch einen erheblichen Geldbetrag bekommen,
den Sie nicht bekommen haben. Ab nächstem Jahr zahlen die Konzerne 2,6 Milliarden Euro pro Jahr. Danach
wird es sogar noch mehr. Denn ab dem Jahre 2017 - lesen Sie es bitte nach! - zahlen die Konzerne pro Megawattstunde mindestens 9 Euro. Es kann auch mehr sein.
Das hängt von der Höhe des Strompreises ab. Wenn dieser auf über 50 Euro pro Megawattstunde steigt, wird es
noch mehr. Während dieser Laufzeit werden wir von den
Konzernen also einen Betrag in einer Größenordnung
von weit mehr als 30 Milliarden Euro abschöpfen. Wenn
Sie dann noch die Gewerbe- und die Körperschaftsteuer
abziehen, verbleiben den Konzernen immer noch knapp
28 Prozent des Mehrgewinns. Die müssen sie haben,
weil sie sonst nicht mehr investieren können. Wir erwarten schließlich von ihnen, dass sie sowohl in erneuerbare
Energien als auch in sichere und vernünftige Kohlekraftwerke investieren.
Wir wollen eine Politik des Übergangs in erneuerbare Energien. Wir wollen aber auch eine Politik, die
das finanziert und die sicherstellt, dass mit den Geldern
effizient umgegangen wird. Sie muss auch sicherstellen,
dass die Strompreise nicht exorbitant steigen. Wenn Sie
als der größte Solarlobbyist, den diese Republik kennt,
das alles nur mit Solarenergie machen würden, dann
könnten Sie sich von der deutschen Industrie verabschieden. Dann könnten auch die Bürgerinnen und Bürger ihren Strom nicht mehr bezahlen. Wir werden schon im
nächsten Jahr sehen, was beim EEG aufgrund der verstärkten Solareinspeisungen passiert. Das Magazin Photon - das ist kein Parteiblatt der CDU, sondern Ihr Magazin - hat gerade geschrieben, sie gehe davon aus, dass
der Strompreis pro Kilowattstunde durch das EEG nur
aufgrund der Solarenergie um 2 Cent steigt. Der EEGAnteil wird sich also von 2 auf 4 Cent erhöhen. Durch
die Einbeziehung der Windenergie können es auch
5 Cent werden. Das heißt: Durch Ihre Politik und Ihre
Maßnahmen bei der Photovoltaik zahlt eine vierköpfige
Familie aufgrund des EEG an Kosten für erneuerbare
Energien circa 200 Euro pro Jahr mehr. Auch damit wir
uns in der nächsten Zeit intensiv beschäftigen müssen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich
bei den Mitgliedern der Fraktionen von Union und FDP
überhaupt nicht verstehe, ist, warum sie jetzt dazu neigen, die Bevölkerung permanent und in jeder Hinsicht
zu provozieren. Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie
geben bei Stuttgart 21 keinen Millimeter nach und setzen die Polizei in einer Art und Weise ein, die indiskutabel ist. Bei den Demonstrationen waren ganz viele CDUWählerinnen und CDU-Wähler dabei. Glauben Sie im
Ernst, dass diese Ihre Partei weiterhin wählen werden,
wenn sie zusammengeschlagen werden? Was wollen Sie
eigentlich? Sie provozieren bei der Kernenergie eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, die im Kern
nichts bringt und Ihnen nichts nutzt. Ich weiß gar nicht,
wie Sie die Gesellschaft verändern wollen und wozu Sie
das Ganze so betreiben.
({0})
- Zur Sache, ja. - Passen Sie auf: Herr Fuchs hat gerade
gesagt, dass Sie die Partei des Eigentums sind. Das
stimmt in folgender Hinsicht: Sie wollen, dass der Milliardär Milliardär bleibt und der Bettler seine Krücke behält. Man muss ein bisschen umverteilen, wenn man Gerechtigkeit in der Gesellschaft organisieren will.
({1})
Auch etwas ganz anderes ist sehr interessant: Warum
führt eigentlich in dieses Thema der Bundeswirtschaftsminister ein und nicht der Bundesumweltminister?
({2})
Er redet erst sehr viel später. Schon daran sieht man,
dass Sie den Kern der Frage überhaupt nicht verstanden
haben.
Was Sie in Sachen Atomenergie machen, ist ganz einfach: Es gibt in Deutschland vier große Konzerne. Diese
Konzerne bestimmen leider nicht nur die Preise, sondern sie bestimmen auch, was die Bundesregierung und
die Mehrheit des Bundestages machen. Das beschädigt
die Demokratie. Das nehmen Sie einfach in Kauf.
({3})
- Das können Sie doch nicht leugnen! Wenn Sie eine
Steuer zum Nachteil der Bäckermeister einführen, sprechen Sie nicht mit der Bäckermeisterinnung. Wenn Sie
das Elterngeld der Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger streichen, reden Sie nicht mit Vertretungen der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IVEmpfänger. Aber wenn Sie etwas im Bereich der Atomwirtschaft machen, dann müssen die vier großen Konzerne zustimmen. Die werden gefragt, und was die Ihnen
nicht zubilligen, das machen Sie auch nicht. Damit beschädigen Sie die Demokratie.
({4})
In den letzten Jahrzehnten haben wir für die Kernenergie Subventionen in Höhe von 160 Milliarden Euro
zur Verfügung gestellt. Aber den Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern sagen Sie: Ihr bekommt
5 Euro mehr pro Monat. Mehr ist nicht drin. - Das sind
die Widersprüche Ihrer Politik.
Die Bürgerinnen und Bürger verstehen auch nicht,
warum Sie für Stuttgart 21 viele Milliarden Euro aufbringen, für die Lösung sozialer Probleme aber keinen
Euro zur Verfügung stellen. Das ist eine Frage, die Sie
beantworten müssen.
({5})
Sie haben die Macht der vier Konzerne in jeder Hinsicht zementiert, und das Kartellrecht kennen Sie nicht
mehr. Ich frage die FDP: Wo sind denn all Ihre Vorstellungen von Marktwirtschaft geblieben? Was glauben
Sie, was die vier großen Konzerne machen werden? Entgegen Ihrer Annahme sind sie in der Lage, miteinander
zu telefonieren. Sie werden sich absprechen und festlegen: Ab nächster Woche kostet das Ganze soundsoviel. Aus, Feierabend! Nichts mit Marktwirtschaft, nichts mit
Kartellverhinderung!
({6})
Deshalb warnen sogar die Monopolkommission und das
Kartellamt vor dem, was Sie jetzt betreiben.
Die Demokratie muss im Übrigen auch dadurch gesichert werden, dass die Politik zuständig bleibt.
({7})
- Ja, das muss ich Ihnen sagen.
({8})
- Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, Herr Kauder, damit
auch Sie es verstehen. Passen Sie auf! Nehmen wir einmal an, wir beide treten in einer Stadt als Oberbürgermeisterkandidaten gegeneinander an.
({9})
Ich sage jetzt nicht, wer gewinnen würde.
({10})
Aber ich sage Ihnen, was das Problem ist. Sie haben dafür gesorgt, dass weder Sie noch ich, egal wer von uns
Oberbürgermeister würde, hinsichtlich der Energiepreise
irgendetwas zu entscheiden hätte. Das empfinden die
Leute als Verletzung der Demokratie. Denn der Sinn der
Wahl zwischen uns ist doch, dass derjenige, der gewählt
wird, auch in der Lage ist, die Verhältnisse zu ändern.
Wenn Sie alles privatisieren, wenn Sie alle Kompetenzen
an Konzerne übertragen, dann hat die Politik aber nichts
mehr zu entscheiden. Genau das verletzt die Demokratie.
Das müssen Sie endlich begreifen.
({11})
Was die Energiepolitik betrifft, sind wir für eine dezentrale, für eine kommunale Versorgung, damit die Zuständigkeit der Politik und damit auch der Einfluss der
Bürgerinnen und Bürger wiederhergestellt werden.
Sie haben ausschließlich Lobbyinteressen verwirklicht; dazu habe ich mich schon geäußert. Ich muss allerdings noch einmal sagen: Wir werden 5 000 Tonnen zusätzlichen Atommüll bekommen, es gibt kein Endlager,
und was Gorleben betrifft, werkeln Sie nur herum. Es
gibt aber überhaupt keine Lösung.
Es ist übrigens auch immer wieder schön, zu hören,
dass bestimmte Bundesländer Gorleben als Endlagerstandort vorschlagen; in Bayern zum Beispiel soll es ja
kein Endlager geben. Dieses Vorgehen kenne ich schon.
Ich bin es leid, und ich muss Ihnen sagen: Auch die Bevölkerung ist es leid.
Sie stellen lauter falsche Behauptungen auf. Die erste
Behauptung: Die Kernenergie ist als Brückentechnologie unverzichtbar. - Sie behaupten, wenn wir jetzt Kernkraftwerke abschalteten, würde der Strom teurer werden.
Im ersten Halbjahr 2010 haben wir eine Strommenge
von 11 Milliarden Kilowattstunden exportiert. Wenn wir
die sieben ältesten und marodesten Atomkraftwerke
schlössen, brauchten wir nicht eine einzige Kilowattstunde zu importieren. Was Sie hier sagen, ist falsch.
({12})
Die zweite Behauptung, die Sie aufstellen - diese Behauptung finde ich noch abenteuerlicher -, ist: Die
Hälfte der Extraprofite werden abgeschöpft. - Mit diesem Thema habe ich mich eingehend befasst. Sie sprechen übrigens mittlerweile von einem Betrag in Höhe
von 2,6 Milliarden Euro, was großer Quatsch ist. Es geht
um 2,3 Milliarden Euro.
({13})
- Warten Sie doch einmal ab. Zu den anderen Beträgen
komme ich noch, Herr Fuchs. ({14})
Ein Vertreter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des DIW, sagte auf Phoenix: 2,3 Milliarden
Euro sind doch eine beachtliche Summe. - Warum fügen
Sie nicht hinzu, dass dieser Betrag zu einem so großen
Teil steuerlich absetzbar ist - das gilt im Hinblick auf die
Körperschaft- und die Gewerbesteuer -, dass der Reingewinn nur 1,5 Milliarden Euro ausmacht? Warum sagen Sie hier nicht die Wahrheit? Das ist nämlich ein beachtlicher Unterschied.
({15})
Man muss noch hinzufügen, dass die Gewerbesteuer
die Kommunen bekommen und dass die Brennelementesteuer der Bund bekommt. Das heißt, wenn man diese
Beträge bei der Gewerbesteuer absetzen kann, schwächen Sie die Kommunen weiterhin, die schon heute nicht
wissen, wie sie eine Toilette in der Schule reparieren lassen sollen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun
haben.
({16})
Eben ist schon darauf hingewiesen worden: Sechs
Jahre lang gilt das Ganze. Wieso eigentlich nur sechs
Jahre lang? Also: Es kommt ein Betrag von 9 Milliarden
Euro heraus und nicht der Betrag, von dem Sie träumen.
Hinzu kommen die 15 Milliarden Euro für die erneuerbaren Energien.
Herr Fuchs, warum fügen Sie nicht hinzu, dass Sie
Folgendes vereinbart haben: Wenn die Laufzeiten von
einer neuen Mehrheit im Bundestag wieder gekürzt werden, brauchen die Atomkonzerne nicht zu bezahlen. Das
haben Sie mit ihnen vereinbart.
({17})
Das Zweite, was Sie vereinbart haben, ist: Wenn es
neue Steuern gibt, können die Atomkonzerne die neuen
Steuern von den 15 Milliarden Euro abziehen.
Als Drittes haben Sie vereinbart, dass man, wenn die
Kosten - zum Beispiel für Endlager, aber vor allen Dingen auch für neue Sicherheitsstandards in den Atomkraftwerken - den Betrag von 500 Millionen Euro überschreiten, den überschreitenden Betrag von den 15 Milliarden
Euro abziehen kann. Nun sagt der Bundesumweltminister Ihrer Partei, dass das Ganze pro AKW 1,2 Milliarden
Euro kosten wird, nicht 500 Millionen Euro.
({18})
Wenn man die 700 Millionen Euro Mehrbetrag nimmt,
den man abziehen wird, bleiben von den 15 Milliarden
Euro ernsthaft nur 3 Milliarden Euro übrig. 9 und 3 Milliarden Euro macht zusammen 12 Milliarden Euro. Der
Gewinn liegt aber bei mindestens 67 Milliarden Euro.
Wie Sie da auf die Hälfte kommen, ist ein reiner Witz.
({19})
Aber 67 Milliarden Euro Extragewinn gibt es nur
dann, wenn die Preise gleich bleiben. Ich sage Ihnen: Es
gibt keine Bürgerin und keinen Bürger, die bzw. der auch
nur eine Sekunde lang glaubt, dass die Preise über so
viele Jahre hinweg gleich bleiben; vielmehr werden sie
steigen. Selbst wenn man nur eine angemessene Preissteigerung zugrunde legt, wird der Extraprofit bei 127 Milliarden Euro liegen.
({20})
Sie schwächen die Stadtwerke. Die Stadtwerke haben investiert, weil sie von einem anderen Vertrag ausgegangen sind. Allein durch falsche Investitionen verlieren sie 4 Milliarden Euro.
Herr Brüderle, Sie haben heute etwas nicht wiederholt. Wollen Sie sich korrigieren? Sie haben gesagt, die
Strompreise würden um 8 Milliarden Euro heruntergehen. Aber der Chef von RWE, der Chef eines großen
Konzerns, hat gesagt: Das ist völliger Blödsinn. - Der
Preis wird nämlich um keinen Cent gesenkt werden. Davon sollten die Bürgerinnen und Bürger gar nicht erst anfangen zu träumen.
Ich sage noch einmal: Erstens. Dieser Atomvertrag
ist ein Verfassungsbruch. Er ist ein Geheimvertrag. Sie
haben den Bundestag ausgeschlossen. Inzwischen ist alles bekannt, aber nicht durch Sie, sondern weil Leute das
den Medien gesteckt haben.
({21})
Das Zweite ist: Sie wollen jetzt alles in einem Tempo
durch die Ausschüsse peitschen, das wirklich selten ist.
Dabei haben Sie Folgendes gemacht - ich habe zweimal
nachgefragt, ob das stimmt -: Sie haben Sachverständige
bestellt, die sowohl die Steuer als auch die Sicherheitsmaßnahmen in AKWs erklären sollen. Auf der Welt gibt
es keinen Sachverständigen, der von Steuern genauso
viel versteht wie von Sicherheitsanlagen in AKWs.
Auch das geht also daneben.
Sie haben den Vertrauensschutz bei den Investitionen
der Kommunen verletzt. Sie wollen den Bundesrat ausschließen. Das alles ist nicht machbar und grundgesetzwidrig. Aber grundgesetzwidrig werden Sie das Ganze
nicht durchbekommen.
Nun haben Sie noch einmal getagt. Ich dachte: Mal
sehen, was jetzt herauskommt. - In Ihrem Entwurf stand,
dass die Gebäudeeigentümer - Stichwort „Schutz des Eigentums“ - verpflichtet sind, Gebäudesanierungsmaßnahmen vorzunehmen. Jetzt haben Sie eine freiwillige
Maßnahme daraus gemacht. Und warum? Weil die
Hausbesitzer- und Immobilienverbände das von Ihnen
verlangt haben.
({22})
Wenn Sie schon diese einladen, Herr Kauder, warum laden Sie dann nicht auch einmal den Mieterbund ein?
({23})
Dann stellt sich doch die Kanzlerin anschließend hin und
sagt: Die Mehrkosten, die dadurch entstehen, werden die
Mieterinnen und Mieter tragen müssen. - Das finde ich
unverfroren, muss ich Ihnen sagen.
({24})
Hinsichtlich der Ökosteuern, die jetzt auch energieintensive Unternehmen bezahlen sollten, haben Sie
gesagt: Das wird natürlich einmal gestrichen. - In der
Autoindustrie sollte der CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2040
von 160 Gramm pro Kilometer auf 35 Gramm pro Kilometer gesenkt werden. Das wurde gestrichen.
Sie wollten die Lkw-Maut ausweiten. Plötzlich ist
Ihnen eingefallen, Sie wollen sie doch nicht ausweiten;
es bleibt bei dem, was ist. Dabei ist die Lkw-Maut wichtig, damit wir die Transporte von der Straße endlich auf
die Schiene verlegen. Wir brauchen keine unterirdischen
Bahnhöfe, sondern wir brauchen eine Förderung der
Bahn in anderer Hinsicht.
({25})
Dann fordern Sie auch noch Kohlekraftwerke, und
zwar nicht nur die, die wir schon haben, und die, die geplant und im Bau sind, sondern Sie wollen noch weitere
haben. Das alles hat mit Zukunft nichts zu tun.
Bei all dem, was Sie hier an Leistung betont haben,
Herr Fuchs, haben Sie einen Zusatz vergessen. Ob das
Kreditprogramm Offshorewindenergie mit 500 Millionen
Euro, die Nationale Klimaschutzinitiative mit 200 Millionen Euro oder die Forschung für erneuerbare Energien
mit 300 Millionen Euro: All dies steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Bundesfinanzministers.
({26})
Er kann jeden Tag Nein sagen.
Sie machen ein Programm der Vergangenheit und
kein Programm der Zukunft. Sie eskalieren, anstatt zu
deeskalieren. Gehen Sie endlich einen anderen Weg gerade bei der Kernenergie!
({27})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege
Jürgen Trittin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
heute den 1. Oktober 2010. Ich muss die Jahreszahl betonen. Nur weil wir einen Wirtschaftsminister Brüderle
haben und weil in Stuttgart im Auftrag von Herrn
Mappus und Frau Merkel Baumschützer mit Wasserwerfern misshandelt werden, sind wir noch immer nicht
wieder in den 80er-Jahren angekommen.
({0})
An die 80er-Jahre werde ich auch durch den heutigen
Tag erinnert. Ab heute darf in Gorleben wieder gebaut
werden. Damit setzen Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, eine unselige Tradition fort. Gorleben ist
damit nach Morsleben und nach der Asse das dritte
Atommülllager, das ohne ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren errichtet wird.
({1})
In Morsleben hat Frau Merkel westdeutschen Müll
einlagern lassen, in der Asse haben Sie eine sichere Lagerung verhindert, und nun wollen Sie diese unschöne
Tradition in Gorleben fortsetzen.
({2})
Was ist es anderes als ein Schwarzbau, wenn ohne eine
atomrechtliche Genehmigung gebaut wird und wenn die
Koalition des Eigentums dafür Kirchen und Bürger gemäß dem Atomrecht enteignen will, damit anschließend
nach veraltetem Bergrecht weiter gebaut werden kann?
({3})
Da wir feststellen müssen, dass es nicht einmal dem
Rahmenbetriebsplan entspricht, dass Sie dort bauen, wo
Sie bauen - das hat der Untersuchungsausschuss herausbekommen -, ist das ein Schwarzbau. Sie bauen
schwarz; Sie erkunden nämlich nicht. All das, was wir
erkunden müssten, zum Beispiel die Beherrschbarkeit
von Gasbildung in dichten Salzgesteinen und die unterschiedlichen Vor- und Nachteile von Opalinuston, Granit
und Salz, können Sie in Gorleben nicht erkunden. Das
könnten Sie nur erkunden, wenn Sie endlich ein Standortauswahlverfahren durchführen würden, wie Ihnen die
Schweiz das vormacht.
({4})
Aber, meine Damen und Herren, was tun Sie? Seit
2005 liegt der Entwurf des Standortauswahlgesetzes im
Bundesumweltministerium vor. Sie blockieren es. Wissen Sie, warum? Sie blockieren es, weil Frau
Homburger, Herr Kauder und die Kollegen der Koalition
fürchten, sie könnten diesen Ärger in ihren Wahlkreisen
haben. Deswegen sagen Sie: Bloß nicht hierher, der Müll
soll zu den Fischköppen, ein Auswahlverfahren blockieren wir um jeden Preis. - Sie verhindern die vernünftige
Lösung des Atommüllproblems seit Jahren, und nun fangen Sie wieder an, in Gorleben schwarz zu bauen.
({5})
Die Prüfung der Geeignetheit dieses Endlagers haben
Sie in verantwortliche Hände gelegt, nämlich in die
Hände des Managers von Vattenfall, der wegen der Störfälle in Brunsbüttel und Krümmel gefeuert worden ist,
Herrn Thomauske.
({6})
Sie haben ja eine große Neigung zu solchen Zusammenarbeiten. Bei Ihnen ist jetzt der ehemalige Angestellte
von Eon, Herr Hennenhöfer, für die Reaktorsicherheit
zuständig.
({7})
Das Ergebnis können wir im heute vorliegenden
Gesetzentwurf nachlesen. Bisher gilt - das war der
Atomausstieg -, dass die bestmögliche Gefahrenabwehr
und Risikovorsorge zu gelten haben. Herr Minister, eine
Steigerung von „bestmöglich“ gibt es nicht. Sie wollen,
dass künftig nur noch angemessene und geeignete Maßnahmen ergriffen werden,
({8})
das heißt, Sie senken den Standard. Ich sage Ihnen aber:
Sie dürfen diesen Standard nicht senken; denn das verstößt gegen die Verfassung, wie Sie im Kalkar-Urteil
nachlesen können.
({9})
Es ist absolut unerträglich, dass Sicherheitsanforderungen von Aufsichtsbehörden künftig daran geknüpft
werden sollen, dass diese Nachrüstungsmaßnahmen zum
Zwecke der bestmöglichen Vorsorge - oder auch nur der
Geeignetheit - nicht mehr als 500 Millionen Euro pro
AKW kosten dürfen. Wer das macht, der verdealt Sicherheit gegen Geld.
({10})
Es ist auch kein Zufall, dass dieser Deal von einem Anwalt formuliert worden ist, der häufiger für RWE als für
die Bundesregierung arbeitet, der auf die Frage, wie er
denn dazu komme, sagt: So ist das Business. Bei dem
steht man mal auf der einen Seite, mal auf der anderen
Seite. - Das ist Ihr Verständnis von Sicherheit.
({11})
Wir haben den drittältesten Atomkraftwerkspark der
Welt. Mit Biblis A betreiben wir das älteste Kraftwerk.
Die Sicherheit dieser alten Möhren wollen Sie Atomlobbyisten überantworten. Das ist völlig unverantwortlich
und nicht akzeptabel.
({12})
Sie erzählen uns, Sie tun das, weil Sie eine Brücke zu
den erneuerbaren Energien bauen wollen.
({13})
Befragt dazu, wo denn diese Brücke ist, haben Sie, Herr
Röttgen, in einem Zeitungsinterview gesagt: Wenn die
Erneuerbaren 40 Prozent unseres Stroms liefern. - Lesen
Sie Ihre eigene Meldung an die EU! Darin steht, dass Sie
im Jahre 2020 38,6 Prozent unseres Stroms erneuerbar
erzeugen wollen. Ich glaube, nach Ihrer Auffassung
müssen wir spätestens 2022 - das ist jetzige Rechtslage
des Ausstiegs - die 40 Prozent erreicht haben.
({14})
Was machen Sie? Sie verlängern die Laufzeit von Atomkraftwerken über 2040 hinaus. Sie haben die Brücke mal
eben um 20 Jahre verlängert und nicht verkürzt, wie es
richtig gewesen wäre.
({15})
Hören Sie auf, von Geld zu reden! Am Ende des Tages werden Sie für Energieeffizienz bzw. Energieeinsparung maximal 14 bis 15 Milliarden Euro haben, wenn
Sie bei der Sicherheit ein Auge zudrücken. Wissen Sie,
wie hoch das Investment der erneuerbaren Energien im
Jahre 2009 - also in einem Jahr, nicht in 30 Jahren - gewesen ist? 17,8 Milliarden Euro. Das heißt, Sie investieren in einem Jahr mehr, als Sie glauben in 30 Jahren einsammeln zu können.
({16})
Aber wird es denn dabei bleiben? Ich empfehle einen
Besuch bei der HUSUM WindEnergy. Werfen Sie dort
einen Blick in die Auftragsbücher. Für das Jahr 2012
verzeichnet die HUSUM WindEnergy, die größte Messe
der Windindustrie, ein Auftragsminus von 70 Prozent.
70 Prozent Einbruch! Wir werden weniger Investitionen
in erneuerbare Energien haben statt mehr. Das ist Ihre
Politik. Wir werden dabei Arbeitsplätze in großem Stil
verlieren.
({17})
Sie sagen: Sie tun das alles für den Klimaschutz. Ich
sage: Sie reißen das Klimaschutzziel! Wer 2050 80 Prozent des Stroms erneuerbar erzeugt, der wird das 2-GradZiel nicht einhalten können. Das kann man nämlich nur,
wenn man vorher alle Zementwerke und alle Stahlwerke
in diesem Land schließt und den Kühen verbietet, Fladen
zu produzieren. Das sind nämlich die Emissionen, die
wir jenseits der Energie noch haben werden. Ich frage
Sie ernsthaft: Wollen Sie für den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken die Stahlindustrie, die Zementindustrie
und die Landwirtschaft aus Deutschland vertreiben? Ich
kann nicht glauben, dass Sie hier ernsthaft so etwas beschließen wollen.
({18})
Das Energiekonzept der Bundesregierung ist nichts
anderes als das Geschäftsmodell von RWE, Eon, EnBW
und Vattenfall. In Deutschland wird mit alten Kohle- und
Atomkraftwerken Geld verdient, im Ausland wird in erneuerbare Energien investiert. Wenn die alten Möhren
hier auslaufen, dann können wir den Strom aus dem
Ausland importieren. Sie haben das in Ihrem eigenen
Energieszenario in aller Ehrlichkeit aufgeschrieben. Bei
einem Rückgang des Anteils der erneuerbaren Energien
um 20 Prozent, bezogen auf die Meldungen, die Sie nach
Brüssel geliefert haben, und bei einer Laufzeitverlängerung um zwölf Jahre ergibt sich im Jahre 2050 ein Nettostromimport von 25 Prozent. Ein Viertel unseres Stroms
soll dann aus dem Ausland kommen. Von wegen mehr
Energiesicherheit! Ich nenne das, was Sie planen, weniger Energiesicherheit.
({19})
Schlimmer noch: Der Einstieg in die erneuerbaren
Energien und der Ausstieg aus der Atomenergie, die wir
2000 in einer Koalition der ökologischen Erneuerung auf
den Weg gebracht haben, hat in diesem Land einen Boom
bewirkt. Neue Firmen, neue Anbieter, zum Beispiel in der
Windenergiebranche, oder auch regionale Anbieter wie
ENTEGA und andere sind auf den Markt getreten. Das
hatte einen Effekt: Jedes Jahr verloren Eon, RWE, EnBW
und Vattenfall 1 Prozent Marktanteil. Das heißt, wir haben für mehr Wettbewerb gesorgt.
Jetzt kommt die sogenannte bürgerliche Koalition und
sagt: Das geht uns zu weit. So viel Wettbewerb wollen
wir nicht. Wir wollen die Wiederherstellung des Monopols der großen Vier im Kampf gegen die Stadtwerke
und die Erneuerbaren. - Dafür rauben Sie anderen Unternehmen die Investitionssicherheit. Ich sage Ihnen:
Das wird keinen Bestand haben, nicht hier im Hause,
nicht vor Gericht und nicht bei den nächsten Wahlen.
Wir sagen in aller Deutlichkeit: Wir wollen in Deutschland verlässliche Rahmenbedingungen in der Energiepolitik. Die wird es nur geben, wenn wir zum Konsens zurückkehren und aufhören, diese Gesellschaft im Auftrag
von Jürgen Großmann von RWE zu spalten, wie Sie,
liebe Frau Merkel, es tun.
({20})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Michael
Kauch das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
es inzwischen gewohnt, dass die Opposition bei diesem
Thema nur noch hysterisch reagiert, verblendet ist und
eine eingeschränkte Wahrnehmung hat. Aber das, was
wir hier gerade erlebt haben, Herr Trittin, war die größte
Heuchlerrede in der ganzen Debatte.
({0})
Sie, Herr Trittin, haben bei der Asse sieben Jahre
weggeschaut. Sie haben sieben Jahre nichts getan, um
die Suche nach einem Endlager voranzubringen, sei es
in Gorleben oder an einem anderen Standort. Sie fordern
eine Standortsuche immer nur dann, wenn Sie in der Opposition sind. Das ist Ausdruck Ihrer Klientelpolitik.
Was hätte Ihre Klientel denn gesagt, wenn Sie verantwortungsvoll die Endlagerfrage vorangetrieben hätten?
Dann hätten diese Menschen Sie nicht mehr gewählt.
Deshalb haben die Grünen nichts, aber auch gar nichts
gemacht, um die Suche nach einem Endlager voranzubringen. Es ist ein Vergehen an den kommenden Generationen, was Sie gemacht haben.
({1})
Sie, meine Damen und Herren von der SPD und den
Grünen, haben doch die größten Deals gemacht, die
diese Republik je gesehen hat. Dafür, dass die Energieversorger die Klappe halten, haben Sie ihnen zugesagt,
keine zusätzlichen Sicherheitsauflagen zu beschließen,
keine Steuern zu erheben
({2})
und keine Gewinnabschöpfung vorzunehmen. Das hat
Herr Scheer selber zugegeben.
({3})
Deshalb kann ich nur sagen: Wir sind die, die für
mehr Sicherheit sorgen, die eine Steuer einführen und
die Gewinne abschöpfen, wozu Sie sich nie getraut haben.
({4})
Wir schließen keine Deals über Sicherheit ab, wir garantieren die Sicherheit durch Gesetze. Sie haben Sicherheit
durch Ihren Vertrag ausgeschlossen. Das ist der Unterschied. Es ist die Unwahrheit, was hier verbreitet wird.
Wir senken keine Sicherheitsstandards.
({5})
Alle Standards, die es heute gibt, werden erhalten.
({6})
Wir setzen eine zusätzliche Risikovorsorge durch.
Wenn Herr Kelber sagt: „Das war heute auch schon so“,
dann schauen Sie bitte in § 18 des Atomgesetzes. Dort
steht nämlich, dass die Nachrüstungen, die über das Design der Genehmigung hinausgehen, entschädigungspflichtig sind, und zwar durch das Bundesland der Atombehörde, die die Aufsicht führt. Deshalb hat es das in
Deutschland nie gegeben.
({7})
Wenn Sie sich echauffieren, dass ab 500 Millionen
Euro die Gewinnabschöpfung gesenkt wird, gilt doch
Folgendes: Wenn wir „nur“ diese 500 Millionen von den
17 Kraftwerken nehmen, dann ersparen wir dem deutschen Steuerzahler allein durch diese Änderung 8,5 Milliarden Euro, die als Entschädigung fällig gewesen wären, wenn Sie das gemacht hätten, was wir jetzt wollen.
({8})
Deshalb sage ich, meine Damen und Herren, das, was
Sie verbreiten, ist völlig abwegig. Das ist der Versuch,
die deutsche Bevölkerung hinters Licht zu führen.
({9})
Herr Kollege Kauch.
Nein, keine Zwischenfrage.
Keine Zwischenfrage. Gut, danke.
Diese Koalition geht den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Das gefällt Ihnen natürlich nicht,
weil wir mehr machen, als Sie jemals verabschiedet haben, meine Damen und Herren.
({0})
Diese Koalition erhöht die Klimaschutzziele: 80 bis
95 Prozent bis 2050. Anders als Sie fixieren wir auch
Zwischenschritte, sodass man nachprüfen kann, ob wir
uns auf dem richtigen Weg befinden. Wir haben es berechnen lassen und wissen, dass es geht. Wir erhöhen die
Ziele für erneuerbare Energien auf 80 Prozent beim
Strom und auf über 50 Prozent beim Primärenergieverbrauch. Das haben Sie immer nur gefordert, aber Sie haben es nie umgesetzt, meine Damen und Herren.
({1})
Diese Koalition redet nicht nur von Investitionen in
erneuerbare Energien.
({2})
Zusätzlich zu dem, was das Erneuerbare-Energien-Gesetz schon hergibt, zusätzlich zu dem, was die bisherigen
Förderprogramme beispielsweise für Ökoheizungen hergeben, legen wir einen Energie- und Klimafonds auf.
Dieser Energie- und Klimafonds wird aus den Gewinnen
der Kernkraftwerke gespeist: etwa 15 Milliarden Euro.
Ab 2013 kommen dann aber 100 Prozent der Erlöse aus
den Emissionsrechten für CO2-Zertifikate dazu.
({3})
Das ist der größte Erfolg, den die Umweltpolitiker jemals gegenüber dem Bundesfinanzminister erreicht haben. Denn das sichert die Finanzierung der Programme
für Energieeffizienz, für Gebäudesanierung und erneuerbare Energien,
({4})
ohne dass wir jedes Jahr zum Finanzminister betteln gehen müssen.
({5})
- Da steht 100 Prozent der Mehrerlöse, nämlich genau
der Mehrerlöse, die noch nicht im Haushalt verplant
sind. 900 Millionen Euro sind unter Herrn Steinbrück
bereits verplant worden, unter anderem für das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien. Deshalb, Herr
Kelber, sollten Sie ganz ruhig sein, wenn Sie das hier
jetzt infrage stellen.
({6})
Meine Damen und Herren, das Wichtigste, was wir in
diesem Energiekonzept als Bundestagsfraktionen der Union
und der FDP klargestellt haben, ist: Der unbegrenzte Einspeisevorrang für erneuerbare Energien bleibt erhalten. Damit ist das Märchen vom Tisch, dass das Ganze ein
Wettbewerb gegen die erneuerbare Energien wäre. Durch
den unbegrenzten Einspeisevorrang können die erneuerbaren Energien nach ihren Möglichkeiten eingespeist
werden. Dadurch entsteht aber kein Wettbewerb zwischen Erneuerbaren und Kernkraft, sondern ein Wettbewerb zwischen Kernkraft und Kohle.
({7})
Wenn Sie das schlecht finden, dann sind Sie die Befürworter von mehr Kohle, von mehr Gas und von weniger
Klimaschutz, meine Damen und Herren von den Grünen.
({8})
Abschließend, meine Damen und Herren noch zu einem weiteren Märchen, nämlich dass der Wettbewerb so
negativ für die Stadtwerke wäre. Wenn Sie die neuesten
Stellungnahmen der kommunalen Unternehmen lesen,
dann hört sich das schon ganz anders an. Denn unsere
Fraktionen haben das Energiekonzept an dieser Stelle in
wesentlichen Punkten nachgebessert.
({9})
Wir haben nicht nur ein Offshore-Förderungsprogramm,
von dem gerade Zusammenschlüsse von Stadtwerken
profitieren, sondern wir haben auch das Förderprogramm
„Investitionszulagen für neue Kraftwerke“ auf neue,
kleine Anbieter beschränkt. Es sind eben nicht RWE und
Co, die davon profitieren, sondern nur noch die Stadtwerke und kleine neue Anbieter. Unser Energiekonzept
ist ein Programm zur Förderung des Mittelstands. Das
sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Kollege Kauch, Sie haben genauso wie Ihre Vorredner von Union und FDP immer wieder behauptet,
dass Sie mit diesem Konzept den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben. Wenn ich in das Gutachten
von EWI, Prognos und GWS schaue, das die Grundlage dieses Konzepts der Bundesregierung gebildet hat,
dann kann ich diese Aussage nicht bestätigt finden. Was
eine Branche mit heute 300 000 Arbeitsplätzen in dieser
Republik braucht, sind gesicherte Absatzmärkte für ihre
Produkte, auch in Deutschland. Dieses Gutachten sieht
ein bestimmtes jährliches Ausbauvolumen vor. Die drei
Säulen, die im Bereich Elektrizität, erneuerbare Energien heute existent sind - die Windkraft an Land hatte
im letzten Jahr einen Zubau von 1,8 Gigawatt -, sollen
in den nächsten Jahren um sage und schreibe 65 Prozent
auf 0,65 Gigawatt jährlichen Zubaus reduziert werden.
Nach 2020 soll dort weiter drastisch reduziert werden.
Die Photovoltaik hat heute ein großes Ausbauvolumen von etwa 5 bis 6 Gigawatt; sämtliche Zahlen kennen wir noch nicht exakt. Dieses Ausbauvolumen soll
um 75 Prozent zurückgeschraubt werden.
({0})
- Im ersten Schritt, und danach noch viel deutlicher. Das Ausbauvolumen der Bioenergiebranche soll jährlich
gar um 85 Prozent gesenkt werden. Auch angesichts der
Tatsache, dass der Ausbau der Wasserkraft und die
Stromerzeugung aus Geothermie in Ihrem Konzept überhaupt keine Rolle spielen, frage ich Sie: Wie wollen Sie
verantworten, dass diese Unternehmen 50 bis 70 Prozent
ihres Marktvolumens verlieren werden? Wie wollen Sie
verantworten, dass die zahlreichen Arbeitsplätze dort
dann nicht mehr existent sind, dass einige dieser Unternehmen, die den Rückgang ihres Marktvolumens auf
dem Exportmarkt nicht auffangen können, in Konkurs
gehen werden müssen, dass Handwerker in den nächsten
Jahren nicht mehr genügend Arbeitsaufträge haben? All
das kann man im Gutachten von EWI, Prognos und
GWS nachlesen.
Ich habe Umweltminister Röttgen bereits mehrfach
aufgefordert, zu sagen, wie seine Zahlen aussehen, wenn
er abstreitet, dass die Zahlen in diesem Gutachten
Grundlage des Energiekonzepts der Bundesregierung
sind. Wenn ich mir die im Aktionsplan der Bundesregierung prognostizierten Zahlen anschaue, die sie nach
Brüssel gemeldet hat, dann erkenne ich, dass dort ähnliche Reduktionen vorhanden sind und dass eben nicht der
Ausbau erneuerbarer Energien geplant ist. Einzig und allein Offshore-Windenergie, die heute noch kein großes
Marktvolumen hat, soll gewährleisten, dass der Anteil
der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung 2020
bei 35 Prozent liegt. Wenn ich mir auch hier die Zahlen
für den jährlichen Ausbau anschaue, sehe ich: Die
Summe dessen, was Sie für Offshore-Windenergie plus
Onshore-Windenergie auszugeben planen, ist niedriger
als das, was heute für Onshore-Windenergieanlagen bereitgestellt wird. Ich stelle fest:
Herr Kollege Fell!
- Sie werden diese Branche in den Abgrund treiben,
Arbeitsplätze vernichten
Herr Kollege Fell, Ihre Zeit ist schon lange zu Ende.
- und keinen Ausbau erneuerbarer Energien herbeiführen, wie ihn die Branche bräuchte.
({0})
Herr Kollege Kauch, bitte, zur Erwiderung.
Lieber Herr Kollege Fell, das war wieder ein klassisches Beispiel von Wahrnehmungsschwäche, wie wir sie
in dieser Debatte immer wieder erleben.
Sie haben immer noch nicht verstanden, was wir hier
beschließen. Die Fraktionen von FDP und Union haben
keinen Antrag eingebracht, dass der Deutsche Bundestag
ein Gutachten beschließt. Auch ist es nicht so, dass die
Bundesregierung ein Gutachten beschlossen hat. Wir haben ein politisches Konzept beschlossen, dem eine Expertise zugrunde lag. Über deren Prämissen kann man
streiten. Man kann sagen: Diese Expertise enthält einige
Annahmen, die vielleicht zu optimistisch sind, beispielsweise was die Möglichkeit angeht, schon 2020 einen offenen europäischen Binnenmarkt zu haben. Aber die
Zahlen, die Sie hier nennen, liegen nicht dem politischen
Konzept der Bundesregierung und auch nicht dieser Koalition zugrunde. Es gilt das, was die Bundesregierung
beschlossen hat, nämlich der Aktionsplan für erneuerbare Energien. Das ist die Grundlage, die Beschlusslage dieser Bundesregierung, und dabei wird es auch
bleiben, Herr Fell.
Im Übrigen geht man in dem Gutachten von der Prämisse aus, dass es einen offenen europäischen Binnenmarkt gibt. Man kann darüber streiten, ob das schon
2020 der Fall sein wird, wie es die Gutachter schreiben.
Die politische Zielsetzung aber ist sinnvoll, dass wir im
Blick auf die von den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu tragenden Stromkosten erneuerbare Energien
möglichst dort in der Europäischen Union produzieren
lassen, wo es am kostengünstigsten ist.
({0})
Das hat nichts mit der Wertschöpfung zu tun; denn es ist
für die deutschen Hersteller genauso gut, wenn ihre
Windkraftanlagen an der Biskaya aufgestellt werden anstatt im Harz. Verursachen Sie hier doch bitte keine Hysterie! Es geht darum, dass wir eine Versorgung mit
Strom aus regenerativen Energiequellen aufbauen wollen.
Sie verwundern mich schon sehr, Herr Fell. Ich
dachte immer, dass wir beide Protagonisten des Projektes Desertec sind, mit dem Strom in der Wüste erzeugt
werden soll. Mit Ihrer nationalistischen Argumentation
distanzieren Sie sich von der Politik, die Sie ansonsten
im Deutschen Bundestag vertreten. Wir als Koalition
stehen dazu, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz
Europa alle erneuerbaren Energien entsprechend ihrer
Möglichkeiten auszubauen. Deshalb werden wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz fortschreiben, mit Einspeisevorrang und Vergütungssätzen, die jeder Technologie
in Deutschland eine Chance geben.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rolf
Hempelmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich möchte mich zuerst an Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, wenden. Herr Brüderle, ich habe Sie in dieser
Woche zweimal gefragt, wie Sie Ihre Atompolitik mit
Ihren Pflichten als oberster Wettbewerbshüter dieser
Bundesregierung vereinbaren wollen. Sie haben zweimal die gleiche Antwort gegeben. Das spricht zwar für
Sie, aber die Antwort war zweimal falsch. Sie haben gesagt: Das ist doch ganz einfach; wenn länger Atomstrom
in das Netz eingespeist wird, erhöhen wir die Strommenge. Das Angebot wird dann größer sein als die
Nachfrage, und dann sinkt der Preis. - Das klingt einfach, ist aber falsch. Klar ist: Wir erhöhen damit die
Strommenge, die von den großen Vier längerfristig eingespeist werden kann. Wir stärken also das Oligopol der
Vier. Interessanterweise sagt der eigentliche oberste
Wettbewerbshüter in diesem Land, nämlich der Präsident des Bundeskartellamts, dass die Stärkung des Oligopols eben nicht zu niedrigeren, sondern mittelfristig
zu höheren Preisen führt.
({0})
Jetzt kommen wir zum Clou: Wird das Angebot größer oder kleiner? Schauen wir uns die sonstigen Auswirkungen der Laufzeitverlängerung an. Da melden sich
nämlich die Wettbewerber zu Wort, und zwar sowohl die
privaten als auch die kommunalen Unternehmen. Es
melden sich übrigens auch die Kraftwerksbauunternehmen. Sie sagen unisono: Aufträge, die schon in Sicht waren, werden wieder zurückgenommen. - Das heißt, mittelfristig wird die Laufzeitverlängerung dazu führen,
dass das Angebot eher sinkt als steigt. Mit anderen Worten: Selbst mit Ihrer einfachen Logik müssten Sie darauf
kommen, dass wir durch die Laufzeitverlängerung tendenziell steigende Preise auslösen.
Jetzt kommen wir zu einer weiteren Verschärfung dieser Problematik. Herr Fuchs war ja ehrlich genug, zu sagen, dass die großen Vier durch die Laufzeitverlängerung Liquidität bekommen sollen, um Investitionen
sowohl in die Erneuerbaren als auch in den konventionellen Kraftwerkspark tätigen zu können. Was bedeutet
das, wenn man gleichzeitig, Herr Kauch, den Stadtwerken und den neuen Anbietern auf dem Strommarkt Mittel für Investitionen entzieht? Was nutzt es, ihnen die
Möglichkeit zu geben, in Offshore-Anlagen zu investieren, wenn man ihnen zugleich die Mittel entzieht?
({1})
Darauf weisen die kommunalen Unternehmen und die
neuen Anbieter hin. Sie sagen: Wir sind mit unseren Anlagen nicht mehr wettbewerbsfähig, wenn die Atomkraftwerke weiterlaufen. Man verringert damit unsere
Gewinnaussichten. Wir haben in Zukunft gar keine
Möglichkeiten mehr, zu investieren.
({2})
Das ist der Grund, warum Investitionen zurückgenommen werden. Das ist auch der Grund, warum der Marktanteil der großen Vier in Zukunft sogar noch wachsen
wird. Die bekommen nämlich die Mittel, um in erneuerbare und in konventionelle Energien zu investieren. Das
wird deren Marktmacht weiter stärken.
Es gibt genug warnende Stimmen: Ich erinnere an die
Aussagen des jetzigen Präsidenten des Bundeskartellamtes. Der ehemalige Präsident des Bundeskartellamtes,
Böge, hat sogar ein Gutachten erstellt, in dem er all diese
Konsequenzen deutlich gemacht hat. Sie haben sich einen ehemaligen Präsidenten des Bundeskartellamtes ins
Haus geholt. Auch er hat in seiner alten Funktion auf all
diese Zusammenhänge hingewiesen, die er aber offenbar
in der Zwischenzeit - das Sein bestimmt das Bewusstsein ({3})
zu den Akten gelegt hat.
Meine Kolleginnen und Kollegen, welchen Einfluss
hat denn die Laufzeitverlängerung auf die Erneuerbaren?
Stellt sie eine Brückenfunktion dar, wie Sie immer sagen? Sind Atomkraft und Erneuerbare das neue Traumpaar der Nation?
({4})
Stimmt es wirklich, dass Atomkraftwerke so wunderbar
regelbar sind, wie Sie sagen? Schauen wir uns doch einmal Ihre eigenen Zahlen an: Sie gehen von einer ausgesprochen hohen Auslastung der Atomkraftwerke aus.
Die Auslastung liegt zu Anfang bei 95 Prozent und
schlägt dann nur einen sehr leichten Sinkpfad ein. Die
Institute gehen von ganz anderen Zahlen aus, jedenfalls
dann, wenn zugrunde gelegt wird, dass Ihre Ziele bei den
Erneuerbaren erreicht werden. Die Institute sagen: In
diesem Fall ist die Auslastung der Atomkraftwerke viel
niedriger. Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen.
Entweder Sie haben recht, dass die Auslastung tatsächlich so hoch ist. Dann heißt das aber zugleich, dass Sie
von Anfang an nicht davon ausgehen, dass die Atomkraftwerke heruntergeregelt werden und dass real - was
auf dem Papier steht, ist etwas anderes - der Vorrang für
Erneuerbare gegenüber Atomkraft gilt. Sie gehen vielmehr davon aus, dass jede Kilowattstunde, die in einem
Atomkraftwerk erzeugt werden kann, auch wirklich ins
Netz eingespeist wird.
