Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einige amtliche Mitteilungen zu machen.
Als Nachfolgerin der im Sommer ausgeschiedenen
Abgeordneten Dr. Angelica Schwall-Düren begrüße ich
die Kollegin Kerstin Griese wieder herzlich im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich brauche Ihnen zu den Arbeitsmöglichkeiten und Bedingungen hier nichts wirklich Neues mit auf den Weg
zu geben. Wir freuen uns, dass Sie wieder da sind. Auf
eine weiterhin gute Zusammenarbeit!
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der
Kollege Dirk Fischer aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet.
({1})
Dies nimmt das Plenum des Deutschen Bundestages mit
erkennbarem Bedauern zur Kenntnis. Als Nachfolger
wird der Kollege Thomas Jarzombek vorgeschlagen,
({2})
den offenkundig große Erwartungen in dieses neue Amt
begleiten. Neues stellvertretendes Mitglied für die aus
dem Bundestag ausgeschiedene Abgeordnete Astrid
Grotelüschen soll der Kollege Hans-Werner Kammer
werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen
Jarzombek und Kammer in den Beirat gewählt.
Die nächsten Nachbesetzungen betreffen den Beirat
der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr. Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll
der Kollege Josef Rief Nachfolger der aus dem Bundestag ausgeschiedenen Kollegin Lucia Puttrich werden.
Auf Vorschlag der Fraktion der SPD soll der Kollege
Heinz Paula für die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß
nachrücken. Könnten Sie sich auch mit diesen Vorschlägen einverstanden erklären? - Das sieht so aus. Dann
stelle ich hiermit fest, dass der Kollege Rief und der Kollege Heinz Paula in den Beirat der Schlichtungsstelle für
den öffentlichen Personenverkehr gewählt sind.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Einsprüche gemäß § 39 der Geschäftsordnung der Abgeordneten Herbert Behrens,
Heidrun Dittrich, Annette Groth, Heike
Hänsel, Inge Höger und Michael Schlecht gegen den am 17. September 2010 erfolgten Sitzungsausschluss
({3})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Einen fairen Interessensausgleich zwischen
Beschäftigten und Arbeitsuchenden mit bedarfsgerechten Regelsätzen schaffen
ZP 3 Vereinbarte Debatte
20 Jahre deutsche Einheit
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene statt Experimenten
- Drucksachen 17/2921, 17/3081 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Markus Kurth, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Leistungskürzungen bei den Unterkunftskosten im Arbeitslosengeld II verhindern - Vermittlungsverfahren mit den Ländern unverzüglich aufnehmen
- Drucksache 17/3058 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 30
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entflechtungsinstrument ins Wettbewerbsrecht einfügen
- Drucksache 17/3062 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Technikfolgenabschätzung im Bundestag und
in der Gesellschaft stärken
- Drucksache 17/3063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Technikfolgenabschätzung ({8})
Technikfolgenabschätzung beim Deutschen
Bundestag - Eine Bilanz
- Drucksache 17/3010 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zu Milliardengarantien und Millionenboni bei der HRE
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Steinkohlevereinbarung gilt
- Drucksache 17/3043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für einen geordneten und sozialverträglichen
Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau
- Drucksache 17/3044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Finanzausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energie 2050 - Sicher erneuerbar
- Drucksache 17/3061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({13}), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines
Gesetzgebungsverfahrens zur Verlängerung
der Laufzeiten von Atomkraftwerken
- Drucksache 17/3083 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Rechtsausschuss ({15})
Federführung strittig
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 12 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Energiekonzept für eine umweltschonende,
zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung
und
10-Punkte-Sofortprogramm - Monitoring und
Zwischenbericht der Bundesregierung
- Drucksache 17/3049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen zur Tagesordnung: Der Tagesordnungspunkt 5 - Jahresbericht
der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit wird abgesetzt. Stattdessen soll das Thema jetzt gleich anschließend im Rahmen einer Vereinbarten Debatte beraten
werden. Der ursprünglich an dieser Stelle vorgesehene
Tagesordnungspunkt 3 - Finanzierung des Gesundheitswesens - wird nach der heutigen Aktuellen Stunde aufgerufen. Außerdem muss der Tagesordnungspunkt 12 c abgesetzt werden.
Schließlich mache ich auf eine geänderte Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 59. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({17}) zur Mitberatung
überwiesen werden. Die Überweisung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({18})
zur Mitberatung soll entfallen.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Regelungen über Teilzeit-Wohnrechteverträge, Verträge über langfristige
Urlaubsprodukte sowie Vermittlungsverträge
und Tauschsystemverträge
- Drucksache 17/2764 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({19})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, möchte ich
Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({20})
Am 18. September 2010 verstarb im Alter von
80 Jahren unser ehemaliger Kollege Dr. Egon Alfred
Klepsch. Er war der erste deutsche Präsident des Europäischen Parlaments. Der 1930 im Sudetenland geborene Egon Klepsch zog 1965 als direkt gewählter Abgeordneter für Koblenz in den Deutschen Bundestag ein,
dem er 15 Jahre, bis 1980, angehörte. 1973 nahm er neben seinem Bundestagsmandat erstmals auch ein Mandat
im Europäischen Parlament an, dessen Entwicklung von
einer beratenden Versammlung von Mitgliedern nationaler Volksvertretungen zu einem direkt gewählten Parlament er mit großem Engagement betrieb und dessen Präsident er von 1992 bis 1994 war.
Europa war sein Thema. Die europäische Idee hat ihn
fasziniert. Für ihre Umsetzung in politische Wirklichkeit
hat er Beachtliches geleistet. Egon Klepsch erzählte bisweilen, 1973 habe niemand verstanden, warum er ins
Europäische Parlament wollte. Dass diese Frage heute,
nach dem Lissabon-Vertrag, niemand mehr stellen
würde, ist nicht zuletzt auch ein später Erfolg für Egon
Klepsch und seine Beharrlichkeit.
Der Deutsche Bundestag trauert mit seiner Familie
und drückt ihr sein tiefempfundenes Mitgefühl aus. Wir
werden Egon Klepsch nicht vergessen.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
20 Jahre deutsche Einheit
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt,
Dr. Wolfgang Böhmer.
({21})
Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident ({22}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie haben aus aktuellem Anlass eine Debatte
zum Thema „20 Jahre Deutsche Einheit“ vereinbart,
ohne, wie ich eben erfahren habe, heute schon den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2010 diskutieren zu wollen. Dafür bin ich
ausgesprochen dankbar; denn ich habe ihn erst vor fünf
Minuten bekommen und konnte ihn natürlich noch nicht
lesen.
({23})
Auch 20 Jahre nach der von uns damals wie ein Wunder erlebten Wiedervereinigung Deutschlands gibt es
immer noch einiges, was zu debattieren ist; denn wir
wissen heute besser als damals, was das Zusammenführen zweier so grundsätzlich anders strukturierter Teilstaaten innerhalb eines Landes auch an Langzeitfolgen
bedeutet. Es war gut, dass wir damals noch nicht alles
wussten, und es war hilfreich, dass es einen Druck aus
jenem Bevölkerungsteil gab, der sich zur Freiheit selbst
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({24})
befreit hatte. Wir wollten die Freiheit - wir bekennen
uns auch heute noch dazu -, ohne dass wir damals freilich wissen konnten, welche Konsequenzen damit kurzfristig und langfristig verbunden sein würden.
Mit den Schwierigkeiten der Umwandlung einer
abgeschirmten sozialistischen Planwirtschaft in eine
weltoffene privatwirtschaftlich organisierte Wettbewerbswirtschaft haben wir in den 20 Jahren viele Erfahrungen gesammelt, sowohl mit Erfolgen als auch mit
Misserfolgen. Die damalige Illusion vom Reichtum
durch den Verkauf von sogenanntem Volkseigentum verschwand in einem riesigen Finanzierungsdefizit, hervorgerufen durch die notwendige ökologische Sanierung
und die notwendige technologische Modernisierung.
Die notwendige Wettbewerbsfähigkeit konnte nur
durch interne Rationalisierung und den massiven Abbau
von Arbeitsplätzen erreicht werden. Fast drei Viertel der
Arbeitnehmer in der ehemaligen DDR haben ihren Arbeitsplatz wechseln müssen. Etwa ein Drittel hat ihn
ganz verloren. Wer nicht bald einen neuen fand, der
fühlte sich enttäuscht von der Freiheit, für die er selbst
mitgekämpft hatte. So kam es über die Jahre hinweg zu
einer wechselnden Gemengelage von subjektiven Bewertungen, die durchaus mit den objektiven Daten der
wirtschaftlichen Entwicklung korrelierten.
Die statistischen Ämter des Bundes und der Länder
haben vor wenigen Tagen eine vom Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz zusammengestellte Datensammlung herausgegeben, die die Entwicklung ausgewählter Parameter in Deutschland zwischen 1991 und
2009 sehr übersichtlich zusammenfasst, weshalb ich nur
darauf verweisen und Ihnen hier möglichst viele Zahlen
ersparen möchte. So ist die Wirtschaftsleistung je Einwohner in den neuen Bundesländern seit 1991 um rund
100 Prozent gestiegen. Sie entspricht aber noch nicht
dem Niveau in den westlichen Bundesländern, weil die
Dichte der industriellen Arbeitsplätze noch deutlich
niedriger ist.
Die politische Bewertung solcher Vergleichszahlen
hängt regelmäßig von den Vergleichsparametern und
- das wissen Sie besser als ich - von der parteipolitischen Perspektive ab. Im Vergleich zu den ehemaligen
sozialistischen Bruderländern östlich von uns haben wir
ein hervorragendes Niveau erreicht.
({25})
Im Vergleich zu den westdeutschen Bundesländern haben wir noch nicht die Durchschnittswerte erreicht. Diejenigen, die schon vor 20 Jahren gegen die Wiedervereinigung gestimmt haben, erklären das heute zu einer
Katastrophe. Aber diejenigen, die sich auch heute noch
über das Wunder der Wiedervereinigung freuen, lassen
sich dadurch nicht entmutigen.
({26})
Dabei übersehe ich nicht, dass es Probleme gibt, die
uns noch längere Zeit begleiten werden. Eine große Zahl
unterbrochener Erwerbsbiografien, eine große Zahl von
Langzeitarbeitslosen, das führt natürlich auch dazu, dass
eine große Zahl von Rentnern minimalste Renten bekommen werden. Das Problem der Altersarmut sehen
wir durchaus auch. Diese Personen werden dann grundsicherungsbedürftig sein. Die Gewährung der Grundsicherung wird - auch wenn der Bund zurzeit 13 Prozent
dazuzahlt - von den östlichen Kommunen verlangt werden, die heute nur etwa 51 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen der westlichen Gemeinden haben. Das alles
sind Probleme, die wir nicht vor uns selbst verstecken
und von denen wir wissen, dass sie zukünftig gelöst werden müssen.
In dem schwierigen Übergang der Rentensysteme gibt
es Probleme, doch ich bin mir ganz sicher, dass der Gesetzgeber, als er Mitte der 90er-Jahre die entsprechenden
Beschlüsse gefasst hat, diese Probleme so nicht gewollt
hat.
({27})
Es gibt Stichtagsunstimmigkeiten, die zu Problemen geführt haben, über die durchaus noch diskutiert wird und
die uns noch beschäftigen werden. Es ist deshalb notwendig, zu sagen, dass noch mehr als nur einiges zu tun
übrig geblieben ist.
Die Eigenfinanzierungsquote der Haushalte in den
neuen Bundesländern liegt knapp über 50 Prozent. Wir
sind dankbar für die riesigen finanziellen Hilfen, die wir
bekommen haben und die wir leider immer noch brauchen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass sie in der Öffentlichkeit zunehmend als lästig empfunden werden. Auch
wir möchten einen Zustand erreichen, in dem wir nicht
mehr hilfsbedürftig sind, und dies möglichst nicht nur
durch den normalen Finanzausgleich, sondern durch eigene Leistung. Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn
wir nur nachmachen, was andere vor uns schon bis zur
Marktsättigung gemacht haben. Wer in uns einmal nicht
nur Hilfsempfänger sehen möchte, sollte uns die Chance
einräumen, auch in den neuen Ländern Forschungs- und
Entwicklungskapazitäten aufzubauen, um selbst wettbewerbsfähig zu werden.
({28})
Auch dabei gilt die Maxime, dass wir die Teilung nur
durch Teilen überwinden können. Was an Wirtschaftsförderung für private Unternehmen noch möglich ist,
sollten wir auf diese Zielstellung konzentrieren. Die sehr
schmale, mit öffentlichen Mitteln ausgehaltene Innovationslandschaft in Ostdeutschland ist völlig anders geprägt als in Westdeutschland und aus eigener Wirtschaftskraft noch nicht lebensfähig. Wir müssen deshalb
gemeinsam nach neuen Wegen und Methoden der innovationspolitischen Förderung suchen und dies ohne Argwohn untereinander zulassen.
Viele Nebenwirkungen dieses globalen Transformationsprozesses und die noch immer bestehende negative
Wanderungsbilanz der neuen Bundesländer konnten nur
durch die neben der Währungs- und Wirtschaftsunion
geschaffene Sozialunion abgefedert werden. Ohne den
zusätzlichen Finanztransfer der Sozialkassen hätten wir
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({29})
diesen strukturellen Transformationsprozess innerhalb
eines Landes nicht ausgehalten.
Die auch nach 20 Jahren gelegentlich aufflackernde
Diskussion über einen anderen Weg zur Wiedervereinigung, zum Beispiel über ein sogenanntes Kondominium
mit eigener Währung, ist irreal; das hätten die Menschen
in Ost und West damals nicht mit sich machen lassen.
({30})
Es ist auch irreal, zu glauben, dass sich 60 Millionen
Deutsche mit einem erfolgreichen Wirtschaftssystem
und einem geschätzten Grundgesetz von einer kleinen
Gruppe von 16 Millionen Ostdeutschen mit einem gescheiterten Wirtschaftssystem, von denen ein Teil schon
auf dem Koffer saß und die untereinander durchaus nicht
einer Meinung waren, hätten erklären lassen wollen, wie
man die Welt hätte verbessern können.
Trotz aller Folgeprobleme sind wir immer noch
glücklich darüber, dass 329 Tage nach der erzwungenen
Maueröffnung ausreichten, um Deutschland zu vereinigen und Europa den Weg dazu zu öffnen.
({31})
Damit das so bleibt, bitte ich ausdrücklich darum,
sich im Bereich der sozialen Ausgleichsstrukturen allen
Forderungen nach der Lösung regionaler Probleme
durch erneute Regionalisierung zu widersetzen. In einer
Zeit notwendiger Reformen, die den Menschen auch Belastungen abverlangen, dürfen die sozialen Ausgleichsstrukturen nicht zur Disposition gestellt werden.
({32})
Es ist nicht möglich und auch nicht vorgesehen, in einem kurzen Debattenbeitrag alle Probleme der Wiedervereinigungspolitik anzusprechen. Weil über ein Thema
in der Öffentlichkeit sehr häufig diskutiert wird, möchte
ich dazu allerdings noch ganz kurz ausführen, nämlich
zu der noch immer behaupteten Mauer in den Köpfen
nach Entfernung der tatsächlichen Mauer.
Wahr ist, meine Damen und Herren, dass in Umfragen
zu politisch bedeutsamen Wertungen und bei Wahlen die
Menschen in den neuen Bundesländern andere Verteilungsmengen erzeugen und damit andere Verhaltensmuster bezeugen. Wahr ist auch, dass eine Sozialisation
in einer vormundschaftlich organisierten Diktatur zu anderen Verhaltensmustern führen musste als eine Sozialisation in einer freiheitlichen Wettbewerbsgesellschaft.
Weder muss sich der eine wegen des Versagens seines
Wirtschaftssystems persönlich betrogen und als Mensch
zweiter Klasse fühlen, noch kann der andere so auftreten, als sei der Erfolg seiner Wirtschaftsstrukturen sein
ganz persönlicher gewesen.
({33})
Gelegentlich habe ich den Eindruck, meine Damen
und Herren, dass wir Deutschen uns viel ähnlicher sind,
als wir zuzugeben bereit sind.
({34})
Dazu ein einziges Beispiel. Ziemlich oft bin ich gefragt
worden, warum es in der DDR so viel Opportunismus
gegeben habe. Ich gebe zu: Ich kann da gar keinen großen Unterschied sehen, nur andere Ausdrucksformen. In
einer Diktatur resultiert angepasstes Verhalten aus der
Angst vor Nachteilen und einem Abstieg, in einer Wettbewerbsgesellschaft aus der Hoffnung auf Vorteile und
einen Aufstieg. Das ist nicht das Gleiche, aber ein sehr
vergleichbares menschliches Verhaltensmuster.
({35})
So gibt es auch nach 20 Jahren noch Aufgaben, die
wir zum Erreichen gleichwertiger Lebensverhältnisse
lösen müssen, und Aufgaben, die wir lösen müssen, um
zu verhindern, dass uns die sozialutopische Illusion eines sogenannten konfliktfreien Lebens noch einmal voneinander trennt. Nichts schweißt Menschen mehr zusammen als gemeinsame Erfolge. Wenn wir in den noch
ungelösten Problemen gemeinsame Aufgaben sehen und
bei der Aufarbeitung der Folgen unserer getrennt erlebten, aber trotzdem gemeinsamen Geschichte erfolgreich
sind, dann wird auch die innere Einheit bald vollendet
sein.
Ich danke Ihnen.
({36})
Dagmar Ziegler ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Wir haben es gerade gehört - wir als SPD-Fraktion teilen diese Haltung
selbstverständlich -: Ost- wie Westdeutsche haben in
den vergangenen 20 Jahren Großes geleistet. Das war
eine herausragende Leistung, die, wie ich glaube, mit
nichts in der deutschen Geschichte vergleichbar ist. Sie
hat viel Kraft erfordert, und sie hat auch viel Geld erfordert.
Wenn wir uns die Statistiken ansehen, dann stellen
wir fest, dass zwischen dem Jahr 2000 und dem
Jahr 2009 eine extreme Steigerung stattgefunden hat,
was den strukturellen Konvergenzprozess angeht, also
beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt, die Produktivität, die Exportquote und auch die Selbstständigenquote.
Hier ist uns wirklich eine sehr große Annäherung gelungen. Allerdings ziehe ich die Statistik etwas in Zweifel,
weil immer der Durchschnitt der westdeutschen Länder
mit dem Durchschnitt der ostdeutschen Länder verglichen wird. Ich glaube, es wäre besser, in Zukunft den
Vergleich zwischen strukturschwachen Regionen in
Westdeutschland und strukturschwachen Regionen in
Ostdeutschland anzustellen.
({0})
Dann könnte man den Konvergenzprozess besser ableiten, und man würde deutlicher sehen, was bereits erreicht wurde und was in Zukunft noch notwendig ist.
Wir können feststellen - auch der Bericht zeigt das -:
Es ist zwar schon viel geschafft worden, aber es gibt
noch viel zu tun. Beispielsweise ist die Arbeitslosenquote im östlichen Teil Deutschlands fast doppelt so
hoch wie im westlichen Teil. Daran sieht man, dass die
strukturellen Probleme bei weitem noch nicht gelöst
sind.
Bei aller Anerkennung dafür, dass in den letzten
20 Jahren viel Geld von West nach Ost geflossen ist,
muss man sich den Haushaltsentwurf dieser Bundesregierung einmal genauer ansehen. Spiegelt sich darin wider, was die künftigen Handlungsnotwendigkeiten in Ost
und in West ausmacht? Wir haben den Eindruck, dass
das, was wir in 20 Jahren aufgebaut haben, gleich wieder
abgerissen werden soll - und das im 20. Jahr der deutschen Einheit. Wir müssen feststellen, dass die Sparpotenziale, die im Regierungsentwurf aufgezeigt werden,
auf Kosten des Ostens gehen.
({1})
Einige Politikfelder will ich Ihnen dafür beispielhaft
nennen:
37 Prozent des gesamten Sparvolumens fallen in den
Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Das
heißt, dort, wo mehr Geringverdiener, mehr Arbeitslose
vorhanden sind - das ist leider Gottes im Osten Deutschlands der Fall -, werden die Kürzungen stärker durchschlagen als im westlichen Teil Deutschlands.
({2})
Ostdeutschland wird damit viel härter getroffen - mit all
den Folgewirkungen für das Konsumverhalten, für
Kleinbetriebe, für den Mittelstand, für Handwerker etc.
Das muss man einfach wissen und bei einem Haushaltsentwurf bedenken.
({3})
Weiter steht im Bericht zum Programm „Kommunal-Kombi“:
Auch nach der Erweiterung der förderfähigen Regionen im April 2009 lag der Schwerpunkt des Programms in den ostdeutschen Ländern, so dass insbesondere die Menschen unterstützt werden
konnten, die auf Grund der in vielen ostdeutschen
Kreisen angespannten Arbeitsmarktlage und der
Schwäche der regionalen Wirtschaft keine Arbeit
finden konnten.
Es wird also positiv bewertet. Fakt ist: Die Bundesregierung hat dieses Programm 2009 enden lassen. Dazu
muss man sagen: Wort und Tat stehen einfach nicht in
Einheit.
({4})
Im Juni hat die Bundesregierung beschlossen, eine
Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem Problem des
Fachkräftemangels widmen soll. Wir wissen: Der Osten läuft, was die demografische Entwicklung angeht,
dem Westen um einiges voraus. Das heißt, man könnte
auch einmal vom Osten lernen, weil wir schon viele Ansätze für Lösungen gefunden haben, dafür natürlich auch
Geld und Initiativen brauchen. Angesichts der demografischen Entwicklung wird nämlich der Fachkräftemangel
im Osten viel stärker durchschlagen als im Westen, wenn
nicht rechtzeitig gegengesteuert wird. Wie wird denn
nun von der Bundesregierung gegengesteuert? Es wurde
eine Arbeitsgruppe installiert. Wie weit ist denn diese
Arbeitsgruppe nach drei Monaten? Es sind noch nicht
einmal die Mitglieder benannt. Das erste Gespräch soll
immerhin schon in diesem Jahr - dafür wäre Beifall angezeigt! - stattfinden. Offenbar ist alles nicht so eilig.
Aber wir wissen, dass der Fachkräftemangel in Ostdeutschland in den nächsten Jahren sich extrem entwickeln wird. Wir brauchen Lösungsansätze nicht nur auf
Länderebene, sondern auch die Bundesregierung hat
eine Verantwortung wahrzunehmen.
({5})
Es gibt einen weiteren Bereich, nämlich die Städtebauförderung. Herr Ramsauer hofft nun auf die Koalition, darauf, dass sie sich eines Guten besinnt. Im Bericht steht nämlich:
Als gemeinsam von Bund, Ländern und Gemeinden
finanzierte Aufgabe hilft sie Städten und Gemeinden, städtebauliche Missstände zu beseitigen und
eine zukunftsfähige Entwicklung einzuleiten, die in
besonderer Weise von unterbliebener Erneuerung,
wirtschaftlichem Strukturwandel, der demografischen Entwicklung und von Zuwanderung betroffen sind.
Hintergrund: Jeder Euro Fördermittel zieht mehr als
8 Euro Investitionen vor Ort nach sich.
({6})
Das wissen Sie als CDU/CSU-FDP-Koalition genauso
wie wir. Schauen wir uns dies einmal an! Die Mittel für
die Städtebauförderung, wozu auch die Programme
„Stadtumbau Ost“ und „Soziale Stadt“ gehören, sollen
halbiert werden. Ich glaube, Herr Ramsauer wartet auf
Sie, darauf, dass die Koalition dies ändert. Wir werden
auch weiter gegen die Kürzung protestieren. Gehen Sie
bitte in die Städte, die davon profitiert haben, auch in die
westdeutschen Städte, die davon profitieren, und
schauen Sie sich an, was bei einer Halbierung passieren
würde! Im Osten würde dies wieder stärker wirken als
im Westen. Das muss man sich in seinen Auswirkungen
einfach einmal ansehen.
({7})
Im Bericht steht:
Zugleich beeinflusst eine Reihe noch bestehender
struktureller Ungleichgewichte das gesamtwirtschaftliche Ergebnis. Hierzu zählt z. B., dass die
ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor eine vergleichsweise geringe Zahl großer kapitalkräftiger
Unternehmen aufweist. So waren 2008 laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung … von den
700 größten Unternehmen in Deutschland lediglich
fünf Prozent in den neuen Ländern ansässig.
Was macht die Bundesregierung? - Sie führt ein Stipendienprogramm ein, durch das Studierende mithilfe finanzstarker Unternehmen unterstützt werden sollen. Sie
wissen, was das in Ostdeutschland bedeutet: kein Profit
für Ostdeutschland durch dieses Programm.
({8})
Daneben kürzt sie die Ausgaben für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, obwohl sie - auch das ist wieder ein Zitat aus dem Bericht - „das zentrale Instrument der
Investitionsförderung bleibt“. Wie bitte soll das bei einer
Kürzung funktionieren?
({9})
Noch ein paar Sätze zur Familienpolitik. In Sachen
Familienpolitik legt die Bundesregierung im Bericht auf
folgende Fakten Wert: 20 Euro mehr Kindergeld seit Januar 2010, die Feststellung, dass das Elterngeld sozial
ausgewogen ist, und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung ab dem Jahr 2013. - So
steht es in dem Bericht.
Tatsache ist: Durch die Kindergelderhöhung und die
Erhöhung der steuerlichen Kinderfreibeträge werden
gutverdiendende Eltern überproportional bevorteilt. Wo
leben sie? - Sie leben im Westen Deutschlands. Zukünftig sollen Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger
kein Elterngeld mehr erhalten, dafür aber beispielsweise
die gutverdienende Notarsgattin.
Den Kommunen wird durch die Steuerpolitik der
Bundesregierung zunehmend die finanzielle Basis für
den Ausbau der Infrastruktur weggenommen. Also: Wort
und Tat bilden keine Einheit.
({10})
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Der Osten wird in Zukunft noch mehr schmerzliche
Einschnitte hinnehmen müssen. Sie wissen: Der Solidarpakt läuft 2019 aus, die Höchstförderung durch die EUStrukturfonds wird wegfallen,
({0})
und es wird - so sieht es nach dem Regierungsentwurf
aus - noch mehr Ost-Sparpakete geben.
Deshalb lautet mein Appell an Sie als Koalition:
Schauen Sie sich die Auswirkungen des Regierungsentwurfs zum Haushalt ganz genau an!
({1})
Fahren Sie einmal in den Osten! Ich glaube, ein großer
Teil von Ihnen war vielleicht noch nicht dort.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Kurth für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich starte, möchte ich sagen, dass ich mich
persönlich sehr freue, hier sprechen zu dürfen. Das bewegt mich sehr.
Viele von Ihnen waren vor 20 Jahren bereits politisch
aktiv, hatten Verantwortung und haben gestaltet. Ich war
es nicht; das gebe ich zu. Ich war 13 Jahre alt und bitte
da um Nachsicht. Ich bin damals zum Beispiel davon
ausgegangen, dass ich im DDR-Schulsystem kein Abitur
machen und dementsprechend nicht studieren werde.
1989 bin ich auch davon ausgegangen, meine Westverwandtschaft erst in 50 Jahren sehen zu können, wenn sie
dann noch leben würde.
Dass es anders gekommen ist, ist eine schöne Entwicklung. Die Ostdeutschen haben die Mauer eingerissen; wir haben Deutschland gemeinsam vereinigt. Wir
haben eine beachtliche Entwicklung „hingelegt“, und
heute reden wir über 20 Jahre deutsche Einheit. Das ist
bewegend, und das ist schön.
({0})
Die Folgen von 40 Jahren Teilung können auch in
20 Jahren nicht ohne Spuren heilen, aber durch die letzten 20 Jahre zeigt sich, dass der Einigungsprozess eine
große Erfolgsgeschichte ist. In dem Jahresbericht wird
zum Beispiel davon gesprochen - ich finde, zu Recht -,
dass in den letzten 20 Jahren in Ostdeutschland ein kleines Wirtschaftswunder stattgefunden hat. Das ist und
bleibt richtig.
({1})
Um es noch einmal deutlich zu machen: Was hat die
DDR hinterlassen? - Sie hat eine verschlissene Infrastruktur, einen veralteten Kapitalstock und zerstörtes
Unternehmertum hinterlassen, und mit der Wende trat
ein ausgesprochen großes Problem auf: Es gab ein erhebliches, nachvollziehbares Potenzial für Abwande6398
Patrick Kurth ({2})
rung in den Westen. Dass diese enorme Mobilität die
politischen Gestaltungsmöglichkeiten einschränkte, wissen wir; dass sie die politischen Akteure unter einen ungeheuren zeitlichen Druck setzte, wird heute leider oft
vernachlässigt. Sie alle kennen den Ruf aus der Zeit:
Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen
wir zu ihr.
({3})
Das muss man auch berücksichtigen, wenn man über die
deutsche Einheit spricht.
Mit relativ großem Unverständnis habe ich deswegen
zum Beispiel das gelesen, was der Wirtschaftsminister
aus dem Land Thüringen - er hat auch einmal einer Bundesregierung angehört; nicht dieser, sondern einer anderen -, Herr Machnig, im September in einem sogenannten Mittelstandsförderprogramm verlautbaren lässt:
Von dieser hektischen Aufholjagd sollten sich die
neuen Länder 20 Jahre nach der Vereinigung verabschieden. Diese hatte negative Begleiterscheinungen wie Niedriglöhne, Abwanderung und unüberlegte Ansiedlungen, die einzelne Regionen nicht
weitergebracht, sondern zurückgeworfen haben.
({4})
Meine Damen und Herren, das schreibt ein Wirtschaftsminister eines solchen „neuen Landes“ im September des Jahres 2010: „zurückgeworfen“!
({5})
- Ach, er hat recht. Das ist ja noch interessanter. Es gibt
in Ostdeutschland Millionen Menschen, denen es heute
schlechter geht als 1990? Das können Sie doch wahrlich
nicht behaupten. Das geht doch überhaupt nicht, meine
Damen und Herren.
({6})
Worüber wir reden können, ist die Frage, ob die sozialen Lebensverhältnisse zum Beispiel mancher SED-Opfer genauso stark gestiegen sind wie die vieler SED-Täter und SED-Mitläufer. Aber das ist heute nicht das
Thema.
({7})
Ihr Entschließungsantrag spricht - Achtung! - von einer
- ich zitiere - „vermeintlich desolaten Ausgangslage“. Vermeintlich! Das müssen Sie gleich mal erklären, was Sie
mit einer „vermeintlich desolaten Ausgangslage“ meinen.
({8})
Meine Damen und Herren, es gibt viele Zahlen zum
Aufholprozess. Wir hören gerade jetzt in diesen Tagen,
bei den 20-Jahr-Feiern, sehr viel dazu. Ich will nur eine
Zahl nennen, weil das das Ganze noch mal plastisch
macht. Die Arbeitsproduktivität der neuen Bundesländer im Vergleich zum Westen ist in den letzten Jahren
von 1990 bis heute von 43 Prozent auf 73 Prozent gestiegen. Man muss dabei immer noch beachten: Auch der
Westen hatte seit 1990 ein Wirtschaftswachstum, und
dies müssen wir ja entsprechend mit aufholen. Die Zahlen orientieren sich also nicht an 1990, sondern an den
jeweils aktuellen Zahlen. Zum Vergleich: Von den anderen osteuropäischen Ländern, die übrigens die gleiche
Ausgangslage hatten wie die DDR, liegen zum Beispiel
Tschechien und die Slowakei bei 30 Prozent. Ich gehe
davon aus, dass wir bei einem langsamen Angleichungsprozess auch ungefähr dort stünden. Wir können uns
aber auch ausmalen, welchen Exodus die ostdeutschen
Länder erlitten hätten.
({9})
20 Jahre deutsche Einheit heißt aber auch - ich komme
auf die Abwanderung noch zu sprechen -, dass wir den
Begriff „Aufbau Ost“ noch einmal deutlich definieren
müssen. Es ist heute kein abgetrenntes Politikfeld mehr,
wie das in den 90er-Jahren richtig war. Viele Themen, die
sich in der einen oder anderen Region etwas deutlicher
bemerkbar machen oder woanders auch weniger deutlich
bemerkbar machen, sind gesamtdeutsch. „Aufbau Ost“
als Begriff ist übrigens im Westen und auch im Osten unbeliebt, weil er eher trennt, anstatt zu verbinden.
Dennoch sind einige Probleme in Ostdeutschland sehr
viel signifikanter als im Westen. Der Herr Ministerpräsident sprach die Arbeitslosigkeit an, sprach die Rente an.
Eines der größten Probleme ist die Abwanderung. Wir
haben eine hohe Abwanderungsquote. Wir konnten diese
hohe Abwanderungsquote trotz der Angleichung nicht in
der Weise mildern, wie wir das gern gewollt hätten.
({10})
- Wir hatten den Wendeknick, Frau Gleicke. Der Wendeknick bedeutete den größten ohne Kriegseinwirkung
stattfindenden Geburtenabsturz in Deutschland überhaupt. Wir haben seitdem eine Abwanderung in unerhört
hohen Ausmaßen über Jahre hinweg. Das ist so.
Übrigens haben wir jetzt bereits Teil zwei dieser Abwanderung: In diesen Jahren ab 2010 fehlen bereits die
Kinder derjenigen Kinder, die vor 20 Jahren nicht geboren worden sind oder deren Eltern abwanderten. So
kommen wir in eine nächste Stufe.
({11})
Die dadurch entstehende Überalterung hat erhebliche Folgen für die Sozialsysteme, die Infrastruktur und
vieles mehr. Aber - auch das will ich sagen - das ist kein
rein ostdeutsches Problem, auch wenn viele Regionen
im Osten davon betroffen sind. Das Problem wird auch
auf den Westen zukommen, vielleicht nicht so hart und
so schnell, aber es wird auch dort ankommen. Wenn mir
zum Beispiel mein Kollege Luksic vom Saarland erzählt, dann stellen wir fest, dass wir da in vielen Fällen
ähnliche Probleme haben, und das Saarland liegt ja nun
nicht unbedingt im Osten unserer Republik. Daher ist es
wichtig, zu wissen, dass die Konzepte, die wir entwiPatrick Kurth ({12})
ckeln, im Osten anwenden und dort erfolgreich praktizieren können, Vorbild auch für die Entwicklung im
Westen sein können.
Eines muss klar sein: In Gänze können wir die bisherige Entwicklung leider nicht umdrehen. Weder im Osten
noch im Westen können die fehlenden Kinder 20 Jahre
später auf die Welt gebracht werden. Aber wenn wir die
richtigen Strategien anwenden, dann können gelungene
Konzepte aus dem Osten Vorbild für den Westen sein.
Was können wir von der deutschen Einheit lernen?
Ich glaube, wir können sehr viel von der Aufbruchstimmung von 1990 lernen. Die DDR-Bürger stellten sich
quasi über Nacht auf ein völlig neues System ein. Sie
krempelten ihr Leben um. Sie haben neue Sprachen gelernt, sie haben umgelernt, sie haben neue Berufe angefangen, und sie haben persönliche Belastungen und Risiken auf sich genommen. Sie haben das getan, weil sie
die Vision von einem besseren, eigenbestimmten Leben
hatten. Diese Haltung könnte auch heute Vorbild für unsere Gesellschaft sein.
({13})
Es wurde gerade umfänglich aus dem Sparpaket zitiert.
Wir können übrigens aus dem Untergang der DDR auch
lernen, dass das Ausplündern der Staatskasse zum Kollaps führen kann. Ein Staat muss sich finanzieren können.
({14})
Manchmal ist es auch angesichts der Fehler, die geschehen sind, hilfreich, sich an die Worte der ehemaligen
Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl zu erinnern, die
sagte: Ja, es sind Fehler gemacht worden, und ich verspreche Ihnen, beim nächsten Mal machen wir es besser. Das hilft manchmal auch schon.
({15})
Mit Blick auf die Uhr komme ich zum Schluss.
Sehr gut.
Ich möchte noch eines sagen: Gleichwertige Lebensverhältnisse wollen wir anstreben. Wir werden aber
keine gleichen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland
erreichen. Das müssen wir auch gar nicht. Was wir aber
möchten, ist, dass alle Menschen in Deutschland die
gleichen Voraussetzungen vorfinden, um ein glückliches
und selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Einheit führen zu können. Dafür steht diese Koalition.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist Kollegin Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die deutsche Einheit wird von vielen in dieser Bundesregierung salbungsvoll beschworen
und mit viel Geld gefeiert.
({0})
Mein Eindruck ist allerdings, dass sich diejenigen selbst
am meisten feiern, die am wenigsten für die deutsche
Einheit getan haben.
({1})
Haben Sie sich zum Beispiel schon einmal die Frage
gestellt, wie viele der Montagsdemonstranten von 1989
jetzt von Hartz IV leben müssen und dadurch gedemütigt werden? Ist das Ihre Vorstellung von deutscher Einheit? Alle Bundesregierungen der letzten 20 Jahre haben
viel getan - der Kollege von der FDP hat es schon angesprochen -, um Zwietracht zwischen Ost und West zu
säen.
({2})
Die taz aus Berlin titelte am Dienstag dieser Woche zutreffend: „Merkel zementiert neue Mauer“. Die auf der
Titelseite abgebildete Hartz-IV-Deutschlandkarte zeigt
deutlich die Grenzen der ehemaligen DDR. In Ostdeutschland leben lediglich 15 Prozent der Bevölkerung,
aber 34 Prozent der Hartz-IV-Empfänger. Sie haben mit
Ihrer Politik aus Ostdeutschland ein Hartz-IV-Land gemacht, und das ist alles andere als eine gelungene deutsche Einheit.
({3})
Heute gibt es allerdings eine weitere Karte in derselben
Tageszeitung. Dort steht, der Osten sei arm, aber schlau.
Aber davon profitiert vor allen Dingen der Westen, weil
gut ausgebildete junge Leute in den Westen gehen. Nach
Ihrer Rede, Herr Kurth, hätte ich allerdings diesen Kommentar am liebsten vergessen. Für Sie trifft er nicht zu.
({4})
Wir haben die Einheit erst wirklich erreicht, wenn wir
sagen können: Wir haben gleiche Renten, gleiche Löhne,
die gleiche Anzahl von Kitaplätzen, die gleiche Anzahl
von Polikliniken in Ost und West. Das wäre ein gutes
Ziel, aber das strebt die Bundesregierung augenscheinlich nicht an.
Meine Damen und Herren, sagen wir es ganz deutlich: Alle Bundesregierungen haben dafür gesorgt, dass
gut gebildete Ostdeutsche keine Chance bekommen, um
in dieser Gesellschaft wirklich aufzusteigen. Es gibt in
dieser Bundesregierung keinen Minister und keinen beamteten Staatssekretär, keinen Intendanten einer ARDAnstalt, keinen Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung,
({5})
keinen Sternegeneral der Bundeswehr und keinen Richter des Bundesverfassungsgerichtes mit einer ostdeutschen Biografie. Das ist wirklich kein Zufall. Nur die
Kanzlerin - sie ist gerade verschwunden - stammt aus
dem Osten.
({6})
Aber was hat sie denn für den Osten getan? Was ist aus
ihrem Versprechen geworden, endlich die Renten Ost
und West anzugleichen? Kein Wort dazu habe ich seit
der Wahl gehört.
({7})
Die Ausgrenzung der ostdeutschen Eliten wird mit
ihrer Staatsnähe begründet. Wer in der DDR staatsnah
war, sollte in diesem Land keine zweite Chance bekommen. Staatsnah war schon jeder DDR-Bürger, der nicht
als Partisan in den Thüringer Wald ging, um mit der
Waffe in der Hand gegen das Politbüro zu kämpfen.
({8})
Doch selbst die ehemaligen Bürgerrechtler, die die DDR
mit allen Mitteln bekämpften, konnten in der bundesdeutschen Elite nicht aufsteigen. Kein einziger ehemaliger Bürgerrechtler ist in der Bundesregierung vertreten.
Sie haben sie alle entsorgt.
({9})
Meine Damen und Herren, wir reden am Tag der
Deutschen Einheit immer sehr viel über den Osten; aber
die deutsche Einheit hat auch etwas mit dem Westen zu
tun. Jetzt stellen wir uns einmal die Frage: Wie hat sich
das Leben der Menschen in Westdeutschland seit dem
Fall der Mauer verändert?
({10})
Hatten sie die Chance, Dinge aus dem Osten zu bekommen, von denen jetzt viele sagen: „Die hätten wir gerne
gehabt“? Ich denke an Kindergartenplätze, Polikliniken,
Bildungschancen. Ganz im Gegenteil: Das Leben der
Westdeutschen hat sich seitdem verändert, in vielen Fällen verschlechtert: seitdem sinken die Löhne, seitdem
gibt es immer mehr Jobs, von denen man nicht leben
kann, und seitdem gibt es Hartz IV.
An dieser Stelle will ich etwas länger verweilen. Wir
haben in dieser Woche schon sehr viel über Hartz IV
diskutiert. Es ist unglaublich, wie diese Bundesregierung
arbeitslose Menschen ausspioniert, entmündigt und beleidigt. Was für einen Arbeitslosen gut oder schlecht ist,
das will unsere Arbeitsministerin als Supernanny entscheiden. Ich sage Ihnen: Arbeitslose sind keine kleinen
Kinder, sondern mündige Bürger.
({11})
Ich kenne genügend gebildete Arbeitslose, die weder
rauchen noch Alkohol trinken und einfach keine Arbeit
bekommen, weil sie über 50 Jahre alt sind. Das ist doch
der eigentliche Skandal, und darüber sollten wir hier in
diesem Parlament viel deutlicher reden.
({12})
Ich sage Ihnen auch: Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Arbeitslosen ist eine Schande für einen
demokratischen Rechtsstaat. Das hat mit Freiheit nichts
zu tun.
({13})
Seit der deutschen Einheit sinken die Renten.
({14})
Einen Augenblick, bitte. - Alle nachfolgenden Redner können alles zurückweisen, was gerade vorgetragen
wird. Aber vorgetragen werden darf das; darauf lege ich
allergrößten Wert.
({0})
- Ja, selbstverständlich.
Jetzt hat die Frau Kollegin Lötzsch das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin gespannt auf die
weiteren Beiträge in dieser Debatte; das ist doch klar.
Seit der deutschen Einheit sinken die Renten in Westdeutschland. Seit der deutschen Einheit sterben erstmals
wieder Soldaten in Kriegen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass viele Westdeutsche die Mauer wieder haben
wollen?
({0})
Meine Damen und Herren, wie konnte das alles passieren? All das wäre in Zeiten der Systemkonkurrenz
zwischen Kapitalismus und Sozialismus unmöglich gewesen. Aber mit dem Wegfall dieses Wettbewerbs glauben viele, auf die soziale Marktwirtschaft verzichten zu
können. Seit dem Fall der Mauer, so formulierte es der
Dramatiker Heiner Müller, stecken wir bis zum Hals im
Kapitalismus. Je schlechter die soziale Situation für
viele Menschen in Ost und West ist, desto heftiger sind
die Angriffe auf die längst untergegangene DDR. Aber
darum geht es eigentlich gar nicht.
({1})
Es geht darum, dass es eine Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Wir als Linke
lassen uns nicht abschrecken. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die nicht profit- und angstgesteuert ist, die
Menschen nicht ausgrenzt und demütigt. Wir setzen vielmehr auf eine Gesellschaft mit Solidarität und Gerechtigkeit.
({2})
Davon lassen wir uns von niemandem abhalten.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob die
Lage besser ist als die Stimmung, wie Herr Minister de
Maizière oft sagt, darüber kann man diskutieren. Es ist
aber auf jeden Fall falsch, Ostdeutschland auf das
Thema Hartz IV zu reduzieren.
({0})
Die Bilanz nach 20 Jahren deutscher Einheit ist zweifelsfrei positiv. Neben Licht gibt es aber auch Schatten.
Der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland hat
seine Dynamik verloren. Die wirtschaftliche Leistungskraft der neuen Länder stagniert bei ungefähr 73 Prozent
des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Wir haben
eine verfestigte Arbeitslosigkeit, die doppelt so hoch ist
wie in den alten Bundesländern.
Ein schon angesprochenes besonderes Entwicklungshemmnis für die ostdeutsche Wirtschaft ist die anhaltende Abwanderung junger ausgebildeter Menschen.
Sie fehlen künftig als Unternehmensgründer und als Betriebsnachfolger. Junge Leute, die an unseren attraktiven
ostdeutschen Hochschulen ausgebildet werden, müssen
wir halten. Ich sage an dieser Stelle: Wer den Wettbewerb um die klügsten Leute gewinnen will, wird dieses
Ziel nicht mit einem niedrigen Lohnniveau erreichen
können.
({1})
Wir können es uns nicht leisten, dass bis zu
10 Prozent der Schuljahrgangsabgänger die Schule ohne
Abschluss verlassen. Das kann sich Ostdeutschland
nicht leisten. Auch deshalb schlagen wir vor, den Soli in
einen Bildungssoli umzuwandeln.
({2})
Ostdeutschland erlebt einen Teilungsprozess in einerseits wirtschaftlich potente Wachstumskerne und andererseits abgekoppelte Regionen. Dieser Prozess wird
durch den demografischen Wandel beschleunigt.
Wir glauben, dass die bisherigen Konzepte einer
linearen, nachholenden Modernisierung, die sich oft nur
auf den Infrastrukturausbau beziehen - wir haben keine
Infrastrukturlücke mehr -, nicht ausreichen, um die im
Grundgesetz verankerte Vorgabe der Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erreichen; denn
wir sind weit davon entfernt.
({3})
Wenn wir über das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse reden, dann müssen wir auch
über soziale, kulturelle und wirtschaftliche Mindeststandards reden und klären, was die Sicherung der Daseinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichen
Räumen heißt. Ich glaube nicht, dass das heißt, dass der
Bus in der Woche ein Mal täglich fährt und am Wochenende gar nicht mehr.
Wir müssen feststellen, dass die Rahmenbedingungen
schwieriger werden und diese durch die Politik der Bundesregierung zusätzlich verschärft werden. Die Kommunen im Osten haben nur geringe Einnahmen. Darüber hinaus werden ihnen immer mehr Aufgaben und damit
verbundene Ausgaben zugewiesen. Ich erwähne nur den
Anteil der Kosten der Unterkunft.
Schaut man sich die aktuellen Sparmaßnahmen der
Bundesregierung an, dann muss man sagen: Die Mittel
für die Städtebauförderung zu kürzen, ist kontraproduktiv. Wenn man die Programme „Stadtumbau Ost“
und „Soziale Stadt“ infrage stellt, wie will man dann
noch die Abwanderung stoppen? Wir brauchen eine
städtebauliche Aufwertung und Qualifizierungs- und Beschäftigungskonzepte im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“. In diesem Bereich zu kürzen, ist ein schwerwiegender politischer Fehler.
({4})
Wenn wir mit den herkömmlichen Rezepten der
Schrumpfung ostdeutscher Regionen nicht beikommen,
müssen wir uns fragen, wie ein selbsttragender Zukunfts- und Entwicklungspfad für die neuen Länder aussehen kann. Wir sagen ganz klar: Wir brauchen einen
Perspektivwechsel in der Wirtschaftsförderung. Die
Förderpolitik muss neu ausgerichtet werden, weg von
der Investitions- und Infrastrukturförderung, hin zu einer
Bildungs- und Innovationsförderung.
({5})
Die Förderpolitik muss ferner daran angepasst werden,
dass mehr als 80 Prozent der Arbeitsplätze in Kleinst-,
Klein- und mittelständischen Unternehmen existieren. In
Ostdeutschland gibt es viele Unternehmensgründungen.
Wir merken aber, dass viele Akteure und Projekte gerade
in schrumpfenden Regionen nicht auf dem Radarschirm
gängiger staatlicher Infrastrukturprogramme sind. Nur
5 Prozent der industriellen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung werden in den neuen Bundesländern getätigt. Das ist deutlich zu wenig.
Wir sagen deshalb: Die Investitionszulage muss in
eine Innovationszulage umgewandelt werden. Wir sagen auch ganz klar: Die Stärkung des Bildungs- und Forschungsstandorts Ostdeutschland hat für uns oberste
Priorität. Statt 10 Kilometer Autobahn zu bauen, sollten
wir aus den Mitteln des Solidarpakts II lieber ein
Fraunhofer-Institut finanzieren. Das bringt Ostdeutschland voran; das ist die zentrale Aufgabe. Die Zukunftsperspektive Ostdeutschlands hängt nämlich von seiner
Innovationsfähigkeit ab.
({6})
Der Schlüssel zur Reökonomisierung und zur ökologischen Modernisierung Ostdeutschlands liegt bei den
erneuerbaren Energien. Sie sind der Wirtschafts- und
Jobmotor. Weitere wirtschaftliche Entwicklungschancen
für die neuen Bundesländer sehen wir in den noch jungen und forschungsintensiven Entwicklungsfeldern der
Umwelt-, Energie-, Bio- und Nanotechnologie, im Technologiefeld Optik sowie in der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Gesundheitswirtschaft.
Damit dies zu einem selbsttragenden Zukunfts- und
Entwicklungspfad werden kann, braucht es vor allen
Dingen eines, nämlich eine starke Zivilgesellschaft, den
Mut der Bürgerinnen und Bürger. Der zentrale Impuls
der friedlichen Revolution 1989 ist für uns die Selbstermächtigung der Menschen zum politischen Handeln.
({7})
Wir brauchen dringend eine Stärkung der Kultur der
Selbstständigkeit und Unterstützung von Unternehmungen und Eigeninitiativen. Ostdeutschland als Labor für
wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse braucht neue Formen der Zusammenarbeit und
Vernetzung zwischen Politik, Verwaltung, Bürgerinnen
und Bürgern sowie Unternehmen.
Wir reden jetzt zwar nicht im Detail über den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit, aber in diesem
steht es richtig drin: Es geht um das „noch nicht aktivierte Engagementpotenzial“, um die Aktivierung von
Eigenverantwortung und Gründungswillen vieler ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger. Letztlich geht es darum, mehr Handlungsräume für regional angepasste
Innovationskonzepte, beispielsweise über Regionalbudgets, zu eröffnen. Leider ist die Initiative, die Minister de
Maizière in diese Richtung gestartet hat, von den Ländern zurückgewiesen worden. Ich bedaure das zutiefst.
Abschließend darf ich sagen: Herr Minister, auch
wenn wir jetzt nicht im Einzelnen den Jahresbericht diskutieren, ist doch festzuhalten: Die neue Tonlage, die
von Ihnen im Bericht angeschlagen wird, ist richtig. Wir
werden Sie aber natürlich nicht an Berichten, sondern an
politischen Konzepten und politischen Taten messen.
Herzlichen Dank.
({8})
Michael Glos erhält nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin sehr dankbar, dass ich dafür ausgesucht
worden bin, hier zum Thema „20 Jahre Wiedervereinigung“ als Einziger, der nicht aus den neuen Bundesländern kommt, reden zu dürfen. Mein Wahlkreis lag an der
Zonengrenze, die es ja nun nicht mehr gibt. Für mich
war das die Erfüllung eines Traumes und der Höhepunkt
meines politischen Lebens, den Mauerfall und die Wiedervereinigung erleben zu können.
Wenn man sieht, was daraus geworden ist, dann ist es
eigentlich schade, dass wir über dieses Thema nur eine
Stunde im Deutschen Bundestag debattieren.
({0})
Das zeigt auch, wie selbstverständlich die Wiedervereinigung nach 20 Jahren inzwischen geworden ist. Ich
kann nur sagen: Wenn sich diejenigen, die die Wiedervereinigung herbeigeführt und möglich gemacht haben,
so im Klein-Klein ergangen hätten wie manche Redner
heute, dann wäre dieses große Werk der deutschen Einheit nie zustande gekommen.
({1})
Der heutige Tag ist die Gelegenheit, auch denjenigen
zu danken, die dies möglich gemacht haben. Dieser
Dank richtet sich mit Sicherheit an die Menschen in der
ehemaligen DDR, die auf die Straße gegangen sind,
friedlich demonstriert haben und Risiken eingegangen
sind. All dies ist aber auch durch die Weichenstellungen,
die an allererster Stelle von Helmut Kohl vorgenommen
wurden, und durch die Unterstützung von George Bush
und Michail Gorbatschow möglich gemacht worden; ich
kann nicht alle aufzählen. Auch das Vertrauen, das sich
die Deutschen in der Welt wieder erworben hatten, hat
dieses wunderbare Ereignis möglich gemacht.
({2})
Ich war am 9. November 1989 im Bundestag in Bonn
und saß in der ersten Reihe, weil ich damals finanzpolitischer Sprecher meiner Fraktion war. Wir haben damals
über das Vereinsförderungsgesetz diskutiert, das dann
erst später verabschiedet worden ist. Aber es gab ein
paar Leute, die gesagt haben: „Ach, verabschieden wir
doch erst dieses Vereinsförderungsgesetz, und danach
beschäftigen wir uns mit dem Mauerfall.“ Ich habe das
verhindert. Das Thema ist also zu allen Zeiten kleinlich
angegangen worden, nicht nur heute von Frau Lötzsch.
({3})
Zu den Errungenschaften, auf die wir hätten verzichten können, gehört sicherlich die PDS.
({4})
- Ich bitte um Vergebung, Frau Kollegin. - Aber ansonsten war die Wiedervereinigung ein wunderbares Geschenk: Wie viel mehr Möglichkeiten wir Deutsche erhalten haben, um wie viel reicher Europa geworden ist,
wie der Frieden in der Welt vorangebracht worden ist!
Es war ein Fauxpas von Ihnen, Frau Lötzsch, als Sie
gesagt haben, keines der führenden Ämter im Staat sei
mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt
worden. Frau Bundeskanzlerin - ich habe Ihrer Regierung angehört; bei aller Hochachtung: ich will ihr nicht
mehr angehören; insofern ist das kein „Radfahren“ -, ich
finde, Sie sind das beste Beispiel dafür, wie großartig die
Menschen, die aus den neuen Bundesländern gekommen
sind, hier angenommen worden sind, wenn sie die Kraft
hatten.
({5})
Das Forbes-Magazin hat Sie einmal zur mächtigsten
Frau der Welt erklärt.
Wir sind heute sehr stolz auf das, was wir als Bundesrepublik Deutschland gemeinsam erreicht haben. Ich
möchte noch einmal sagen, dass es dabei ganz entscheidende Weichenstellungen gab. Ganz wichtig war, dass
man sich für die soziale Marktwirtschaft entschieden
hat. Ganz wichtig war, dass Theo Waigel die D-Mark
noch in der damaligen DDR eingeführt hat. Das war ein
sehr großes Risiko. Ich war damals finanzpolitischer
Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, und ich habe auch zu
den Bedenkenträgern gehört. Das muss ich zugeben. Ich
habe einmal - dazu hat mich einer angestichelt - in einer
Sitzung des engeren Fraktionsvorstands Helmut Kohl
gefragt, was denn geschehen würde, wenn wir die D-Mark
in der DDR einführten und die DDR hinterher dem Beitritt nicht zustimmte. - Er hätte mich beinahe gefressen.
({6})
Ich werde nie vergessen; er hat gesagt: Solche Fragen
stellt man nicht.
({7})
Ich denke, wenn wir über die historische Wahrheit reden,
sollte man auch über manch kleinliches Denken, das damals vielleicht vorhanden war, sprechen.
Aber noch einmal: Die D-Mark war die Erfolgsgeschichte. Deswegen habe ich mich auch gar nicht gewundert, dass sich unsere Landsleute aus den neuen
Bundesländern sehr viel schwerer dabei getan haben als
wir, von der D-Mark Abschied zu nehmen. Die D-Mark
steckt im Euro, und der Euro ist heute unser Schicksal in
Europa. Es hat sich gezeigt, dass die Menschen das in
Krisen auch gespürt haben.
Ich finde, wir haben eine ungeheuer hohe Friedensdividende erreicht. Ich bedanke mich herzlich - als gläubiger Christ sage ich: beim Herrgott; andere können sagen: beim Schicksal, und ich sage auch: bei allen
Menschen, die mitgeholfen haben -, dass die Geschichte
des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Deutschland so
verlaufen ist, wie sie verlaufen ist. Ich finde, das ist ein
Grund zur Freude und nicht zum Jammern.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Iris
Gleicke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
begehen in drei Tagen den 20. Jahrestag der deutschen
Einheit. Das ist zweifelsohne ein wirklich guter Grund
zu feiern. Aber einigen ist offenbar schon jetzt so feierlich zumute, dass es ihnen die Sinne ein bisschen vernebelt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es
manchen gar nicht so sehr um eine sachliche Auseinandersetzung und Bestandsaufnahme nach 20 Jahren deutscher Einheit geht.
Herr Kollege Glos, es geht nicht um Kleinlichkeiten;
aber es muss um diese Bestandsaufnahme gehen. Allerdings muss ich auch sagen, liebe Frau Kollegin
Dr. Lötzsch: Ihr Beitrag war dazu kein wirklich geeigneter.
({0})
Ich gewinne diesen Eindruck zum Beispiel dann,
wenn die nach der Wende vollzogene Deindustrialisierung Ostdeutschlands penetrant geleugnet wird.
({1})
Ihre wichtigste Botschaft lautet: Helmut Kohl und die
damalige Bundesregierung haben alles richtig gemacht.
Aber damit, meine Damen und Herren, sind zwei weitere
Botschaften verbunden,
({2})
die nicht zuletzt an die jungen Leute im Osten gerichtet
sind. Diese Botschaften lauten: Vor der Wende ist in der
DDR nichts geleistet worden, es gab keine konkurrenzfähige Industrie, eure Eltern und Großeltern sind und
bleiben ganz alleine verantwortlich für die heutigen Probleme. - Herr Kurth, Ihr Beitrag hat genau dies noch einmal dokumentiert.
({3})
Ich möchte zwei Sätze aus dem Jahresbericht zum Stand
der Deutschen Einheit vorlesen - Herr Kollege Kurth,
vielleicht hören Sie ganz genau zu -:
Die mit der Privatisierung und Sanierung der
Staatsunternehmen beauftragte Treuhandanstalt
konnte aufgrund ihres konsequenten Privatisierungskonzepts bereits 1994 ihren Kernauftrag, den
Unternehmensbestand zu privatisieren, weitgehend
abschließen. Damit war eine grundlegende Voraussetzung für die Herausbildung einer leistungsfähigen privaten Unternehmensbasis in den neuen Ländern geschaffen.
Das steht übrigens auf Seite 14. Das ist wirklich toll, das
ist ganz großes Kino. Ich garantiere Ihnen, dass jeder
Ostdeutsche, der das damals wie ich bewusst miterlebt
hat, diesen Satz als Realsatire empfinden muss.
({4})
Ich erinnere kurz daran, was damals wirklich passiert
ist: Mit der Art und Weise, wie die Währungsreform gemacht worden ist, gingen den ostdeutschen Unternehmen die Märkte im ehemaligen Ostblock über Nacht verloren. Der von der FDP in den Einigungsvertrag diktierte
Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ war ein fundamentaler Fehler, der Investitionen ausgebremst hat.
Bei den Privatisierungen durch die Treuhand nutzten
nicht wenige der sogenannten Investoren die günstige
Gelegenheit, sich missliebiger ostdeutscher Konkurrenz
zu entledigen. Beispiele dafür gibt es viele, die Zerschlagung der „Glasring Ilmenau“ ebenso wie die Abwicklung der Deutschen Kugellagerfabriken Leipzig.
({5})
Ostdeutschland wurde in den meisten Bereichen zur
bloßen Werkbank des Westens deklassiert, und das ist
leider heute immer noch so. Die zwangsläufige Folge
war eine katastrophale Massenarbeitslosigkeit mit verheerenden ökonomischen und seelischen Folgen für die
Betroffenen, die bis heute noch nachwirken. Die Arbeitslosigkeit - das ist von einigen Rednern angesprochen worden - ist immer noch nahezu doppelt so hoch
wie in Westdeutschland. Wer dies alles leugnet und hinter Floskeln zu verstecken sucht, trägt in der Tat nicht
zur Vollendung der deutschen Einheit bei.
({6})
Ich behaupte nicht, dass man alle Betriebe hätte retten
können. Aber manches hätte man garantiert vermeiden
können, und man hätte es vermeiden müssen, meine Damen und Herren. Davon bin ich überzeugt.
({7})
In Wirklichkeit wissen Sie das auch, aber Sie wollen es
nicht sagen.
({8})
Stattdessen deklarieren Sie alle Probleme und Schwierigkeiten im Prozess der deutschen Einheit ausnahmslos
als Folgen oder Spätfolgen der DDR-Diktatur
({9})
und lasten sie damit einseitig den Ostdeutschen an. Das
ist eben nicht sachgemäß.
({10})
Deshalb hilft es leider nicht viel, wenn der Bundespräsident die „westdeutsche Ignoranz gegenüber den
Leistungen im Osten“ kritisiert und dies sicherlich aufrichtig und gut meint. Deshalb hilft es leider auch nicht
viel, Herr Minister de Maizière, wenn Sie in Ihrem Bericht „Defizite bei der Anerkennung von ostdeutschen
Lebensleistungen und Geschichtserfahrungen“ anprangern. Dennoch spreche ich Ihnen ganz ausdrücklich meinen Dank und meine Hochachtung dafür aus, dass es in
diesem Bericht aufgenommen ist. Sie haben damit einen
sehr wichtigen Punkt aufgegriffen, den Sozialdemokraten wie Wolfgang Thierse schon lange thematisieren. Sie
sind damit aber, wie Sie jetzt auch an der Debatte und
den Zwischenrufen mitbekommen konnten, Ihren Parteifreunden um Lichtjahre voraus.
Meine Damen und Herren, im Osten ist nicht nur in
den letzten 20 Jahren etwas geleistet worden. Wir dürfen
nicht zulassen, dass mit den Biografien unserer Eltern
und Großeltern so acht- und würdelos umgegangen wird.
Sie haben unter den unendlich schwierigen Bedingungen
einer Diktatur Großartiges geleistet; darauf dürfen sie
stolz sein. Es gab eben nicht nur die Stasi-Spitzel oder
die SED-Funktionäre,
({11})
sondern auch die vielen Anständigen, die das richtige
Leben im falschen System gelebt haben.
({12})
Auch das sage ich mit tiefer Überzeugung und dem
gleichen Engagement: Wir dürfen stolz auf das sein, was
wir in den letzten 20 Jahren deutscher Einheit erreicht
haben. Dank der Solidarität des Westens und dank des
Fleißes, des Mutes und der Anpassungsbereitschaft der
Ostdeutschen hat es bereits großartige Fortschritte gegeben. Uns bringen weder Schönfärberei noch Schwarzmalerei weiter; im Sinne einer ehrlichen Bilanz müssen
wir aber nüchtern festhalten, dass noch viel zu tun ist. Es
gilt, die soziale Einheit zu vollenden. Das ist unsere
wichtigste Aufgabe.
Insofern sage ich sehr klar: Der Solidarpakt II muss
unangetastet bleiben; er ist und bleibt die wichtigste
Grundlage für die Fortsetzung des Aufbaus Ost.
({13})
Wir brauchen für die neuen Bundesländer und in den
neuen Bundesländern eine nachhaltige Finanzpolitik, um
Spielräume für Forschung und Entwicklung, für AufbauIris Gleicke
leistungen und Infrastruktur zu schaffen. Alle Kürzungen zulasten der Entwicklung Ostdeutschlands - bei der
Städtebauförderung, den CO2-Gebäudesanierungsprogrammen und den Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sowie des Küstenschutzes - müssen umgehend rückgängig gemacht
werden. Wenn Sie das nicht machen, bedeutet dies für
viele Investitionen in den Kommunen das Aus. Das bedeutet, dass Tausende Arbeitsplätze gefährdet werden,
gerade in der mittelständischen Bauwirtschaft.
Von dieser Bundesregierung gibt es kein klares Bekenntnis zum Aufbau Ost.
({14})
Sie setzen leichtfertig aufs Spiel, was noch immer nicht
vollendet ist:
({15})
die soziale Einheit unseres Landes.
({16})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Spiegel hat in seiner letzten Ausgabe eine
sehr interessante Betrachtung angestellt: Er ist der Frage
nachgegangen, wie die Stimmung bei den europäischen Nachbarn in den Jahren 1989 und 1990 in Bezug
auf die Frage der deutschen Wiedervereinigung gewesen
ist, und hat festgestellt, dass es eine ungeheure Feindseligkeit gegenüber dem Gedanken einer Wiedervereinigung gegeben hat: von Margaret Thatcher über Ruud
Lubbers, Giulio Andreotti und viele andere bis hin zu
Mitterrand, am Anfang bis hin zu Gorbatschow.
Als ich mir das durchgelesen habe, ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen: Was wäre denn gewesen, wenn in dieser Situation im Bundeskanzleramt ein
Mensch gesessen hätte, der der deutschen Wiedervereinigung ebenso feindselig gegenübergestanden hätte wie
die eben genannten Menschen?
({0})
Ich möchte Ihnen sagen, dass dieser Gedanke für
mich gar nicht so abwegig ist: Einem solchen Menschen
hätte es mit den entsprechenden Mehrheiten im Deutschen Bundestag ohne Weiteres gelingen können, die
deutsche Wiedervereinigung im letzten Augenblick zu
vereiteln, und zwar leichter, als es Helmut Kohl und seiner Mannschaft mit vielen Mühen gelungen ist, die deutsche Wiedervereinigung zu erreichen.
({1})
Das sollte man sich einmal durch den Kopf gehen lassen.
Es ist selbstverständlich richtig, dass die große Vorleistung dafür auf den ostdeutschen Straßen erbracht
worden ist. Ich will mit diesen Worten aber nur sagen,
dass es zu keinem Augenblick selbstverständlich gewesen ist, dass aus dieser guten Vorleistung auf den Straßen Ostdeutschlands am Ende tatsächlich ein Deutschland - auch ein Europa - entsteht, das in Frieden und
Freiheit wiedervereinigt ist. Das verdanken wir in hohem Maße der Regierung von Helmut Kohl. Das verdanken wir Wolfgang Schäuble, dem ich von diesem
Platz aus ganz herzlich eine vollständige Genesung wünschen möchte.
({2})
Wir danken es Theo Waigel, wir danken es der Regierung von Lothar de Maizière, und, meine Damen und
Herren, wir verdanken es auch noch einem Menschen ({3})
ich bin ein bisschen traurig, dass er so selten genannt
wird -: dem damaligen EG-Kommissionspräsidenten,
Jacques Delors, der uns in enormem Maße unterstützt
hat.
({4})
Unabhängig davon, wie man zu jeder Einzelentscheidung aus der damaligen Zeit steht - auch ich halte manche Dinge, die damals gemacht worden sind, für falsch,
wie ich ganz offen sagen will -, halte ich es für ein
Grundgebot des politischen Anstandes, dieser enormen
politischen Leistung seine Dankbarkeit zu bezeugen.
({5})
Ich sage das auch, weil man sich ab und zu einmal
fragen sollte, was eigentlich gewesen wäre, wenn die
deutsche Wiedervereinigung ausgeblieben wäre und wir
so eine Art „Österreich-Lösung“ gehabt hätten. Vorhin
haben schon einige Kollegen den Vergleich mit Polen,
mit unserem ehemaligen sozialistischen Nachbarn, angestellt. Ich will das einmal mit Zahlen unterlegen, damit
man erkennt, wie die Dimensionen eigentlich sind.
In Polen gab es 1990 ein ähnliches wirtschaftliches
Niveau wie in der DDR. Es gab - ähnlich wie in der
DDR - einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der
eben nicht nach 1990 inszeniert wurde, sondern flächendeckend den ganzen Ostblock betroffen hat. Daher bedurfte es einer völligen Erneuerung der gesamten öffentlichen Infrastruktur - wie bei uns. Aber im Gegensatz zu
uns mussten die Polen alle diese Leistungen aus eigener
Kraft erwirtschaften.
Herr Kollege Vaatz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Happach-Kasan?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich danke Ihnen für Ihre Aufzählung, in
der Sie die Leistungen all derer genannt haben, die an
der deutschen Einheit mitgewirkt haben. Mir ist allerdings aufgefallen, dass ein Name fehlte - der Name einer Person, die eine enorme Leistung vollbracht hat. Das
ist Hans-Dietrich Genscher.
({0})
Ich möchte Sie bitten, deutlich zu machen, dass gerade
die Leistung von Hans-Dietrich Genscher, beginnend
1975 mit der KSZE-Schlussakte, einen enormen Einfluss darauf gehabt hat, dass der deutsche Einigungsprozess derart positiv verlaufen ist und dass wir es in der
Gemeinschaft der Staaten erreicht haben, eine solche
Leistung zu vollbringen. Ich denke, es wäre nur ein Gebot der Fairness, den langjährigen Außenminister HansDietrich Genscher ebenfalls zu nennen.
({1})
Frau Kollegin Happach-Kasan, ich entschuldige mich
von dieser Stelle aus dafür, dass es mir in der Hitze des
Gefechtes und als Folge meines Temperamentes leider
unterlaufen ist, Hans-Dietrich Genscher in meiner Aufzählung zu vergessen. Ich hole das jetzt mit dem Bekenntnis tiefer Zerknirschung nach und sage Ihnen dazu,
dass ich es ihm schon sehr oft persönlich gesagt habe.
({0})
Meine Damen und Herren, wir waren gerade bei der
Situation, die sich in Polen eingestellt hatte, und ich
wollte mit Zahlen belegen, was sich dort wirklich ereignet hat. In Polen betrug das kaufkraftbereinigte Einkommen pro Haushalt im Jahre 1996, also sechs Jahre nach
1990, etwa 4 200 Euro, während es in Ostdeutschland im
selben Jahr 11 000 Euro waren; das ist fast das Dreifache. Im Jahr 2007 hatten die polnischen Haushalte im
Durchschnitt 7 700 Euro und die ostdeutschen Haushalte
im Durchschnitt 15 000 Euro zur Verfügung; das ist ungefähr das Doppelte. Das sind Zahlen der Europäischen
Union, die Sie nachlesen können.
Nun sind unsere polnischen Nachbarn aber nicht dümmer oder fauler als wir. Ganz im Gegenteil: Viele von ihnen - und unter ihnen viele Ärzte und Ingenieure - haben, weil sie ihre Familien nach vorne bringen wollten,
Sommer für Sommer auf ostdeutschen Feldern gearbeitet und dort Arbeiten verrichtet, die deutschen Arbeitslosen angeblich überhaupt nicht mehr zuzumuten waren.
Ich habe einen ungeheuren Respekt vor unseren polnischen Nachbarn, ohne die dieses Europa von heute niemals so zustande gekommen wäre.
({1})
Diese Menschen mussten alles mit eigener Kraft machen - ohne durch eine Wiedervereinigung etwas abrufen zu können, wie wir es konnten - und sind heute so
weit wie wir 1993/94. Das ist die Perspektive, die auf
uns gewartet hätte. Dies ergibt sich auch aus dem
Schürer-Bericht. Schürer hatte damals dem Politbüro eine
Vorlage gemacht, in der es hieß, dass, nur um die Schulden
zu stoppen, ein Lebensstandardverlust von 20 bis 30 Prozent in Kauf genommen werden müsste. Das wäre der
freie Fall gewesen. Das ist Ihr Werk, Ihre Hinterlassenschaft, und dazu müssen Sie von der Linken stehen.
({2})
Ihr Zerstörungswerk in Ostdeutschland war eine
zweistufige Rakete. 1946 haben sie die Marktwirtschaft
in der Ostzone abgeschafft und durch die sozialistische
Planwirtschaft ersetzt.
({3})
- Die Partei, deren Geld Sie haben, nicht Sie persönlich.
({4})
Nach 1990 haben Sie nicht im Mindesten zu Ihrem
Zerstörungswerk gestanden. Sie haben eine formale Entschuldigung vorgebracht und sich später in der deutschen Politik als Lobby der Täter profiliert, für die Sie
sich vorher entschuldigt haben. Herzlichen Dank!
({5})
Als Nächstes haben Sie nichts dazu beigetragen, dass die
deutsche Wiedervereinigung ein Erfolg wird.
({6})
Sie haben an ihr herumgemäkelt. Sie haben versucht, die
Freude an der Wiedervereinigung nach Kräften zu zerstören. Sie haben ihr alle Steine in den Weg gelegt, die
Sie finden konnten. Auch dafür herzlichen Dank!
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3078? Ich bitte
um Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion
der SPD und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3079? Ich bitte um
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion
Die Linke abgelehnt mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
zur Bemessung der Regelsätze umsetzen Die Ursachen von Armut bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und
Erwachsene jetzt ermöglichen
- Drucksachen 17/880, 17/675, 17/2092 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze und ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene statt Experimenten
- Drucksachen 17/2921, 17/3081 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Carsten Linnemann
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Markus Kurth, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leistungskürzungen bei den Unterkunftskosten im Arbeitslosengeld II verhindern - Vermittlungsverfahren mit den Ländern unverzüglich aufnehmen
- Drucksache 17/3058 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Linnemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schwerpunktmäßig debattieren wir heute über zwei Anträge, die sich
auf das Urteil aus Karlsruhe vom 9. Februar beziehen.
Seitdem ist viel passiert. Wir haben Anhörungen durchgeführt. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist
ausgewertet worden. Seit Montag liegt ein vollständiger
Referentenentwurf aus dem Hause von Frau von der
Leyen vor. Wir sollten uns zunächst mit diesem Referentenentwurf beschäftigen, danach würde ich gerne noch
auf Ihre Anträge eingehen.
In der gegenwärtigen Diskussion kommt mir das Urteil aus Karlsruhe zu kurz. Wir sprechen nicht mehr darüber. Es hat noch niemandem geschadet, konkret auf
das Urteil Bezug zu nehmen und es zu zitieren. Das
möchte ich heute machen und mit einem zentralen Satz
beginnen, der aus meiner Sicht für die gesamte heutige
Debatte entscheidend ist. Ich zitiere: „Schätzungen ‚ins
Blaue hinein‘ laufen … einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen gegen“ das Grundgesetz. Karlsruhe hat damit gesagt, dass das, was Sie von
Rot-Grün damals bei der Berechnung der Regelsätze gemacht haben, nicht sachgerecht war.
({0})
Deshalb sagt uns Karlsruhe jetzt, dass wir ein transparentes, nachvollziehbares Verfahren nutzen sollen. Das
machen wir. Ein entsprechender Referentenentwurf
liegt vor. Lassen Sie mich kurz auf die wichtigsten
Punkte dieses Entwurfs eingehen:
Über die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
wird viel gesprochen. Im Urteil wird ausdrücklich bestätigt - ich zitiere -: Grundsätzlich ist die Einkommensund Verbrauchsstichprobe ein „taugliches Berechnungsverfahren zur Bemessung des Existenzminimums“. Die
EVS kann also auch künftig als Datenbasis benutzt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
sie bei dem Referentenentwurf herangezogen. Die Angaben von 60 000 Haushalten zu rund 230 Positionen wurden vom Statistischen Bundesamt ausgewertet. Das Ergebnis bildet die Basis. Das Verfahren ist also
verfassungskonform.
Zum Verfahren: Auch hier hat das Urteil eine klare
Sprache. Ich zitiere:
Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber
- und kein anderer alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Ver6408
fahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.
Wir machen nicht den Fehler, einfach irgendwelche
Abschläge zu nehmen. Entweder die Positionen sind zu
100 Prozent drin, oder sie sind draußen. Bei Möbeln
zum Beispiel hat man damals einen Abschlag von
20 Prozent vorgenommen und 80 Prozent angesetzt.
Diesen Fehler machen wir nicht. Darüber hinaus gibt es
Sonderauswertungen. Das ist bei den Positionen erforderlich, bei denen die Referenzgruppe nicht herangezogen werden kann, beispielsweise beim Thema Mobilität.
Außerdem schauen wir uns die Regelsätze für Kinder an
und führen eine eigenständige Ermittlung durch.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Existenzminimum sagen. Wir reden die ganze Zeit über das „menschenwürdige Existenzminimum“. Dieses Schlagwort
bestimmt auch die Berichterstattung in der Presse. Ich
zitiere:
Das Sozialstaatsgebot …
- auch hier ist das Urteil klar erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein
menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern,
wobei dem Gesetzgeber
- jetzt kommt es ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen
Wertungen zukommt.
Wir haben also existenzsichernde Positionen, beispielsweise Grundnahrungsmittel, und nichtexistenzsichernde Positionen wie beispielsweise Flugreisen oder
Autos. Darüber gibt es keinen Dissens. Diese Positionen
hatten Sie damals auch nicht drin. Dann gibt es neue
Positionen. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt.
Wir leben heute im Zeitalter des Internets. Daher haben
wir Internetkomponenten aufgenommen. Auch die Praxisgebühr, die es damals noch nicht gab, haben wir aufgenommen.
Jetzt kommt ein entscheidender Punkt, über den wir
in den Medien oft diskutieren, die sogenannten Wertentscheidungen. In diesem Zusammenhang führen Sie
oft das Beispiel Alkohol an. Das Bundesarbeitsministerium schlägt vor, Alkohol nicht länger zu berücksichtigen, weil es nicht zum menschenwürdigen Existenzminimum gehört. Das ist - diesbezüglich haben Sie recht am Ende des Tages eine politische Entscheidung. Dafür
wurden wir gewählt, und deswegen unterstützen wir in
diesem Punkt das Ministerium.
({1})
Der letzte wichtige Punkt - in diesem Zusammenhang
möchte ich nicht aus dem Urteil zitieren, weil sich das
Thema wie ein roter Faden durch das gesamte Urteil
zieht - sind die Lebenschancen für Kinder. Wir sagen:
Es geht nicht nur um die Absicherung der materiellen
Bedürfnisse, sondern auch um die Absicherung der immateriellen Bedürfnisse, um die Teilhabe an der Gesellschaft. Deshalb bringen wir das Bildungspaket auf den
Weg. Wir gehen die Probleme an, indem wir zielgenau
auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen.
({2})
Unserer Meinung nach hat das Arbeitsministerium
seine Hausaufgaben gemacht. Ich habe den Eindruck,
dass wir bei vielen Punkten, die in dem Antrag der Grünen angesprochen werden - Herr Kurth, Sie sprechen
vermutlich gleich auch noch -, gar nicht so weit auseinanderliegen. Ich glaube sogar, das gilt für mindestens die
Hälfte der Punkte, beispielsweise für die eigenständige
Bemessung des Regelsatzes für Kinder. Ein Dissens besteht bei anderen Punkten. Beim Thema Kommission
zum Beispiel vertreten wir diametral entgegengesetzte
Auffassungen. Wir verstehen das Urteil von Karlsruhe
so, dass Karlsruhe den Gesetzgeber und nicht irgendwelche Kommissionen beauftragt hat, das Problem der Neuberechnung der Regelsätze anzugehen.
({3})
Deshalb können wir nicht verstehen, dass Sie den Satz
jetzt pauschal auf 420 Euro erhöhen wollen. Sie beziehen sich auf einen Lobbyverband. Aber genau das wollte
Karlsruhe nicht. Deshalb können wir unter dem Strich
Ihre Anträge nicht unterstützen.
Zum Schluss etwas Grundsätzliches. Warum stehen
wir heute überhaupt hier? Was machen wir hier? Wir reden über die Neubemessung der Regelsätze. Diese werden wir, denke ich, bis zum Ende des Jahres zum Abschluss bringen müssen. Die Organisationsreform haben
wir schon gemacht. Das heißt, wir schaffen das Fundament dafür, dass die Hilfebedürftigen in Deutschland Sicherheit haben. Das war die Pflicht.
Die Kür ist natürlich auch wichtig. Sie besteht darin,
dass wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir den
Menschen eine Perspektive geben können, dass sie so
schnell wie möglich wieder einen Arbeitsplatz finden.
Da schauen wir uns beispielsweise die arbeitsmarktpolitischen Instrumente an.
Ich war dieser Tage bei der Bundesagentur für Arbeit
und habe dort mit Mitarbeitern gesprochen. Da hat kaum
mehr einer den Überblick über die Instrumente. Wenn
ich mir die ersten fünf Kapitel des SGB III anschaue,
dann stelle ich fest, dass es da kein Prinzip, kein System
mehr gibt. Daher sagen wir, wir brauchen für die Vermittler vor Ort einen Koffer mit schlagkräftigen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Das ist der nächste
Schritt, den wir angehen, damit Menschen endlich wieder in Beschäftigung kommen.
({4})
Ein anderer Punkt sind die Hinzuverdienstmöglichkeiten. Dazu steht im Koalitionsvertrag, dass wir sie verbessern wollen. Auch das ist wichtig, damit wir Anreize
dafür schaffen, dass jemand in Arbeit kommt und nicht
draußen bleibt. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Sie sehen, das ist ein Gesamtkonzept. Wir gehen das
im Bündel an, weil wir nicht nur die KurzzeitarbeitsloDr. Carsten Linnemann
sigkeit senken wollen, sondern endlich auch die Langzeitarbeitslosigkeit angehen wollen. Ich glaube, dass
dieses Konzept gut ist. Ich hoffe, dass ich das Gesamtkonzept sachlich beschrieben habe.