Oder - das ist die alternative Erklärung - Sie wissen,
dass eine so hohe Auslastung nicht möglich ist und die
Auslastung tatsächlich sinken wird. Dann müssen Sie
aber offenbar etwas anderes im Kopf gehabt haben,
wenn Sie dennoch von einer so hohen Auslastung ausgehen. Was denn nun? Die Erklärung ist ganz einfach: Sie
wollen eine 15-jährige Laufzeitverlängerung hinter einer
12-jährigen verstecken. Sie haben behauptet, dass die
Reststrommenge, die gemäß Ihrem Zugeständnis in den
Atomkraftwerken produziert werden darf, für eine Restlaufzeit von 12 Jahren reicht. Wenn die Auslastung aber
wegen des Ausbaus der Erneuerbaren niedriger ist, als
Sie sie angeben, dann handelt es sich in Wirklichkeit um
eine Verlängerung um 15 Jahre.
({5})
Das ist die Zahl, die seriöse Institute in diesem Zusammenhang nennen.
({6})
Ehrlichkeit in der Sache ist gefragt, auch bei dem anderen Thema, zu dem es heute Anträge von mehreren
Fraktionen gibt. Hier geht es um den deutschen Steinkohlebergbau. Ich kann das - weil meine Redezeit
schon fast abgelaufen ist - nur noch antippen. Ich sage
Ihnen: Die Bundesregierung steht hier in der Pflicht. Die
Kommission war auf einem guten Weg und bereit, der
Bundesregierung zu folgen. Mittlerweile, Herr Brüderle,
ist sie dazu nicht mehr bereit. Herr Oettinger schwänzt
die wichtigsten Sitzungen.
({7})
Sie machen einen Prüfvorbehalt geltend, während Spanien und Rumänien sagen: Einspruch! Wir bestehen auf
ein Ende der Subventionierung im Jahr 2018 bzw. in einem Fall im Jahr 2022. Frau Merkel, es wird wahrscheinlich Mitte Dezember auf dem Europäischen Rat
ihr Job sein müssen, das durchzusetzen, was wir in
Deutschland beschlossen haben und was die Kommission zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen
Politik gemacht hatte.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Dr. Norbert
Röttgen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten
fehlt unserem Land, fehlt unserer Gesellschaft, fehlt dem
Industrieland Deutschland ein Energiekonzept. Jetzt
liegt es vor, weil diese Koalition im Unterschied zu den
Vorgängerregierungen handelt. Das ist die Realität.
({0})
Der Punkt ist eben, dass ein Ausstieg noch kein Energiekonzept macht. Sie haben im Jahr 2000 den Ausstieg beschlossen und den Kernkraftwerken noch 20 Jahre Restlaufzeit gegeben,
({1})
aber den Einstieg versäumt. Mit Aussteigermentalität,
Ideologie, Falschbehauptungen und der Kampfmentalität, die Sie zeigen, kann man kein Industrieland führen.
({2})
Vielmehr braucht man einen verantwortungsvollen Einstieg in die Energieversorgung.
({3})
- Vielleicht kann es bei all den Kampfbehauptungen und
Falschbehauptungen, die aufgestellt worden sind, hier
auch einmal möglich sein, eine sachliche Bemerkung zu
machen.
({4})
Einstieg bedeutet übrigens nicht nur den Ausbau von
Kapazitäten. Wenn man in die Versorgung mit erneuerbaren Energien einsteigen will, dann braucht man auch
einen Einstieg in die dazugehörige Infrastruktur aus Netzen und Speichertechnologien.
({5})
Ohne das haben Sie keine Versorgung mit erneuerbaren
Energie, meine Damen und Herren.
({6})
Auf diesem Gebiet haben Sie, Herr Kollege Trittin,
schlicht und ergreifend nichts gemacht.
({7})
- Sie haben nichts gemacht. - Wir müssen jetzt die Folgen Ihrer Untätigkeit kompensieren. Wir tun es auch.
Darauf können Sie sich verlassen.
({8})
Genau aus diesem Grund ist übrigens eine Laufzeitverlängerung, wie ich von Anfang an gesagt habe, notwendig.
({9})
- Jetzt lasse ich keine Zwischenfrage zu. - Im Jahr 2000
ist der Ausstieg beschlossen worden. Wir sind jetzt zehn
Jahre weiter. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre ist
auf dem Gebiet des Netzausbaus und bei den Speicherkapazitäten praktisch nichts passiert. Wir können nicht
einfach sagen: Das, was jetzt bei null steht, wird in zehn
Jahren bei 100 Prozent sein. - Damit gefährden wir die
Energiesicherheit und die Versorgung mit erneuerbaren
Energien in Deutschland, und das dürfen wir nicht tun.
Energie ist auch eine Frage von elementarer Sicherheit;
diese gewährleisten wir.
({10})
Ich stelle mir die Frage, warum Sie, Herr Kelber und
Herr Trittin, in dieser Debatte in einem solchen Maß
Falschbehauptungen bewusst - anders kann ich mir das
nicht erklären - aufstellen, die parlamentarisch schon
sehr befremdlich sind, die ich aber auch für scheinheilig
und verantwortungslos halte.
({11})
Ich glaube, dass es einen Grund gibt, warum Sie mit dieser Mischung aus Aggressivität, Kampfrhetorik und
Falschbehauptungen hier auftreten.
({12})
- Ich werde ja gerade konkret. - Den Grund hat, wie ich
glaube, der Kollege Scheer heute auf den Punkt gebracht. Herr Kollege Scheer, ich will das noch einmal
herausarbeiten; denn ich glaube, dass Sie den Sachverhalt ganz zutreffend geschildert haben.
({13})
Sie haben zutreffend gesagt: Der Ausstiegsvertrag, den
Rot-Grün abgeschlossen hat, war ein Vertrag im Sinne
des Wortes. Es war nämlich ein Austausch von Leistung
und Gegenleistung, der darin bestand, dass sich die
Kernenergieversorgungsunternehmen damit einverstanden erklären, dass Kernkraftwerke in Deutschland nur
noch gut 20 Jahre betrieben werden. Dann haben Sie die
Gegenleistungen des Staates, der Regierung genannt. Sie
haben zum Beispiel gesagt: Es wird - das war die Gegenleistung - keine Steuern, keine Kernbrennstoffsteuer,
geben, und es wird auch nicht mehr Sicherheit geben,
weil Sicherheitsmaßnahmen auch ein Kostenfaktor
sind. Als Gegenleistung des Staates verzichten wir auf
diese Kostenbelastungen.
({14})
Dazu will ich Ihnen zwei Dinge sagen. Die damalige
Regierung hat mit den Zusagen, es gebe keine Kernbrennstoffsteuer und nicht mehr Sicherheitsmaßnahmen,
über Rechte verhandelt, die allein diesem Haus zustehen.
Es ist das Recht des Parlaments, Steuern zu beschließen,
und nicht das Recht der Regierung, darüber Verträge mit
Kernenergiewirtschaftsunternehmen zu schließen. Es beschädigt die Demokratie, es beschädigt das Parlament,
({15})
wenn die Regierung dieses Parlament entmündigt. Es
beschädigt Demokratie und Parlament, dass die Koalitionsfraktionen von damals bei diesem parlamentarischen Entmündigungsprozess mitgemacht haben. Das ist
ein parlamentarischer Skandal, den Sie zu verantworten
haben.
({16})
Der zweite Skandal, der tief in das Staatsverständnis
einschneidet,
({17})
besteht darin, dass Sie über Sicherheit verhandelt haben.
Sie haben damals gesagt: Wir, die rot-grüne Regierung,
sind damit einverstanden, dass Sicherheit nicht zur Bedingung für den Betrieb von Kernkraftwerken gehört.
Sie ist ein Kostenfaktor. Wir sichern euch zu, dass an
diesem Kostenfaktor nichts geändert wird, egal was die
Sicherheit der Sache nach erfordert. - Das ist der Vertrag, den Sie abgeschlossen haben.
({18})
Ich habe Ihnen in der Regierungsbefragung zugesagt,
dass ich in jeder energiepolitischen Debatte aus dem
Vertrag, den Sie geschlossen haben, vorlesen werde.
({19})
- Vollständig. - Ich möchte Ihnen einige Vertragskautelen vorlesen. Der damalige Minister für Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin, hat selber unterschrieben und zugesagt, dass die Bundesregierung keine Initiative ergreifen
werde, um diesen Sicherheitsstandard zu ändern. Er hat
die Zusage gegeben: Es gibt keine Veränderung bei Sicherheit und Sicherheitsstandards, und es gibt auch
keine Erhöhung von Sicherheit. - Das hat er zugesagt,
obwohl sich die Sicherheitstechnik vielleicht weiterentwickelt.
({20})
Das ist die Zusage, die Sie gegeben haben. Sie ist unverantwortlich.
({21})
Herr Kollege Röttgen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheer?
Nein danke. Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
Ich kann noch weitergehen und andere Behauptungen
von Ihnen anführen. Herr Kollege Trittin, Sie haben behauptet - auch das wider besseres Wissen; Sie sollten
das in solchen Debatten unterlassen ({0})
- nein, Sie haben behauptet -: Wenn es zur Genehmigung von Gorleben kommt, dann wird sie ohne ein
atomrechtliches Genehmigungsverfahren erfolgen.
({1})
Diese Behauptung ist definitiv falsch.
({2})
Wenn es, was wir heute noch nicht wissen, zu einer Genehmigung von Gorleben als Endlager kommen sollte
- das ist ein ergebnisoffener Prozess -,
({3})
dann kann dies nur auf Grundlage und nach Abschluss
eines atomrechtlichen Zulassungsverfahrens geschehen.
Etwas anderes zu behaupten, ist die blanke Unwahrheit.
Erzählen Sie nicht solche Unwahrheiten, nur um StimBundesminister Dr. Norbert Röttgen
mung zu machen und Angst zu schüren! Lassen Sie das
sein! Es ist unverantwortlich.
({4})
Es gibt eine zweite Unwahrheit, die Sie verbreiten.
Man fragt sich schon, ob Sie nicht irgendein Argument
in der Sache oder irgendeinen Vorschlag haben, wie Sie
es machen wollen. Offensichtlich haben Sie kein Argument und keinen Vorschlag, sonst würden Sie nicht Unwahrheiten erzählen.
({5})
Sie behaupten nämlich, durch das Gesetz würde die Sicherheit geschmälert. Ich betone zum wiederholten Male
in diesem Parlament: nicht mit einer Vorschrift, nicht mit
einem Wort! Vielmehr bleibt der komplette Standard an
Sicherheitsvorschriften und Sicherheitsmaßnahmen, der
jetzt im Atomgesetz mit allen Klagemöglichkeiten und
mit allen Verfahren sowie mit allen materiellen Vorschriften enthalten ist, selbstverständlich erhalten. Es
wird nichts begrenzt; es wird nichts beschnitten. Alle Sicherheitsvorschriften bleiben zunächst so, wie sie sind.
Aber zu den Sicherheitsstandards, die wir haben, kommt
eine Stufe von Sicherheitsanforderungen hinzu; diese
führen wir zusätzlich ein.
({6})
Es wird ein über das bisherige Maß der Erforderlichkeit
hinausgehender Maßstab zur weiteren Vorsorge gegen
Risiken angelegt, mit dem erstmalig eindeutig klargestellt wird, dass dann, wenn sich die Technik und die
Wissenschaft auf dem Gebiet der Sicherheit fortentwickeln, diese neuen zusätzlichen Sicherheitserkenntnisse
auch als rechtliche Anforderung an den Betrieb von
Kernkraftwerken im Einzelfall durchgesetzt werden
können. Das ist ein klarer Fortschritt an Sicherheit; das
ist mehr Sicherheit.
({7})
Dies wird allerdings nicht in einem Vertrag, sondern in
einem Gesetz geregelt. Das haben Sie in beiderlei Hinsicht nicht zustande gebracht. Das ist die Wahrheit. Sie
wollen dieses Gesetz bekämpfen, weil Sie an diesem
Punkt gescheitert sind.
({8})
Sie haben nicht mehr Sicherheit erreicht, sondern Sie haben gedealt. Den Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen.
({9})
Wir haben in diesem Vertrag den Aspekt der Sicherheit
nicht angesprochen. Das ist der entscheidende Unterschied zu Ihrer damaligen Vereinbarung.
({10})
Es gibt in dem Vertrag, der allein Regelungen zur Gewinnabschöpfung beinhaltet, keine Limitierung der Sicherheitsanforderungen. Es gibt eine neue, zusätzliche
Grundlage für Sicherheitsmaßnahmen. Der eine Reaktorsicherheitsminister, der die Sicherheit verdealt hat,
heißt Jürgen Trittin; das muss hier einmal ausgesprochen
werden. Sie sind das, was Sie anderen vorwerfen. Das ist
die Realität.
({11})
Jetzt noch einmal zur Sache. Zum Einstieg möchte ich
einen Teil der Falschbehauptungen, die Sie machen, widerlegen. Wir haben gerade wieder über den Ausstieg
gesprochen; ich rede jetzt über den Einstieg, über die
Ziele, die wir verfolgen. Der Einstieg, den wir vornehmen, dient dazu, die Energiesicherheit und die Klimaverträglichkeit zu steigern sowie die Wachstums- und
Wettbewerbspotenziale der Technologien in den Bereichen der erneuerbaren Energien und der Effizienzsteigerung zum Nutzen unseres Landes und des Klimas auszuschöpfen.
({12})
Wenn man das erreichen will, dann muss man heute handeln. Wenn man heute nicht handelt und weiter Versäumnisse zulässt, wie Sie es getan haben, dann steuert
man auf massive Probleme bei der Energieversorgung
und der Klimaverträglichkeit zu; das ist völlig klar. Deshalb sind die Ziele anspruchsvoll und ehrgeizig; sie sind
aber erreichbar, wenn man heute handelt.
Ich drücke die Ziele, die wir uns setzen, in Zahlen
aus: Reduzierung der Treibhausgasemission um 80
bis 95 Prozent bis 2050 in dem Langfristhorizont, in dem
man Energiepolitik nur machen kann; Steigerung des
Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 80 Prozent; Halbierung des Stromverbrauchs
durch mehr Energieeffizienz. Verbesserung der Energieeffizienz um 2,1 Prozent pro Jahr, bezogen auf den
gesamten Energieverbrauch. Das sind anspruchsvolle
Ziele. Aber wir trauen uns zu, sie mit konsequenter Politik zu erreichen, und zwar in Etappen, die wir einlegen,
mit einem Überprüfungsprozess und mit 60 konkreten
Maßnahmen beispielsweise zur Finanzierung von Offshore-Windkraftanlagen.
({13})
Wir werden auch den Ausbau der Onshore-Anlagen vorantreiben.
({14})
- Kollege Fell, Sie wissen es doch besser.
({15})
Allein in diesem Jahr werden wir wahrscheinlich eine
Verdopplung der gesamten nationalen Kapazität auf
dem Gebiet der Photovoltaik erreichen, und das, nachdem wir die Vergütung reduziert haben, weil die Marktpreise in der Photovoltaik um 40 Prozent gesunken sind.
Es kann also überhaupt nicht die Rede davon sein, dass
die Branche einbricht, wie Sie es in der Debatte behauptet haben. Die Branche boomt. Wir wollen, dass sie
boomt, weil das für die Entwicklung unseres Landes gut
ist.
({16})
Neben den genannten Maßnahmen haben wir - das ist
schon gesagt worden - ein Sofortprogramm mit zehn
Punkten finanziell abgesichert. Es wird in einem Jahr
umgesetzt. Zur Erreichung der Ziele werden 60 Maßnahmen ergriffen. Dazu bieten wir eine Finanzierung, von
der man als Umwelt- und Klimapolitiker nur träumen
kann.
({17})
Das ist ein Erfolg, den ich für nicht möglich gehalten
habe, als wir mit den Gesprächen darüber begonnen haben. Der Aufbau beginnt im nächsten Jahr mit einem Betrag von 300 Millionen Euro. Ab 2013 wird verlässlich
und langfristig ein Betrag von jährlich rund 3 Milliarden
Euro für Energiepolitik, Effizienzpolitik und Klimaschutzpolitik zur Verfügung stehen. Das ist ein sensationeller Erfolg. Wir sind stolz, dies erreicht zu haben.
({18})
Weil es sich hier um das anspruchsvollste und konsequenteste Umwelt- und Energieprogramm handelt, ist es
ein Meilenstein in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik
in Deutschland. Das vertreten und verteidigen wir. Wir
werden es gegen Ihren Neid und Ihre Proteste umsetzen,
weil es - das ist unsere Orientierung - gut für unser
Land ist.
({19})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Marco
Bülow.
({0})
- Ich habe übersehen, dass Bärbel Höhn von den Grünen
eine Kurzintervention beantragt hat.
Bitte sehr, Frau Höhn.
Herr Minister Röttgen, Sie haben die Zwischenfrage,
die ich stellen wollte, nicht zugelassen. Sie haben in dieser Debatte als Zweiter geredet, nicht als Erster. Das
macht deutlich: Sie sind der Verlierer dieses Jahres; das
muss man eindeutig so sehen.
({0})
Weil Sie der Verlierer sind, klammern Sie sich an einen
einzigen Punkt: Sie würden mehr Sicherheit bieten als
die anderen. Deshalb zitiere ich aus der damals geschlossenen Vereinbarung noch einmal, was dort zum Thema
Sicherheit steht. Denn Sie zitieren immer nur einen Satz
und versuchen, aus diesem abzuleiten, es habe weniger
Sicherheit gegeben. Dabei verschweigen Sie die anderen
Sätze. Kennen Sie folgenden Satz aus der damals geschlossenen Vereinbarung?
Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und
Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter
gewährleistet …
Die EVU werden bis zu den in Anlage 3 genannten
Terminen
- also dynamisch Sicherheitsüberprüfungen … durchführen und die
Ergebnisse den Aufsichtsbehörden vorlegen.
Erstmals! Daraus ist das kerntechnische Regelwerk
entstanden. Es liegt auf Ihrem Schreibtisch. Warum setzen Sie es nicht endlich in Kraft? Dann hätten wir mehr
Sicherheit bei den Atomkraftwerken. Sie verhindern die
Sicherheitsstandards bei den Atomkraftwerken.
({1})
- Auch die Kanzlerin will ablenken, weil ihr das unangenehm ist.
Wenn Sie schon, Herr Röttgen, so viel Wert auf Sicherheit und Vorsorge legen, dann müssen wir Sie an Ihren eigenen Maßstäben messen. Sie haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. Mai dieses Jahres
gesagt:
Drei
- Kernkraftwerke haben keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze. Die
Kraftwerke müssen etappenweise auf den Stand der
Nachrüsttechnik gebracht werden.
Nach unserem Atomausstieg würde das Atomkraftwerk Biblis A jetzt abgeschaltet. Herr Minister, sind wir
uns einig, dass die beste Sicherheit für die Bevölkerung
ist, wenn wir Biblis A abschalten, nicht mehr und nicht
weniger?
({2})
Das wäre aus dem Atomausstieg von Jürgen Trittin und
anderen gefolgt!
Aber ich frage Sie heute sehr konkret: Was wollen Sie
an Nachrüstungsmaßnahmen für Biblis A in Gang setzen? Wie sieht Ihre Sicherheit für Biblis A wirklich aus?
Das wollen wir endlich von Ihnen hören; denn dazu haBärbel Höhn
ben Sie bisher konkret nie etwas gesagt. Wir erwarten,
dass Sie das heute tun.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte. Sie versuchen immer, darzustellen, wir wären gegen Netze und
Netzausbau. Können Sie bestätigen, dass es Jürgen
Trittin war, der 2005 mit dem Infrastrukturbeschleunigungsgesetz hier einen Weg gewiesen hat? Woran ist er
gescheitert? Er ist im Bundesrat an der Mehrheit der
CDU/CSU- und FDP-geführten Länder gescheitert. Sie
haben den Ausbau der Infrastruktur seit 5 Jahren blockiert. Das waren Sie und nicht wir.
({3})
Herr Bundesminister, bitte.
Frau Kollegin, nur, damit wir uns richtig verstehen:
Ich bin, offen gestanden, gar nicht der Auffassung, dass
Sie gegen Sicherheit und gegen den Netzausbau sind.
({0})
Meine These ist nur, dass Sie auf all diesen Gebieten
nichts erreicht haben. Sie sind Maulhelden und können
gut reden; aber Sie bekommen nichts hin. Das ist der
Unterschied zwischen unseren beiden Regierungen:
({1})
Wir legen jetzt ein Energiekonzept vor. Bei uns steht die
Sicherheit im Gesetz. Der arme Trittin musste sie verdealen. Ich behaupte gar nicht, dass er das wollte. Aber
er hat bei den Rotwein- und Zigarrenrunden keine
Chance gehabt, die Sicherheit ins Gesetz zu bringen. Das
war damals die Realität: Tun wir doch nicht so, als wäre
das alles vergessen!
({2})
Er hat es nicht hinbekommen.
Es ist beschämend, das immer wieder vortragen zu
müssen,
({3})
aber ich muss das tun, weil bei Ihnen eine partielle Vergesslichkeit, was das eigene Tun anbelangt, festzustellen
ist.
({4})
Darum will ich noch einmal die Passage vorlesen, die
sozusagen der Gipfel des Ausverkaufs von Parlamentsrechten ist, den Sie sich in diesen Rotwein- und Zigarrenrunden mit der Kernenergiewirtschaft geleistet haben.
({5})
Da haben Sie ja nicht nur die Sicherheit verdealt, sondern
Sie haben sogar zugesagt, dass die Beteiligten diese Vereinbarung auf der Grundlage schließen, dass in dem zu
novellierenden Atomgesetz - das ist Sache des Parlamentes! - einschließlich der Begründung die Inhalte dieser
Vereinbarung umgesetzt werden. Die rot-grünen Koalitionsfraktionen haben sich selber zu einem Umsetzungsgesetzgeber bezüglich der Vereinbarungen mit der Kernenergiewirtschaft degradiert.
({6})
Jetzt kommt es noch stärker. Es hätte ja sein können,
dass jemand in der Regierung oder im Parlament sich herausgenommen hätte, etwas anderes zu beschließen, als
die Vereinbarung vorgesehen hat.
({7})
Darum wurde Folgendes sichergestellt:
Über die Umsetzung in der AtG-Novelle wird auf
der Grundlage des Regierungsentwurfs vor der Kabinettsbefassung zwischen den Verhandlungspartnern beraten.
({8})
Bevor etwas ins Kabinett geht, wird es Eon und RWE
vorgelegt, damit die feststellen können, ob es in Ordnung ist. Das ist eine besondere Form der Ressortabstimmung, die Sie da vorgenommen haben. Das ist eine Peinlichkeit und ist ein Skandal und nichts anderes.
({9})
Jetzt kommen wir einmal zu Biblis A. Ich frage Sie:
Wie haben Sie im Jahr 2000 die Risiken von Biblis A
eingeschätzt? Dramatisch? Hinnehmbar? Jedenfalls haben Sie mit Ihrer Risikoeinschätzung, die nicht meine
ist, dem zugestimmt, dass Biblis A noch zehn Jahre
läuft.
({10})
Waren das wirklich dramatische Risiken? Wenn ein
Kernkraftwerk den Sicherheitsanforderungen nicht genügt, dann muss es abgeschaltet werden.
({11})
Wenn Sie dieser Auffassung waren, dann hätten Sie das
veranlassen müssen.
({12})
Sie waren die Aufsicht über die Aufsicht, Herr Kollege
Trittin. Sie haben auch auf diesem Feld versagt. Bei Fragen der Sicherheit darf man nicht nur reden; dabei muss
man handeln.
({13})
Wir schaffen nunmehr eine bessere, zusätzliche Grundlage dafür, dass die Atomaufsicht der Länder einschreiten und handeln kann, selbst wenn der Atomaufsichtsminister im Bund mehr ein Maulheld als ein Handelnder
ist.
({14})
Die Atomaufsicht der Länder kann jetzt handeln, wenn
sie möchte. So wird das sein, wenn dieses Gesetz hier
beschlossen wurde.
({15})
Nun bitte ich um Aufmerksamkeit für den nächsten
Redner. Das ist der Kollege Marco Bülow für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich wünsche allen gerade geborenen Kindern und denen,
die demnächst geboren werden, alles Gute. Allerdings:
Wenn die Regierung ihre Atomvorhaben wahrmacht,
werden diese Kinder unnötigen zusätzlichen Gefahren
und Belastungen ausgesetzt. Erst wenn die jetzt neu Geborenen 30 Jahre alt sind, werden sie hoffen können,
dass wir endlich aus der Uralttechnologie Atomkraft
aussteigen. Der radioaktive Abfall - jährlich zusätzlich
400 Tonnen - wird den nachfolgenden Generationen
auch in Tausenden von Jahren noch vor den Füßen liegen. All diese Kinder hatten niemals die Chance, darüber
zu entscheiden, ob die Atomkraftwerke länger laufen
sollen, ob sie Atomkraft überhaupt wollen.
({0})
Sie müssen mit den Gefahren und dem Abfall leben, egal
wie jetzt entschieden wird. Das nennen Sie Demokratie?
Das nennen Sie Generationengerechtigkeit?
({1})
Zu Biblis A: Wenn Biblis A jetzt noch 8 Jahre länger
läuft, dann wird Biblis A am Ende 44 Jahre alt sein. Auf
der Welt gibt es kein Atomkraftwerk, das 44 Jahre alt ist.
Wir haben weltweit keine Erfahrung damit, was mit
Kernkraftwerken passiert, die über 40 Jahre alt sind, wie
sie erodieren und welche neuen Gefahren dadurch entstehen. Wir sprechen nämlich nicht nur über die Gefahren, die jetzt entstehen, sondern auch über die Gefahren,
die hinzukommen, wenn Atomkraftwerke über 40 Jahre
am Netz sind. Wenn wir noch an der Regierung wären,
dann wäre Biblis A jetzt verschwunden.
({2})
So müssen wir diese Gefahr auch in Zukunft hinnehmen.
Es gibt weitere Auswirkungen, beispielsweise auf die
Investitionen in die erneuerbaren Energien. Sie postulieren immer wieder die große Brücke. Das Gegenteil ist
doch der Fall, und deswegen steigen Ihnen die Stadtwerke aufs Dach. Die Auswirkung davon wird sein, dass
die meisten jetzt nicht mehr in erneuerbare Energien investieren, weil sie wissen, dass der Markt gesättigt ist.
Das heißt, der Weg ins solare Zeitalter wird deutlich länger.
Es ist ferner fraglich - das ist eine weitere Auswirkung -, ob Gorleben, sofern Sie es als Endlager durchsetzen, für den Atommüll überhaupt ausreicht oder ob
wir ein weiteres Endlager brauchen. Auch darüber sollten Sie sich vielleicht einmal Gedanken machen.
Da wir schon beim Thema Müll sind: Jedes Unternehmen, auch jede Currywurstbude braucht einen Entsorgungsplan. Nur diejenigen, die den gefährlichsten Abfall
von allen produzieren, haben, 50 Jahre nachdem das erste
Atomkraftwerk in Deutschland ans Netz ging - Herr
Kauch, wir sprechen nicht von 7, sondern von 50 Jahren -, noch immer keinen Entsorgungsplan und noch immer kein Endlager. Das sollten wir, glaube ich, auch einmal auf den Punkt bringen. Das ist absurd.
({3})
Frei nach Minister Brüderle, der heute von Einstiegsregierung gesprochen hat: Ja, Sie sind eine Einstiegsregierung, und zwar steigen Sie ein in eine alte, gefährliche Versorgungs- und Energiepolitik. Sie sind vor allen
Dingen eine Einstiegsregierung für die Allmacht der
Atomlobby.
Es fing an mit Herrn Hennenhöfer. Das muss man sich
noch einmal zu Gemüte führen: Herr Hennenhöfer war einer der größten Atomlobbyisten, den es in Deutschland
gab. Den haben Sie als Erstes in die Regierung geholt, um
ihn für die Atomfragen zuständig zu machen. Dann haben
Sie eine Anwaltskanzlei, die hauptsächlich für RWE arbeitet, beschäftigt, um einen Atomvertrag zu schreiben.
Dann haben Sie für Ihre Prognose noch einen Gutachter
bestellt, der von den großen Energieversorgungsunternehmen getragen wird.
Herr Kauch, Sie haben gerade davon gesprochen,
dass dieses Gutachten und die Prognose nicht in erster
Linie berücksichtigt würden. Schauen Sie bitte einmal in
Ihr Energiekonzept! Darin steht nicht nur, dass die Prognose wichtig ist, sondern auch, dass das, was darin
steht, der Kompass für Ihre Energiepolitik ist. Schauen
Sie da vielleicht einmal hinein!
({4})
Zusammengefasst: Da haben also Leute ein Atomgesetz erstellt - es ist ja schön, dass die Bundesregierung
an diesem Atomgesetz überhaupt beteiligt worden ist -,
die hauptsächlich und maßgeblich für die Atomwirtschaft arbeiten. Die haben ihr eigenes Gesetz geschrieben. Das haben Sie hier eingebracht und nennen das
auch noch „Revolution“ und „Einstieg in das Zeitalter
der Erneuerbaren“. Das ist wirklich ein Hohn. Das ist
wirklich das, was ich scheinheilig nenne, Herr Umweltminister.
In Zukunft werden wir uns die Frage stellen müssen,
wie überhaupt mit einzelnen Maßnahmen in dem Bereich umgegangen worden ist. Ich will als ein Beispiel
die Brennelementesteuer nennen, die Sie hier immer
wieder so hochhalten; das sei das Tolle, was Sie der
Energiewirtschaft abgerungen haben.
Ja, im Sommer hörte es sich noch ganz gut an. Wir hatten ja als Erste gefordert, dass es eine Brennelementesteuer geben soll. Irgendwann sind Sie dieser Forderung
gefolgt und haben dann postuliert, Ihr Finanzminister beispielsweise: Die Brennstoffsteuer kommt unbefristet. Sie
wird unabhängig vom Atomgesetz gemacht, und sie hat
auch eine bestimmte Höhe. - Was wir jetzt haben, ist eine
befristete Brennelementesteuer. Sie fällt deutlich niedriger aus, als Sie im Sommer postuliert haben. Das Allerbeste ist: Im Gesetz steht, dass sich die Atomwirtschaft
das Recht nimmt - Sie billigen ihr dieses Recht zu -, dagegen Klage zu führen. Das heißt, Sie gehen doch davon
aus, dass es die Brennelementesteuer am Ende vielleicht
gar nicht geben wird, und nehmen das nur als Ausrede dafür, dass Sie der Atomwirtschaft irgendetwas abgerungen
haben. Das, denke ich, ist scheinheilig.
({5})
Dann zu Ihren Argumenten, Herr Brüderle und Herr
Fuchs - ich kann es nicht mehr hören; denn das sind die
Debatten aus den 70er- und 80er-Jahren -: Wenn wir die
Atomkraftwerke nicht länger laufen lassen, dann gehen
hier die Lichter aus; dann brauchen wir Energie aus
Tschechien usw. - Das sind die alten Kamellen, die immer wieder gebracht werden.
({6})
Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen - vielleicht
kennen Sie die Zahlen ja und verschweigen sie; oder Sie
haben keine Ahnung -: Im ersten Halbjahr 2010 gab es in
Deutschland einen Stromexportüberschuss von 11 Milliarden Kilowattstunden. Das ist ungefähr die Menge von
sieben Atommeilern. Wir könnten also sieben Atommeiler abschalten, ohne auch nur eine Kilowattstunde neu
von irgendwo herholen zu müssen oder durch Erneuerbare generieren zu müssen.
Dazu kommen noch zwei Atomreaktoren, die eigentlich immer stillstehen, die wegen Pannen und anderer
Ungeschicklichkeiten gar nicht am Netz sind. Das heißt,
neun Atomkraftwerke - das ist mehr als die Hälfte könnten wir sofort abschalten, ohne irgendeinen Effekt
zu spüren. Das ist die Realität in Deutschland! Reden Sie
doch nicht davon, dass die Lichter ausgehen!
({7})
Herr Röttgen, was Ihre tollen, unglaublichen Vorhaben und all die Maßnahmen angeht, die Sie durchführen
wollen, so sind 35 von diesen Maßnahmen Prüfaufträge.
Wir wissen doch, wie diese Prüfaufträge am Ende ausgehen. Das ist nur Schönmalerei in Ihrem Gesetz. Im Prinzip haben Sie nichts auf den Tisch gelegt, außer der Verlängerung der Atomlaufzeiten. Deswegen, Herr Röttgen,
werden Sie auch nicht als Umweltminister in die Geschichte eingehen, sondern als Atomminister.
Ich finde es schade, dass die Umweltpolitiker der
Union - sie haben ja heute auch nicht geredet; wahrscheinlich deshalb, weil es ihnen peinlich ist oder weil
sie nicht durften -, von denen ich einige sehr schätze,
leider nicht mitdiskutieren und Ihnen leider keinen Widerstand leisten.
({8})
Zum Schluss. Es gibt ein schönes Sprichwort von
Erich Kästner: Du sollst den Kakao, durch den man dich
zieht, nicht auch noch trinken. - In diesem Sinne: Leisten Sie doch endlich Widerstand! Wir jedenfalls werden
das tun: hier im Parlament und auf der Straße - gegen
Ihre verrückten Pläne.
({9})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Christian Ruck für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bülow, Sie haben ganz übersehen, dass ich noch
drankomme. Ich bezeichne mich tatsächlich als Umweltpolitiker.
({0})
Deswegen möchte ich an dieser Stelle gern meine Version der Dinge vortragen:
Ich bin jetzt immerhin schon 20 Jahre Parlamentarier
und habe vieles erlebt. Ich muss aber zugeben: Von dieser unwürdigen und unseriösen Show, die Sie von RotGrün in diesen Wochen im Rahmen der Energiediskussion abliefern, bin ich schon beeindruckt. Sie arbeiten
mit Unterstellungen, mit Verleumdungen, mit Verdächtigungen und auch mit Verhetzung. Sie schüren Gewalt
und wecken Illusionen. Das ist mit meinem Verständnis
von Parlamentarismus nicht zu vereinbaren.
({1})
In dieser Debatte geht es um mehr als nur um das eine
oder andere Einzelgesetz. Es geht um eine grundsätzliche Weichenstellung, auch für das Wohl und Wehe unserer Kinder und Kindeskinder.
({2})
Mich ärgert zum Beispiel, dass Sie die Bundesregierung
kritisieren, weil sie die Endlagerfrage jetzt entschlossen
angeht,
({3})
was Sie zehn Jahre lang mit allen möglichen Mitteln verhindert haben. Ich kann mich noch gut an die Auseinandersetzungen erinnern, die wir im Parlament geführt haben. Sie haben nichts anderes getan, als der Bevölkerung
den Atommüll vor die Füße zu kippen. Noch jetzt stehen
die Castorbehälter in der freien Prärie, sozusagen in besseren Garagen.
({4})
Das ist keine Antwort auf die Atommüllfrage. Das war
Feigheit und Verantwortungslosigkeit.
({5})
Ich möchte Ihnen jetzt einmal etwas zu den angeblichen Lobbyisten in diesem Haus sagen: Die Kernkraftbetreiber haben insbesondere für die Forschung aufsummiert Subventionen in Höhe von 20 Milliarden Euro
erhalten. Die Solarbranche, die ganz offiziell und finanziell dem einen oder anderen von Rot-Grün nahe steht,
wird in den nächsten Jahren Subventionen in Höhe von
100 Milliarden Euro erhalten. Die Kernkraft macht aber
ein Viertel der Stromerzeugung aus - und die Photovoltaik nur 1 Prozent - und verursacht zehnmal so hohe
CO2-Vermeidungskosten wie die Windenergie. So viel
zum Thema Lobbyismus.
Was ich außerdem als Unverschämtheit ansehe, ist
Ihre Geschichte mit den Geheimverträgen. Das ist eine
Verleumdung.
({6})
Was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, unterscheidet sich nicht von dem, was wir jetzt machen. Im
Gegensatz zu Ihren Mauscheleien von damals werden
die Verträge erst unterschrieben, wenn das gesamte parlamentarische Verfahren durchgezogen ist
({7})
und dieses Hohe Haus darüber beschlossen hat. Das unterscheidet uns von den damaligen Weicheikoalitionären
von Rot-Grün fundamental.
({8})
Ich bekenne mich ohne Wenn und Aber zu diesem
Energiekonzept. Es ist ein großes Rad. Es beinhaltet
ehrgeizige Ziele. Wir haben den Weg dazu gewiesen.
Herr Hempelmann, ich bin immer für einen seriösen
Austausch von Meinungen. Ich würde nie sagen, dass
dieses Energiekonzept keine Verbesserungen nötig hat.
Wir werden im Laufe der nächsten Jahre und vielleicht
auch der nächsten Jahrzehnte sehr wohl miteinander diskutieren können, was wir korrigieren müssen und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt. Die Weichenstellungen, die hier getroffen sind, halte ich aber für
richtig.
Das betrifft auch die Laufzeitverlängerung. Ich habe
immer Respekt vor Leuten gehabt - auch vor Kollegen -,
die gesagt haben: Wir wollen dieses Restrisiko auch wegen Tschernobyl damals nicht tragen. - Es ist aber genauso ehrenhaft, wenn man in einem Abwägungsprozess
zu anderen Ergebnissen kommt - vor dem Hintergrund
der völlig anders gearteten Sicherheit der deutschen
Kernkraftwerke und alternativer Gefahren wie dem Klimawandel -, wenn man die Atommüllfrage ganz entschlossen angeht und das Atommüllproblem löst.
Ich sage ganz offen: Durch die längeren Laufzeiten
der Kernkraftwerke, die billigen und CO2-freien Strom
liefern,
({9})
verschaffen wir uns die nötigen gewaltigen Finanzmittel,
({10})
die für den Umbau unserer nationalen Wirtschaft nötig
sind, und zwar ohne dass wir Hunderttausende von Arbeitsplätzen ins Ausland treiben. Das ist der eigentliche
Punkt. Das ist die eigentliche Brücke, eine Brücke, die
nicht ins Nichts führen darf.
({11})
Die erste Lebenslüge von Rot-Grün lautet, dass unsere Wirtschaft auch dann blüht, wenn die Energiekosten
steigen.
({12})
Die zweite Lebenslüge ist, dass die erneuerbaren Energien sofort die Rolle der konventionellen Kraftwerke
übernehmen könnten.
({13})
Ich sage Ihnen: Wenn wir Ihrer Strategie folgen würden, wäre das ein gigantischer Schildbürgerstreich. Dann
würden wir nämlich mit teurem Geld, und zwar dem der
normalen Stromkunden und Bürger, einen Hype im Bereich der Sonnen- und Windenergie erzeugen.
({14})
Aber der Strom könnte gar nicht mehr abgenommen
werden, weil wir weder die nötigen Speichertechnologien noch die nötigen Netze haben.
({15})
Deswegen ist es nur logisch,
({16})
dass wir Geld und Zeit gewinnen müssen, sowohl für die
Entwicklung neuer Technologien und neuer Netze
({17})
als auch, Herr Kelber, für die Entwicklung von Technologien zur CO2-Abscheidung.
Auch Sie von Rot-Grün könnten an dieser Stelle beweisen, dass es Ihnen wirklich um den Klimaschutz
geht.
({18})
Wir haben die Chance. Wir brauchen aber noch mehr
Technologien. Allein mit der CO2-Abscheidetechnologie
({19})
könnten wir die 12 Tonnen CO2, die jeder Bundesbürger
pro Jahr verursacht,
({20})
um 5 Tonnen reduzieren. Das wäre ungeheuer viel.
({21})
Deswegen ist die CO2-Abscheidung ein wichtiger Bestandteil unseres Energiekonzeptes.
Darüber hinaus brauchen wir Geld und Zeit für die
Gebäudesanierung; auch dies ist für uns ein entscheidender Hebel.
Jetzt komme ich zum Wettbewerb.
Herr Kollege, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Ja.
Der Kollege Bülow würde gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Nein, keine Zwischenfrage.
({0})
Die Einwände der Kommunen und die Diskussion mit
ihnen müssen wir sehr ernst nehmen. Ich habe den Eindruck, dass der Widerspruch der Kommunen, seitdem
unser Energiekonzept vorliegt, erheblich geringer geworden ist,
({1})
weil auch wir Parlamentarier einiges zum Wohle der
Kommunen getan haben. Ich sage noch einmal: Ich halte
die Kommunen für ein ganz wichtiges Element der Wettbewerbsregulierung auf unserem Energiemarkt.
({2})
Lassen Sie mich darauf hinweisen - Herr Kauch hat
es schon gesagt -: Gerade wir Umweltpolitiker und auch
die Entwicklungspolitiker sind stolz darauf, erkämpft zu
haben, dass ab dem Jahr 2013 nicht 50 Prozent der
Mehrerlöse aus dem Handel mit Emissionszertifikaten
für den Umwelt- und Klimaschutz bereitgestellt werden,
sondern 100 Prozent.
({3})
Hier hat uns auch der Bundesfinanzminister, der über
seinen Schatten gesprungen ist, geholfen. Dafür bin ich
ihm sehr dankbar.
({4})
Meine Damen und Herren, unsere Fraktion hat in dieser Woche den Kongress „Klima und Energie - Technologien für eine nachhaltige Zukunft“ veranstaltet. Dieser
Kongress hat mich beschwingt. Wir haben noch viele
Möglichkeiten. Aber wir brauchen auch noch viele
Technologiesprünge, um unsere ehrgeizigen Ziele zu erreichen.
Wir setzen der rot-grünen Kultur des Destruktivismus
eine ganz andere Haltung entgegen. Wir vertrauen auf
den Mut, auf den Einfallsreichtum und auf die Tatkraft
der deutschen Ingenieure und Naturwissenschaftler. Wir
setzen auf Innovation. So werden wir die ökonomische
und die ökologische Führerschaft Deutschlands in der
Welt ausbauen.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bernhard Schulte-Drüggelte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über das Energiekonzept der
Bundesregierung. Die fünf Gesetzentwürfe beraten wir
zum ersten Mal. Es geht um den Energiemix der Zukunft, um eine zuverlässige, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung. Wir haben heute erlebt
- wie auch in den letzten Tagen und Wochen -, dass natürlich kontrovers, hitzig und aufgeregt diskutiert wird;
das ist völlig selbstverständlich. Aber, werte Kollegin
Höhn, es wäre schön, wenn man zumindest in der Nähe
der Wahrheit bliebe.
({0})
Ich bin der Meinung, dass die Probleme möglichst sachlich debattiert werden sollten und dass man sich am
Wohl der Allgemeinheit orientieren sollte. Zumindest
sollte man das versuchen.
Bei der Rede von Herrn Trittin vorhin ist mir aufgefallen: Wenn man sehr laut ist, wird das Argument nicht
besser. - Ich erinnere mich noch an Joschka Fischer. Er
hat einmal gesagt, wenn er schreien wolle, dann gehe er
ins Fußballstadion. Sie sollten sich vielleicht einmal ein
Beispiel daran nehmen.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger und auch die Wirtschaft
haben einen Anspruch auf verlässliche Antworten für die
kommenden Jahre und auch für die nächsten Jahrzehnte.
({2})
Wir sollten verlässlich sein. Orientierung ist nötig. Ich
möchte in diesem Zusammenhang am Anfang der Beratungen nur zwei Fragen stellen. Die erste Frage richtet
sich an die Menschen, die Energie einsparen sollen: Zu
welchen Investitionen können wir die Menschen ermuntern, und wie kann der Staat das unterstützen? Die
zweite Frage richtet sich an die Wirtschaft: Welche Investitionen können wir der Wirtschaft zumuten, ohne
dass sie Betriebe und Arbeitsplätze ins Ausland verlegt?
Das sind für mich die wichtigen Fragen, die die Grundlage der Beratung sind.
Es geht um die Interessen verschiedener Branchen;
das haben wir gerade in einigen Beiträgen gehört. Aber
für mich geht es nicht um Industrieinteressen. Für mich
geht es vielmehr um das wohlverstandene Interesse unseres Industrielandes. Ich finde, das ist ein Unterschied,
den man einmal herausstellen sollte.
({3})
Der Bundestag wird jetzt öffentliche Anhörungen
durchführen. Dabei besteht für Wissenschaft und Wirtschaft die Möglichkeit, Argumente darzulegen. Herr
Kelber, die Beratungen fangen jetzt erst an, und die Entscheidungen fallen später. Sie brauchen sich jetzt noch
nicht zu entscheiden. Warten Sie die sachlichen Beratungen ab und treffen Sie erst dann die Entscheidung!
({4})
Ich finde eines ganz besonders wichtig, nämlich dass
sich die Abgeordneten ihrer öffentlichen Verantwortung
bewusst sind
({5})
und einigermaßen neutral bleiben, vielleicht auch eine
innere Distanz haben und dann im Interesse des Landes
entscheiden.
({6})
- Das habe ich gerade gesagt; so sollte es sein. - Was
Herr Gysi vorhin gesagt hat - er ist jetzt nicht mehr hier;
Sprüche, und dann weg -, war nicht in Ordnung; denn
die Vorgehensweise, die ich gerade aufgezeigt habe und
der auch Sie zustimmen, ist keine Schwächung der Demokratie, sondern eine Stärkung der Demokratie.
({7})
- Das stimmt!
Die erneuerbaren Energien sollen eine tragende
Säule der künftigen Energieversorgung werden. Das ist
ein Ziel, das viele von uns haben. Wir streiten uns jetzt
über den richtigen Weg; das ist selbstverständlich. Die
Koalition will Wirtschaft und Umwelt zusammenbringen. Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit - das sind die Stichworte.
Herr Fuchs hat gerade schon gesagt: Wir wollen eine
ideologiefreie und technologieoffene, aber keine machtorientierte Energiepolitik. Das ist das Ziel.
({8})
- Das ist das Ziel, Herr Kollege.
({9})
Zu einer sachorientierten Problemlösung - lassen Sie
mich das noch sagen - gehört auch eine sachorientierte
Sprache. Das Schüren von Emotionen ist bestimmt nicht
immer hilfreich. Vor allem spricht das gegen eine ernsthafte Debatte, die bei diesem ernsten Thema nötig ist.
Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen um Sprüche und
nicht um die Sache geht. Ich bin zwar für ein streitiges
Debattieren, aber dieses streitige Debattieren sollte im
Interesse der Zukunftsfähigkeit des Industrielandes
Deutschland sein.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Es geht dabei um die Tagesordnungspunkte
25 b bis 25 d und 25 f sowie die Zusatzpunkte 8 bis 10
und 12. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3051, 17/3052, 17/3053,
17/3055, 17/3043, 17/3044, 17/3061 und 17/3049 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.
Nun geht es um die Überweisungen, bei denen die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 25 a. Der Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP zum Energiekonzept der Bundesregierung auf Drucksache 17/3050 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Wir stimmen nun zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das
heißt Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit
mehrheitlich abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab, das heißt Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e. Hier wird interfraktionell
die Überweisung des Entwurfs eines Kernbrennstoffsteuergesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
auf Drucksache 17/3054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
ist ebenfalls strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und
FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss.
Die Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen wünschen Federführung beim Finanzausschuss.
Auch hier stimmen wir zunächst einmal über den Vorschlag der Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt Federführung beim
Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dann ist dieser Überweisungsvorschlag
abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab, das heißt Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist angenommen, das heißt die Federführung liegt beim Haushaltsausschuss.