In diesem Sinne bedanke ich mich und wünsche Ihnen alles Gute.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Ziegler von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war für
uns alle ein Paukenschlag. Zum ersten Mal haben Verfassungshüter genau definiert, was ein Mensch zum Leben braucht - nicht in Cent und Euro; aber sie haben ein
Prinzip verbindlich vorgegeben. Der Mensch braucht
nicht nur Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem
Kopf. Teilhabe an Bildung, Zugang zu Kultur und die
Möglichkeit zum politischen Engagement gehören in einem Sozialstaat wie dem unseren genauso selbstverständlich zum Existenzminimum; denn die Bürgerrechte sind universell. Der Leistungsberechtigte gibt sie
eben nicht an der Tür des Jobcenters ab.
Meine Fraktion hat deshalb einen Antrag erarbeitet
und in den Bundestag eingebracht, der einen Weg zur
Umsetzung des Urteils aufzeigt. Bitter notwendig war
dieser Antrag; denn die Bundesregierung hat die Chancen des Urteils für mehr Teilhabe und Bildung und einen
stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt, wie ich
meine, bereits jetzt verspielt.
Gefordert haben die Richter ein Leben in Würde auch
für Menschen in Not. Bekommen haben sie einen Gesetzentwurf, der Misstrauen gegen Hilfsbedürftige atmet
und populistische Ressentiments schürt.
({0})
Gefordert hat Karlsruhe, dass die Regelsätze transparent und nachvollziehbar ermittelt und begründet werden. Mit ansehen mussten sie ein monatelanges Versteckspiel der zuständigen Ministerin von der Leyen, die
die vollständigen Daten und Auswertungen des Statistischen Bundesamtes bis heute dem Bundestag und der
Öffentlichkeit vorenthält.
Gefordert haben die Richter einen umfassenden Zugang zu Bildung gerade für Kinder. Bekommen haben
sie ein vollmundig angekündigtes Bildungs- und Teilhabepaket, das sich bei näherer Betrachtung bestenfalls
als gutgemeinter Anfang, schlechtestenfalls als übler
PR-Gag interpretieren lässt.
({1})
Denn werfen wir doch einmal einen Blick in das Bildungspäckchen der Bundesregierung. Bildungschipkarte - groß angekündigt, verkümmert zu einer Pilotphase in dem einen oder anderen Modellregiönchen.
Vollmundig in Aussicht gestellt: Klavier- und Geigenunterricht für alle, außerdem noch Sportverein, Ferienfreizeiten usw. Zusammengeschmolzen ist das zu einem
Teilhabebudget von 10 Euro im Monat. Damit, meine
Damen und Herren, spielen die Kinder nicht auf einer
Stradivari, sondern sie blasen allenfalls auf einem
Kamm.
({2})
Schulbedarfspaket - 100 Euro im Jahr für Schulranzen, Zirkel und Hefte -, das ist eine Leistung mit
Substanz, aber sie ist weder neu noch von Ihnen. Das
Schulbedarfspaket haben die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen noch in der Großen Koalition konzipiert und durchgesetzt.
({3})
Das warme Mittagessen ist eine sinnvolle Leistung
- auch das ist eine Forderung unserer Fraktion -, aber
das reicht nicht, um die Vorgaben des Verfassungsgerichts zu erfüllen.
({4})
- Sie regieren ja auch manchmal, ab und zu. - Denn der
Haken beim Mittagessen ist, dass in Deutschland nur jedes fünfte Kind überhaupt Zugang zu einem Mittagessen
in Kita oder Schule hat. Alle anderen haben entweder
keinen Kitaplatz bekommen oder gehen auf eine Schule,
die immer noch mittags endet. Wenn wir es ernst meinen, dass wir Bildungschancen für alle schaffen wollen,
müssen wir genau hier ansetzen. Hier reicht Ihr Maßnahmenpaket eben nicht aus.
({5})
Wir müssen den Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen vorantreiben. Denn nur diese sind die Orte, an
denen alle Kinder Förderung und Unterstützung erfahren, und zwar völlig unabhängig von ihren Eltern. Dort
kann ein Kind Geigenunterricht bekommen, nicht weil
der Vater gut verdient, sondern weil das Kind talentiert
ist und Lust zum Musizieren hat. So schlicht ist das.
Deshalb brauchen wir eine Offensive für den Ausbau
von Bildungsinfrastruktur, so wie es in unserem Antrag
gefordert wird.
({6})
Dies können Länder und Kommunen nicht allein
schaffen; das wissen wir alle. Vielen steht das Wasser bis
zum Hals, was auch eine Folge Ihrer verfehlten Steuerpolitik ist.
({7})
Deshalb muss der Bund den Kommunen und den Ländern beim Ausbau von Bildungsinfrastruktur finanziell
unter die Arme greifen. Der Verweis, dafür sei er nicht
zuständig, überzeugt nicht. Denn auch hierzu trifft das
Bundesverfassungsgericht eine Aussage: Wenn es Län6410
der und Gemeinden nicht aus eigener Kraft schaffen, hat
der Bund einen Sicherstellungsauftrag. Der Ausbau
von Bildung kann nur als gemeinsame nationale Kraftanstrengung gelingen. Bund, Länder und Kommunen
müssen an einen Tisch. Sie müssen sich auf Ausbauziele
verständigen, sie müssen definieren, was gute Kitas und
Schulen ausmacht, und sie müssen vereinbaren, wer es
finanziert.
({8})
Deshalb lautet unsere immer wiederholte Forderung
an die Regierung: Laden Sie endlich zu einer nationalen
Kinderkonferenz ein! Vereinbaren Sie mit Ländern und
Kommunen einen Bildungspakt! Das ist im Interesse aller Kinder - nicht nur der Kinder im Hartz-IV-Bereich und erfüllt die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
Dazu reichen wir Ihnen gern die Hand. Für ein würdeloses Geschachere stehen wir allerdings in keinem Fall zur
Verfügung.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hatten wir eine Aktuelle Stunde zur Neuberechnung der Regelsätze. Heute befassen wir uns mit zwei
Anträgen von SPD und Grünen, die allerdings schon
kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar 2010 entstanden sind.
({0})
Sie von den Grünen fordern eine unverzügliche Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene auf 420 Euro.
Diese Zahl beruht auf Berechnungen aus dem Jahr 2004.
Nun werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, nicht behaupten wollen, dass sich die Lebensumstände seither nicht verändert hätten. Ihre Berechnungen entbehren einer vernünftigen Datenbasis
und sind daher erneut Schätzungen ins Blaue hinein.
Schätzungen ins Blaue hinein hat das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Fehler mögen verzeihlich sein, aber man muss die Bereitschaft haben, aus gemachten Fehlern zu lernen.
({2})
Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion, hätten die vergangenen Wochen und Monate
besser nutzen sollen, um Ihren Antrag auf die Höhe der
Zeit zu bringen. So fordern Sie, dass die Einkommensund Verbrauchsstichprobe künftig alle drei Jahre erhoben werden soll. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht gerade diese Regelung nicht beanstandet.
({3})
Statt sich darüber zu freuen, dass etwas Verfassungskonformes in Ihren Regelungen war, wollen Sie dies nun
auch noch ändern.
({4})
Die vergangenen Tage haben eines sehr deutlich gezeigt: Die christlich-liberale Koalition ist imstande, unter hohem Zeitdruck eine sachgerechte und nachvollziehbare Berechnung der Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Bezieher vorzulegen.
({5})
Daher kann ich nur zu dem Ergebnis kommen, dass Ihre
voreiligen Anträge hier und heute nicht nötig waren. Sie
wissen so gut wie ich, dass Sie in Kürze neue Anträge
zum gleichen Thema, aber auf Basis der aktuellen Daten
vorlegen werden. Darüber werden wir dann - das sage
ich Ihnen zu - gerne diskutieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
verdeutlichen, was wir mit der Neuberechnung der Regelsätze erreicht haben. Das Bundesverfassungsgericht
hat - es ist wichtig, dies immer wieder zu betonen nicht die Höhe der Regelsätze, sondern ihre Herleitung
beanstandet. Die Herleitung der Regelsätze haben wir
jetzt nachvollziehbar dargelegt. So viel Transparenz wie
jetzt gab es noch nie.
({7})
Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben gestern im Ausschuss sinngemäß gesagt, dass die Regelsätze unter den
Vorgängerregierungen vom Bundesarbeitsministerium
immer nach Kassenlage festgelegt worden sind.
Herr Kollege Kober, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schaaf?
Vom Kollegen Schaaf immer gerne.
Geschätzter Kollege Kober, Sie haben gerade über
Transparenz gesprochen und gesagt: So viel Transparenz
war noch nie. - Der Antrag, den wir vorgelegt haben,
enthält im Prinzip eine vergleichende Rechnung: Wie
waren die Regelsätze bisher, und wie sind sie neu beAnton Schaaf
rechnet worden? Die Grundlagen der Berechnung haben
Sie uns im Ausschuss ja erklärt.
Würden Sie mir recht geben, dass die SPD-Bundestagsfraktion gestern im Ausschuss erstens den Antrag
gestellt hat, die Grundlagen der Berechnung, die Basisdaten, zur Verfügung gestellt zu bekommen, und zum
Zweiten gebeten hat, darüber informiert zu werden, wie
die Alternativrechnungen aussahen, nämlich bei der Berechnung die unteren 20 Prozent und nicht nur die unteren 15 Prozent der Einkommen zugrunde zu legen?
Würden Sie mir auch recht geben - so viel zum Thema
Transparenz -, dass die Regierungskoalition dieses Begehren der Opposition nach Transparenz im Ausschuss
in Bausch und Bogen abgelehnt hat?
({0})
Lieber Herr Kollege Schaaf, vielleicht erinnern Sie
sich an die Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ralf Brauksiepe,
({0})
der sehr deutlich dargelegt hat, wie es zur Berechnung
des unteren Einkommensquintils, wie man so schön sagt,
gekommen ist und warum man der Regierung nicht den
Vorwurf machen kann, sie sei von diesem Grundsatz abgewichen. Ungefähr 22 Prozent der Einkommen wurden
berücksichtigt;
({1})
das hat der Parlamentarische Staatssekretär, wie ich
glaube, plausibel und transparent erläutert. Herr Schaaf,
ich bin mir übrigens sicher, dass er auf weitere Nachfrage bereit wäre, Ihnen das noch einmal zu verdeutlichen und zu erklären.
({2})
Jetzt zu der anderen Frage, zur Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe. Auch Sie müssen zugeben, dass
uns gestern im Ausschuss vom Bundesministerium für
Arbeit und Soziales erläutert worden ist, dass die Rohdaten vom Statistischen Bundesamt zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht in anonymisierter Form vorliegen und wir auf
die sogenannten Daten zur wissenschaftlichen Nutzung
- das Stichwort lautet: Scientific Use File - noch warten
müssen. Wir arbeiten aber jetzt - ich betone das noch
einmal - auf einer viel transparenteren Datenbasis, als
Sie es in der Vergangenheit jemals getan haben.
({3})
Lassen Sie uns nun abwarten, bis uns das Statistische
Bundesamt weitere Informationen zur Verfügung stellt. Vielen Dank.
({4})
Herr Strengmann-Kuhn, ich greife das auf, was Sie
gestern im Ausschuss gesagt haben. Sie haben sinngemäß gesagt, dass die Regelsätze unter den Vorgängerregierungen vom Bundesarbeitsministerium immer nach
Kassenlage festgelegt worden sind. Dieses Eingeständnis Ihrerseits hat mich sehr gefreut. Ich möchte Sie,
werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, darauf
hinweisen, dass wir zu den damaligen Zeitpunkten jeweils SPD-Arbeitsminister und SPD-Finanzminister hatten.
({5})
Sie sollten daher nicht von sich auf andere schließen. Sie
sollten sich mit Vorwürfen und haltlosen Behauptungen
gegenüber dieser christlich-liberalen Regierung zurückhalten.
({6})
Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen sind
für jeden nachprüfbar und nachvollziehbar. Wir begründen klar, was Bestandteil des Regelsatzes ist und was
nicht. Maßgabe ist für uns die Sicherung des Existenzminimums. Der Grundbedarf ist für uns unantastbar. Allerdings: Genussmittel wie Alkohol und Tabak gehören
für uns nicht zum Grundbedarf,
({7})
genauso wenig wie motorbetriebene Gartengeräte und
Schnittblumen. Hier haben wir Wertentscheidungen
getroffen, zu denen uns das Bundesverfassungsgericht
explizit aufgefordert hat.
({8})
Zu diesen Wertentscheidungen gehört - auch darauf
muss man hinweisen -, dass wir den Ausgaben für Verkehr eine größere Bedeutung als bisher beimessen, da
wir möchten, dass die Menschen mobil sind. Wir messen
auch den Ausgaben für Telekommunikation und neue
Medien eine größere Bedeutung bei, weil die Teilhabechancen in unserer Gesellschaft immer mehr von neuen
Medien abhängen. Wir haben Wertentscheidungen getroffen, die zeitgemäß sind und die Menschen voranbringen, und das ist gut so.
({9})
Erlauben Sie mir noch ein Wort zu den Bildungsleistungen für Kinder, auf die meine Kollegin Miriam Gruß
später noch ausführlicher eingehen wird. Ich finde, dass
uns hier ein Meilenstein geglückt ist. Wir werden dazu
auch noch einen Weg finden, der, wie man so schön sagt,
diskriminierungsfrei ist. Dass Sie als Opposition sich jedoch um den Punkt der Diskriminierung so viel Sorgen
machen, ist ein Stück unehrlich. Schon heute haben viele
Städte und Kommunen Sozialpässe oder ähnliche Angebote,
({10})
die fast alle in Ihrem Sinne nicht diskriminierungsfrei
sind. Auf kommunaler Ebene haben Sie von SPD, Grünen und Linkspartei nichts gegen Sachleistungen einzuwenden und setzen diese sogar selbst mit um. Wenn Sie
nun hier auf Bundesebene versuchen, das Sachleistungsprinzip als diskriminierend zu brandmarken, dann ist das
schlichtweg unehrlich.
({11})
Es ist gut, dass wir im Gegensatz zu Rot-Grün auch auf
Bundesebene etwas für die Bildungschancen und Teilhabechancen von Kindern tun. Es ist gut, was wir tun und
wie wir es tun.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Kipping von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die Erhöhung der Hartz-Regelsätze ist ein
Lehrstück für das Aufhetzen der Armen gegen die ganz
Armen. Jahrelang haben verschiedene Regierungen in
diesem Land den Niedriglohnbereich gefördert. Im Ergebnis sind viele Menschen arm, obwohl sie von früh bis
abends schuften. Anstatt nun engagiert gegen Lohndumping vorzugehen, benutzt Schwarz-Gelb die Menschen
mit Hungerlöhnen, um die Hartz-IV-Regelsätze niedrigzurechnen. Ich finde, das ist verdammt blamabel.
({0})
Die Friseurin mit niedrigem Lohn muss herhalten, um
Hartz IV niedrigzurechnen. Das ist ein total durchsichtiges Manöver. Als ob die Friseurin nur einen Cent mehr
in der Tasche hätte, wenn es den Erwerbslosen noch
schlechter geht. Wir wissen doch, dass das Gegenteil der
Fall ist - es ist empirisch bewiesen -: Je schlimmer die
Situation von Erwerbslosen ist, umso eher sind diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben, bereit, für niedrigere Löhne zu arbeiten. Das heißt im Klartext: Niedrige Sozialleistungen ziehen das Lohnniveau in der
Tendenz nach unten. Wenn man also höhere Löhne
möchte, dann muss man sich auch für bessere Sozialleistungen einsetzen.
({1})
Frau von der Leyen erweckt den Eindruck, dass die
Regelsatzhöhe direkt von den kleinen Löhnen abgeleitet
worden ist. Vor diesem Hintergrund muss ich einmal fragen: Wie viel Prozent der Haushalte in der Referenzgruppe sind wirklich Erwerbstätige? Gestern konnte uns
der Staatssekretär diese Frage im Ausschuss nicht beantworten. Nur zum Hintergrund, warum ich das nachfrage:
In der alten Verbrauchsstichprobe war die Mehrzahl der
Haushalte in der Referenzgruppe Rentner und Studierende; die Erwerbstätigen haben nur einen ganz kleinen
Teil ausgemacht. Sie wissen also noch gar nicht, ob in
der Referenzgruppe tatsächlich viele Erwerbstätige sind,
oder Sie wollen es uns verschweigen.
({2})
Frau von der Leyen, Sie haben in der Zeitung gesagt,
die Opposition müsse das nun empirisch untermauern.
Es gibt eine Berechnung des Paritäters. Er nimmt zumindest die offensichtlichsten Rechentricks heraus und
kommt auf einen Regelsatz von 412 Euro. Sie wissen genauso gut wie wir, dass man für eine wirklich eigenständige, fundierte Berechnung die Rohdaten braucht. Aber
genau deren Herausgabe verweigern Sie uns; Herr
Schaaf hat schon darauf hingewiesen. Gestern im Ausschuss hat Schwarz-Gelb dagegengestimmt. Ja, Sie wollten uns noch nicht einmal die alternativen Berechnungsmethoden, die Ergebnisse zur Verfügung stellen.
({3})
Mit der gestrigen Abstimmung im Ausschuss haben wir
es nun schwarz auf weiß: Schwarz-Gelb will zwar den
Eindruck von Transparenz schaffen, aber Sie wollen
keine wirkliche Transparenz, zumindest wenn es um die
Information der Opposition geht. Das ist höchstpeinlich.
({4})
Sie erwecken den Eindruck, bei den Abschlägen
ginge es nur um Zigaretten und Alkohol. Halten wir einmal fest: Die Zigarettendebatte bewirkt vor allem eines:
Nebelschwaden, die von Abschlägen in anderen Bereichen ablenken sollen,
({5})
zum Beispiel beim Bereich Benzin oder Autoreparatur.
Ich bin sehr für umweltfreundliche Verkehrsmittel
wie Bus und Bahn, muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass man im ländlichen Raum leider häufig das
Auto braucht, um bestimmte Orte zu erreichen.
60 Prozent der Hartz-IV-Haushalte leben nun einmal im
ländlichen Raum. Wie sollen dann die Betroffenen zu
den schönen neuen Bildungsangeboten kommen, die Sie
ihnen jetzt anbieten? Sie können sich doch nicht hinstellen und sagen: Toll, wir schaffen neue Angebote, aber
wie die Leute dahinkommen, das ist uns egal.
({6})
Frau Kollegin Kipping, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Patrick Kurth?
Mit Vergnügen.
Herr Kurth, bitte.
Frau Kipping, in diesem Zusammenhang haben Sie
am Montag in einer Pressemitteilung geschrieben:
Kollektiver Ansturm auf Büros von Union und FDP
({0})
Wenn die Koalition das im Hinterzimmer auskungeln und das Parlament ausschließen will, dann
muss diese Auseinandersetzung auf die Straße getragen werden. Ich empfehle allen Erwerbslosen, in
den nächsten Wochen kollektiv Besuche in den Büros von Union und FDP abzustatten …
({1})
Meine Frage aufgrund meiner persönlichen Planung es gab in Thüringen mehrere Anschläge auf FDP-Büros;
jetzt klatscht keiner, sehr gut - ist: Würden Sie mir recht
geben, dass in einer rechtsstaatlichen Demokratie,
({2})
egal, wer regiert, die politische Auseinandersetzung ausschließlich mit der Kraft des Wortes gepflegt wird? Wie
stehen Sie zu der Aussage: Gewalt ist keine Lösung? Sie sprachen vorhin von „aufhetzen“: Wie bezeichnen
Sie Ihren Artikel hier?
({3})
Normalerweise verabredet man mit Leuten aus der eigenen Fraktion, solche Zwischenfragen zu stellen, wenn
die Redezeit zu kurz ist. Die Fragezeit wird dann dazu
genutzt, noch einmal Punkte anzusprechen, die man unbedingt unterbringen will. Vielen Dank, dass Sie viel
Zeit Ihrer Frage dafür genutzt haben, meine Pressemitteilung zu zitieren.
({0})
Zu Ihrer Frage kann ich nur sagen: Ich selbst bin Pazifistin, und wenn Sie bei „Ansturm auf Büros“ an Anschläge denken, dann ist das eher Ausdruck Ihrer Denke.
({1})
Ich verstehe unter „Ansturm“ natürlich, dass man zu Ihnen hingeht und - das stand auch in der Pressemitteilung dass Ihnen die Erwerbslosen endlich einmal erklären,
wie schwer es ist, mit diesem wenigen Geld über die
Runden zu kommen;
({2})
denn Sie sind ja offensichtlich der Überzeugung, dass
man von 364 Euro im Monat leben kann. Ich glaube,
hier ist noch viel Aufklärungsarbeit bei Ihnen nötig. Vielen Dank.
({3})
Ich würde gerne auf meine Rede zurückkommen. Ich finde, die Debatte um Zigaretten ist auch deswegen
verlogen, weil dadurch der Eindruck erweckt wird, dass
Alkohol und Zigaretten nur ein Problem von Erwerbslosen sind. Es kommt doch auch niemand auf die Idee, den
Abgeordneten die Diäten zu kürzen, weil sie eventuell
den Whiskeyschwenker in Schreibtischnähe haben,
({4})
und es kommt niemand auf die Idee, den Bankern die
Boni zu kürzen, weil sie Champagner trinken. Ich meine,
es gibt gute Gründe, den Bankern die Boni zu kürzen,
aber nicht wegen ihrer Trinkgewohnheiten.
Abschließend möchte ich dann doch noch einige
Worte zur SPD sagen. Es ist ja unnötig, daran zu erinnern, wer Hartz IV auf den Weg gebracht hat. Man
braucht keinen Vaterschaftstest, um an die rot-grüne Elternschaft von Hartz IV zu erinnern.
Nun gibt es Ihren Antrag, und ich finde, mit diesem
Antrag erwecken Sie schon klar den Eindruck, dass Sie
das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, im Gegensatz zu Schwarz-Gelb, sehr ernst nehmen. Das finde ich
sehr erfreulich. Ich muss allerdings sagen: Ich finde es
beunruhigend, wie sich der Ton der SPD-Spitze zu diesem Thema verändert hat - und das innerhalb von nur
ganz wenigen Tagen.
({5})
Es steht wirklich zu befürchten, dass die SPD, die am
Wochenende als Tiger abgesprungen ist, am Ende im
Bundesrat als Schoßhündchen bei Schwarz-Gelb landet.
({6})
Ich hoffe wirklich, dass ich mich sehr irre; denn ich
meine, wir müssen hier nicht wie das Kaninchen vor der
Schlange vor Schwarz-Gelb stehen und sagen: Wir können ja gar nichts machen, die haben die Mehrheit. - Wir
als Rot-Rot-Grün hätten es konkret in der Hand. Wir
könnten diesen Gesetzentwurf zu Fall bringen, indem
wir erstens mit einer Normenkontrollklage gemeinsam
nach Karlsruhe ziehen und deutlich machen: „Hier wird
das Urteil missachtet“, und zweitens kann man ihn im
Bundesrat ablehnen. Im Bundesrat wird es tatsächlich
zum Offenbarungseid kommen. Ich glaube, bei der SPD
muss man sich entscheiden - man steht jetzt vor einer
Weggabelung -, ob man sich gemeinsam mit den Linken
für Erwerbslose und Niedrigverdienende einsetzen will
({7})
oder ob man - das wollen die Kollegen von der CDU zur Westentaschenreserve der CDU werden will.
({8})
Ich will nur noch einmal daran erinnern: Der geschäftsführende SPD-Fraktionsvorsitzende hat bereits
Bereitschaft zum Kompromiss angekündigt. Ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich im Bundesrat die Zustimmung nicht für ein paar symbolische Glasperlen abhandeln. Ich meine, die mindeste Voraussetzung für jede
Verhandlung im Vermittlungsausschuss muss sein, dass
im Bundesrat nicht die Rechentricksereien der Bundesregierung die Grundlage sind, sondern zumindest die um
die schlimmsten Tricksereien bereinigte Berechnung des
Paritäters. Mir geht das, was der Paritäter berechnet hat,
nicht weit genug, aber ich glaube, die Berechnung des
Paritäters muss die rote Linie sein, unter die Sie als SPD
im Bundesrat nicht zurückfallen dürfen.
({9})
Grundsätzlich ist zu sagen: Der Kurs von Hartz IV
führt in die falsche Richtung. Wir als Linke setzen hier
auf einen anderen Kurs. Wir wollen einen gesetzlichen
flächendeckenden Mindestlohn, eine Kindergrundsicherung und mindestens eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Finanziert werden kann das alles, wenn man sich
endlich an eine ordentliche Besteuerung der Spekulationen heranwagt.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einige Rednerinnen und Redner haben es schon betont: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt uns
auf, ein menschenwürdiges Existenzminimum, das der
Maßgabe des Art. 1 des Grundgesetzes entspricht, zu
schaffen. Ich wundere mich, wie wenig Sie von der Regierungskoalition in der öffentlichen Darstellung auf
diesen Bezug zur Menschenwürde eingehen.
({0})
In der öffentlichen Debatte draußen führen Sie doch
hauptsächlich, wenn nicht vollständig, eine miserable
Lohnabstandsdiskussion nach dem Motto: Wenn schon
die Löhne nicht existenzsichernd sind, dann soll es die
Grundsicherung erst recht nicht sein.
({1})
Mit dieser Art der öffentlichen Darstellung, nach der
die kleine Verkäuferin dafür herhalten muss, dass die
Höhe des Arbeitslosengeldes II unzulänglich bleibt, erklären Sie die Grundsicherungsbezieherinnen und -bezieher zu Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse.
({2})
Das zieht sich durch das gesamte Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung und natürlich auch durch das
Sparpaket. Auf der ganzen Linie treffen Sie Bestimmungen, die gar keinen anderen Schluss zulassen, als dass
Sie Langzeitarbeitslose als Bürger zweiter Klasse sehen.
Ich fange mit dem Regelsatz an. Ich will da gar nicht
den Vorwurf der Trickserei bemühen. Mir reicht völlig
aus, welche politischen Setzungen Sie vornehmen, etwa
bei Schnittblumen; bei den kleinen Dingen kommt es ja
besonders deutlich zum Vorschein. Ich dachte, Sie sind
die Partei der Bürgerlichkeit. Nach meinem Verständnis
gehört zur bürgerlichen Lebensführung, dass man seiner
Mutter zum Geburtstag auch mal einen Strauß Blumen
mitbringen kann.
({3})
Auch da, wo Sie Bedarfe nicht aberkennen, zeigen die
neuen Berechnungen zum Regelsatz: Die Lebenswirklichkeit - die muss man ja auch einmal heranziehen scheint für Sie keine Rolle zu spielen. Nehmen wir auch
hier nur ein Beispiel, Mobilitätskosten bei Jugendlichen.
Für 14- bis 18-Jährige haben Sie 12,62 Euro pro Monat
vorgesehen. Dafür kriegen Sie kein Schülerticket und
keine Monatskarte. Wenn ich weiß, dass es Landkreise
gibt, die über 16-Jährigen keine Monatskarte mehr für
den Schulweg finanzieren, weil sie sagen: „Das Ende der
Schulpflicht ist erreicht. Wenn du Abitur machen willst,
musst du selbst für deine Fahrkarte aufkommen“, dann
sehe ich doch ein, dass diese 12,62 Euro für Mobilität im
Monat völlig unzureichend sind.
({4})
Selbst wenn sie korrekt berechnet worden sind: Ich
muss doch den Gegencheck mit der Wirklichkeit machen. Deswegen fordern wir in unserem Antrag ja auch,
dass wir zur Gegenprüfung wieder einen Warenkorb
zusammenstellen, um zu sehen, ob die Bedarfe, die statistisch ermittelt worden sind, tatsächlich dem entsprechen, was notwendig ist. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ja auch gesagt: Der tatsächliche Bedarf muss
gedeckt werden.
Wenn Sie mit solchen Dingen konfrontiert werden,
sagen Sie immer: Der Regelsatz ist aber doch nicht evident zu niedrig. Das Bundesverfassungsgericht habe gesagt: Er ist nicht evident zu niedrig.
Herr Kollege Kurth.
Einen Moment bitte noch. - Es muss Ihnen doch auffallen, dass die Bundesagentur für Arbeit mittlerweile
1,1 Millionen Darlehen verwaltet, weil Aufwendungen
etwa für langlebige Verbrauchsgüter, die kaputtgegangen
sind, wie Kühlschränke, Herde, einfach nicht aus dem
Regelsatz angespart werden können. Wollen Sie denn
die Bundesagentur für Arbeit zu einer Art Bad Bank für
Arme machen?
({0})
Erlauben Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen
Weiß?
Sehr gern, Herr Weiß. Bitte.
Herr Kollege Kurth, Sie haben eben in Ihrer Rede auf
das alte Berechnungsmodell für den Regelsatz - damals
noch der Sozialhilfe, heute des Arbeitslosengeldes II verwiesen, den sogenannten Warenkorb. Würden Sie uns
bitte bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht in
seinem Urteil ausdrücklich die neue Berechnungsmethode nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
als geeignet bezeichnet hat, um den Regelsatz zu bemessen?
Würden Sie zum Zweiten bestätigen, dass die Abschaffung des alten Warenkorbs - da ging es etwa darum: Gehört da eine Banane hinein oder ein Apfel? - damals von allen Wohlfahrtsverbänden und Fachleuten
gefordert worden ist, der Übergang zur neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe begrüßt worden ist und
dass vor allen Dingen die Abschaffung des Warenkorbs
und der Übergang zu der neuen Berechnungsmethode
dazu geführt haben, dass die Regelsätze damals um über
10 Prozent gestiegen sind, dass Warenkorb also weniger
Leistungen und Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
mehr Leistungen bedeutet?
({0})
Ausdrücklich kann ich Ihrer letzten Feststellung nicht
zustimmen.
({0})
Es ist so gewesen, dass die einmaligen Leistungen, die
vorher gewährt worden sind, in den pauschalierten Regelsatz übernommen worden sind. Das geschah leider
- das muss man rückblickend sagen - zulasten insbesondere der Kinder, die überproportional einmalige Leistungen in Anspruch genommen haben, weil sie schließlich
wachsen. Ich will aber gar nicht in Abrede stellen, dass
das Bundesverfassungsgericht die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe als zulässiges und geeignetes
Verfahren angesehen hat.
({1})
Das entbindet einen aber doch nicht von der Pflicht, wenn
es um den tatsächlichen Bedarf geht, eine Art Gegenprüfung vorzunehmen. Der Übergang zur Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe und die Abkehr vom Warenkorb
sind damals mit guten Gründen vorgenommen worden.
({2})
- Das bestätige ich gerne. - Allerdings muss man dazu
sagen, dass wir damals ein ganz anderes Lohnniveau
hatten. Wir müssen doch sehen, dass seit dieser Zeit die
Löhne abgesackt und nicht mehr existenzsichernd sind
und dass wir deswegen nicht mehr ausschließlich auf die
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zurückgreifen
können, wenn wir den tatsächlichen Bedarf feststellen
wollen - und dies umso mehr, als die von Ihnen ausgewählte kleine Gruppe, die den Maßstab für den Regelsatz bildet, nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern
nur noch die unteren 14 Prozent der Einkommen umfasst.
({3})
Es geht aber nicht nur allein um den Regelsatz. Der
Gesetzentwurf ist umfangreicher. Ich möchte abschließend kurz etwas zur Rechtsposition der Langzeitarbeitslosen sagen. Sie verschlechtern nämlich auch deren
Rechtsstellung und führen eine Ungleichbehandlung ein,
die ich wirklich als unglaublich empfinde. So soll zum
Beispiel bei der Verhängung von Sanktionen zukünftig
keine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung mehr notwendig sein, sondern es reicht, wenn der Betroffene davon
Kenntnis gehabt hat. Im Zweifelsfall reicht also ein Telefonat mit dem Fallmanager, der sagt: Wenn du das und
das nicht machst, verhänge ich eine Sanktion. - Das ist
dann die Rechtsgrundlage für die Verhängung einer
Sanktion. Wir würden uns doch als Steuerbürger oder als
Verkehrsteilnehmer, der einen Bußgeldbescheid erhält,
niemals gefallen lassen, dass die Rechtsbehelfsbelehrung fehlt. Und so etwas kommt von der angeblichen
Rechtsstaatspartei FDP.
({4})
Darüber muss ich mich doch schon sehr wundern.
({5})
Wenn man dann noch sieht, dass Gerichtskosten nicht
im Regelsatz enthalten sind und dass von den von Ihnen
regierten Ländern Baden-Württemberg und Bayern Vorstöße kommen, die Prozesskostenhilfe einzuschränken,
dann erkennt man, dass Sie auf der bürgerrechtlichen
Ebene ebenfalls Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse
schaffen. Sie können noch so viel von den neu anerkannten Kinderbedarfen reden: Das ist angesichts dieser
schwerwiegenden Mängel ein Tröpfchen auf den heißen
Stein. Mir jedenfalls ist zu dem, was die schwarz-gelbe
Koalition tut, ein Vers aus Heinrich Heines Deutschland.
Ein Wintermärchen eingefallen:
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser,
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debattenbeiträge der Opposition werden
wirklich nicht besser.
({0})
Gestern hat Frau Ferner noch gesagt, die Sozialministerin von der Leyen sei nicht durchsetzungsfähig; heute
haben wir von Frau Ziegler gehört, sie zögere.
({1})
Ich sage dazu: Zwei Jahre keine Jobcenterreform; die haben Sie nicht hinbekommen. Ursula von der Leyen hat
dafür drei Monate gebraucht.
({2})
Bei den Regelsätzen ist es genauso: Im September waren
die statistischen Unterlagen verfügbar, und noch im September liegt der Referentenentwurf vor. Am 17. Dezember dieses Jahres werden wir diesen Gesetzentwurf verabschieden. Wenn Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, das verhindern, dann tragen Sie auch dafür die Verantwortung.
({3})
Wir als CDU tragen das C in unserem Namen.
({4})
- Da dies bei Ihnen Schreierei verursacht, sollten Sie
einmal darüber nachdenken, wie weit wir gekommen
sind. - Unsere Basis ist nicht sozialistisch. Unser Motto
ist eben nicht „alle gleich“. Menschenwürde ist deswegen für uns kein politisches Kalkül, sondern eine tiefe
Überzeugung.
({5})
Hier setzt unser Gesetzentwurf an.
Zur Klarstellung: 2008 betrug der Sozialetat 124 Milliarden Euro. 2011 werden es 131 Milliarden Euro sein,
also 7 Milliarden Euro mehr. Gleichzeitig hat die Arbeitslosenzahl von 5 Millionen auf circa 3 Millionen abgenommen. Trotz Schuldenbremse geben wir heute
620 Millionen Euro mehr für die Kinder aus. Die bisherige Höhe der Regelsätze wird beibehalten, obwohl es
rechnerisch weniger wäre. Würden wir nach Haushaltslage entscheiden, müssten wir kürzen; aber das tun wir
nicht. Das nenne ich Solidarität.
({6})
Es wird dem geholfen, der es wirklich braucht.
Eine weitere Klarstellung: Keinen der vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Sachverhalte haben die
CDU/CSU oder die FDP zu verantworten. Diese Gesetze
stammen nun einmal von der SPD und den Grünen.
({7})
Die SPD schreibt in ihrem vorliegenden Antrag - ich zitiere -:
Das BVerfG hat dabei in seinem Urteil weder die
absolute Höhe der Regelsätze infrage gestellt noch
das Verfahren zur Bemessung der Regelsätze anhand der Verbrauchsausgaben unterer Einkommensgruppen … als grundsätzlich ungeeignet bezeichnet.
Ein spröder, unhandlicher Satz, aber wahr.
Frau Kollegin Heil, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Ihres Namenskollegen?
Aber gern. Wir haben uns noch nie unterhalten.
({0})
Bitte schön, Herr Heil.
Frau Heil - weder verwandt noch verschwägert -, es
freut mich, dass wir uns einmal kennenlernen.
({0})
Gestatten Sie mir die Frage, ob Sie sich entsinnen,
dass zumindest CDU und CSU, namentlich Herr
Laumann und andere, über den Bundesrat und über den
Vermittlungsausschuss am Zustandekommen der entsprechenden Gesetze beteiligt waren. Können Sie sich
eines Programms Ihres Kanzlerkandidaten Edmund
Stoiber aus dem Jahre 2002 entsinnen, der seinerzeit gefordert hat, die damals bestehenden Regelsätze pauschal
auf 75 Prozent zu verringern? Können Sie bestätigen,
Hubertus Heil ({1})
dass das so war? Wie erklären Sie dann Ihre heutigen
Vorwürfe?
Ich kann mich sehr gut dessen entsinnen, auch wenn
ich ein bisschen älter als Sie bin. Ich war damals anders
als Sie noch nicht hier im Parlament. Ich fände es wirklich sehr gut, wenn Sie sich gleich hier vorne hinstellten
und sagten: Ja, wir haben das damals so beschlossen,
und wir stehen auch dazu. - Aber das werden Sie nicht
tun; vielmehr werden Sie heute eine Rolle rückwärts machen.
({0})
Das Einzige, was Vertreter Ihrer Fraktion, zum Beispiel Ihre Kollegen Nahles oder Gabriel, tun, ist, uns
eine verfassungswidrige Vorlage oder Trickserei vorzuwerfen. Sie fordern höhere Transferleistungen; wir haben das eben wieder gehört. Sie stellen diese Forderung
auf, obwohl in Ihrem uns vorliegenden Antrag nicht
steht, dass die Regelsätze vom Bundesverfassungsgericht infrage gestellt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD, das ist Populismus und Ausdruck notorischer Vergesslichkeit.
Die SPD geißelt die Bemessungsverfahren als unzulässig und willkürlich. Gleichzeitig erklären Sie in dem
vorliegenden Antrag, dass dieses Verfahren vom Bundesverfassungsgericht als grundsätzlich geeignet eingestuft wurde. Eine eigene nachvollziehbare Berechnung
legen Sie nicht vor. Das ist Populismus und Ausdruck
notorischer Vergesslichkeit. Liegt es vielleicht daran,
dass der Antrag, den Sie vorlegen, schon ein halbes Jahr
alt ist - er stammt vom 2. März 2010 - und dass Sie Ihre
Meinung in dieser Zeit bekanntlich schon x-mal geändert haben? Liegt es vielleicht daran, dass Sie sich nicht
mehr erinnern können? - Wir erleben heute eine Rolle
rückwärts der SPD, wie bei vielen anderen Themen in der
Vergangenheit auch. Ich erinnere an die Rente mit 67. Ich
erinnere daran, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern
wollen, dass Sie die Sicherheitsstandards bei Atomkraftwerken ausgesetzt haben. Heute erleben wir das bei den
Bemessungssätzen für die Hartz-IV-Empfänger.
So arbeiten wir als christlich-liberale Koalition nicht.
Wir stehen für Verlässlichkeit und den Mut, die Sozialsysteme heute so zu gestalten, dass sie auch in Zukunft
leistungsfähig und bezahlbar sind, auch wenn das unpopulär ist.
({1})
Jetzt wird christlich-liberale Sozialpolitik gemacht. Unser Alternativprogramm heißt: Hilfe, die bei den Kindern ankommt, und Hilfe, die Ideen zur Umsetzung
Spielraum lässt. - Das ist ein Paradigmenwechsel zugunsten der Kinder in unserem Land.
Am Anfang steht natürlich immer eine solide Ermittlung der Berechnungsgrundlage. Dazu wurden ein
Jahr lang 60 000 Haushalte - jeder Haushalt ein Vierteljahr lang - begleitet. Die Zahlen sind sauber ermittelt
worden nach einem Verfahren - um das noch einmal zu
sagen -, das vom Bundesverfassungsgericht nicht gerügt
wurde. - Damit auch die Zuschauer das einmal hören:
Wir bewegen uns in einem Korridor von einem Nettoeinkommen von 901 Euro für einen Einpersonenhaushalt
bis hin zu einem Nettoeinkommen für eine Familie mit
einem Kind von 2 544 Euro. Sie sehen also, dass der
Vorwurf der Linken, wir verglichen die Armen mit den
Ärmsten, komplett ins Leere geht und reiner Populismus
ist.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat von der Politik gefordert, eine Wertentscheidung zu treffen. Die Politik
muss also klären, was zum Grundbedarf gehört und was
nicht. Das haben wir getan. Internetzugang und Mineralwasser gehören für uns zum Grundbedarf. Alkohol, Tabak, ein Pkw oder ein Haustier gehören für uns hingegen
nicht dazu. 13 Bereiche sind neu dazugekommen, zum
Beispiel optische Geräte oder Videos; zehn Posten sind
herausgenommen worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD - von den Linken möchte ich gar nicht sprechen -,
was wollen Sie denn? Wollen Sie, dass Zigaretten und
Alkohol zum Grundbedarf eines Menschen gehören?
Dann sagen Sie es uns.
(Zuruf von der SPD: Wir wollen Transparenz,
die Sie ablehnen!
Solange Sie regiert haben, haben Sie die Sätze für auskömmlich erklärt. Was aber ist heute? Ich erinnere an einen Satz von Altbundeskanzler Schröder, der bekanntlich kein Mitglied der CDU oder der FDP ist. Dieser hat
im Jahr 2004 zu bedenken gegeben, dass das alles aus
den Steuern der Verkäuferin, des Gesellen im Handwerk,
des Krankenpflegers und von wem auch immer aufgebracht werde. Angesichts dieser Tatsache durch die Gegend zu laufen und zu sagen, das sei zu wenig, werde der
Lage nicht gerecht, so Altbundeskanzler Schröder.
({3})
Frau Kollegin Heil, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben
sich komplett verrannt. Die Öffentlichkeit schüttelt den
Kopf über Sie. Es ist höchste Zeit, dass Sie sich wieder
auf Ihre Verantwortung für alle Teile der Gesellschaft
besinnen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Anträge von meiner Fraktion und von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liegen schon seit langem vor. Die Antragsteller hatten offensichtlich geahnt,
was uns am Wochenende von Frau von der Leyen präsentiert wurde; denn das hat herzlich wenig mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu tun. Wir haben
vom Bundesverfassungsgericht den ganz klaren Auftrag bekommen, die Regelsätze am Existenzminimum
orientiert, transparent und nachvollziehbar zu gestalten
sowie die Situation der Kinder zu verbessern, ihnen Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zuzusichern.
Das, was uns nun nach acht Monaten angestrengter
Arbeit - wie gesagt wurde - vorliegt, spricht aber eine
andere Sprache. Zum einen sind die Regelsätze in Gänze
nicht nachvollziehbar. Sie erscheinen willkürlich. Zum
anderen liegt der Verdacht sehr nahe, dass sie nicht verfassungskonform sind.
Im Ausschuss gab es gestern eine Vielzahl offener
Fragen, die nicht beantwortet werden konnten; es gab Irritationen und Wirrwarr bezüglich des Zahlenwerks. Wir
werden uns in den nächsten Wochen auf der Grundlage
der nachgeforderten Berechnungen noch lange mit den
Einzelheiten beschäftigen müssen. Hier scheint ganz offensichtlich der Finanzminister die Hand von Frau von
der Leyen geführt zu haben: Der Regelsatz wurde zusammengezimmert auf ein passendes Maß.
({0})
Die Menschen im Lande reden noch ganz anders darüber. Monatelang hat die Ministerin bei den 6,8 Millionen betroffenen Grundsicherungsempfängern hohe Erwartungen geweckt. Natürlich ist die Enttäuschung
angesichts dieses Ergebnisses groß. Man muss sich nicht
wundern, wenn Bürgermeister Buschkowsky sagt, die
Menschen fühlten sich verhohnepipelt.
({1})
Sie sagen, 5 Euro seien Almosen, Almosen für den kleinen Mann. Aber die Ministerin entgegnet: Mehr ist nicht
drin. Es muss ja auch bezahlt werden können. - Also
doch eine Entscheidung nach Kassenlage!
({2})
Frau von der Leyen appelliert an uns, man müsse
auch an die vielen denken, die wenig verdienen, so wenig wie beispielsweise eine Friseurin, die bei mir zu
Hause in Oranienburg 4,22 Euro verdient
({3})
und zusätzlich Hartz IV braucht, um am Existenzminimum zu leben. Ja, natürlich hat die Ministerin recht: Wir
müssen an diese Leute denken. Ich könnte auch noch
viele andere Beispiele anführen. Aber die Ministerin
zieht die falschen Schlussfolgerungen. Der Hinweis auf
das Lohnabstandsgebot hilft hier nämlich überhaupt
nicht weiter. Es demütigt die Menschen, die damit leben
müssen, und damit spielt sie diejenigen, die zu wenig haben, gegen die aus, die staatliche Leistungen erhalten.
Das finde ich besonders perfide.
({4})
Die Ministerin drückt sich vor allen Dingen um eine
Aufgabe herum, die sie als Arbeitsministerin hat. Es gibt
nur eine einzige Lösung, damit das Lohnabstandsgebot
eingehalten wird, nämlich, anstatt die Regelsätze niedrig
zu halten, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
({5})
Das ist eine längst fällige Entscheidung. Um diese
drückt sich die Ministerin herum. Es führt aber kein Weg
daran vorbei. Auf diese Weise könnten Sie ernsthaft und
nachhaltig bei den Ausgaben für die Grundsicherung
sparen.
({6})
Die 50 Milliarden Euro für die 1,3 Millionen Aufstocker
würden so nicht mehr fällig.
({7})
Viel schlimmer ist aber das Versagen bei der Erfüllung des zweiten Auftrags an uns, nämlich die Verbesserung der Chancen für Kinder. Nach monatelangen Ankündigungen, in den Medien hochgejubelt, und nach
vielen Versprechungen - ich denke nur an die Aussage:
Das ist die große Chance für die Kinder, die heute viel zu
früh scheitern - liegt nun das Ergebnis vor: eine einzige
große Enttäuschung.
({8})
Ich glaube, dass wir hier viel weiter denken müssen.
Wenn wir für alle Kinder eine echte Teilhabechance eröffnen wollen, kommen wir nicht drum herum, das Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten, das wir
begonnen haben, und das Ganztagsschulprogramm fortzusetzen.
({9})
So kann man den Teufelskreis durchbrechen, von dem
Frau von der Leyen spricht
Frau Krüger-Leißner, kommen Sie bitte zum Schluss.
- ja -, und die Kinder aus der Armut herausführen.
Staatssekretär Fuchtel, Sie müssen Frau von der
Leyen aus der heutigen Debatte vor allen Dingen mitgeben, dass wir ihre Worte sehr ernst nehmen.
({0})
Wir werden sie daran messen, ob sie eine verantwortungsvolle Sozial- und Arbeitsministerin ist.
({1})
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es gäbe viel zu den Anträgen von SPD und Grünen zu sagen.
({0})
- So viel Zeit habe ich nicht, aber zwei Bemerkungen
seien erlaubt, Herr Kollege Schaaf.
Ich finde es interessant, dass die SPD in ihrem Antrag
ein ganzes Konvolut an Maßnahmen zur Bekämpfung
der Armut vorschlägt, dass sie aber wenig zu den Ursachen von Benachteiligungen sagt, die sie selbst durch
ungerechte Zuverdienstmöglichkeiten, durch mangelnde Bildungschancen für Kinder eingebaut hat. Dazu
sagen Sie in Ihrem Antrag erstaunlich wenig. Ich glaube,
das sagt viel aus.
({1})
Im Hinblick auf die Anträge der Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen finde ich es sehr bemerkenswert, dass sie von bedarfsgerechten Regelsätzen sprechen, aber den Bedarf noch gar nicht kennen.
({2})
Sie haben, wie Sie selber im Ausschuss zugegeben haben, eine Zahl in die Welt gesetzt, bevor eine Auswertung der EVS vorlag.
({3})
Das kann man machen, aber bedarfsgerecht ist das sicherlich nicht, lieber Herr Kollege Kurth.
({4})
Da hier aber mehr über den Vorschlag der Regierung
als über Ihre eigenen Anträge geredet wurde, will ich
auch auf diesen eingehen. Lieber Herr Kurth, Sie haben
gesagt, die Regierung habe kleingerechnet und es würden jetzt 15 Prozent und nicht mehr 20 Prozent der Einkommen bei der Berechnung zugrunde gelegt. Das ist
eine Irreführung; denn Sie haben von den unteren
15 Prozent gesprochen. Das ist ja nicht wahr, Herr Kollege Kurth. Es ist weiterhin das untere Fünftel der Einkommen. Nur, anders als bei Ihnen, anders als damals,
wurden jetzt Transferempfänger komplett herausgerechnet. Die Arbeitslosenhilfeempfänger wurden bei Ihnen
noch in dieser Gruppe belassen. Das ist jetzt anders. Die
Gruppe wurde angehoben. Es sind nicht die unteren
15 Prozent, sondern es sind, anders als Sie es damals gemacht haben, die 15 Prozent oberhalb der Transferempfänger, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Insofern ist das,
was Sie hier behaupten, unredlich.
({5})
Liebe Kollegin Kipping, Sie haben recht: Die Kosten
für Autoreparaturen wurden herausgerechnet, weil die
Regierung sagt: Das Auto gehört nicht zum Existenzminimum. Nur, dann gehört es zur Ehrlichkeit dazu, auch
zu sagen, dass, anders als bisher, bei den Kosten für den
öffentlichen Personennahverkehr nun auch die Haushalte betrachtet wurden, die kein Auto haben und die
deshalb natürlich höhere Ausgaben für den Personennahverkehr haben. Das wurde zur Grundlage gemacht.
Insofern ist es gerechter, weil endlich und anders, als es
bisher der Fall war, wenn man Bus oder Bahn fährt, die
realen Kosten berücksichtigt werden.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kipping?
Sehr gerne, Frau Kollegin Kipping.
Herr Vogel, Sie haben auf die Gelder hingewiesen, die
im Regelsatz für Verkehrsleistungen vorgesehen sind.
Für den öffentlichen Personennahverkehr sind jetzt monatlich 18,41 Euro eingeplant. Jetzt nennen Sie mir doch
bitte einmal die Stadt oder die Region, in der man für
dieses Geld eine Monatskarte bekommt.
Frau Kipping, offenbar haben Sie die Methode der
EVS nicht verstanden.
({0})
Hier werden jetzt real die Bedarfe angesetzt, die jene mit
kleinem Einkommen in Deutschland, die Verkäuferin,
der Lagerarbeiter, jene, die kein Auto haben, für den öffentlichen Personennahverkehr ausgeben. Das ist bedarfsgerechte Regelsatzermittlung, so wie es uns das
höchste deutsche Gericht aufgegeben hat.
({1})
Wir können gerne darüber diskutieren. Ich halte es für
legitim, dass Sie sagen, es muss mehr sein. Aber bedarfsgerecht ist es.
Aber ich will nicht nur auf die Regelsätze eingehen.
Dazu hat der Kollege Kober schon ausgeführt. Sie ste6420
Johannes Vogel ({2})
hen, und sie sind transparent und solide. Wichtig ist vielmehr, dass wir darüber hinausgehen müssen. Es kann
nicht nur um eine faire Grundsicherung gehen, sondern
es muss auch um die Perspektiven der Menschen gehen,
dort wieder herauszufinden. Wir brauchen eben auch
eine trittfeste Leiter aus Hartz IV heraus. Insoweit werden jetzt zwei Ungerechtigkeiten endlich korrigiert.
Sie haben bisher Kinderbildungsausgaben gar nicht
berücksichtigt. Nun werden endlich faire Chancen für
die Kinder geschaffen. Es ist eben nicht nur das Schulstarterpaket, das die Große Koalition schon eingeführt
hat. Darüber hinaus sind es eben Kosten für Vereinsmitgliedschaften, aber nicht nur das. Es sind auch die Schulausflüge und das Mittagessen und die Kosten für Nachhilfe für die Kinder, die sie benötigen.
({3})
Hier so zu tun, als sei es nur das, was die Große Koalition vorgelegt hat, hält der Überprüfung mit der Realität
nicht stand.
({4})
Wir werden ein Zweites tun, weil wir nicht nur die
Benachteiligung der kommenden Generationen und dort
derjenigen, die die Unterstützung der Solidargemeinschaft brauchen, beheben wollen, sondern auch die Benachteiligung der Erwachsenen. Daher fragen wir: Wie
können wir das System so weiter umgestalten, dass mehr
Menschen wieder herausfinden? Wie können wir den
Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt - Sie alle haben
heute wahrscheinlich wie ich die diesbezüglichen Zahlen
verfolgt - dafür nutzen, dass auch mehr Langzeitarbeitslose eine Chance haben? Diese Koalition wird sich
nächstes Jahr nicht nur mit der Überprüfung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen darum kümmern, dass die
Vermittlung vor Ort besser und schneller erfolgt, sondern wir wollen auch die Zuverdienstmechanismen
verbessern, damit wir eine trittfeste Leiter aus der
Grundsicherung heraus haben. Alle Experten, zuletzt
wieder die OECD und das IAB, bestätigen uns doch:
Derzeit lohnt es sich für viele nicht und es ist nicht ausreichend Motivation vorhanden, sich Schritt für Schritt
aus dem Transferbezug emporzuarbeiten, weil eben
nach den ersten 100 Euro von jedem Euro nur 20 Cent
behalten werden können. Das ist ungerecht, das ist unfair, und das werden wir korrigieren. Dann ist es ein
Paket, das die Grundsicherung natürlich noch nicht
perfekt macht - daran werden wir in den nächsten Jahren auch weiterarbeiten -, das aber das Sozialsystem in
Deutschland erheblich fairer macht als das, was Sie uns
hinterlassen haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon bemerkenswert, wofür Ministerin
von der Leyen die wirklich kurze Zeit seit dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts im Februar genutzt hat
- nämlich für Debatten über Chipkarten und Gutscheine,
ohne zu sagen, was wirklich darin stecken soll -, statt
sich um die Probleme zu kümmern, deren Lösung eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre: der Öffentlichkeit
einen Entwurf zu präsentieren, was sie zur Existenzsicherung von Kindern machen will. Dies hat sie nach
meiner Ansicht nicht getan.
({0})
Sie hat jetzt ein Teilhabe- und Bildungspaket vorgelegt, das die Regelsätze für Kinder ergänzen soll. Diese
Regelsätze sollen angeblich völlig kindbezogen und vom
Erwachsenenregelsatz unabhängig berechnet worden
sein. Wie sie das bewerkstelligt hat, obwohl in ihrer Referenzgruppe kaum Familien mit Kindern enthalten sind,
wird ihr Geheimnis bleiben, auch deshalb, weil sie sich
immer noch weigert, uns die Rohdaten und die daraus
abgeleiteten Berechnungen vorzulegen,
({1})
nicht nur uns, Frau Gruß, sondern auch den Sozial- und
Wohlfahrtsverbänden, die ihre Berechnungen sehr gern
überprüfen würden, um das tatsächliche Ausmaß der
Manipulation darstellen zu können. Ministerin von der
Leyen sagte gestern in der Aktuellen Stunde, dass sie
Wertentscheidungen treffen musste. Wenn das, was Sie
uns als kindgerechten Regelsatz präsentieren und als Bildungspaket vorschummeln, das darstellen soll, was Kinder aus armen Familien Ihnen wert sind, dann sieht es
um die Zukunft dieser Kinder schlecht aus.
({2})
Schauen wir uns doch einmal Ihre Berechnungen etwas genauer an: Ausreichende und ausgewogene Ernährung ist nach wie vor nicht enthalten; denn Ernährung ist
mehr als nur ein warmes Schulessen. Was ist denn mit
den Kindern, in deren Schulen es diese Essenversorgung
überhaupt nicht gibt?
({3})
Das ist leider die Mehrzahl der Kinder. Sie bekommen
immer noch kein Schulessen und auch nichts als Gutschein zusätzlich zum Regelsatz. Sie gehen also weiter
hungrig in den Unterricht. Es interessiert Sie auch gar
nicht, ob die Leistung wirklich bei den Kindern ankommt oder nicht. Sie freuen sich eher noch - das
schreiben Sie auch: Die Kosten hängen davon ab, inwieweit die Angebote wirklich in Anspruch genommen und
die Gutscheine eingelöst werden -, weil jedes nicht angebotene Schulessen ein bisschen im Haushaltssäckel
spart.
Aber es geht noch so weiter: Als Familienministerin
hat Frau von der Leyen noch medienwirksam an einer
groß angelegten Vorlesekampagne teilgenommen. Wie
aber Familien, die von dem leben sollen, was Sie ihnen
jetzt geben wollen, für 2,16 Euro im Monat ihrem Kind
ein Buch kaufen sollen, bleibt mir als Mutter von zwei
Kindern schleierhaft. Ganze 6,07 Euro sind im Monat für
Windeln vorgesehen. Halten Sie dies wirklich für realistisch? Davon bekommt man vielleicht, wenn man Glück
hat, eine Packung Billigwindeln. Aber ich habe mein
Kind öfter als nur eine Woche im Monat gewickelt.
Auch die Leistungen, die Sie in das sogenannte Bildungspaket packen, werden das, was im ganz normalen
Leben zu finanzieren ist, nicht decken; denn auch hier
betreiben Sie Augenwischerei und schummeln die Zahlen groß.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kober?
Ja, gerne.
Bitte.
Frau Kollegin Golze, würden Sie mir recht geben,
dass es ein ziemlich dichtes, flächendeckendes Netz an
öffentlichen kostenlosen Stadtbibliotheken in Deutschland gibt, die auch von Menschen, die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, zu nutzen sind?
({0})
Wissen Sie, Herr Kober, ich bin auch kommunalpolitisch tätig; ich habe ein Mandat in einer Stadtverordnetenversammlung. Ich weiß sehr wohl, wie es um die finanzielle Situation der Kommunen bestellt ist, übrigens
auch aufgrund von Regierungshandeln in den letzten
Jahren.
({0})
Ich weiß also, wie viele Bibliotheken in den letzten Jahren entweder geschlossen wurden oder nur noch ehrenamtlich betrieben werden. Zum Teil mussten auch die
Gebühren angehoben werden. Insofern ist klar, dass von
2,16 Euro eine Bildungsbeteiligung dieser Kinder nicht
möglich ist.
({1})
Zurück zum sogenannten Bildungspaket. Das Schulbedarfspaket - das ist schon gesagt worden - gibt es
schon seit mehr als einem Jahr; aber Sie feiern es jetzt,
als hätte es das vorher nicht gegeben. Ihr angeblich so
großes Bildungspaket verringert sich also weiter, und
zwar um 120 Millionen Euro. Das gilt umso mehr, weil
heute der Presse zu entnehmen war, dass die Bezieher
des Kinderzuschlags keinen Anspruch mehr auf dieses
Paket haben sollen.
({2})
Das heißt, die Kinder von Geringverdienern werden herausgenommen; ihnen soll diese Leistung weggenommen werden. Das hat das Arbeitsministerium in der
Presse bestätigt.
({3})
Es wird also weiter geschummelt und von den Armen
noch etwas weggenommen.
Ich kann lesen, dass Sie Kindern nun monatlich
10 Euro für Sport, Spiel, Kultur, Geselligkeit und außerschulische Bildung zur Verfügung stellen wollen. Eine
tolle Sache! Davon könnte ich nicht einmal die Musikschule meiner Tochter bezahlen. Es ist gestern in der Aktuellen Stunde schon viel dazu gesagt worden: Flötenunterricht oder Reitunterricht
({4})
kann man wohl kaum mit 10 Euro monatlich bezahlen.
Auch im Sportbereich - wir waren gerade bei den
Kommunen - sind die Vereinsbeiträge in den letzten Jahren angestiegen. Aber warum sollte sich ein Kind, das
sich nicht einmal gesundes Essen leisten kann, auch
noch im Sportverein bewegen und soziales Miteinander
und Fairness lernen! Das passt gar nicht zueinander. Sie
sollten den Experten, die dem Ministerium diese Ratschläge gegeben haben, einen Bildungsgutschein für
Realitätskunde geben. Das würde weiterhelfen.
({5})
Es müssen im Übrigen die gleichen realitätsfremden
Berater gewesen sein, die Ihnen vorgeschlagen haben,
dass zukünftig Fallmanager oder Familienlotsen die Bildungsberatung für fast 2 Millionen Kinder und Jugendliche übernehmen sollen. Sie bauen eine Parallelstruktur
auf - neben den Ämtern, die das originär zu tun hätten,
nämlich die Jugendämter; denn Sie wissen, dass die Jugendämter auch aufgrund von Bundespolitik in den letzten Jahren Personal abbauen mussten; nun soll das das
Jobcenter erledigen - mit Personal, das dafür gar nicht
qualifiziert ist und diese Aufgabe im Übrigen auch gar
nicht übernehmen will. Auch das spricht für Ihre Realitätsferne.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten: Dieser Entwurf
hat mit „kindgerecht“ nichts zu tun. Er erfüllt nicht den
Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes. Wir werden
deshalb weiter über diesen Gesetzentwurf streiten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Britta Haßelmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige der Beiträge von CDU/CSU und FDP zeigen ganz
deutlich, dass die Wortwahl von Diana Golze - sie hat
von Realitätsferne gesprochen - absolut zutreffend ist.
Herr Kober, ich habe gerade nachgesehen: Sie kommen aus Reutlingen. Vielleicht gibt es in Reutlingen eine
Stadtbibliothek, die noch kostenfrei ist. Ich habe mir gerade sagen lassen: Selbst in Baden-Württemberg ist es
nicht so. Mein Gott, wo leben Sie denn?
({0})
In den meisten Städten und Gemeinden geht es darum:
Können wir Stadtteilbibliotheken überhaupt noch offen
halten, oder müssen wir die Beiträge erhöhen, um nicht
alle schließen zu müssen?
({1})
Ich finde, Ihre Äußerungen sind nur eine Bestätigung dafür, wie die Lebenswirklichkeit von Ihnen eigentlich
wahrgenommen wird.
({2})
Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Sie werden bei aller Statistik, bei allen Zahlen, mit denen Sie hier aufwarten, nicht darum herumkommen, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der Bevölkerung - in den Kreisen, in
denen Menschen Armut erleben oder mit Menschen konfrontiert sind, die in Armut leben oder in Armut zu fallen
drohen - als absolutes Gerechtigkeitsproblem empfunden wird, dass Sie hier eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II um 5 Euro vorschlagen. Schauen Sie sich
doch einmal die Welt draußen an! Verfolgen Sie die Debatten in Kirche und Gesellschaft! Schauen Sie, was da
los ist! Kein Mensch versteht, dass ausgerechnet wir
kluge Ratschläge bei der Frage geben, was in einen Regelsatz gehört und was nicht. Darüber sollten Sie wenigstens einen Moment lang nachdenken.
({3})
Beim Bildungspaket steht die Antwort auf die große
Frage aus - da kneifen die Ministerin und auch Sie -:
Gibt es hier einen individuellen Rechtsanspruch eines jeden Kindes, ja oder nein? Ich sende einen schönen Gruß
an die Haushälter: Wenn ein individueller Rechtsanspruch besteht, dann müssen Sie auf die 620 Millionen
Euro kräftig etwas drauflegen, dann werden Sie mit einer Deckelung bei 620 Millionen Euro nicht hinkommen.
({4})
Die Antwort auf die große Frage bleibt offen; Sie haben
sie nicht beantwortet.
Es wurde vieles zu den Regelsätzen gesagt. Ich
komme jetzt zu den Kosten der Unterkunft. Wir haben
die Sparbeschlüsse; wir haben den Referentenentwurf,
der natürlich auch auf das Thema der Kosten der Unterkunft eingeht. Seit Januar, als es die schwarz-gelbe Bundesratsinitiative gegeben hat, endlich die Angemessenheit der Unterkunftskosten zu überprüfen und den
Bundesanteil neu zu berechnen und zu erhöhen, hampeln
wir an der Frage der Kosten der Unterkunft herum.
Und was machen Sie jetzt? Jetzt frieren Sie den Bundesanteil der Kosten der Unterkunft ein. Das heißt in Richtung der Länder und der Städte und Gemeinden: Es wird
nichts mit einer Erhöhung, der Bundesanteil wird eingefroren.
({5})
Sie ziehen das Vermittlungsverfahren immer weiter hinaus und kommen jetzt im Referentenentwurf auf die
Idee, den Bundesanteil schon einmal einzufrieren und
den Kommunen mehr Rechte zu geben. Die dürfen demnächst per kommunaler Satzung entscheiden, was „Angemessenheit der Unterkunftskosten“ bedeutet. Wissen
Sie eigentlich, was das für die Städte und Gemeinden bedeutet? 400 Landkreise und kreisfreie Städte entscheiden
demnächst darüber, was angemessen ist, weil Sie das
nicht zustande bringen.
({6})
Das fördert doch die Klagen, meine Damen und Herren.
({7})
3,4 Milliarden Euro - darauf lassen Sie es beruhen.
Sie gehen auch nicht daran, dass Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz eine andere Zuweisung bekommen
als die 14 anderen Länder. Ich habe mehrfach Anfragen
gestellt, warum das eigentlich so ist. Das kann mir niemand erklären. Das sei damals im Bundesrat so ausgehandelt worden, heißt es. Ausgerechnet diese beiden
Länder bekommen ein paar Prozentpunkte mehr. Wenn
man fragt, wo die sachliche Grundlage dafür ist, erhält
man keine Erklärung.
Anstatt die Unterkunftskosten den tatsächlichen Kosten entsprechend zu finanzieren und den Bundesanteil
endlich zu erhöhen - so wie das nicht nur die Grünen,
sondern auch die Städte und Gemeinden und der Bundesrat fordern -, drücken Sie sich weg, frieren Ihren Anteil ein, ziehen das Vermittlungsverfahren in die Länge
und kommunalisieren jetzt noch durch die Satzungen.
Was das für Auswirkungen auf die Betroffenen und auf
die Debatten vor Ort hat, darauf können wir sehr gespannt sein.
({8})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den lebhaften Ausführungen der Kollegin Haßelmann und auch der Vorredner von der SPD
muss man sich schon fragen, über was wir heute eigentlich diskutieren. Wir diskutieren über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine bis zum 9. Februar von
diesem Hause durchaus mitgetragene Regelung hinsichtlich der Berechnung der Langzeitarbeitslosenbedarfssätze für verfassungswidrig erachtet hat. Um einer kollektiven Amnesie gerade der Gruppe in der Mitte dieses
Raumes vorzubeugen, muss man mitteilen, wer Vater
und wer Mutter des entsprechenden Gesetzes war. Das
war Rot-Grün!
({0})
Gut, wir waren Taufpaten; wir haben mitgemacht.
({1})
- Damit habe ich kein Problem. Wissen Sie: Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. - Wie gesagt: Die
SPD hat es damals auf den Weg gebracht. Daher würde
es Ihnen im Interesse der Betroffenen gut anstehen, den
heute Zuhörenden zu sagen: Wir arbeiten konstruktiv
mit.
({2})
Insofern sind Sie nämlich als Väter und Mütter dieses
Gesetzes weiterhin in der Verantwortung, Hartz IV als
lernendes System weiterzuentwickeln. Ich appelliere an
Sie als ehemaligen Koalitionspartner, anders als die Kollegin Kipping, die Sie aufhetzt und auffordert, im Bundesrat nicht zuzustimmen: Wenn ihr in der SPD noch ein
bisschen Vernunft habt, dann stimmt im Bundesrat zu
und hetzt eure Länder nicht auf!
({3})
Unser Problem ist, dass Teile dieses Hauses das Urteil
im letzten halben Jahr schlicht missinterpretiert und der
Bevölkerung vorgegaukelt haben, im Urteil stünde etwas
anderes, als tatsächlich drinsteht. Damit wurde natürlich
die Erwartung erweckt: Hartz IV muss steigen. Im Urteil
steht aber - mit Ihrer geschätzten Erlaubnis, Herr Präsident, möchte ich im O-Ton aus dem Urteil zitieren -:
Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro
nach § 20 Abs. 2 1. Halbsatz SGB II a.F. kann eine
evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden,
weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht …
Das hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, und das
muss man unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern einfach einmal sagen.
Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der
für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres
einheitlich
- damals geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines
menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist.
Das steht - für die Kolleginnen und Kollegen, die es
nachlesen wollen - auf Seite 27 des Urteils. Auf
Seite 38, also kurz vor dem Schluss des Urteils, bestätigt
das Bundesverfassungsgericht diese Feststellung abermals:
Da nicht festgestellt werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von Verfassungs wegen verpflichtet, höhere
Leistungen festzusetzen.
Gegenteiliges haben Sie der Bevölkerung in vielen Bereichen glauben machen wollen.
Ich habe natürlich erwartet, Frau Kollegin KrügerLeißner, dass Sie sagen, dass Sie den Verdacht haben,
dass auch das Gesetz in neuer Form nicht verfassungskonform ist. Mit verfassungswidrigen Gesetzen haben
Sie in den letzten Jahren genauso viel Erfahrung machen
dürfen wie wir auch. Natürlich musste auch das Argument Mindestlohn kommen.
({4})
Ich möchte abermals mit der Mär aufräumen, dass der
von Ihnen geforderte Mindestlohn - Ihre Forderungen
sind von 7,50 Euro schon auf 8,50 Euro gestiegen, andere verlangen 10 Euro; all das ist bekannt - geeignet ist,
beispielsweise eine vierköpfige Familie aus dem Transferbezug herauszuholen. Sie bräuchten einen Mindestlohn in der Größenordnung von 11,80 Euro, wenn Sie
tatsächlich eine Familie davon ernähren wollten. Auch
das muss man den Menschen sagen.
({5})
Exemplarisch ist eine Aussage meines Lieblingslinken Klaus Ernst - heute ist er nicht da, ich habe ihn in
der Debatte vermisst -, des berühmtesten Aufstockers
der Republik:
Wenn der Regelsatz bei rund 370 Euro liegen soll,
dann wird das Prinzip Armut per Gesetz fortgeschrieben.
({6})
- Ich habe ihn doch nur als Nachbarn aus Schweinfurt
vermisst. Ich bitte um Verständnis. Wir verstehen uns so
gut.
Die Tatsachen sind: Der Sozialhilfeempfänger des
Jahres 2004 bekam einen monatlichen Regelsatz von
rund 260 Euro. Heute erhält ein Alleinstehender nach
SGB II einen monatlichen Regelsatz von 359 Euro bzw.
in Zukunft, nach dem neuen Gesetz, von 364 Euro. Man
muss aber auch sagen, dass dazu noch die Wohnkosten
kommen.
Frau Kollegin Haßelmann hat darauf hingewiesen,
dass die Höhe der Zuschüsse in Zukunft, den regionalen
Gegebenheiten entsprechend, von den Kommunen festgesetzt werden kann. Ich bitte um Verständnis, dass wir
die Kommunen ins Boot holen; denn sie müssen einen
Teil der Chose mitbezahlen. Es ist doch nur legitim, dass
der Landrat bzw. der Oberbürgermeister bei der Festsetzung der Wohn- bzw. Mietkosten mitreden darf. Das ist
unser Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung.
({7})
- Stellen Sie eine Frage, dann dauert es bei mir noch ein
wenig länger, Herr Kollege Kolb.
({8})
359 bzw. 364 Euro je Grundbedarf plus die Wohnkosten von derzeit rund 300 Euro, dann kommen noch Heizkosten, Sozialversicherung - ungefähr 165 Euro - hinzu.
All dies zusammen muss jemand, der als Single selbstständig bzw. berufstätig ist, erst einmal erwirtschaften,
bevor ich sagen kann: Er ist genauso gestellt wie ein
Hartz-IV-Empfänger.
({9})
Herr Kollege Schaaf hat eine Zwischenfrage. Ich
wäre bereit, sie zuzulassen.
Das Wort erteile ich.
Das weiß ich.
Aber Sie genehmigen das.
In vorauseilendem Gehorsam, selbstverständlich,
Herr Präsident.
Herr Schaaf, zu Ihrer Zwischenfrage, bitte.
Ich will nicht über die Urheberschaft mit Ihnen streiten, aber eines ist völlig klar: Ich habe aus der Union und
auch aus der FDP keine Proteste gehört, was die Berechnungsgrundlage angeht, als wir damals das SGB II so
formuliert haben, wie es jetzt ist.
({0})
Es gab keinen Widerstand im Bundesrat, was die Frage
der Berechnungsgrundlage angeht. Es gab aber massiven
Widerstand bei Union und FDP, was die Höhe angeht,
und zwar dahin gehend, dass gesagt worden ist, dass das,
was von Rot-Grün gemacht wurde, viel zu hoch angesetzt ist. Das zur Klarstellung, bevor ich meine Frage
stelle.
Herr Lehrieder, sind Sie mit mir nicht auch der Meinung - vor dem Hintergrund, wie dieses Urteil ausgestaltet ist, es geht nämlich ausschließlich darum, das
soziokulturelle bzw. das übliche Existenzminimum festzulegen -, dass das Lohnabstandsgebot schlichtweg
pulverisiert worden ist? Sie argumentieren immer, dass
die Hartz-IV-Empfänger nicht zu viel bekommen dürfen,
weil die unteren Lohngruppen nicht so viel bekommen.
({1})
Das wollen Sie einfach nicht anerkennen. Das ist genau
der Haken an Ihrer Argumentation.
({2})
Lieber Herr Kollege Schaaf, zu dieser Auffassung
können auch nur Sie und einige wenige andere in diesem
Haus gelangen. Der Punkt ist: Im Urteil steht genau, dass
die wirtschaftliche Absicherung, aber natürlich auch die
Zugangsteilhabe gewährt werden. Das ergibt sich aus
Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, der Garantie der Menschenwürde, und dem Sozialstaatsprinzip. Genau das hat
das Urteil umgesetzt. Es hat nicht vorgeschrieben, in
welcher Form oder in welcher Höhe. Es wurde lediglich
angemahnt: Rechnet sauber und transparent, macht es
schlüssig und nachvollziehbar! Es hat der Koppelung an
die Renten widersprochen, und auch die Pauschalierung,
die jetzt von manchen aus völlig unverständlichen Gründen wieder gefordert wird, wurde abgelehnt. Es wurde
eben nicht vorgeschrieben: Orientiert euch an irgendwelchen Löhnen! Herr Kollege Schaaf, Sie sind Praktiker
und lang genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Bereitschaft, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anzunehmen, 40 Stunden die Woche zur Arbeit zu
gehen und jeden Morgen um halb acht aufzustehen,
nicht steigt, wenn die Sozialleistungen höher sind als die
Löhne.
({0})
Sie müssen mir den Menschen zeigen, der die Sozialleistungen unter diesen Umständen nicht in Anspruch
nimmt.
({1})
Eine aktuelle Emnid-Umfrage ergibt, dass der überwiegende Teil unserer Bevölkerung eine Erhöhung der
Hartz-IV-Sätze nicht versteht. 56 Prozent sind das,
glaube ich. 42 Prozent halten die Regelsätze für ausreichend. Lediglich 36 Prozent halten einen Zuschlag für
erforderlich. Bei unserer Arbeit richten wir uns natürlich
nicht nach Umfragen,
({2})
sondern danach, was die Menschen brauchen, und danach, was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat.
Gleichwohl haben wir diese 5 Euro hinzugerechnet.
Im Übrigen hätte diese Neuberechnung - es wurde
bereits darauf hingewiesen - eigentlich zu einer geringfügigen Senkung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche geführt. Das haben wir selbstverständlich
nicht gemacht; denn wir wollen die Kinder und die Jugendlichen in unserer Gesellschaft stärker unterstützen.
Dementsprechend haben wir diese Sätze so belassen.
({3})
Aus Gründen des Vertrauensschutzes haben wir diese
Leistungen -
Sie fordern die Zwischenfragen ja geradezu heraus,
Herr Kollege Lehrieder.
({0})
Ich habe mich schon gewundert, Herr Kollege
Birkwald.
({0})
- Wenn Sie so lange dableiben, Frau Künast.
Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die ich während
Ihrer Rede zulasse, Herr Lehrieder. - Bitte schön.
Herr Kollege Lehrieder, Sie erwecken gerade den
Eindruck, dass Sie für die Bildungschancen von Kindern
alles tun wollen. Erklären Sie mir doch bitte einmal, warum den Kindern, die wegen des geringen Einkommens
der Eltern einen Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro erhalten, nach einem Bericht des Kölner Stadt-Anzeigers
von heute 100 Euro gestrichen werden sollen.
({0})
Das Bundesarbeitsministerium hat diese Kürzung eingeräumt.
({1})
Meinen Sie nicht auch, dass man, wenn man so etwas
hört oder liest, zu der Ansicht kommen kann, dass das,
was Sie hier erzählen, nicht ernst gemeint ist und es Ihnen in Wirklichkeit nicht darum geht, allen Kindern aus
ärmeren Familien entsprechende Bildungschancen zukommen zu lassen?
Herr Birkwald, ich danke sehr herzlich für die Frage,
gibt sie mir doch die Möglichkeit, das großzügige Angebot der Bundesregierung aus der Ausschusssitzung hier
noch einmal zu wiederholen. Kollege Brauksiepe hat angeboten, für Nachfragen und Erklärungen gerne in die
Arbeitsgruppen zu kommen. Er kommt sicherlich auch
zu den Linken. Der SPD hat er es expressis verbis angeboten. Tatsache ist, dass die Bildungsmöglichkeiten als
letzte Möglichkeit verrechnet werden. Das heißt,
zunächst wird bei den Aufstockern der Bedarfssatz
verrechnet. In gleicher Weise verhält es sich bei den Kinderzuschlägen. Das heißt, jedes Kind, das kinderzuschlagsberechtigt ist - so sind die Informationen, die uns
das Ministerium gegeben hat -, ist auch kinderbedarfspaketberechtigt. Das ist die Leistung, die bei einem Anwachsen der eigenen Leistungsfähigkeit als letzte wegfallen würde. Sie können sich gerne noch einmal beim
Ministerium kundig machen. Es wäre gut, wenn die vereinigte Linke in diesem Hause etwas mehr auf das
Ministerium als auf den Kölner Stadt-Anzeiger hören
würde. Bei allem Respekt vor dem Journalisten, aber
hier gibt es die Informationen und nicht im Kölner StadtAnzeiger.
({0})
Meine Damen und Herren, jeder Empfänger von
Hartz-IV-Leistungen hätte sich grundsätzlich über höhere Regelleistungen gefreut. Das ist kein Thema. Aber
der Staat muss sich nicht nur ihnen gegenüber rechtfertigen, sondern auch gegenüber den Menschen mit niedrigem Einkommen. Darauf habe ich bereits hingewiesen.
Im Übrigen halte ich das Kinderbedarfspaket für
eine reelle Chance. Einige Kollegen von der SPD haben
moniert, dass viele Schulen noch kein warmes Mittagessen anbieten. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines
Schulaufwandsträgers. Wenn er weiß, dass seine Klientel ein warmes Mittagessen nachfragt, dann wird er ein
entsprechendes Angebot schaffen. Ich bin der Auffassung: mens sana in corpore sano. Es ist richtig, über ein
warmes Mittagessen, über die Beteiligung in Sportvereinen und Musikvereinen - ich selbst bin in einem Musikverband organisiert - die Möglichkeiten der Kinder zur
Teilhabe an Bildung und Gesellschaft zu verbessern. Das
tun wir mit diesem Gesetz. Es ist ein gutes Gesetz. Jeder,
der es mit den Langzeitarbeitslosen ernst meint, insbesondere die SPD und die Linke, müsste diesem Gesetz
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Ich habe jetzt über eine Stunde zugehört, wie Sie verzweifelt versucht haben, die intransparenten Regelsätze
zu verteidigen.
({0})
Ich kann nicht sagen, dass sie für mich transparenter geworden sind, im Gegenteil. Strategien und Wege aus der
Armut habe ich von den Rednern der Regierungskoalition überhaupt nicht gehört.
({1})
Gestern in der Aktuellen Stunde
({2})
habe ich das wahre Gesicht von Frau von der Leyen kennengelernt. Das war ein anderes Gesicht als in den letzten Jahren. Vergessen sind ihre Zeiten als Familienministerin. Damals - muss man sich erinnern - war es mit
uns, also mit der SPD, im Rücken für sie sehr leicht, die
Kämpferin für die Familie herauszukehren. Damals haben wir gemeinsam Wege aus der Armut beschritten.
Wir haben mit dem Kinderzuschlag 300 000 Kinder aus
der Armut geholt. Wir haben mit einem bedarfsgerechten Ausbau bei der Kinderbetreuung die Bildungsbeteiligung für die Kinder verbessert. Mit unserem Mindestelterngeld haben wir auch arbeitslose Eltern mit 300 Euro
unterstützt. Schon damals war es der richtige Weg, zwei
Dinge zu tun, nämlich finanzielle Unterstützung zu gewähren und Bildungsinfrastruktur auszubauen. Das
sind die wahren Strategien, um Armut zu bekämpfen.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich frage mich,
was aus der Ministerin heute geworden ist, ohne die SPD
im Rücken, aber mit Herrn Westerwelle und Herrn
Seehofer im Nacken, so muss man ja schon sagen. Während wir hier locker über die Agenda 5 Euro - so stand es
heute in der Zeitung - diskutieren, schafft sie nämlich
gleichzeitig ganz unsoziale Fakten. Sie nimmt den Ärmsten der Armen die 300 Euro Elterngeld wieder weg. Sie
kürzt die Altersversorgung, weil sie Beiträge in die Rentenversicherung nicht mehr zahlt. Ferner streicht sie - es
stand heute in der Zeitung; wir haben es gerade noch einmal gehört - den Kindern mit Kinderzuschlag die
100 Euro für das Schulbedarfspaket. Damit verhöhnen
Sie genau die Menschen, die unverschuldet in Arbeitslosigkeit geraten; denn Elternarmut, Kinderarmut und vor
allem Altersarmut sind mit Ihrer unsozialen Politik vorprogrammiert.