Zusatzpunkt 11. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit
eines Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung der
Laufzeiten von Atomkraftwerken auf Drucksache 17/3083
soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD wünschen Federführung beim Innenausschuss. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim
Rechtsausschuss.
Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt
Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dann ist dieser Überweisungsvorschlag
abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU, FDP und SPD ab, das heißt
Federführung beim Innenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit
den Stimmen der Fraktionen, die diese Federführung
auch beantragt haben, angenommen, das heißt die Federführung liegt beim Innenausschuss.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rente ab 67 vollständig zurücknehmen
- Drucksache 17/2935 6654
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren. Wenn die Gespräche der Kolleginnen und
Kollegen außerhalb des Plenarsaals durchgeführt werden
und wir die volle Konzentration auf die Redner dieser
Debatte haben, dann kann ich die Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die
Linke.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, mit dem
wir das Ansinnen, das Renteneintrittsalter deutlich zu erhöhen, ablehnen wollen. Sie argumentieren, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung notwendig sei,
dass man zukünftig erst mit 67 in Rente gehen kann. Sie
sagen: Weil die Menschen länger leben, verlängert sich
die Zeit, in der sie Rente beziehen. Das ist nicht finanzierbar, und weil es nicht finanzierbar ist, müssen die
Menschen länger arbeiten, um die Rentenbezugszeiten
wieder zu verkürzen. Das greift zu kurz. Wir leugnen
nicht, dass es demografische Veränderungen gibt. Aber
wir glauben nicht, dass es deshalb notwendig wäre, länger zu arbeiten. Ich möchte Ihnen einige Gründe vortragen, warum wir das weder für sinnvoll noch für notwendig halten.
Wir wissen, dass das Bruttoinlandsprodukt jährlich
in einer Größenordnung von etwa 1,5 Prozent wächst.
Das bedeutet, dass wir im Jahre 2030 ein deutlich höheres Bruttoinlandsprodukt haben als heute. Ferner wissen
wir, dass gleichzeitig die Zahl der Menschen, die im Jahr
2030 in der Bundesrepublik Deutschland leben werden
- das sagen uns alle Demografen -, sinken wird. Es werden deutlich weniger sein, als es heute sind.
Was haben wir dann für einen Zustand? Wir haben
den Zustand, dass der Kuchen, der zu verteilen ist, deutlich größer geworden ist. Im Jahr 2030 wird er rund
30 Prozent größer sein, es werden sich aber deutlich weniger Menschen diesen Kuchen teilen müssen. Wenn ich
den Dreisatz heranziehe, den man auf der Volksschule
Sauerland lernt, dann weiß ich, dass die einzelnen Kuchenstücke - wenn der Kuchen größer wird und weniger
Leute ihn sich teilen müssen - nicht kleiner, sondern
größer werden. Das Problem ist, dass Sie diesen Tatbestand permanent leugnen.
({0})
- Das hat mit Baumschule nichts zu tun, sondern es hat
etwas damit zu tun, dass Sie das Argument benutzen, um
die Menschen hinter die Fichte zu führen - wie die
Kanzlerin immer so schön sagt -, indem Sie so tun, als
sei das ein demografisches Problem. Das ist es aber
nicht.
Warum gibt es aber trotzdem ein Problem, wenn der
Kuchen größer wird und damit auch die Kuchenstücke?
Jemand klaut uns den halben Kuchen, bevor er an die
Bürgerinnen und Bürger und an die Rentnerinnen und
Rentner verteilt wird. Diesen Kuchenklau betreiben Sie.
({1})
Ich sage Ihnen auch, in welcher Weise Sie das tun. Sie
tun das dadurch, indem Sie beispielsweise die Einführung des Mindestlohns verweigern. Durch die Verweigerung des Mindestlohns fehlen Einzahlungen in die
Rentenkassen. Sie verweigern es dadurch, dass Sie Leiharbeit in der derzeit geltenden Form zulassen, weil Leiharbeiter deutlich weniger verdienen als Vollzeitbeschäftigte in einem normalen Arbeitsverhältnis. Auch dies ist
Kuchenklau: Wir wissen, dass 40 Prozent der neu abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse insbesondere bei jungen
Menschen nur noch als befristete Verhältnisse abgeschlossen werden, weshalb auch die Bezahlung niedriger
ist. Wir wissen auch, dass die Menschen durch die
Hartz-Gesetze so viel Angst vor einem Arbeitsplatzverlust haben, dass sie bereit sind, Lohnsenkungen hinzunehmen.
Es ist Fakt, dass wir in der Bundesrepublik eine sinkende Lohnquote zu verzeichnen haben; das werden Sie
doch wohl nicht leugnen wollen. Wenn Sie die Löhne
von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von dem
größer werdenden Kuchen abkoppeln, dann ist es logisch, dass wir Probleme bei der Finanzierung der Rentenkasse haben. Das hat aber nichts mit Demografie zu
tun, sondern schlichtweg mit der Tatsache, dass Sie den
Menschen, insbesondere auch den Rentnern, einen großen Teil dessen vorenthalten, was in diesem Land erwirtschaftet wird. Das ist eine Tatsache.
({2})
Frauen sind davon besonders betroffen. Wir wissen,
dass die geringeren Löhne von Frauen später zu geringeren Rentenleistungen führen werden. Auch dazu haben
Sie mit Ihrem Vorschlag, die Rente ab 67 einzuführen,
keinen vernünftigen Beitrag geleistet.
Ein anderes Argument betrifft die Frage, ob der Arbeitsmarkt und die Beschäftigungssituation insgesamt
es hergeben, die Menschen länger arbeiten zu lassen. Da
genügt ein Blick auf die Realität. Nur 9,9 Prozent der
64-Jährigen, also derjenigen, die bis 67 arbeiten sollten,
haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung,
nur 6,4 Prozent arbeiten Vollzeit. Das sind Zahlen der
Bundesregierung. Wenn man sich die einzelnen Berufsgruppen anschaut, dann stellt man fest: Von den Malern
und Lackierern sind es gerade einmal 2,9 Prozent, die im
Alter von 64 Jahren noch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben, von den Mechanikern sind es
2,8 Prozent, im Bau- und Raumausstattergewerbe sind es
2,7 Prozent, von den Bäckern sind es 2,0 Prozent und
von den Dachdeckern, Gerüstbauern und Zimmerern
sind es 1,6 Prozent. Denen, deren Beschäftigungsquote
im Alter von 64 Jahren - es geht um die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung - nur 1,6 Prozent beträgt,
sagen Sie, sie sollten bis 67 arbeiten. Wissen Sie was?
Diese Leute halten Sie schlichtweg für verrückt. Diese
Rechnung geht einfach nicht auf.
({3})
Wenn also insgesamt 90 Prozent außen vor sind, dann
gibt die Arbeitsmarktsituation einen späteren Renteneintritt schlichtweg nicht her. Die höchste Arbeitslosenquote bei den 55- bis unter 65-Jährigen haben wir in
Ostdeutschland mit 13 Prozent. Wenn man sich den Anteil der Älteren an den Erwerbslosen ansieht, dann stellt
man fest, dass wir seit 2004 eine kontinuierliche Steigerung des Anteils der Älteren an den Erwerbslosen insgesamt haben. Und dann sagen Sie, dass die Arbeitsmarktsituation es erlaubt, dass die Menschen länger arbeiten.
36 Prozent der Betriebe beschäftigen keinen einzigen
Menschen über 50. Nur 11,7 Prozent der neu Eingestellten sind über 50 Jahre alt. Gleichzeitig kürzen Sie noch
die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, die diese
Situation vielleicht ändern könnte.
An Ihren Aussagen wird deutlich, dass Sie es überhaupt nicht darauf anlegen, das zu tun, was im Gesetz
mit Ihrer Zustimmung beschlossen wurde, nämlich im
Jahr 2010 zu prüfen, ob die Arbeitsmarktsituation überhaupt ein späteres Renteneintrittsalter ermöglicht. Sie
nehmen diese Prüfung überhaupt nicht ernst. Frau von
der Leyen, ich zitiere Sie aus dem Focus vom
17. Mai 2010:
Es hat enorme Kraft gekostet, die Rente mit 67 festzuschreiben. Wenn wir keine griechischen Verhältnisse wollen, müssen wir länger arbeiten. Wir leben
auch länger.
Sie bringen kein einziges Argument bezüglich der Beschäftigungssituation in der Realität.
({4})
Herr Brauksiepe sagt es noch deutlicher. Er ist ein
ganz Ehrlicher. Er sagte über die Rente mit 67:
Es wird dabei bleiben, egal wie die Beschäftigung
Älterer aussieht.
So veräppeln Sie die Leute im Land.
({5})
Sie tun so, als würden Sie tatsächlich darüber nachdenken; in Wirklichkeit haben Sie die Entscheidung aber
längst gefällt.
Es wird immer angeführt, die Situation in den Betrieben werde sich verbessern. Im Jahr 2009 haben nur
44 Prozent aller Betriebe überhaupt Weiterbildung betrieben, und zwar für die gesamte Belegschaft. Wir wissen auch, dass Weiterbildung in den Betrieben in der Regel für die Höherqualifizierten angeboten wird und
weniger für die, für die die Rente mit 67 unmöglich ist.
Also hält auch das Argument der Weiterbildung einer
Überprüfung nicht stand.
In Wirklichkeit führt die Rente ab 67 für 90 Prozent
der Beschäftigten zu höheren Abschlägen. Sie wissen
das. Der Abschlag beträgt 7,2 Prozent für alle, die schon
im Alter von 64 Jahren keinen Job mehr haben und dann
bis 67 arbeiten müssten. Das ist offensichtlich gewollt.
Die Rente ab 67 ist nichts anderes als ein Rentenkürzungsprogramm. Das ist das, was Sie den Menschen
hierzulande zumuten.
({6})
Ich möchte auf eine Größenordnung hinweisen. Die
Höhe der Abschläge hat von 2000 bis 2008 von 35 Euro
auf durchschnittlich 115 Euro zugenommen. Das bedeutet, dass wir bei einem durchschnittlichen Rentenanspruch von 848 Euro noch einmal 115 Euro abzuziehen
haben. Sie treiben mit der Rente ab 67 die Menschen in
die Grundsicherung im Alter. Das ist es, was Sie offensichtlich vorhaben. Sie wollen die gesetzliche Rente kaputtschießen, um die privaten Versicherungen zu stützen.
Das ist Ihr Konzept.
({7})
Ein weiteres Argument, das Sie immer anführen, ist
das der Generationengerechtigkeit. Wir wissen, dass
nur um 0,5 Prozent höhere Beiträge notwendig wären,
um auf die Rente ab 67 zu verzichten; 0,25 Prozent für
den Arbeitnehmer.
Ich kenne keinen, der wegen 0,25 Prozent zwei Jahre
länger arbeiten möchte. 0,25 Prozent sind beim Durchschnittsverdiener 7 Euro. Wegen 7 Euro zwei Jahre länger arbeiten zu lassen, das ist dann Ihre Generationengerechtigkeit. Ich sage Ihnen: Sie treffen mit diesem
Vorschlag Jung und Alt gleichermaßen. Die Jungen kriegen weniger Geld, kriegen weniger Rente und sollen länger arbeiten. Den Alten muten Sie zu, in den Betrieben
zu bleiben, bis sie umfallen. Vielleicht löst sich dann das
eine oder andere Rentenproblem biologisch. Das ist offensichtlich das, worauf es hinausläuft.
({8})
Meine Damen und Herren, ich halte diese Politik, die Sie
hier betreiben, für absolut unzumutbar. Deswegen
möchte ich auch noch einmal auf unsere Vorschläge eingehen; dies ist nötig.
Die Rente mit 67 gehört sofort zurückgenommen. Es
ist auch keine Lösung - das muss ich meinen Kolleginnen und Kollegen der SPD sagen -, zu sagen: Dann warten wir mal bis 2015, aber 2029 wird sie dennoch voll
wirken. Ihr Vorschlag, dass die Rente mit 67 bei einer
Beschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen von 50 Prozent eingeführt werden soll, bedeutet dann immer noch,
dass die Hälfte der Betroffenen nur eine Rentenkürzung
kriegt. Das kann doch nicht eure Lösung sein. Deshalb
überdenken Sie diesen Vorschlag bitte noch einmal, damit wir da zurande kommen.
Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen natürlich sofort
eine Stabilisierung der Löhne, unter anderem den gesetzlichen Mindestlohn, und wir brauchen vor allen Dingen
eine andere Rentenformel. Wir brauchen eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen und in der alle
gleich behandelt werden - auch die Beamten, auch die
Selbstständigen und auch wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages.
({9})
Es ist nicht akzeptabel, dass hier den Menschen dauernd eine Kürzung der Renten - auch mit der Rente ab 67 verordnet wird, während gleichzeitig die Abgeordneten
des Bundestages so tun, als würde es sie überhaupt
nichts angehen. Es geht sie auch tatsächlich nichts an,
weil sie sich selber eine höhere Rente genehmigen. Das
ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel. Es muss bei der
Rente ab 65 bleiben, und es muss für bestimmte Berufsgruppen eine Möglichkeit zum vorzeitigen Ausstieg geben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für diejenigen in unserem Land, die in den nächsten 10, 20 Jahren in Rente gehen können, also die Seniorinnen und Senioren der Zukunft, gibt es eine wirklich
gute Nachricht. Diese Nachricht ist, dass die Lebenserwartung, dass die Lebenszeit, die wir beim Renteneintritt
vor uns haben, in den kommenden Jahrzehnten noch einmal deutlich ansteigen, wir also einen echten Gewinn an
Lebenszeit und Lebensqualität haben werden, und dass
sich damit auch die Zeit, in der wir aufgrund einer lebenslangen Arbeitsleistung Rente beziehen, noch einmal
deutlich ausweiten wird.
Ich finde, diejenigen, die diesen erfreulichen Zugewinn an Rentenleistung, an Lebensqualität, an Lebenszeit haben werden, dürfen sich auch mit einem Stückchen Solidarität für diesen Zugewinn bedanken. Die
Antwort auf die Frage, ob wir in den kommenden Jahren
und Jahrzehnten eine Veränderung an der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung vornehmen, richtet sich zuallererst danach, ob das Solidaritätsprinzip in der Sozialversicherung in unserem Land noch
funktioniert.
({0})
Damit komme ich sehr bewusst - dies auch aufgrund
meiner Vorbildung - zu der christlichen Soziallehre, zu
der als wichtiges Prinzip das Solidaritätsprinzip gehört.
Aber ich habe gelernt, dass auch bei der Linken, bei den
Sozialisten, Solidarität ein hoher Wert sei.
({1})
Deswegen muss ich Ihnen Folgendes sagen: Solidarität
ist keine Einbahnstraße. Wenn sich diejenigen, die an der
Bezugsdauer von Rente, an Lebensjahren und an Lebensqualität etwas hinzugewinnen, zu Recht auf die Solidarität der Jungen, die dafür bezahlen, verlassen können, dann kann es umgekehrt nicht verkehrt sein, dass
die Älteren auch ein Stück Solidarität mit den Jungen
üben und ihnen dieses Bezahlen ein bisschen erleichtern.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deswegen ist das,
was die Linke hier vorführt, der Todesstoß für das Solidaritätsprinzip in unserem Land.
({2})
- Norbert Blüm war ein Bundesarbeitsminister, der in
der Tradition der christlichen Soziallehre und des Solidaritätsprinzips stand und deswegen dafür gesorgt hat,
dass die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland
ein stabiles System der Altersvorsorge ist und bleibt.
({3})
Der Kollege Ernst, der offensichtlich ein fleißiger Bäcker ist, hat versucht, das Ganze mit dem Kuchenbeispiel etwas anders darzustellen.
({4})
Er hat allerdings etwas Entscheidendes verschwiegen:
Der Kuchen der Zukunft wird anders aufgeteilt als heute.
({5})
Heute teilen sich diesen Kuchen sehr viele Erwerbstätige
und wenige Rentnerinnen und Rentner. In der Zukunft
werden sich immer weniger Erwerbstätige den Kuchen
mit Rentnerinnen und Rentnern teilen. Schon das zeigt,
dass sein Kuchenbeispiel nicht stimmt. Wer Kuchen
stiehlt, fährt eben Porsche, Herr Ernst.
({6})
Richtig ist: Wenn überhaupt eine Chance bestehen
soll, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
länger arbeiten, als das heute der Fall ist, dann muss es
auch die entsprechenden Arbeitsplätze dafür geben. Die
Erfahrung der vergangenen 10 bis 20 Jahre war, dass es
diese Arbeitsplätze nicht in genügender Zahl gab. Deswegen ist die Erwerbstätigenquote Älterer in Deutschland immer weiter gesunken. Vorruhestandsmodelle
wurden modern, durch die dafür gesorgt wird, dass die
Erwerbsquote Älterer so niedrig ist, wie sie ist.
In den kommenden 10 bis 20 Jahren wird sich diese
Entwicklung allerdings ins Gegenteil verkehren. Im Jahr
2029 - das ist das Jahr, in dem die neue Regelaltersgrenze 67 in Kraft treten soll - werden wir in Deutschland fast 8 Millionen Erwerbstätige weniger als heute
haben. Schon heute wird uns ein massiver Fachkräftemangel vorausgesagt. Angesichts dieser Situation kann
man eben nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.
Peter Weiß ({7})
Vielmehr muss man jetzt handeln; denn die notwendige
Anzahl an Arbeitsplätzen ist in den kommenden Jahren
erkennbar vorhanden. Wenn wir nicht handeln, werden
wir den Fachkräftemangel in Deutschland massiv erhöhen.
Zu Recht fordern die Wählerinnen und Wähler, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger von uns, den Politikern, immer, ihnen die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit
ist: 2029 gibt es 8 Millionen Erwerbstätige weniger als
heute. Wir haben einen dringenden Bedarf, dass Menschen länger arbeiten. Es gibt die Chance, das zu gewährleisten, und diese Chance sollten wir auch nutzen.
({8})
Jetzt kann man sich natürlich fragen: Wie macht man
das?
({9})
SPD und Linke haben den Vorschlag gemacht, abzuwarten.
({10})
Man will schauen, wie sich die Erwerbstätigkeit Älterer
entwickelt, und irgendwann später möchte man handeln.
({11})
- Doch. Sie wollen abwarten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Birkwald?
Bitte.
Herr Kollege Birkwald, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Weiß,
ich habe zwei Fragen an Sie.
Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 gesagt - ich zitiere -:
Wenn wir es nicht schaffen, dass auch die Älteren
wieder die Chance haben, länger arbeiten zu können, dann werden wir in der Gesellschaft kein Verständnis dafür erhalten, dass wir die Lebensarbeitszeit insgesamt verlängern. Beides muss Hand in
Hand gehen. Alles andere wird keine Akzeptanz
finden.
({0})
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie erstens, zu bewerten, was es dann bedeutet, dass im Jahr 1999
29,6 Prozent derjenigen, die neu in Rente gegangen sind,
aus versicherungspflichtiger Beschäftigung kamen und
es dann mit mehr oder weniger kontinuierlichem Absinken im Jahr 2008 nur noch 17,8 Prozent waren. Dazu
hätte ich gern eine Antwort von Ihnen.
({1})
Zweitens möchte ich Sie fragen, wie Sie auf die Idee
kommen können, dass das Kuchenbeispiel, das Klaus
Ernst vorgetragen hat, falsch sei. Die Kuchenstücke werden natürlich größer, wenn es weniger Menschen in der
Gesamtgesellschaft gibt. Das ist jetzt nicht irgendwoher,
sondern das können Sie gern nachlesen: „Rente mit 67“,
Monitoring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte
Rente. Darin sind die Zahlen enthalten.
Im Jahr 1970 gab es einen Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung, der im Jahr 2060 wieder erreicht werden wird. Warum das in der Zwischenzeit, in
der wir im Verhältnis deutlich mehr Erwerbspersonen
haben, ein Problem sein soll, erschließt sich mir nicht.
Auch darauf hätte ich gerne eine Antwort.
({2})
Es ist alles einfache Mathematik. Sie sollten aber bitte
auch die Variablen im Spiel benennen.
({0})
Erster Punkt. Machen wir ein kleines Beispiel. Heute
trifft sich eine Großfamilie mit zehn Personen. Davon
sind drei Personen in Rente und sieben Personen junge
Leute, die voll und ganz im Erwerbsleben stehen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Diese Leute
essen zusammen den Kuchen. Drei Stückchen bekommen die Senioren, sieben Stückchen bekommen die jungen Leute, die arbeiten gehen und den Kuchen bezahlt
haben.
({1})
In 20 Jahren treffen wir keine zehn Personen mehr am
Tisch, sondern nur noch sechs. Von denen, die da sitzen,
hat natürlich jeder mehr Kuchen zur Verfügung.
({2})
Jetzt kommt aber der große Unterschied. Drei von ihnen sind in Rente, und drei gehen arbeiten und haben
den Kuchen bezahlt. Diesen Punkt haben Sie nicht mit
berechnet. Deswegen ist Ihre Rechnung falsch.
({3})
Zweiter Punkt. Dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit
viele nicht aus dem Erwerbsleben heraus, sondern aus
Arbeitslosigkeit heraus in Rente gehen, ist richtig. Die
entscheidende Frage, die Sie aber völlig ausblenden, ist:
Was bringt die Zukunft?
Peter Weiß ({4})
Am vergangenen Montag haben auch Sie an der
Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales teilgenommen. Herr Dr. Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat uns Folgendes vorgetragen - ich zitiere -:
Die Beschäftigungsquoten haben in den letzten
zehn Jahren enorm zugelegt.
({5})
- Ich beantworte Ihnen Ihre Frage. Sie haben zwei Fragen gestellt. Jetzt bekommen Sie auch zwei Antworten.
({6})
- Doch. - Frau Präsidentin.
Ich habe die Uhr noch nicht weitergestellt.
Gut.
Das gilt im Grunde für alle Altersgruppen, 50- bis
54-, 55- bis 59-, 60- bis 64-Jährige, bei der letzten
Gruppe am allerstärksten. Auch die Erwerbsneigung der Älteren hat kontinuierlich zugenommen.
Herr Birkwald, deswegen ist es richtig, was ich hier
vorgetragen habe. Wir haben schon heute einen Anstieg
der Beschäftigungsquote Älterer. Diese Beschäftigungsquote Älterer werden wir in den nächsten Jahrzehnten
noch einmal deutlich steigern, auch steigern können,
weil nicht genügend jüngere Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt nachkommen.
({0})
Es ist die Frage gestellt worden, was man als Rente
ausbezahlt bekommt. Es ist - wie es oft in Rentendebatten geschieht - das Lied von der sinkenden Rente und
der Zerstörung des gesetzlichen Rentensystems gesungen worden. Die Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung und damit die Möglichkeit, zwei Jahre zusätzlich etwas für seine Rente
anzusparen,
({1})
führt aufgrund des in der Rentenformel enthaltenen
Nachhaltigkeitsfaktors dazu, dass die Möglichkeiten für
Rentensteigerungen in den kommenden Jahren nicht abnehmen, sondern zunehmen. Deshalb ist in Wahrheit die
Anhebung der Regelaltersgrenze für die gesetzliche
Rentenversicherung keine Zerstörung, sondern eine Stabilisierung und schafft die Möglichkeit, dass auch künftigen Rentnerinnen und Rentnern wieder Rentenerhöhungen zugutekommen. Das ist, wie ich finde, eine
positive Nachricht für künftige Seniorinnen und Senioren in unserem Land.
({2})
Nun stellt sich die Frage, wie man das umsetzt. Die
Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte sich zu
Recht dazu entschlossen, die Anhebung der Regelaltersgrenze in kleinen Schritten vorzunehmen, um keinen der
künftigen Jahrgänge von Seniorinnen und Senioren zu
überfordern. Genau das halte ich für den richtigen Weg.
Solidarität verlangt, dass wir die notwendigen Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, auf möglichst viele
Schultern gleichmäßig verteilen. Die Vorschläge, die
Umstiegsphase der Erhöhung des Renteneintrittsalters
von 65 auf 67 Jahre zu verkürzen oder die Erhöhung der
Altersgrenze auf einen Schlag einzuführen, würden in
Wahrheit eine massive Ungerechtigkeit gegenüber den
Jahrgängen mit sich bringen, die es dann treffen würde.
Deshalb noch einmal ein klares Bekenntnis: Wir wollen
das, was auf uns zukommt, solidarisch
({3})
auf möglichst viele Schultern verteilen. Deswegen dauert die Umstiegsphase von 2012 bis 2029. Mir persönlich wäre es ehrlich gesagt sogar lieber gewesen, wenn
diese Phase noch länger dauerte, aber diese Umstiegsphase zu verkürzen - das wird ja insbesondere von der
SPD vorgeschlagen -, würde zur Entsolidarisierung unserer Gesellschaft führen, also dem Gegenteil von Solidarität.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Jahreszahlen 2012 und 2029 sind nicht willkürlich gegriffen.
Im Jahr 2012 werden zum ersten Mal in Deutschland
mehr Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren 65. Geburtstag feiern als Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren
20. Geburtstag. Das Jahr 2012 ist das Jahr, in dem die
Alterspyramide umkippt und die Zahl der Älteren, deren
Erwerbsleben endet, höher liegt als die der Jüngeren, die
in das Erwerbsleben eintreten.
({5})
Im Jahr 2029 werden insgesamt 1,35 Millionen Menschen - der geburtenstärkste Jahrgang war der Jahrgang
1964 - ins Rentenalter kommen. Ins Erwerbsleben treten
dann diejenigen ein, die letztes Jahr geboren wurden,
insgesamt 351 000. Vor diesem Hintergrund wurden die
beiden Daten 2012 und 2029 ausgewählt. Diese Zahlen
wurden nicht willkürlich gegriffen, sondern sie spiegeln
die Lebenswirklichkeit in unserem Land hinsichtlich des
Altersaufbaus unserer Gesellschaft exakt wider.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu Recht wird
darauf hingewiesen - auch von der Frau Bundeskanzlerin; vorhin wurde ja aus ihrer Regierungserklärung zitiert -, dass der Erfolg dieses Konzeptes entscheidend
davon abhängt, ob sich im Denken der Personalchefs unserer Betriebe grundlegend etwas ändert, sie also ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich wieder
mehr wertschätzen und ihnen eine Chance geben, und ob
sich auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen für ältere
Mitmenschen ergeben.
Peter Weiß ({7})
({8})
Deswegen haben wir klugerweise in das Gesetz hineingeschrieben, dass die Bundesregierung darüber regelmäßig einen Bericht zu erstatten hat.
({9})
Sie wird diesen Bericht erstmals im November dieses
Jahres vorlegen.
({10})
Deswegen schlage ich einfach einmal vor, dass wir,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir ständig irgendwelche Schaufensterdebatten zu diesem Thema führen, erst einmal diesen von uns als Parlament selbst in
Auftrag gegebenen Bericht - wir als Parlament haben ja
beschlossen, dass die Regierung einen solchen Bericht
vorlegen soll - zur Kenntnis nehmen, die Zahlen gründlich studieren und auswerten, um dann über notwendige
Konsequenzen miteinander zu beraten. Nicht irgendwelche Wolkenkuckucksheime, sondern die Ergebnisse von
Studien, wie die konkreten Chancen für ältere Menschen
auf dem Arbeitsmarkt aussehen, stellen die Leitlinie für
uns bei der Erhöhung der Regelaltersgrenze in der Rentenversicherung dar. In diesem Bereich werden wir uns
auch in den kommenden Jahren entsprechend arbeitsmarktpolitisch anstrengen müssen. Wir haben die Chance
dazu, und diese Chance sollten wir auch ergreifen.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Josip Juratovic.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir debattieren heute erneut über
die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Das ist mir auch
sehr wichtig; denn diese Diskussion wird in der gesamten Gesellschaft geführt.
Wenn ich in meinem Wahlkreis Gespräche führe, ist
die Rente immer ein sehr emotionales Thema, und das
zu Recht; denn die Diskussion ist häufig von Halbwahrheiten und Populismus geprägt. Die Menschen in unserem Land wollen aber eine ehrliche Debatte über die
Rente. Deshalb müssen wir uns an der Realität orientieren:
Erstens. Immer weniger jüngere Menschen müssen
die Rente von immer mehr älteren Menschen bezahlen.
Zudem werden die Menschen in unserem Land zum
Glück immer älter und beziehen länger ihre Rente.
Zweitens. Viele Menschen in unserem Land können
nicht bis 67 arbeiten. Meine Frau ist Krankenschwester.
Sie und ihre Kolleginnen können unter den derzeitigen
Arbeitsbedingungen nicht bis 67 durchhalten.
({0})
Aus diesen Erkenntnissen müssen wir politische
Schlüsse ziehen. Um unser Rentensystem finanzieren zu
können, brauchen wir Reformen. Somit kommen wir
auch an einer Erhöhung des Renteneintrittsalters nicht
vorbei. Allerdings: Wenn wir das Renteneintrittsalter anheben, müssen wir unsere Arbeitswelt verändern.
In diesem Bewusstsein haben wir in der Großen Koalition die Rente mit 67 beschlossen, und zwar bewusst
zusammen mit einer im Gesetz verankerten Überprüfungsklausel. Demnach ist die Rente mit 67 nur umsetzbar, wenn die Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt
stimmen.
({1})
Das ist und bleibt eine vernünftige Lösung, die sich an
der gesellschaftlichen Realität orientiert.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Linken, mit
Ihrer Forderung, die Rente mit 67 abzuschaffen, verkennen Sie leider die Realität. Der demografische Wandel
lässt sich nicht so einfach wegdiskutieren, auch nicht mit
dem von der SPD geforderten Mindestlohn und der Erwerbstätigenversicherung. Das wissen Sie, und das wissen auch meine ehemaligen Kollegen am Fließband.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schlecht?
Nein. - Meine Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP, auch Sie verschließen sich vor
der Realität. Sie halten stur an der Erhöhung des Renteneintrittsalters fest, ohne Rücksicht auf die Situation auf
dem Arbeitsmarkt. Aber die Arbeitswelt in den Betrieben ist in den letzten drei Jahren nicht altersgerechter geworden. Die Arbeitswelt ist gekennzeichnet von einer
enormen Leistungsverdichtung. Schonarbeitsplätze wurden wegrationalisiert, in vielen Betrieben liegt die Auslastung bei über 95 Prozent, Taktzeiten werden verdichtet, Erholungszeiten werden verkürzt. Es existiert ein
enormer psychischer Druck. Das Arbeitsklima ist durch
den Stress sehr belastet. Das bringt viele Arbeitnehmer
an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit.
Unter diesen Umständen können meine ehemaligen
Kollegen nicht bis 67, allerdings auch nicht bis 65 und
oft nicht einmal bis 60 arbeiten.
({0})
Viele Arbeitnehmer gehen also nicht freiwillig früher in
Rente, sondern können bei den derzeitigen Arbeitsbedingungen einfach nicht mehr mithalten. Sie haben also
keine Chance, tatsächlich bis 67 zu arbeiten.
Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der
FDP, wenn Sie die Rente mit 67 ohne Rücksicht auf die
Situation auf dem Arbeitsmarkt umsetzen, ist dies faktisch eine Rentenkürzung.
({1})
Deshalb müssen wir unsere Arbeitswelt altersgerechter
gestalten, damit die Menschen auch eine Chance haben,
tatsächlich länger arbeiten zu können.
({2})
Erstens brauchen wir gleitende Übergänge in die
Rente. Dazu gehören Gleitzeit, Urlaubsanspruch und
schrittweise Arbeitszeitreduzierung. Wir müssen die Altersteilzeit weiterentwickeln und fördern und flexible altersgerechte Arbeitszeiten einrichten. Wir brauchen eine
Teilrente, damit Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit reduzieren können, ohne einen enormen Einkommensverlust
hinnehmen zu müssen.
Zweitens müssen wir für eine angemessene Rentenhöhe sorgen. Die Rente muss armutsfest sein, um Altersarmut zu verhindern. Dazu zählen Mindestentgeltpunkte,
besonders für Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit
und für geringe Einkommen. Hier müssen wir vor allem
an Geringverdiener denken, die keine Betriebsrente und
keine Riester-Rente erhalten.
Drittens brauchen wir neue Wege im präventiven Gesundheitsschutz gemeinsam mit Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Krankenkassen. Wir brauchen Weiterbildung und Qualifizierung speziell für ältere Arbeitnehmer.
Dazu muss die von der SPD angestoßene Initiative
„50 plus“ ausgeweitet werden. Wir müssen uns Gedanken machen über Schonarbeitsplätze, die eventuell auch
subventioniert werden müssen.
Wir müssen aber auch die Wirtschaft fordern. Die
Politik allein kann die Arbeitswelt nicht altersgerechter
gestalten. Dazu brauchen wir die Unternehmen. Sie müssen sich verändern und können ihre Mitarbeiter nicht
mehr mit 60 Jahren in die Frühverrentung schicken.
In dieser Debatte hilft uns kein Populismus. Vernunft
kennt kein Ja oder Nein. Weder ist es vernünftig, die
Rente mit 67 abzuschaffen, wie es die Linke fordert,
noch ist es vernünftig, die Rente mit 67 ohne Rücksicht
auf den Arbeitsmarkt umzusetzen, wie Union und FDP es
planen. Deshalb sage ich: Vernünftig ist eine abwägende
Lösung, wie sie in der Überprüfungsklausel vorgesehen
ist. Erst wenn die Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt
geschaffen sind, können wir das Renteneintrittsalter erhöhen. Deshalb sollten wir die Erhöhung des Renteneintrittsalters verschieben und die Zeit zur altersgerechten
Gestaltung der Arbeitswelt nutzen. Das ist die ehrliche
und verständliche Ansage der SPD.
Meine Kollegen am Fließband und die Kolleginnen
meiner Frau im Krankenhaus müssen wissen: Die Politik
kümmert sich darum, dass jeder gesund in Rente gehen
und von dieser Rente anständig und in Würde leben
kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Schlecht.
Es ist bedauerlich, dass Sie anscheinend das Kuchenbeispiel des Kollegen Klaus Ernst nicht verstanden haben.
({0})
Denn die Demografie ist nun wirklich kein Argument
dafür, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.
Ich will ein weiteres Beispiel anführen. In den 50er-,
60er-Jahren ist in der Tat eine Art demografischer
Bombe explodiert. Im Jahre 1950 betrug der Altersquotient noch sieben zu eins. Dieses Verhältnis hat sich bis
in die 60er-Jahre hinein auf vier zu eins verschlechtert.
Nach Ihrer Logik hätte sich in diesen zehn, fünfzehn
Jahren ein massiver Sozialabbau und eine massive Verschlechterung der Rentensituation ergeben müssen. Wir
wissen alle: Das Gegenteil ist der Fall. 1958 gab es
durch die große Rentenreform gewaltige Verbesserungen.
Das heißt, Veränderungen im Altersaufbau sind überhaupt kein zwingender Grund dafür, in der Rente zu Verschlechterungen zu kommen. Dass das jetzt so ist, ist
wirklich bedauerlich. Ich sage ganz deutlich: Keiner
sehnt sich mehr als wir danach, dass die SPD in dieser
Frage eine Kurskorrektur vornimmt und sich dadurch resozialdemokratisiert. Davon ist bei der Rente außer diesem einen Ansatz, dass Sie von der SPD die Einführung
der Rente mit 67 um vier Jahre hinausschieben wollen,
leider nichts zu spüren.
Danke schön.
({1})
Wollen Sie erwidern? - Nein.
Dann hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ernst, wenn Sie gestatten, würde ich zunächst einige Bemerkungen an die Adresse der SPD richten und
danach auf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Hoffentlich reicht die Zeit; man kann die Redezeit ja immer mit
Zwischenfragen verlängern.
({0})
Herr Juratovic, wir müssen heute noch einmal feststellen: Die Rente mit 67 ist von einem SPD-Minister
umgesetzt worden, von Franz Müntefering, der dem Vernehmen nach damals unter durchaus dramatischen UmDr. Heinrich L. Kolb
ständen die Kanzlerin zur Seite genommen hat und ihr
vermutlich gesagt hat: Hören Sie, das ist eine unabweisbare Notwendigkeit. - Er hat dann konsequenterweise
die Rente mit 67 ins Gesetz gebracht.
({1})
Mit dieser Feststellung sollte man anfangen.
Dann wurde, vermutlich auf Druck Ihrer Fraktion,
eine Überprüfungsklausel in das Gesetz aufgenommen,
die Sie in Ihrem jüngsten Präsidiumsbeschluss zitieren.
Zuerst werden die Voraussetzungen für die Einführung
festgelegt. Im nächsten Absatz erklären Sie zu Recht,
dass der Prozentsatz der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im
Alter von 60 bis 64 durchschnittlich von 10,7 Prozent im
Jahr 2000 auf 21,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist,
sich also mehr als verdoppelt hat. Sie fangen diesen Satz
mit dem Wort „Zwar“ an, um anschließend zu sagen, der
Anteil müsse noch steigen. Da bin ich absolut bei Ihnen:
Es ist, glaube ich, Konsens in diesem Hause, dass wir die
Erwerbsbeteiligung Älterer nachhaltig steigern wollen.
Herr Kollege Juratovic, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich frage mich aber schon: Welche Erwartungen hatten Sie eigentlich damals im Jahr 2007, als
Sie die Rente mit 67 eingeführt haben? Wollten Sie
schon heute eine Erwerbsbeteiligung von 30 Prozent
oder 35 Prozent erreicht haben?
({2})
Wir kommen hier in Ihrem Sinne - in dem Sinne, in dem
Franz Müntefering damals den Vorschlag gemacht hat deutlich voran. Sie zucken jetzt aber zurück und sagen:
Das reicht uns noch nicht; wir wollen abwarten und setzen es dann gegebenenfalls komprimiert in einem kürzeren Zeitraum um. - Das sind nach meinem Dafürhalten
Ausflüchte. Die Wahrheit ist nämlich: Sie wollen zu keiner Ihrer früheren Reformen mehr stehen.
({3})
Ich finde das traurig.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie die Zwischenfrage
des Kollegen Birkwald?
Ja, selbstverständlich. Ich habe nur fünf Minuten Redezeit.
({0})
Herr Kollege Kolb, Sie haben förmlich nach einer
Zwischenfrage gerufen.
({0})
- Ja, gelechzt. Deswegen würde ich Sie, nachdem Sie
gerade die Kollegen von der Sozialdemokratie auf frühere Positionen angesprochen haben, gerne fragen, wie
Sie es denn mit Ihren früheren Positionen halten. Sie haben am 14. Dezember 2006 in der Debatte zum Altersgrenzenanpassungsgesetz gesagt:
Herr Minister Müntefering, die Anhebung, die Sie
vorhaben, macht doch nur Sinn, wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegenheit haben,
länger zu arbeiten.
Dann haben Sie die Rente mit 67 als einen „unerwarteten
Tabubruch“ bezeichnet und gesagt:
Die Menschen ahnen - Herr Minister, ich sage: zu
Recht -, dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder begleitender Arbeitsmarktreformen für die
allermeisten Versicherten auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird
({1})
Kollege Weiß hat mir eben keine befriedigende Antwort auf meine Frage gegeben, was es bedeutet, „dass im
Jahr 1999 29,6 Prozent derjenigen, die neu in Rente gegangen sind, aus versicherungspflichtiger Beschäftigung
kamen und es dann mit mehr oder weniger kontinuierlichem Absinken im Jahr 2008 nur noch 17,8 Prozent
waren“. Ich möchte Sie fragen, ob Sie Ihre kritische Haltung zur Rente erst mit 67 aus dem Jahr 2006 weiter aufrechterhalten?
({2})
Vielen Dank. Ich bitte Sie, stehen zu bleiben. Ich will
Ihre Frage gerne beantworten; aber das könnte ein bisschen mehr Zeit erfordern.
({0})
Wir stehen zu unseren damaligen Positionen. Wir haben immer gesagt: Die Rente mit 67 ist eine Herausforderung; es kommt auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt
an, sie ist entscheidend. Wenn Sie heute in die Zeitungen
schauen, stellen Sie fest: Wir hatten in den letzten Jahren
eine positive Entwicklung am Arbeitsmarkt,
({1})
die natürlich auch den älteren Arbeitnehmern zugutekommt. 3,03 Millionen Menschen - immer noch viel zu
viele - sind in unserem Land im September arbeitslos
gewesen.
({2})
Die Prognosen gehen davon aus, dass wir die Zahl von
3 Millionen Arbeitslosen im Oktober unterschreiten.
Als Franz Müntefering damals, 2007, die Reform umsetzte, hatten wir Arbeitslosenzahlen, die eher in Richtung 5 Millionen gingen. Das ist ein Unterschied von
2 Millionen und damit natürlich auch eine deutliche Veränderung bei den Möglichkeiten Älterer, sich am Erwerbsleben zu beteiligen.
Zweitens. Herr Kollege Birkwald, ich habe immer gesagt: Das Ende der Krise - wir erleben es erfreulicher6662
weise etwas früher, als wir alle befürchtet hatten - ist der
Anfang der demografisch bedingten Arbeitskräfteknappheit. Das ist so. Das ist auch in dem Beispiel von Peter
Weiß zum Ausdruck gekommen. In den nächsten Jahren,
beginnend 2012 und innerhalb relativ kurzer Zeit deutlich spürbar, werden ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben ausscheiden und jüngere in deutlich geringerer Zahl in den Arbeitsmarkt nachrücken. Das wird zu
Veränderungen führen, die Sie in Ihren Prognosen nicht
ins Kalkül ziehen. Für diejenigen Gruppen, die heute am
Arbeitsmarkt Probleme haben - Alleinerziehende, ältere
Arbeitnehmer, auch Menschen mit geringerer Qualifikation -, erhöhen sich die Chancen deutlich. - Sagen Sie
mir bitte, wenn die Uhr weiterläuft; dann müsste ich die
Beantwortung abbrechen. Sonst würde ich die Frage
gerne weiter beantworten. - Das spiegeln auch Zahlen
wider, die ich in meiner weiteren Rede noch benennen
möchte. Da tut sich also etwas.
Das Dritte ist: Wir stehen weiterhin zu unserem Konzept der Flexibilisierung. Bei einer Anhebung der Regelaltersgrenze ist es nach unserer Auffassung unverändert notwendig, dass man den Menschen die Chance
gibt, auf der Basis der eigenen freien Entscheidung über
einen früheren Renteneintritt, natürlich mit Abschlägen,
nachzudenken. Ich glaube, der Staat hat auch kein Recht,
Menschen, die im Hinblick auf das Alter Ansprüche
oberhalb der Grundsicherung erworben haben, vorzuschreiben, bis 67 zu arbeiten. Diese Entscheidungsfreiheit sollten wir jedem Einzelnen einräumen.
({3})
Ich hoffe, dass damit Ihre Frage ausreichend beantwortet
ist, Herr Kollege Birkwald.
Jetzt will ich noch ein paar Zahlen nennen, Frau Kollegin Enkelmann, die ich der Antwort auf Ihre Große
Anfrage entnehme. Ich gehe immer davon aus, dass Sie
Fragen stellen, um auch die Antworten zur Kenntnis zu
nehmen. Das haben Sie aber anscheinend nicht getan.
Die Zahl der Nichterwerbstätigen über 60 Jahre ist im
Zeitraum von 2000 bis 2008 von über 80 auf 65 Prozent
gesunken. Das ist auch ein wichtiger Hinweis an Ihre
Adresse, Herr Juratovic. Sie schreiben nämlich in Ihrem
Präsidiumsbeschluss:
Aber wenn weiterhin durchschnittlich rund
80 Prozent der Menschen über 60 Jahre nicht mehr
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, wirkt
eine Anhebung … aus demografischen Gründen …
wie eine … Rentenkürzung.
Wenn die Menschen zwar nicht mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt, aber kurz vor Erreichen des
Regelalters in deutlich höherem Maße erwerbstätig sind,
beispielsweise als Selbstständige,
({4})
kommt es deshalb nicht zwingend dazu - man muss das
immer zusammen betrachten: gesetzliche Rente plus Altersvorsorge aus anderen Quellen -, dass sich die Situation des Gesamtalterseinkommens verschärft. Das ist ein
wichtiger Punkt, den Sie bei Ihrem Präsidiumsbeschluss
vollkommen ausgeblendet haben und den Sie noch einmal überdenken sollten.
Man kann es auch an einer anderen Zahl verdeutlichen: Der Anteil der über 60-Jährigen, die aus der Arbeitslosigkeit noch einmal in volle Erwerbstätigkeit
wechseln konnten, hat sich allein von 2006 bis 2009
deutlich mehr als verdoppelt. Das sind Menschen, die
früher praktisch keine Chance mehr am Arbeitsmarkt
hatten. Das ist eine dramatische Veränderung.
({5})
- Ich habe immer gesagt, Frau Müller-Gemmeke: Wir
brauchen einen Paradigmenwechsel auf den Golfplätzen.
Es war lange Zeit schick in Deutschland, über 50-Jährige
aus den Betrieben zu verbannen. Das habe ich immer für
falsch gehalten. Offensichtlich hat sich da in den letzten
Jahren etwas bewegt.
({6})
- Vielleicht auch wegen der Politik von Franz
Müntefering; darauf können Sie doch stolz sein. Aber
Sie blenden das vollkommen aus, und das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.
({7})
Ich habe es schon gesagt: 21,5 Prozent der 60- bis
64-Jährigen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Aber die Tendenz ist gut. Vor zehn Jahren waren es
10 Prozent. Das muss man in der Zukunft fortschreiben.
Sie müssen auch sehen, dass die Zahlen derzeit durch die
Abwicklung der Altersteilzeit belastet sind,
({8})
die in hohem Maße genutzt worden ist; das ist in der Statistik noch enthalten. Viele haben, natürlich auch in Ansehung der möglicherweise bevorstehenden Abschaffung, einen richtigen Run auf die Altersteilzeit gestartet.
Wenn dieser Effekt erst einmal beseitigt ist, wird man sehen, dass die Möglichkeiten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung älterer Arbeitnehmer sich sehr
gut entwickeln werden.
Darüber hinaus weise ich darauf hin, dass das nicht
nur für die alten, sondern auch für die neuen Bundesländer gilt. Das ist die letzte Zahl, die ich - mit Blick auf
die Uhr, Frau Präsidentin - noch nennen will. Die Zahl
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen
55 und 65 Jahre ist in Ostdeutschland im Zeitraum 2005
bis 2009 um erfreuliche 38,3 Prozent gestiegen; davon
sind fast zwei Drittel in Vollzeitbeschäftigung. Ich kann
das hier aus Zeitgründen nicht weiter ausführen, weil
niemand eine weitere Zwischenfrage gestellt hat. Aber
ich will noch Folgendes sagen: Der Trend ist aus unserer
Sicht durchaus ermutigend. Das ist ein Grund, das, was
auf dem Weg ist, fortzuführen, jedoch gleichzeitig deutlich zu machen, dass wir mit den Flexibilisierungsmöglichkeiten ein Ventil anbieten wollen. Darüber denken
doch auch Sie von der SPD nach. Zum Beispiel könnten
wir bei den Zuverdienstgrenzen etwas verändern. Wenn
wir mit diesem Konzept vorangehen, sind wir, glaube
ich, auf einem guten Weg.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben kurz vor der Sommerpause eine Debatte über
die Rente mit 67 geführt. Jetzt führen wir schon wieder
eine darüber. Teilweise haben wir die gleichen Reden
gehört, zum Beispiel von Herrn Ernst, Herrn Weiß und
Herrn Kolb.
({0})
Ich könnte jetzt auch einfach die gleiche Rede halten,
aber ich will anders anfangen und an einem Tag wie
heute etwas Grundsätzliches und Nachdenkliches sagen.
Als Politiker müssen wir, glaube ich, insgesamt aufpassen, dass wir nicht über die Köpfe der Menschen hinweg und jenseits der Realitäten regieren. Vor diesem
Hintergrund fand ich die Rede des Herrn Juratovic sehr
hilfreich. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie auf der rechten Seite des Hauses etwas besser zugehört hätten und
nicht so viel und so laut gequatscht hätten.
({1})
Es passieren zurzeit mehrere Dinge: In Stuttgart wird
ein Projekt mit brutaler Gewalt gegen den Willen eines
großen Teils der Bevölkerung vor Ort durchgesetzt.
Heute Morgen haben wir über die Laufzeitverlängerung
der Atomkraftwerke diskutiert, die die Bundesregierung
gegen den Willen der Mehrheit der Menschen durchsetzen will.
({2})
Ebenso ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen die
Rente mit 67.
({3})
- Ja.
Wir Grünen halten die Rente mit 67, um das klar zu
sagen, grundsätzlich für die richtige Perspektive.
({4})
Ich erkläre gleich, warum. Wir dürfen aber nicht den
Fehler machen, anzunehmen, die Ablehnung der Bevölkerung komme daher, dass die Menschen zu dumm
seien und das nicht verstehen würden. Häufig sind die
Menschen durchaus klüger, als wir Politikerinnen und
Politiker glauben.
({5})
Die Frage: „Rente mit 67? Ja oder nein?“, die die
Linke häufig stellt, greift zu kurz. Wenn die Mehrheit
gegen die Rente mit 67 ist, stecken dahinter mehrere
durchaus reale Sorgen der Menschen. Die Menschen haben Angst, dass die Rente mit 67 dazu führt, dass sie
keine existenzsichernde Rente mehr erhalten. Sie haben
Angst, dass sie erwerbsunfähig werden und höhere Abschläge als heute in Kauf nehmen müssen. Sie haben
Angst, dass sie nicht bis 67 arbeiten können und ihre
Rente entsprechend gekürzt wird. An diesen Punkten
müssen wir ansetzen. Ich kann Ihnen versichern: Wir
Grüne nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst und
werden Vorschläge dazu unterbreiten. Bald, wenn wir
wieder regieren, werden wir uns darum kümmern, dass
es Lösungen gibt.
({6})
Ich habe es schon gesagt: Wir Grüne halten die Rente
mit 67 nach wie vor für die richtige Perspektive. Wenn
die Menschen länger arbeiten, sind die Beiträge niedriger und die Renten höher, Herr Ernst, sodass letztlich
alle davon profitieren können. Es profitieren alle von
diesem größeren Kuchen.
({7})
Wenn die Menschen allerdings nicht länger arbeiten
können, dann handelt es sich tatsächlich um eine Rentenkürzung, und das gilt es, zu verhindern. Wenn man
sich die Zahlen anschaut - Sie haben ein paar genannt -,
muss man sagen: Die Voraussetzungen sind jetzt noch
nicht gegeben.
({8})
Man muss aber betonen, dass es, wenn wir über die
Rente mit 67 sprechen, nicht um diejenigen geht, die in
den Jahren 2010, 2011 oder 2012 in Rente gehen, sondern es geht um die Rente mit 66 ab dem Jahr 2024 und
um die Rente mit 67 für meinen Jahrgang und später,
also ab 2031. Bis dahin ist durchaus noch Zeit.
Ich erwarte, dass in dem Bericht, den uns die Bundesregierung Ende November vorlegen wird, nicht nur
die aktuellen Zahlen enthalten sind, Herr Fuchtel, sondern auch Prognosen bezüglich der Entwicklung des Arbeitsmarktes für Ältere; denn das ist eine wichtige Entscheidungsgrundlage. Außerdem erwarte ich von der
Bundesregierung, dass sie in diesem Bericht ausführt,
wie sie es erreichen will, dass die Menschen länger arbeiten, wie sie bessere Möglichkeiten schaffen will, dass
die Menschen früher in Rente gehen können, wenn sie
nicht so lange arbeiten können, und wie die Bundesregierung Armut im Alter verhindern will. Dazu gibt es
bisher relativ wenige Vorschläge.
({9})
Wir Grüne wollen verhindern, dass die Rente mit 67
eine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Wir Grüne
wollen für diejenigen, die nicht so lange arbeiten können, Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu gehen.
Last but not least, wir Grünen wollen den Menschen die
Angst vor der Altersarmut nehmen.
Die Voraussetzungen für die Rente mit 67 im Jahre
2031 müssen jetzt geschaffen werden; denn die Arbeitsbedingungen von heute bestimmen, ob die Menschen in
der Zukunft tatsächlich länger arbeiten können.
Was tut die Bundesregierung dafür? Nichts. Wo bleibt
denn die Weiterbildungsoffensive für die Älteren? Wo
bleibt das Erwachsenen-BAföG, damit sich auch Ältere
weiterbilden und ein Studium aufnehmen können? Wo
bleibt die Kampagne für eine Kultur der Altersarbeit?
Wo sind denn die Arbeitsmarktmaßnahmen, die zunehmend insbesondere auf die Älteren zugeschnitten sind?
({10})
- Genau; Herr Kurth sagt gerade: Die werden im nächsten Jahr gekürzt.
Was unternimmt denn die Bundesregierung, damit die
Unternehmen mehr alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze schaffen?
({11})
Damit die Menschen länger arbeiten können, ist es
aber nicht nur notwendig, dass die Arbeitsbedingungen
der Älteren verbessert werden, sondern wir brauchen
insgesamt Arbeitsbedingungen - das hat Herr Kollege
Juratovic schon gesagt -, die nicht krank machen.
({12})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiß?
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Recht
die Frage gestellt: Was tut die Bundesregierung, was tun
wir insgesamt politisch dafür, dass ältere Menschen länger arbeiten können und dabei auch gesund bleiben? Deswegen möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass wir
mit dem Gesetz zur Anhebung der Regelaltersgrenze
auch die Initiative „50 plus“ beschlossen und gestartet haben, dass wir im Haushalt des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales nicht gekürzt, sondern mit einem beachtlichen Ansatz die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ mit vielen Unternehmen starten, die große Fortschritte bei der Verbesserung der Beschäftigungssituation
älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemacht
haben, dass wir aus diesem Programm neue Projekte in
den Bereichen Arbeitsschutz, Gesundheitsprävention und
Arbeitsorganisation fördern, mit denen erkennbar mehr
getan werden kann als heute, damit ältere Menschen eine
Beschäftigungschance haben und tatsächlich länger arbeiten können, und dass viele der Unternehmen, die sich
daran beteiligen - leider beteiligen sich nicht alle daran -,
zum Beispiel bei Wettbewerben wie „Deutschlands beste
Arbeitgeber“ dafür ausgezeichnet worden sind, dass sie
modellhaft etwas tun? Würden Sie also freundlicherweise
zur Kenntnis nehmen, dass seitens der Bundesregierung
und aus dem Bundeshaushalt eine kräftige Förderung entsprechender Projekte erfolgt, die modellhaft zeigen, dass
man etwas tun kann, wenn man will?
({0})
Es ist schön, dass es da kleinere Modellprojekte gibt.
Die Aktion „50 plus“ hat ja auch bewirkt, dass die Erwerbsbeteiligung der über 55-Jährigen insgesamt gestiegen ist. Aber wir haben die Zahlen gehört: Bei den
über 60-Jährigen, insbesondere bei den 64-Jährigen, ist
die Erwerbsquote immer noch sehr gering. Da muss also
noch deutlich mehr getan werden. Dazu habe ich von
dieser Regierung - Sie haben ja vor allen Dingen von
der Großen Koalition geredet - jetzt noch kein wirkliches Konzept gesehen. Da müssen wir in der Tat mehr
machen, insbesondere im Bereich Gesundheitsprävention; denn das ist, glaube ich, ein ganz zentraler Baustein
für die Rente mit 67 im Jahre 2030.
({0})
- Vielleicht noch etwas zum Haushalt. - Markus Kurth
hat es gerade eingeworfen: Bei den Arbeitsmarktmaßnahmen soll ja um 1,5 Milliarden Euro gekürzt werden.
Angesichts dessen werden die Arbeitsmarktmaßnahmen
für die Älteren sicherlich nicht ausgebaut werden. Das
war noch eine ergänzende Antwort auf die Frage von
Herrn Weiß.
Wir brauchen insgesamt Arbeitsbedingungen, die nicht
krank machen. Wir brauchen gute Arbeit. Frau
Fischbach, Sie haben ja neulich in der Debatte gefragt,
was denn gute Arbeit ist. Gute Arbeit bedeutet, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht krank werden. Das liegt an
körperlichen Bedingungen; das liegt aber zunehmend
auch daran - auch das hat Herr Juratovic schon gesagt -,
dass die Menschen viel mehr unter Stress stehen. Wenn
man sich die Zahlen anschaut, dann stellt man fest, dass
die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen stark angestiegen ist. Auch da
müssen wir ansetzen.
Aber zu guter Arbeit gehört neben den gesundheitlich
positiven Arbeitsbedingungen auch eine vernünftige Bezahlung, und dazu gehört auch eine Eindämmung von
prekären Jobs. Wer ständig unter Existenzängsten leidet,
wird nicht bis 67 durchhalten können.
({1})
„Angst essen Seele auf.“ Wir brauchen mehr Gesundheitsprävention. Wir brauchen einen Mindestlohn, und
wir brauchen endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Auch hier geht die Bundesregierung genau in die entgegengesetzte Richtung.
Ehe Sie gleich wieder aufstehen, Herr Weiß, lassen
Sie mich sagen: Ich weiß natürlich, dass es in bestimmten Branchen mittlerweile Mindestlöhne gibt. Aber Sie
wehren sich ja immer noch gegen den gesetzlichen Mindestlohn für alle, und Sie wehren sich gegen gleichen
Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit.
Wir Grünen sind keine Traumtänzer. Es wird sicherlich auch in 20 Jahren noch Menschen geben, die nicht
bis 67 arbeiten können. Für diese Menschen müssen wir
bessere Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu gehen. Dass die Altersgrenze, ab der eine Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge bezogen werden kann, von
63 auf 65 Jahre steigen soll, ist vor diesem Hintergrund
ein Skandal. Wir wollen das ändern.
({2})
Die Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, ihre
Arbeitszeit bereits ab einem Alter von 60 Jahren zu reduzieren und Teilrente zu beziehen. Das höre ich zwar immer mal wieder von einzelnen Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen. Ein Vorschlag, über
den wir diskutieren könnten, liegt bisher allerdings noch
nicht vor. Genauso wenig liegt ein Konzept gegen Altersarmut vor. Es gibt Ankündigungen; im nächsten Jahr
soll eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit der
Altersarmut befasst. Wir wissen aber noch immer nicht,
was in dieser Kommission tatsächlich besprochen werden soll. Wir wissen auch immer noch nicht, wer Mitglied dieser Kommission werden soll. Angesichts der
Dinge, die zurzeit bei der Regelsatzerhöhung und der
Gesundheitsreform ablaufen, ist die Ankündigung, dass
die Bundesregierung eine Kommission zur Altersarmut
bilden will, für viele Betroffene eher eine Drohung als
eine Hoffnung.
({3})
Wenn bei dieser Kommission zur Bekämpfung der
Altersarmut ähnliche Ergebnisse herauskommen, dann
werden wir damit mit Sicherheit nicht einverstanden
sein. Sie können aber vielleicht in weiteren Redebeiträgen für Klarheit darüber sorgen, was passieren soll und
wie das Konzept der Bundesregierung zur Bekämpfung
der Altersarmut aussieht. Ich fürchte aber, dass von Ihrer
Seite nicht viel kommen wird.
Zusammenfassend will ich sagen: Wir Grünen nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst und wollen die
sozialen Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen.
Im Gegensatz zur der Linken wollen wir sie nicht abschaffen. Der Unterschied zwischen uns und den Linken
ist, dass wir sagen: Wenn man die entsprechenden Maßnahmen ergreift, dann bietet die Rente mit 67 tatsächlich
die richtige Perspektive, eine Perspektive für die Rentenversicherung und für die Menschen. Diese Voraussetzungen müssen in der Tat aber erst geschaffen werden. Ich
hoffe, dass wir bald wieder Gelegenheit haben, diese Voraussetzungen zu schaffen und die Bekämpfung der Altersarmut in Angriff zu nehmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Frank
Heinrich das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Ich möchte kurz auf meinen Vorredner eingehen: Ich bin sehr froh über den Duktus, der bei Ihrer
Rede spürbar war. Ich habe auch noch eine kurze Bemerkung zu Ihrer Rede, Herr Juratovic. Sie sprachen davon,
dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht berücksichtigt werde. Das ist auch eine Ihrer Erklärungen dafür, warum Sie sich von der Rente mit 67 verabschieden
möchten. Sie werten die vorliegenden Anzeichen nämlich anders als wir. Wir warten eben, bis der Bericht vorliegt. Und dieser Bericht kommt. Er wurde für dieses
Jahr angekündigt. Wir werden ihn abwarten und keine
Entscheidung treffen, bevor er nicht vorliegt.
({0})
- Warten Sie das Ergebnis ab, das Ende November vorliegen wird. Dann können wir gerne über all das, was
noch umstritten ist, diskutieren.
Der Bericht wird bis Ende des Jahres vorliegen. Ich
werde die Zahlen und Zeichen, die wir sehen, jetzt nicht
wiederholen. Ich denke, das verwirrt mehr, als dass es
zur Klärung beiträgt. Ich möchte aber auf zwei Sachverhalte hinweisen: Sie haben gesagt, dass es eine Regierungskommission geben wird, die zurzeit eingerichtet
wird, und dass Sie mitgeteilt bekommen möchten, wer
dieser Regierungskommission angehören wird. Im Übrigen ist im Sozialministerium ein Referat, das für Fragen
der Altersarmut zuständig ist, gebildet worden. Dieses
Referat hat seine Arbeit im Juni aufgenommen. Ich
kenne es noch nicht. Deshalb kann ich darüber noch
keine Aussagen treffen.
Herr Kollege von den Linken, am Anfang Ihrer Rede
ging es sehr stark darum, was wir brauchen. Ich möchte
an das Thema nicht in der gleichen Art wie Sie herangehen und nicht sagen: Wir brauchen alles. - Ich möchte
vielmehr grundsätzliche Bemerkungen machen, wie
mein Vorredner. Ich möchte drei Kernaussagen dazu
treffen, was nach unserer Meinung notwendig ist. Erstens. Die Menschen brauchen eine finanzielle Absicherung. Das hat mit diesem Thema zu tun. Das hat auch
mit den Ängsten zu tun, die Sie angesprochen haben.
Diese wollen wir ernst nehmen. Es geht dabei nicht nur
um materielle Dinge. Zweitens. Die Wirtschaft braucht
Wissen, Erfahrung und Planungssicherheit. Drittens. Die
Rente braucht Zukunft und Tragfähigkeit. Dabei geht es
auch um die Ängste unserer Mitbürger.
Zum ersten Punkt. Menschen brauchen eine finanzielle Absicherung. Aber es geht in der Zukunft - je
länger sie leben, desto mehr - nicht nur um das Materielle, obwohl auch dieser Aspekt natürlich behandelt werden muss und wichtig ist. Stabile und ausreichende Renten in der Zukunft sind letztlich nur in Kombination mit
Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Familienförderung und Integration möglich. Das Gesamtkonzept muss
stimmen. Die einzelnen Elemente müssen miteinander
verflochten sein. Dabei geht es zum Beispiel um die
Pflege, um die Gesundheitsreform und die Teilhabe älterer Menschen; Herr Kolb hat das vorhin schon gesagt.
Es ist nötig, wahrzunehmen und zu respektieren, dass
es auch im Alter um Lust am Leben geht, nicht nur um ein
„Ausdimmen“. Es geht um Lebensqualität und Ausbildungschancen. Selbst Angehörige der Altersgruppe, über
die wir reden, die 55- bis 65-Jährigen, können noch eine
Ausbildung beginnen. Lebenslanges Lernen bekommt
somit eine ganz neue Dimension.
({1})
Ein weiterer Aspekt ist der Zugang zu Selbstentfaltungs- und Freizeitmöglichkeiten. Menschenwürde hat
auch damit zu tun, gebraucht zu werden, und zwar nicht
nur, weil wir das politisch wollen und es generationenbedingt bzw. von den Zahlen her notwendig ist. Vielmehr
geht es darum, in die Gesellschaft einbezogen und beteiligt zu sein. Das betrifft die Teilhabe sowohl im Ehrenamt als auch in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung.
({2})
Lebenslanges Lernen muss durchbuchstabiert werden, in der Wirtschaft und im einzelnen Unternehmen.
Diesem Begriff wollen wir neues Leben einhauchen.
Diesen Prozess muss die Politik natürlich begleiten.
Quer durch Europa gibt es, mit wenigen Ausnahmen, die
gleichen Schwierigkeiten, was die Alterspyramide angeht. Wenn wir den Einstieg verschlafen und vom Einstieg in die Rente mit 67 abrücken, dann fehlt uns am
Schluss die Zeit, dann fehlen uns die Jahre der Planung
und dann fehlt die Verlässlichkeit für die Betriebe.
({3})
Die Menschen müssen sich auf das, was sie erwartet,
einstellen können, und die Firmen brauchen Planungssicherheit. Es ist besser, wir fangen jetzt damit an, zumal
wir die vorliegenden Zahlen für deutlich genug halten.
Ich nenne nur eine Zahl. 2009 waren 38,7 Prozent der
Angehörigen der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen
erwerbstätig, damit fast doppelt so viele wie zehn Jahre
zuvor. Diese Tendenz kann man nicht von der Hand weisen. Die anderen Zahlen sind vorhin schon erwähnt worden.
Es ist nicht legitim - hier gebe ich meinem Vorredner
recht -, den Eindruck zu erwecken, als wäre schon
nächstes Jahr längeres Arbeiten angesagt. Ich bin Jahrgang 1964, gehöre also dem ersten Jahrgang an, der von
der Rente mit 67 betroffen sein wird. Das ist aber ganz
am Ende. Darauf kann man sich einstellen. Bis wir in
den Genuss dieser Regelung kommen, ist noch viel Flexibilität möglich, und zwar nicht nur Flexibilität aufseiten der Politik, die Sie einfordern, sondern auch in den
Unternehmen und der Wirtschaft, übrigens auch aus Eigeninteresse, wie vorhin in einem Zwischenruf angemerkt wurde.
Zudem entwickelt sich in der Bevölkerung und in den
Betrieben ein Bewusstsein für dieses Thema. Unterschätzen Sie nicht unsere Mitbürger! Auch sie beziehen
die Rente mit 67 schon in ihre Überlegungen mit ein.
Gestern Abend habe ich mit einem 25-Jährigen telefoniert, der, wie ich glaube, heute hier im Publikum sitzt.
Ich stellte ihm die Frage: Was hältst du von der Rente
mit 67? Die relativ spontane Antwort war: Wenn Beruf
für mich Berufung ist, dann mag ich auch mit 67 noch
nicht aufhören.
({4})
Auch dies ist ein Indiz dafür, dass eigentlich gewünscht
ist, sich zu beteiligen.
({5})
- Wie bitte?
({6})
- Es muss niemand; aber es ist möglich. Deshalb muss
dieser Bereich flexibler geregelt werden.
Zweitens. Die Wirtschaft braucht Wissen, Erfahrungen und Planungssicherheit. Die Antwort auf den Fachkräftemangel muss neben erhöhten Anstrengungen im
Bildungsbereich und einer attraktiven Integrationspolitik
auch lauten, dass Fachkräfte länger beschäftigbar sein
müssen, unter anderem durch die Rente mit 67. Es gibt
allerdings auch andere Mittel und Wege in unserem
Land, die noch nicht in dem Maße ausgeschöpft werden,
zum Beispiel das betriebliche Eingliederungsmanagement. Es ist nutzbar und erfolgreich, wenn Mitarbeiter,
etwa nach einer Krankheit oder einem Arbeitsunfall,
wieder eingegliedert werden müssen.
Viele Unternehmen nutzen und schätzen schon heute
das Wissen und die Fähigkeiten der Altersgruppe, über
die wir heute reden und bei der bezweifelt wird, dass sie
einfach übernommen werden kann. Vorletzte Woche
wurde mir von Unternehmern in meinem Wahlkreis
Chemnitz gesagt: Ich stelle fast nur Leute ein, die älter
als 45, 50 Jahre sind. - Ich habe sie gefragt: Warum? Die
Antwort lautete: weil sie fachlich fit und erfahren sind,
oft eine Familie haben, ortsgebunden sind und wir uns
darauf verlassen können, dass sie uns nicht irgendwann
wegbrechen.
Verschiedene Schätzungen - sie sind unterschiedlich
hoch, aber hoch sind sie alle - besagen, dass in den
nächsten Jahren in diesem unseren Land sehr viele Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Sie werden fehlen, und wir müssen sie ersetzen.
Dritter Punkt. Die Rente braucht Zukunft und Verlässlichkeit. Der Anlass dieser ganzen Diskussion - dies
wissen wir alle - ist leider das Zauberwort „Demografie“. Der demografische Wandel macht die Rente mit 67
nahezu zur Bedingung.
({7})
Herr Weiß hat das am Anfang gesagt. Dabei geht es natürlich um die Finanzierbarkeit. Die Fakten verändern
sich manchmal schneller, als sich das Bewusstsein verändert. Deshalb brauchen wir intelligente und machbare
Lösungen sowie Flexibilität. Darauf wollen auch wir als
Politiker reagieren, auch in meiner Fraktion. Unternehmer machen das. Sie heißen nicht umsonst so. Sie wissen sich zu helfen. Sie unternehmen etwas - ich erlebe
das, wenn ich meine Runde bei den Chefs und Geschäftsführern mache -, und zwar nicht nur um ihrer
selbst willen, wie das manchmal unterstellt wird, sondern auch in Verantwortung für ihre Mitarbeiter, deren
Familien und das Gemeinwesen. Wie oft habe ich gehört: Probleme? Die sind zum Lösen da. - In solchen
Momenten bin ich stolz, in diesem Land zu leben, in
dem immer noch mitgedacht und mitgemacht wird.
({8})
Ich komme mit zwei kleinen Zusammenfassungen
zum Ende. Natürlich gibt es verschiedene Wege, darauf
zu reagieren. Wir lehnen ab, dass wir die Beitragssätze
erhöhen; das haben wir hiermit ausgedrückt. Es geht um
eine längere Einzahldauer; das ist uns wichtig. Es geht
um mehr Beitragszahler, vielleicht auch durch Integration und eine bessere und schnellere Schulung, auch
durch die Rente mit 67. Sie trägt dazu bei, in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Generationen die
finanzielle Grundlage und die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherungen nachhaltig sicherzustellen. Ich betone noch einmal das vorhin so oft genannte Wort „Solidarität“.
Wissenschaft und EU loben Deutschland dafür, dass
wir diesen Schritt gehen. Sie gehen in ihren Aufforderungen - ich denke da an das EU-Parlament - zum Teil
sogar noch weit über dieses Alter hinaus. Ich denke, wir
sind da auf einem guten Weg.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Hier ist jetzt wiederholt der
Vorwurf gemacht worden, die SPD-Bundestagsfraktion
würde sich von den Sozialreformen der letzten Jahre verabschieden.
({0})
Ich will jetzt einmal die gestrige Debatte um die Regelsätze nach dem SGB II betrachten: Es war die Union, die
mit fast allen Rednern, die hier gesprochen haben, versucht hat, sich aus der Verantwortung für das SGB II zu
stehlen. Bis auf Karl Schiewerling haben alle versucht,
die Verantwortung für das, was im SGB II steht, ausschließlich bei Rot-Grün abzuladen.
({1})
- Das haben Sie getan. - So viel zum Thema Redlichkeit. Das muss man hier einmal sagen. Uns diesen Vorwurf zu machen, ist schlicht unredlich.
Ich sage Ihnen noch etwas: Wir haben gestern in Zwischenfragen deutlich gemacht, wie das mit Redlichkeit
und Transparenz ist. Sie, meine Damen und Herren, waren es, die uns die realen Grunddaten, die Zahlen, die
Rohdaten und die Alternativberechnungen zum SGB II
bzw. zum Regelsatz im Ausschuss per Mehrheit verweigert haben. Sie haben das gemacht, nicht die Sozialdemokraten, nicht die Linken und auch nicht die Grünen
im Deutschen Bundestag. Das muss man hier zum
Thema Redlichkeit einmal sagen.
({2})
- Frau Fischbach, ich sage Ihnen Folgendes: Solange wir
den Eindruck haben, dass sich Sozialpolitik bei der Koalition zwischen der einen Leitplanke, die „vermeintliche römische Dekadenz“ heißt, und der anderen Leitplanke, die da lautet: „schon eingestelltes Geld im
Haushalt“, bewegt, können Sie nicht mit der Zustim6668
mung aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion
rechnen.
({3})
Nun aber zum Thema, das heute auf der Tagesordnung steht. Der Kollege Ernst ist noch hier. Herr Kollege
Ernst, es ist noch nicht ausgemacht, ob der Kuchen, der
zu verteilen ist, in 20 oder 30 Jahren gleich groß, größer
oder kleiner ist. Man muss schlichtweg mit allen diesen
Möglichkeiten rechnen. Sie können das Wirtschaftswachstum und die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft
für die nächsten 20 bis 30 Jahre nicht vorhersagen. Das
geht nicht. Da müssten wir alle etwas schlauer sein, als
wir es sind. Dafür müssten wir übersinnliche Kräfte haben. Aber eines ist auf jeden Fall absehbar, nämlich dass
wir immer weniger und immer älter werden.
({4})
Dazu gibt es Zahlen. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Mit diesem Fakt müssen wir umgehen.
Es gibt unterschiedliche Antworten. Ich gebe Ihnen
durchaus recht, dass es andere Antworten geben könnte
als die reine Erhöhung des Renteneintrittsalters - allerdings nur, wenn es um die Frage der Finanzierbarkeit
geht. Die Finanzierbarkeit der Rente kann anders als nur
über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sichergestellt werden. Darin gebe ich Ihnen allemal recht, zumal
das, was wir bei den Beitragssätzen sparen, marginal ist.
({5})
Aber wie sieht es mit der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft aus? Wie halte ich diese Gesellschaft, die
schrumpft und älter wird, leistungsfähig, damit all das,
was wir verteilen, tatsächlich auch erwirtschaftet werden
kann? Dass es dann verteilt wird, geschieht übrigens
auch zu Recht, weil es erwirtschaftet worden ist. - Diese
Frage müssen Sie alternativ beantworten. Wenn die Antwort nicht ein höheres Renteneintrittsalter ist, dann brauchen wir alternative Antworten auf die Frage, wie wir
mit der Demografie in den nächsten 10, 20 und 30 Jahren umgehen.
({6})
Hierauf vermisse ich allerdings jede Antwort.
({7})
Deswegen werden wir Ihrem Antrag in der vorliegenden Form mit Sicherheit nicht zustimmen, auch wenn er
einiges Richtige beinhaltet.
Herr Birkwald möchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Ja, selbstverständlich. Wenn der rentenpolitische
Sprecher der linken Fraktion, der ja Ahnung vom Thema
hat, Redezeit nur darüber generieren kann, dass er sich
hier zu einer Zwischenfrage meldet, dann lasse ich das
selbstverständlich gerne zu.
({0})
Herr Birkwald, bitte sehr.
Vielen Dank für die Blumen, Herr Kollege Schaaf. Sie haben ja eben davon gesprochen, dass man nur bedingt in die Zukunft schauen kann, und Sie haben das
auch auf das Wirtschaftswachstum bezogen. Ich bitte Sie
jetzt um Aufklärung.
Zum Ersten. In der Öffentlichkeit ist ja der Eindruck
entstanden, dass sich die SPD beim Thema „Rente erst
ab 67“ bewegt habe. Am 18. August 2010 wurde gemeldet, dass es zwischen Parteichef Gabriel und Fraktionschef Steinmeier, dem ich von hier aus noch einmal gute
Besserung wünsche,
({0})
einen Kompromiss dergestalt gegeben haben soll, dass
die Rente ab 67 erst dann eingeführt werden soll, wenn
die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
im Alter zwischen 60 und 64 bei 50 Prozent liegt.
Nun ist von der Arbeitnehmerkammer Bremen ausgerechnet worden, dass, wenn man die Entwicklung vom
Jahr 2000 bis heute fortschreibt, dies genau im Jahr 2030
der Fall sein wird, Sie also dann damit anfangen könnten, das Renteneintrittsalter anzuheben, während es bei
der jetzigen Regelung dann schon erreicht worden wäre.
Ich bitte Sie, dazu etwas zu sagen.
Zum Zweiten. Wie soll es funktionieren, dass gleichzeitig dem Wunsch des Fraktionschefs nachgegeben
wird, wonach das Endziel, 2029, bestehen bleibt? Das ist
ein Widerspruch. Ich bitte Sie, den aufzuklären.
Weil Sie eben von der Zukunft gesprochen haben: Haben Sie eine andere Zielmarke als 2029, und, wenn ja,
welche Projektionen legen Sie dieser zugrunde?
Ich danke Ihnen außerordentlich, weil ich jetzt die
Zeit nutzen kann, um auf unser Konzept und unsere Beschlüsse einzugehen und anschließend das zu sagen, was
ich sonst noch zu sagen habe.
Also: Wir haben nicht nur die Quote miteinander besprochen, und Grundlage unserer Diskussion war auch
nicht nur die Quote, sondern es ging auch um die Frage:
Wie gehen wir mit dem Thema Erwerbsminderung um?
Was machen wir mit denjenigen, die nach langjähriger
Arbeit nicht mehr arbeiten können? Wie gehen wir mit
flexiblen Übergängen um, also zum Beispiel mit der AlAnton Schaaf
tersteilzeit und der Teilrente? Für uns geht es um eine
Gesamtstrategie und nicht nur um einen Punkt, wie die
Quote.
Zur Quote. Wären wir in Verantwortung, was wir
nicht sind,
({0})
dann würden wir an dem Thema Erwerbsminderungsrente massiv arbeiten. Wir brauchen einen besseren Zugang, insbesondere für Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit psychisch krank sind, und wir brauchen eine bessere
Ausstattung der Erwerbsminderungsrente. Dadurch würde
die Zahl derer, die tatsächlich bis 67 arbeiten müssen,
natürlich verringert, weil die Menschen einfacher aus
dem Arbeitsleben ausscheiden könnten, wenn sie „kaputt“ sind. Selbstverständlich würden wir auch versuchen, bessere Möglichkeiten für flexible Übergänge zu
schaffen.
({1})
Leider war es uns im Rahmen der Großen Koalition
nicht möglich, beispielsweise die Förderung der Altersteilzeit beizubehalten. Dadurch würde die Quote derer,
die regulär in den Altersruhestand gehen, auch wieder
abgesenkt werden.
Von daher ist die Quote zwar eine ordentliche Zielmarke, aber sie ist nicht ausschließlich das, was unser
Konzept ausmacht. Vielmehr muss man es in Gänze beachten. - Ich danke Ihnen.
({2})
Ich komme noch einmal zu der Aussage: Ihr habt es ja
mitbeschlossen. - Ja, das stimmt; das ist schon richtig.
({3})
Wir haben vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte
gesagt: Es gibt im Moment keine Alternative dazu. Herr Strengmann-Kuhn, ich bin hier sofort wieder bei
Ihnen, dass die Frage nach einem höheren Renteneintrittsalter irgendwann mit Sicherheit beantwortet werden muss.
Man könnte das jetzt tun, aber es hätte doch folgenden Nachteil, wenn wir das jetzt täten: Die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen liegt zurzeit bei
21,5 Prozent, und in den letzten zehn Jahren hat sich
diese Quote in der Tat verdoppelt.
({4})
Wenn man diese Entwicklung über die nächsten zwei
Jahre fortschreibt, dann sieht man, dass dann vielleicht
25 Prozent der 60- bis 64-Jährigen beschäftigt sein werden. Viel mehr werden es aber nicht sein.
({5})
Für diejenigen, die das reguläre Renteneintrittsalter nicht
erreichen, bedeutet das, ab 2012 dauerhaft 0,3 Prozent
mehr Abschläge hinnehmen zu müssen, und zwar unverschuldet. Wir Sozialdemokraten sagen: Da wollen wir
nicht mitmachen; so war es nie gedacht. Deswegen haben wir gegen den massiven Widerstand der Union in
Verhandlungen dafür gesorgt, dass die Überprüfungsklausel ins Gesetz geschrieben wird. Sie besagt eindeutig, was zu geschehen hat.
Die Begründungen der Union zu diesem Thema sind
abenteuerlich. Es steht ja im Gesetz, dass im Jahr 2010
die Regierung verpflichtet ist, die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Situation der älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zu überprüfen, und empfehlen muss,
ob vor diesem Hintergrund die Einführung der Rente mit
67 ab 2012 geboten ist.
({6})
Die Arbeitsministerin hat ja offensichtlich die Auswertung dieser Überprüfung nicht vorliegen, und auch der
Staatssekretär Brauksiepe hat sie nicht - zumindest
wurde das heute gesagt -, und trotzdem haben beide gesagt: Ab 2012 kommt die Rente mit 67 auf jeden Fall. Das ist Pharisäertum. Das ist rücksichtslos. Das hat mit
Kenntnisnahme der Realität in dieser Republik nichts zu
tun.
({7})
Meine Damen und Herren von der Union, wir nehmen
das gemeinsam beschlossene Gesetz in Gänze ernst,
nicht nur die Teile, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten, sondern auch die Überprüfungsklausel, die wir ins Gesetz hinein verhandelt haben.
Der Kollege Weiß hat etwas zum Thema Fachkräftemangel gesagt. Die Frage der Solidarität wurde breit angesprochen. Lieber Peter Weiß, das mit der Solidarität ist
so eine Sache. Gefordert war Solidarität von denen, die
in Rente gehen; da hieß es: Sie gehen halt ein bisschen
später. Wir erinnern uns an das Rentennachhaltigkeitsgesetz aus dem Jahre 2003. Da wurde gesagt: Sie werden
auch für weniger - man könnte an der Stelle sagen: doppelt solidarisch - gehen. Es wurde ferner gefordert: Arbeitnehmer müssen solidarisch sein. - In der Tat: Die
Beiträge werden etwas steigen, bis maximal 22 Prozent;
denn wir haben das sogenannte Beitragsdogma eingeführt, das besagt: Die Beiträge dürfen nicht über
22 Prozent steigen. - Es wird also Solidarität eingefordert.
Es stimmt, wenn man sagt, dass sich unsere Gesellschaft verändert und wir daher eine breitere Solidarität
brauchen. Aber wenn es darum geht, die sozialen Sicherungssysteme solidarisch und paritätisch zu finanzieren,
verabschiedet sich die Union aus der Solidarität und
friert die Arbeitgeberbeiträge ein. So viel zum Thema
Solidarität. Sie überlassen die Lasten allein den Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Rentnern.
({8})
Im Bereich der Gesundheitspolitik ist das ganz klar geschehen.
Zu den Themen „Qualität der Arbeit“, „Voraussetzungen schaffen“, „gute Arbeit“ gibt es von dieser Bundesregierung null Ansage. Sie ergreifen keine Initiative. Es
passiert überhaupt nichts. Wir hatten auch eine Debatte
zum Thema „prekäre Beschäftigung“. Viele Menschen
in diesem Lande, die deswegen nie über ein ausreichendes Renteneinkommen verfügen werden, arbeiten für 5,
6 oder 7 Euro die Stunde, und zwar den ganzen Tag. Wir
haben Ihnen gesagt: Passen Sie auf, was passiert, wenn
ab dem nächsten Jahr die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt.
Viele Menschen aus Osteuropa werden kommen und das
derzeitige Lohnniveau noch unterbieten. In dieser Hinsicht tun Sie nichts, um Ordnung auf dem Arbeitsmarkt
zu schaffen, um dafür zu sorgen, dass die Menschen ein
sicheres Einkommen und damit eine gesicherte Rente
haben.
Ich sagen Ihnen etwas - das ist mittlerweile, auch
nach dieser Debatte, meine feste Überzeugung -: Sie
sind der Meinung - zumindest Teile von Ihnen, auf jeden
Fall die Arbeitsministerin -, dass derjenige, der ein leistungsloses Einkommen bezieht, kein Bier trinken und
auch keine Zigaretten rauchen soll. Zumindest muss man
das nicht berechnen. Rentenpolitisch gesehen sind Sie
völlig leistungslos. Die Ministerin sollte sich von daher
überlegen, Ihnen teuren Wein und die Zigarren zu verbieten.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Sebastian Blumenthal
von der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Nach
dem Versuch der Vergangenheitsbewältigung der SPD,
den wir eben erlebt haben, komme ich zu dem konkreten
Antrag zurück, den uns die Linke vorgelegt hat. Die
Linke fordert - ich zitiere - „eine Umorientierung in der
Finanzierung der gesetzlichen Rente sowie den Umbau
der gesetzlichen Rentenversicherung“. Zur Frage, wie
dieser Umbau konkret aussehen soll, bleibt der Antrag
zunächst sehr vage und wenig konkret. Der vorliegende
Antrag ist Teil eines Rentenkonzepts, das im aktuellen
Wahlprogramm der Linken sehr genau beschrieben wird.
Nun will ich nicht behaupten, dass sich der Blick ins
Wahlprogramm der Linken grundsätzlich lohnt, aber in
diesem Fall ist er durchaus hilfreich.
({0})
- Herr Birkwald, genau so ist das.
Sie fordern in Ihrem Wahlprogramm, die staatliche
Unterstützung der privaten Vorsorge einzustellen und die
privat erworbenen Ansprüche und die staatlichen Fördermittel in die gesetzliche Rente zu überführen. Was
bedeutet das konkret für die Bürgerinnen und Bürger?
Das hieße: Alle Ersparnisse aus den Sparverträgen und
Versicherungen, die der privaten Vorsorge dienen, müssten den Bürgern entzogen werden. Das sind unter anderem private Renten- und Lebensversicherungen, das sind
Riester-Sparverträge, das sind Rürup-Renten, und es
sind unzählige private Betriebsrenten, über die wir reden. Das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
lange Jahre angespart haben, wird ihnen entzogen. Wir
reden nicht über Millionäre und Spitzenverdiener, sondern wir reden überwiegend über Kleinsparer. Das ist
genau die Gruppe, auf die Sie abzielen. Dem werden wir
uns entgegenstellen.
({1})
Im Mai dieses Jahres hat Ihre Genossin Lötzsch das
unsägliche Zitat gebracht, dass es auf dem Finanzmarkt
„Taliban im Nadelstreifen“ geben würde, weil Finanzmanager sehr streitbare Vorgänge vollzogen haben. Jetzt
betätigen Sie sich selbst durch das Ansinnen, das ich gerade geschildert habe, als Finanzspekulanten; denn Sie
wollen die private Altersvorsorge der Menschen hintertreiben, und Sie offenbaren erneut ein erschreckendes
Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger.
Das werden wir von der FDP-Fraktion nicht mittragen.
Dagegen werden wir uns energisch stellen.
({2})
Ich möchte zusammenfassen, was Sie gefordert haben. Die privaten Rentenersparnisse werden also erst
von den Linken zwangsaufgelöst und anschließend verstaatlicht. So steht es in Ihrem Programm. Schauen Sie
bitte nach, Herr Birkwald.
({3})
Das heißt, jede Form der staatlich geförderten privaten Vorsorge wollen Sie auflösen und damit wollen Sie
bei den Menschen abkassieren. Nicht nur auf den Finanzmärkten, sondern auch auf den Immobilienmärkten
würden Sie als Spekulanten aktiv werden. Viele Menschen haben nämlich im Rahmen der privaten Altersvorsorge zum Beispiel in Eigenheime investiert. Wenn es
nach Ihnen ginge, müssten auch diese Immobilien verkauft werden. Das wäre die Konsequenz der Verstaatlichung der privaten Altersvorsorge.
({4})
- Wo wir gerade beim Kabarett sind - das ist ein gutes
Stichwort, Herr Birkwald -: Das erklärt vielleicht auch,
warum Teile Ihres Spitzenpersonals Immobilien in Österreich haben. Da zeigt sich die Konsequenz in Ihrem
Handeln.
({5})
Ich gehe davon aus, dass Sie das nicht einfach so in
das Wahlprogramm geschrieben haben, sondern es ernst
damit meinen. Herr Kollege Ernst, es geht hier nicht um
Kuchenklau, wie Sie es dargestellt haben, sondern es
geht um Rentenklau. Das ist die logische Konsequenz
aus Ihrem Gedankengang.
({6})
Als Fazit möchte ich festhalten: Der Antrag ist fachlich völlig unausgegoren, er ist sozial unausgewogen,
und Sie bestrafen die private Initiative der Bürger, die
für ihr Alter vorsorgen. Der Antrag ist überflüssig und
verzichtbar. Das sind Gründe genug, ihn abzulehnen.
Das werden wir tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
den Eindruck, dass neben der spannenden Debatte über
die Frage der Rentensicherung heute hier noch ein anderes Thema ganz spannend ist, nämlich die Frage: Wo
steht die SPD?
({0})
Ich habe nach den beiden Debattenbeiträgen, die ich hier
gehört habe, den Eindruck, dass die SPD in der Frage
der Rente mit 67 auf der Suche nach einem Notausgang
für Helden ist. Ich bin mir sicher: Den werden Sie eines
Tages finden. Sie haben sich auch bei anderen Themen
aus der Verantwortung gestohlen, nachdem Sie keine
Regierungsverantwortung mehr hatten.
({1})
Schauen wir uns einmal genauer an, was in dem Antrag der Linken steht. Ich will auf einige Forderungen
genauer eingehen.
Sie wollen den Ausstieg aus der Rente mit 67 durch
einen höheren Beitragssatz von 0,5 Prozentpunkten gegenfinanzieren. Das kann man machen. Wir haben im
Wesentlichen drei Stellschrauben, um mit dem demografischen Problem der Rentenversicherung umzugehen:
die Kürzung der Renten, die Verlängerung der Arbeitszeiten oder die Erhöhung des Rentenbeitrags.
({2})
Ich halte das allerdings für falsch, weil damit Arbeit zusätzlich belastet wird, und das ist etwas, was wir augenblicklich überhaupt nicht gebrauchen können.
({3})
Dann wollen Sie die Arbeitslosigkeit durch die
Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse bekämpfen. Ich nehme einmal an,
dass Sie hier nicht die 500 000 öffentlich geförderten zusätzlichen Stellen meinten, die Sie neulich in einem Antrag gefordert haben,
({4})
sondern Arbeitsplätze, die in der Wirtschaft entstehen.
({5})
- Einverstanden.
({6})
Das wollen wir auch. Aber dann dürfen Sie doch nicht
die Arbeit durch einen höheren Rentenbeitrag teurer machen. Das passt nicht zusammen.
({7})
Im Übrigen: Dort, wo Sie in der politischen Verantwortung stehen - das habe ich einmal nachgeschaut -,
können Sie doch beweisen, wie man neue Arbeitsplätze
schafft. Die Zahlen, die gestern herausgekommen sind,
belegen: Berlin hat die höchste Arbeitslosigkeit im Bundesgebiet. Wie wollen Sie dann die Arbeitslosigkeit
durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze bekämpfen?
({8})
Das passt, glaube ich, nicht zusammen.
({9})
Dann schlagen Sie vor, die Deckelung des Beitragssatzes aufzuheben. Dadurch würden höhere Anwartschaften entstehen; aber die wollen Sie dann deckeln.
Ich halte schon eine Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze aus verfassungsrechtlichen Gründen für
problematisch; aber das Äquivalenzprinzip aufzugeben, bedeutet, dass der Charakter der Rentenversicherung ein völlig anderer wird. Auch das wirft erhebliche
verfassungsrechtliche Fragen auf.
Natürlich taucht wie das Teufelchen in der Box auch
wieder das Thema Mindestlohn auf. Nun stellen Sie den
Mindestlohn in einen Zusammenhang mit den Einnahmen der Rentenversicherung. Ich bin mir allerdings
nicht sicher, ob hier nicht ein Irrtum vorliegt. Ich fürchte
eher, dass mit der Einführung des Mindestlohnes Arbeitsplätze verloren gingen. Sie werden vermutlich sagen, dass das Arbeitsplätze sind, die nicht Ihrer Vorstellung von guter Arbeit entsprechen. Das mag sein. Aber
wenn diese Arbeitsplätze dann wegfallen, hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Renteneinzahlungen.
({10})
Einige Probleme mit der Rente mit 67, die hier zum
Teil schon zur Sprache gekommen sind, möchte ich aus
unserer Sicht einmal ansprechen. Es ist richtig, dass es
gerade in körperlich anstrengenden Berufen ausgesprochen schwierig ist, bis zum 67. Lebensjahr zu arbeiten. Ein Maurer arbeitet nicht bis 67; aber, wie es Franz
Müntefering von diesem Pult einmal formuliert hat: Der
steht auch nicht mehr mit 64 auf dem Gerüst. - Ich
denke, dass hier die Arbeitgeber und die Gewerkschaften gefordert sind, gerade in solchen Berufen frühzeitig
Weiterbildungsangebote oder Schulungen, die einen anderen Arbeitseinsatz erlauben, anzubieten.
({11})
Das betrifft neben der Baubranche die Forst- und Landwirtschaft, aber auch den Einzelhandel und die Pflege.
Es ist richtig, dafür Sorge zu tragen, dass immer mehr
ältere Arbeitnehmer auch tatsächlich in Arbeit sind. Das
ist so in 2007 verabredet worden. Wenn wir aber feststellen, dass noch zu wenig ältere Arbeitnehmer in Arbeit
sind, dann heißt das doch nicht, dass wir aus der Rente
mit 67 aussteigen müssen, sondern nur, dass wir uns
mehr anstrengen müssen,
({12})
diesen Anteil den Arbeitnehmer zu steigern. Wir tun das
mit der Perspektive „50plus“, die schon gute Erfolge
aufweisen kann; der Kollege Strengmann-Kuhn hat das
eben bestätigt.
Wir müssen weg von einem Jugendlichkeitswahn in
der Arbeitswelt, der manchmal seltsame Blüten getrieben hat. Jung soll der Arbeitnehmer sein, keine 30, mit
zehn Jahren Berufserfahrung - im Ausland studiert, mit
Doktorhut, zeitlich und örtlich unbegrenzt flexibel.
Nein, ich glaube, wir müssen einen Bewusstseinswandel
befördern. Wir müssen den Erfahrungsschatz hervorheben, die Beständigkeit und Gelassenheit, die vielleicht
erst mit zunehmendem Alter kommen.