({4})
Mit unserem Antrag, den wir heute diskutieren, zeigen wir ein schlüssiges Konzept zur Bekämpfung der
Armut auf. Ich möchte auf drei Vorschläge eingehen. Für
mehr reicht meine Zeit nicht; ich habe nur sechs Minuten.
Das erste Ziel ist für uns natürlich, die Spirale der Armut zu durchbrechen. Über 1,3 Millionen Menschen in
Deutschland - wir haben es heute an verschiedenen Stellen schon gehört - arbeiten, doch sie können von ihrem
Einkommen nicht leben und brauchen zusätzliche Unterstützung. Wie einfach wäre es, mit einem Mindestlohn
diese Spirale der Armut zu durchbrechen? Das wäre der
richtige Weg. Höhere Zuverdienstgrenzen à la Westerwelle
dagegen sind ein Dammbruch für die Ausweitung des
Niedriglohnsektors. Herr Lehrieder, kommen Sie und die
anderen mir nicht mit dem Argument, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze vernichten.
({5})
Schauen Sie sich die Statistiken einmal genau an. In den
Ländern, in denen es Mindestlöhne gibt, zum Beispiel in
Großbritannien, liegt die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten bei 4,8 Prozent. In Deutschland beträgt sie
20 Prozent. Das ist der Skandal, und das ist die Wahrheit.
({6})
Punkt zwei, den ich erwähnen möchte, ist folgender:
Gute existenzsichernde Löhne sind das eine, aber
schnelle Integration in den Arbeitsmarkt ist das andere.
Was war die Antwort von Frau von der Leyen gestern in
der Aktuellen Stunde? Sie hat vehement vertreten, wir
müssen dafür kämpfen, dass der SGB-II-Bezug so kurz
wie möglich ausfällt. Natürlich, Menschen schnell in Arbeit zu bringen, ist unser oberstes Ziel. Aber was tun
Sie? Es ist ja bei dieser Ministerin immer das Gleiche
gewesen: Zwischen dem Tun und dem Sagen liegt das
Meer. Sie kürzt nämlich gleichzeitig die aktiven Arbeitsmarktmittel um 16 Milliarden Euro in den nächsten 4 Jahren. Was das mit Armutsbekämpfung zutun hat,
ist mir schleierhaft.
({7})
Last, but not least - wir haben heute schon öfter darüber diskutiert - verweist Frau von der Leyen stolz auf
das Bildungspaketchen, auf das neue Bildungspaket. Damit bin ich bei dem dritten und wichtigsten Punkt, dem
Kern des Themas einer nachhaltigen Armutsbekämpfung. Echte Bildungsbeteiligung lässt sich nur mit guten Kitas und Ganztagsschulen vor Ort organisieren.
({8})
Daher fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einen Rechtsanspruch auf Bildung, und zwar
für alle Kinder. Das ist der richtige Weg aus der Armut.
Ich fordere Sie auf: Starten Sie zusammen mit Ihrer Kollegin Schavan - sie ist auch nicht mehr da; aber das ist
egal - eine nationale Bildungsoffensive, in der Bund,
Länder und Kommunen an einem Strang ziehen.
({9})
Lassen Sie nicht wieder kostbare Zeit - wie in den letzten acht Monaten - ungenutzt verstreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Was macht Frau Schröder als zuständige Ministerin
für Familie und Jugend? Sie ist anscheinend abgetaucht;
sie ist auch gerade nicht anwesend. Es gibt hier wohl keine
Ministerin, die sich für Strategien, aus der Armut zu kommen, interessiert. Ich sage dieser Ministerin - das ist weiterhin ein Auftrag; es geht nicht nur um Infrastruktur -:
Schaffen Sie das unsinnige Betreuungsgeld ab.
({10})
Worin besteht die Bildungsbeteiligung, wenn man Eltern
eine Prämie dafür zahlt, dass ihre Kinder von der Bildung ferngehalten werden? Nehmen Sie die 1,5 Milliarden Euro und bauen Sie Kitas und Ganztagsschulen aus.
({11})
Frau Kollegin Humme, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Wir reden hier über unseren Antrag. Dass Sie ihn
nicht gelesen haben, habe ich in der Debatte vorhin ganz
genau gemerkt.
({0})
Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, wie Armutsbekämpfung aussehen muss. Lobbypolitik für Hoteliers und Atomindustrie werden Sie dort genauso wenig
finden wie Haushaltssanierung auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Sie betreiben eine unsoziale
Politik, die die soziale Ausgrenzung und Spaltung in der
Gesellschaft verstärkt.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich nenne drei gute Nachrichten von
dieser schwarz-gelben Bundesregierung: Erstens. Die
Wirtschaft boomt. Wir sind damit international spitze.
Zweitens. Die beste Nachricht kommt heute aus Nürnberg. Die Arbeitslosenquote ist weiter gesunken. Die
Zahl der Arbeitslosen liegt bei 3,3 Millionen. Ich erinnere: Während Rot-Grün lag sie bei 5 Millionen. Drittens. Diese schwarz-gelbe Bundesregierung investiert in
einem Maß, wie es zuvor nicht der Fall war, in Bildung.
Mit 12 Milliarden Euro sind wir auch hier spitze und
Vorreiter.
({0})
Damit kann ich Ihnen ganz gelassen gegenüberstehen,
wenn Sie uns vorwerfen, wir würden nichts für die Bildungschancen der Kinder tun. Fehlanzeige! Was haben
Sie denn getan? Sie haben null Komma null an Bildung
gedacht, als Sie das rot-grüne Hartz-IV-Konzept aufgelegt haben.
({1})
Wir investieren zum ersten Mal direkt in die Bildung
von Kindern, in die Teilhabechancen von Kindern, und
zwar durch unser Bildungspaket, das ich von Ihnen nicht
als „Bildungspäckchen“ verunglimpfen lassen möchte.
Denn, wie gesagt, bei Ihnen war null Komma null in der
Tasche.
({2})
Wir investieren in die Ermöglichung von Lernförderung.
Wir investieren in ein warmes Mittagessen. Wir investieren in Teilhabe beispielsweise durch Sportvereine. Dabei
denkt hier keiner an Reitunterricht oder sonst etwas;
auch ein Fußballverein bietet eine Teilhabechance. Da
investieren wir.
({3})
Frau Kollegin Gruß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Birkwald von den Linken?
Ja.
Frau Kollegin Gruß, Sie haben sich eben dagegen verwahrt, dass das Bildungspaket „Bildungspäckchen“ genannt wird. Sie verweisen immer auf die 620 Millionen
Euro. Wenn ich jetzt die 620 Millionen Euro nehme und
durch 1,7 Millionen arme Kinder teile, komme ich auf
den Wert von 1 Euro am Tag. Können Sie nachvollziehen, dass man angesichts dieser Größenordnung sehr
wohl von einem „Bildungspäckchen“ sprechen kann?
Nein, das kann ich nicht nachvollziehen. Denn vorher
- das habe ich gerade eben gesagt - gab es null Komma
null für Bildung oder Teilhabe. Deswegen lasse ich diesen Vorwurf an dieser Stelle nicht gelten.
({0})
Noch einmal: Wir nehmen doch keine Zahlen aus Wolkenkuckucksheim, sondern wir nehmen die Zahlen, die
von Familien aufgeschrieben worden sind. Wir nehmen
die Zahlen von Familien, die Kinder haben und die wollen, dass ihre Kinder in Sportvereine gehen.
({1})
Diese Zahlen haben wir angeschaut und ausgewertet; sie
stehen jetzt zur Verfügung.
({2})
Frau Kollegin Gruß, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Mast?
Bitte schön.
Bitte schön. Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die
ich jetzt zulasse.
Ja, aber ich bin ja gnädig.
Mit Gnädigkeit hat das nichts zu tun, Frau Kollegin
Gruß, wenn wir hier parlamentarische Gepflogenheiten
wahren.
({0})
Frau Kollegin Gruß, können Sie mir bestätigen, dass
in der Großen Koalition ein Schulbedarfspaket nur für
Schulmittelbedarf von 100 Euro eingeführt worden ist
und Sie jetzt einen Bedarf für Mittagessen, Nachhilfe,
kulturelle Teilhabe und Vereinsteilhabe von 120 Euro
pro Jahr definieren? Finden Sie das verhältnismäßig und
angemessen: 100 Euro für Schulbedarf und 120 Euro für
kulturelle und soziale Teilhabe und warmes Mittagessen?
({1})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das davon bezahlen kann.
({2})
Dazu hätte ich gerne Ihre Meinung gehört.
({3})
Ich stelle eine Frage zurück: Was haben denn Sie in
Ihrem Hartz-IV-Gesetz berücksichtigt? Wo war denn das
Geld, das Sie für Bildung und Teilhabe zur Verfügung
gestellt haben?
({0})
Das Schulstarterpaket, sehr geehrte Frau Kollegin, gibt
es seit gut einem Jahr. Es wurde nicht auf den Weg gebracht, als Rot-Grün die Hartz-IV-Gesetze gemacht hat,
sondern unter Schwarz-Rot; aber es gibt es zugegebenermaßen erst seit etwa einem Jahr.
({1})
Unsere Anstrengungen für Bildung und Teilhabe kommen nun hinzu. Ich sage nochmals: Wir definieren gar
nichts, sondern wir setzen das um, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.
({2})
Wir investieren in Bildung und nehmen dafür ordentlich Geld in die Hand. Natürlich ist wünschenswert, dass
die Möglichkeiten in diesem Bereich ausgebaut werden.
Aber, meine Damen und Herren, wir alle sind in einem
bestimmten Bundesland zu Hause, und auch dort wird
regiert. Deswegen appelliere ich an Berlin und die anderen Länder, zum Beispiel an NRW, wo Rot-Grün regiert:
Machen Sie in der Bildungspolitik Ihre Hausaufgaben!
({3})
Schaffen Sie doch noch mehr Ganztagsschulen! Sorgen
Sie für noch mehr Bildungschancen und Teilhabe!
({4})
In den Ländern, in denen Sie regieren, häufen Sie allerdings nur noch mehr Schulden an. Die Kinderarmut ist
trotzdem erheblich gestiegen, siehe Berlin.
({5})
Meine Damen und Herren, in anderen Bundesländern,
beispielsweise in Bayern, ist die Situation verhältnismäßig gut. Warum? Ich sagte es ganz am Anfang: weil dort
massiv in Arbeit und Wirtschaft investiert wird,
({6})
um dafür zu sorgen, dass die Familien eigenständig sind,
ein selbstständiges Einkommen haben und die Zukunft
ihrer Kinder sichern können.
({7})
Um diejenigen, die ihre Zukunft nicht aus eigener Kraft
sichern können, zu unterstützen, haben wir das Thema
Bildung ganz explizit in die existenzfördernden Maßnahmen aufgenommen. Deswegen kann ich Ihre Vorwürfe an dieser Stelle nicht nachvollziehen.
({8})
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen erklären,
was im Sommer dieses Jahres den Medien zu entnehmen
war. Natürlich können wir uns vorstellen, dass die Bildungskarte, die als Vehikel bezeichnet wurde und auch
so verstanden werden kann, ausgeweitet wird. Ich kann
mir auch sehr gut vorstellen, dass sich gerade die Familien, deren Einkünfte nur knapp über Hartz-IV-Niveau
liegen, denken: Warum sind wir die Gekniffenen?
({9})
Auch diese Familien sollen die Chance haben, ihren
Kindern Bildung und Teilhabe zu ermöglichen. Die sogenannte Bildungskarte kann Bildung und Teilhabe gewährleisten. Andere Länder, einzelne Kommunen und
Bundesländer machen uns das bereits vor. Das ist der
Hintergrund dieser Diskussion. Zum 1. Januar nächsten
Jahres setzen wir das Bundesverfassungsgerichtsurteil
um, können uns allerdings sehr gut vorstellen, dass die
entsprechenden Regelungen insgesamt ausgeweitet werden.
Jetzt noch kurz zum Kinderzuschlag. Informieren Sie
sich, wie die aktuelle Situation ist. Die Kinder bzw. Familien, die den Kinderzuschlag bekommen, sind von den
Maßnahmen nicht betroffen. Sie erhalten die Leistungen,
die im Bildungspaket enthalten sind, nach wie vor.
({10})
Meine Damen und Herren, diese schwarz-gelbe Regierung
({11})
investiert tatsächlich in Bildung und Teilhabe. Von Ihnen
lassen wir uns rein gar nichts vorwerfen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Sie, verehrte Opposition,
so reden hört, dann hat man den Eindruck, dass die
Hartz-IV-Reform als Waisenknabe auf die Welt gekommen ist.
({0})
Wenn Sie noch einen Funken politischen Anstands haben, erinnern Sie sich an ihre geistigen Eltern. Die damalige rot-grüne Bundesregierung und Ihr Bundeskanzler
Schröder haben diese Reform als größte Sozialreform in
der Geschichte der Bundesrepublik propagiert.
({1})
Damals haben Sie gejubelt. Aber jetzt, da wir es besser
machen, betreiben Sie Miesmacherei. Allerdings - das
sollte nicht in Vergessenheit geraten - war und ist
Hartz IV eine Erfindung von Rot-Grün auf Bundesebene,
keine Erfindung der Union.
Mit den von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen
setzen wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts um.
Wie gestern in der Aktuellen Stunde für jedermann sichtbar wurde, haben Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts offenbar noch immer nicht verstanden.
({2})
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Hartz-IVRegelsätze sind vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht für verfassungswidrig erklärt worden.
({3})
Es wurde vielmehr Transparenz gefordert.
({4})
Die Höhe der Regelsätze wurde nicht beanstandet. Wären die Regelsätze nicht beim Verfassungsgericht gelandet, dann hätten Sie die bisherige Regelung weiterhin für
gut befunden.
({5})
Zu Ihrer Zeit betrug der Regelsatz 345 Euro. Inzwischen
beträgt der Regelsatz 359 Euro. Künftig bekommen die
Betroffenen 364 Euro. Diese Steigerung bedeutet allein
im nächsten Jahr rund 400 Millionen Euro mehr Sozialausgaben. Dazu stehen wir trotz der Schuldenbremse.
({6})
Den Kindern wird die Teilhabe an Bildung ermöglicht. Jetzt gibt es erstmals über 250 Euro pro Kind pro
Jahr. Wieso haben Sie das über die ganzen Jahre hinweg
verschlafen? Endlich stehen die Belange der Kinder im
Mittelpunkt.
({7})
Die Teilnahme an Wandertagen, an Schulausflügen, an
außerschulischen Vereinsaktivitäten und nötigenfalls
Kosten für Nachhilfeunterricht sowie ein Zuschuss von
knapp 2 Euro pro Mittagessen in Kindertagesstätten und
Ganztagsschulen - das ist unser neuer Weg.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Birkwald?
({0})
Aber gerne, wenn es meine Redezeit verlängert.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Brehmer, Sie haben gesagt, die neuen
Regelsätze seien transparent hergeleitet worden. Können
Sie nachvollziehen, dass angesichts der Tatsache, dass
im Existenzminimumbericht vom 27. Oktober 2008 - es
war der siebte - wörtlich zu lesen ist: „Daher wird für
2010 ein Regelsatzniveau bei Alleinstehenden von
4.368 Euro ({0}) und bei Ehepaaren von
7.860 Euro ({1}) in Ansatz gebracht“, die
Annahme naheliegt, dass die 364 Euro schon seit zwei
Jahren politisch gewollt sind und man nicht zu der Einschätzung kommt, dass die neuen Zahlen jetzt extra gerechnet worden sind?
({2})
Mein lieber Kollege, Ihre Auffassung teile ich nicht.
Die Regelsätze sind transparent dargestellt worden. Jeder Bürger hat erstmalig die Möglichkeit, das nachzuvollziehen. Schauen Sie auf die Homepage des Bundesministeriums. Dort können Sie die Tabellen einsehen.
Wir haben umfangreiches Material zur Verfügung gestellt bekommen. Deswegen kann ich Ihre Auffassung
nicht teilen.
({0})
Die christlich-liberale Koalition stellt die Kinder in
den Mittelpunkt. Wir haben diese Notwendigkeit erkannt; Sie haben sie leider verschlafen. Für diese Maßnahme werden insgesamt 620 Millionen Euro bereitgestellt. Hier wird in junge Menschen investiert, damit
ihnen von Kindesbeinen an aus der Hartz-IV-Szene geholfen werden kann.
({1})
Herr Trittin ist leider nicht mehr da. In den Medien
konnten wir lesen, dass er die Pläne als „soziale Kälte
vom Schlimmsten“ bezeichnet hat. Frau Schwesig von
der SPD nannte es gestern sogar ein „unwürdiges
Schmierentheater auf Kosten der Ärmsten“.
({2})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, so nennen Sie
heute eine Reform, welche Sie damals, als Sie Regierungsverantwortung trugen, auf den Weg gebracht und
als die größte Arbeitsmarktreform betitelt haben. Bei einem so ernsten Thema sollte man die Menschen nicht
ungerechtfertigt aufstacheln, sondern ihnen mit Sachlichkeit und Alternativen begegnen.
({3})
Die Forderung „Mehr Geld!“ allein reicht nicht.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Der Redakteur der
Bild-Zeitung, Herr Nikolaus Blome, hat in dieser Woche
kommentiert - das konnten Sie alle nachlesen; ich zitiere
wörtlich -:
({4})
Schrill, schriller, Hartz-IV: Opposition, Gewerkschaften und „Sozialverbände“ toben …
Ich zitiere wörtlich weiter:
Das ist unterste Schublade.
({5})
- Genau. - Des Weiteren kritisiert er in seinem Artikel:
In Wahrheit ist Hartz IV viel besser als sein Ruf. …
SPD und Grüne wussten das einmal. Dass Sie jetzt
für ein bisschen billigen Applaus das Gegenteil behaupten, ist der wahre Hartz-Skandal.
({6})
Lassen Sie uns zur Sachlichkeit zurückkehren.
({7})
Lassen Sie uns gemeinsam das Verfassungsgerichtsurteil
im Interesse der Betroffenen und vor allem der betroffenen Kinder umsetzen. Die christlich-liberale Koalition
ist sich darüber einig, dass Hartz IV für den Betroffenen
kein Dauerzustand sein soll. Unser Ziel muss es sein -
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau
Schmidt würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Wenn es meine Redezeit weiterhin verlängert, gern.
Frau Brehmer, Sie sind ja ehemalige Landrätin des
Landkreises Aschersleben-Staßfurt. Wissen Sie, wie viel
Geld vom Bund für Ganztagsschulen geflossen ist? Haben Sie als Landrätin dieses Geld für Ihren Landkreis
eingesetzt, und wissen Sie, dass wir in diesem Zusammenhang natürlich etwas für Kinder getan haben?
Als Landrätin habe ich die Mittel, die wir zur Verfügung hatten, natürlich auch eingesetzt.
({0})
Zu meiner Zeit haben wir aber keine Ganztagsschulen
ausgebaut, die Programme waren damals erst auf dem
Weg.
({1})
Wir haben natürlich Wert darauf gelegt, dass das Geld
in die Umsetzung richtiger Konzepte und nicht einfach
pauschal geflossen ist und dass das auch mit Bildungsinhalten unterlegt war. Ich möchte Ihnen das auch einmal
sagen: Vor Ort wird sehr viel getan. Man kann die Verantwortung nicht dem Bund alleine auferlegen, sondern
auch die Länder und Kommunen sind in der Pflicht, etwas für Bildung zu tun.
({2})
Die christlich-liberale Koalition ist sich darüber einig,
dass Hartz IV für die Betroffenen kein Dauerzustand
sein soll. Unser Ziel muss es sein, die Betroffenen besser
als bisher zu qualifizieren, sie umzuschulen und in Arbeit zu vermitteln. Das gilt besonders in einer Zeit rückgängiger Arbeitslosigkeit. Wir werden uns so gut wie
noch nie um die Langzeitarbeitslosen kümmern. Dafür
gibt es drei Schritte:
An dem ersten haben Sie von der SPD mitgewirkt,
nämlich an der Jobcenterreform.
Der zweite Schritt sind Maßnahmen wie die Umsetzung der Bürgerarbeit bundesweit. Wir kümmern uns
künftig um die Alleinerziehenden und werden sie aus der
Hartz-IV-Isolierung herausholen.
Der dritte Schritt wurde heute schon mehrfach genannt: Wir werden die arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirksamer machen.
So werden wir in Deutschland eine neue Sozialpolitik
mit besserer Qualität umsetzen.
Wie Sie wissen, komme ich aus einem Bundesland
mit einer etwas höheren Arbeitslosigkeit. Von 1994 bis
2002 waren wir Opfer einer Tolerierung von Rot-Grün
durch die Linken. Ich erspare Ihnen, zu sagen, was dabei
herausgekommen ist, aber die Mitteldeutsche Zeitung in
Sachsen-Anhalt hat am Montag eine TED-Umfrage
durchgeführt. Die Frage lautete: Halten Sie eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze um 5 Euro für angemessen?
({3})
58,81 Prozent stimmten mit Ja, und 41,19 Prozent
stimmten mit Nein. Ich finde, dadurch sollten Sie zum
Nachdenken angeregt werden.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich sage dies sehr
ernst: Es macht keinen Sinn, Steuerzahler und Empfänger von Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen.
({5})
Fakt ist: Was wir verteilen und an Sozialleistungen zur
Verfügung stellen, muss durch den Steuerzahler hart erarbeitet werden.
({6})
Was denken Sie eigentlich, wie diese Debatte und
Ihre Aussagen auf all die Betroffenen wirken? Wer arbeitet, muss mehr haben. Wir brauchen sozial gerechte
Lösungen, und diese setzen wir in der christlich-liberalen Koalition um.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele LösekrugMöller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Vielleicht geht es Ihnen so
wie mir: Ich bin bisher immer davon ausgegangen: Auch
Parlamentarier sind lernende Systeme. Im Verlauf dieser
Debatte sind mir allerdings erhebliche Zweifel gekommen.
({0})
Deshalb möchte ich, bevor ich zur Sache spreche, Frau
Heil, Herrn Lehrieder und Herrn Vogel ansprechen.
Frau Heil, Sie haben ja die Vergesslichkeit erwähnt.
Ich habe schwere Bedenken hinsichtlich Ihres Erinnerungsvermögens. Ich bekenne mich dazu: Ich habe der
Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe
damals zugestimmt.
({1})
Ich verstecke mich nicht hinter dieser Entscheidung.
Seinerzeit saß eine prominente Sozialministerin auf
der Bank der Bundesländer. Es gab keine Einrede. Soll
ich Ihnen sagen, wie sie hieß? Sie haben das vergessen.
Sie hieß Ursula von der Leyen. Insofern sage ich einmal:
Bei Vaterschaften, Mutterschaften oder aber Patenschaftsverhältnissen, Herr Kollege Lehrieder, finde ich,
sollten wir auf dem Boden der Tatsachen bleiben.
({2})
Herr Vogel, Sie haben dieses nette Bild einer trittfesten Leiter benutzt. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Ich
stelle mir diese trittfeste Leiter gerade vor, bezogen zum
Beispiel auf die Frage warmes Mittagessen. Das ist ja
ein wichtiges Stichwort. Damit wärmt ja Ministerin von
der Leyen die ganze Welt. Wissen Sie, dieser Trittleiter
fehlen im Grunde genommen immer vier Stufen, es ist
nur jede fünfte da.
({3})
Denn mehr Kinder haben überhaupt keinen Zugang zu
einem warmen Essen in Einrichtungen. Insofern, finde
ich, ist es mit der trittfesten Leiter von da unten nach da
oben nicht weit her.
Ich bin gespannt, wie Sie die weiteren fehlenden Stufen jetzt ergänzen werden. Wir haben dazu Vorschläge.
Deshalb komme ich zu unserem Antrag und zu dem
Antrag der Grünen, denn das ist heute Gegenstand der
Beratung. Gestern hatten wir Gelegenheit, zu erleben,
dass das durchaus enttäuschend und mutlos ist, was in
dem Gesetzentwurf steht, der gestern Anlass für die Aktuelle Stunde war. Wir haben heute bessere Vorschläge
zu diskutieren.
Ich habe gestern eine Ministerin und heute auch die
Mehrheit in diesem Haus erlebt, die im Grunde genommen eines nicht sind: Sie sind nicht Lobby kleiner Leute.
Das ist mein großer Vorwurf an Frau von der Leyen und
auch an Sie.
({4})
- Frau Connemann, das werden Sie auch nicht ändern
können. Ich sehe das schon. Ich begründe das jetzt auch.
In dieser Diskussion über die Höhe der Regelsätze werden nämlich zwei bedürftige Gruppen in unserer Gesellschaft gegeneinander ausgespielt.
({5})
Sorgen Sie für ein höheres Lohnniveau.
({6})
Dann haben wir auch die Chance, dass es endlich aufhört, dass Umfragen dabei herauskommen, die die Menschen, die wenig verdienen, Ja zu der Frage sagen lassen, ob sie eine Erhöhung angemessen finden oder ob es
mehr sein sollte. Dann sagen sie Nein, weil sie selber
fleißig sind und viel arbeiten und trotzdem nicht genug
nach Hause bringen. Das ist der eigentliche Skandal in
unserer Gesellschaft.
({7})
Insofern sage ich, dieses Ministerium ist eine
schlechte Lobby, und deshalb haben wir eine Debatte auf
einem anderen Level, nämlich auf dem Level einer horizontalen Gerechtigkeit, die Sie auf einem Niveau herstellen, das ich persönlich unwürdig finde.
({8})
Ich will dazu sagen, dass ich leider nicht die Hoffnung habe, dass sich das ändert. Denn in wenigen Wochen werden wir es erleben, dass wir hier über Hinzuverdienst reden. Was ist das eigentlich wirklich? In
Wirklichkeit heißt das: Sie zementieren Bedürftigkeit.
Noch mehr Menschen als jetzt werden über Niedriglöhne in prekärer Beschäftigung sein, abhängig von
Leistungen nach dem SGB II. Das, Herr Vogel, ist so,
auch wenn Sie den Kopf schütteln.
Wir werden unseren Protest deutlich machen. Denn
wir haben die Vorstellung, dass eine Art Reichtum aus
dieser prekären Situation herausführt, worüber hier noch
gar nicht gesprochen wurde. Wir plädieren dafür, dass
wir uns der Frage Bildungsreichtum stellen. Die kommt
über Ihren Gesetzentwurf auch nicht daher.
({9})
Wir setzen auf bessere Infrastruktur in der Bildung; wir
setzen darauf, dass jedes Kind eine Chance bekommt.
Ernsthaft: Die Formulierung in dem Gesetz für die
Begründung der Nachhilferegelung ist nicht das Papier
wert, auf dem sie steht. Wir werden es erleben. Ich
glaube nicht, dass es Kinder wirklich nach vorn bringen
wird.
({10})
Im Übrigen - das will ich Ihnen sagen - gibt uns auch
die OECD recht mit unserem Ansatz, der sich in dem
Antrag wiederfindet, über den wir hier reden. Die OECD
sagt, die Staaten, die den Sozialstaat nicht gegen Bildungsinvestitionen ausspielen, kommen gut nach vorn.
Dafür gibt es Belege. So wollen wir das auch in
Deutschland - keine Selektion und kein Gegeneinanderausspielen von Armen und Chancenlosen.
({11})
Insofern sagen wir: Es gehört deutlich mehr Mut hierher.
Das Prinzip, das sich derzeit bei der Regierung wirklich Bahn bricht, ist ja: Wer hat, dem wird gegeben, und
wer nichts hat, der hat eben Pech gehabt. So kann man
das wohl am besten zusammenfassen.
({12})
Deshalb möchte ich Ihnen abschließend eine Empfehlung geben. Sie appellieren an das Verantwortungsgefühl
der Sozialdemokraten, wenn es darum geht, dass die Gesetzesvorlage ja den Bundesrat erreichen wird: Schauen
Sie doch noch einmal in das hinein, was Sie gemacht haben! Geben Sie sich mal einen Ruck, zu sagen: Wir begleiten das Ganze mit einem dicken Investitionspaket.
Das würde übrigens auch Landkreisen in den neuen
Bundesländern sehr guttun, Frau Landrätin in Ruhe oder
a. D.
({13})
Insofern finde ich: Es ist noch nicht zu spät. Ich
komme auf den Beginn meiner Rede zurück: Meine
Zweifel allerdings, inwieweit wir es bei der Regierung
bzw. der Mehrheit mit einem lernenden System zu tun
haben, haben heute kräftig Nahrung bekommen.
Vielen Dank.
({14})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei
Dinge sind auffällig in der Debatte.
Das Erste ist: Die Linke versucht permanent, die Verantwortung der rot-grünen Regierung für die Hartz-IVGesetze zu leugnen.
({0})
Das ist nicht in Ordnung. Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Es war Ihr Bundeskanzler Schröder, der den
gleichnamigen Spitzenmanager Hartz eingesetzt hat, der
später wegen zu viel Rotlicht aus dem Amt gejagt wurde
und der an vielem schuld ist, was wir heute zu diskutieren haben. Wir legen transparente Berechnungsmethoden vor, die nachvollziehbar sind. Das ist wichtig für den
sozialen Frieden in diesem Land. Es ist gut, dass wir das
jetzt endlich so machen.
({1})
Einfach über den rot-grünen Daumen zu peilen und zu
sagen: „Das ist der Bedarf für Kinder“, ist nicht in Ordnung. Nein, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie
haben einen eigenen Bedarf.
Das Zweite ist: Es wird hier permanent der Eindruck
erweckt, als könnte nur der Bund in der Frage der Bildung und auch der Grundsicherung richtig agieren. Auch
das ist falsch. Kommunen, Länder und der Bund tragen
gemeinsam Verantwortung. Ich kann nur vor Hochmut
und davor warnen, meine Damen und Herren von der
linken Seite, hier den Eindruck zu erwecken, als würden
sich die Länder, die Bürgermeister und auch die Landrätinnen und Landräte dieser Verantwortung nicht stellen.
Das ist nicht redlich.
({2})
Ich finde es richtig, auch heute noch einmal den Grundsatz zu betonen und dazu zu stehen - ich glaube, dass die
Mehrheit der Deutschen das ganz genauso sieht -, dass diejenigen, die arbeiten, mehr haben müssen als diejenigen, die
von Sozialleistungen leben, die von denen erarbeitet werden, die die Steuern zahlen. Deswegen muss es das Lohnabstandsgebot geben. Das halten wir ein, das ist gut so.
({3})
Die Mehrheit der Deutschen und sogar die Mehrheit
der Hartz-IV-Empfänger sagt: Die Einführung von
Sachleistungen ist richtig. - Ich bin schon immer der
Meinung gewesen, dass die Linken schlechte Anwälte
der kleinen Leute sind. Ich würde es anders formulieren:
Die kleinen Leute sind erwachsen geworden.
({4})
Sie wollen nicht mehr das, was Sie sich ausdenken.
54 Prozent derjenigen, die von Hartz IV betroffen sind,
sagen Ja zu Sachleistungen. Was ist denn das für ein Signal? Die Menschen merken, dass die Lösungen, die bisher vorhanden waren, nicht richtig funktioniert haben.
Nicht bei allen, die in der Grundsicherung waren, aber
bei einem großen Teil ist das Geld für die Kinder nicht
angekommen. Deswegen muss man das jetzt ändern.
({5})
Die Bundesrepublik Deutschland hat seit mehreren
Jahren klare Schritte in Richtung Innovation getan. Wir
meinen es mit der Wissensgesellschaft, der Bildungsrepublik, wie wir das nennen, ernst. Wir sind deutlich besser als andere Länder durch diese Krise gekommen, weil
wir schon vor Jahren auf Innovationen gesetzt haben.
Wir stellen in dieser Legislaturperiode 6 Milliarden Euro
mehr für Bildung und 6 Milliarden Euro mehr für Forschung zur Verfügung. Wir wollen das 10-Prozent-Ziel
erreichen. Ich glaube, dass es richtig ist, wenn wir im
Zusammenhang mit der Grundsicherung über das Thema
Bildung reden. Das ist etwas Neues. Es gab viele Jahre
Sozial- und Arbeitsminister der SPD, die das nicht getan
haben. Aus diesem Grunde sollten Sie zuerst einmal anerkennen, dass wir einen neuen Weg gehen. Ich finde es
lobenswert, dass wir das tun.
({6})
Verantwortlich sind zunächst einmal die Eltern. Deswegen muss der Grundsatz auch bei dem neuen Projekt
lauten, dass wir die Eltern nicht aus der Verantwortung
entlassen dürfen. Im Gegenteil: Wir müssen sie stark mit
einbeziehen. Verantwortung tragen auch die Länder und
die Kommunen. Es gibt bereits eine ganze Reihe von
Angeboten, die funktionieren und an die man anknüpfen
muss. Ein weiterer Grundsatz ist folglich: Wir wollen
vorhandene Dinge nutzen, und wir wollen gemeinsam
mit den Trägern der Bildung Verantwortung tragen.
Selbst wenn wir es wollten, könnten wir auch nur im
Ansatz all das gar nicht übernehmen, was schon heute
geleistet wird. Allein die Finanzierung des kostenlosen
Mittagessens - bisher wird es von den Eltern finanziell
getragen - hat ein Volumen von 5 Milliarden Euro.
Schon anhand dieser Zahl sieht man, dass es unmöglich
ist, dass der Bund dies übernimmt. Angesichts dessen sagen wir jetzt: Wir wollen denjenigen helfen, die an dieser Stelle ein Problem haben. 620 Millionen Euro ist
eine ganze Menge Geld. Mit diesem Geld kann man viel
tun, vor allen Dingen, wenn man es zielgenau einsetzt.
Das wollen wir jetzt durch die Sachleistungen tun.
({7})
Diese Bildungsdefizite sind auf ganz verschiedene
Art und Weise zu beheben. Ich glaube, es ist richtig, vor
Ort subsidiär die richtigen Lösungen zu finden. Wichtig
ist, dass die Schule eine starke Rolle spielt; denn der
Lehrer weiß, welches Kind welche Defizite hat.
Ich stehe auch dafür, dass wir die Ausgaben für das
Mittagessen derjenigen subventionieren, die es in ihrer
Schulkantine einnehmen wollen. Die eigentliche Diskriminierung besteht ja darin, dass Kinder das, was ihnen zusteht - ein Mittagessen -, nicht bekommen. Ich möchte,
dass in diesem Land in Zukunft nicht mehr eine Diskussion darüber geführt wird, dass Kinder hungrig in der
Schule sitzen. Dass das passiert, war schon vorher weder
notwendig noch richtig. Die Diskussion darüber ist jetzt
endgültig vorbei, und das ist eine wunderbare Sache.
({8})
Eltern tragen Verantwortung für ihre Kinder. Das war
vor dieser Reform so, und es ist mit diesem klaren Bekenntnis noch einmal festgestellt.
Wichtig ist auch die Teilhabe. Ich glaube, man muss
die vorhandenen Angebote der Sportvereine, der kulturellen Vereine, der Musikschulen nutzen. Schon heute bieten
Vereine in vielen Fällen denjenigen, die es schwerhaben,
einen ermäßigten oder einen kostenlosen Mitgliedsbeitrag. Ich wünsche mir, dass wir hier zu einer Lösung kommen, durch die dies weiter unterstützt wird.
Insgesamt ist diese Reform eine wirkliche Neuausrichtung der Grundsicherung, mit dem Ziel, Bildung zu
einem Teil von Sozialpolitik zu machen. Bildung ist
nämlich von zentraler Bedeutung für Aufstieg und Zukunft. Jetzt sollten Sie sich nicht abseits stellen. Der eine
oder andere hat in der Debatte heute gesagt: Dagegen
werden wir kämpfen, gegen die Sachleistungen, gegen
die Grundsicherung, gegen den Bildungsanteil. Ich kann
Ihnen dazu nur sagen: Hören Sie auf damit! Die Menschen wollen das nicht. Was wir vorhaben, ist für die Zukunft dieses Landes wichtig.
({9})
20 Prozent unserer jungen Leute haben Schwierigkeiten,
einen vernünftigen Schulabschluss zu machen. Denen
müssen wir helfen. Beteiligen Sie sich daran und stellen
Sie sich nicht abseits!
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu einigen Abstimmungen.
Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache
17/2092. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/880 mit dem
Titel „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur
Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen
von Armut bekämpfen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion der SPD und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/675
mit dem Titel „Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder
und Erwachsene jetzt ermöglichen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Ent-
haltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktionen SPD und Die Linke.
Im Rahmen des Zusatzpunktes 4 geht es nun um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Bedarfsgerechte Regelsätze und
ein zuverlässiges Hilfesystem für Kinder, Jugendliche
und Erwachsene statt Experimenten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/3081, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/2921 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion Die
Linke.
Beim Zusatzpunkt 5 wird interfraktionell die Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/3058 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie
Zusatzpunkte 6 a bis c auf:
30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 17/3025 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. März 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung von Anguilla über den steuerlichen Informationsaustausch
- Drucksache 17/3026 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verleihung der Rechtsfähigkeit an den Rat des Anpassungsfonds
- Drucksache 17/3027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kerstin
Andreae, Volker Beck ({2}), Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/3039 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Offensive für einen wirksamen Schutz der
Kinder vor Gift in Spielzeug
- Drucksache 17/2345 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
ZP 6a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entflechtungsinstrument ins Wettbewerbsrecht
einfügen
- Drucksache 17/3062 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Technikfolgenabschätzung im Bundestag und
in der Gesellschaft stärken
- Drucksache 17/3063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Berichts gem. § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Technikfolgenabschätzung ({8})
Technikfolgenabschätzung beim Deutschen
Bundestag - Eine Bilanz
- Drucksache 17/3010 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Zunächst kommen
wir zu einer Überweisung, bei der die Federführung
strittig ist.
Tagesordnungspunkt 30 e: Interfraktionell wird die
Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Offensive für einen wirksamen Schutz der Kinder
vor Gift in Spielzeug“ auf Drucksache 17/2345 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz.
Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion der SPD - Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - ab.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist damit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Damit wird der Antrag zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
überwiesen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 31 a
bis i. Dabei geht es um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Es sind
im Wesentlichen Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
- Drucksache 17/2951 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 129 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
- Drucksache 17/2952 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 131 zu Petitionen
- Drucksache 17/2953 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 131 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 132 zu Petitionen
- Drucksache 17/2954 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 132 ist damit angenommen
mit den Stimmen des ganzen Hauses.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 133 zu Petitionen
- Drucksache 17/2955 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 133 ist damit angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPDFraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 134 zu Petitionen
- Drucksache 17/2956 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 134 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
- Drucksache 17/2957 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 135 ist damit mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 136 zu Petitionen
- Drucksache 17/2958 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 136 ist damit mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 137 zu Petitionen
- Drucksache 17/2959 -
Zu den Petitionen auf Drucksache 17/2959 liegen
mehrere Erklärungen der Fraktion Die Linke nach § 31
unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Gibt es Ent-
haltungen? - Sammelübersicht 137 ist damit mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 7:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Milliardengarantien und Millionenboni bei der HRE
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Carsten Sieling für die
SPD-Fraktion.
({19})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die HRE ist zu einem Symbol geworden, wie
stark sich die Finanzbranche von der Gesellschaft entkoppelt hat. Millionenboni trotz fehlendem Erfolg zu
zahlen und quasi gleichzeitig neue Milliardengarantien
zu beantragen, zeigt, dass hier einige die Bodenhaftung
verloren haben.
({0})
Sie sind offensichtlich in ein Paralleluniversum entschwunden, und die Bundesregierung spielt den Kopiloten.
({1})
Dem muss Einhalt geboten werden,
({2})
auch um den Ruf und die Solidität der Finanzwelt wiederherzustellen.
({3})
Ich will gleich hier am Anfang klarstellen: Die Rettung der HRE im Jahre 2008 war richtig und notwendig.
({4})
Ein „Lehman II“ hätte man sich damals angesichts der
unabsehbaren Folgen überhaupt nicht erlauben können.
({5})
Und es war richtig, so zu handeln. Ich sage das deshalb
so deutlich und gleich zu Anfang,
({6})
weil jetzt die Schlaumeier der Nation kommen, Herr
Kollege, die alles vergessen haben und den Schwarzen
Peter uns zuzuspielen versuchen.