({13})
Vielleicht müssen wir den Betrieben auch Mittel an die
Hand geben, ihre Mitarbeiter zu halten, etwa durch einen
deutlichen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung. Denn
eines ist richtig: Je besser die Arbeit, je besser das Arbeitsklima, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass
länger gearbeitet werden kann. Das geht zumindest aus
dem DGB-Index Gute Arbeit 2009 sehr deutlich hervor.
Hier haben wir noch einigen Handlungsbedarf.
Meine Damen und Herren, der Umstand, der zu unserer Diskussion geführt hat, ist der, dass die Menschen
länger leben und länger Rentenzahlungen erhalten. 1960
haben die Rentner im Durchschnitt zehn Jahre Rente bezogen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf zulassen?
Aber natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass wir uns
mehr anstrengen müssen, damit Ältere länger beschäftigt
werden und in Arbeit bleiben können. Man solle nicht
dafür eintreten, die Rente mit 67 zu verhindern bzw. zu
verschieben, sondern man solle quasi in Kauf nehmen,
dass es so ist. Ich gebe Ihnen recht: Wir müssen uns
mehr anstrengen, damit ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Arbeit bleiben oder in Arbeit kommen.
Bis dahin sind wir d’accord.
Würden Sie mir zugestehen, dass Menschen vor dem
Hintergrund der realen Zahlen - sie liegen vor, und sie
werden sich in den nächsten zwei Jahren nur unwesentlich verbessern - dauerhaft höhere Abschläge als heute
hinnehmen müssen, weil sie vorzeitig in den Ruhestand
gehen müssen und somit gezwungen werden, Leistungen
nach dem SGB II zu beziehen? Nehmen wir das in
Kauf? Das war die Frage. Wenn Sie sagen: „Wir müssen
mehr tun am Arbeitsmarkt“, dann gebe ich Ihnen völlig
recht, auch wenn Ihre Aussage mit den Absenkungen der
Mittel für den Eingliederungstitel nicht korrespondiert.
Ich möchte noch gerne ein Versäumnis nachholen.
Gestern hat nicht nur ein CDU-Kollege Verantwortung
für die Reform des SGB II übernommen, sondern auch
der Kollege Lehrieder; das will ich hier ausdrücklich sagen. Alle anderen Rednerinnen und Redner der Union
haben diese Verantwortung aber leider nicht übernommen.
Herr Kollege Schaaf, es tut immer gut, wenn von Ihrer Seite die Kollegen der CDU gelobt werden. Ich
wünschte mir eigentlich, dass Sie sehr viel stärker, als es
bisher der Fall gewesen ist, bei dem, was in 2007 verabredet worden ist, bleiben. Ich wünschte mir von Ihnen eigentlich ein deutliches „Wir stehen nach wie vor zu der
Rente mit 67“. Ich glaube, das wäre etwas, was zur begrifflichen Klarheit und zur Klarheit in der Diskussion in
diesem Hause beitragen würde.
({0})
Meine Damen und Herren, der Umstand, der zu unserer Diskussion geführt hat, ist der, dass Menschen länger
leben und länger Rentenzahlungen erhalten. 1960 haben
Rentner im Durchschnitt zehn Jahre Rente bezogen,
2030 werden es 20 Jahre sein. Das ist eine gute Nachricht. Solange wir im bestehenden Rentensystem bleiben, halte ich es schon für legitim, etwas länger zu arbeiten. Wir werden sicherlich an anderer Stelle Gelegenheit
haben, über Alternativen zu unserem jetzigen System
nachzudenken. Ich persönlich verhehle nicht meine
Sympathie für das Rentenmodell der katholischen Verbände. Ich hoffe sehr, dass wir bei der Diskussion über
Altersarmut auch darüber diskutieren, ob wir unser bestehendes Rentensystem nicht langfristig transformieren
wollen. Für heute und den hier diskutierten Antrag bleibt
aber festzuhalten, dass er nichts Neues, aber viel Falsches enthält und deswegen unsere Zustimmung nicht
finden kann.
Danke schön.
({1})
Silvia Schmidt hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Zimmer, Sie haben zu Recht gesagt: Von
bestimmten Dingen sollte man sich nicht verabschieden.
„Rente mit 67“ ist ein sehr wichtiges Thema in der Gesellschaft. Viele Menschen lehnen die Rente mit 67 ab,
weil sie einfach noch nicht verstanden haben, worum es
eigentlich geht. Die Einführung der Rente mit 67 muss
sehr gut vorbereitet sein, damit die Menschen diese Reform begreifen, akzeptieren und mittragen können. Eine
entsprechende Haltung ist zum heutigen Zeitpunkt einfach noch nicht da.
Herr Heinrich, Sie haben wunderbar geredet. Was Sie
gesagt haben, war alles sehr schön. Wenn man das hört,
möchte man gerne bis zum 70. Lebensjahr zur Arbeit gehen. Aber Sie haben auch die Worte verwendet: gebraucht werden, lebenslanges Lernen, Spaß am Leben
haben. Glauben Sie mir, ein Erwerbsminderungsrentner
hat heute keinen Spaß am Leben. Das ist uns bewusst;
das haben wir nicht nur in der Anhörung erfahren. Es
gibt hier einige schwerwiegende Punkte. Wir müssen das
Problem der Erwerbsminderungsrente in den Griff bekommen. Dabei geht es nicht nur um den Maurer oder
den Metaller, sondern auch um Frauen, die zum Beispiel
im Krankenhaus als Krankenschwester oder im Pflegedienst arbeiten. Hier soll noch einmal auf das hingewiesen werden, was wir verändern müssen, damit eine Verbesserung eintritt.
({0})
Zurzeit leben in Deutschland 1,1 Millionen Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente bekommen.
Übrigens waren es 2000 noch 1,4 Millionen Menschen.
Wir haben die Zugangsvoraussetzungen deutlich erhöht.
Das könnte man kritisieren; aber es war ein guter Weg,
den wir damit gegangen sind. Wir haben das betriebliche Eingliederungsmanagement gemäß § 84 SGB IX
eingeführt. Damit ist endlich gesetzlich verankert, dass
Unternehmen Verantwortung für ihre Mitarbeiter tragen.
Die Unternehmen sind also mitverantwortlich dafür, ob
ihre Mitarbeiter in gutem gesundheitlichen Zustand sind,
ob sie sich wohlfühlen. Um dem gerecht zu werden,
müssen sie zusammen mit den Betriebsräten oder den jeweiligen Interessenvertretungen, zum Beispiel den
Schwerbehindertenvertretungen, tätig werden.
Das passiert sehr selten. Nur 50 Prozent der großen
Unternehmen wissen, dass es ein betriebliches Eingliederungsmanagement gibt, und bei den kleinen und mittleren Unternehmen sind es gerade einmal 25 Prozent.
Damit will man nicht nur den Menschen gesund erhalten, sondern man will auch seinen Arbeitsplatz erhalten.
Ich frage mich manchmal, warum die Wirtschaft dieses
Konzept nicht viel intensiver nutzt. Auf der einen Seite
reden wir über Fachkräftemangel, und auf der anderen
Seite haben wir 1,1 Millionen Erwerbsminderungsrentner, die zu Hause sitzen und sehr gern arbeiten würden,
dies aber nicht in Form einer Zuverdienstlösung; das
möchte ich auch noch einmal deutlich sagen.
({1})
Im Bereich der Erwerbsminderungsrenten ist in den
vergangenen Jahren ein großes Problem auf uns zugekommen: Die Zahlbeträge für Erwerbsminderungsrenten
sind deutlich nach unten gegangen. Das heißt, sie liegen
- im Osten wie im Westen - gerade am Existenzminimum. Gerade Menschen mit Behinderungen - und dies
sind Erwerbsminderungsrentner - haben natürlich einen
deutlichen Mehrbedarf. Wenn sie diesen Mehrbedarf haben, stehen sie bei den Kommunen an und müssen das
Prozedere mit Anträgen, Ablehnungen, Widersprüchen
und Bescheiden durchlaufen, um endlich einen Ausgleich
für ihren Mehrbedarf zu erhalten, wobei eine Kommune
in der jetzigen Situation - ich erinnere nur an die Reform
der Eingliederungshilfe - natürlich nicht das Geld dazu
hat. An dieser Stelle gilt es, deutlich zu machen, wie wir
die Erwerbsminderungsrentner unterstützen können.
Ein weiteres Problem, das schon angesprochen wurde,
ist, dass eine größere Anzahl von psychisch Kranken
Erwerbsminderungsrente bezieht. - Herr Kolb, es wäre
gut, wenn Sie zuhören würden. - Gerade die Menschen,
die auf dem Arbeitsmarkt flexibel sein müssen, die mobil
sein müssen, die Stress ausgesetzt sind, die lange von den
Familien getrennt sind, die Mobbing über sich ergehen
lassen müssen, die einem starken Leistungsdruck ausgesetzt sind, werden verstärkt zu Erwerbsminderungsrentnern. Die Krankenkassen warnen uns und sagen, dass das
unsere zukünftigen Erwerbsminderungsrentner sind. Ich
frage mich, wie wir dieses Problem aus der Welt schaffen.
Hier ist ein Präventionsgesetz vonnöten. Darüber
wird noch gar nicht gesprochen.
({2})
Wir haben zu Zeiten der Großen Koalition versucht, es
einzubringen. Das hat aber nicht funktioniert. Auch der
Bundesrat hat es abgelehnt. Wir haben damals im
SGB IX festgelegt: Prävention vor Reha. - Aber wir haben kein Präventionsgesetz. Wir brauchen eine humane
Arbeitswelt, damit Menschen freiwillig länger arbeiten.
Das ist ein wesentlicher Punkt.
In den vergangenen Monaten - von Januar bis Mai ist die Förderung der BA zur Wiedereingliederung von
Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt deutlich zurückgegangen, und zwar um 24 Prozent. Ältere schwer6674
Silvia Schmidt ({3})
behinderte Langzeitarbeitslose haben kaum eine Chance,
an irgendwelchen Maßnahmen der BA teilzunehmen,
um wieder ins Arbeitsleben eintreten zu können. Diese
werden dann meistens in die Erwerbsminderungsrente
verwiesen. Wenn sie ganz viel Pech haben, dann kommen sie in eine geschützte Werkstatt. Das kann nicht unser Zukunftsmodell sein. Wir müssen den Menschen die
Angst nehmen. Wir müssen den Menschen sagen, dass
sie in Zukunft gute und sichere Arbeitsverhältnisse haben und gerne zur Arbeit gehen werden. Davon profitiert
auch die Wirtschaft und dementsprechend auch das Rentensystem.
Wir fordern, dass der Zugang zur Erwerbsminderungsrente wieder erleichtert wird. Die Abschläge müssen abgeschafft werden. 10,4 Prozent sind relativ viel.
Bei dem niedrigen Betrag, den heute ein Erwerbsminderungsrentner im Durchschnitt bekommt, ist das schon
dramatisch.
Frau Schmidt, kommen Sie bitte zum Ende.
Wir brauchen endlich ein Präventionsgesetz. Außerdem brauchen wir endlich auch gesetzliche Mindestlöhne.
Vielen Dank.
({0})
Gabriele Molitor hat das Wort für die FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Linken, den wir zu beraten haben, geht
an der Realität vorbei und erkennt Wahrheiten einfach
nicht an. Es scheint, als ob die Linken noch nie etwas
vom Fachkräftemangel oder von der demografischen
Entwicklung gehört hätten.
({0})
Anstatt auf diese drängenden Fragen die passenden Antworten zu suchen, wird ein Kampf der Generationen heraufbeschworen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass die
Rente mit 67 jungen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt versperre.
({1})
Dabei verschließen Sie die Augen davor, dass die Unternehmen dringend auf das Know-how älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angewiesen sind.
({2})
Sie verkennen auch die Tatsache, dass es in Deutschland
Zehntausende offener Ausbildungsplätze gibt.
({3})
Ein Blick ins Ausland lohnt: Dänemark und die Niederlande planen die Rente mit 67, Lettland und Irland
wollen die Regelaltersgrenze sogar auf 68 Jahre erhöhen. In den USA gilt die Altersgrenze von 67 Jahren für
alle Personen, die nach 1960 geboren wurden. Auch die
Europäische Kommission lobt unsere Pläne ausdrücklich.
Im kommenden November wird das Arbeits- und Sozialministerium einen Prüfbericht vorlegen, in dem die
Voraussetzungen für die Rente mit 67 untersucht werden. Dieser Bericht soll dann alle vier Jahre fortgeschrieben werden und über die Entwicklung der Beschäftigung
älterer Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt informieren.
Dabei wird auch geprüft werden, ob die Anhebung der
Regelaltersgrenze weiterhin vertretbar ist oder ob Änderungen notwendig sind. Ich denke, das ist der richtige
Weg. Dadurch können wir zukünftig frühzeitig auf mögliche Fehlentwicklungen reagieren.
({4})
Anders als die Linke wollen wir nicht mit der Förderung von Altersteilzeit Steuergelder für die Frühverrentung verschwenden.
({5})
Die Koalition hat die Fortführung der staatlichen Förderung von Altersteilzeit im Koalitionsvertrag ausgeschlossen, weil von den so frei gewordenen Stellen zwei Drittel
weggefallen sind, das heißt nicht wiederbesetzt wurden.
Große Unternehmen haben diese Maßnahme also dazu
genutzt, mit staatlicher Hilfe Stellen abzubauen. Wir wollen kein Blockmodell mehr, auf das 90 Prozent der Altersteilzeitfälle entfielen, sondern die Kombination von Rente
und Zuverdiensten.
({6})
Bei diesem Thema argumentieren Sie auch unlogisch.
Eine Wiedereinführung der Altersteilzeit würde nämlich
dazu führen, dass weniger Menschen in die Rentenkassen einzahlen.
Bereits heute ist ein Umdenken in der Wirtschaft erkennbar. Die Unternehmen wollen ihre Arbeitnehmer
halten und gerade auf die Erfahrungen ihrer älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht verzichten.
({7})
Kollege Schaaf würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herr Schaaf hat zwar heute schon viel Gelegenheit
gehabt, zu reden, aber von mir aus: Bitte schön.
Frau Molitor, ich danke Ihnen sehr. Es handelt sich
auch nur um eine Frage zur Altersteilzeit, auf die Sie
vielleicht mit einer Präzisierung antworten können.
Bei der geförderten Altersteilzeit gab es die Bedingung, dass der Arbeitsplatz nicht wegfällt. Zwei Drittel
der Altersteilzeit, die in Anspruch genommen wird und
wurde, war nicht geförderte Altersteilzeit. Wenn Sie jetzt
sagen, dass das nur negative Auswirkungen habe, dann
muss man doch präzisieren, dass es negative Auswirkungen nur im Zusammenhang mit der nicht geförderten Altersteilzeit, wozu nach wie vor die Möglichkeit besteht
- Sie haben diese ja nicht abgeschafft -, gab und gibt. Im
Zusammenhang mit der geförderten Altersteilzeit gab es
keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt,
weil Bedingung für die Förderung eben der Erhalt des
Arbeitsplatzes war. Können Sie mir das bestätigen?
Ich denke, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache.
({0})
Ich wehre mich dagegen, Steuergelder zu verwenden,
um Unternehmen solche Umstrukturierungen zu ermöglichen.
({1})
Ich denke, wir haben hier den richtigen Weg eingeschlagen.
({2})
Also: Der Fachkräftemangel wird die Nachfrage nach
gut ausgebildeten und erfahrenen Kräften erhöhen. In
der Krise wurde deutlich, dass in schwierigen Zeiten die
Menschen nicht entlassen worden sind - das Kurzarbeitergeld hat sicherlich sehr viel dazu beigetragen -; denn
die Unternehmen wissen ganz genau: Wer einmal entlassen wurde, kommt nicht mehr zurück.
({3})
- Das haben wir gemeinsam erfunden.
({4})
Ein flexibler Renteneintritt ermöglicht den gleitenden
Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand. Ein
Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen ermöglicht, den eigenen Lebensstandard selbst zu bestimmen; das ist uns
sehr wichtig.
({5})
Die Beseitigung von Barrieren zur Beschäftigung älterer Menschen führt dazu, dass Gesellschaft und Unternehmen stärker vom Know-how älterer Mitarbeiter profitieren können. Von der Wertschätzung älterer Menschen,
auch älterer Arbeitnehmer haben wir schon in anderen
Wortbeiträgen gehört. Dem kann ich mich nur anschließen.
({6})
All diese Vorkehrungen, alle diese politischen Maßnahmen, die wir ergriffen haben, zeigen der jungen Generation, wie verantwortungsvoll wir mit der Rentenfrage umgehen und dass sie sich keine Sorgen machen
muss, weil für ihren Ruhestand vorgesorgt ist. Das ist
der richtige Weg, und dafür setzen wir uns ein.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Max
Straubinger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke in unserem Haus stellt heute wieder den Antrag, die Rente mit 67 abzuschaffen, und verschließt
letztendlich die Augen vor der demografischen Entwicklung und auch vor den zukünftigen Herausforderungen
auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt, beim Aufschwung, wird
sichtbar, dass wir Fachkräfte brauchen und dass wir händeringend um sie werben müssen. Deshalb ist es richtig,
an dieser Rentengesetzgebung, die wir in der Großen
Koalition gemeinsam geschaffen haben, festzuhalten.
Wir wissen, dass die Gesamtgesellschaft, die Jungen und
die Alten, diese demografische Herausforderung solidarisch zu tragen hat.
Wenn bis zum Jahr 2029 das Regeleintrittsalter auf
das 67. Lebensjahr angehoben wird, so ist dies ein maßvoller Schritt, weil bis zu diesem Zeitpunkt auch die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland um drei
Jahre steigt. Wenn wir dann die Arbeitszeit um zwei
Jahre verlängern, so ist dies ein sehr maßvoller, generationengerechter und verantwortbarer Schritt.
({0})
Ich danke dem Kollegen Strengmann-Kuhn ausdrücklich
dafür, dass er sich ebenfalls dazu bekannt hat.
Aber dem Antrag liegen auch falsche Behauptungen
zugrunde, so beispielsweise die Behauptung, mit der
Rücknahme der Rente mit 67 könnten junge Menschen
in Arbeit kommen. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil:
Wir haben heute einen Lehrstellenüberschuss; das hat
meine Vorrednerin bereits dargelegt.
({1})
- Wir haben die Arbeitslosigkeit in den vergangenen
Jahren signifikant abgebaut, und wir sind auf einem gu6676
ten Weg, jetzt auch die 3-Millionen-Grenze zu unterschreiten. Das ist mit ein Ergebnis unserer Politik.
({2})
Vor allen Dingen ist dies kein Rentenkürzungsprogramm, wie Sie es darstellen wollen.
Ich denke, es ist viel besser, an praktischen Beispielen
darzustellen, wie sich die Demografie entwickelt. Ich
glaube, dass man sich vor 10 oder 20 Jahren gar nicht vorstellen konnte, dass man 100 Jahre alt werden kann. Wir
haben den Kollegen Frankenhauser einmal gefragt, wie
das in der Stadt München ist, und er hat mir die Zahlen
dankenswerterweise schnell mitgeteilt. In München gibt
es momentan 224 Personen über 100 Jahre. Wenn wir die
Lebenserwartungsstatistiken betrachten, ergibt sich, dass
vor allem Frauen älter werden - das ist auch schön - und
dass vor allen Dingen ein weibliches Kind, das heute geboren wird, die Chance hat, 102 Jahre alt zu werden. Man
stelle sich vor, jemand geht mit 67 in Rente und wird
102 Jahre alt. Das bedeutet 35 Jahre Rentenbezug. Das
macht klar, welche Herausforderung die demografische
Entwicklung bedeutet und dass die Bewältigung dieser
Herausforderung eben von allen Generationen gerecht
getragen werden muss und nicht so, wie es die Linken in
unserem Haus darlegen, die die Augen vor dieser Generationenfrage verschließen.
Werte Damen und Herren, eine Antwort auf diese Herausforderung war die Gesetzgebung, die wir jetzt umsetzen. Aber wichtig ist, dass die Menschen in Arbeit
sind.
Heute sind schon mehrere Zahlen der älteren Beschäftigten in unserem Land genannt worden. Gerade
die Entwicklung im letzten Jahr war bedeutsam. Ich darf
ganz kurz die entsprechenden Zahlen nennen. Die Zahl
der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der
Gruppe zwischen 60 und 64 Jahren lag im März 2010
bei 1 080 000. Diese Zahl ist innerhalb eines Jahres um
120 000 gestiegen. Dies, verehrter Herr Kollege Anton
Schaaf, ist ein Beleg dafür, dass die sogenannte Betrachtungsklausel greift. Nach dieser Klausel muss geprüft
werden, ob es verantwortbar ist, die Rente mit 67 ab dem
Jahr 2012 in die Tat umzusetzen. Die Zahlen zeigen in
signifikanter Weise, dass auch Menschen in einem höheren Alter noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt
sind. Dass dies so bleibt, dafür setzen wir uns ein.
Ich bin überzeugt, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird; denn das Programm für die geförderte Altersteilzeit - der Herr Kollege Kolb hat dies bereits ausgeführt - läuft aus und findet nur noch für diejenigen
Anwendung, die diesen Schritt bis zum 31. Dezember
2009 gegangen sind.
Es zeigt sich sehr deutlich: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung älterer Bürgerinnen und Bürger
wird weiter zunehmen. Deshalb bedarf es keines Antrags
wie den der SPD, in dem das Erreichen eines bestimmten Beschäftigungsquotienten gefordert wird. Denn mit
Instrumenten wie beispielsweise dem Kündigungsschutz
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellen
wir sicher, dass die Beschäftigung von Menschen zwischen 60 und 64 Jahren bzw. zwischen 60 und 67 Jahren
steigen wird.
Noch ein Punkt ist wichtig. Wir haben im Rahmen der
vergangenen Rentenreform auf Verlangen der CSU vereinbart, dass derjenige, der 45 Jahre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und damit die entsprechenden
Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung
nachweisen kann, mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente
gehen kann. Das ist unser sozialpolitischer Beitrag zur
Rentengesetzgebung, der meines Erachtens in der öffentlichen Darstellung viel zu kurz kommt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vom Deutschen
Bundestag verabschiedeten Rentengesetze sind demografisch und vor allen Dingen gesellschaftspolitisch ausgewogen. Wir werden diese Gesetze zukünftig mit Maßnahmen flankieren, mit denen sichergestellt wird, dass
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit guten
und altersgerechten Arbeitsplätzen versorgt werden. Damit besteht für sie die Möglichkeit, bis zum 67. Lebensjahr ihrer Arbeit nachzugehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/2935 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Restrukturierung und geordneten Abwicklung
von Kreditinstituten, zur Errichtung eines Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und
zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung ({0})
- Drucksache 17/3024 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es vorgesehen, eine Stunde zu debattieren. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische
Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns darüber einig, dass eine zentrale Lehre aus
der Finanzmarktkrise die stärkere, vor allem aber die
effizientere Regelung der Finanzmärkte sein muss. Dafür hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene
- beim IWF, bei den G 20 und auf europäischer Ebene ein Bündel von Regulierungsmaßnahmen maßgeblich
vorangebracht, die natürlich national umgesetzt werden
müssen.
Wir alle wissen: Dazu gehört auf der einen Seite, dass
wir die Eigenkapitalausstattung der Banken verbessern.
Die geringe Eigenkapitalausstattung der Banken war ein
Grund für die Krise. Die Bemühungen im Basler Ausschuss dienen dem Ziel, die Eigenkapitalausstattung zu
verbessern. Es muss aber auch darum gehen, sogenannte
systemrelevante Finanzinstitute überhaupt nicht in Schieflagen geraten zu lassen. Die Problematik, um die es hier
geht, wird in der Fachwelt als Moral Hazard bezeichnet.
Das heißt nicht anderes, als dass der Staat mit seiner Regulierung dafür sorgen muss, dass systemrelevante Banken nicht in die Versuchung geführt werden, höhere Risiken, als sie verantworten können, einzugehen, weil sie
sich ihrer Rettung durch den Staat sicher sein können.
({0})
Dem dient der Gesetzentwurf, der in einer guten Partnerschaft zwischen dem Justizministerium und dem Finanzministerium entwickelt wurde. Er stärkt die Eigenverantwortung der Banken, er schützt so den deutschen
Finanzsektor mit maßgeschneiderten Instrumenten zur
Reorganisation und Restrukturierung vor bedrohlichen
Dominoeffekten, und er sorgt dann, wenn es zu einer
Krise kommt, für einen besseren Schutz unserer Steuerzahler, indem er den Bankensektor an den Kosten künftiger Krisen beteiligt.
({1})
Die Finanzkrise hat klargemacht, dass die bisherigen
Reorganisations- und Insolvenzverfahren vieler Länder
- auch in Deutschland - für die Sanierung systemrelevanter Banken verbessert werden müssen. Diese Verfahren
zielten in der Regel darauf ab, im Falle einer Schieflage
den Geschäftsbetrieb einzufrieren und die Vertragsbeziehungen zu anderen Finanzmarktteilnehmern zu unterbrechen. Bei systemrelevanten, auch international vernetzten Banken ist aber eine solche Vorgehensweise - das
hat die Krise deutlich gemacht - ungeeignet. Denn das
Einfrieren des Geschäftsbetriebs und die Unterbrechung
der Vertragsbeziehungen einer großen national und international stark vernetzten Bank kann eine Vertrauenskrise
unter den Banken auslösen und zu einer Gefahr für das
gesamte Finanzsystem führen; das haben wir in der Finanzmarktkrise erlebt. Ich darf nur an die Insolvenz der
international stark vernetzten Bank Lehman Brothers erinnern, die zu einem zeitweiligen Zusammenbruch der
globalen Finanzmärkte führte.
Wir führen deshalb mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein intelligentes Regime zur Restrukturierung und
geordneten Abwicklung von systemrelevanten Banken
in Deutschland ein. Es geht darum, dass Banken ihre finanziellen Schwierigkeiten in Zukunft nicht mehr aus
Furcht vor Marktreaktionen verdecken können; denn gerade in der Frühphase der Gefährdung eines Instituts bestehen oftmals noch die besten Chancen, die beginnende
Schieflage mit einem relativ geringen Aufwand zu verhindern.
({2})
Hier setzt unser Gesetzentwurf an. Er sieht ein mehrstufiges Verfahren vor, mit dem Schieflagen durch frühes und entschiedenes Eingreifen auf der Ebene der
Geschäftsführung bewältigt werden können. Im sogenannten Sanierungsverfahren, das allen Banken offensteht, wird eine breite Palette von Handlungsoptionen eröffnet. Hier sind zunächst noch keine Eingriffe in
Drittrechte vorgesehen.
Im Ernstfall greift dann aber bei systemrelevanten
Kreditinstituten das sogenannte Reorganisationsverfahren,
um Gefahren für die Stabilität des Systems abzuwehren.
Das Reorganisationsverfahren orientiert sich dabei am
bereits existierenden und bewährten Insolvenzplanverfahren. Sind die Beteiligten nicht bereit, aktiv an einer
Reorganisation des Instituts mitzuwirken, oder erscheint
ein Reorganisationsverfahren nicht aussichtsreich, dann
kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
sofort ein aufsichtsrechtliches Eingriffsverfahren einleiten.
Mit diesem Regime führen wir ein Instrument ein, das
Schieflagen von Instituten in Zukunft verhindern soll.
Die Entscheidung, ob eine Bank in eine Schieflage gerät
und ob diese Bank systemrelevant ist, wird in Zukunft
nicht mehr die Bank selber, sondern die Bankenaufsicht
treffen. Natürlich schließen sich die beiden von mir aufgezeigten Verfahren nicht aus. Voraussetzung ist also,
dass die in Schwierigkeiten geratene Bank national oder
international vernetzt ist. Dann kann der Staat eingreifen
und, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, Maßnahmen
anordnen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Verfahren ist das eine. Aber wir brauchen auch Krisenreaktionsmöglichkeiten. Deshalb werden wir einen sogenannten Restrukturierungsfonds schaffen, an den alle
Institute eine Sonderabgabe entrichten müssen, um im
Falle der Krise nicht automatisch wieder den Steuerzahler zur Kasse zu bitten. Da werden wir sehr vernünftig
vorgehen. Das heißt, wir werden in einer noch vorzulegenden Verordnung Parameter entwickeln, die wir in das
Verfahren einführen werden. Selbstverständlich wird es
so sein, dass die Abgabe risikoadjustiert ist: Je höher die
Risiken bei einem Institut sind, desto höher ist auch die
Abgabe, die eine Bank zu leisten hat.
({4})
Ich will hier ankündigen, dass wir gemeinsam mit den
Koalitionsfraktionen anstreben, im parlamentarischen
Verfahren des vorliegenden Gesetzentwurfes eine Regelung zu finden, die die Kappung variabler Gehaltsbestandteile bei gestützten Banken ermöglicht. Das ist ein
wichtiges Thema, wie die Diskussion der letzten Tage
gezeigt hat. Das Justizministerium und das Finanzministerium werden gemeinsam mit den Bundestagsfraktionen das laufende Gesetzgebungsverfahren nutzen, um
hier zu vernünftigen, aber auch rechtssicheren Lösungen
zu kommen.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass der
Entwurf eine Verlängerung der Verjährungsfrist von fünf
auf zehn Jahre für die Haftung der Organe von Aktiengesellschaften bei Pflichtverletzungen vorsieht. Dadurch
können Ersatzansprüche auch dann noch durchgesetzt
werden, wenn sie spät bekannt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf legen wir einen
wichtigen Mosaikstein für ein Gesamtkunstwerk neu
greifender, besserer und effizienterer Regelungen für unsere Finanzmärkte vor.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Manfred Zöllmer hat das Wort für die
SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege Koschyk, ich habe gerade gehört,
dass es sich bei Ihrem Gesetzentwurf um ein Gesamtkunstwerk handeln soll.
({0})
- Nein; das überfordert mich in der jetzigen Situation. Da müssen wir einmal schauen, ob dieses Kunstwerk
sehr abstrakt oder sehr konkret ist; dann werden wir es
entsprechend bewerten.
Aus den USA stammt eine Begrifflichkeit, die bereits
im Jahre 1914 während der ersten Finanzkrise geprägt
worden ist und die auch heute eine große Rolle spielt:
„too big to fail“. Genau mit diesem Phänomen sind wir
in der Finanzmarktkrise konfrontiert worden. Der drohende Zusammenbruch eines systemrelevanten Kreditinstitutes hätte dramatische Folgen für die Stabilität des
gesamten Finanzsystems und unübersehbare negative
Folgen für die Gesamtwirtschaft gehabt. Das Problem
dabei ist: Wenn wir eine solche Situation haben, wird ein
zentraler Mechanismus unserer Marktwirtschaft außer
Kraft gesetzt. Dieser Mechanismus besagt: Wenn ein
Unternehmen schlecht wirtschaftet, auf Dauer Verluste
macht und nicht wettbewerbsfähig ist, dann muss es vom
Markt verschwinden. Wenn das nicht mehr gilt, dann hat
das Konsequenzen. Das Fehlen dieses Mechanismus ist
wegen der Sicherheit, dass im Zweifelsfalle der Staat
einspringen würde, natürlich nicht nur für Anleger attraktiv, sondern besonders für die Bankmanager. Wir haben gesehen, dass diese Situation die Bankmanager dazu
verleitet, besonders risikoreiche Geschäfte zu tätigen.
Denn mit diesen besonderen, waghalsigen Geschäften
konnten sie dicke Renditen und exorbitante Boni bekommen.
Nun geht es um einen Gesetzentwurf, mit dem man
sich dieser Problematik annimmt. Dieser Gesetzentwurf
gründet sich in vielen Punkten auf die Vorarbeiten der
beiden Minister Frau Zypries und Herrn Steinbrück im
vergangenen Jahr.
({1})
- Etwas lauter, bitte. Ich habe es nicht verstanden.
({2})
- Das war im August letzten Jahres. Daran, dass Sie das
Ganze aufgenommen haben, kann man sehen, dass gute
Arbeit geleistet worden ist.
Dieser Gesetzentwurf sieht ein zweistufiges Verfahren mit einem Sanierungs- und einen Reorganisationsteil
vor. Im Kern ist das richtig. Der erste Teil basiert auf der
Auffassung, dass in einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung derjenige Verantwortung für eine Sanierung hat, der auch die unternehmerische Verantwortung
besitzt. Das ist ordnungspolitisch der richtige Ansatz. Er
setzt voraus, dass von den Aufsichtsgremien entsprechend gehandelt wird. Wenn weder Sanierung noch Reorganisation klappen, dann muss die Aufsicht die Bank
aufspalten und systemrelevante Teile auf eine Brückenbank übertragen, die dann fortgeführt wird. Der Rest
verbleibt in einer sogenannten Bad Bank, also in einer
schlechten Bank, und könnte dann abgewickelt werden.
Ein „too big to fail“ würde es zumindest für diesen Teil
dann nicht mehr geben.
Der Teufel steckt aber bekanntlich im Detail. Wir
werden uns diesen Gesetzentwurf sehr genau ansehen
müssen.
({3})
Es bleiben einige Fragen. Ich will einige Fragen stellen:
Wie sieht es mit den Arbeitnehmerrechten aus? Welche
Eingriffsrechte haben die Sanierungs- und Reorganisationsberater in diesem Zusammenhang? Für uns wäre es
wichtig, dass die zentralen Arbeitnehmerrechte auch in
einer Krisensituation gewahrt bleiben. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die BaFin tätig wird. Das ist klar, da
sie für die Finanzaufsicht zuständig ist. Daneben bekommt die Abwicklungsbehörde bei der Bundesanstalt
für Finanzmarktstabilisierung neue und zusätzliche Aufgaben. Diese Konstruktion wird man sich einmal genau
ansehen müssen. Es kann natürlich passieren, dass diese
beiden Institutionen, wenn sie nicht miteinander, sondern eher gegeneinander arbeiten, für zusätzliche Probleme sorgen und das Verfahren unnötig verkomplizieren.
Aufseiten der Sparkassen gibt es die große Befürchtung, dass viele Regelungen nicht mit dem Sparkassenrecht übereinstimmen. Ich glaube, das sollten wir sehr
sorgfältig prüfen und Probleme in diesem Zusammenhang zweifelsfrei klären.
({4})
- Bei den Debt-to-Equity Swaps, der Umwandlung von
Fremdkapital in Eigenkapital, zum Beispiel sagen die
Sparkassen: Dies ist nach unserer Rechtskonstruktion
nicht möglich.
({5})
- Lassen Sie uns das doch einmal in Ruhe klären. Wir
führen ja noch eine Anhörung durch.
Gestern haben wir hier über den Boniskandal bei der
HRE diskutiert. Wir haben gesagt, dass wir in diesem
Zusammenhang dringend gesetzliche Regelungen brauchen, damit auch in bestehende Verträge eingegriffen
werden kann.
({6})
Ich glaube, auch dies ist ein Punkt, bei dem wir nacharbeiten müssen.
Die entscheidende Frage lautet: Wie praxisrelevant
sind die gesetzlichen Regelungen eigentlich? Funktioniert das? Wird ein Kreditinstitut in einer schwierigen
Situation seine Sanierungsbedürftigkeit freiwillig anzeigen? Wird diese Regelung wirklich als Chance begriffen, oder wird die Nutzung dieser Regelung als Zeichen
des Scheiterns interpretiert? Das müssen wir klären. Von
daher bedauern wir ein bisschen den großen Zeitdruck,
den die Bundesregierung bei diesem doch sehr komplexen Gesetzeswerk aufgebaut hat.
Ein wichtiger Teil dieses Gesetzentwurfs ist die sogenannte Bankenabgabe. Wir müssen zum einen feststellen, dass damit ein Restrukturierungsfonds gespeist werden muss. Aus diesem Fonds sollen in zukünftigen
Krisensituationen Maßnahmen finanziert werden. Das
Problem dabei ist nur, dass das Aufkommen aus der
Bankenabgabe mehr als gering ist. Im günstigsten Fall
sind das 1,3 Milliarden Euro. Aber es kann auch viel weniger sein. Überlegen wir einmal, wie viele Jahrzehnte
wir brauchen - vielleicht ist es sogar ein ganzes Jahrhundert -, um diesen Topf mit entsprechenden Mitteln zu
füllen.
({7})
Wenn die Bankenabgabe so gering dimensioniert ist,
dann wird der Staat in einer solchen Situation auch zukünftig in der Pflicht sein. „Staat“ bedeutet konkret, dass
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gefordert sind.
Im Übrigen entlarvt sich die Regierungsrhetorik von einer Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise damit als Luftbuchung. Es geht nicht um eine Beteiligung
der Banken an einer Krise, sondern es geht um die Beteiligung an zukünftigen Krisen.
({8})
Sie haben es nicht hinbekommen oder nicht gewollt,
die Banken an den aktuellen Krisenkosten zu beteiligen,
und das ist nicht akzeptabel.
({9})
Dann müssen wir darüber reden, ob es richtig ist,
auch Sparkassen, Bausparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken für beitragspflichtig zu erklären, obgleich sie eigene Sicherungssysteme haben und nicht Täter, sondern
eher Opfer der Krise waren. Das sehen im Übrigen auch
die Länder so.
Außerdem taucht bei den Ländern noch das Stichwort
„landeseigene Förderbanken“ auf. Auch darüber wird
man sicherlich reden müssen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Finanzkrise sehr viel über die globale Vernetzung der Institute gelernt. Deswegen müssen wir uns auch mit der
Frage auseinandersetzen: Wie gehen wir eigentlich mit
Banken um, die grenzüberschreitend agieren? Warum
sind Filialen grenzüberschreitender Banken nicht von
der Abgabe betroffen?
({11})
- Weil sie Filialen sind. - Großbritannien macht das völlig anders. Da geht es nach dem Territorialprinzip. Dort
sind deutsche Banken, die Filialen haben, ebenfalls zu
einer Abgabe verpflichtet.
({12})
Ich glaube, wir können Folgendes feststellen: Diese
Art der Bankenabgabe führt in die Irre. Dadurch werden
die Banken nicht an den Kosten der Krise beteiligt, und
es wird dadurch auch keine ausreichende Vorsorge gegen zukünftige Krisen getroffen. Das bedauern wir sehr.
({13})
- Die Alternative heißt Finanztransaktionsteuer. Das
bleibt unser Ziel; das bleibt unser Weg.
({14})
Ich war gestern auf einer Veranstaltung der Landesvertretung Rheinland-Pfalz. Dort ist ein gewisser Professor Kirchhof aufgetreten; Sie sollten ihn noch kennen.
Wissen Sie, was dieser Professor Kirchhof vorgeschlagen hat? Er hat gesagt: Finanztransaktionsteuer. Er
wollte sogar eine Finanztransaktionsteuer in Höhe von
1 Prozent. Er hat das vehement vertreten.
({15})
Ich finde, daran könnten Sie sich ein Beispiel nehmen.
Das wäre der richtige politische Weg.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den
Banken das staatliche Ruhekissen nehmen, und es muss
dabei bleiben: Die Banken müssen an den Kosten der
Krise beteiligt werden. In diesem Sinne werden wir uns
intensiv mit dem Gesetzentwurf auseinandersetzen.
Herzlichen Dank.
({17})
Björn Sänger hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nur 6 Prozent aller Unternehmen werden älter
als 100 Jahre. Diese Zahl zeigt ganz deutlich, dass das
Scheitern, dass Marktaustritte, dass das Leben und Sterben in einer sozialen Marktschaft dazugehören, so wie
sie auch zum realen Leben dazugehören.
Bislang war eine Gruppe von diesem Prozess faktisch
weitgehend ausgenommen. Das waren Kreditinstitute,
wenn sie eine bestimmte Größe hatten - es ist nicht ganz
klar, um welche Größe es sich dabei handelt; wir hatten
IKB, wir haben HRE - und das Ganze eine gewisse Systemrelevanz hat. Diese Institute konnten oder können
faktisch nicht aus dem Markt ausscheiden.
Das Ganze hat drei Folgen. Die erste Folge ist: Die
unternehmerische Entscheidung wird vom Risiko entkoppelt, im Übrigen auch von der Verantwortung der Eigentümer, genauer hinzuschauen, was sich denn eigentlich in ihrer Bank, an der sie Anteile haben, tut. Zweite
Folge, daraus resultierend: Es werden Entscheidungen
getroffen, die mit einer vernünftigen Risikosteuerung
nichts zu tun haben. Man trifft die Entscheidung anders,
wenn man die Gefahr des Scheiterns vor Augen hat. Damit bin ich schlussendlich bei der dritten Folge: Die Gefahr, dass der Steuerzahler einspringen muss, steigt extrem.
Jetzt liegt uns hier die Problemlösung vor; ich sage
einmal, ein weiterer Mosaikstein im großen Gesamtkunstwerk der christlich-liberalen Bundesregierung,
({0})
was die Neuordnung der Finanzmärkte angeht, der ganz
offensichtlich mehrere Mütter und Väter hat, wie alles,
was gut ist. Es gibt ein Positionspapier der FDP aus dem
Sommer letzten Jahres, in dem man viel von dem wiederfindet, was dieser Gesetzentwurf richtigerweise beinhaltet.
Wir haben uns auf drei große Maßnahmen konzentriert: erstens auf die Schaffung eines Rechtsrahmens,
um ein kontrolliertes Ausscheiden aus dem Markt oder
aber auch eine Sanierung zu ermöglichen, zweitens ein
branchenfinanzierter Fonds zur Stabilisierung des
Finanzsystems, sofern dies denn notwendig ist, und drittens die Verschärfung der Haftung für die Handelnden.
({1})
Das alles zeigt die entschlossene und sachgerechte Regulierung der Bundesregierung, die sich wieder einmal
als vorbildlich erweist.
Ich möchte auf die erste und die dritte Maßnahme gar
nicht genauer eingehen, sondern werde mich auf die
Bankenabgabe konzentrieren. Hierzu besteht offensichtlich der größte Diskussionsbedarf. Rund um die Bankenabgabe gibt es eine ganze Reihe von Irrtümern. Der Herr
Kollege Zöllmer hat soeben einen davon angesprochen.
Er hat freundlicherweise auch zugegeben, dass es sich in
der Tat um einen Irrtum handelt. Der Irrtum lautet, die
Banken sollen für die Krise zahlen. Das ist aber faktisch
rechtlich nicht machbar.
({2})
Deswegen ist unser Ansatz, einen präventiven Fonds
aufzubauen, um im gegebenen Fall aus der Branche heraus einspringen zu können, richtig. - Dies war der erste
Irrtum.
({3})
Der zweite Irrtum ist, dass man einzelne Säulen des
Drei-Säulen-Bankwesens in Deutschland von dieser
Bankenabgabe ausschließen kann.
({4})
Den Sparkassen ist das Thema Landesbank nicht ganz
fremd. Auch in Bezug auf die Genossenschaftsbanken
muss man sagen, dass eigene Schutzmechanismen immer nur vor inneren Problemen schützen. Einen externen
Schock wie die Finanzkrise, die wir erleben mussten,
wird ein eigenes Sicherungssystem niemals auffangen
können. Bei illiquiden Märkten nützt auch die beste Institutssicherung nichts, wenn keine Mittel an den Märkten vorhanden sind.
Ich fasse zusammen: Wir haben eine Bankenabgabe
geschaffen, die fair nach Risiken über die vorhandenen
drei Säulen differenziert. Wir haben durch das Gesetz
ein Instrumentarium geschaffen, welches sicherstellt,
dass ein Karren, der gegen die Wand gefahren wird,
nicht auf Kosten des Staates repariert wird. Er soll vielmehr abgeschleppt werden, damit man schauen kann,
was man damit noch machen kann. Im schlimmsten Fall
muss er eben abgewrackt werden, und das ganz ohne
staatliche Abwrackprämie.
Herzlichen Dank.
({5})
Richard Pitterle spricht jetzt für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Da ich aus der Region Stuttgart komme,
muss ich etwas vorausschicken:
({0})
Trotz der gestrigen skandalösen Einsätze mit Wasserwerfern und Reizgas werden heute Abend in Stuttgart
10 000 Bürgerinnen und Bürger für eine sinnvolle Sparmaßnahme demonstrieren. Sie wollen sich und uns
Stuttgart 21 ersparen, weil es in einer Zeit leerer Kassen
nicht zu rechtfertigen ist, Milliarden in der Erde zu verbuddeln.
({1})
Hierbei finden sie die Linke an ihrer Seite. Die Bürgerinnen und Bürger von Stuttgart haben gelernt, dass sie auf
die Straße gehen müssen, um etwas zu verändern,
({2})
dass es nicht ausreicht, die Vernunft auf ihrer Seite zu
haben, wenn hinter der Gegenseite starke wirtschaftliche
Interessen stehen.
Gleiches gilt für die Situation der Banken. So lange
augenscheinlich nicht Tausende Menschen auf die
Straße gehen und die Deutsche Bank belagern, die viele
Besucher meines Wahlbüros für die eigentliche Regierung halten, scheint sich nichts zu bewegen. Wir brauchen endlich ein Gesetz, das tatsächlich Lehren aus der
Krise zieht und diejenigen zur Kasse bittet, die die Verursacher waren.
({3})
Frau Merkel hat in der Haushaltsdebatte am 20. Januar dieses Jahres gesagt, es gehe darum, „Wege zu finden, um zu verhindern, dass Banken so groß sind oder so
verflochten sind, dass sie uns immer wieder sozusagen
erpressen können“. Wer den Mund so spitzt wie Frau
Merkel, der sollte auch einmal pfeifen. Ich meine, davon
ist in diesem Gesetz nichts zu spüren.
({4})
Allein mit diesem Gesetz werden Sie künftigen Finanzkrisen nicht vorbeugen, weil der gewählte Ansatz grundlegend falsch ist.
({5})
Um Ihnen das an einem Bild zu erklären: Ein wiederholt brandgefährdetes Hochhaus kann man abreißen und
stattdessen mehrere kleine Häuser bauen. Man kann aber
auch vollmundig versprechen, eine höchst effektive Feuerwehr aufzubauen, sich aber in Wirklichkeit damit begnügen, Handfeuerlöscher zur Pflicht zu erklären. Genau
das tun Sie.
({6})
Sie wollen uns weismachen, dass man einen Großbrand mit den verordneten Handfeuerlöschgeräten schon
irgendwie unter Kontrolle bringen wird. Aber Sie täuschen sich, meine Damen und Herren. Denn wer sagt Ihnen, dass die verantwortlichen Manager im Haus, um im
Bild zu bleiben, die Feuerlöscher auch benutzen, wenn
es anfängt, zu brennen? Möglicherweise haben sie kein
Interesse, dass bekannt wird, dass es unter ihrem Dach
lodert, und hoffen, das Feuer vielleicht auch mit den Füßen austreten zu können.
Selbst BaFin-Präsident Jochen Sanio hat im HRE-Untersuchungsausschuss festgestellt, dass damals alle Maßnahmen, die nach § 45 Kreditwesengesetz möglich gewesen wären, das Problem nicht gelöst hätten und das
Todesurteil für die betroffene Bank gewesen wären.