({7})
- Regen Sie sich nicht auf, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU. Ganz vorne steht die FDP.
({8})
Ich habe gelesen, dass Herr Wissing uns heute wieder
seinen Lieblingssong präsentieren möchte, der da heißt:
Die SPD hat Schuld.
({9})
Aber trösten Sie sich: Die Töne werden wieder schief
sein, wie es immer ist, wenn Sie hier antreten. In Ihrer
heutigen Fassung werden Sie uns wohl erzählen, dass
die Verträge, die unter Federführung von Peer
Steinbrück erarbeitet worden sind und die wir abgeschlossen haben, die Bonizahlungen nicht verhindert
hätten.
({10})
Ich will Ihnen aber eines sagen: Ohne die SPD gäbe es
überhaupt keine
({11})
gesetzlichen Regelungen, die Vorstandsvergütungen begrenzen. Das ist der entscheidende Schritt gewesen. Bevor Sie, Herr Wissing, Ihre Argumentation entfalten,
denken Sie daran: Die FDP hat damals gegen das Gesetz
gestimmt. Sie wollten eine Begrenzung überhaupt nicht.
({12})
Sie wollten überhaupt keinen Rahmen, der der Finanzbranche ethisches Verhalten auferlegt und Grenzen setzt.
Im Übrigen gilt natürlich - ich hoffe, das gilt für alle,
wenn wir ehrlich sind -, dass niemand hier, der mit sozialer Marktwirtschaft Vernunft, Verantwortung und Gemeinwohl verbindet, geglaubt oder erwartet hat, dass so
nassforsch gegen den Geist der Regulierung von überhöhten Gehältern vorgegangen wird und gewisse Leute
jede Möglichkeit ausnutzen, um sich Zulagen zahlen zu
lassen, selbst wenn der Erfolg ausgeblieben ist. Das passiert zwar noch nicht flächendeckend, aber wir müssen
das beobachten, da dies bei vielen Instituten der Fall ist.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dieses Haus tritt
geschlossen dagegen an.
({13})
Aber dazu gehört auch, dass man die politische Verantwortung übernimmt und darüber wacht, dass Normen
und Werte durchgesetzt werden. Mit den Insiderkenntnissen, die die Regierung gehabt hat, hätte man dem
frühzeitig entgegentreten müssen.
Es gibt verschiedene Beispiele. Herr Wieandt hat als
Chef der HRE sehr früh signalisiert, dass für 2008 keine
Boni gezahlt werden. Da wusste man: Das Thema der
Boni ist virulent. Als er Ende des ersten Quartals dieses
Jahres seinen Rücktritt eingereicht hat, hatte das auch
mit dieser Thematik zu tun. Man hat gewusst, dass die
Kultur bei der HRE in dieser Frage nicht in Ordnung ist.
Trotzdem hat man nicht reagiert. Man hat nicht versucht,
dem frühzeitig Einhalt zu gebieten. Somit muss man sich
schlicht und einfach damit auseinandersetzen, dass nicht
gehandelt wurde, dass gerade innerhalb der letzten zwölf
Monate die Entwicklung verschlafen wurde. Wenn ich
mir die Erklärungen dafür anschaue, dann muss ich sagen: Sie alle überzeugen überhaupt nicht. Wie das immer
so ist: Wenn etwas schiefläuft, werden neue Definitionen
und Worte gefunden. Man spricht nun nicht mehr das
böse Wort „Boni“ aus, sondern es wird ordentlich geschwurbelt. Es geht um „Halteprämien“ und „Ausgleichszahlungen“. Das alles hört sich nett an; aber in
Wirklichkeit ist hier etwas verschlafen worden.
Schwarz-Gelb hat sich auch bei diesem Thema als handlungsunfähig und letztlich auch zerstritten gezeigt. Das
ist die Wahrheit, und das ist der entscheidende Punkt.
({14})
Ich fordere Sie auf - wir sind anscheinend auf gutem
Weg -: Legen Sie eine wasserdichte gesetzliche Regelung vor! Wir müssen allerdings sehen, dass Minister
Schäuble noch vor zwei Tagen erklärt hat, er sehe keinen
rechtlichen Handlungsbedarf,
({15})
und hinzugefügt hat: Es wird keine gesetzliche Änderung oder Ergänzung geben. Wir werden die Entwicklung aufmerksam beobachten. - Das ist das Prinzip
Hoffnung.
({16})
- Herr Kollege Fricke, wenn Sie hier das Wort ergreifen,
dann denke ich an die Griechenlanddebatte und frage
mich, welche Märchen und Geschichten dabei von Ihnen
wieder kommen werden.
Gestern kam es jedenfalls zu einer Veränderung. Endlich ist gesagt worden: Wir wollen zu gesetzlichen Regelungen kommen. - Ich begrüße das. Das ist die öffentliche Debatte. Auch meine Partei hat an dieser Stelle
Druck gemacht. Wir brauchen jetzt endlich Verträge.
Wir müssen eingreifen und dagegen vorgehen. Ich habe
wahrgenommen, dass dies in allen Fraktionen so gesehen wird, und sage an dieser Stelle - auch das will ich
hier deutlich machen -: Das Informationsfiasko der letzten Wochen darf sich ebenfalls nicht wiederholen. Ich
fordere Sie auf: Nehmen Sie das Parlament ernst! Kontrolle muss hier möglich sein, und dafür brauchen wir
auch die entsprechenden Informationen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ich darf mit Blick auf die weitere Debatte noch sagen:
Ich erwarte, dass jetzt der Kollege Dautzenberg nach
vorne tritt und mit großer moralischer Empörung erklärt,
die Wahrheit sei, dass wir Sozialdemokraten nur die Bücher der HRE schließen wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie, dass ich Sie unterbreche.
Sie haben die Redezeit überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Die zukünftige Entwicklung der HRE ist ausgesprochen fraglich. Die EU-Kommission hat das Ganze deutlich infrage gestellt. Wir
müssen dies ernst nehmen.
Herr Kollege, ich muss Sie erneut auf die Redezeit
hinweisen!
Ich bitte um Verzeihung. - Ich bitte darum, dass wir
uns daran halten.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Leo
Dautzenberg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Sieling, ich bin sehr erfreut, dass Sie das, was
ich sagen will, schon antizipiert haben. Deshalb kann ich
mir einiges ersparen. Nur so viel: Erster Punkt. Wir sollten, glaube ich, vermeiden, dieses Thema zum Gegenstand einer parteipolitischen Kontroverse zu machen;
denn alle Verantwortlichen haben zusammengestanden,
als es darum ging, die HRE mit Maßnahmen zu retten
und gesetzliche Grundlagen für ihre Umstrukturierung
zu schaffen. Von daher sollte man jetzt nicht Schuldzuweisungen in unterschiedlichste Richtungen vornehmen.
Wir sollten vielmehr gemeinsam darüber nachdenken,
wie wir das Vertrauen in den Finanzmarkt und das Bankensystem stärken können.
({0})
Zweiter Punkt. Für uns war es auch nicht vertrauensbildend, und deshalb muss man das in zwei Sachbereiche trennen: einerseits die Diskussion über Boni und
Vergütungsstrukturen und andererseits das, was weiterhin zur Restrukturierung der HRE im Hinblick auf die
Kernbank und auf die Abwicklungsbank erforderlich ist.
Hier geht es darum, ob die Kernbank eine Chance für die
Zukunft hat. Mit dem, was vorliegt, setzen wir darauf,
dass sie eine Zukunft haben wird.
Zu dem, was allgemein mit den Bonivorgängen bezeichnet wird, haben wir - das muss ich für meine Fraktion konstatieren - kritisch angemerkt, dass es schwierig
ist, zu vermitteln, wenn es bei einer Bank, die vom Steuerzahler gerettet worden ist und die durch weitere Maßnahmen umstrukturiert wird, Kommunikationsschwierigkeiten gab, sowohl was die beiden Garantien vor
14 Tagen als auch die Bonizahlungen anbelangt. Das kriLeo Dautzenberg
tisieren wir, und wir können nur an unsere Vertreter der
Bundesregierung in den zuständigen Gremien appellieren, zukünftig eine größere Sensibilität beim Thema
Bonizahlungen an den Tag zu legen.
({1})
Herr Sieling, es dürfte Ihnen aber nicht entgangen
sein, dass das Gesetz damals unter Federführung des Finanzministers Steinbrück gemacht worden ist: Ich sage
das, weil Sie hier konstatieren, dass in diesem Gesetz
nicht alles enthalten war, was Vergütungsstrukturen anbelangt. Wir haben damals eine Deckelung der Vorstandsbezüge beschlossen. War es für Sie denn zum damaligen Zeitpunkt schon erkennbar, dass man auch die
Vergütungsstrukturen der Mitarbeiter und ihre rechtlichen Ansprüche in einem Krisenfall hätte neu regeln
müssen? Dann hätte das gemacht werden müssen.
({2})
Damals haben wir auch gemeinsam Beschlüsse über
Vergütungsstrukturen für Vorstände bei Finanzinstituten
gefasst.
Die christlich-liberale Koalition hat Vergütungsstrukturen für Mitarbeiter bei Finanzinstituten im Juli dieses
Jahres verabschiedet. Das alles sind natürlich Punkte, die
für die Betrachtung, die wir hier anzustellen haben, zu
spät kamen. Wir haben bereits damals festgestellt, dass
ein Eingriff auch dann, wenn aufgrund von Vergütungsstrukturen bestimmte rechtliche Ansprüche bestehen, im
Krisenfall, wenn die Bank in die Schieflage kommt, erfolgen können muss. Dieser Punkt, der bei Verabschiedung des Gesetzes noch nicht geklärt werden konnte,
muss jetzt vom Bundesjustizministerium geklärt werden.
Wenn wir dort rechtlich saubere Anhaltspunkte bekommen, dann werden wir das in das vorhandene Restrukturierungsgesetz ergänzend aufnehmen. Aber es muss
rechtssicher sein, wenn man in bestehende Verträge und
Vergütungsstrukturen eingreifen will. Ich glaube, das ist
auch Konsens.
({3})
- Damit hätten Sie schon beginnen können. Es ist doch
unbestritten, dass Sie zum Vergütungsstrukturgesetz
diese Anträge schon hätten stellen können, wenn Sie
diese Erkenntnis damals gehabt hätten.
Dritter Punkt. Das ist das Dominierende, was Sie leider nicht angesprochen haben. Ich weiß auch, warum:
weil Sie innerhalb der SPD-Fraktion nicht einig sind,
wie es mit der HRE als Kernbank weitergehen soll.
({4})
Gilt das, was Herr Kollege Schneider nicht nur in dem
Gremium, sondern auch öffentlich erklärt hat - er gebe
der Kernbank für die Zukunft keine Chance; sie müsse
abgewickelt werden -, oder gilt das, was wir gemeinsam
vereinbart haben, nämlich die Ausgliederung? Es war
ein hoher Anspruch, 200 Milliarden Euro auszugliedern
und abzuwickeln und sich auf die Kernbank zu konzentrieren, die eine Zukunft haben soll. Nach allem, was
bisher an Erkenntnissen vorliegt, hat sie aus unserer
Sicht auf dem Markt nach wie vor Zukunft.
({5})
Mit Ihrem Gerede werden Sie dazu beitragen, dass sie
keine Zukunft hat, was zur Folge hat, dass dies für den
Steuerzahler sehr teuer wird.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Roland
Claus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
der Hartz-IV-Debatte reden wir jetzt über Banken und
Boni - ein schöner Zufall. Die Münchener Hypo Real
Estate ist der größte Skandalfall in der Bankenkrise in
Deutschland. Die HRE nennt sich heute Deutsche Pfandbriefbank. Schon daran merkt man, dass wir in einer anderen Zeitrechnung sind. Die Finanz- und Wirtschaftskrise erweist sich bei näherem Hinsehen mehr und mehr
als eine Krise des gesellschaftlichen Systems.
({0})
Diese Krise liegt nicht hinter uns. Richtig ist: Die Banken haben ihr Eigengeschäft wieder in Gang gesetzt
- das Kasino ist wieder offen -, aber ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und die Wirtschaft, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen, werden
sie in keiner Weise gerecht.
({1})
Weil all das so unglaublich ist und fast niemand mehr
versteht, was hier vorgeht, will ich versuchen, mit einer
kleinen Chronik zur Aufklärung beizutragen. Genau vor
zwei Jahren, am 30. September 2008, kam Minister
Steinbrück in alle Bundestagsfraktionen und warb für
die Rettungsaktion bei der HRE. Begleitet hat ihn Staatssekretär Jörg Asmussen, der heute noch Staatssekretär
ist, und zwar bei Bundesfinanzminister Schäuble. Herr
Steinbrück hat damals gesagt, der Bund müsse für eine
Summe von 26 Milliarden Euro bürgen; eine teilweise
Verstaatlichung von Banken wie in England und den
USA sei in Deutschland ausgeschlossen. Die privaten
Banken bürgten für 8,5 Milliarden Euro. - Es sollte anders kommen. Im Frühjahr 2009 wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Rolle der Bundesregierung bei der HRE-Krise eingesetzt. Das ist ein
Extrakrimi; ich kann das hier nicht im Einzelnen ausführen. Im Mai 2009 wurde der Rettungsschirm für Banken
mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro gespannt.
Der Hauptanteil davon entfiel auf die HRE, immer mit
Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion, die in
ihrer Meinungsbildung selbstverständlich völlig frei ist,
({2})
aber im Moment in Sachen Wandlungsfähigkeit - das
muss man einmal aussprechen - wirklich nicht zu toppen
ist.
({3})
Im August 2009 fragt mein Fraktionskollege Axel
Troost öffentlich nach der Eignung des neuen Chefs der
HRE, Axel Wieandt. Die Bankenaufsicht hat Zweifel an
der Eignung, die Linke auch; aber Wieandt erhält
500 000 Euro Sonderzahlung für 2009. Ende März 2010,
einen Tag vor der Bilanzpressekonferenz der HRE, erklärt Herr Wieandt seinen Rücktritt, weil er sich nicht
mit dem SoFFin über sein Gehalt einig wurde: Es war
ihm zu wenig. Mit dem Rücktritt erwirbt er aber Betriebsrentenansprüche in Höhe von 240 000 Euro jährlich, und das als Mittvierziger.
({4})
Jetzt das Verrückte: Nachdem die Münchener HRE über
Jahrzehnte ausschließlich eine Männerwirtschaft war,
muss nun, nachdem die Bank so richtig gegen die Wand
gefahren ist, mit Frau Better zum ersten Mal eine Frau
an die Spitze gestellt werden. Auch das spricht für eine
Zeitenwende.
({5})
Im Juni 2010 steht die spannende Meldung im Netz:
Seit 1. Juni 2010 arbeitet Axel Wieandt wieder im Vorstandsbereich der Deutschen Bank. Ende August 2010
bewilligt die Bundesregierung über die bestehenden Garantien in Höhe von 102 Milliarden Euro hinaus Garantien in Höhe von 40 Milliarden Euro für die HRE, am
Parlament vorbei, am geheim tagenden Parlamentsgremium zur Bankenrettung vorbei.
({6})
- Um Ihre Zwischenrufe etwas abzumildern: Das Parlament ist sauer, von der Linken bis zur CSU.
({7})
Mitte September 2010 wird bekannt, dass Boni in
Höhe von 25 Millionen Euro an Bankmanager der staatlichen HRE gezahlt wurden. Die Bundesregierung sitzt
mit zwei Abteilungsleitern aus dem Bundesfinanzministerium im Aufsichtsrat - ich dachte, sie seien schon als
Abteilungsleiter ausgelastet; aber es ist offenbar anders -,
der dazu sagt: Das geht in Ordnung.
Nun stellen Sie sich vor, all das hätte ich Ihnen vor
vier Jahren erzählt. So eine Story wäre unglaublich gewesen. Selbst in meiner Fraktion hätte man mir wahrscheinlich gesagt: Genosse, du musst zum Arzt!
Frei nach Shakespeare: Ist es auch Wahnsinn, so hat
es doch Methode. Wahnsinn und Methode bedeuten
heute: Was da verstaatlicht wurde, sind vor allem Schulden. Selbst die Vollverstaatlichung reicht nicht aus, um
die HRE auf dem Finanzmarkt wieder handlungsfähig zu
machen.
Wir reden gerade über den Haushalt für 2011 im Umfang von 300 Milliarden Euro. Neben diesem Haushalt
wurden inzwischen Sondervermögen in Höhe von über
750 Milliarden Euro angehäuft. Die Bundesregierung redet von der Schuldenbremse und will im nächsten Jahr
10 Milliarden Euro einsparen, macht aber im gleichen
Atemzug Zusagen über Garantien in Höhe von
40 Milliarden Euro, also das Vierfache, für die schon erwähnte Bank.
Nun sagen Sie: Hartz-IV-Empfänger sollen monatlich
5 Euro mehr bekommen. Ich habe die Bezüge der Menschen - die Boni bei der HRE und die zusätzlichen
5 Euro für die Bezieher von Hartz IV - ins Verhältnis gesetzt und ausgerechnet. Hier kommt exakt ein Verhältnis
von 1 : 10 000 heraus. So kommt es also zu dem Begriff
„die oberen Zehntausend“.
({8})
So groß ist der Abstand, so gespalten ist die Gesellschaft, so kaputt haben Sie das Gemeinwesen regiert.
Das ist doch nicht staatseigene Bank, das ist doch bankeigener Staat.
({9})
Das muss sich ändern, meine Damen und Herren.
Zwei radikale Schritte sind notwendig. Zum einen muss
die Dominanz der Finanzwirtschaft über die sogenannte
Realwirtschaft überwunden werden. Zum anderen muss
man etwas hinzufügen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Das mache ich gern, Frau Präsidentin. - Die Regeln
der globalen Börsen, die anfangs einmal vernünftig waren, haben das globale Zusammenleben in die Sackgasse
geführt. Das internationale Finanzmarktkasino - zu dieser Überzeugung bin ich gelangt - ist nicht länger reformierbar; es gehört geschlossen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Allein die Tatsache, dass Sozialdemokraten sich hier
hinstellen und gegen irgendjemanden im ZusammenDr. Volker Wissing
hang mit der Hypo Real Estate Vorwürfe erheben, ist an
Dreistigkeit nicht zu überbieten.
({0})
Ich weiß nicht, Herr Kollege Sieling, was man Ihnen und
Ihrer Fraktion erzählt hat. Ich weiß aber, was in der letzten Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag gelaufen ist. Wir haben im Finanzausschuss erfahren, dass
alles, was Sie heute hier lautstark kritisieren - sowohl
die zusätzlichen Milliardensicherheiten als auch die Vergütungen, die Sie heftigst angehen -, nichts anderes ist
als die Konsequenz einer Verstaatlichungsentscheidung,
die Sozialdemokraten vehement gefordert und vorangetrieben haben
({1})
und die Ihr Finanzminister Peer Steinbrück unbedingt
wollte. Jetzt haben Sie, was Sie wollten, meine Damen
und Herren!
({2})
Sie waren in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass
diese Verstaatlichungsentscheidung, die wir heftigst kritisiert haben, vernünftig vonstattengeht, dass Gehaltszahlungen ordentlich geregelt werden und dass genau
die Dinge nicht passieren, die Sie heute kritisieren.
({3})
Jetzt kann man sich natürlich bequem vom Acker machen. Aber ich erinnere daran, dass wir in der letzten Legislaturperiode einen Untersuchungsausschuss eingesetzt hatten.
({4})
In diesem Untersuchungsausschuss haben wir gefordert,
dass zu klären ist, ob bei der Verstaatlichungsentscheidung alles richtig gemacht worden ist. Da haben die Sozialdemokraten gesagt: Das braucht man nicht zu klären;
alles ist richtig gemacht worden. - Wenn Sie heute einsichtig sind und sehen, dass das nicht so toll war, was
Peer Steinbrück gemacht hat, dann ist das gut. Aber dann
sollten Sie etwas demütiger in Ihren Reihen sitzen und
nicht lautstark das Wort ergreifen und anderen Vorwürfe
machen.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
die HRE-Partei ist die SPD. Es war Ihr Wunsch, diese
Bank nicht abzuwickeln, sondern zu verstaatlichen, Herr
Kollege Schneider.
({6})
Für den Steuerzahler in Deutschland faule Tomaten einzukaufen und hinterher, wenn es ein Problem gibt, zu sagen, man könne sie doch wieder verkaufen, das zeugt,
Herr Kollege Schneider, nicht von besonderem Sachverstand. Weil ich weiß, dass Sie es besser wissen, finde ich
es dreist, was Sie nun machen. Sie haben die Verstaatlichung mit wehenden Fahnen gefordert. Sie waren begeistert von der Verstaatlichung. Sie wollten es so, und
Sie wollten auch die Gehaltsregelungen so. Jetzt haben
Sie es so. Wir fanden es nicht gut; wir finden es auch
heute nicht gut.
({7})
Aber Sie können die Verantwortung für die Verstaatlichung der Hypo Real Estate nicht mehr loswerden.
Frau Kressl, Sie wollen damit heute nichts mehr zu
tun haben. Sie wollen heute die treibende Kraft sein, die
dafür sorgt, dass bei der HRE Gehaltsbegrenzungen
kommen. Warum haben Sie das denn damals nicht gemacht? Wir haben damals gefordert: Lasst uns das überprüfen; es stimmt nicht alles, was Peer Steinbrück gemacht hat. - Darauf haben Sie gesagt: Das stimmt; das
ist perfekt. - Heute fällt es Ihnen vor die Füße. Wir als
Koalition wollen uns jetzt nicht davonmachen. Wir wollten nicht, dass es so weit kommt.
({8})
Aber es ist nun unsere Aufgabe, den Schaden für den
Steuerzahler zu begrenzen.
({9})
Nur dass sich diejenigen Sozialdemokraten, die gesagt
haben, dass es so kommen muss, und die mit aller Kraft
für die Verstaatlichung der Hypo Real Estate gekämpft
haben, heute vom Acker machen und sich nicht an der
Schadensbegrenzung beteiligen, das finde ich unverfroren.
({10})
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir hätten
es anders gemacht.
({11})
Wir haben Ihnen damals gesagt: Wir sind gegen die Verstaatlichung. Wir haben damals Ihre Begeisterung nicht
teilen können. Sie waren lautstark der Meinung: Wenn
man diese Bank verstaatlicht und die Eigentümer hinausdrängt, dann macht man das Beste für den Steuerzahler. Schon damals haben wir daran erinnert, dass Sie dem
Steuerzahler damit alle Risiken vor die Füße kippen. Das
wollten Sie so. Jetzt haben wir es so.
({12})
Wir wollen eine Schadensbegrenzung. Wir wollen, dass
das, was Sie angerichtet haben, für den Steuerzahler
nicht noch teurer wird.
({13})
- Was wir machen? Wir bzw. die Bundesregierung sorgen beispielsweise dafür, dass innerhalb der HRE Ansprüche möglichst nicht gerichtlich geltend gemacht
werden, dass möglichst nicht noch höhere Zahlungen auf
der Grundlage Ihrer Verstaatlichungsentscheidung geltend gemacht werden, damit der Schaden begrenzt wird.
({14})
Aber das können Sie der jetzigen Regierung nicht vorwerfen. Da müssen Sie mit sich selbst ins Gericht gehen.
Ich bleibe dabei: Die Sozialdemokraten sind die
HRE-Partei. Die Sozialdemokraten sind die HRE-Verstaatlichungspartei.
({15})
Die Sozialdemokraten sollten kleinlaut anerkennen, dass
diese Regierung - das hat man Ihnen im Finanzausschuss
bis ins Detail berichtet; Herr Rehm war anwesend - alles
tut, um verantwortungsvoll mit der Entscheidung der
Vergangenheit umzugehen. Dabei bleibt es auch. Es gibt
keinen Grund, mit dem Finger auf die christlich-liberale
Koalition zu zeigen. Alles, was Sie an der Verstaatlichung zu kritisieren haben, können Sie mit Peer
Steinbrück besprechen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbst wenn die Kritik, die wir in den letzten Tagen gehört haben, gerechtfertigt ist, kann man nicht alles, was
bei der Hypo Real Estate passiert ist, den Sozialdemokraten vor den Laden kippen. Es gibt noch andere Verantwortliche. Das muss man in aller Nüchternheit feststellen. In dieser Hinsicht haben Sie etwas übertrieben,
Herr Wissing.
({0})
Ich finde aber, dass angesichts der Empörung aus den
Koalitionsfraktionen der Blick zurück durchaus gerechtfertigt ist. In der Debatte im Oktober 2008, als es um die
Finanzmarktstabilisierung ging, gab der damalige und
heutige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Kauder,
das Versprechen, dass es Konsequenzen für die Geschäftspolitik und das Entlohnungssystem haben muss,
wenn Eigenkapitalhilfen zur Verfügung gestellt werden.
({1})
Weiter sagte er: „Wir erwarten in den Rechtsverordnungen klare Konsequenzen“.
({2})
Es muss „eine gesunde Relation zwischen dem eigenen
Handeln und Einkommen“ geben,
({3})
so Herr Kauder. Das haben Sie damals den Menschen
versprochen. Jetzt stellen wir fest, dass das nicht durchgesetzt wurde. Empören Sie sich doch bitte nicht nur
über irgendjemanden in München, sondern fragen Sie
sich, warum das Versprechen Ihres Fraktionsvorsitzenden nicht eingelöst wurde.
({4})
Das Gleiche gilt auch für die SPD. Herr Steinbrück
hat damals gesagt - ich zitiere seine Äußerungen zur
HSH Nordbank und zu den großzügigen Regelungen
dort -:
Mir fehlt … jegliches Verständnis für die Landesregierungen in Kiel und Hamburg, die hier anscheinend beide Augen zudrücken wollten.
Aber die Pensionszahlungen an Herrn Wieandt, die wir
heute kritisieren, sind nur möglich gewesen, weil der damalige Finanzminister Steinbrück beide Augen zudrücken wollte. Er hat Garantien ausgereicht, ohne die Kontrolle übernehmen zu wollen. Das ist ein Fehler. Fehler
darf man auch als solche benennen. Dazu müssen Sie
stehen.
({5})
Ich würde mich freuen, wenn Herr Steinbrück in dieser
Debatte anwesend wäre.
({6})
Statt durch die Republik zu touren und eine Lesung zu
halten, könnte er uns hier erklären, warum seine Finanzpolitik unterm Strich ein Desaster war.
({7})
Angesichts der Pensionszahlung muss man feststellen: Es ist eine Selbstbedienung zulasten des Steuerzahlers, was hier passiert. Das Verhältnis zwischen der Leistung und dem, was man dafür bekommt, stimmt nicht
mehr, wenn jemand, der 19 Monate in einem Institut arDr. Gerhard Schick
beitet, nachher eine jährliche Rente von 240 000 Euro
kassieren kann.
({8})
Nun ist es ja nicht so, dass es hier keine großkoalitionäre Empörung gab. Davon konnte man in den letzten
Tagen einiges merken. Ich möchte Ihnen aber sagen:
Dieses Haus ist kein Empörungstempel, sondern hier
tagt eine gesetzgebende Versammlung. Deshalb erwarten wir, dass die Bundesregierung jetzt einen Gesetzentwurf vorlegt und diese Zahlungen korrigiert, damit so etwas in den vom Staat geretteten Banken nicht mehr
möglich ist. Das ist unsere Forderung.
({9})
Ich möchte aber auch die Verantwortung jenseits der
Gesetze ansprechen. Ich glaube, dass ein Land, dessen
wirtschaftliche Elite jeden Bezug zur Realität verloren
hat, keiner guten Zukunft entgegensieht. Deswegen
möchte ich von dieser Stelle aus als Volksvertreter ganz
bewusst einen Appell an Herrn Dr. Wieandt richten
- vielleicht können Sie sich diesem Appell anschließen -: Ich fordere Sie, Herr Wieandt, auf, auf so
eine Pensionszahlung zulasten der Steuerzahler, die niemand in diesem Land versteht, zu verzichten.
({10})
Es gibt eben beide Verantwortungen, und ich finde es
wichtig, dass in dieser Debatte beide Verantwortungen
deutlich werden. Es gibt auf der einen Seite die Verantwortung des Gesetzgebers. Er darf sich nicht nur vor den
Fernsehkameras empört zeigen, sondern hat als Gesetzgeber und Kontrolleur der staatlichen Banken seine Arbeit zu leisten. Diesbezüglich haben Sie bisher nicht geliefert. Auf der anderen Seite gibt es die Verantwortung
der wirtschaftlichen Elite dieses Landes, soziale Marktwirtschaft nicht nur in evangelischen Akademien zu predigen, sondern im täglichen Geschäft auch wirklich zu
leben. Auch daran fehlt es in diesem Land.
Danke schön.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich will noch einmal daran erinnern,
dass diese Aktuelle Stunde von der SPD-Fraktion beantragt wurde. Eigentlich geht es um zwei Punkte, um die
Garantien für die HRE und um die Bonizahlungen.
({0})
Ich meine, dass man diese zwei Bereiche zunächst einmal auseinanderhalten und getrennt beleuchten muss.
Ich komme zum ersten Punkt, zu den Garantien. Es
geht um die HRE. Ich darf uns alle daran erinnern, dass
es eine Zeit gab - das war noch zur Zeit der Großen Koalition -, in der wir hier gemeinsam beschlossen haben,
systemrelevante Banken vor der Insolvenz zu bewahren.
Ich meine, das war ein kluger und weiser Beschluss, getragen von der Großen Koalition. Wir hatten damals die
Pleite der großen amerikanischen Bank Lehman vor Augen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie der damalige
Finanzminister Peer Steinbrück uns allen klargemacht
hat, was eine solche Insolvenz für Deutschland bedeuten
würde, indem er die Auswirkungen der Insolvenz der
Lehman-Bank auf die HRE übertragen hat.
({1})
Ich erinnere mich sehr gut, welch schwerwiegende Störungen nicht nur des Finanzkreislaufs, sondern unserer
gesamten Wirtschaft uns vor Augen geführt wurden bis hin zu der Feststellung, dass viele soziale Sicherungssysteme damit ins Wanken geraten oder gar kaputtgehen würden.
({2})
Ich weiß noch sehr gut, dass wir damals darüber nachgedacht haben, wie man das alles regeln kann. Dann
wurde das SoFFin-Gremium mit einem Leitungsausschuss eingerichtet.
({3})
Das war eine kluge Entscheidung; denn dieses Gremium
begleitet die Stabilisierung der Finanzmärkte in einer angemessenen Art und Weise.
({4})
Ich erinnere mich auch noch sehr gut, dass wir damals
eine Auseinandersetzung darüber hatten, ob wir die HRE
zu 100 Prozent übernehmen, also voll verstaatlichen
sollten. Das war die Forderung von Peer Steinbrück und
von der SPD. Wir waren da ordnungspolitisch etwas
zurückhaltender. Uns hätte auch ein geringerer Anteil
gereicht; denn wir haben ein ordnungspolitisches Gewissen. Wir wollen nicht alles verstaatlichen. Die Entscheidung, die wir mitgetragen haben, lautete dann aber: Die
HRE wird zu 100 Prozent übernommen.
Nun stelle ich fest, dass sich die SPD Stück für Stück
von allen Entscheidungen, die in der Zeit der Großen
Koalition getroffen wurden, verabschiedet.
({5})
Noch im Juli 2009 hat mein geschätzter Kollege Carsten
Schneider die Rettung der HRE vor der Insolvenz hier,
an diesem Rednerpult gerechtfertigt und gelobt. Ich habe
das Protokoll dabei und kann das gerne vorlesen. Heute
fordert er die sofortige Abwicklung dieser Bank. Ich
hoffe, dass er, der nach mir redet, uns erklären wird, wie
das zusammengeht.
({6})
Wir als CDU/CSU-FDP-Koalition stehen zu der Verantwortung, die wir damals übernommen haben. Wir
sprechen uns dafür aus, dass die HRE in einem kontrollierten Verfahren ordentlich restrukturiert wird. Zu diesem kontrollierten Verfahren gehört auch, dass, wie ich
der heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung entnehme, der ich auch Glauben schenke, noch heute Nacht
der Knopf für die Auslagerung der toxischen Papiere in
eine sogenannte Bad Bank gedrückt wird. Aber - das ist
das Entscheidende - der Kernbereich der Bank bleibt erhalten. Das ist die Deutsche Pfandbriefbank. Meine Damen und Herren, allein mit dieser Aktuellen Stunde beschädigen Sie die Aussichten dieser Bank auf künftige
marktgerechte Geschäfte. Was Sie betreiben, ist für uns
volkswirtschaftlich von Schaden. Das muss man an der
Stelle einmal ganz deutlich sagen.
({7})
Ich wünschte mir, die Kollegen würden sich an der
Stelle vielleicht einmal Rat bei ihrem Parteifreund
Staatssekretär Asmussen einholen. Der sieht das etwas
anders.
Lassen Sie mich jetzt noch zwei, drei Sätze zu den
Bonizahlungen sagen. Auch dies geht auf ein Gesetz zurück, das der Finanzminister Peer Steinbrück - in Klammern: SPD - erlassen hat.
({8})
Da ging es um Maßnahmen zur Begrenzung der Gehaltszahlungen und um Rekapitalisierungsmaßnahmen. Übersehen hat man damals die Tatsache, dass so etwas vielleicht auch bei der Übernahme von großen Garantien
infrage kommen könnte oder sollte. Übersehen hat man
auch, dass es nicht nur um die Vorstandsebene geht, sondern dass es vielleicht auch um die zweite und dritte
Ebene gehen kann;
({9})
Es kann eigentlich nicht sein, dass jetzt in der Vorstandsebene weniger verdient wird als in der zweiten oder dritten Ebene, weil dieses übersehen wurde.
Was also lernen wir daraus? Auch an der Stelle macht
sich die SPD wieder vor ihrer Verantwortung vom
Acker. Sie äußert hier kein Verständnis für diese Bonizahlungen. Meine Damen und Herren, auch ich habe
kein Verständnis für diese Bonizahlungen.
({10})
Wenn jemand versagt, müsste es eigentlich einen Malus
geben und keinen Bonus.
({11})
So ist das ganz gesunde Empfinden unserer Bürgerinnen
und Bürger.
({12})
Das müssen wir so zur Kenntnis nehmen; das tun wir
auch.
({13})
Deshalb kann ich an der Stelle wiederum feststellen:
Was bleibt unter dem Strich?
({14})
Wir als bürgerlich-christlich-liberale Koalition
({15})
müssen die Fehler wieder ausbügeln, die ein SPDFinanzminister gemacht hat.
Danke.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute schon viel zitiert worden und auch auf die
Vergangenheit verwiesen worden. Ich kann Ihnen klipp
und klar sagen, Herr Wissing: Wir als SPD-Fraktion stehen zu dem, was wir in den vergangenen Jahren beschlossen haben; ganz klar.
({0})
Mich hätte interessiert, was denn eigentlich damals in
der Frage der Hypo Real Estate Ihre Alternative gewesen
war.
({1})
Carsten Schneider ({2})
Wir sind uns in diesem Hause doch sicherlich einig, dass
es eine systemrelevante Bank war.
({3})
Wir hatten Anhörungen im Haushaltsausschuss dazu. Da
haben der Bundesbankpräsident, aber auch der damalige
Chef des SoFFin gesagt: Die Rettung der HRE muss geschehen. - Das war die damalige Sicht.
({4})
Natürlich weiß ich, dass es heute etwas anders ist - ich
komme noch darauf -, was die Weiterentwicklung der
HRE betrifft. Aber aus der damaligen Sicht gab es zu
dieser Haltung und letztendlich zu der Verstaatlichung
der HRE keine Alternative. Sie haben sich damals als
Opposition sehr schnell in die Büsche geschlagen und
nichts Eigenes vorgeschlagen, meine Damen und Herren.
({5})
Dass Sie das jetzt alles Herrn Steinbrück und der SPD
in die Schuhe schieben wollen, ist geschenkt. Es geht der
FDP-Fraktion in anderen Punkten ja sowieso schlecht
genug; da habe ich kein Mitleid mehr.
({6})
Ich will Ihnen ganz klar sagen: Man muss sich nach
zwei Jahren Finanzmarktgesetzgebung - Rettung und allem, was dann passiert ist - auch fragen: Ist das richtig
gewesen? Gibt es Punkte, bei denen man Veränderungen
vornehmen muss?
({7})
- Ja, Sie haben immer alles gewusst; klar. Das haben wir
heute zur Kenntnis genommen.
({8})
Was die Frage der von uns allen sicherlich nicht gewollten - das ist ja so zum Ausdruck gebracht worden Bonizahlungen bei der Hypo Real Estate angeht, so beruht ein Teil dieser Boni auf Altverträgen. Ein anderer
Teil geht klar auf Ihre Verantwortung zurück. 8 Millionen Euro sind zu Zeiten der neuen Regierung an neue
Kollegen in der HRE gezahlt worden. Dafür gab es keine
vertragliche Grundlage. Das sind Halteprämien gewesen.
({9})
Das folgt der Logik des Marktes. Die HRE hat einen
schlechten Ruf. Das ist ja so; das will keiner bestreiten.
Wenn man da einen Guten halten will, dann muss man
ihm so viel zahlen wie bei der Deutschen Bank. Das
folgt aber der Logik, dass man diese Bank weiter halten
und entwickeln will,
({10})
und das wollen Sie.
Morgen gehen Sie einen weiteren Schritt mit der
Gründung der AIDA, der Abwicklungsanstalt, in die Sie
knapp 200 Milliarden Euro auslagern wollen. Das ist ein
Abwicklungsfall. Dann haben wir noch 150 Milliarden
Euro Bilanzsumme der HRE übrig. Darauf wollen Sie
und Ihre Regierung eine neue Bank gründen, die Deutsche Pfandbriefbank. Da stellt sich die Frage: Braucht
der Markt diese Bank? Haben wir in Deutschland nicht
genügend Staatsfinanzierer und gewerbliche Immobilienfinanzierer, dass der Bund ins Risiko gehen muss
und diese Bank mit einer horrenden Bezahlung, mit
neuen Werbebroschüren, die gedruckt werden müssen,
und weiteren Implikationen entwickeln muss?
({11})
Oder ist für den Bund, den Steuerzahler etwas anderes
günstiger? Das muss man sich überlegen, darüber muss
man diskutieren. Wir sind doch hier ein Ort der Meinungsbildung und kein Ort, wo wir etwas vorgesetzt bekommen und nichts dazu sagen.
({12})
Ist für den Bund also vielleicht etwas anderes günstiger? Ich verweise auf die Kommunikation mit dem Parlament. Die 40 Milliarden Euro an neuen Garantien für
die HRE wurden hier ja angesprochen. Das war wirklich
eine Sauerei; entschuldigen Sie, Frau Präsidentin, den
Ausdruck. Es ist nicht zu akzeptieren, dass wir darüber
nicht informiert werden.
({13})
Aber dass es gegenüber dem Finanzmarkt nicht einmal
eine Information gab, ist der entscheidende Punkt und
zeigt mir, dass der Markt kein Vertrauen in die Bank hat.
({14})
Ich persönlich glaube, dass es für den Steuerzahler
günstiger ist, jetzt zu sagen: Wir ziehen einen Schlussstrich, wir beteiligen uns nicht mehr an der Logik des
Marktes
({15})
und entwickeln keine neue Bank, die wir in vier oder
fünf Jahren eventuell zu einem niedrigen Preis verkaufen
können. In der Marktwirtschaft gibt es ja Angebot und
Nachfrage. Es gibt von der WestLB über die Bayern LB
und Banken, die in England und Europa auf den Markt
kommen, kein Geschäftsmodell, das große Rendite
bringt.
({16})
Carsten Schneider ({17})
Das heißt, es wird keine Käufer geben, die einen Preis
zahlen, der dem entspricht, was wir als Eigenkapital hineinstecken.
({18})
Dann muss man sich doch die Frage stellen: Ist es vielleicht nicht günstiger, die Bank generell abzuwickeln?
Das muss man überlegen. Ich persönlich bin da festgelegt; in meiner Partei gibt es Meinungsbildung. Es
stünde Ihnen gut an, das zu erwägen.
Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf angeschaut.
({19})
- Herr Dautzenberg, kennen Sie diesen Gesetzentwurf? Mir liegt der Kabinettsbeschluss von vor zwei Tagen
vor. Darin geht es um die SoFFin-Nachfolgeeinrichtung.
Ich habe im Finanzmarktgremium - das kann ich sagen,
das ist nicht geheim - vor einer Woche gefragt, ob die
Bundesregierung darüber nachdenkt, die Möglichkeiten
der Garantien und der Rekapitalisierung auch vor dem
Hintergrund der zusätzlichen Milliardengarantien an die
HRE zu verlängern.