({7})
Damit wir uns nicht missverstehen: Auch wir sind für
ein Insolvenzrecht für Banken. Aber wir machen uns im
Gegensatz zu Ihnen keine Illusion, dass dadurch Finanzkrisen verhindert werden könnten. Warum sollten die
vorgeschlagenen Maßnahmen bei den Banken auch
funktionieren? Da ein Sanierungsplan vom Oberlandesgericht bestätigt werden muss, ist er nicht zu verheimlichen und wird zwangsläufig bekannt. Dies birgt für die
Bank die Gefahr, dass sich Kunden und Geschäftspartner
sofort abwenden und ihre Mittel abziehen. Ich frage Sie:
Wie wollen Sie solch eine Kettenreaktion verhindern?
({8})
Damit komme ich zur Bankenabgabe. Wie, bitte
schön, wollen Sie sich mit den angesprochenen Einnahmen von 1,2 oder 1,3 Milliarden Euro - zu einer Abgabe
in dieser Höhe wollen Sie die Banken jetzt vorsorglich
verpflichten - für die nächste Krise wappnen, wenn doch
bei der letzten Krise Bürgschaften in Höhe von
480 Milliarden Euro bereitgestellt werden mussten? Entweder sind Sie grenzenlose Optimisten, oder die Bankenlobby rennt bei Ihnen offene Türen ein.
Ich sage: Sie wollen vor allen Dingen die Öffentlichkeit beruhigen und mit Scheinaktivitäten einlullen.
Großspurig behaupten Vertreter der Regierungskoalition
immer wieder, man wolle den Finanzsektor an den Kosten der Krise beteiligen. Aber in Wirklichkeit sind es die
Arbeitslosen, die Rentnerinnen und Rentner sowie die
Kranken, die für die Bewältigung der Krisenfolgen zahlen.
Kürzungen im sozialen Bereich und die Verabschiedung von der Solidarität bei der gesetzlichen Krankenversicherung sind Ihre neuesten Grausamkeiten. SchwarzGelb hat augenscheinlich nicht den Mut, sich gegen die
Verursacher der Krise und die Nutznießer des Kasinokapitalismus zu stellen und die Spekulationsgewinne geldgieriger Banker abzuschöpfen, geschweige denn den
Mut, das Kasino zu schließen.
Dies wird auch am vorliegenden Gesetzentwurf deutlich. Statt einer wirklichen Bankenabgabe, wie sie von
der Linken, Attac und Gewerkschaften gefordert wird,
kommt bei Ihnen ein Restukturierungsfonds heraus, in
den laut Presseberichten lächerliche 1,2 Milliarden Euro
pro Jahr eingezahlt werden sollen.
Wir kritisieren an diesem Restrukturierungsfonds,
dass das von den Banken zu zahlende Geld nicht in den
Bundeshaushalt fließt, obwohl die Banken mit Mitteln
aus dem Bundeshaushalt, nämlich mit Steuergeldern, gerettet wurden.
Wir kritisieren daran, dass die Höhe der Abgabe und
die Höhe der Beiträge der einzelnen Banken ohne Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bestimmt werden sollen;
({9})
dadurch beschädigen Sie wieder einmal die parlamentarische Demokratie.
Wir kritisieren, dass das Bundesministerium der Finanzen einen Freibrief bekommt, die Abgabe so gering
zu gestalten, wie es will. Da kann ich nur sagen: Bankenlobby, ick hör dir trapsen.
Auch wenn die Banken offiziell nun nicht laut
„Hurra!“ schreien - denn den Banken erscheint jede
Steuer und Abgabe als eine ungerechte Belastung -, haben sie sehr wohl verstanden, dass sie von dieser Regierung nicht wirklich etwas zu befürchten haben.
Aber nicht jeder aus dem Bankensektor, der jetzt
schreit, schreit zu Unrecht. Wir als Linke sind der Meinung, dass die Einbeziehung der Sparkassen, Raiffeisenbanken und Volksbanken in den vorgesehenen Restrukturierungsfonds nicht zu rechtfertigen ist.
({10})
Denn diese haben sich größtenteils nicht an Spekulationsgeschäften beteiligt und haben großen Anteil daran,
dass die vielen kleinen und mittleren Unternehmen trotz
Krise mit Krediten versorgt wurden. Viel wichtiger ist:
Die Sparkassen, Raiffeisen- und Volksbanken hatten
schon vor der Krise eigene Sicherungsfonds, die bei einer Krise gegriffen hätten.
Darf ich Sie daran erinnern, dass Frau Merkel im Hinblick auf die Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken
noch am 16. Mai dieses Jahres in ihrer Rede vor dem
DGB-Bundeskongress zum gleichen Ergebnis gekommen ist? Sie sagte wortwörtlich - Zitat -:
Sie stellen kein systemisches Risiko dar und denen
können wir auch keine Bankenabgabe abnehmen.
Das ist die Realität in Deutschland.
Und wo ist die Realität hin? Sie handeln doch nach dem
Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.
Schauen wir nach Stuttgart. So wie die Bürgerinnen
und Bürger dort nicht nachlassen, gegen ein unsinniges
Bauprojekt aktiv zu werden, werden wir als Linke im
Bundestag weiterhin darauf drängen, dass Sie endlich
Lehren aus der Krise ziehen. Wir brauchen eine wirkliche Bankenabgabe und endlich eine Finanztransaktionsteuer, nicht nur kosmetische Veränderungen.
({11})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Erstes sagen, was dieses Gesetz leistet und was es nicht leistet. Ich glaube, das ist
ganz wichtig.
In Deutschland gibt es etwa 2 000 Banken, von denen
1 900 im Wesentlichen Sparkassen und Volksbanken
sind. Bei ihnen haben wir in Bezug auf das Sterben von
Banken, das Herr Sänger genannt hat, in der Vergangenheit keine Probleme gesehen. Das wurde im Verbund gelöst. Da gibt es also bereits einen Mechanismus, wie
Banken untergehen können. Für diese wird das Gesetz
keinen großen Unterschied machen.
Auf der anderen Seite gibt es ein paar sehr große Banken. Ich kenne niemanden, der behauptet, dass dieses
Gesetz für eine Deutsche Bank anwendbar sein wird.
Deswegen muss man sich einmal klarmachen, dass hier
noch eine ganz große Lücke vorhanden ist. Das große
Versprechen, der Steuerzahler solle nicht mehr herangezogen werden, wird mit diesem Gesetz nicht eingelöst.
Wer etwas anderes behauptet, macht den Leuten etwas
vor. Insofern war die Rede des Staatssekretärs gerade
wieder einmal sehr grenzwertig.
({0})
Sie haben gesagt: Wir lösen das Problem Moral Hazard,
wo Banken Risiken eingehen können, weil sie darauf
vertrauen können, dass sie der Steuerzahler im Zweifelsfall rettet. - Nein, wir lösen es nur für einen eng begrenzten Teil von Banken; denn die größten 10, 15 Banken werden nicht erfasst; da lässt es sich nicht umsetzen.
({1})
- Dann zeigen Sie mir einmal, wie das für die ganz großen Banken gehen soll. Das können wir dann im Ausschuss diskutieren. Für die 1 900 kleinsten Banken wird
es keinen großen Unterschied machen. - Es gibt also einen eng begrenzten Bereich, in dem das Gesetz überhaupt nur anwendbar ist. Für diesen Bereich ist es gut,
das zu machen.
Aber wir sollten ehrlich sein: Es gibt eine große Baustelle. Das heißt, in Deutschland gibt es nach wie vor
Banken, für die wir kein Verfahren haben, wie sie sterben könnten, und bei denen deswegen das Problem, das
Sie, Herr Staatssekretär, angesprochen haben, nämlich
das Moral-Hazard-Problem, das Too-big-to-fail-ProDr. Gerhard Schick
blem, nach wie vor besteht. Deshalb ist Handlungsbedarf
vorhanden. Da muss noch etwas getan werden.
({2})
Das Zweite, was das Gesetz nicht leistet - darauf ist
schon eingegangen worden -, ist die Frage: Wer zahlt eigentlich für diese Finanzkrise? Sie haben in den Zwischenrufen so getan, als hätten Sie das nie behauptet;
aber die Zitate sind eindeutig: Den Bürgerinnen und
Bürgern ist gesagt worden, dass die Verursacher, die
Banken, für die jetzige Krise zahlen sollen. Das haben
die Bundeskanzlerin und der Herr Finanzminister gesagt. In diesem Gesetz steht, dass das nicht passieren
wird. Deswegen ist die Frage offen, wer die Kosten dieser Krise tragen wird. Die Regierungskoalition verweigert die Antwort. Wir können aber an Ihren konkreten
Taten sehen, wer es tun soll. Das Sparpaket gibt zum
Beispiel Antwort. Es ist ganz klar: Erst kam die große
Ankündigung, dass die Wirtschaft etwas tragen soll, aber
nach und nach - über die verschiedenen Vorschläge landen die Kosten doch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Ich finde, Sie sollten ehrlich sein und sagen, dass
die ursprüngliche Ankündigung, dass die Verursacher
für diese Krise zahlen, nicht eingehalten wird, sondern
dass die Kosten bei den Bürgerinnen und Bürgern landen. Alles andere wäre unehrlich.
({3})
Wenn wir jetzt das nehmen, was dieses Gesetz tatsächlich leistet, nämlich für mögliche künftige Krisen einen
Fonds aufzubauen und ein Verfahren für im Wesentlichen
mittelgroße Banken in Deutschland für die Rettung bereitzustellen, dann, glaube ich, können wir im parlamentarischen Verfahren sehr konkret zusammenwirken und
schauen, dass wir das Gesetz an entscheidenden Stellen
noch verbessern. Ich finde, im Ansatzpunkt sind viele
vernünftige Sachen drin.
Aber Punkt eins. Wir müssen uns mit der parlamentarischen Kontrolle beschäftigen.
({4})
Das, was bisher im Bereich SoFFin, im Rahmen des geheim tagenden Gremiums an Nichtinformation der Parlamentarier und Nichtinformation der Öffentlichkeit stattgefunden hat, muss mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes
ein Ende haben, und es muss eine effektive parlamentarische Kontrolle geben.
({5})
Ich glaube, hier sind unsere Einschätzungen ähnlich geworden,
({6})
und da sollten wir noch einmal nachsteuern.
Der zweite Punkt, bei dem wir einen Korrekturbedarf
sehen. Die Antwort auf die Frage, wer diese Bankenabgabe zahlen soll, ist heikel. Sie orientieren sich jetzt am
Kreditwesengesetz, ökonomisch ist das aber kein sinnvolles Abgrenzungskriterium; denn wenn Sie argumentieren, Sparkassen und Volksbanken seien positiv betroffen, weswegen sie auch etwas beitragen müssten, dann
stellt sich die Frage, warum das nicht auch für die Versicherungen gilt.
({7})
Deswegen ist das, was Sie hier vorlegen, ökonomisch inkonsistent. Wir werden im Ausschuss versuchen müssen, zusammen eine Lösung zu finden, die tragfähig ist
und durch die nicht die Falschen belastet werden.
Hinzu kommt natürlich auch die Risikogewichtung.
Führt die Bankenabgabe durch ihre Ausgestaltung also
möglicherweise dazu, dass teilweise mehr Risiken als
vorher eingegangen werden oder dass vernünftiges Verhalten stärker belastet wird als unvernünftiges Verhalten?
Den dritten Korrekturbedarf gibt es hinsichtlich der
Antwort auf die Frage, ob die Gläubiger einbezogen
werden. Einer der großen Schwachpunkte der Bankenrettung in Deutschland ist, dass die Gläubiger hinsichtlich der Rettungskosten völlig außen vor geblieben sind.
Sie versuchen hier ein Verfahren. Ich wünsche Ihnen dabei frohe Verrichtung. Wenn die Gläubiger einer Bank
nämlich im Ausland sitzen, dann wird es nicht so einfach
sein, das umzusetzen, was Sie hier vorgelegt haben. Ich
halte das nicht für eine stabile Lösung. Ich glaube, das
geht nur, wenn das in den Anleihebedingungen von
vornherein festgelegt wird. Wir sehen hier einen Korrekturbedarf und hoffen, dass wir den Gesetzentwurf in dieser Richtung noch einmal verbessern können.
Den vierten Korrekturbedarf sehen wir beim Thema
Haftung. Es ist gut und richtig, dass Sie bei der Organhaftung die Verjährungsfristen verlängern. Ich sehe allerdings, dass es noch ein Defizit gibt. Wir reden hier nur
über die Innenhaftung. Unseres Erachtens gehört aber
auch die Außenhaftung bei falscher, unvollständiger
oder nicht vorhandener Kapitalmarktinformation mit hinein. Das ist vor einigen Jahren schon einmal diskutiert
worden, auf Druck aus der Finanzbranche aber zurückgezogen worden. Ich finde, das Thema gehört in diesem
Zusammenhang noch einmal auf die Tagesordnung. Das
ist ein weiterer Punkt, den wir korrigieren wollen.
({8})
Fünftens: Sie haben angekündigt, dass Sie bezüglich
der Bonuszahlungen eine Korrektur vornehmen wollen.
Es ist gut, wenn Sie das tun, aber es sollte dann nicht dabei bleiben, dass irgendetwas im Gesetz steht. Die Bundesregierung sagte mir bisher auf meine Anfrage: Nein,
wir kontrollieren nicht, ob das Gesetz in Bezug auf die
Vergütungen eingehalten wird. - Ich finde, genauso wenig, wie wir uns im Straßenverkehr darauf verlassen,
dass sich alle Leute an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, genauso wenig sollte man sich bei solch einer Frage völlig blind auf die Informationen aus der
Bank verlassen. Wir fordern Sie auf, auch eine Kontrolle
dieser Regelungen vorzunehmen.
Weil wir gesehen haben, dass es bei Teilen der Branche eine Selbstbedienungsmentalität gibt, müssen wir
dafür sorgen, dass die Regeln, die gemacht werden, auch
durchgesetzt werden. Auch hier sehen wir also einen
Korrekturbedarf hinsichtlich Ihres Gesetzentwurfs.
Alles Weitere in den Ausschussberatungen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Leo Dautzenberg spricht für die CDU/
CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter
dem Titel „Gesetz zur Restrukturierung und geordneten
Abwicklung von Kreditinstituten, zur Errichtung eines
Restrukturierungsfonds für Kreditinstitute und zur Verlängerung der Verjährungsfrist der aktienrechtlichen Organhaftung“, kurz gesagt: Restrukturierungsgesetz, hat
die Bundesregierung - insbesondere die zwei beteiligten
Ministerien, nämlich das Bundesfinanzministerium und
das Bundesjustizministerium - einen Meilenstein vorgelegt. Das ist nicht nur ein Mosaikstein, sondern man kann
hier betonen, dass das wirklich ein aus den Erfahrungen
aus der Finanzmarktkrise und der Wirtschaftskrise gewonnener Meilenstein dafür ist, wie man zukünftig die
Restrukturierung von Banken und Finanzinstituten betreiben kann, was bisher im Grunde nicht möglich war.
Das soll in einem geordneten Verfahren auf den Weg gebracht werden.
Von daher ist das ein sehr anspruchsvoller Gesetzentwurf, weil es - das ist nie so betrachtet worden - einen
Unterschied darstellt, Herr Kollege Zöllmer, ob man versucht, einen Gewerbebetrieb oder ein Industrieunternehmen gemäß der Insolvenzordnung zu restrukturieren, zu
sanieren oder sogar zu reorganisieren, oder ob es sich
dabei um ein Finanzinstitut handelt.
Der große Unterschied ist, dass Sie bei einem Finanzinstitut weiterhin die Zahlungsströme zwischen den Banken ermöglichen müssen, was Sie in einem normalen
Verfahren bei einem gewerblichen Betrieb nicht müssen.
Dort können Sie einen Cut machen und bewerten, wie
die Sache aussieht, aber für die Vernetzung der Institute
- es geht um die Restrukturierung von systemischen
Banken - brauchen Sie zur Begleitung einen Restrukturierungsfonds, und ein Restrukturierungsfonds ist etwas
anderes als ein Rettungsfonds. Diesen Unterschied muss
man sehen. Ich stimme allen Rednern zu: Sie können nie
einen Rettungsfonds in einer Größenordnung generieren,
der ausreicht, um eine große, systemische Bank zu retten.
({0})
- Nein, Frau Kollegin Kressl, das wird nicht möglich
sein; so viel Volumina kann man nicht generieren. Deshalb sprechen wir auch nicht von einem Rettungsfonds,
sondern von Restrukturierungsmaßnahmen, die von einem Restrukturierungsfonds begleitet werden
({1})
und in den die Banken ihre Abgabe zu entrichten haben.
Man muss die intellektuelle Anstrengung, zwischen Rettung und Restrukturierung zu differenzieren, schon unternehmen.
Wir haben dafür - der Herr Staatssekretär hat es bereits ausgeführt - bestimmte Stufenverfahren vorgesehen. Das erste erfolgt, was die Sanierung anbelangt, auf
freiwilliger Basis. Aber wenn es um die Bereiche der
Restrukturierung und Reorganisation geht, sind staatliche Eingriffe notwendig, um diese Restrukturierung herbeiführen zu können. Diese Maßnahmen greifen sehr
drastisch ein und korrespondieren mit folgender Tatsache: Wenn wir diese Kompetenz der Aufsicht zuordnen,
dann ist es nur konsequent, Herr Staatssekretär, dass wir
alsbald die Neustrukturierung der Finanzaufsicht vornehmen, damit dieses Vorhaben zeitlich kompatibel zu
dem vorliegenden Gesetzeswerk auf den Weg gebracht
werden kann.
({2})
Wir haben die Möglichkeit, bei der Restrukturierung
und Reorganisation als öffentlicher Eingriff - das ist erklärt worden - das, was man als überlebensfähig ansieht,
wiederum begleitet durch den Restrukturierungsfonds,
zu privatisieren oder, wenn man es öffentlich gestaltet,
durch eine sogenannte Brückenbank auf den Weg zu
bringen. Aber eine Begleitung des Restrukturierungsfonds ist immer erforderlich. Diesen Widerspruch müssen Sie auflösen. Sie sagen: Die beteiligten Banken und
manche Bankengruppen müssen nicht dazugehören, weil
sie nichts verursacht haben. Aber hier geht es um Prävention, also darum, etwas für die Zukunft zu machen,
und nicht darum, die Vergangenheit zu betrachten.
Die Betrachtung der Vergangenheit zeigt: Es ist aus
verfassungsrechtlichen Gründen sehr schwierig, die Verursacher der Krise heranzuziehen, weil der Umfang der
Beteiligung nicht so genau bestimmt werden kann, dass
es verfassungsrechtlich fest ist. Herr Kollege Sieling,
durch das Gremium, dem wir beide angehören, dem
SoFFin-Ausschuss, ist Ihnen bekannt, dass wir im Endeffekt erst dann wissen werden, was vom Volumen her
verursacht worden ist, wenn wir in 20, 25 Jahren den
Schlussstrich gezogen haben.
Deshalb ist es konsequent, einen anderen Weg zu gehen. Wir handeln präventiv. Neben den Aspekten, die im
Restrukturierungsgesetz enthalten sind, haben wir vorgesehen, Maßnahmen nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz und insbesondere nach dem Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz in die neue Regelung zu
übernehmen, wodurch begleitend Garantien übernommen und Rekapitalisierungen durchgeführt werden können.
Das, was hier vorgelegt worden ist, ist die richtige
Konsequenz aus den Verwerfungen, die wir auf dem
Finanzmarkt hatten, aus Bankenrettungswochenenden,
die wir so nicht mehr haben wollen. Vor allen Dingen
sorgen wir dafür, dass der Steuerzahler zwar nicht völlig
verschont wird, er aber zumindest nicht immer der Erste
ist, der herangezogen wird, wenn Banken in eine Schieflage geraten. Deshalb freue ich mich auf die Beratungen.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Dr. Carsten Sieling spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In dieser Debatte hat zuerst der Herr Staatssekretär von
„Gesamtkunstwerk“ gesprochen und dann hat Herr
Sänger diesen Begriff herausgearbeitet. Ich habe mir die
Mühe gemacht und schnell einmal nachgeschaut, was
man unter einem Gesamtkunstwerk versteht.
({0})
- Das wusste ich natürlich, aber wenn Sie die genaue
Definition hören, dann werden Sie besonders erfreut
sein. - Das ist ein Werk verschiedener Künste. Dazu gehört die Musik, aber auch die Dichtung, Herr Kollege.
({1})
Weiterhin gehören dazu Tanz, Pantomime und ein bisschen Malerei.
({2})
Schauen wir uns aber einmal die Bewertung an. So sagt
zum Beispiel Odo Marquard, dass das Gesamtkunstwerk
eine „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“ habe.
({3})
Wenn Sie das auf Ihren Gesetzentwurf anwenden, dann
kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch!
Aber wir sind hier in einer Diskussion, in der wir
ernsthaft prüfen müssen, was von den Ansprüchen, die
formuliert worden sind, eigentlich bleibt. Die Kanzlerin
- Herr Kollege Dautzenberg, ich glaube, das betrifft insbesondere Ihre Aussagen, aber auch die von Herrn
Sänger - hat hier an dem Tag, an dem sie den Bundeshaushalt 2011 vertreten hat, gesagt, die Bankenabgabe
diene dazu, den Steuerzahler zu verschonen und die
Banken heranzuziehen. Sie sagen, das könne die Bankenabgabe gar nicht leisten. Herr Sänger spricht von
dem ersten großen Irrtum, den man sehen werde.
({4})
Der Irrtum liegt bei Ihnen. Sie setzen nicht um, was die
Kanzlerin den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands
zugesagt hat. Das ist ein Widerspruch, den Sie auflösen
müssen. Irgendeine Seite hat die Unwahrheit gesagt,
oder Sie ändern etwas an dem Gesetz.
Es ist natürlich richtig, dass diese Bankenabgabe nie
und nimmer diese Aufgabe erfüllen kann. Sie legen ein
Modell vor, wonach 1 Milliarde Euro pro Jahr erzielt
werden soll.
({5})
- 1,2 Milliarden Euro. Sie sind noch stolzer. - Dabei ist
das Jahr 2006 Ihr Referenzjahr. Mich hat interessiert,
warum Sie das Jahr 2006 als Referenzjahr nehmen. Weil
es vor der Krise liegt? Ich habe nachgefragt. Das Bundesfinanzministerium hat geantwortet, dass es, hätte man
als Referenzjahr 2009 gewählt, 500 Millionen Euro gewesen wären, beim Referenzjahr 2008 nur 300 Millionen Euro. Selbst Ihre 1,2 Milliarden Euro sind noch
hochgegriffen.
({6})
Dies ist eine weitere Mogelpackung. Der Staatssekretär
hat vorhin gesagt, die Bankenabgabe solle dazu dienen,
im Falle einer Krise den Steuerzahler nicht wieder heranziehen zu müssen. Dieser Aussage ist Herr Kollege
Sänger - das war mein Lieblingsoppositionsredner in
dieser Debatte; das muss ich gestehen - direkt entgegengetreten. Einigen Sie sich in Ihrer Koalition, was Sie
wirklich wollen.
({7})
Herr Dautzenberg, ich komme jetzt zu Ihnen. Sie haben alle Illusionen, Erwartungen und Hoffnungen, die es
in der Bevölkerung, in der Politik und in der Branche
gab, zerstreut, indem Sie gesagt haben, das sei kein Rettungsfonds, sondern es handele sich um eine Restrukturierungsmaßnahme.
({8})
Ich bezweifele, dass Restrukturierungen in einem größeren Ausmaß mit Einnahmen in Höhe von 1 Milliarde
Euro pro Jahr finanzierbar sind. Selbst wenn Sie diese
Summe einnehmen, dauert es viele Jahre, bis der Fonds
überhaupt wirksam werden kann. Es kommt doch nicht
von ungefähr, dass der IWF, der Internationale Währungsfonds, eine Bankenabgabe vorschlägt, die 2 bis 4 Prozent
der Wirtschaftsleistung eines Landes ausmacht. Das wären 40 Milliarden bis 60 Milliarden Euro.
({9})
Die Issing-Kommission, auf die Sie sich in Ihrem Gesetzentwurf durchaus beziehen, spricht von 120 Milliarden Euro. Das ist immerhin eine Regierungskommission
- ich bitte Sie! -, die spricht von 120 Milliarden Euro.
Das ist alles nichts.
Zum Schluss möchte ich hier darauf hinweisen, dass
die weitere Debatte ja noch erbringen wird, dass nicht al6686
lein wir die Gegenargumente, die hier von den Kollegen,
die das im Vorfeld kritisch sehen, formuliert worden
sind, vorbringen. Ich habe hier die Stellungnahmen des
Landes Hessen vorliegen. Herr Sänger, da sind Ihre Parteifreunde in der Regierung. Dann habe ich hier die Stellungnahme Baden-Württembergs. Auch da sind Ihre Parteifreunde in der Regierung. Beide Länder sagen sehr
eindeutig: Das Ganze ist falsch konzipiert, weil die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken beigezogen sind;
das solle man ändern.
({10})
Sie kritisieren die Sache mit der Förderbank. Klären Sie
erst einmal die Sichtweise in Ihrem eigenen Lager, bevor
Sie hier herkommen und uns mit Gesetzesvorschlägen,
die Sie hinterher bei Ihren eigenen Leuten nicht umsetzen können, die Zeit rauben. Meine Damen und Herren,
Sie haben viel zu tun. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen.
Herzlichen Dank.
({11})
Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege
Sieling, das Gesamtkunstwerk erschließt sich oftmals
nur dem sachkundigen Betrachter. Heute waren Sie mit
Ihrer Rede zumindest kein sachkundiger Betrachter dessen, was die Bundesregierung hier vorgelegt hat.
Lassen Sie mich auf zwei Dinge hinweisen. Mit dem
Restrukturierungsgesetz, das vorgelegt worden ist, reagiert
die Bundesregierung binnen Jahresfrist sehr erfolgreich
auf eine Krise, die gezeigt hat, dass wir keinen vernünftigen Ordnungsrahmen haben, um die Finanzmarktunruhen,
die wir erlebt haben, in den Griff zu bekommen. Man
kann jetzt sagen, das Gesetz reiche nicht aus. Das kann
man aber nur tun, wenn man es nicht gelesen hat.
Der zentrale Gedanke dieses Gesetzes ist es, im Vorfeld einer Bankenkrise die Krise in den Griff zu bekommen.
({0})
Wenn man das erkennen will - man erkennt es; weil es
immer schon so war, mit einem Blick ins Gesetz; denn
ein Blick ins Gesetz erhöht die Rechtskenntnis -, dann
schaut man sich im Entwurf den § 45 KWG an. Da werden Sie als Erstes lesen, dass der Eingriffszeitraum bei
Bankkrisen für die Bankenaufsicht nach vorn verlegt
worden ist. Sie werden als Zweites lesen, dass Sie ein
zweites Eingriffsszenario haben, wenn Eigenmittel konkret gefährdet sind und die Liquidität gefährdet ist. Dann
sieht das Gesetz in § 45 Abs. 2 Nr. 7 bereits einen Restrukturierungsplan vor. Wir sehen auch beim Sonderbeauftragten, § 45 c, einen Sanierungsplan vor. Das heißt,
wir wollen die Banken da fangen, wo sie im Grunde genommen schon in der Anlage ihres Geschäftsmodells einen Fehler begehen und über die Aufsicht korrigierend
eingreifen.
Das ist der zentrale Gedanke des Gesetzes. Der Gesetzgeber greift hier den Gedanken der Haftung anders
auf, weil es sich gerade in der Finanzkrise gezeigt hat,
dass man eine systemrelevante Bank nicht vom Markt
nehmen kann, ohne große Verwerfungen zu riskieren.
Weil wir das klassische Haftungsprinzip, das wir haben,
nicht an der Stelle verwirklichen können, wo es sich in
der normalen Wirtschaft verwirklicht, nämlich in der Insolvenz, sagen wir: Es verwirklicht sich dadurch, dass
wir früh eingreifen, früh gegensteuern. Deswegen ist die
zentrale Vorschrift, die der Gesetzgeber hier aufgenommen hat, § 45 KWG.
Wenn man sich den anschaut, Herr Kollege, dann erschließt sich ein Stück weit das Kunstwerk - um bei dem
Begriff zu bleiben -, das hier vorgelegt worden ist.
({1})
Der zweite Punkt, über den man auch zu reden hat, ist
das Sanierungsverfahren und das Reorganisationsverfahren, das in Art. 1 des Gesetzentwurfs vorangestellt wird.
Damit geben wir Banken ein konkretes Handlungswerkzeug an die Hand, um in einem Sanierungsverfahren
selbst aus der Krise herauszukommen. Da gibt es sicherlich in den Beratungen den einen oder anderen Pinselstrich, den man an dieser Stelle noch leisten muss.
Wir werden uns fragen müssen, ob wir den Begriff
der Sanierungsbedürftigkeit so stehen lassen, wie er da
steht, nämlich ohne Definition, und ob wir es wirklich
auf eine Freiwilligkeit ankommen lassen oder ob wir
hier sagen: Wir werden die Sanierungsbedürftigkeit auch
an dieser Stelle des Gesetzes definieren und werden sie
an konkretere Handlungsfolgen und Tatbestände anknüpfen. Damit wird man sich auseinandersetzen müssen. Die Gesetzesberatungen sind ein parlamentarisches
Verfahren, und wir werden in diesem Verfahren noch
diejenigen Pinselstriche ziehen, die erforderlich sind, um
ein Gesamtkunstwerk zu schaffen.
An dieser Stelle werden wir auch den Haftungsgedanken verwirklichen, sowohl mit Blick auf das Institut und
seine Aktionäre als auch mit Blick auf die im Institut
verantwortlich handelnden Vorstände und Aufsichtsräte.
Das erreichen wir damit, dass wir die Verjährungsfrist so
weit verlängern, dass es auch im Nachhinein möglich ist,
über entsprechende Aufklärungen seitens der Staatsanwaltschaften und seitens der Bankenaufsicht Sachverhalte aufzuarbeiten, die haftungsrechtlich und strafrechtlich verfolgt werden müssen.
Lassen Sie uns vernünftig in die Beratungen eintreten.
Sie sind eingeladen, sich einzubringen. Dazu müssen Sie
aber mehr leisten als das, was Sie heute geleistet haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Im
Rückblick können wir heute sicherlich sagen, dass wir
ganz gut durch diese Krise gekommen sind, auch wenn
wir vielleicht noch nicht so ganz an Schmitz Backes vorbei sind, wie man im Rheinland sagt. Aber vorläufig
können wir sagen, dass Schlimmeres verhütet worden
ist.
Diese Krise hat Schwächen des Systems offengelegt.
Sie hat vor allem gezeigt, dass die Chance auf Gewinne
auf der einen Seite und die Risiken, zu denen es kommt,
wenn sich Verluste einstellen, auf der anderen nicht zusammenpassen. Hohe Renditen waren die Grundlage für
hohe Dividenden und hohe Boni. Solange die Renditen
hoch waren, waren sie etwas Gutes. Als sich dann aber
Verluste realisiert haben, ging es darum, wer sie trägt.
Das musste vom Staat übernommen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Was hier getrennt worden ist, das
muss wieder zusammengefügt werden. Die Verbindung
von Chancen und Risiken ist ein Grundsatz unserer sozialen Marktwirtschaft. Chancen und Risiken sind zwei
Seiten derselben Medaille. Das muss auch für Banken
gelten, insbesondere für sehr große, systemrelevante.
Wenn wir an den Februar 2009 zurückdenken, erinnern wir uns, dass die Aktionäre der HRE damals nicht
sehr kooperativ waren; vielmehr haben sie versucht, ihre
fast wertlosen Anteile möglichst teuer zu verkaufen. Sie
haben ihr erpresserisches Potenzial ganz bewusst auszunutzen versucht und darauf spekuliert, dass der Staat für
sämtliche Verluste aufkommt. „Too big to fail“, das war
die Hoffnung, die sich damit verband. Um dem entgegenzuwirken, war es sehr wichtig und notwendig, dass
wir eine klare gesetzliche Regelung schaffen, durch die
der Aufsichtsbehörde ein effektives Eingriffsverfahren
ermöglicht wird, sodass Gefahren für den gesamten
Geldverkehr abgewendet werden können.
({0})
Ein solches Verfahren ist aber nur die Ultima Ratio.
Uns geht es jetzt darum, den Banken und ihren Aktionären - sozusagen als Prima oder Secunda Ratio - zusätzlich die Möglichkeit einzuräumen, im Vorfeld von
aufsichtsrechtlichen Maßnahmen und einer möglichen
Insolvenz durch eigene Initiative eine Sanierung oder
Reorganisation vorzunehmen. Das erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Man sollte nicht immer
gleich mit dem schärfsten Schwert kommen, sondern zuvor, wenn das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen
ist, andere Möglichkeiten ausschöpfen.
Auf der ersten Stufe soll ein Sanierungsverfahren stehen, das die Bank im Zusammenspiel mit der BaFin und
dem OLG einleiten kann. Ein Sanierungsberater wird
eingesetzt; aber es wird noch nicht in Rechte Dritter eingegriffen. Reicht das nicht, dann steht systemrelevanten
Banken das Reorganisationsverfahren offen. Dieses Verfahren ist in Anlehnung an das Insolvenzplanverfahren
entwickelt worden. Dabei ist zum ersten Mal ein Deptto-Equity Swap vorgesehen. Dadurch werden die Rechte
der Aktionäre einbezogen. Damit einher geht ein gestraffter, das ganze Verfahren nicht aufhaltender Rechtsschutz für diejenigen Gläubiger und Aktionäre, die den
Plan nicht mittragen wollen. Sie können außerhalb des
Verfahrens geltend machen, dass ihre Anteile ohne Reorganisation mehr wert gewesen wären.
({1})
In die Rechte von Arbeitnehmern, Herr Zöllmer, wird
an dieser Stelle ganz bewusst nicht eingegriffen. Weder
die Entgelte noch die Ansprüche aus Altersversorgungen
werden berührt. Es handelt sich nämlich nicht um ein Insolvenzverfahren; deshalb gibt es auch kein Insolvenzausfallgeld und dergleichen. Das ist hier völlig außen
vor. Es geht darum, die Hauptgläubiger in das Sanierungsverfahren einzubeziehen.
Beide Verfahren sind Angebote an die Kreditinstitute.
Wer sie nicht nutzt, der soll es eben bleiben lassen, darf
sich dann aber nicht beschweren, wenn zum Schwert der
aufsichtsrechtlichen Maßnahmen gegriffen wird. Das
Ganze bringt Haftung und Verantwortung, Chancen und
Risiken wieder ein Stück weit zusammen.
Ich will noch kurz auf die Verlängerung der Verjährungsfrist eingehen. Die Bankenkrise - ich denke, das
hat sich gezeigt - beruhte nicht nur auf einem kollektiven Irrtum, auf irgendeinem Hype, der für den Einzelnen
nicht durchschaubar war. Hier haben auch einzelne
Bankmanager individuelle Fehlentscheidungen getroffen, die ihnen vorzuwerfen sind. Wir sehen, dass einige
den Papieren von Anfang an nicht getraut haben, die sich
hinterher als riskant erwiesen haben. Einige haben
schnell bemerkt, dass Subprime kein besonderes Qualitätssiegel ist. Andere haben es erst bemerkt, als es zu
spät war. Diese Fehler wurden vor allem in den Jahren
2006 und 2007 gemacht und zeigten sich dann in der
Bankenkrise im Jahr 2008.
Hier ist noch vieles aufzuklären, sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht. Es müssen noch Maßstäbe entwickelt werden, anhand derer man beurteilen
kann, was nun vorwerfbar war und was nicht vorwerfbar
war. Bei der IKB warten wir immer noch auf das Ergebnis einer Sonderprüfung, die bereits im Jahr 2008 in
Auftrag gegeben worden ist und sich natürlich auf die
Jahre davor bezieht. Wenn noch geprüft wird, ob Haftungstatbestände erfüllt sind, können wir nicht gleichzeitig zuschauen, wie die Verjährung nach fünf Jahren eintritt. Es kann nicht sein, dass wir Verjährung eintreten
lassen, während die Sache noch geprüft wird.
An dieser Stelle müssen wir schauen, ob das so, wie
es im Gesetzentwurf steht, richtig ist, ob das wirklich die
Sache trifft oder ob das vielleicht über das hinausgeht,
was wir wollen. Ob die Regelungen zur Beweislast geändert werden müssen, werden wir noch prüfen. Auch
die Fristen zur Aufbewahrung, der direkte Anwendungs6688
bereich und dergleichen sind zu prüfen. Das alles kann
man im Detail noch ändern und prüfen.
Die Botschaft im Hinblick nicht nur auf die Sachverhalte der Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft
muss klar lauten: Der Zusammenhang zwischen Chancen und Risiken sowie die Verantwortung für das, was
der Einzelne auf jeder Ebene tut, werden wieder in den
Vordergrund gestellt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Der Kollege Ralph Brinkhaus spricht für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte daran erinnern, dass dies der fünfte Gesetzentwurf zur Bankenregulierung im weiteren Sinne ist, den
wir, die Koalitionsfraktionen bzw. die Regierung, innerhalb eines Jahres vorlegen. Wir haben einen Gesetzentwurf zum Rating und einen Gesetzentwurf zur Vergütungspolitik vorgelegt.
({0})
Wir haben Regelungen zu Leerverkäufen und Regelungen zur Verbriefung im Zusammenhang mit der Umsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie geschaffen.
Heute haben wir ein wahnsinnig ambitioniertes Programm auf den Weg gebracht, das wirklich bemerkenswert ist. Es ist bemerkenswert, weil wir in der Regulierungssystematik zum ersten Mal vom Ende her
angreifen. Das heißt, wir akzeptieren mit diesem Gesetz,
dass es möglich ist, dass Banken scheitern, dass betriebswirtschaftliche Konzepte von Banken scheitern. Wir versuchen nicht wie bei anderen Konzepten, ein Scheitern
von vornherein durch mehr Eigenkapital, durch mehr Liquidität, durch eine bessere Transparenz oder durch das
Verbot von bestimmten Geschäften zu verhindern. Es ist
wirklich bemerkenswert, dass wir das so frühzeitig anpacken, weil es ein ganz komplizierter Gesetzentwurf ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich hätte
mir gewünscht, dass das in dem ein oder anderen Wortbeitrag einmal zum Ausdruck gekommen wäre; denn bei
allen Unterschieden, die uns trennen, ist das wirklich
eine gute Sache. Es lohnt sich, gemeinsam für dieses
Projekt zu arbeiten.
({1})
Es ist ein bemerkenswertes Projekt, weil wir damit international eine Vorreiterrolle einnehmen. Es gibt das
eine oder andere Land, das ebenfalls Regelungen in diesem Bereich erarbeitet. Wir werden aber dafür kritisiert,
dass wir nicht EU-weit abgestimmt vorgehen, sondern
dass wir vorangehen. Wir sind auch bei den Leerverkäufen vorangegangen. Vorangehen ist manchmal wichtig.
Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa. Deswegen müssen wir auch einmal Gas geben und zusehen,
dass die anderen hinter uns herkommen; denn anders
funktioniert das nicht. Das ist die Erfahrung, die wir in
Europa gemacht haben.
({2})
Ein weiterer Punkt, der bemerkenswert ist, ist der Restrukturierungsfonds. Die Banken werden an den Kosten
zukünftiger Krisen beteiligt. Um gleich einmal mit zwei
Irrtümern aufzuräumen: Es geht um die Kosten zukünftiger Krisen. Insofern läuft die Argumentation, man habe
mit der alten Krise nichts zu tun, völlig ins Leere. Die ist
schlicht und einfach falsch.
({3})
Der zweite Irrtum ist, zu sagen: Ich bin zu klein; ich
bin nicht systemisch; ich habe damit nichts zu tun. - Fragen Sie doch einmal bei den Volksbanken und Sparkassen nach, wie viele Hypo-Real-Estate-Papiere in deren
Depots gelegen haben! Fragen Sie einmal diese Banken,
welche Geschäfte sie gemacht haben! Fragen Sie doch
einmal die größeren Banken, ob es Schieflagen in diesem Bereich gegeben hat oder ob alles glattgegangen ist!
Vor diesem Hintergrund kann ich nicht verstehen, dass
immer wieder darauf insistiert wird, dass einige Banken
damit nichts zu tun gehabt hätten. Das ist meines Erachtens schlichtweg falsch.
({4})
Dieses Gesetz ist nicht nur bemerkenswert, sondern
es ist auch wahnsinnig anspruchsvoll. Dieses Gesetz ist
deswegen so anspruchsvoll - vor diesem Hintergrund
freue ich mich, dass hier auch die Kollegen vom Rechtsausschuss und aus dem Bereich Arbeitsmarktpolitik sitzen -, weil es Bankenrecht mit Insolvenzrecht, mit Gesellschaftsrecht und mit Arbeitsrecht verknüpft. Das ist
ein wahnsinnig ambitioniertes Projekt. Es ist auch deswegen ein so wahnsinnig ambitioniertes Projekt, weil es
notwendig ist, dass dieses Projekt von Anfang an fliegt.
Es muss deswegen fliegen, weil die Mechanismen des
Gesetzes in einer akut brennenden Krise eingesetzt werden. Um bei dem Bild „brennende Krise“ zu bleiben:
Eine Feuerwehr muss sich darauf verlassen können, dass
ihre Ausrüstung funktioniert, wenn es brennt. Deswegen
würde ich mich sehr darüber freuen, wenn wir uns bei
den Diskussionen, die wir führen, nicht immer nur am
Thema Bankenabgabe festbeißen würden. Ich würde viel
lieber mit Ihnen darüber diskutieren, ob das Gesetz technisch funktioniert, ob die Abläufe und die Verknüpfungen passen. Dazu, Herr Sieling, muss man ein Gesetz
aber auch lesen. Dazu reicht es nicht, immer nur darauf
herumzuhauen.
({5})
Vor diesem Hintergrund sollten wir in den Diskussionen, die wir jetzt führen werden, nicht mit der Frage beginnen, ob die Bankenabgabe einen Euro höher oder
niedriger sein sollte - das wäre völlig verfehlt und ginge
völlig am Thema vorbei -, sondern wir sollten schauen,
ob wir hier einen Mechanismus haben, um in Krisen proaktiv Reorganisations- und Sanierungsverfahren oder,
wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, Übertragungsverfahren einleiten zu können. Darauf sollten wir
uns konzentrieren. Das empfehle ich auch dem einen
oder anderen Verbandsvertreter, statt sich immer wieder
nur auf den genannten Kritikpunkt zu konzentrieren.
({6})
Ich möchte noch etwas anmerken, das ebenfalls sehr
bemerkenswert ist. Wir haben jetzt vor, eine Vorgehensweise zu verankern, die wir bislang noch nie gewählt haben. Wir sehen - meine Kollegin Winkelmeier-Becker
hat es erklärt - für Reorganisationsverfahren erstmals
den Dept-to-Equity Swap vor. Das bedeutet, dass zum
ersten Mal auch die Gläubiger in Anspruch genommen
werden. Bei allen Regulierungsmaßnahmen haben wir
bisher immer eine Gruppe geschützt, nämlich die Gläubiger. Sie konnten davon ausgehen, dass, egal was passiert, entweder die Sicherungssysteme greifen oder,
wenn diese nicht funktionieren, der Staat eingreift. Ich
finde, das war nicht fair. Es lohnt daher, den im Gesetzentwurf enthaltenen Gedanken, auch den Gläubiger in
einem geordneten Verfahren einzubeziehen, weiter zu
verfolgen und über ihn an der einen oder anderen Stelle
zu diskutieren. Für wirtschaftliches Handeln trägt immer
derjenige die Verantwortung, der handelt. Wenn wir in
vielen anderen Bereichen wie bei Hartz IV erwarten,
dass die Menschen die Konsequenzen ihres wirtschaftlichen Handelns übernehmen und sich nicht einer Vollkaskomentalität hingeben, dann müssen wir das auch im
Bankenbereich verlangen.
Ich bin der Meinung, dass es durchaus der Sache wert
ist, über diesen Gesetzentwurf weiter sachlich zu diskutieren und an der Technik zu feilen. Sie sollten anerkennen, dass dieser Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist.
Er stellt einen epochalen Schritt, einen Quantensprung
dar. Dafür herzlichen Dank an die Bundesregierung und
alle Beteiligten.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 17/3024 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Fairness in der Leiharbeit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Lohndumping verhindern - Leiharbeit
strikt begrenzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zeitarbeitsbranche regulieren - Missbrauch
bekämpfen
- Drucksachen 17/1155, 17/426, 17/551, 17/3082 Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann
Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute über drei Anträge der Oppositionsfraktionen zum Thema Zeitarbeit. Dies gibt mir die
Gelegenheit, darzustellen, welche Initiativen die Bundesregierung zu diesem Thema ergriffen hat und weiter
plant. Daraus ergibt sich, warum uns die Anträge der
Oppositionsfraktionen nicht überzeugen können.
Bei guter Politik geht es darum, Probleme zu erkennen und zu benennen, dann entschlossen zu handeln und
zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Im Januar
dieses Jahres war der richtige Zeitpunkt für das entschlossene Einschreiten unserer Arbeitsministerin
Dr. Ursula von der Leyen im Fall Schlecker. Sie hat klar
und deutlich gesagt, dass die bekannt gewordenen Praktiken dieses Drogeriediscounters nicht hinnehmbar sind,
und hat die Firma damit zu einem schnellen Einlenken
bewogen. Das war das richtige Regierungshandeln zur
richtigen Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir haben damit gleichzeitig eine umfassende Diskussion über das Thema Zeitarbeit angestoßen, wie sie
in dieser Tiefe bisher noch von keiner Regierung geführt
worden ist. Der bestehende gesetzliche Rahmen in diesem Bereich stammt noch aus der Zeit der rot-grünen
Regierung und ist im Wesentlichen auch konstant. Im
Zuge dieser Diskussion sind verschiedene Vorschläge
von verschiedenen Seiten erarbeitet worden. Dabei geht
es uns allerdings auch darum, dass wir Entscheidungen
über Gesetzesänderungen nicht auf der Grundlage von
Stimmungen und Einzelfällen treffen,
({1})
sondern dass wir zum richtigen Zeitpunkt die richtigen
Vorschläge machen, die zu einer sachgerechten Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Zeitarbeit führen.
({2})
Die Fakten zeigen, dass Zeitarbeit für Menschen, die
sonst schlechte Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt
hätten, Brücken in Arbeit baut. Dies wird auch aus dem
Elften Bericht der Bundesregierung zur Arbeitnehmerüberlassung deutlich. Die Fakten, die dort aufgeführt
werden, zeigen, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass
das wichtige arbeitsmarktpolitische Instrument Zeitarbeit diskreditiert wird; denn es hat seine gute Berechtigung auf dem Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung steht
hier als Institution in bester Kontinuität zur Politik, die
die Vorgängerregierungen in der Vergangenheit - auch
mit Unterstützung anderer Koalitionsfraktionen - gemacht haben. Wir verstecken uns nicht. Wir brauchen
uns für das, was wir gemacht haben, nicht zu entschuldigen. Die Bundesregierung steht in Kontinuität zum Instrument der Zeitarbeit genauso wie zur Missbrauchsbekämpfung in der Zeitarbeit. Beides gehört zusammen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Wir haben deshalb mit allen Partnern in der Branche mit Gewerkschaften, mit Arbeitgeberverbänden, mit den
Zeitarbeitsunternehmen genauso wie mit den Unternehmen, die Zeitarbeit nutzen - darüber gesprochen, wie ein
Missbrauch in der Zeitarbeit verhindert werden kann.