({20})
Da hieß es Nein. Das war vor einer Woche. Jetzt schau
ich in diesen Gesetzentwurf und sehe: Für genau zwei
Banken, WestLB und HRE, nämlich die, die AIDAs, die
Abwicklungsanstalten, gegründet haben, werden hier
Garantien in Höhe von 300 Milliarden Euro neu ausgebracht oder verlängert und 50 Milliarden Kapitalzuschüsse. Dann frage ich mich: Wie kommt es zu diesem
Wechsel? Das ist noch nicht Ihr Beschluss, aber
({21})
ein Wechsel der Positionen. Es heißt nämlich, im Kern
behalten Sie sich vor, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen.
({22})
Ich meine, wir sollten im Bundestag eine Entscheidung treffen - nicht nur die Regierung -, die den Steuerzahler so weit wie möglich schont.
({23})
Sie haben sich in der letzten Regierung gewehrt, als wir
gesagt haben: Wenn es ein Minus aus dem Rettungsfonds gibt, zahlen das die Banken. Dazu haben Sie Nein
gesagt. Wir sind dafür, dass die Banken das zahlen. Das
wäre dann auch ein Nullsummenspiel für den Steuerzahler. Meine Damen und Herren, es liegt an Ihnen.
({24})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor knapp 2000 Jahren schrieb der bekannte römische Dichter Ovid sein Hauptwerk, die
Metamorphosen. Im Jahr 2010 schreibt der bekannte
Pädagoge aus Niedersachsen Sigmar Gabriel den zweiten Teil der Metamorphosen, die Metamorphosen der
SPD.
({0})
Der Unterschied ist: Ovid kam mit 15 Büchern aus, in
denen rund 250 mythische Geschichten enthalten waren;
bei Ihrer Entwicklung kommen Sie in absehbarer Zeit
mit 15 Büchern und 250 Mythen beileibe nicht über die
Runden.
({1})
Sie verabschieden sich sozusagen im täglichen
Rhythmus von bekannten Positionen Ihrer Regierungszeit. Dies betrifft Hartz IV, die Rente mit 67 und jetzt die
HRE. Es ist eigentlich keine Überraschung, wenn man
sieht, wie Sie sich in den letzten Monaten gewandelt haben.
({2})
Ich kann das verstehen. Sie scheinen sich für Ihre Regierungsarbeit zu schämen. Das ist Ihnen unangenehm; das
kann ich nachvollziehen.
({3})
Deswegen muss man, vielleicht auch im Kontext der
Finanzmarktstabilisierung, sagen: Die vermutlich größte
Abwicklungsanstalt Deutschlands heißt derzeit SPD.
Das stellen wir im Moment fest.
({4})
Die Bundesregierung zieht übrigens in diesem Herbst
- das wird hier im Bundestag beraten - entscheidende
Konsequenzen aus dem Fall der Hypo Real Estate und
der staatlichen Reaktion auf die Finanzkrise.
({5})
Das Stichwort heißt „Restrukturierungsgesetz“.
({6})
Mit diesem Gesetz werden all die Instrumente, die der
Staat vor zwei Jahren nicht zur Verfügung hatte
({7})
und die Sie bis letztes Jahr auch nicht schaffen konnten,
weil Sie sich innerhalb der Großen Koalition uneinig
waren,
({8})
geschaffen. Das heißt mehr Prävention im Hinblick auf
Bankenkrisen, das heißt mehr Eingriffsbefugnisse für die
Aufsicht in Fällen, in denen wirklich etwas schiefläuft,
({9})
und das heißt letzten Endes auch ein Auffangmodell, das
erstens von den Banken bezahlt wird und zweitens die
Haftung von Eigentümern und Gläubigern wiederherstellt. Diese Koalition handelt, und sie beseitigt viele der
Ursachen, die zu dieser Krise geführt haben.
({10})
Ich finde es bemerkenswert, dass Sie mehr oder weniger offen einräumen, dass sich Peer Steinbrück an vielen
Stellen getäuscht hat.
({11})
Ich will zwei Punkte erwähnen, die heute noch nicht angesprochen worden sind. Es war Peer Steinbrück, der
340 Millionen Euro gezahlt hat.
({12})
- Ich weiß, das trifft Sie, Kollege Poß; aber es ist die
Wahrheit. - Sie haben 340 Millionen Euro aus Steuermitteln gezahlt bzw. Schulden aufgenommen, um Altaktionäre auszuzahlen oder aus einer schon damals wertlosen Bank herauszukaufen. Das haben Sie gemacht.
Damals flossen 340 Millionen Euro an Aktionäre - nicht
einmal in die Bank, sondern an die Altaktionäre -, und
zwar dafür, dass der Bund eine wertlose Bank übernehmen kann.
({13})
Das rechtfertigen Sie hier auch noch! Ich glaube, dass
bei Ihnen wirklich einiges schiefgelaufen ist.
({14})
- Das ist schon lange vorher passiert, Kollege Poß. Sehen Sie sich die zeitlichen Abläufe noch einmal an!
({15})
Auch ein weiterer Aspekt ist bemerkenswert. Im Zusammenhang mit der Verstaatlichung der HRE im
Jahr 2009 hat Peer Steinbrück im Bundestag mit dramatischen Worten gesagt, dass der Bund zu 100 Prozent an
der HRE beteiligt sein muss, dass er also Alleineigentümer werden muss. Dafür hat er auch einen Grund genannt. Peer Steinbrück hat immer wieder gesagt - das
kann man anhand der Protokolle belegen -: Wir müssen
eine 100-prozentige Verstaatlichung durchführen, weil
die HRE nur so an den Finanzierungskonditionen des
Bundes teilhaben kann.
Die Realität von heute ist jedoch, dass sich diese Vorhersage nicht einmal im Ansatz erfüllt hat. Die HRE ist
immer noch weit von den Finanzierungskonditionen des
Bundes entfernt. Der deutschen Öffentlichkeit wurde
von Peer Steinbrück unter Vorspiegelung falscher Annahmen ein Gesetz präsentiert, in dessen Folge überhaupt nichts so gekommen ist, wie er es erwartet hat.
({16})
Die Folgen dieser Fehleinschätzungen haben wir heute
zu tragen.
({17})
Es ist sicherlich richtig, dass die HRE systemrelevant
war und ist.
({18})
- Ich stelle nur fest, was in den letzten Jahren geschehen
ist; jetzt komme ich zur Zukunft, Kollege Poß. - Wir
müssen einen Weg finden, diese Bank nicht unkontrolliert in die Insolvenz zu schicken, die Sie nie wollten und
die für den Markt auch schädlich wäre. Wir müssen dieses Konstrukt Stück für Stück vom Markt nehmen,
({19})
die Risiken für die Steuerzahler reduzieren und ihre Interessen so weit wie möglich wahren. Wir müssen im Interesse der Steuerzahler das Beste aus dieser Entwicklung
machen.
Es ist wichtig, festzustellen: Die Bilanzsumme der
Bank ist bereits geschrumpft. In dieser Woche werden
mehr als 60 Prozent des Volumens der Bank auf eine
Abwicklungsanstalt übertragen; wenn diese Operation
gelingt, wäre das ein beträchtlicher Erfolg,
({20})
weil die Refinanzierung dadurch nachhaltig stabilisiert
würde.
({21})
Die Kernbank, die übrig bleibt, wird nach ihren eigenen
Geschäftsplänen weiter schrumpfen. Das heißt, ein großer Teil, ungefähr drei Viertel der Bank, wird entweder
abgewickelt oder läuft aus, und Neugeschäft wird nur
ausgesprochen zurückhaltend betrieben.
({22})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage, die sich
jetzt stellt, lautet: Ist das Neugeschäft der Bank etwas,
das wir wollen, weil es uns Chancen eröffnet, oder etwas, das wir nicht wollen? Diese Regierung sagt: Da wir
die Interessen des Steuerzahlers zu vertreten haben, müssen wir alles dafür tun, dass zumindest der gute, verwertbare Teil der Bank eines Tages verkauft werden kann. Ich warne Sie vor der Annahme - sie ist nämlich falsch -,
dass eine komplette Abwicklung, die übrigens nicht realistisch ist, billiger wäre und man dem Steuerzahler damit irgendeinen Gefallen täte. Das Gegenteil ist der Fall.
({23})
Herr Kollege Schneider, weil Sie dieses Thema angesprochen haben, sage ich Ihnen: Es ist mitnichten so,
dass man bei einer Abwicklung keine Mitarbeiter mehr
braucht. Gerade bei einer Abwicklung braucht man ausgesprochen qualifizierte Mitarbeiter, die sich gut auskennen. Es macht nämlich einen Unterschied, ob der Schaden bei einer Abwicklung groß, mittelgroß oder klein ist.
Das hängt nicht zuletzt auch davon ab, wer abwickelt
und wie gut.
({24})
- Das haben Sie gesagt, Herr Kollege, nicht ich. Meine
Äußerungen dazu haben Sie gelesen. Die Logik, dass
man keine guten Mitarbeiter mehr braucht, wenn man
das Ganze abwickelt, ist schlicht und ergreifend falsch;
das Gegenteil ist nämlich der Fall.
Achten Sie bitte auf die Redezeit, Herr Kollege.
Deswegen ist das, was diese Regierung tut, im Interesse des Steuerzahlers. Das, was Sie tun, ist nur ein weiterer Akt in Ihren Metamorphosen.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben morgen in
erster Lesung ein Gesetz hierzu zu beraten, und wir haben eben viel über Steinbrück gehört. Interessant ist,
dass der Teil der Restrukturierungsklausel, die in dem
Gesetz vorhanden ist, maßgeblich - vielleicht zu
95 Prozent - aus der Feder von Steinbrück und Zypries
stammt. Das ist eine interessante Fortsetzung einer falschen Politik, die Sie hier doch reklamieren.
({0})
In Wahrheit reden wir über Steinbrück, weil er damals
gehandelt hat. In Wahrheit reden wir heute nicht über die
Regierungskoalition, weil sie eben nicht handelt. Herr
Wissing hat das demonstriert.
({1})
Er hat zwar ganz viel über die Vergangenheit geredet,
aber keinen Ton dazu gesagt, was in dieser Lage konkret
passieren soll. Er hat sogar gesagt, wir hätten uns in die
Verstaatlichung verliebt - er hat das nicht wörtlich gesagt -, aber gemeint, das sei unserer Meinung nach ein
tolles Projekt von uns gewesen. Die Antwort ist ganz anders: Wir wollten nicht verstaatlichen, sondern wir wollten retten.
({2})
Retten ist etwas ganz anderes. Das Mittel die Verstaatlichung kann das richtige Mittel sein.
({3})
Es ging darum, eine Systemkrise abzumildern, den
Pfandbrief zu retten. Es ging auch um viele Kunden der
Bank
({4})
- darum geht es auch jetzt noch - und um das Wirtschaftswachstum, von dem besonders ihr euren Stolz ableitet. Das geht auf solche Maßnahmen zurück.
Trotzdem muss man zugeben: Wir haben uns in einer
bestimmten Phase geirrt. Wir haben ein Gesetz gemacht,
in dem steht, dass wir Vorstandsgehälter kleiner gleich
500 000 Euro festlegen wollen. Ganz ehrlich: Auch ich
habe mich geirrt. Ich hätte nicht gedacht, dass die Leute,
für die man das Gesetz macht, auf die Idee kommen, dieses Gesetz zu unterlaufen, indem in der zweiten Reihe
plötzlich Gehälter gezahlt werden, die höher sind als die,
die man für die erste Riege hat regeln wollen. Das
konnte ich mir nicht vorstellen; das muss ich ehrlich sagen.
Lothar Binding ({5})
({6})
Daraus mache ich Peer Steinbrück keinen Vorwurf. Das
ist eine Frage von Anstand, ob man ein Gesetz so oder so
unterläuft.
Jetzt wird natürlich gefordert, das alles zu regeln.
Man kann alles regeln. Dann heißt es aber wieder, die
Regelungsdichte sei zu hoch und die Regelungswut sei
überbordend. Ich will ehrlich sagen: Wenn wir alles regeln müssen, weil alles getan wird, was nicht verboten
wird, wenn alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten
wird, dann werden wir eine Gesetzgebung haben, mit der
niemand in dieser Gesellschaft mehr zurande kommt.
Ich glaube, wir müssen den Bürgern und sogar Leuten,
die in der Bank arbeiten, eine gewisse Eigenverantwortung zuschreiben, sonst funktioniert das gesamte System
nicht.
({7})
In welcher Lage sind wir heute? Das haben wir schon
gehört. Die HRE überträgt 191 Milliarden Euro auf eine
Abwicklungsbank, nämlich auf die Finanzmarktstabilisierungsanstalt, die FMS Wertmanagement. Das ist ein
mutiger Begriff für das, was da passiert. Aber es deutet
in die Richtung, in die wir gehen wollen.
Eine Situation beschreibt ein bisschen das Verhältnis
zwischen Regierung und Parlament. Ich fand die Art,
wie der Parlamentarische Staatssekretär Kampeter uns
informiert hat, sehr grenzwertig.
({8})
Er hat das in einer Weise getan, die uns vielleicht hinters
Licht hätte führen sollen, wenn es nicht rechtzeitig aufgefallen wäre. Ich glaube, da muss noch sehr viel mehr
Transparenz hineinkommen.
Welche Risiken gibt es in diesem Kontext noch? Wir
haben risikogewichtete Aktiva in Höhe von 191 Milliarden Euro, die jetzt übertragen werden. Es gibt ein Kursschwankungsrisiko, das heute noch gar nicht abgeschätzt
werden kann, in Bezug auf den US-Dollar und das englische Pfund. Es gibt Staatsanleihen, die in besicherten
Refinanzierungstransaktionen ausgegeben werden, die
unterlegt werden müssen. Die EZB-Offenmarktgeschäfte sind noch nicht in der notwendigen Weise refinanziert. Das ist ein erneutes Risiko. Ich beschreibe nur
ein bisschen die Innensicht der Bank.
Die Frage ist auch: Wie verändert sich eigentlich die
Bonität der Staatsanleihen? Denn bei einer Änderung der
Bonität der Staatsanleihen ändert sich auch der Credit
Spread, der Diskontaufschlag. Das erhöht den Liquiditätsbedarf und bringt die Bank unter dramatischen
Druck. Was machen verantwortliche Banker, die diesen
Druck aus der Innensicht der Bank kennen, in dieser
Phase? Sie erhöhen sich die Boni. Das Problem ist der
Widerspruch im unterschiedlichen Umgang mit der Verantwortung für das Ganze und für das Eigene. Ich
glaube, wer diesen Widerspruch nicht auflöst, hat zukünftig ein großes Problem. Deshalb sehe ich auch eine
große Verantwortung für ein ordentliches Gesetz, mit
dem dies überwunden wird. Deshalb meine ich: Die Regierung muss aktiv werden und kann sich nicht hinter
dem verstecken, was der Kollege Wissing gesagt hat,
weil das den Niedergang bedeuten würde.
({9})
Deshalb will ich noch einmal betonen, dass die Entscheidungen, die die Große Koalition damals getroffen
hat, sehr gut für die Stabilisierung der Situation waren;
das kann man auch im Nachhinein sagen. Wenn sich die
Situation jetzt wieder ändert, dann muss man ein neues
schönes Gesetz machen, das wir in zwei Jahren dann
hoffentlich nicht so kritisieren wie das jetzige.
Vielen Dank.
({10})
Für die Bundesregierung hat das Wort Herr Parlamentarischer Staatssekretär Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Politik hat viel mit Verantwortung zu tun. Wer
in der Politik tätig ist, der muss bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Regieren hat besonders viel mit
Verantwortung zu tun. Wer allerdings nicht bereit ist, zu
den von ihm verantworteten politischen Entscheidungen
zu stehen, der ist politik- und regierungsunfähig. Mit jedem Redebeitrag der Sozialdemokratischen Partei wurde
diese These hier heute nachhaltig belegt.
({0})
Dass sich die Partei Die Linke, die das Bonusproblem
ihres Parteivorsitzenden ja über Wochen diskutiert hat,
hier auch noch zum moralischen Wächter aufschwingt,
ist ein nettes Aperçu in dieser Debatte.
({1})
Die Bundesregierung steht zu der Entscheidung, über
die Stabilisierungsmaßnahmen bei der Hypo Real Estate
Schaden vom Finanzmarkt und Schaden von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Bundesrepublik
Deutschland abzuwenden.
({2})
Die Entscheidung war richtig, und sie war im Interesse
des Finanzplatzes Deutschland und zur Abwendung von
weiteren Schäden nachhaltig verantwortbar.
({3})
Die Instrumente im Finanzmarktstabilisierungsgesetz,
die wir dazu angewandt haben, sind im Konsens zwischen den damaligen Koalitionspartnern entwickelt worden. Ich möchte hiermit ausdrücklich meinen Respekt
gegenüber unserem neuen Koalitionspartner dafür aussprechen, dass er die damals getroffenen Entscheidungen
mitträgt und auch bereit ist, Verantwortung für Dinge zu
übernehmen, die er seinerzeit nicht ganz optimal gefunden hat. Das ist verantwortungsvolle Politik.
({4})
Wo stehen wir heute? - Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass durch diese Aktuelle Stunde offenkundig davon abgelenkt werden soll, dass in Kürze, wahrscheinlich in dieser Nacht, eine der erfolgreichsten und
notwendigsten, aber auch kompliziertesten Transaktionen in der Finanzgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland über die Bühne gehen wird. Alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland müssen wissen: Der Erfolg dieser Transaktion ist wichtig, um Schaden für die deutsche Politik und für die deutsche
Volkswirtschaft abzuwenden.
({5})
Wenn man 192 Milliarden Euro in einen Hochsicherheitstrakt für Finanzmüll überführt, dann ist das keine
simple, sondern eine hochkomplexe Leistung.
({6})
Was dort in den letzten Monaten vorbereitet worden ist,
ist trotz der schwierigen Ertragssituation eine wichtige
Leistung, die wir nicht mit einer Art von Populismus und
Opportunismus begleiten sollten, wie wir es von Teilen
dieses Hauses hören, sondern mit Respekt und mit einer
Hoffnung auf deren Erfolg. Wir als Bundesregierung
und als Deutscher Bundestag haben ein existenzielles Interesse an dem Erfolg der Stabilisierung der Hypo Real
Estate.
({7})
Ich will auch überhaupt gar keinen Zweifel daran lassen, dass es richtig war, die Bank nicht abzuwickeln. Es
war damals in der Großen Koalition unsere Auffassung,
dass das für den Steuerzahler die nachhaltig teurere Lösung wäre, und wir haben keinen Anlass, von dieser Beurteilung heute abzurücken. Wir handeln so im Interesse
des Bundeshaushalts und im Interesse unserer Volkswirtschaft.
({8})
Ich möchte meinen Respekt all denjenigen zollen, die
diese Finanzmarktstabilisierung in den vergangenen
zwei Jahren zu einem Erfolg geführt haben,
({9})
beispielsweise den Mitarbeitern im Finanzministerium,
in der BaFin, aber auch im SoFFin.
Wegen mancher Begrifflichkeiten in dieser Debatte
will ich aber auch nicht unerwähnt lassen, dass diejenigen, die heute in der HRE arbeiten, nicht diejenigen
sind, die die HRE in die Situation geführt haben, dass sie
gerettet werden musste. Dort sind nicht mehr die Brandstifter an der Spitze, sondern viele sind dabei, die Aufräumarbeiten zu erledigen. Ich finde, wir sollten sie nicht
für die Versäumnisse ihrer Vorgänger in Haftung nehmen.
({10})
Ich glaube, dass die Sozialdemokraten vergessen
haben, was die Grundlagen für die derzeitigen Vergütungsregelungen sind. Wir haben im Finanzmarktstabilisierungsgesetz eine bewusste Entscheidung für die Begrenzung der Vergütungen auf Vorstandsebene getroffen.
Allen, die daran beteiligt waren, war klar, dass dies für
die erste Ebene gilt, weil wir zu diesem Zeitpunkt nicht
umfassend in Vertragsfreiheit und in Vertragsbestandsschutz eingreifen wollten.
Dem Kollegen von der SPD-Fraktion, der hier heute
erklärt hat, er habe es nicht gewusst, muss ich ehrlich sagen: Dann hat er seine Aufgabe im Haushaltsausschuss
in der vergangenen Legislaturperiode wohl nicht vollumfänglich und verantwortlich wahrgenommen.
({11})
- Lieber Herr Kollege Poß, was wir damals beschlossen
haben, war Ihnen in den Konsequenzen genauso klar.
({12})
Sie sollten bitte an dieser Stelle nicht vergessen, dass der
Schutzpatron der Bonuszahlungen der Hypo Real Estate
Mitglied Ihrer Bundestagsfraktion ist.
({13})
Im August 2009 - dies stammt aus einer ddp-Meldung - hat der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück die
Bonuszahlungen in Höhe von 500 000 Euro an den Vorstandschef der Hypo Real Estate, Axel Wieandt, mit den
Worten verteidigt:
Herr Wieandt ist der Feuerwehrmann, der bei der
Hypo Real Estate einen überaus schwierigen Job
macht - und ich bin froh, dass er da ist.
({14})
Sie verhalten sich wie der beim Einbruch erwischte
Dieb, der dann ruft: Haltet den Dieb! Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann man mit der deutschen
Öffentlichkeit allen Ernstes wirklich nicht umgehen.
({15})
Was hat sich mit dieser neuen Bundesregierung an
den Vergütungsstrukturen
({16})
in dem von uns stabilisierten Bereich geändert?
({17})
Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass der Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat der Hypo Real Estate
Ende des vergangenen Jahres gefordert hat, die Einmalzahlungen, die bei der Hypo Real Estate aufgrund von
Altverträgen vor Einstieg des Bundes geleistet werden
müssten, einer Überprüfung zuzuführen. Am Ende dieser Überprüfung steht ein anderes Vergütungssystem,
das sich an den drei Kriterien, die wir im Deutschen
Bundestag festgelegt haben, orientiert: Transparenz,
Nachhaltigkeit und Angemessenheit.
Es war im Übrigen auch die letzte Bundesregierung,
die im Rahmen des SoFFin erstmals für das Finanzwesen Vergütungsstrukturen festgelegt hat; sie sind dann
von der BaFin aufgegriffen worden, und international
haben sie Eingang in den Financial Stability Report gefunden. Wir strukturieren die Vergütungen in der HRE
grundlegend um. Dies geschieht nicht schon seit der
letzten Legislaturperiode, sondern es war Wolfgang
Schäuble, der diese Maßnahmen wenige Wochen nach
seinem Amtsbeginn eingeleitet hat. Entsprechend können wir hier jetzt sehr selbstbewusst feststellen: In der
letzten Legislaturperiode war kein politischer Wille vorhanden, mehr zu machen. In dieser Legislaturperiode
hingegen ist der politische Wille in Handeln umgewandelt worden. Das ist die Tatsache, über die hier in dieser
Art und Weise zu berichten ist.
({18})
Ich gehe davon aus, dass es in diesem Bereich, wenn
wir zukünftige Verträge nach diesen Prinzipien regulieren werden, zu verantwortbaren und kommunikationsfähigen Entscheidungen kommen wird.
Wir sind offen für mitnichten die Vertragsfreiheit aushebelnde oder den Bestandsschutz von Verträgen überflüssig machende Regelungen. Wir sind offen dafür, dies
auch im Bereich des Restrukturierungsgesetzes zu machen. Aber ich finde es unangemessen, in populistischer
und opportunistischer Art und Weise die in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen so darzustellen, als
ob man an ihnen nicht beteiligt gewesen wäre. Ich
glaube nämlich, dass in einem Punkt die SPD, die Sozialdemokraten, Farbe bekennen müssen: Sind Sie für
variable Vergütungen, wie Peer Steinbrück sie hier vertreten hat, ja oder nein? Sind das nachhaltige Bereiche?
Darüber werden wir in den nächsten Wochen und Monaten streiten müssen.
Zum Schluss will ich sagen, dass ich Ihnen, Herr
Schick, in einem Punkt meinen Respekt zolle. Ich finde
es richtig und unterstütze Sie - das nicht als Mitglied der
Bundesregierung, sondern als Abgeordneter -: Neben
der gesetzlichen Verantwortung haben alle diejenigen,
die in diesem Bereich tätig sind, auch eine private Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft, und ich respektiere und unterstütze Ihren Appell an die Betroffenen, privatwirtschaftlich und freiwillig auf die nach
meinem Empfinden unanständig erworbenen Ansprüche
zu verzichten.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kampeter,
eine Lehre sollten Sie aus Ihrem Fauxpas der Fehlinformation ziehen: Sie sollten einfach genauer zuhören, was
hier gesagt wird, bevor Sie darauf eingehen.
({0})
Bis zur Finanzkrise waren die Banker die am besten
bezahlte Berufsgruppe überhaupt.
({1})
Es gab schwindelerregende Gehälter, es gab exzessive
Boni,
({2})
und sie waren mit dafür verantwortlich, dass es zu dieser
Finanzkrise in diesem Umfang kommen konnte. Die
Prinzipien guter Unternehmensführung - auf Neudeutsch: Corporate Governance - sind in der Finanzbranche auf ganzer Linie missachtet worden. Dies hat
eine Expertenkommission der EU festgestellt. Nun beschäftigen wir uns heute mit der HRE. Das, was wir gehört haben, hat eines deutlich gemacht: Die HRE ist ein
ganz besonderes Biotop. Ihr Management hat das Unternehmen grandios in die Pleite gewirtschaftet. Der Staat
musste als Retter einspringen. Über die Garantierahmen
haben wir einiges gehört. Überlegen wir doch einmal
kurz, was passiert wäre, wenn der Steuerzahler nicht eingesprungen wäre. Die Bank wäre nicht mehr existent,
alle arbeitsrechtlichen Verträge wären hinfällig, es gäbe
weder Gehalts- noch Bonizahlungen. Das wäre die Situation.
({3})
- Das ist völlig richtig. - Ich unterstreiche, dass Peer
Steinbrück in der Großen Koalition richtig gehandelt
hat.
({4})
Er hat zu Recht gesagt: Es ging nicht nur darum, eine
Bank zu retten, sondern es ging darum, insgesamt den
Kollaps des Finanzsystems in Deutschland mit weitreichenden Konsequenzen zu verhindern. - Das ist geschehen.
({5})
Ich frage mich: Wo würden wir heute eigentlich stehen,
wenn wir den Vorschlägen der FDP gefolgt wären? Das
will ich mir überhaupt nicht ausmalen.
({6})
Mit der Verstaatlichung der HRE wurden eine Kernschmelze und ein Kollaps des Finanzsystems verhindert.
Aber wir müssen feststellen, dass bereits damals durch
die Informationspolitik des Managements das wahre
Ausmaß der Katastrophe nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit kam und das wahre Ausmaß des ökonomischen Destasters erst nach und nach publik wurde.
({7})
- Das ist jetzt ein bisschen zu blöd, sorry. ({8})
Das Ganze war ein unglaublicher Skandal aufgrund
ökonomischer Unfähigkeit von Bankern, die sich selbst
für unverwundbar hielten und als sogenannte Master of
the Universe in der Realität die größten Versager waren,
die man sich vorstellen kann. Zu Recht wurden die Vorstandsgehälter bei 500 000 Euro gedeckelt. Man muss
sich vorstellen, dass das Durchschnittsgehalt eines Vorstands einer großen deutschen Bank bei 2,2 Millionen
Euro pro Jahr lag. Die Deckelung war richtig. Ich kann
das, was mein Kollege hier eben gesagt hat, nur unterstreichen. Meine Fantasie jedenfalls hätte nicht ausgereicht, sich vorzustellen, dass in einer Bank, die nur noch
mit Hilfe des Steuerzahlers existiert, diese Boni-Exzesse
in der zweiten und dritten Reihe wieder an der Tagesordnung sind.
({9})
Besonders dreist finde ich es, wenn ein Sprecher der
Hypo Real Estate laut einer Meldung der Tagesschau
dieses mit dem Hinweis rechtfertigt, die Bonuszahlungen seien nun deutlich geringer als vor der Krise. Das
muss man sich einmal vorstellen. In anderen Unternehmen müssen die Beschäftigten in der Krise Gehaltsverzicht üben.
({10})
Lieber Herr Kollege Kampeter, 7 Millionen Euro dieser Bonizahlungen gehen allein auf Ihr Konto.
({11})
- Das ist klar. Das kann er nicht. Das haben wir eben
festgestellt. ({12})
- Genau so ist es.
Die Frage nach der Zukunft der HRE wird zu Recht
gestellt. Wir müssen in der Tat die Frage beantworten, ob
die Kernbank nach Übertragung eines Teilportfolios in
die Abwicklungsanstalt zukünftig lebensfähig ist. Ich
finde es richtig, dass der Kollege Schneider diese Frage
so offensiv stellt;
({13})
denn wir können den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in Deutschland auf Dauer nicht immer neue Garantien abverlangen. Das wird nicht möglich sein.
Schaut man sich jetzt die politischen Reaktionen an,
dann stellt man fest: Die Bundesregierung war informiert, sie war involviert, sie war im Aufsichtsrat beteiligt. Auf der anderen Seite hat es jede Menge kritische
Stimmen aus der CDU und der FDP gegeben. Herr
Dautzenberg hielt die Vorgänge für nicht akzeptabel.
Richtig! Dann haben Sie darauf hingewiesen, die Vorstände hätten schon zum damaligen Zeitpunkt mit Änderungskündigungen arbeiten können, um überhöhte Ansprüche zu begrenzen. Diesen Vorschlag habe ich dann
nicht wieder von Ihnen gehört. Schade! Das Ganze hätte
man wirklich einmal ausloten können.
({14})
Insgesamt zeigt sich: Koalitionsfraktionen und Bundesregierung sind sich in der Bewertung der Sache nicht
einig. Das ist bei dieser Bundesregierung nicht neu. Der
Streit sollte aber bald beendet werden; denn wir müssen
jetzt gemeinsam die richtigen Konsequenzen aus dieser
Situation ziehen. Joachim Poß hat es auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: Da, wo sich der Staat engagiert,
haben Boni nichts zu suchen.
({15})
Jetzt ist die Regierung gefordert, zu handeln. Wir warten
auf Ihre Vorschläge.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich frage mich schon die ganze Zeit,
warum die SPD für heute diese Aktuelle Stunde beantragt hat.
({0})
Eigentlich müssten Sie zu dem Ergebnis kommen, dass
es für Sie bisher nicht sehr gut gelaufen ist.
({1})
Sie sind daran erinnert worden, dass all die Maßnahmen,
die wir im Zusammenhang mit der HRE hier beschlossen haben, unter der Federführung des von Ihnen gestellten, von mir hoch geschätzten Finanzministers Peer
Steinbrück vorgenommen worden sind und dass wir auf
dringendes Anraten und auf dringende Empfehlung von
ihm all die Maßnahmen zur Rettung der HRE - bis hin
zur Verstaatlichung - beschlossen haben.
Kollege Dautzenberg hat darauf hingewiesen, dass
wir es uns sehr lange überlegt haben, ob wir all diese
Schritte mitgehen können und mitgehen müssen. Heute
müssen wir feststellen: Diese Schritte waren unvermeidbar. Sie sind auch nach heutiger Beurteilung dem
Grunde nach richtig und nicht zu beanstanden. Dass es
dabei auch Aspekte gibt, die man vorher nicht richtig gesehen hat, nicht richtig einordnen konnte, war uns auch
damals bewusst. Man bedenke die Geschwindigkeit, mit
der wir die Entscheidungen in diesem Zusammenhang
zu treffen hatten.
Die Frage, warum die SPD heute diese Aktuelle
Stunde beantragt hat, kann ich mir nur damit erklären,
dass sie konsequent ihren neuen Weg verfolgt, nämlich
die Flucht aus der Verantwortung.
({2})
- Doch, doch. - Sie wollen sich von Ihrem früheren Regierungshandeln verabschieden. Sie wollen Spuren verwischen. Sie wollen mit dem, was Sie früher einmal verantwortet haben, nichts mehr zu tun haben.
({3})
Das gilt für die Rentenpolitik, das gilt für die Steuerpolitik, das gilt für die Sozialpolitik, und das gilt auch in diesem Punkt. Ihre Parole heißt „Zurück, marsch, marsch! Spuren verwischen“. Ich sage Ihnen aber: Das Ansehen
von Politikern und das Ansehen einer Partei steigen mit
Sicherheit nicht, wenn man sich zum eigenen Handeln
und zur eigenen Verantwortung nicht mehr bekennt. Das
ist der konsequente Weg in die organisierte Verantwortungslosigkeit.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es stellt sich
die nächste Frage: Warum beantragt die SPD diese Aktuelle Stunde genau in dieser Woche? Von anderen Rednern
und vom Herrn Staatssekretär ist darauf hingewiesen
worden, dass genau in dieser Woche eine äußerst schwierige Aktion stattfindet: die gesamte Umstrukturierung.
Eigentlich sollte es, unserer Verantwortung entsprechend,
so sein, dass wir diesen Prozess nicht auch noch erschweren. Stattdessen beklagt der Kollege Carsten Schneider
mögliche nachteilige Auswirkungen auf den Steuerzahler
wegen der Sonderzahlungen, und gleichzeitig betreibt er
hier eine Rufschädigung des Unternehmens, die zu dramatischen nachteiligen Konsequenzen für den Steuerzahler führen kann.
({5})
Ich habe den Eindruck, Sie wollen aus der öffentlichen Empörung Honig saugen. Es gibt Vorurteile ganz
allgemeiner Art in Sachen HRE. Ein besonderes Ärgernis sind die aktuellen Vorgänge.
Wir haben aber die HRE gemeinsam gerettet im Interesse der Stabilität des Bankensektors in der Bundesrepublik Deutschland,
({6})
um zu vermeiden, dass Werte vernichtet werden, und um
sicherzustellen - der Herr Staatssekretär hat es ausgeführt -, dass andere Institutionen wie zum Beispiel die
sozialen Sicherungssysteme und kommunale Einrichtungen nicht noch mehr Schaden nehmen. Wir haben
schnell gehandelt. Deswegen muss man natürlich auch
mit gewissen Ungenauigkeiten rechnen.
Es gibt ein Arbeitsrecht und ein Vertragsrecht. Wir
wissen, dass Arbeitsrechtsprozesse und Ähnliches anhängig sind. Das ist das eine. Auf der anderen Seite stellt
sich die Frage, die sich immer stellt, wenn Unternehmen
in Schwierigkeiten sind: Welcher Beitrag muss von der
Spitze bis zu jedem Mitarbeiter geleistet werden?
Gleichwohl sind wir in der Lage, objektiv zu unterscheiden zwischen Bonizahlungen einerseits und variablen Gehaltsbestandteilen andererseits. Auch das muss in
einer solchen Debatte zumindest angemerkt werden.
Insgesamt gesehen geht es aber darum, dass alle mithelfen müssen, und zwar unabhängig von ihren Ansprüchen, die sie geltend machen können oder wollen. Es
geht darum, dass das Unternehmen wieder in ruhiges
Fahrwasser gelangt, sodass es wieder Erfolg haben kann.
In diesem Zusammenhang will ich meinen großen
Respekt zum Ausdruck bringen gegenüber vielen Betriebsräten, die in ihren Unternehmen, die in der zurückliegenden Zeit in Schwierigkeiten waren, gemeinsam
mit der Belegschaft dazu beigetragen haben, dass Unternehmen konsolidiert werden konnten, dass Unternehmen
wieder auf einen guten Weg gekommen sind.
({7})
Ich sage das voller Anerkennung und voller Respekt vor
diesen Leuten, die sich dafür bei den eigenen Leuten im
Unternehmen stark gemacht haben. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass wir jetzt
schneller als viele andere in Europa aus der Krise herausgekommen sind und wieder eine hervorragende
wirtschaftliche Entwicklung verzeichnen können. Auch
das sollten wir hier erwähnen.
({8})
Ich sage auch im Hinblick auf den Bankensektor: Es
müssen sich alle darüber im Klaren sein, welche Verantwortung sie zu tragen und zu übernehmen haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns am Ende einer emotionalen Debatte. Ich
glaube, dass in dieser Debatte durchaus das aufgegriffen
worden ist, was in der Bevölkerung zu diesem Thema
gedacht wird, was in Stammtischrunden und in den Familien diskutiert wird. Deswegen ist es gut und richtig,
dass wir an dieser Stelle darüber sprechen. Hier ist auch
der Platz, um darüber zu sprechen.
Zum Schluss der Debatte möchte ich diesen Komplex
aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus beleuchten,
weil ich fest davon überzeugt bin, dass es nicht nur Aufgabe der Politik ist, sich zu empören und zu kritisieren,
sondern auch schwierige Sachverhalte zu erklären und
den Menschen näherzubringen.
Was sind die Fakten, meine Damen und Herren? Die
Fakten sind, dass wir im Herbst 2008 die Entscheidung
getroffen haben, die HRE nicht in die Insolvenz gehen
zu lassen. Wir wissen, dass dies in der Folge dem Steuerzahler verdammt teuer zu stehen kommen wird.
({0})
Wir wissen auch, dass wir - ob Abwicklung oder nicht aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen.
Wir haben dem HRE-Rettungsprozess als Parlament
einen Rahmen gesetzt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt
- ich glaube, dem fühlen wir uns alle noch verpflichtet -,
den Schaden für den Steuerzahler möglichst zu begrenzen. Wir haben damals auch einen Weg vorgegeben,
Herr Kollege Schneider. Der Weg war, dass wir die gefährdeten Teile in eine Abwicklungsbank bringen und
den Rest - damals und vielleicht auch heute noch mit Erfolgsaussichten - auf den Markt bringen und verkaufen.
In dem Wissen, dass wir als Parlamentarier nicht alles
können, haben wir die Bundesregierung beauftragt, diesen Prozess zu begleiten. Wir haben eine Finanzmarktstabilisierungsanstalt gegründet und mit Bankenexperten
besetzt. Außerdem - und das ist ganz entscheidend - haben wir dafür gesorgt,
({1})
dass dieser Prozess von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie vom Management der HRE selbst abgewickelt wird, weil letztlich nur sie wissen, was in den
Depots und in den Büchern dieses Instituts steht. Das
heißt, wir haben Verantwortung übertragen, und wir haben den Beteiligten Freiheit gegeben, die Freiheit, Situationen zu bewerten und zu entscheiden. Das war unsere
Entscheidung.
Genau diese Freiheit ist auch genutzt worden. Der
Vorstand der HRE hat Entscheidungen getroffen. Er hat
vielleicht Entscheidungen getroffen, die zu kritisieren
sind. Er hat die Entscheidung getroffen, dass Mitarbeiter
einen Rechtsanspruch auf variable Gehaltsbestandteile
haben und dass dieser Rechtsanspruch umzusetzen ist.
Er hat auch die Entscheidung getroffen, dass man wichtige Mitarbeiter gerne halten möchte, weil man genau
heute, am 30. September, die anspruchsvollste Transaktion in der Finanzgeschichte über den Tisch bringen
muss. Heute muss man Wertpapiere im Wert von über
200 Milliarden Euro von über 4 000 Vertragspartnern in
60 verschiedenen Rechtssystemen übertragen. Das ist
schwierig genug.
Der Vorstand der HRE hat auch die Entscheidung getroffen, um weitere Garantien zu bitten, damit eben nicht
der Fall der Insolvenz, den wir ja alle vermeiden wollen,
eintritt.
({2})
Noch einmal: Wir haben dem Vorstand der HRE und
den Mitarbeitern die Freiheit gegeben, diese Entscheidungen zu treffen. Damit sind wir auch das Risiko eingegangen, dass falsche Entscheidungen getroffen werden.
Aber wenn wir nicht ein Minimum an Vertrauen in die
handelnden Personen haben, wenn wir als Parlament
nicht den Mut haben, gegebenenfalls auch Fehlentscheidungen zu ertragen, dann stellt sich die Frage: Wie soll
der ganze Prozess denn laufen? Vielleicht können Vorstand, Mitarbeiter und Anstalt auch vom Parlament verlangen, dass es Stehvermögen zeigt und diese Entscheidungen in kritischen Situationen auch mitträgt,
unbeschadet des Rechts des Parlamentes, diese zu kritisieren. Ganz sicher, meine Damen und Herren, können
Vorstand und Mitarbeiter erwarten, dass das Parlament
verlässlich ist und den gemeinsam eingeschlagenen Weg
einhält.