Wir haben nicht nur das getan, sondern wir haben als
Bundesregierung parallel dazu die Bundesagentur für
Arbeit, die das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz durchführt, aufgefordert, das Personal für diesen Bereich aufzustocken. Dies ist mittlerweile umgesetzt, und die
geschulten Kräfte arbeiten seit Mitte Juli in den zuständigen Regionaldirektionen der Bundesagentur für Arbeit. Das heißt, dass jetzt rund 100 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter - 30 Prozent mehr als zuvor - für die Erteilung der Verleiherlaubnisse und für die Prüfung der Zeitarbeitsunternehmen zuständig sind. Wir wissen: Wo es
Probleme gibt, muss auch gehandelt werden. Davor verschließen wir nicht die Augen. Wir haben gehandelt. Das
war unsere Aufgabe, der wir nachgekommen sind, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Jetzt ist es an der Zeit, dass wir auch zu gesetzlichen
Regelungen kommen, um die schwarzen Schafe in der
Branche, die es in der Zeitarbeit genauso wie anderswo
gibt, in die Schranken zu weisen. Die Bundesregierung
begrüßt ausdrücklich, dass die Tarifvertragsparteien in
ihren Tarifvertragswerken Vorkehrungen getroffen haben, um einen Fall wie Schlecker in Zukunft zu verhindern. Unsere sorgfältigen Prüfungen im Ministerium haben ergeben, dass es über diese begrüßenswerten
Initiativen der Tarifvertragsparteien hinaus notwendig
ist, dies auch gesetzlich zu flankieren, damit es künftig
keinen Drehtüreffekt mehr derart geben kann, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen werden
und nach kurzer Zeit in dem Unternehmen, das sie entlassen hat, oder in einem anderen Unternehmen aus dem
Konzernverbund am gleichen Arbeitsplatz zu deutlich
schlechteren Bedingungen als Zeitarbeitnehmerinnen
und Zeitarbeitnehmer wieder eingestellt werden. Das ist
nicht Sinn und Zweck der Zeitarbeit. Zu dem, was die
Tarifvertragsparteien gemacht haben, kommt jetzt eine
Gesetzgebungsinitiative hinzu: Wir flankieren gesetzlich, dass Missbrauch in der Zeitarbeit verhindert wird.
({5})
Wir nehmen das noch zu verabschiedende Gesetz
zum Anlass, in diesem Zusammenhang bereits die sogenannte Leiharbeitsrichtlinie der Europäischen Union
umzusetzen. Der Umsetzungsbedarf ist zwar nicht groß,
aber auch kleine Zeichen sind manchmal wichtig. Es ist
beispielsweise nicht nachvollziehbar, dass Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer in den Entleihbetrieben
keinen Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen haben.
Wenn es eine Betriebskantine für die Stammarbeitnehmer gibt, dann macht es Sinn, dass diese auch von den
Zeitarbeitnehmern genutzt werden kann.
({6})
Darüber ist bei der Erarbeitung der Leiharbeitsrichtlinie
verhandelt worden. Auch das werden wir umsetzen. Wo
konkreter Handlungsbedarf besteht, da handeln wir.
({7})
Gleichzeitig - da liegt der Unterschied zu den Anträgen der Opposition - wissen wir um die Bedeutung der
Zeitarbeitsbranche für den Arbeitsmarkt. Man soll sie
aber nicht überbewerten. Es haben in dieser Branche
- auch das kann man in unserem Bericht nachlesen bundesweit nie mehr als 2,6 Prozent der Beschäftigten
gearbeitet. Daher kann man nicht sagen, dass diese Branche, was die Beschäftigtenzahlen angeht, an der Spitze
liegt. Trotzdem sollte man sie wichtig nehmen.
Uns geht es darum, die Leiharbeitsbranche nicht zu
verteufeln, sondern an den Stellen etwas zu tun, an denen Handlungsbedarf besteht. Im Interesse der Menschen, die gering qualifiziert sind, die schon lange ohne
Arbeit sind oder die vielleicht noch nie gearbeitet haben,
müssen wir die Chancen nutzen, die die Zeitarbeit bietet.
Deswegen geht es darum, sachgerecht und zum richtigen
Zeitpunkt das Notwendige zu tun. Das tut die Bundesregierung. Für diesen Kurs bitten wir um Unterstützung.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Katja Mast das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Brauksiepe, es
geht bei der Regulierung von Leiharbeit nicht um die
Möglichkeit, in den gleichen Kantinen zu essen, sondern
es geht um gleiches Geld für gleiche Arbeit.
({0})
Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern vormachen, es
gehe ausschließlich um die Nutzung von Gemeinschaftseinrichtungen, dann verkennen Sie die Gefahr, die vom
flächendeckenden Lohndumping und von der Tatsache
ausgeht, dass Menschen in diesem Land in prekären Arbeitsverhältnissen stehen. Das ist die Axt an unserer sozialen Marktwirtschaft.
({1})
Wir reden an diesem Freitagmittag im Kern über die
Würde der Arbeit, über gute Arbeit und über Fairness
auf dem Arbeitsmarkt. Wir reden in diesem Zusammenhang über die notwendige gesetzliche Regulierung der
Leiharbeit, bei der gute Arbeit und Fairness besonders
wichtig sind. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Es
geht bei der Bekämpfung von prekärer Beschäftigung
nicht nur um die Regulierung von Leiharbeit, sondern es
geht auch um faire Regeln beim Berufseinstieg von Jugendlichen, für die sogenannte Generation Praktikum.
Es geht darum, dass Menschen von ihrer Hände Arbeit
in Würde leben können. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Es geht auch
darum, dass es in Deutschland keine unsinnigen Befristungen mehr gibt. Wann sollen denn die jungen Menschen in dieser Republik eine Familie gründen, wenn sie
dauerhaft mit befristeter Beschäftigung in Unsicherheit
gehalten werden und kein ausreichendes Einkommen haben?
Das alles sind Punkte, Herr Brauksiepe, die die
schwarz-gelbe Koalition bei ihrer Politik vergisst. Sie reden immer nur über Detailprobleme. Es ist gut, dass Sie
anfangen, bei Schlecker etwas zu verändern; das will ich
ausdrücklich sagen. Aber damit es Fairness in der Leiharbeit gibt, brauchen wir gesetzliche Initiativen mit dem
Ziel: gleiches Geld für gleiche Arbeit.
({2})
Leiharbeit wird in Deutschland zu oft für Lohndumping und zur Verdrängung regulärer Beschäftigung missbraucht. Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Ich habe kürzlich einen Arbeitsvertrag zu
sehen bekommen, der mit einer Leiharbeitsfirma in
Pforzheim, Baden-Württemberg, geschlossen wurde. Darin war ein Lohn von unter 7 Euro die Stunde bei einer
wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden vereinbart.
Davon kann man nicht in Würde leben. Sie sagen, das
sei kein Problem, das sei gute Arbeit. Ich sage Ihnen:
Meine Partei wird immer dafür kämpfen, dass es diese
Form von „guter“ Arbeit in Deutschland nicht mehr gibt.
({3})
Die IG Metall hat eine Umfrage unter Betriebsräten
durchgeführt und bei der Auswertung festgestellt - die
Ergebnisse wurden erst kürzlich veröffentlicht -, dass
jetzt im Aufschwung viele Menschen wieder in Arbeit
kommen. Das ist zunächst einmal gut; denn Arbeit bedeutet Teilhabe an dieser Gesellschaft. Es wurde aber
auch festgestellt, dass 20 Prozent der Betriebe die Leiharbeit nutzen, um bestehende Stammarbeitsplätze durch
prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu ersetzen. Für Sie
ist das kein Problem. Sie sagen, man müsse da nicht gesetzgeberisch handeln. Ich sage Ihnen: Wir müssen gesetzgeberisch handeln; wir brauchen faire Regeln in der
Leiharbeit.
({4})
Im Übrigen finden wir Abgeordnete des Deutschen
Bundestags - damit meine ich alle Fraktionen, die hier
vertreten sind - nur dann Akzeptanz für unsere Politik,
wenn wir den Menschen die Gewissheit geben - ich
denke dabei auch an die Schülerinnen und Schüler, mit
denen ich oft über ihre Zukunft auf dem Arbeitsmarkt
diskutiere -: Wenn ich mich anstrenge, bekomme ich einen Arbeitsplatz, von dem ich mich auf jeden Fall ernähren kann; noch besser wäre, wenn auch die Familie davon ernährt werden könnte. Aber das interessiert Sie
nicht. Sie sind der Meinung, wir bräuchten keine flächendeckenden Mindestlöhne. Sie sind auch der Meinung, wir bräuchten keinen Mindestlohn in der Leiharbeit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({5})
In Baden-Württemberg findet der Beschäftigungsaufbau jetzt nach der Krise zu über 50 Prozent im Bereich
der Leiharbeit statt. Lassen Sie mich noch ein Beispiel
aus meinem Wahlkreis nennen. Bei der Firma Inovan in
Birkenfeld haben im Zuge der Krise 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verloren. Jetzt
findet wieder ein Beschäftigungsaufbau statt. Aber wie?
Nicht, indem man die ehemaligen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zurückholt. Nein, es werden Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter eingestellt. Das ist nicht fair. Das
ist keine gute Unternehmenspolitik. Dieser Politik reichen Sie die Hand.
Leiharbeit braucht klare Regeln. Wir haben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verankert, dass Leiharbeit
immer dem Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ folgen muss. Als wir diese Regelung 2003 gemeinsam - im Übrigen in großer Übereinstimmung mit der
CDU/CSU - verabschiedet haben, hat keiner daran gedacht, dass die Öffnungsklausel - „ein Tarifvertrag kann
abweichende Regelungen zulassen“ - in Deutschland
flächendeckend von den sogenannten christlichen Gewerkschaften für Lohndumping über Haustarifverträge
missbraucht würde. Damit klar ist, worüber ich rede:
Wir waren damals der Meinung, es gehe hier nur um Tarifverträge unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes; damals war der erste Tarifvertrag für die
Leiharbeit überhaupt gerade erst abgeschlossen. Plötzlich sprossen Arbeitgeberverbände in dieser Republik
aus dem Boden, die dann Tarifverträge über Löhne von
deutlich unter 7,50 Euro pro Stunde abgeschlossen und
damit letztendlich das Lohnniveau gedrückt haben.
({6})
Wir haben bereits gestern eine Debatte über dieses
Thema geführt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie es nicht schaffen, dass der Verdienst höher als das Arbeitslosengeld II
ist, dann brauchen wir uns gar nicht erst darüber zu unterhalten, inwiefern wir die Würde von Menschen, die
am Rand stehen, durch eine Erhöhung der Regelsätze
gewährleisten können. Sie organisieren einen flächendeckenden Abbau des Sozialstaats, der sozialen Marktwirtschaft und der Teilhabe. Da kann niemand in diesem
Haus ruhig bleiben.
Herr Kober, Sie haben gleich die Möglichkeit, Ihre
Vorstellung von fairer und guter Arbeit zu äußern. Ich
bin gespannt, was Sie dazu sagen werden und ob Sie einen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland wollen, zumindest für Beschäftigte in der Leiharbeit. Ich
glaube, das wollen alle wissen, die heute zuhören.
({7})
Ich bin froh, dass die IG Metall vor einigen Monaten
die große Initiative „Gleiche Arbeit - Gleiches Geld“ gestartet hat. Sie hat gestern den ersten Tarifvertrag abgeschlossen, in dem für die Stahlindustrie gleiches Geld
für gleiche Arbeit vereinbart ist. Bereits gestern ging
mehrfach die Meldung über den Ticker, dass Arbeitgeberverbände dagegen sind, dass dieser Tarifabschluss
Vorbildcharakter hat. Ich bin der festen Überzeugung: Er
muss Vorbildcharakter haben. Ich bin der IG Metall und
dem Arbeitgeberverband dankbar für ihre kleine Revolution in der Tarifpolitik am gestrigen Tag.
Weil ich genau weiß, was die Redner der schwarzgelben Regierungskoalition nachher sagen werden, will
ich an dieser Stelle sehr deutlich festhalten: Wir brauchen im Hinblick auf die Regulierung von Leiharbeit
und auf die Lohnuntergrenze nicht nur faire und kluge
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, sondern auch
Initiativen für gesetzliches Handeln. Wir brauchen einen
gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn,
({8})
und es ist Ihre Aufgabe, einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen.
Wenn Sie schon nicht bereit sind, das flächendeckend
für alle Branchen zu machen, dann ist das Mindeste, was
man von Ihnen erwarten kann, wenn Sie die Leiharbeit
bekämpfen wollen und durch Ihr Handeln eine Legitimation guter Politik erreichen wollen, dass Sie die Leiharbeitsbranche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen und damit dafür sorgen, dass in dieser Branche,
in der prekäre Beschäftigung in besonderem Maße erfolgt, eine faire Lohnuntergrenze gilt. Im Referentenentwurf steht es jetzt nicht. Ich bin gespannt, ob der Gesetzentwurf, über den wir in ein paar Wochen diskutieren
werden, das enthalten wird. Unsere Unterstützung haben
Sie, wenn es darum geht, hier eine Lohnuntergrenze zu
vereinbaren. Unsere Unterstützung haben Sie nicht,
wenn Sie nur Detailprobleme in der Leiharbeit regeln.
({9})
Was machen Sie in der Leiharbeit eigentlich? Sie legitimieren Löhne von 5, 6 und 7 Euro.
({10})
- Sie legitimieren solche Löhne, solange Sie nicht gleiches Geld für gleiche Arbeit im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vereinbaren. Frau Connemann, Sie haben
nach mir noch genug Zeit, zu reden. Wenn Sie es jetzt
genau wissen wollen, stellen Sie eine Zwischenfrage.
({11})
Sie legitimieren diese Löhne, weshalb Menschen in
Vollzeitarbeit Arbeitslosengeld II beantragen müssen.
Damit stellen Sie einen Blankoscheck für Lohndumping
in dieser Republik aus. Das ist Sozialpolitik auf Abwegen, und dagegen werden wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer wieder wenden.
({12})
Im Übrigen geht es beim Thema Leiharbeit nicht nur
um die Beschäftigten, über die ich jetzt schon viel gesprochen habe. Sie spalten Belegschaften in Belegschaften erster, zweiter und dritter Klasse. Es geht auch darum, dass die Handwerker und der ehrliche Mittelstand
in Deutschland bei Ausschreibungen nicht zum Zuge
kommen, weil sie gegenüber dem Lohndumping von anderen Unternehmen keine Chance haben.
({13})
Damit werden gute Arbeitsplätze vernichtet, und anständige Firmenchefs haben keine Chance, sich am Markt zu
behaupten. Aber Sie sagen: Das ist uns alles egal;
({14})
da schauen wir gerne weg. - Sie organisieren Billigkonkurrenz, die den Zuschlag bekommt. Das ist Politik des
Wegschauens, und deshalb werden wir Sie bei diesem
Thema im Deutschen Bundestag immer wieder stellen.
({15})
Sie vergessen auch völlig, dass ab Mai 2011 Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt und dadurch der Druck auf die
Löhne noch stärker zunimmt. Deshalb will ich noch einmal sagen: Die SPD will im Grundsatz gleiches Geld für
gleiche Arbeit. Das steht in dem Antrag, den wir vorgelegt haben. Wir wollen über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz eine untere Haltegrenze für die Kolleginnen
und Kollegen und Beschäftigten in der Leiharbeit einziehen. Wir wollen, dass das Synchronisationsverbot abgeschafft, die konzerninterne Verleihung begrenzt und die
Mitbestimmung gestärkt wird.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Außerdem
wollen wir, dass sich unser aller Bundesarbeits- und -sozialministerin Ursula von der Leyen für die kleinen
Leute in unserer Gesellschaft verantwortlich fühlt,
({0})
dass sie sich als Schutzmacht für die Menschen in dieser
Gesellschaft versteht.
Jetzt ist aber wirklich Schluss, Frau Mast.
Sie soll sich zur Speerspitze der Bewegung machen,
wenn es um die Würde der Arbeit geht.
({0})
Frau Kollegin Mast, bitte! Sie haben Ihre Zeit weit
überzogen. Bitte kommen Sie jetzt zum letzten Satz.
Ich komme zum letzten Satz, Herr Präsident. - Dann
werden wir in dieser Gesellschaft auch wieder über eine
echte soziale Marktwirtschaft sprechen können.
({0})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Zeitarbeit hat uns in den letzten Monaten zu
Recht ausgiebig beschäftigt. Dass vereinzelt Unternehmen die Zeitarbeit in unverantwortlicher Art und Weise
ausgenutzt haben, ist bei uns allen in diesem Hohen
Haus auf große Ablehnung gestoßen. Das will ich für die
FDP-Fraktion hier noch einmal deutlich betonen.
Der Unterschied zwischen den Regierungsfraktionen
und den Oppositionsfraktionen liegt in der Schlussfolgerung, die aus diesen Vorgängen gezogen wird. Während
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
die Fälle zum Anlass nehmen, eine ganze Branche beseitigen zu wollen, handeln wir mit Vernunft und Augenmaß.
({0})
Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Geschäftsmodelle wie im Fall Schlecker künftig nicht mehr möglich sind.
({1})
Es ist nicht akzeptabel, wenn die Stammbelegschaft von
Konzernen in Leiharbeitsgesellschaften, bei denen die
Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ungünstiger sind, ausgelagert wird.
Auf der anderen Seite sehen wir aber auch die Chancen, die die Zeitarbeitsbranche vielen Menschen bietet.
Würde man hier und heute Ihren Anträgen folgen, würde
das für viele Menschen, die bei Zeitarbeitsunternehmen
beschäftigt sind, in naher Zukunft die Arbeitslosigkeit
bedeuten. Das ist das Gegenteil dessen, was die christlich-liberale Koalition zur Maßgabe ihrer Politik erklärt
hat.
({2})
Wir möchten den Menschen in unserem Land Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen bzw. Chancen offenhalten. Ich muss zugestehen, dass dies auch einmal die
Maßgabe von Sozialdemokraten und Grünen war. Doch
diese Zeiten sind nun offenbar endgültig vorbei, leider.
({3})
Der populistische Reflex siegt bei Ihnen über die
Sachkenntnis. Sie vergessen die Chancen, die die Zeitarbeit vielen Menschen bietet. Sie ist jetzt, in der Zeit der
Wirtschafts- und Finanzkrise, für viele der erste Schritt
zurück in den Arbeitsmarkt. Diese Chance wollen Sie
den Menschen nehmen, indem Sie das wirksame Instrument der Zeitarbeit gänzlich zerschlagen. Untersuchungen zeigen uns, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in
Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, zuvor nicht beschäftigt waren. Sie zeigen uns auch, dass 11,4 Prozent
in ihrem Leben zuvor überhaupt noch nicht beschäftigt
waren. Dies belegt, welche Chancen die Zeitarbeit beim
Kampf gegen Arbeitslosigkeit bietet. Zeitarbeit ist das
erfolgreichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben.
Darauf hat der Parlamentarische Staatssekretär Ralf
Brauksiepe schon hingewiesen. Mit keinem anderen Instrument ist es gelungen, so viele Menschen in Arbeit zu
bringen.
({4})
Ich kann Ihnen aber sagen, dass sich auch die FDP
weitergehende Gedanken zum Thema Zeitarbeit macht.
({5})
Die Zeitarbeit soll der Bewältigung von Auftragsschwankungen dienen und dabei helfen, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Für die FDP ist Zeitarbeit - das
sage ich ausdrücklich - kein Instrument der Lohndifferenzierung nach unten.
({6})
Deutschland setzt zum 1. Mai 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit um. Anstatt sich über diesen wesentlichen Schritt im Rahmen der europäischen Integration zu
freuen, wird von mancher Seite Angst davor geschürt.
Ich halte das angesichts der Tatsache, dass Deutschland
als Exportland wie kein zweites Land von der europäischen Integration profitiert, für unangebracht.
({7})
Niemand kann heute seriöserweise sagen, welche Folgen
diese Umsetzung zum 1. Mai 2011 zeitigen wird. Ich
kann Ihnen aber deutlich und klar sagen: Mit der FDP
wird es in der Zeitarbeitsbranche keinen Mindestlohn
nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geben.
Liebe Frau Mast, ich komme zu dem, was Sie gesagt
haben. Auch wir von der FDP sehen Handlungsbedarf
im Bereich der Zeitarbeit, jedoch ganz unabhängig vom
1. Mai 2011. Wir halten es nicht für gerechtfertigt, dass
Zeitarbeiter auf Dauer schlechter bezahlt werden als die
Stammbelegschaft, wenn sie die gleiche Tätigkeit ausüben und die gleiche Qualifikation besitzen. Ein solcher
Lohnunterschied ist nur für die Dauer einer Einarbeitungsphase nachvollziehbar und begründbar. Daher setzen wir uns dafür ein, dass der Grundsatz des Equal Pay
nach einer angemessenen Einarbeitungszeit eingehalten
werden muss.
Herr Kollege Kober, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Mast?
Aber gerne.
({0})
Herr Kollege Kober, einer Aussage von Herrn Kolb in
der Presse habe ich entnommen, dass Sie für Equal Pay,
also für gleiches Geld für gleiche Arbeit, nach einer kurzen Einarbeitungszeit - wie Sie es immer nennen - sind.
Meine Frage an Sie ist: Was ist für Sie eine angemessene
Einarbeitungszeit, insbesondere im Hinblick darauf, dass
50 Prozent der Leiharbeitsverträge eine Laufzeit von
maximal drei Monaten haben?
Frau Mast, ich darf Ihnen hier die Transparenz bieten,
die Sie wünschen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion führen gerade Gespräche mit Zeitarbeitsunternehmen und
mit Arbeitnehmervertretungen, mit Firmen, die Zeitarbeit verwenden. Wir werden uns nach den Gesprächen
ein sachgerechtes Urteil bilden und werden Ihnen dann
auf Ihre Frage eine sachgerechte Antwort geben. Das ist
seriöse Politik: erst denken, dann handeln.
({0})
Unsere Politik orientiert sich an dem, was für den
Einzelnen und seine Chancen, Arbeit zu finden, hilfreich
ist. Deshalb werden wir bestehende Fehler beseitigen,
dabei aber nicht über das Ziel hinausschießen, wie es die
Anträge der Opposition tun. Das ist verantwortliche
Politik für die Menschen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Durch Sie haben wir jetzt zwei Minuten gespart. Vielen Dank.
({0})
Das ist durchaus als Vorbild für die nachfolgenden Redner zu sehen.
Jetzt hat die Kollegin Krellmann für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
- Nein, die zwei Minuten hat die Kollegin Mast vorher
schon verbraucht.
({2})
Guten Tag, Herr Präsident! Hallo, liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach
acht Monaten liegt jetzt ein Gesetzentwurf auf dem
Tisch. Er ist, wie zu befürchten war, unsozial und löst
keine Probleme. Es sind die Schwächsten der Gesellschaft, die schutzlos bleiben. Diese Bundesregierung
spaltet das Land weiter in Arm und Reich. Acht Monate
lang haben Sie eine Lösung angekündigt und jetzt die
Lösung „Weiter so!“ vorgelegt.
Die Leiharbeit frisst sich währenddessen wie eine
Krake durch die Arbeitswelt: bei Krankenhäusern, Tageszeitungen, Banken, Druckereien usw. Die Liste ließe
sich problemlos fortsetzen.
({0})
Sogar auftragsstarke Firmen wie Airbus sind dabei.
Frau von der Leyen behauptet hingegen, es handele
sich um Einzelfälle. Während Sie nichts taten, kommt
die Leiharbeit nach der Krise wieder auf die Beine. Die
Nachfrage nach billigen Hire-and-Fire-Kräften boomt.
({1})
Im Bundesdurchschnitt betrug der Anteil der Leiharbeit
im Juni mehr als ein Drittel der offen gemeldeten Stellen; in Hamburg waren es sogar 55 Prozent.
Schauen wir uns das verarbeitende Gewerbe an! Seit
Juni 2009 sind knapp 120 000 feste Arbeitsplätze verloren gegangen. Gleichzeitig wurden 170 000 Leiharbeitsstellen geschaffen. Hier wird in großem Stil feste Arbeit
in unsichere Arbeit umgewandelt. Die Kolleginnen und
Kollegen der Leiharbeit bekommen bis zu einem Drittel
weniger Lohn. Die Unternehmensstrategie heißt: Löhne
kürzen.
Jugendliche und Berufsanfänger sind dabei am stärksten betroffen. Mehr als die Hälfte der Leiharbeiter sind
junge Erwachsene unter 35.
Gestern fand in Hannover eine Demonstration von
800 Auszubildenden statt, die gegen Leiharbeit und prekäre Beschäftigung, für mehr Ausbildungsplätze und für
eine gute Zukunft für sich als Jugendliche gekämpft haben.
({2})
Wie sollen die eine Familie gründen, ein Häuschen
bauen oder ihre Zukunft planen? Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist der Schlüssel und das Ende der Ausbeutung. Das wissen Sie eigentlich.
Das alles kann man per Gesetz lösen. Aber das scheint
die Bundesregierung nicht zu interessieren. Im Gegenteil:
Sie zementieren mit Ihrem Gesetzentwurf ganz bewusst
das Lohndumping in der Leiharbeit. Was Sie vorschlagen, Frau von der Leyen, schafft den Missbrauch in der
Leiharbeit nicht ab. Der Vorschlag ist nichts anderes als
gesetzlich geregelter Missbrauch in der Leiharbeit. Mehr
noch: Der Vorschlag ist Anstiftung zum Missbrauch.
Verhindert wird nur ein Ausnahmetatbestand der
Leiharbeit: Der Arbeitgeber soll seine Beschäftigten
nicht direkt in die Leiharbeit ausgliedern können, so wie
es bei Schlecker der Fall war. Das ist der einzige Tatbestand, Herr Kober. Leiharbeit als systematisches Lohndumping im Betrieb bleibt erhalten.
Es liegen drei Vorschläge der Opposition auf dem
Tisch. Alle zielen darauf ab, die Leiharbeit zu begrenzen. All diese Vorschläge sind besser als der Regierungsentwurf. Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist ein
Menschenrecht. Dieses Recht will die Linke schützen,
und zwar ohne Ausnahme und vom ersten Tag an.
({3})
Was in diesem Bundestag bisher unmöglich war, ist
den Kollegen in der Stahlindustrie gestern gelungen;
Frau Mast hat das gerade angesprochen. Meinen herzlichen Glückwunsch von dieser Stelle an die Kolleginnen
und Kollegen in den Stahlbetrieben!
({4})
Ihnen ist es gelungen, in einem Flächentarifvertrag zum
ersten Mal Equal Pay durchzusetzen. Dieser Flächentarifvertrag ist natürlich ein Tarifvertrag zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er ist das Ergebnis einer
Tarifrunde. Die Kolleginnen und Kollegen, die in den
Stahlbetrieben arbeiten, haben dafür gekämpft. Sie haben die Forderung gestellt und deren Durchsetzung erreicht. Wenn es am Ende nicht so schnell gegangen
wäre, hätten sie noch weiter dafür gestreikt.
({5})
Das ist aus meiner Sicher ein echter Durchbruch. Es
geht also. Warum nicht für alle? Warum nicht in ganz
Deutschland? Warum nicht per Gesetz?
({6})
Frau von der Leyen, beenden Sie diese haarsträubende Ungerechtigkeit! Ob Hartz-IV-Erhöhungen von
5 Euro oder das Weiter-so in der Leiharbeit: Das ist herzlose Politik. Das ist soziale Kälte. Das hat mit der Würde
von Menschen und Arbeit nichts zu tun. Die Quittung
dafür bekommen Sie hoffentlich demnächst auf der
Straße, wenn Ihnen möglichst viele Menschen sagen,
womit sie nicht einverstanden sind und dass sie sich eine
andere Politik für dieses Land wünschen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaftsminister Brüderle sagte in
seiner Haushaltsrede, der Aufschwung sei ein Beschäftigungsaufschwung und das deutsche Jobwunder löse
Hunderttausende persönlicher Konjunkturprogramme
aus.
({0})
„Beschäftigungsaufschwung“ bedeutet aber für mich,
dass reguläre Beschäftigung entsteht. Wir können momentan allerdings nur einen Aufschwung in der Leiharbeitsbranche verzeichnen. Die Zahl der Leiharbeitskräfte
hat bereits im Juni den alten Rekord von Juli 2008, also
vor der Krise, gebrochen. Laut Branche hat sie also mit
826 000 Leiharbeitskräften im Juni ihre Höchstmarke erreicht. Dieses Jobwunder kann ich nur als bedenklich bezeichnen.
({1})
Leiharbeitskräfte müssen jeden Euro fünfmal umdrehen. Von Anschaffungen, Urlaub und Freizeitaktivitäten
können sie nur träumen. Leiharbeitskräfte sind vor allem
junge Menschen. An Familienplanung ist nicht zu denken.
Der Boom in der Leiharbeit löst daher wahrlich keine
persönlichen Konjunkturprogramme aus, wie Minister
Brüderle meint. Konjunktur hat einzig und allein das
aufstockende Arbeitslosengeld II. Dennoch haben wir
die Krise gut überstanden. Dazu hat vor allem das Zusammenhalten der Tarifpartner viel beigetragen. Der Regierung kann man allenfalls zugutehalten, dass sie dabei
nicht wesentlich gestört hat.
({2})
In Sachen Leiharbeit hat das Arbeitsministerium aber
schlichtweg versagt.
({3})
Seit Dezember wird angekündigt, dass das Arbeitsministerium etwas gegen den Missbrauch in der Leiharbeit
vorlegen will. Im Bundestag wurde hierzu noch immer
nichts beschlossen. Der Gesetzentwurf der Ministerin
kommt schlichtweg zu spät und ist zudem nicht ausreichend. Damit wird sich die Leiharbeit weiter ausweiten.
Schon lange fordern wir die Regulierung der Leiharbeit, damit im momentanen Aufschwung reguläre Beschäftigungsverhältnisse entstehen können. Die Bundesregierung hat aber nichts gegen den Aufbau prekärer
Beschäftigungsverhältnisse getan. Das zeigt einmal
mehr, wohin die Reise gehen soll. Der Niedriglohnbereich soll nicht begrenzt, sondern eher noch ausgebaut
werden. Ich kann nur fragen: Wie weit wollen Sie das eigentlich noch treiben? In meinem Wahlkreis gibt es beispielsweise einen Betrieb mit 102 Festangestellten und
über 80 Leiharbeitskräften. Das ist kein Einzelfall. Herr
Kollege Kober kann diesen Betrieb in Reutlingen gern
einmal besuchen.
Immer mehr Menschen leben in Unsicherheit und
Angst, und immer mehr Menschen müssen von niedrigen Löhnen leben. Sie, die Regierungsfraktionen, machen Politik gegen und nicht für die Menschen.
({4})
Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie endlich dafür, dass die
Leiharbeit nicht weiter reguläre Beschäftigung verdrängt
und zur Absenkung der Löhne führt! Ich verzichte darauf, all unsere Forderungen gebetsmühlenartig zu wiederholen. Alle notwendigen Maßnahmen und Argumente können Sie in unserem Antrag nachlesen.
Ich möchte unsere Forderung „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ in den Mittelpunkt stellen und mit der
Haushaltswoche verbinden. Das Sparpaket ist und bleibt
sozial unausgewogen. Sie könnten einen deutlich gerechteren Weg gehen. Regulieren Sie einfach die Leiharbeit! Führen Sie das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ein! Beenden Sie die Subventionierung von
Unternehmen! Damit reduzieren Sie die Ausgaben für
aufstockendes Arbeitslosengeld II und entlasten den
Haushalt. Gleichzeitig sorgen Sie so für höhere Steuereinnahmen und Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen. Machen Sie den Weg frei für reguläre Beschäftigung und faire Löhne! Das wäre wesentlich gerechter,
als auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft zu sparen.
({5})
Ich versichere Ihnen, dass Sie auch die Sympathie der
Gewerkschaften, der Beschäftigten und der Opposition
haben, wenn Sie diesen Schritt wagen. Ich versichere Ihnen, dass dann auch viele Arbeitgeber erleichtert sein
werden, nämlich diejenigen, die das Instrument Leiharbeit nicht missbrauchen und gerechte Löhne zahlen.
Denn diese Betriebe leiden unter der Konkurrenz, die die
Löhne durch Leiharbeit drückt.
Zeigen Sie endlich wirtschafts- und sozialpolitische
Kompetenz! Sorgen Sie für einen fairen Wettbewerbsrahmen, indem Sie die Leiharbeit sozialverträglich ausgestalten! Degradieren Sie die Leiharbeitskräfte nicht zu
Beschäftigten zweiter Klasse! Es wird Zeit, dass Sie die
Leistung der Leiharbeitskräfte wirklich wertschätzen.
Machen Sie endlich eine Politik des Respekts! Wie das
geht - ich sagte es schon -, können Sie in unserem Antrag nachlesen.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort die Kollegin
Gitta Connemann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Virus
geht um in diesem Haus - diesen Eindruck habe jedenfalls ich nach den Debattenbeiträgen der Opposition -,
nämlich der Virus der Vergesslichkeit.
({0})
Denn die Regelungen, über die wir heute sprechen, sind
nicht von dieser christlich-liberalen Koalition beschlossen worden, sondern sie sind das Ergebnis einer Reform
aus dem Jahre 2003,
({1})
die seinerzeit „Hartz I“ genannt wurde und das Paradestück von Rot-Grün war.
({2})
Dieses Paradestück, das Sie heute vollkommen in Abrede stellen, hat - darauf dürfen Sie außerordentlich
stolz sein - zu enormen Erfolgen am Arbeitsmarkt geführt.
({3})
Deswegen können wir heute über Helden reden. „Die
Helden des Aufschwungs“, so hat das Magazin Focus
die Zeitarbeitnehmer in Deutschland bezeichnet - zu
Recht, denn ohne Zeitarbeitsbranche könnten wir uns
nicht seit Monaten über sinkende Arbeitslosenzahlen
freuen. Jede dritte neue Stelle in Deutschland kommt aus
der Zeitarbeit.
Auch in meiner Heimat hat sich der Arbeitsmarkt unglaublich gut entwickelt. Die neueste Meldung: Die Arbeitslosenquote ist dort mit 6,5 Prozent so niedrig wie
vor 30 Jahren. Das ist ein unglaublicher Erfolg.
({4})
Die Agentur für Arbeit in meiner Heimatstadt Leer hat
mir mitgeteilt, dass 40,7 Prozent des Zugangs an offenen
Stellen aus der Zeitarbeit stammen.
Frau Kollegin Connemann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Frau Connemann, Sie haben gerade zum wiederholten
Male darauf hingewiesen, dass es die rot-grüne Regierung war, die die Liberalisierung der Zeitarbeit durchgesetzt hat. Haben Sie, wie auch wir, zur Kenntnis genommen, dass das Ziel der Liberalisierung der Zeitarbeit, das
darin bestand, Auftragsspitzen abzufedern, nicht erreicht
werden konnte und die gesellschaftliche Realität so aussieht - dies wurde in vielen Untersuchungen von verschiedenen Instituten, unter anderem vom Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, nachgewiesen -,
dass die Betriebe die Liberalisierung der Leiharbeit stattdessen in erheblichem Umfang genutzt haben, um
Stammbelegschaften zu ersetzen? Das war unser Impuls
und war unser Ziel nicht.
Ich frage Sie: Ist das Ihr Ziel? Wir haben diese Anträge jetzt eingebracht, weil wir feststellen mussten, dass
es einen erheblichen Missbrauch gibt, der weit über
Schlecker hinausreicht. Ich frage Sie: Sehen Sie diesen
Missbrauch nicht? Sind Sie bereit, diesem Missbrauch
entgegenzuwirken?
({0})
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, wenn jemand Missbrauch entgegenwirken will, dann ist das die christlichliberale Koalition.
({0})
Denn wir haben nach dem Vorfall Schlecker sofort gehandelt. Wir haben uns an die Tarifvertragsparteien gewandt und darum gebeten, dass eine Formulierung gefunden wird, um Schlecker und seine Genossen
auszuschließen.
({1})
Ich betone das Wort „Genossen“. Die Auseinandersetzung mit Fällen wie Schlecker hat eines deutlich gemacht, nämlich dass es tatsächlich durchaus prominente
Mitspieler gibt, angefangen von der Frankfurter Rundschau - wir haben bereits damals darüber gesprochen,
dass die SPD an diesem Zeitungsunternehmen erhebliche Anteile hält ({2})
bis hin zu Unternehmen wie der AWO. Da muss etwas
passieren. Es ist auch etwas passiert;
({3})
denn es war diese Bundesregierung mit Bundesministerin von der Leyen, die einen Entwurf vorgelegt hat, um
einem Problem zu begegnen, das Sie bei Ihrer Gesetzgebung nicht erkannt haben.
Frau Kollegin Pothmer, Sie haben mich nach der Zahl
der IAB gefragt. Da fällt mir ein Wort von Konrad
Adenauer ein, der einmal gesagt hat: Wir alle leben unter
demselben Himmel, aber wir haben nicht alle denselben
Horizont. - Wenn ich die Aussage der IAB lese, dann
sagt mir das - Sie können es nachlesen; Sie kennen den
Bericht sehr gut; ich habe jetzt das Zitat leider nicht dabei, aber ich schicke es Ihnen gerne -, dass die immer
wieder gepflegte Behauptung, dass durch Leiharbeit
massenweise Stammbelegschaft ersetzt worden ist, in
keiner Weise empirisch belegt ist.
({4})
- Ich bin noch nicht fertig, Frau Pothmer; bitte bleiben
Sie noch stehen. Sie haben mich in einer sehr langen
Frage auf die IAB angesprochen. Dann darf ich Ihnen
auch lange antworten.
({5})
Die IAB hat festgestellt, dass die durchschnittliche
Einsatzzeit eines Leiharbeitnehmers in Deutschland unter drei Monate beträgt. Ein Arbeitseinsatz von drei Monaten ist sicherlich nicht geeignet, um Stammarbeitsplätze zu ersetzen. Das sollten Sie bitte zur Kenntnis
nehmen.
({6})
Nehmen Sie doch einmal wahr, welche Potenziale die
Zeitarbeit bietet! 90 Prozent der Zeitarbeitsunternehmen
haben in einer Umfrage mitgeteilt, dass sie in den nächsten Monaten weitere Mitarbeiter einstellen wollen. Das
ist eine gute Nachricht für eine Branche, die es durchaus
schwer hat, nicht nur deshalb, weil sie diskreditiert wird,
sondern auch deshalb, weil sie die erste war, die unter
der Krise litt. Diese Branche büßte in der Krise als erste
Branche Beschäftigung ein. Aber so rettete sie Stammbelegschaft. Auf diese Weise konnten Betriebe sehr
kurzfristig auf Auftragseinbrüche reagieren. Jetzt, da es
wieder aufwärtsgeht, gibt es in diesen Betrieben noch
die Kernmannschaft. Hinzu kommen die Zeitarbeitnehmer, die eingestellt werden, um die Produktionsspitzen
abzufedern.
Damit hat die Zeitarbeit in Deutschland in der Krise
die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe gestärkt. Damit hat die Zeitarbeit in Deutschland gemeinsam mit
klugen Instrumenten wie der Kurzarbeit das Wunder am
deutschen Arbeitsmarkt erst möglich gemacht. Bitte
nehmen Sie das zur Kenntnis!
({7})
Deshalb stellt der Focus unter anderem fest:
Für die Wirtschaft ist die Erfindung der Zeitarbeit
ein Glücksfall.
Ja, ein Glücksfall. Ich betone: nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für unseren Arbeitsmarkt.
Aber wie reagieren Sie darauf, meine Damen und
Herren von der Opposition? Diffamierend und diskriminierend. Dies beginnt übrigens schon bei Ihrer Wortwahl. Sie halten stoisch an der überkommenen Bezeichnung „Leiharbeit“ fest. Das ist diskriminierend; denn es
gibt keinen Begriff, der auf Zeitarbeit weniger zuträfe
als „Leihe“.
({8})
Gegenstände werden verliehen. 830 000 Zeitarbeitnehmer in Deutschland sind aber keine Sachen. Deshalb
verstehe ich persönlich die Forderung nach einer entsprechenden Gesetzeskorrektur auch durchaus. Darauf
gehen Sie in dem Reigen Ihrer Anträge übrigens nicht
ein. Dort, wo es kneift, kneifen Sie selbst, meine Damen
und Herren von der Opposition. Sie beschränken sich
lieber darauf, Ihre Vorurteile zu pflegen.
Frau Kollegin Mast, Sie haben in Ihrer Rede zunächst
behauptet, Zeitarbeit sei eine prekäre, also eine unsichere Beschäftigung. Das ist falsch.
({9})
Tatsache ist: Jeder Zeitarbeitnehmer steht in einem normalen Arbeitsverhältnis.
({10})
Er genießt Kündigungsschutz, er hat Anspruch auf
Lohnfortzahlung und auf Urlaub, nur die Arbeitsorte
wechseln häufiger, wie übrigens auch bei Vertretern,
Bauarbeitern und Fernfahrern. Die Liste ließe sich fortsetzen.
({11})
Frau Kollegin Mast, Sie behaupten, in der Zeitarbeit
sei Lohndumping die Regel. Bitte nehmen Sie zur
Kenntnis: Das ist falsch. - Tatsache ist: 98 Prozent der
Zeitarbeitnehmer - ich wiederhole: 98 Prozent - fallen
unter Tarifverträge.
({12})
Davon können viele Branchen nur träumen.
({13})
Es gibt einen Einstiegslohn für ungelernte Hilfskräfte im
Osten von 6,40 Euro und im Westen von 7,60 Euro.
({14})
Diese wurden übrigens von den von Ihnen so diffamierten christlichen Gewerkschaften abgeschlossen. Was sagen Sie denn zu dem Abschlussverhalten von DGB-Mitgliedsgewerkschaften, die zum Beispiel in Thüringen
Tarifverträge für Friseure abschließen? Wo ist da Ihre
Kritik?
({15})
Sie behaupten weiter, Stammbelegschaften würden
durch Zeitarbeitnehmer ersetzt. Das ist falsch. Tatsache
ist: Nur 2 Prozent der Betriebe haben zu gleicher Zeit
Zeitarbeitnehmer eingestellt und andere Beschäftigte
entlassen. 98 Prozent der Betriebe verhalten sich glücklicherweise anders als Schlecker.
Ihre Anträge und damit auch Ihre Forderungen basieren auf falschen Grundlagen. Deshalb lehnen wir sie ab.
Ich persönlich bedaure es, dass Sie sich mit diesem
außerordentlich wichtigen Thema nur so oberflächlich
auseinandergesetzt haben;
({16})
denn es gibt ja tatsächlich Herausforderungen. Wir müssen die EU-Zeitarbeitsrichtlinie fristgerecht im Maßstab
eins zu eins umsetzen. Wir müssen verhindern, dass sich
Missbräuche wie bei Schlecker wiederholen. Für beides
hat unsere Bundesregierung, hat Frau Bundesministerin
Ursula von der Leyen zukunftsweisende Lösungen vorgelegt, die von Herrn Staatssekretär Brauksiepe auch bereits vorgestellt worden sind.
Wir müssen auch eine Antwort auf die sich ab dem
1. Mai kommenden Jahres stellenden Herausforderungen finden: Wie können wir unsere inländischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor Billigkonkurrenz aus dem
Ausland schützen? Hier stellt sich für mich die Frage:
Kann hier mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geholfen werden, oder wäre hier nicht ein Referenztarifvertrag
die bessere Lösung, ein Referenztarifvertrag, der von der
Bundesregierung im Einvernehmen mit einer Branchenkommission festgesetzt wird? Sofern dieser unterschritten wird, könnte Equal Pay gelten.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Connemann.
Wir müssen dafür sorgen, dass die klassische Zeitarbeit nicht wieder durch Umgehung diskreditiert wird. Ist
die Überlassung eines Arbeitnehmers für mehr als ein
Jahr wirklich noch Zeitarbeit? Diese Frage stellt sich
mir. Hat Rot-Grün durch die unbegrenzte Öffnung der
Höchstüberlassungsdauer nicht erst Scheinzeitarbeit provoziert?
Das sind viele Fragen, die wir beantworten müssen.
Leider können wir dabei nicht mit Ihrer Hilfe rechnen,
aber wir werden diese Aufgabe auch selbst bewältigen.
Vielen Dank.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich begrüße Sie ganz herzlich. Herzlich willkommen zur
Quartalsrede Zeitarbeit. Es hat sich nichts geändert; wir
brauchen auch keine Zwischenfragen mehr.
({0})
- Ja, natürlich, es hat sich nichts geändert. Ich habe bereits zweimal eine Rede dazu gehalten. Lesen Sie sie!
Ich werde nicht alles wiederholen.
({1})
Es ist wie beim Vokabellernen: Manche merken sich
gute Argumente, manche merken sich gute Argumente
nicht. - Sie scheinen sie sich nicht merken zu können.
({2})
Ihnen scheint entgangen zu sein, dass wir zwischenzeitlich mit allen vier großen Arbeitgeberverbänden und
zwei Gewerkschaften Mindestlöhne in der Zeitarbeit
vereinbart haben. Das bedeutet, dass nahezu die gesamte
Branche einen vollständigen Tarifvertrag mit Mindestlohn hat. Das beweist die Stärke unseres Systems. Bei
uns bestimmen die Tarifparteien - die selbst Sie eben
noch so gelobt haben, Frau Kollegin Krellmann - und
nicht der Staat die Löhne, und das ist gut so.
({3})
Eines ist damit klar geworden - das hat sich auch bei
der Anhörung gezeigt -: Die Zeitarbeitsbranche selbst ist
daran interessiert, aus der Schmuddelecke herauszukommen. Denn wofür steht seriöse Zeitarbeit? Sie steht für
eine Brücke in die Arbeit für Menschen, die sonst
schlechte Chancen haben, für die Flexibilisierung bei
Auftragsspitzen und Auftragsflauten, für Perspektiven,
in den Arbeitsmarkt zu kommen, und außerdem für voll
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Vergessen Sie das nicht! Zeitarbeit ist auch Arbeitnehmerschutz, und zwar in vollem Umfang: Kündigungsrecht, Teilzeit, Befristung und Urlaub. Für die Zeitarbeit
gelten alle Arbeitnehmerschutzrechte.
Staatssekretär Brauksiepe hat es angesprochen: Unsere Ministerin hat wie versprochen gehandelt. Wir haben den ersten Entwurf auf dem Tisch liegen. Wir wollen den Drehtüreffekt konsequent verhindern, wir wollen
einen Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen und
konsequent eine Unterrichtungspflicht über freie Arbeitsplätze in den Einsatzunternehmen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind im Laufe
des Jahres Schritt für Schritt vorangekommen. Meine
Damen und Herren von Rot-Grün, es ist unerträglich,
dass Sie jedes Mal Ihre Ära der schrankenlosen Liberalisierung im Arbeitsrecht negieren wollen. Aber das lassen wir nicht zu. Sie waren es, die Equal Pay ausgehöhlt
haben. Sie waren es, die Missbrauch legalisiert haben.
Nur ein kleiner Hinweis, Frau Kollegin Mast: Meines
Wissens bestand bei Hartz I keine Zustimmungspflicht
durch den Bundesrat. Das haben Sie hier alleine beschlossen.
({4})
Wir, die christlich-liberale Koalition, reparieren heute
Ihre Baustellen: gestern Hartz IV, heute die Zeitarbeit.
Wir haben das aufzuräumen, was Sie hinterlassen haben.
({5})
Hören Sie auf mit Ihrem Populismus. 5 Millionen Arbeitslose waren Ihre Hypothek. Heute sind wir knapp
über der 3-Millionen-Grenze, und wir werden sie noch
unterschreiten.
Meine Damen und Herren von der SPD, hören Sie mit
Ihrer „Hartzer Rolle rückwärts“ auf. Ihr ehemaliger, verdienter Arbeitsminister hat einmal gesagt: „Opposition
ist Mist“. Ihre Opposition ist zurzeit ganz großer Mist.
Zeigen Sie endlich Rückgrat. Treffen Sie fachliche Entscheidungen. Wir stehen vor einem Jobwunder. Helfen
Sie mit, dass es in Deutschland weiterhin greift. Ich
wünsche Ihnen in diesem Sinne einen schönen 3. Oktober in einem guten Deutschland mit guten Arbeitsplätzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/3082. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1155 mit dem Titel
„Fairness in der Leiharbeit“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktionen der SPD und der Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/426 mit dem Titel „Lohndumping ver-
hindern - Leiharbeit strikt begrenzen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/551 mit dem Titel „Zeitarbeitsbranche regulieren -
Missbrauch bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken
und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Sven-Christian Kindler, Tom Koenigs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Daueraufgabe Demokratiestärkung - Die Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Haltungen
gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten
- Drucksache 17/2482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus
verstärken - Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus ausbauen und verstetigen
- Drucksache 17/3045 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus,
Antisemitismus und anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Um nachhaltig Erfolge zu erzielen,
braucht man einen langen Atem. Initiativen müssen inhaltlich weitgehend unabhängig von staatlichem Einfluss wirken können. Es ist ein Austausch auf Augenhöhe zwischen Initiativen und den zuständigen Stellen
auf allen Ebenen nötig. Es muss gesichert werden, dass
erfolgreiche Strukturen und Projekte dauerhaft Förderung erhalten.
({0})
Deshalb fordern wir die Bundesregierung, aber auch
die Länder auf, die erfolgreichen Programme auf hohem
Niveau fortzusetzen, sie weiterzuentwickeln und zu verbessern. In unserem Land werden bundesweit rassistisch
und rechtsextrem motivierte Gewalttaten begangen. Das
reicht von Beschimpfung und Diskriminierung bis hin zu
Mord. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, warum es nicht einen zügigen Aufbau von Opferberatungsstellen auch in den westlichen Bundesländern
gibt. Alles, was die Bundesregierung in einem aktuellen
Bericht dazu vorlegt, ist die Aussage: Die Entscheidung
über solche strukturellen Fragen obliegt den Ländern. So einfach sollte man es sich aber nicht machen.
({1})
Ich erwarte, dass auch der Bund seiner Verantwortung
für Opfer rechter Gewalt gerecht wird und sich die betroffenen Opfer nicht erst Hunderte von Kilometern zu
den Anlaufstellen bewegen müssen.
In Ostdeutschland wurden die Opferberatungsstellen
schon vor Jahren unter Rot-Grün aufgebaut. Leider gibt
es dort jedes Jahr Probleme wegen finanzieller Schwierigkeiten. Eine dieser Einrichtungen mit Problemen ist
die Opferberatung in Sachsen. Sie berichtete mir vor wenigen Tagen über ihre Lage. Im Frühjahr dieses Jahres
beantragte sie Mittel in Höhe von 100 000 Euro, wovon
jeweils die Hälfte der Bund und das Land Sachsen tragen
sollten. Die Mittel von Sachsen erhielt sie, aber im September kam ein Schreiben vom Bund, dass keine Mittel
mehr verfügbar seien. Ob das Land die fehlende Summe
ersetzen wird, ist unklar, aber ich glaube es nicht angesichts der Sparmaßnahmen, die auch Sachsen ergreift.
Damit wird es ab Oktober zu deutlichen Stellenkürzungen kommen müssen. Von einer professionellen und flächendeckenden Arbeit kann daher keine Rede sein. Ich
fordere die Bundesregierung auf, sich mit den Ländern
verbindlich darüber zu verständigen, wie man wichtige
Strukturen erhalten und Planungssicherheit gewährleisten kann.
({2})
Dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen eine langfristige,
verlässliche Förderstrategie.
Die Konzentration auf Extremismus, die dem Programm ab dem nächsten Jahr zugrunde liegen soll, führt
zu einem falschen Ansatz. Das kritisiert auch die Linksfraktion in ihrem Antrag, der heute parallel zu unserem
beraten wird. Zu Recht beanstandet sie darin, dass sich
aus dieser Extremismustheorie keine Konzepte für präventive Arbeit ableiten lassen.
Die Bundesregierung hat in diesem Bereich auch
noch keine Konzepte, wie sich bei verschiedenen Nachfragen der Opposition auch in anderen Bereichen - zum
Beispiel zum Bündnis für Demokratie und Toleranz, das
sich in den letzten Jahren diesen Themen gewidmet hat gezeigt hat. Dort gibt es einfach nichts.
({3})
Herr Kues, Sie können uns ja in der nächsten Woche im
Ausschuss etwas vorlegen. Bis jetzt gibt es leider nur
heiße Luft.
Wir müssen demokratische und tolerante Haltungen
und Handlungsweisen in der gesamten Gesellschaft - kindgerecht, angefangen bei den Kleinsten - dauerhaft stärMonika Lazar
ken. Und da war das, was der Staat gestern in Stuttgart
vorgemacht hat, kein Beweis für Demokratie.
({4})
Die Förderung muss auf zivilgesellschaftliche Ansätze ausgerichtet sein und verstetigt werden. Es ist notwendig, die in Ostdeutschland entwickelten erfolgreichen Standards, besonders bei mobiler Beratung und bei
Opferberatung, auf die alten Bundesländer zu übertragen.
Das neue Programm soll anders gestrickt werden. Wir
haben genügend Forderungen vorgelegt. Fördern Sie
zielgerecht Aktivitäten gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, und das nicht nur
an den vermeintlich extremen Rändern, sondern auch in
der Mitte der Gesellschaft!
({5})
Gute lokale Aktionspläne, mobile Beratungsteams und
Opferberatungsstellen müssen langfristig gesichert oder
- wie in Westdeutschland - überhaupt erst aufgebaut werden.
Ganz wichtig ist, dass auch kleine Träger und alternative Projekte Förderchancen erhalten. Sie brauchen ein
Antragsrecht direkt beim Bund. Solche Mittel sind mit
Sicherheit eine sinnvolle Investition in unsere Demokratie.
Zum Schluss noch einmal meine Forderung: Beziehen Sie bei der Neugestaltung der Bundesprogramme die
Wirklichkeit, die Erfahrungen aus der Praxis und auch
die Erfahrungen der Opposition mit ein!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Verpackung und Inhalt klaffen leider zu oft auseinander. Das können wir immer
wieder der Zeitschrift der Stiftung Warentest entnehmen,
die gern über Mogelpackungen berichtet. Ähnlich wie es
sich mit dem Unterschied zwischen Verpackung und Inhalt verhält, verhält es sich auch mit Ihrem Antrag,
meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
In der Überschrift zu Ihrem Antrag heißt es „Daueraufgabe Demokratiestärkung“. Das ist eine Aufgabe, der
sich die demokratischen Fraktionen dieses Hauses selbstverständlich verpflichtet fühlen. Auch Ihre Analyse unter
Nummer I kann ich in einigen Aspekten teilen. Sie schreiben:
Jeder Form von Menschenfeindlichkeit und ideologisch motivierter Gewalt muss entgegengetreten
werden, selbstverständlich auch dann, wenn sie aus
dem linken politischen Spektrum kommt oder islamistisch motiviert ist.
- Das ist ein Satz, der quasi auch von der Union stammen könnte. So viel zur Verpackung.
Nun geht es aber in Ihrem Forderungskatalog ans Eingemachte, nämlich an den Inhalt der Verpackung. Beim
Eingemachten ist es dann mit unseren Gemeinsamkeiten
schnell vorbei, Frau Lazar.
Sie bemängeln, dass das Antragsrecht für die Fördermittel des Programms „Vielfalt tut gut“ auf die Kommunen beschränkt ist. Sie kritisieren, dass die Gemeinden
so politisch unliebsame Projektträger von den Förderungen ausschließen könnten.
({1})
Ich meine, die meisten Kommunalpolitiker werden sehr
wohl wissen, was für die Demokratie vor Ort gut ist und
was nicht.
({2})
Ich setze da auf die Erfahrungen und den gesunden Menschenverstand dieser Kommunalpolitiker in den Kreisen,
Städten und Gemeinden.
({3})
Damit der Kampf gegen Extremismus weiterhin vor Ort
fest verankert werden kann, ist es eben unbedingt notwendig, die Mandatsträger in den Städten und Gemeinden an diesen Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
Die Grünen und die Linke fordern ein ergänzendes
Programm für freie Träger mit direktem Antragsrecht.
({4})
Das würde die Beteiligung der Kommunen beschneiden.
Zu dem Weg über die Kommunen gibt es jedoch keine
Alternative;
({5})
denn eine dauerhafte Förderung von Kleinstprojekten
durch den Bund verstößt gegen die verfassungsmäßige
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern.
({6})
Der Erfolg von „Vielfalt tut gut“ zeigt, wir sind da auf
dem richtigen Weg. Die von Ihnen schon angesprochenen lokalen Aktionspläne - bisher sind es 90 - werden
weitergeführt, und zusätzlich werden 90 weitere Projekte
gefördert. Die Ausschreibung für diese zusätzlichen lokalen Aktionspläne läuft in Kürze an, und die Nachfrage
ist jetzt schon deutlich erkennbar.
({7})
Fragwürdig ist natürlich auch die Forderung der Grünen, von einer Regelüberprüfung engagierter Initiativen
gegen Rechtsextremismus durch den Verfassungsschutz
abzusehen.
({8})
Zum einen finden überhaupt keine regelmäßigen Überprüfungen statt. Zum anderen sollte gerade eine Organisation, die sich der Extremismusbekämpfung und der
Demokratieförderung verschrieben hat, nichts zu verbergen haben. Ein klares Bekenntnis zu unserer Verfassung
sollte da eine Selbstverständlichkeit sein.
({9})
Jeder meiner Handwerkskollegen muss zum Beispiel
eine Tariftreueerklärung abgeben, wenn er einen öffentlichen Auftrag erhalten will. Zur Sicherheit führen wir
die Abgabe einer Erklärung zur Verfassungstreue als
neue Bedingung für die Gewährung von Fördermitteln
ein. Es ist daher schon erstaunlich, dass einige Linke und
selbsternannte antifaschistische Organisationen anscheinend ein Problem damit haben.
Sowohl Bündnis 90/Die Grünen als auch die Linke
fordern, auf die Ausweitung der Bundesprogramme auf
Linksextremismus und Islamismus zu verzichten. Ich
verstehe nicht, warum Sie dem Staat auf dem linken Auge
ein Pflaster verpassen wollen. Jede Form des Extremismus ist eine Gefahr für unsere Demokratie, egal ob er
links, rechts oder religiös motiviert ist.
({10})
Deshalb setzt zum Beispiel das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ bereits sehr frühzeitig an. Es
handelt sich hierbei um ein vorbeugendes Programm,
welches auf die Stärkung eines friedfertigen und gedeihlichen Zusammenlebens abzielt. Wir wollen so bereits
im Vorfeld Ängsten und Vorverurteilungen den Nährboden entziehen. Extremismus darf gar nicht erst entstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ein grundlegendes Problem Ihrer Forderungen ist, dass
linksextremen Vereinigungen, zum Beispiel die selbsternannte Antifa oder SJD - Die Falken, Tür und Tor geöffnet wird, um mit Steuergeldern ihre Aktivitäten zu finanzieren.
({11})
- Hören Sie zu! - Derartige Organisationen berufen sich
auf Antifaschismus, um so ihre eigene Ideologie zu
rechtfertigen, welche sich in Wahrheit gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet. Wir unterscheiden zwischen demokratischen Antifaschisten und
nichtdemokratischen Antifaschisten. Es ist doch so: Aus
einem Linksextremisten wird nicht automatisch ein Demokrat, nur weil er sich als Antifaschist bezeichnet. Wir
wollen keine Förderung linksextremer und antidemokratischer Aktivitäten mit dem Geld der Bürger.
({12})
Der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz ist ein Kennzeichen einer wehrhaften Demokratie. Wir wollen das Demokratiebewusstsein von Kindern
und Jugendlichen von Anfang an stärken, um sie so vor
Extremismus jeglicher Art zu schützen. Deshalb haben
wir den Haushaltsansatz zur Bekämpfung des Extremismus und zur Stärkung der Demokratie um 5 Millionen
Euro auf insgesamt 29 Millionen Euro erhöht. Das ist
der höchste Ansatz seit 2001, Frau Lazar. Von Kürzung
kann hier also keine Rede sein. Das Familienministerium hat die Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie entsprechend gebündelt und logischerweise in einem Haushaltstitel zusammengeführt.
Wir wollen auf administrativer Ebene für die Projektpartner die Betreuung aus einer Hand ermöglichen.
Meine Damen und Herren, wir, die christlich-liberale
Koalition, und die Regierung der Mitte sind weder auf
dem linken noch auf dem rechten Auge blind. Bei uns
stimmen Verpackung und Inhalt überein.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
die kruse Vorstellung, gerade Die Falken als linksextrem
zu bezeichnen, will ich jetzt hier gar nicht eingehen.
({0})
- Sie mussten noch einmal nachlesen, was Ihnen aufgeschrieben worden ist. Die Falken als linksextrem zu bezeichnen, Herr Kollege, dazu gehört schon etwas. Ich
schlage Ihnen vor: Überprüfen Sie das, bevor Sie solche
Äußerungen hier in diesem Hause wiederholen!
Jedes Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer
ungefähr zur Haushaltsdebattenzeit, unterhalten wir uns
über die Programme zur Förderung von Demokratie und
Toleranz, zur Bekämpfung von Rechtsextremismus oder
von Extremismus allgemein. Das geschieht jedes Jahr
wieder und alle vier Jahre ganz besonders, weil alle vier
Jahre neue Förderrichtlinien auf den Markt geworfen
werden. Zur Überprüfung dieser Richtlinien und zur
Überprüfung der Programme will ich im Moment noch
nicht viel sagen. Aber das, was man bisher trotz aller Geheimhaltung hört, vor allen Dingen die Rückmeldungen,
die man von den Trägern der Programme bekommt, besagen, dass wir in den vergangenen Jahren in diesem Bereich gute Arbeit geleistet haben. Unseren Dank verdient
haben insbesondere die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich hier trotz der Bürokratie, trotz der jedes
Jahr von neuem zu stellenden Anträge und trotz der alle
vier Jahre neuen Richtlinien engagiert haben.
({1})
Ich gebe aber zu, dass es viel zu verbessern gibt.
Auch während der Zeit der Großen Koalition hat sich
nicht immer alles so entwickelt, wie sich die Sozialdemokraten das vorgestellt haben und wie sie es vielleicht
umgesetzt hätten, wenn sie allein regiert hätten.
Weniger Bürokratie brauchen wir unbedingt bei diesen Programmen. Wir brauchen auch so etwas wie einen
Feuerwehrtopf, eine Möglichkeit, um kurzfristig auch
kleinere Projekte zu unterstützen. Das ist bisher nicht
vorgesehen. Ich appelliere an die Bundesregierung, so
etwas auf den Weg zu bringen.
({2})
Generell brauchen wir einfach weniger Projektitis im
Kampf gegen Rechtsextremismus bzw. - um es positiv
zu formulieren - im Kampf für Demokratie und Toleranz. Wir brauchen das als eine stetige Aufgabe, sodass
wir uns nicht jedes Jahr darüber unterhalten müssen, ob
es genügend Mittel und vernünftige Strukturen gibt.
Als wir über Antisemitismus diskutiert haben, haben
wir fraktionsübergreifend beschlossen, dass wir den
Kampf gegen Antisemitismus und damit auch gegen
Rechtsextremismus verstetigen wollen. Leider hat die
Bundesregierung hierzu bis dato noch nichts vorgelegt.
({3})
Am Montag hatte ich ein Treffen mit einigen Vertretern der Vereine und Verbände, die diese Programme betreiben. Monika Lazar war auch dabei. Keiner von ihnen
wusste irgendetwas über die neuen Leitlinien.
({4})
Wir als Parlamentarier haben sowieso vorher nichts erfahren. Damit kann man manchmal schon leben. Wenn
man aber der Auffassung ist, dass Demokratiestärkung
nur durch die Zivilgesellschaft selbst möglich ist, dann
sollte man aber auch die Zivilgesellschaft und die Organisationen bei der Erarbeitung der Richtlinien mit einbinden. Das ist leider nicht passiert, und das ist ganz
scharf zu kritisieren.
({5})
Das spricht insgesamt dafür, dass eine Demokratieoffensive dieser Bundesregierung nicht stattfindet. Man
muss sich nur einmal die Website der Bundesfamilienministerin anschauen. Die Bekämpfung von Rechtsextremismus findet dort nur ganz am Rande statt. Die
Aufgabe muss aber offensiv angegangen werden, Projekte für Demokratie und für Toleranz auf den Weg zu
bringen. Das muss eine Aufgabe nicht nur der Familienministerin, sondern der gesamten Bundesregierung sein.
Ich vermisse jedoch ein Gesamtkonzept der schwarzgelben Koalition.
({6})
Ich appelliere deshalb noch einmal an die Mehrheit in
diesem Hause, insbesondere vor dem Hintergrund der
Haushaltsdebatte, dass sie den Kampf gegen Rechtsextremismus ernst nimmt und diesen vernünftig mit finanziellen Mitteln ausstattet. Ich appelliere an Sie, ein
Konzept vorzulegen, das aufzeigt, wie dieser Kampf gegen Rechtsextremismus verstetigt werden kann. Entwickeln Sie endlich ein Gesamtkonzept und binden Sie die
Zivilgesellschaft dabei ein!
Abschließend zitiere ich aus einem Papier des „Weltoffenen Sachsen“: Gelebte Demokratie ist die beste
Rechtsextremismusbekämpfung. - Fangen wir damit an.
Ich hoffe, Sie sind dabei.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Bernschneider
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie.
Sie ist eine wehrhafte Demokratie, weil die Mütter und
Väter unseres Grundgesetzes richtige und wichtige
Schlüsse aus der jüngsten deutschen Geschichte gezogen
haben, weil sie erkannt haben, dass es wichtig ist, gegen
Verfassungsfeinde nicht erst vorzugehen, wenn sie straffällig werden, sondern bereits vorher.
Deswegen ist es richtig, dass wir an dieser Stelle immer wieder über präventive Ansätze diskutieren. Es ist
aber falsch, diese präventiven Ansätze an Opferzahlen
festzumachen.
({0})
- Der Antrag der Grünen führt sogar bereits in der Einleitung die Opferzahlen auf.
Meine Damen und Herren, wenn es zu Opfern
kommt, dann ist es für präventive Ansätze zu spät. Dann
ist das ein Fall für die Justizbehörden. Eine wehrhafte
Demokratie reagiert früher. Sie reagiert, bevor es zu
Straftaten kommt. Deswegen ist es für eine wehrhafte
Demokratie auch nicht hinnehmbar, dass man sich bei
Facebook mit Heinrich Himmler befreundet sein. Genauso wenig ist es für eine wehrhafte Demokratie akzeptabel, dass Rechtsradikale CDs mit Hassparolen auf
Schulhöfen verteilen.
Meine Damen und Herren, bitte erklären Sie mir aber,
warum es für eine wehrhafte Demokratie in Ordnung ist,
wenn die Antifa Flyer mit der Aufschrift „Frei sein, high
sein, Terror muss dabei sein“ vor Schulen verteilt. Bitte
erklären Sie mir doch einmal, warum eine wehrhafte Demokratie wegschauen sollte bei Überschriften wie „Hassprediger werben um Jugendliche“. Warum soll eine
wehrhafte Demokratie wegschauen, wenn Pierre Vogel
auf YouTube mit einem Berliner Rapper für seine radikalen Glaubenssätze wirbt? Der Antrag der Linkspartei
gibt uns einmal mehr keine Antwort darauf.
({1})
Sie schaffen es einmal mehr, ganze vier Seiten zu füllen, ohne überhaupt einmal das Wort „Linksextremismus“ zu benutzen.
({2})
- Ja, genau. Ich wollte gerade fragen, ob Sie das Wort
„Linksextremismus“ nicht schreiben können. Zumindest wollen Sie es nicht erwähnen.
({3})
- Ja, ich kann Ihnen sagen, warum Sie keine Lust haben,
sich damit auseinanderzusetzen.
({4})
Das würde ja bedeuten, auch einmal das Demokratieverständnis der eigenen Mitglieder genauer unter die Lupe
zu nehmen.
({5})
Die Grünen sind Ihnen da, meine Damen und Herren
von der Linkspartei, jedenfalls einen Schritt voraus. Sie
erkennen in ihrem Antrag an, dass man „jeder Form von
Menschenfeindlichkeit und ideologisch motivierter Gewalt“ entgegentreten muss. Aber welche Schlüsse ziehen
Sie daraus? In der Begründung ihres Antrags heißt es:
Eine „Ausdehnung der Programmmittel auf den Kampf
gegen ‚Linksextremismus‘ und ‚Islamismus‘“ wäre „inhaltlich falsch“ und würde die Gefahr befördern, „dass
mittelfristig die Mittel für den Kampf gegen“ Rechtsextremismus „gekürzt werden“. Meine Damen und Herren, was soll uns das sagen? Handelt es sich bei den Grünen um Extremismusprävention nach Kassenlage?
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie beruhigen
- entsprechende Vorwürfe werden uns ja immer vorgehalten -: Diese Bundesregierung hat nicht vor, die Mittel
im Bereich Extremismusprävention zu kürzen.
({6})
Wir erweitern den Blick auf extremistische Gefahren
- das stimmt -, aber wir erhöhen auch die Mittel, die wir
dafür brauchen.
({7})
Deswegen wird der Titelansatz auch von 19 auf 29 Millionen Euro erhöht, um mehr als 50 Prozent. Man kann
uns also nicht vorwerfen, weder den Kolleginnen und
Kollegen von der Unionsfraktion noch uns, dass wir die
von Rechtsextremismus ausgehende Gefahr nicht ernst
nehmen. Wir erweitern jedoch den Blickwinkel. Ich
würde mir die gleiche Ernsthaftigkeit auch bei Ihnen
wünschen, wenn es um andere Gefahren als Rechtsextremismus geht.
({8})
Die Grünen kritisieren dann in ihrem Antrag außerdem unser Verständnis von Extremismusbekämpfung
und überhaupt den Begriff des Extremismus. Das überrascht mich, weil es eine lange Rechtsprechungstradition
des Bundesverfassungsgerichts gibt, auf die wir zurückgreifen können, um zu verdeutlichen, was unter Rechtsextremismus zu verstehen ist und was eine verfassungsfeindliche Gruppe ist.
({9})
Daran hat sich seit Rot-Grün nichts geändert. Es wurde
auch keine neue Definition von Extremismus aufgestellt,
seitdem die Regierung gewechselt hat.
Aber natürlich - darin sind wir uns ja einig und darüber brauchen wir nicht zu streiten - kann man nicht
mit den gleichen Mitteln Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus bekämpfen. Das hat diese
Bundesregierung aber auch gar nicht vor. Wir setzen
noch wesentlich früher an. Wir wollen schon an dem
Punkt ansetzen, wo sich Jugendliche noch gar nicht im
Umfeld einer extremistischen Bewegung befinden. Bei
Prävention geht es nicht nur darum, gegen etwas zu mobilisieren, sondern vor allem darum, für etwas zu begeistern: für Demokratie, für Vielfalt, für Toleranz. Wir
glauben, wenn jemand dieses Rüstzeug mit sich trägt
- Demokratie, Vielfalt und Toleranz -, dann ist er immun gegen jede Form von Extremismus und erkennt in
jeder Form von Extremismus das Falsche. Deswegen
setzen wir mit unserem Programm auch genau hier an
und erweitern den Blick. Das ist der richtige Weg.
Ich würde mich freuen, wenn Sie endlich aufhörten,
einen verengten Blick auf die Thematik zu richten, und
uns dabei unterstützten, etwas Vernünftiges in diesem
Bereich zu erreichen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die
Linke meint, dass die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus und für Demokratie seit vielen Jahren eine
wichtige und unverzichtbare Arbeit in den Ländern und
Kommunen leisten. Die intensive Auseinandersetzung
mit Nazistrukturen hat Früchte getragen. Das muss man
ganz klar sagen. Wir messen das vor allem daran, dass es
gelungen ist, Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus zu einem öffentlichen Thema zu machen, um
Aufmerksamkeit und Gegenwehr mobilisieren zu können.
Doch die Träger dieser unbestreitbar sinnvollen Projekte müssen sich seit Jahr und Tag gegen Beschränkungsversuche und Bevormundung wehren. Sie müssen
teilweise jedes Jahr aufs Neue, wie wir schon gehört haben, um ihre Existenz bangen. Deshalb hat die Linke einen eigenen Antrag vorgelegt. Wir wollen erreichen,
dass die Bundesprogramme langfristig abgesichert werden und ihre Ausweitung auch nach Westdeutschland
möglich ist, ohne andere bestehende Programme finanziell einzuschränken. Meine Damen und Herren, wir
meinen, der Kampf gegen Neofaschismus muss uns das
wert sein.
({0})
Herr Pols, ein Problem, auf das Sie in diesem Zusammenhang aufmerksam gemacht haben, stellt sich auf
kommunaler Ebene häufig genau andersherum dar, als
Sie es hier dargestellt haben. Es ist der Versuch, die realen Naziprobleme zu verschweigen oder zu verharmlosen. Das gibt es immer wieder. Bloß nicht den Finger
in die Wunde legen, bloß nicht zugeben, dass es in unserer Gemeinde Nazis gibt, ist das Motto leider allzu vieler Kommunen und Verwaltungen.
Die Programme haben hier den Druck wesentlich erhöht. Mit dem Ignorieren oder stillschweigenden Tolerieren von Angriffen auf Migranten, Obdachlose oder
auf Antifaschisten muss endlich Schluss gemacht werden. Sie haben für Aufmerksamkeit gesorgt, wenn es
rassistische Vorfälle gab, beispielsweise in Fußballstadien, aber auch, wenn es um Nazischmierereien ging.
Umso unverständlicher ist es für uns, dass vor allem
in der Unionsfraktion ständig blockiert und gebremst
wird. Sie versuchen schon seit Jahren, die Programme an
die politische Kandare zu nehmen und sie wieder verstärkt unter Verwaltungsbürokratie zu bringen. In diesem
Zusammenhang nenne ich in der Tat noch einmal Ihre
Versuche, die Projekte verfassungsschutzmäßig in die
Regelanfrage hineinzunehmen, oder dass, wie kürzlich
geschehen, die Ministerin eine Kampagne gegen a.i.d.a.
macht, gegen ein Zentrum in München, das Antifa-Dokumentationen archiviert. Jetzt hat das oberste Gericht
entschieden, dass es aus dem Verfassungsschutzbericht
herausgenommen werden muss. Ich halte es für einen
Skandal, Projekte immer wieder als linksextremistisch
zu verdächtigen.
({1})
Ausschlaggebend dafür ist die Kalter-Krieg-Mentalität, die in der Union immer noch Misstrauen gegen Antifaschismus hervorbringt. Da kann ich nur sagen: Für die
Fraktion Die Linke ist Antifaschismus kein Ausdruck einer besonderen linksradikalen Gesinnung, sondern
schlichtweg eine demokratische Selbstverständlichkeit.
({2})
Deswegen fordern wir auch: Die Bundesprogramme sollen nicht länger Modellprojekte sein, sondern dauerhaft
gefördert werden. Dafür brauchen Sie mehr Geld. Das
gilt auch für die zahlreichen lokalen Aktionspläne. Es
darf nicht sein, dass sinnvolle Projekte dort, wo sie nötig
wären, aus Geldmangel ausfallen müssen oder nur auf
Kosten anderer Projekte stattfinden können. Zudem
müssen auch im Westen unbedingt Beratungsstellen für
die Opfer rassistischer und rechtsextremistischer Angriffe aufgebaut werden. Jeder Versuch, den Kampf gegen Neonazismus zu verwässern, ist verantwortungslos.
Das sage ich vor allem auch mit Blick auf die Bundesregierung, die ohne jedes Konzept - Herr Bernschneider,
Sie haben es eben angesprochen - eine Extremismusdebatte anzettelt. Sie ist noch nicht einmal in der Lage,
uns eine klare Auskunft darüber zu geben, was eigentlich das Problem des Linksextremismus ist.
({3})
- Schauen Sie sich die vielen Kleinen Anfragen an. Die
Bundesregierung ist nicht in der Lage, dies auch nur annähernd zu beschreiben. Dennoch wirft sie für diese Projekte Millionen aus dem Fenster. Ich will nur daran erinnern, dass im letzten Haushaltsjahr 2 Millionen Euro
veranschlagt wurden und Sie nicht wussten, wo Sie das
Geld unterbringen konnten. Setzen Sie es für den Kampf
gegen Rechtsextremismus ein; da ist es auf jeden Fall
sinnvoller eingesetzt als bei dem, was Sie im Moment in
Ihrer Konzeption vorlegen.
Ich will noch einmal verdeutlichen, wie Ihre Debatte
gegenwärtig geführt wird. Unserer Meinung nach gibt es
keine Rechtfertigung dafür, Krawalle am 1. Mai mit dem
beinahe schon systematischen Terror der Neonazis
gleichzusetzen. Das tun Sie hier ständig.
({4})
Damit verharmlosen Sie im Grunde genommen den
Rechtsextremismus und ermutigen ihn meines Erachtens
auch. Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen, dass
dies auch eine Verhöhnung der 137 Menschen ist, die
seit 1990 durch Nazis ums Leben gekommen sind, wie
die Zeit und der Tagesspiegel erneut recherchiert haben.
Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss!
Die Linke fordert seit vielen Jahren eine unabhängige
Beobachtungsstelle. Sie ist hier auch schon einmal beschlossen worden. Unabhängiges Beobachten ist nötig,
um eine genaue Analyse über Rechtsextremismus und
Antisemitismus zu bekommen. Wir wünschen uns, dass
der Bundestag das endlich umsetzt.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Tauber von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es
darf kein Zweifel daran bestehen, dass im Kampf gegen
den Rechtsextremismus alle demokratischen Fraktionen
dieses Hauses Seite an Seite stehen sollten. Es darf auch
keinen Zweifel daran geben, dass Bildung und Aufklärung die effektiven Instrumente gegen braune Rattenfänger sein müssen und sein können.
({0})
Deswegen haben wir trotz unseres Sparhaushaltes die
Mittel für den Kampf gegen den Rechtsextremismus
nicht gekürzt.
({1})
Das muss man an dieser Stelle sagen.
Wir erwarten von denjenigen, die sich in diesem Feld
engagieren, natürlich auch, dass sie ein ganz klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung
und zum Grundgesetz abgeben. Wer das nicht kann, ist
ungeeignet, junge Menschen über die Gefahren des
Rechtsextremismus oder des Extremismus im Allgemeinen aufzuklären. Auch daran darf es aus meiner Sicht
keinen Zweifel geben.
({2})
Es geht noch um ein anderes Prinzip; denn es geht
nicht allein um die Aufklärung über die Gefahren einer
dumpfen Ideologie. Es geht auch darum, deutlich zu machen, dass wir nicht bereit sind, zu tolerieren, dass in
diesem Land extremistische Gruppen ihre Partikularinteressen mit Gewalt gegen Sachen und Personen auf der
Straße und an anderen Orten durchsetzen. Auch das
muss man klar sagen. Den Opfern ist es vollkommen
egal, ob sie von einem politischen Radikalinski, von einem Islamisten, von einem militanten Tierschützer oder
von einem gewaltbereiten Fußballfan geschlagen, getreten und verletzt werden. Wir müssen daher das Thema
Extremismus in seiner Gesamtheit betrachten. Eine Verengung auf den Rechtsextremismus ist falsch und führt
in die Irre.
({3})
Die klare Aussage, dass jede Form von Extremismus
Mist ist, muss aus meiner Sicht jeder Abgeordnete des
Deutschen Bundestages unterschreiben können. In Ihrem Antrag gibt es sehr viele Sätze, die ich sofort unterschreiben würde. Aber wenn Sie darin mit Blick auf den
Antisemitismus Ihre Perspektive - das ist das Bedauerliche - eindimensional verengen,
({4})
dann ist das leider der falsche Weg.
Ich möchte gerne Charlotte Knobloch zitieren, die gesagt hat:
Diese Bundesrepublik ist für uns Juden wieder eine
Heimat geworden, wir sind fester Bestandteil der
deutschen Gesellschaft.
Dieser Satz muss uns alle stolz machen.
({5})
Nachdenklich müssen wir aber angesichts der Tatsache werden, dass 5,4 Prozent der Jugendlichen in diesem
Land latent antisemitisches Gedankengut pflegen. Noch
nachdenklicher müssen wir angesichts der Tatsache werden, dass dieser Anteil bei Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund bei über 15 Prozent liegt.
({6})
Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden hat deswegen gesagt: Die Gewaltbereitschaft im muslimischen
Lager ist vergleichbar mit der im rechtsextremen Lager.
- Das wird auch der Verfassungsschutz bestätigen. Aber
diese Tatsache negieren Sie in Ihren Diskussionsbeiträgen permanent.
({7})
Das ist sehr bedauerlich.
Es muss uns alle sehr nachdenklich stimmen, dass wir
es bisher nicht geschafft haben, diesen jungen Leuten zu
erklären, dass jeder Deutsche eine besondere Verantwortung gegenüber Israel und gegenüber Menschen jüdischen Glaubens hat.
({8})
Es gehört zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, für das Existenzrecht Israels einzutreten und die
Freundschaft zum jüdischen Volk immer wieder zu betonen. Cem Özdemir hat es übrigens selbst gesagt. Diese
Position fehlt leider in dieser Klarheit in Ihrem Antrag.
({9})
Ich komme zum nächsten Punkt. Wir dürfen beim
Thema Antisemitismus nicht nur auf den Rechtsextremismus und den Islamismus schauen. Der Bundestag hat
mit großer Mehrheit beschlossen: Wer an Demonstrationen teilnimmt, auf denen Israel-Fahnen verbrannt werden und antisemitische Parolen gerufen werden, ist kein
Partner im Kampf gegen den Antisemitismus.
Mitglieder Ihrer Fraktion, meine Kollegen von der
linken Seite, haben in der Vergangenheit immer wieder
an Demonstrationen teilgenommen, bei denen Parolen
wie „Tod Israel“ gerufen wurden und bei denen IsraelDr. Peter Tauber
fahnen verbrannt wurden. Deswegen sind Sie für mich
kein Partner im Kampf gegen den Antisemitismus. Das
sage ich an dieser Stelle ganz deutlich.
({10})
- Das ist keine Lüge. Sie können es an verschiedenen
Stellen nachlesen: Neun Abgeordnete Ihrer Fraktion hatten gar kein Problem, an solchen Demonstrationen teilzunehmen.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung einen
positiven Ansatz wählt, um junge Menschen für Demokratie zu begeistern, um sie zu überzeugen, dass die Art,
wie wir unser Gemeinwesen organisieren, die beste ist.
Alle, die daran mitwirken wollen, sind herzlich eingeladen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Fograscher
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Demokratiestärkung, die Auseinandersetzung mit rassistischen, antisemitischen und menschenfeindlichen Einstellungen, war und bleibt eine Daueraufgabe jeder Bundesregierung und auch des Bundestages. Hier vermissen
wir Impulse und Engagement dieser Bundesregierung.
Stichwort Antisemitismus. Im Vorfeld des 9. November will ich daran erinnern, dass vor zwei Jahren alle
Fraktionen gemeinsam hier im Bundestag einen Antrag
zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Stärkung
jüdischen Lebens in Deutschland verabschiedet haben.
Aber wie sieht es mit der Umsetzung aus? Was ist aus
dem Expertengremium geworden? Wie ist es besetzt?
Welche Themen und Aufgaben bearbeitet es? Wann erhält der Bundestag einen Bericht darüber?
({0})
Ich will auf die Bundesprogramme eingehen. Seit
dem Jahr 2000 finanziert der Bund Programme zur Stärkung der Zivilgesellschaft, zunächst Entimon und Civitas,
jetzt „Vielfalt tut gut“. Aus diesen Programmen haben
sich viele wirksame Projekte und Ansätze entwickelt. Es
sind Strukturen entstanden, die es nachhaltig zu sichern
gilt, so die Beratungsstellen für Opfer politisch motivierter Gewalt oder die Landeskoordinierungsstellen und die
lokalen Aktionspläne als Anlaufstelle für Initiativen und
Kommunen sowie als Netzwerk zum Austausch von
Ideen und nachahmungswerten Aktivitäten. Allerdings
begleitet uns hier seit zehn Jahren das Problem, eine
nachhaltige Finanzierung zu gewährleisten.
({1})
Deshalb müssen wir uns in den Beratungen ernsthaft um
Lösungen bemühen.
({2})
Schwerpunkt der Programme des Familienministeriums
war immer die Förderung von Demokratie und Toleranz
sowie die Information und Aufklärung über Rechtsextremismus, über die Ideologie, Erscheinungsformen und
Gegenstrategien. Sie wünschen eine Ausdehnung der
Programme auf andere Erscheinungsformen des Extremismus; aber Sie sind uns bis heute Strategien und Konzepte für die Auseinandersetzung mit Linksextremismus
und islamistischem Extremismus schuldig geblieben.
({3})
Das Bündnis für Demokratie und Toleranz, initiiert
von Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium, zeichnet jedes Jahr im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ Projekte aus, die sich für Demokratie und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt
engagieren. Viele Menschen in unserem Land engagieren sich hier, freiwillig, ehrenamtlich, mit Fantasie und
Ideenreichtum. Dafür sind wir dankbar. Die Anerkennung in Form des Preises und der öffentlichen Würdigung ist für viele ein Ansporn.
Sie versuchen nun jedoch seit Monaten, dem Bündnis
die Aufgabe zuzuschieben, sich auch mit Linksextremismus zu befassen. Mit den Instrumenten, die dem Bündnis zur Verfügung stehen, geht das aber nicht. Es gibt
eben keine zivilgesellschaftlichen Projekte, die sich dieser Aufgabe stellen können und wollen. Wir werden
ernsthaft über die politischen Vorgaben und die Ausrichtung des Bündnisses reden müssen. Auch die Personalpolitik in der Geschäftsstelle muss ein Thema sein.
({4})
Die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus verstellt die Sicht darauf, dass es für die unterschiedlichen Phänomene unterschiedliche Herangehensweisen und Konzepte zur Lösung geben muss. Das starre
Links-Rechts-Denken führt zu falschen Entscheidungen.
Ein Beispiel dafür: Die Antifaschistische Informations-,
Dokumentations- und Archivstelle e. V., a.i.d.a., wurde
vom bayerischen Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft.
Am Donnerstag letzter Woche hat der Bayerische
Verwaltungsgerichtshof in zweiter Instanz entschieden,
dass der Verfassungsschutzbericht „ein auch nicht ansatzweise durch tatsächliche Anhaltspunkte nachvollziehbar belegtes Negativurteil“ über a.i.d.a. enthält; entsprechende Stellen im Bericht seien zu schwärzen oder
zu streichen.
Extremismus, insbesondere Rechtsextremismus, ist
kein Phänomen an den Rändern der Gesellschaft. Studien belegen, dass es in der Mitte der Gesellschaft rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen gibt. Es ist kein Jugendproblem. Deshalb müssen
wir über die Ausrichtung von Folgeprogrammen im
Bundesfamilienministerium und im Bundesinnenministerium diskutieren.
Es ist kein ostdeutsches Problem. Ich begrüße, dass
der Bundesinnenminister das Bundesprogramm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ initiiert hat. Dafür sind
18 Millionen Euro für drei Jahre vorgesehen. Dieses
Programm soll Projekte für demokratische Teilhabe und
gegen Extremismus in Ostdeutschland fördern. Extremistische Bestrebungen sind kein Problem allein der
neuen Bundesländer; sie sind ein gesamtdeutsches Problem. Im ersten Halbjahr 2010 gab es, so die Auskunft
der Bundesregierung, insgesamt 36 überregionale Veranstaltungen und Aufmärsche von Rechtsextremisten. Davon fanden 19 in den sogenannten alten Bundesländern
statt.
Wer Demokratieförderung ernst nimmt, darf die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung nicht
kürzen. Er muss plebiszitäre Elemente auch auf Bundesebene einführen. Er darf Kommunen und Bundesländer
nicht finanziell ausbluten lassen, sodass sie ihre Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können. Er muss Projekte,
Initiativen und Strukturen nachhaltig finanzieren. Er
muss Menschen, die sich engagieren, unterstützen und
ermuntern, statt sie vom Verfassungsschutz überprüfen
zu lassen.
({5})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Fograscher.
In diesem Sinne wünsche ich uns ernsthafte und zielführende Beratungen in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Ewa Klamt von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin fest davon überzeugt, dass es in diesem Haus den
parteiübergreifenden Konsens gab und gibt, gegen jede
Form von Rechtsextremismus vorzugehen. Ebenso bin
ich jedoch der Überzeugung, dass das nicht dazu führen
darf - diesen Satz richte ich besonders an die Kolleginnen und Kollegen der Linken -, dass andere Formen von
Extremismus in unserem Land völlig ausgeblendet werden.
Richtigerweise verweisen die Grünen in ihrem Antrag
auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters von diesem Jahr, in dem dieser feststellt, dass das Rassismusverständnis in Deutschland zu eng auf rechtsextremistische Handlungen beschränkt ist. So richtig es ist, dass
wir gegen Rassismus, Antisemitismus, menschenfeindliche Haltungen und Rechtsextremismus vorgehen, so
wichtig ist es, Islamismus und Linksextremismus in unserem Land Einhalt zu gebieten.
({0})
Aus meiner Sicht ist das eine Selbstverständlichkeit für
jeden, der sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlt und
im Deutschen Bundestag unser Volk vertritt.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ignorieren außerdem mit etlichen Ihrer Forderungen die Zuständigkeitsverteilung gemäß Grundgesetz. So kann der Bund
in den Themenfeldern Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nur im Rahmen seiner
Anregungsfunktion tätig werden. Das haben wir bisher
getan. Wir haben viel Anerkennung dafür erfahren, und
wir werden es auch weiterhin tun.
Demokratiestärkung als Daueraufgabe des Bundes
und eine entsprechende Dauerförderung sind nicht zulässig.
({1})
Entsprechend müsste Ihnen bekannt sein, dass eine auf
Dauer angelegte Förderung von Kleinstprojekten vor Ort
nicht möglich ist; denn hierfür sind gemäß der Kompetenzverteilung die Kommunen und Länder zuständig.
({2})
Sie blenden außerdem bereits bestehende präventivpädagogische Programme des Bundes aus, zum Beispiel
die Förderung der politischen Bildung im Rahmen des
Kinder- und Jugendplans. Gerade bei jungen Menschen
gilt es anzusetzen. Ihr demokratisches Bewusstsein gilt
es zu stärken, und ihre politische Partizipation gilt es zu
fördern.
Ich halte darum die Annahme für zu kurz gegriffen,
dass unsere Verantwortung sich ausschließlich auf die
Bekämpfung des Rechtsextremismus beziehen soll, wie
dies die Linke in ihrem Antrag fordert.
({3})
Ich erinnere Sie deshalb an die unter anderem vom Deutschen Gewerkschaftsbund veranstaltete Demonstration
am 12. Juni dieses Jahres in Berlin, in der Ihre Kollegin
Gesine Lötzsch zum Kampf für ein gerechtes Land aufgerufen hatte. Dieser „Kampf“ endete mit 14 verletzten
Polizisten - zwei davon wurden schwer verletzt -, die
Opfer einer Splitterbombe wurden.
({4})
- Er hat zu der Demonstration aufgerufen.
({5})
Ich erinnere nur an das, was wir hier besprechen. Dass
dieser Anschlag aus dem linksextremistischen Lager
kam, steht außer Frage.
Sosehr ich befürworte, dass die bisher erfolgreichen
Programme gegen Rechtsextremismus fortgeführt werden, so klar plädiere ich dafür, dass wir gegen alle Formen von Extremismus vorgehen; denn alle Extremisten
haben eines gemeinsam: Sie lehnen unsere freiheitliche
Grundordnung ab.
Zur Erfüllung unserer Aufgabe, zur Stärkung der Demokratie, stehen insgesamt 29 Millionen Euro pro Jahr
für die Programme zur Verfügung. Das sind 5 Millionen Euro mehr als im letzten Haushaltsjahr.
Der Handlungsbedarf gegen Rechtsextremismus ist
nach wie vor groß. Das belegen die aktuellen Zahlen des
Verfassungsschutzes. In dieser Woche wurde aber auch
bekannt gegeben, dass Deutschland weiterhin im Fokus
islamistischer Gruppierungen liegt. Das islamistische
Potenzial ist im vergangenen Jahr erneut angestiegen:
Inzwischen gibt es 36 270 Mitglieder.
Genauso besorgniserregend ist die Zunahme der Gewalt in der linksextremistischen Szene um 59 Prozent.
Ich erinnere daran, dass der Präsident des Bundesamtes
für Verfassungsschutz nach dem Bombenanschlag auf
Polizisten in Berlin einen signifikanten Anstieg militanter linksextremer Gewalt konstatierte. Ebenso zeigte sich
der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei sehr besorgt darüber, dass es - ich zitiere - „bis in linksliberale bürgerliche Kreise hinein die
Tendenz“ gebe, „linke Gewalt zu verharmlosen“.
Lassen Sie uns deshalb mit den Programmen, die von
dieser Bundesregierung angeschoben werden, gemeinsam für unsere freiheitliche Demokratie eintreten,
({6})
für eine Demokratie, die sich gegen jede Form von Gewalt wendet, die keine Form von Gewalt verharmlost
und weder auf dem linken noch auf dem rechten Auge
blind ist.
Ich danke Ihnen.
({7})
Die letzte Rede des heutigen Tages war gleichzeitig
die erste Rede der Kollegin Klamt in diesem Hause. Ich
gratuliere Ihnen dazu im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2482 und 17/3045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Oktober 2010, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.