Der gemeinsam eingeschlagene Weg besteht bis heute
im Erhalt und Verkauf einer Restbank. Diesen Weg kann
man als Parlamentarier infrage stellen, aber bitte nach
genauer Prüfung, nach genauer Abwägung in den entsprechenden Gremien und nicht im Vorbeigehen bei irgendwelchen Interviews.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben Verantwortung
übertragen. Das heißt auch, dass wir einen Vertrauensvorschuss gegeben haben: einen Vertrauensvorschuss
gegenüber der Anstalt, gegenüber der Bundesregierung
und insbesondere gegenüber den Mitarbeitern und dem
Management der HRE. Wir erwarten auch, dass dieser
Vertrauensvorschuss zurückgezahlt wird. Parlament und
Öffentlichkeit sind zu informieren - rechtzeitig zu informieren, schwierige Sachverhalte sind zu erklären rechtzeitig zu erklären. Ich habe nicht das Gefühl, dass
das alle Beteiligten verstanden haben.
Ich habe auch nicht das Gefühl, dass alle Beteiligten
bereit sind, Verantwortung für ihre Entscheidungen zu
übernehmen. Da wird mir, ehrlich gesagt, im Moment
viel zu viel hin und her geschoben. Wenn aber jemand
Verantwortung übernimmt, dann müssen wir als Parlament und Öffentlichkeit auch damit umgehen können.
Ich glaube, dass wir das können, haben wir in der Vergangenheit und leider auch in der heutigen Debatte nicht
immer gezeigt. Manchmal denke ich: Wir lauern hier auf
jeden Fehler und jede missverständliche Information;
wir skandalisieren lieber, anstatt zu ergründen und zu erklären. Dabei sitzen wir alle in einem Boot: Ministerium
und Management, Regierung und Opposition, wir alle
sind darauf angewiesen, dass das Projekt HRE in der von
uns angedachten Form funktioniert. Im Übrigen weise
ich darauf hin: Dieses Projekt ist auf eine so lange Zeit
angelegt, dass eine gewisse Restwahrscheinlichkeit da
ist, Herr Schneider, dass auch Sie dieses Projekt als Regierungsverantwortlicher irgendwann mit zu Ende führen müssen.
Ich empfehle daher dringend: Lassen Sie uns die HRE
aus dem parteipolitischen Geplänkel herausnehmen!
Lassen Sie uns trotz allem sehr verständlichen Ärger
langfristig denken! Ich denke einmal - das richtet sich
bewusst an die Opposition -: Morgen ist dafür eine sehr
gute Gelegenheit. Morgen werden wir das Gesetz zur
Restrukturierung von Banken mit auf den Weg bringen.
Wenn Sie entsprechende Anregungen haben, das eine
oder andere noch zu ändern oder besser zu machen, sind
Sie herzlich willkommen.
Ich möchte meine Rede damit schließen, dass ich den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der HRE für den heutigen Prozess in unser aller Interesse alles Gute und eine
glückliche Hand wünsche, damit der Schaden, der durch
dieses Projekt entstanden ist, möglichst gering bleiben
wird.
({4})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 17/3040 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Bevor wir in die Debatte einsteigen, darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, die den Diskussionen hier
im Plenum über die gesetzliche Krankenversicherung
nicht folgen wollen, ihre Gespräche vor dem Saal weiterzuführen, und die anderen, Platz zu nehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Gesetzentwurf, den die CDU/CSU- und die FDPFraktion heute vorlegen, hat wie die meisten unserer Gesetze zwei Komponenten.
({0})
Erstens trägt er ebenso wie das AMNOG dazu bei, Ausgaben zu begrenzen und das Defizit von rund 11 Milliarden Euro, welches sich aufgrund der Unterfinanzierung
des Gesundheitsfonds aus der Regierungszeit Ulla
Schmidts aufgebaut hat, zu verringern. Zweitens hat er
starke strukturelle Elemente zur Sicherung der Nachhaltigkeit des Systems.
Dies ist - das will ich an dieser Stelle betonen - nur
durch eine gemeinsame und solidarische Kraftanstrengung aller Akteure im Gesundheitswesen möglich.
({1})
Krankenkassen, Krankenhäuser, Ärzte, Arbeitgeber und
Arbeitnehmer werden an den Kosten beteiligt. Die Apotheken, der Großhandel und die Pharmaindustrie wurden
bereits im AMNOG erfasst.
Es ist kein Wunder - das will ich an dieser Stelle auch
sehr deutlich sagen -, dass dies keine Jubelstürme auslöst. Das erstaunt keinen hier in diesem Hause. Niemand
zahlt gern mehr oder verzichtet auf Zuwächse.
({2})
- Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
die Alternative wäre, nach dem, was Sie uns hinterlassen
haben, ein Streichen der Leistungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Wer will das denn?
({3})
Wenn man mit der Sanierung eines maroden Hauses
beginnt - das war unsere Aufgabe -, dann sichert man
im Allgemeinen zunächst das Dach gegen Regen, um
den Verfall zu stoppen, und erst dann beginnt die Innensanierung.
({4})
So ist es auch hier. Mit den Einsparungen stabilisieren
wir die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, die darüber übrigens erheblich glücklicher ist, als
so manche Pressemeldung in diesen Tagen vermuten
lässt.
({5})
Gleichzeitig entkoppeln wir die Gesundheits- von den
Arbeitskosten. Das ist - das will ich an dieser Stelle sagen - kein unsolidarischer Akt, sondern das sichert zum
einen Arbeitsplätze - dafür ist diese Koalition angetreten -,
({6})
weil die Lohnzusatzkosten bei steigenden Krankenkassenbeiträgen nicht automatisch mit anwachsen, und zum
anderen kommt es bei schlechter Konjunktur und steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr zu Einnahmeausfällen. Das ist doch genau das, was wir erlebt haben. Das
hat uns angetrieben, und damit müssen wir jetzt kämpfen.
({7})
Die Stabilisierung der Einnahmebasis der GKV ist natürlich - das sollte man bei dieser sehr emotionalen Diskussion nicht vergessen - für diejenigen, die die Leistungen beziehen wollen, besonders wichtig. Wenn uns das
nicht gelingt, dann müssen die Menschen draußen im
Lande dafür bezahlen, und zwar mit ihrer Gesundheit,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Strukturell kehren wir durch die Einführung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge, die sozial ausgeglichen werden, zur Beitragsautonomie der Krankenkassen
zurück. Das steigert den Wettbewerb - so hat es unser
Koalitionsvertrag vorgesehen - und wird, anders als bei
der SPD, für Menschen, die wenig verdienen, einen zielgenauen und unbürokratischen Sozialausgleich vorsehen.
({9})
Man muss in diesem Hause ja immer mit der zunehmenden politischen Vergesslichkeit unserer Opposition
rechnen.
({10})
Daher noch einmal zur Erinnerung: Für den Erhalt des
Sozialausgleichs nach der alten Regelung musste man,
wenn man die 1-Prozent-Grenze erreicht hatte, einen
Antrag stellen und seine Überlastung nachweisen. Wir
machen es einfacher. Dafür sind wir angetreten.
({11})
Außerdem: Wer hat denn die Leute auf diese Art und
Weise, dadurch, dass sie Anträge ausfüllen müssen, zu
Bittstellern gemacht? Frau Ulla Schmidt war diejenige,
die an dieser Stelle das bürokratische Monstrum auf den
Weg gebracht hat.
({12})
Und da Steuern auf alle Einkommensarten erhoben
werden, beziehen wir damit erstmals alle Einkommen
solidarisch in die Finanzierung ein. Das ist neu, meine
Damen und Herren, und es ist etwas, was die FDP immer versprochen hat.
({13})
Die Umverteilung zwischen Arm und Reich gehört ins
Steuersystem, und genau dort siedeln wir es an.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bild des maroden Dachs, das geflickt werden muss, bevor Sanierungen
im Innenraum vorgenommen werden, passt natürlich
auch in anderer Hinsicht gut. Ich habe Verständnis für
die Proteste von Leistungsträgern, zum Beispiel von
Ärzten, bei denen die Honorarreformen der Vergangenheit zu Verwerfungen geführt haben und die mit einem
System leben müssen, das weder transparent noch leistungsgerecht ist.
({15})
Ich sage Ihnen: Diese Reform ist natürlich auch für
diese Gruppen; denn wir können nicht durch ein löchriges Dach immer mehr Geld hineinschütten, von dem
kaum etwas unten ankommt. Wir werden, genau wie
versprochen, die Honorarreform im nächsten Jahr angehen. Aber solange die Finanzen nicht solide sind, hätten
wir natürlich keine nachhaltige Basis, um Leistungen
auch nur in etwa gerecht zu entlohnen.
Gleiches gilt übrigens für die Hausärzte. Hier wird niemandem etwas weggenommen, sondern es werden Zuwächse begrenzt. Für bestehende Hausarztverträge gilt
Bestandsschutz. Selbstverständlich können auch künftig
höhere Vergütungen vereinbart werden, wenn - das ist
jetzt wichtig - diese über Effizienzsteigerungen und Einsparungen an anderer Stelle kompensiert werden. Das
muss bei all der Propaganda, die jeden Tag über uns erscheint, klar und deutlich gesagt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss noch etwas zur Debatte an sich sagen.
({16})
In der letzten Sitzungswoche überbot sich die Opposition mit Vorwürfen, diese Koalition sei der Erfüllungsgehilfe einmal der Pharma-, einmal der PKV- und einmal
der Apothekenlobby.
({17})
- Wie ich höre, wird uns Frau Ferner das sicher auch
gleich sagen.
Sie wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dies
Unfug ist. Sie wissen auch, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingegangen ist.
({18})
Diesen Vorgang haben wir übrigens mit dem Namen Ihres ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Struck so schön
zum Struck’schen Gesetz verbunden. Vielleicht lesen Sie
auch einmal sein neues Buch - es lohnt sich -, vielleicht
auch die Passage, in der er die Chaosmonate der ersten
rot-grünen Regierung beschreibt.
({19})
Dagegen ist der Streit, der manchmal in dieser Koalition
aufkommt,
({20})
weil wir eben engagiert miteinander reden, ungefähr wie
eine Diskussion in einer Waldorfschule.
({21})
Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an die Gesundheitsreform 2000 und den rot-grünen Versuch, Globalbudgets zu verankern. Damals gab es massive Vorwürfe,
die Zustimmung der Ostländer sei mit Milliardenhilfen
an die Ost-AOKs erkauft worden. War das eigentlich
Lobbyismus für die AOK? Als Ulla Schmidt kam, liefen
die Arzneimittelausgaben aus dem Ruder; das GKV-Defizit im Jahr 2001 betrug 5 Milliarden Euro. Rot-Grün
plante eine Erhöhung des Zwangsrabattes.
({22})
Stattdessen - jetzt bitte aufpassen - ergab die berühmte
Bordeaux-Runde im Kanzleramt einen einmaligen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie von 200 Millionen Euro.
Damals konnte man den Vorwurf hören, die Regierung
sei von der Pharmaindustrie gekauft worden.
({23})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle tun uns mit
solchen Vorwürfen keinen Gefallen. Jeder von uns - das
sage ich jetzt ganz ausdrücklich für diese Koalition nimmt für sich in Anspruch, verantwortungsvoll für dieses Land zu handeln,
({24})
und zwar für das gesamte Land und nicht für einzelne Interessengruppen. Unser Ziel ist ein Gesetz für ein gerechtes, nachhaltiges und wettbewerbsfreundliches Gesundheitssystem. Den Entwurf dazu legen wir Ihnen
heute vor, und wir erwarten auch von Ihnen einen fairen
Umgang mit uns.
({25})
Die Kollegin Elke Ferner hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Rösler, Sie haben jetzt ein Jahr lang versucht, die Probleme wegzulächeln, die wir im Gesundheitswesen haben. Mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf ist die Maske gefallen; es erscheint das hässliche
Gesicht derer, die den Sozialstaat mit der Abrissbirne kaputtmachen wollen. So sieht es aus!
({0})
Was bringt diese schwarz-gelbe Gesundheitsreform?
Als Erstes bringt sie eine Beitragsanhebung zum
1. Januar des kommenden Jahres um 0,3 Beitragssatzpunkte. Das hört sich noch relativ harmlos an; aber bei
einem Einkommen von 1 000 Euro sind es 36 Euro mehr
im Jahr, bei 2 000 Euro sind es 72 Euro mehr im Jahr.
Das ist schon ganz nett.
({1})
Für die Rentner und Rentnerinnen heißt das, was Sie machen, schlicht Rentenkürzung.
Aber wer glaubt, dass dies die schlechte Nachricht sei,
der irrt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist die gute
Nachricht in diesem Gesetzentwurf. Die schlechte Nachricht heißt, die Arbeitgeberbeiträge werden dauerhaft eingefroren. Das bedeutet, dass die Versicherten in Zukunft
ganz alleine alle Kostensteigerungen tragen müssen, die
es in diesem Gesundheitswesen geben wird.
({2})
- Jeder muss erst einmal mindestens 2 Prozent seines
Einkommens drauflegen. Um noch einmal das Beispiel
mit den 1 000 Euro zu nehmen: Das heißt für jemanden
mit 1 000 Euro Einkommen mindestens 20 Euro Monat
für Monat, die von vornherein weg sind.
({3})
- Mindestens, weil der Zusatzbeitrag bzw. die Kopfpauschale nicht in der Höhe gedeckelt ist.
({4})
Das wissen Sie auch. Sie sollten nicht solche dümmlichen Zwischenrufe machen, wenn Sie es eigentlich besser wissen.
({5})
Bei jemanden, der ein Einkommen von 2 000 Euro monatlich hat, sind es monatlich 40 Euro netto weniger. Da
frage ich mich: Was ist denn aus dem Spruch „Mehr
Netto vom Brutto“ geworden, Herr Westerwelle?
({6})
Es bleibt weniger Netto vom Brutto. Je höher die Kopfpauschale steigt, um so weniger Netto vom Brutto wird
es mit dieser Koalition geben.
({7})
Ich möchte es vielleicht zwei oder drei Jahre weiterdenken: Die Kopfpauschale steigt und steigt und erreicht
schließlich einen Betrag von 30 Euro. Das heißt dann:
Alle, die im Monat weniger als 1 500 Euro brutto verdienen - wir reden immer vom Bruttoeinkommen -, werden
auf einen sogenannten Sozialausgleich angewiesen sein.
({8})
- Herr Lanfermann, wissen Sie eigentlich, wie viele
Menschen das sind? Das sind mehr als 50 Prozent aller
gesetzlich Krankenversicherten, mehr als Dreiviertel aller gesetzlich versicherten Rentnerinnen und Rentner.
Sie nehmen sie dann aus wie eine Weihnachtsgans, nur
um die Arbeitgeber davon zu entlasten, sich weiterhin
paritätisch an den Kosten des Gesundheitssystems zu beteiligen.
({9})
Die öffentliche Hand wird nach Ihren eigenen Angaben mit mehr als 1 Milliarde Euro zusätzlich belastet,
einmal weil sie selber Arbeitgeber ist, zum Zweiten weil
es aufgrund der steuerlichen Absetzbarkeit der Krankenversicherungsbeiträge zu Mindereinnahmen kommen
wird.
({10})
Wir kommen jetzt zu dem komischen Sozialausgleich.
Der Sozialausgleich ist in Wahrheit gar kein Sozialausgleich, sondern eine Wechselprämie.
({11})
Sie sagen, bis 2015 würden dafür keine Steuermittel aufgewendet. Das heißt, die Beitragsmittel werden irgendwie umverteilt. Heute haben wir einen funktionierenden
Sozialausgleich: Diejenigen, die mehr Einkommen haben, finanzieren die Beiträge derjenigen mit, die weniger
Einkommen haben. Ich frage mich, warum man einen
funktionierenden Sozialausgleich abschaffen will.
({12})
Man muss sich einmal anschauen, mit welchem Bürokratieaufwand das verbunden ist. Niemand zu Hause an
den Bildschirmen kann sich das vorstellen: Die Krankenkassen sollen dem Arbeitgeber eine Nachricht dazu übermitteln, ob ein Sozialausgleich stattfindet. Also muss von
jedem Arbeitgeber Monat für Monat eine Meldung vorgenommen werden, und zwar für jeden einzelnen Arbeitnehmer und jede einzelne Arbeitnehmerin.
({13})
- Nein, Frau Flach, das gibt es noch nicht; im Moment
gibt es hier ein System der Summenbildung. Das, was
Sie vorhaben, ist im Moment in keinem Lohn- und Gehaltsprogramm vorgesehen. Es wird Jahr für Jahr zu
600 Millionen Meldungen kommen. Das nenne ich ein
wirklich gelungenes Beispiel für Bürokratieabbau.
({14})
- Ja, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Lanfermann, weiß ich
das.
({15})
- Nein, das ist eben nicht ganz so leicht; glauben Sie es
mir.
Der Punkt ist: In der Gruppe derjenigen, die einen sogenannten Sozialausgleich erhalten sollen, sind auch diejenigen, die Mitglied einer Krankenversicherung sind, die
überhaupt keine Kopfpauschale erhebt. Bei den SGB-IIEmpfängern wird es noch doller: Der Grundsicherungsträger überweist der Krankenkasse auch dann den durchschnittlichen Beitrag, wenn sie ihn gar nicht braucht.
({16})
Was ist aber mit der Krankenkasse, die mehr als den
durchschnittlichen Beitrag braucht? Wo bekommt sie die
Differenz erstattet?
Alles, was Sie da machen, ist Murks hoch drei. Der
neue Renner ist jetzt die Kostenerstattung. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Für die Versicherten ist das eine
Falle, weil sie auf den Kosten hängen bleiben. Mit Blick
auf die Ärzteschaft will ich sagen: Wenn die Ärzte auf
Kostenerstattung setzen, haben sie das Geld noch lange
nicht; denn das Geld geht erst von der Kasse zum Patienten und erst dann zum Arzt.
({17})
Letzter Punkt: PKV. Hier haben wir es mit Klientelpolitik pur zu tun. Der PKV wird eine Frischzellenkur
verpasst. Das ist im Übrigen der einzige Punkt im ganzen Gesetzentwurf, der schon Ende dieses Jahres in
Kraft tritt, damit möglichst viele schon zu Beginn des
nächsten Jahres von der solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung in die PKV wechseln können. Ihr Gesetz sorgt für ein Exklusivgeschäft der PKV
bei den sogenannten Zusatzversicherungen.
Herr Rösler sprach in der Financial Times Deutschland von einer „Zusammenarbeit“. Wie sieht denn die
Zusammenarbeit aus? Die GKV schafft der PKV die
Kunden bei. Die GKV muss schauen, dass sie alle Kranken und Beladenen versorgt; die PKV darf sich die Rosinen heraussuchen.
({18})
So sieht Ihre Gesundheitspolitik aus.
Das ist heute ein schwarzer Tag für das deutsche Gesundheitswesen. Ich verspreche Ihnen: Wir werden all
diesen Murks 2013 wieder rückgängig machen.
Schönen Dank.
({19})
Johannes Singhammer hat das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wer in Deutschland krank werden sollte, der erhält auch im kommenden Jahr eine bessere Versorgung
als in den meisten unserer Nachbarstaaten. Wer einen
Arzt aufsuchen oder in ein Krankenhaus eingewiesen
werden muss, der kann sich auch im kommenden Jahr
darauf verlassen, dass alle Rechnungen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden, weil Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht sind und weil der
von einigen von Ihnen vor wenigen Monaten noch vorhergesagte Kollaps des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht stattfindet. Wer Beiträge zahlt,
der kann sich auch im kommenden Jahr darauf verlassen, dass mit seinem Geld sorgfältig umgegangen und
dass effizient eingespart wird.
2 Milliarden Euro niedrigere Zahlungen an die Pharmaindustrie
({0})
und noch einmal 400 Millionen Euro Einsparung bei den
Impfstoffen - das ist ein historisch einzigartiger Sparerfolg.
({1})
- Frau Ferner, warum man nun ausgerechnet diesen Ansatz mit Lobbyismus in Verbindung bringt, weiß niemand. Denn die Rechnung, die Sie aufstellen, lautet ja:
Je weniger bei der Pharmaindustrie ankommt, desto erfolgreicher ist der Lobbyismus. Intellektuell gesagt ist
das etwas unredlich, und in verständlicher Weise sage
ich: Das ist Unsinn.
Auf das Argument, das Sie im Zusammenhang mit
der privaten Krankenversicherung gebracht haben, gehe
ich gleich noch einmal ein. Sie müssen sich bei Ihrem
Vorwurf nur schon einmal entscheiden, wem gegenüber
wir dem Lobbyismus denn erlegen sein sollen. Zwangsrabatte und Preismoratorium gehen ganz eindeutig auf
Kosten der Pharmaindustrie. Denn deren Gewinne werden nicht im gewünschten Umfang fließen, und auch die
Übertragung dieser Einsparmaßnahmen auf die 10 Millionen Versicherten der privaten Krankenversicherungen
wird bei der Pharmaindustrie alles andere als Freude wecken. Schließlich profitieren von den Einsparmaßnahmen nicht nur die 70 Millionen gesetzlich Versicherten,
sondern noch einmal 10 Millionen Versicherte in der privaten Krankenversicherung. Dazu sagen Sie, das sei ein
besonderes Entgegenkommen gegenüber der privaten
Krankenversicherung, sozusagen ein Lobbyismus, den
man lückenlos nachweisen könne. Sie müssen sich also
schon einmal überlegen, wohin Sie den Vorwurf richten:
entweder, oder - beides geht nicht, weil die Interessen zu
unterschiedlich sind. Ich sage Ihnen eines: Lassen Sie
endlich einmal diese Unterstellungen! Holen Sie tief
Luft, denken Sie nach! Wenn Sie Himbeeren meinen,
dann sprechen Sie nicht von Eisbären!
Bei Krankenhäusern und Ärzten werden die Ausgaben
nicht wie bei den Arzneimitteln verringert. Aber die Zuwächse der vergangenen Jahre können wir nicht in der
bisherigen Weise wiederholen. Wir schaffen Sicherheit
für die hausärztliche Versorgung. Mit einer Bestandsschutzregelung wird ein Sonderkündigungsrecht für rechtskräftige Verträge ausgeschlossen. Ganz wichtig: Auch bei
Anschlussverhandlungen über den Vertragsinhalt wird
bis zum 31. Dezember 2012 das bisherige Recht angewandt. Das ist ein erster großer Schritt. Aber wir wollen
im Gesetzgebungsverfahren noch mehr Sicherheit für die
hausärztliche Versorgung der Menschen in Deutschland
erreichen.
Die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen
hat sich bisher noch nicht auf eine Honorarverteilung
zwischen den einzelnen KV-Bezirken und Bundesländern einigen können. Ich sage: Zunächst muss die
Selbstverwaltung ihre Hausaufgaben machen, aber die
Politik wird nicht endlos zuschauen. Den Zuwachs für
die Ärzte von 5 Milliarden Euro in den vergangenen beiden Jahren wollten wir. Aber ich halte es nicht für möglich, dass ein weiterer Zuwachs, den wir ebenfalls wollen, dann so aussieht, dass einige Bundesländer oder
KV-Bezirke vollständig leer ausgehen. Länder, die in der
ambulanten Versorgung Vorbildliches leisten und Versichertengelder ökonomisch einsetzen, dürfen bei der Verteilung der Zuwächse nicht bestraft werden.
Auch die Krankenhäuser werden einen Zuwachs bekommen. Wie in den vergangenen beiden Jahren, in denen ein Zuwachs von fast 4 Milliarden Euro erzielt
wurde, wird es auch in den nächsten Jahren einen Zuwachs geben. Wir erkennen die Leistung an, die gerade
in den Krankenhäusern von den Ärzten und vom Pflegepersonal erbracht wird. Wir wollen ihren verantwortungsvollen Dienst an den Patienten würdigen.
({2})
Mit Zusatzbeiträgen und Sozialausgleich schaffen wir
ein neues Element des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen, und das ist dringend nötig. Die Lohnkosten
werden von den steigenden Gesundheitsaufwendungen
abgekoppelt. Das ist gerecht, Frau Ferner,
({3})
weil damit die Arbeitsplätze sicherer werden und wieder
mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung kommen.
({4})
Bevor Sie so dazwischenschreien:
({5})
Die Auflösung der Parität ist keine Erfindung dieses Gesetzgebungsvorgangs, sondern die Auflösung der Parität
ist maßgeblich unter Mitwirkung und Verantwortung der
Sozialdemokraten zustande gekommen. Mit der Einführung der Zusatzbeiträge, so wie sie jetzt gelten, und mit
der Schaffung der Sonderbeiträge ist schon vor Jahren
die Parität eindeutig verändert worden.
({6})
Damals haben Sie noch verantwortungsbewusst gehandelt und mitentschieden.
({7})
Jetzt wird die Änderung der Parität bei der gesetzlichen
Krankenversicherung als Teufelszeug bekämpft.
({8})
Weil wir uns in einer Gesundheitsdebatte befinden, rate
ich Ihnen dringend: Besuchen Sie Ihren Hausarzt. Lassen Sie sich auf politische Amnesie - auf gut Deutsch:
Gedächtnisverlust ({9})
untersuchen und erinnern Sie sich daran, welche Entscheidungen Sie mitgetragen haben.
({10})
Noch schlimmer machen Sie es dadurch, dass Sie in
dieser Frage den Schulterschluss mit der Linkspartei suchen.
({11})
Die Erfolge der Linkspartei bei der Sicherung von Arbeitsplätzen - das ist der Hintergrund dieser neuen Regelung - sind, freundlich und höflich ausgedrückt, sehr
marginal. Das haben wir heute Vormittag bei der Debatte
über die deutsche Einheit schon gehört.
Wir, die christlich-liberale Koalition, schaffen neue
Arbeitsplätze. Nach den Vorhersagen aller Institute werden wir im kommenden Jahr erstmals wieder über
40,2 Millionen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland haben.
({12})
Das zeigt, dass der Weg der Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten erfolgreich ist, dass
dieser Weg weiter beschritten werden muss und dass die
Lohnnebenkosten gesenkt werden sollten.
({13})
Wir werden darauf achten, dass die neuen Verfahren
bei der Ausgestaltung der Zusatzbeiträge und des Sozialausgleichs bürokratiearm geregelt werden. Dabei wird es
keine Kopfpauschale geben, wie Sie es immer behaupten.
({14})
Kopfpauschale heißt: Pro Kopf muss eine Pauschale gezahlt werden.
({15})
Die beitragsfreie Mitversicherung der Ehepartner und
Kinder - allein dieses Argument müsste Sie überzeugen steht nicht in Frage. Es gibt keine Kopfpauschale. Deshalb sind Ihre Vorwürfe schlicht falsch.
({16})
Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass wir keine Einheitsversicherung, die Sie immer mit dem Begriff der
Bürgerversicherung umschreiben, wollen; denn das, was
Sie mit der Bürgerversicherung anstreben, ist letztendlich eine Rolle rückwärts.
Sie wollen die private Krankenversicherung abschaffen, um an die Rücklagen der privaten Krankenversicherung in Höhe von über 100 Milliarden Euro heranzukommen. Nun frage ich Sie: Was gibt es im
Krankenversicherungssystem Nachhaltigeres, als Rücklagen für das Alter zu bilden? Das ist zukunftsgewandte
Politik.
({17})
An diese Rücklagen wollen Sie ran. Deshalb wollen Sie
die private Krankenversicherung mit ihren auf die Zukunft ausgerichteten Instrumenten schleifen. Das wollen
wir nicht. Wir wollen auch keine Politik des Neids. Wer
aus Neid die Nachhaltigkeit in der Versicherung zerstört,
der schafft nicht mehr Gerechtigkeit, sondern mehr Ungerechtigkeit.
Herr Kollege Singhammer, wollen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bender zulassen?
Noch einen Gedanken, dann kommt die Kollegin
dran.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch Folgendes sagen: Wir wollen keine andere Form der Einheitsversicherung, und wir wollen auch keine Privatisierung der
gesetzlichen Krankenversicherung.
({0})
Das wollen wir nicht. Deswegen wird es auch keine sogenannte Vorkasse als Pflichtveranstaltung geben. Das
wird es nicht geben. Das will ich hier klar sagen. - So,
jetzt die Zwischenfrage, bitte.
Frau Bender, bitte.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade die Altersrückstellungen in der privaten Krankenversicherung
ausdrücklich gelobt. Können Sie uns bitte erklären, wie
es kommt, dass privat Krankenversicherte, die schon
länger Mitglied dieser Versicherung sind, ihre Versicherung nicht wechseln können, weil sie die Altersrückstellungen nicht mitnehmen können, die Altersrückstellung
also im Wesentlichen zur Folge hat, dass es in der privaten Krankenversicherung keinerlei Wettbewerb gibt?
Was soll daran eigentlich schön sein?
({0})
Frau Kollegin Bender, Sie wissen sicher ebenso wie
ich, dass die Koalition in der zurückliegenden Legislaturperiode genau diese Frage geklärt hat. Wir haben die
Mitnahme der Altersrücklage ermöglicht und damit das
Wechseln erleichtert.
({0})
- Das ist so, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. - Sie können sich wieder setzen, Frau Bender.
({1})
- Die Antwort war klar.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Gedanken zu sprechen kommen. Die Solidargemeinschaft der
Steuerzahler beteiligt sich im kommenden Jahr mit
15,1 Milliarden Euro an den Kosten der gesetzlichen
Krankenversicherung. Damit wird entsprechend der
Leistungskraft des jeweiligen Steuerzahlers ein Solidarbeitrag geleistet.
({2})
Das ist ehrliche Solidarität, die jeden entsprechend seiner Möglichkeiten beteiligt. Das ist gerecht, das ist solidarisch, und das ist das Prinzip unseres Gesetzentwurfs,
den wir hiermit einbringen.
({3})
Die Kollegin Dr. Martina Bunge hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, mit Ihrem Gesetzentwurf soll die Solidarität endgültig zu Grabe getragen werden.
({0})
Einige Belege dafür: Sie geben vor, mit einer einkommensunabhängigen Beitragserhebung und dem sogenannten Sozialausgleich mehr Gerechtigkeit schaffen zu
wollen und über Steuern die Belastung auf mehr Schultern zu verteilen. Tatsächlich belasten Sie die Versicherten drei- bis viermal so stark: erstens mit der generellen
Beitragssatzerhöhung auf 8,2 Prozent für die Versicherten,
({1})
zweitens mit dem Zusatzbeitrag - bis zu 2 Prozent des
Bruttoeinkommens - und drittens mit den Steuern für
den Sozialausgleich;
({2})
denn Mehrwertsteuer und andere Verbrauchssteuern zahlen auch die Bezieher kleiner Einkommen. Das alles ist
ungerecht.
({3})
Sie behaupten, wir bräuchten eine Entkoppelung der
Beiträge von den Arbeitskosten, um Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze auch künftig zu sichern.
({4})
Tatsächlich wälzen Sie mit dem Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge bei 7,3 Prozent alle künftigen Ausgabensteigerungen im Gesundheitssystem allein auf die Versicherten ab.
({5})
Das ist unsozial.
({6})
Sie geben vor, damit die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung für die Zukunft zu stabilisieren. Tatsächlich wissen Sie heute noch nicht, woher die
Steuern für den in wenigen Jahren garantiert rasch wachsenden Sozialausgleich kommen sollen. Dieser Gesetz6462
entwurf ist untauglich für die Zukunft. Sie wollen die
Kopfpauschale durch die Hintertür zugunsten der Bestverdienenden und der Arbeitgeber. Das ist des Pudels
Kern.
Übrigens, das Grab für die Solidarität haben viele
über viele Jahre geschaufelt. Den ersten Spatenstich hat
Bundesgesundheitsminister Seehofer, CSU, mit dem Gesundheitsstrukturgesetz gesetzt. 1993, als der Wettbewerb in der Krankenversicherung eingeführt wurde, ging
es los mit dem Wettbewerb um gute Risiken, um die gesunden Versicherten. Seither finden immer mehr die Kategorien „Gesundheitsmarkt“ und „Kunde statt Patient“
Einzug in die gesetzliche Krankenversicherung. Die
Linke sagt, Gesundheit ist keine Ware, Gesundheit ist
Daseinsvorsorge.
({7})
Also Vorsicht, wenn sich Ministerpräsident Seehofer
heutzutage als Gralshüter sozialer Gerechtigkeit gebärdet.
Aber auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, haben an diesem Grab für die Solidarität mitgeschaufelt, zuletzt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt,
die die Stellschraube „Zusatzbeiträge“ am Gesundheitsfonds angebracht hat. Die Rösler-Reform ist nun nicht
etwa nur eine etwas andere Art der Finanzierung des Gesundheitssystems. Sie ist der dritte große Angriff auf das
Sozialsystem. Nach Hartz IV, nach der Zerstörung der
Rentenformel ist jetzt die Gesundheit dran. Das ist ein
Skandal.
({8})
Gott sei Dank lassen Ihnen das die Bürgerinnen und
Bürger nicht so einfach durchgehen. Außerparlamentarische Kräfte, also Gewerkschaften, Sozialverbände, Initiativen, Einzelne, sind in diesem Herbst auf der Straße.
Ich gebe zu: Ich bin froh, dass die drei Oppositionsfraktionen bzw. -parteien dabei sind und auch mehr und
mehr gemeinsam machen. Ich billige der SPD ja Lernfähigkeit zu. Sigmar Gabriel, SPD, Claudia Roth, Grüne,
Gesine Lötzsch, unsere Parteivorsitzende, zeigten vorgestern gemeinsam mit dem DGB-Vorsitzenden Sommer
ihre Köpfe gegen die Kopfpauschale.
({9})
Übrigens, auch im Bundesrat sind nach dem Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen die Karten neu gemischt.
Ich bin sicher, dass das Gesetz auch dort nicht einfach
nur so durchgewunken wird, und das zu Recht. Besinnen
Sie sich und ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück,
meine Damen und Herren. Der Gesetzentwurf löst kein
Problem, er schafft nur neue.
({10})
Nun wollen Sie - wie wir gestern und heute erfahren
durften - über Änderungsanträge auch noch das Prinzip
der Kostenerstattung ganz schnell im Gesetz etablieren.
Ich habe mir schon einen Kopf gemacht, wie ich diese
Gefahr den Bürgerinnen und Bürgern erläutern soll.
({11})
Doch heute früh hat mich in gewissem Sinne mein
Taxifahrer beruhigt. Als im Radio die Meldung kam,
dass hier heute diese Debatte geführt wird, sagte er: Nun
sollen wir alle auch noch die Rechnungen vorher beim
Arzt bezahlen.
({12})
Wo lebt dieser Minister denn? Der ist doch total durchgeknallt. ({13})
Das sollte ich Ihnen sagen. Das ist Volkes Stimme.
Hören Sie auf mit ihrer Lobby- und Klientelpolitik.
Eine für alle, die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung,
die die Mehrheit der Bevölkerung will, muss her. Das hat
Zukunft. So sieht Solidarität aus.
({14})
- Dann fahren Sie einmal mit ihnen.
Fritz Kuhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Meinung, wenn man über grundlegende Gesundheitsreformen spricht, müsste man in diesem Haus eigentlich auch mit einer Debatte über die
zugrundeliegenden Werte beginnen. Denn eine Gesundheitsreform kann nicht nur Technik sein - das ist sie vielleicht teilweise in den Einzelheiten der Gesetze -, sondern muss aus Werten abgeleitet und begründet sein.
Wir, die wir Freiheit zu Recht als großartigen Wert unserer Verfassung ansehen, wissen alle - das Bundesverfassungsgericht erinnert uns gelegentlich daran -, dass Freiheit nur von jedem Einzelnen in Selbstbestimmung
verwirklicht werden kann, wenn es ein Netz von Sicherheiten gibt, die es jedem Einzelnen ermöglichen, Freiheit
in Anspruch zu nehmen.
({0})
Dies sind Sicherheiten des Rechtsstaats gegen Gewalt, aber es sind auch soziale Sicherheiten. Das haben
wir jetzt ja beim Hartz-Urteil gehört. Es sind auch Sicherheiten wie der Schutz vor Krankheiten. Zu einem
freien selbsttätigen Leben gehört in unserer Demokratie,
dass alle, wenn sie krank werden, zu fairen Bedingungen
geschützt sind und medizinische Leistungen in Anspruch
nehmen können.
({1})
- Ich freue mich über die Einigkeit an dieser Stelle.
Wir haben unterschiedliche Einkommensverteilungen
in Deutschland. Es wird also Personen geben, die in der
Lage sind, für sich diesen Schutz leicht selber zu finanzieren, allein oder in Verbindung mit dem Versicherungssystem. Jetzt kommt aber der wichtige Punkt: Weil
es viele Menschen gibt, die dieses Einkommen nicht haben, sind sie auf eine funktionierende Solidarität zur
Herstellung dieser Sicherheit angewiesen.
({2})
- Da gehen Sie auch noch mit.
({3})
Sehen Sie, man kann mit einer Ableitung aus Werten in
Deutschland noch etwas erreichen.
Jetzt kommt der Dissens:
({4})
Wenn Sie hierbei mitgehen, warum legen Sie heute einen
Gesetzentwurf vor, der systematisch, Schritt für Schritt,
diese Solidarität infrage stellt und abbaut?
({5})
Das ist der Kernpunkt unseres Streits. Ich will es Ihnen
an drei Beispielen darstellen. Warum greifen Sie ein
Kernelement der Solidarität - seit Bismarck, auf jeden
Fall in der sozialen Marktwirtschaft verwirklicht -, nämlich dass die Sicherheit des Einzelnen im Schutz vor
Krankheit in Deutschland eine gemeinsame Sache von
Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist, an, indem Sie den
Arbeitgeberbeitrag einfrieren wollen, wie es in dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, steht?
({6})
Das war ja nicht einfach irgendetwas, etwa nach dem
Motto: „Gesundheit hat auch etwas mit Arbeit zu tun“,
sondern es war ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft, dass sich alle darum kümmern müssen - auch die
Arbeitgeber -, dass die Leute geschützt sind. Es hatte die
wichtige Auswirkung, dass die Arbeitgeber und ihre
Verbände bei der Kostenentwicklung immer mitdiskutiert haben und im Hinblick auf die Lohnnebenkosten
darauf geschaut haben, dass es nicht ins Uferlose wächst.
Von dieser Verpflichtung werden Sie die Arbeitgeber mit
Ihrem Gesetzentwurf entbinden, übrigens zum Schaden
von denjenigen, die auf Kostensenkung und Kostenbewusstsein achten. Das, was Sie in diesem Punkt machen,
ist brandgefährlich.
({7})
Ein weiterer Punkt betrifft den Zusatzbeitrag bzw. die
Kopfpauschale. Vom Begriff her ist das natürlich noch
nicht die Kopfpauschale, aber es ist aufgrund der 2-Prozent-Grenze und der Möglichkeit, an der Finanzierungstechnik immer wieder zu drehen, eine hervorragende
Strategie des Einstiegs in die Kopfpauschale. Die Summen sind jetzt für alle möglich; Sie haben den Deckel,
den es bisher gegeben hat, jetzt entfernt.
({8})
Deswegen wird dies eine Einstiegsstrategie in die Kopfpauschale sein.
Das ist eine soziale Belastung für viele Menschen.
Das wurde vorher angesprochen: Wer 1 000 Euro brutto
verdient, wird höchstens 20 Euro monatlich zu zahlen
haben. Das sind 240 Euro im Jahr. Fragen Sie einmal die
Rentnerinnen und Rentner oder die Geringverdiener, die
mit so wenig Geld auskommen müssen, was 240 Euro
für sie im Jahr bedeuten! Das ist eine zusätzliche soziale
Belastung. Wenn Sie sich christlich-soziale Union nennen, wenn Sie etwas von sozial verstehen, können Sie
nicht einfach sagen, 240 Euro würden bei kleinen Leuten
nichts ausmachen.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Belastung.
({9})
Früher galt das Prinzip: Wer mehr hat, trägt mehr. An
dieses Prinzip halten Sie sich nicht mehr.
({10})
Jetzt müssen die Leute Leistungen individuell bezahlen.
Deswegen ist das, was Sie da machen, nicht in Ordnung.
Das ist der Einstieg in die Entsolidarisierung.
({11})
Die großen Sprüche von Minister Rösler haben Sie
nicht verwirklicht.
({12})
Eine Finanzierung aus Steuermitteln sei viel gerechter,
haben wir immer wieder gehört. Darüber haben wir viele
Debatten geführt.
({13})
Aber tatsächlich nehmen Sie das benötigte Geld aus dem
Fonds.
({14}))
Sie nehmen die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds
bis 2015 in Anspruch.
({15})
Etwas anderes werden Sie nicht tun. Steuerfinanzierung
ist das, was Sie hier machen, nicht.
({16})
Zum nächsten Punkt, den ich ansprechen will. Natürlich machen Sie Lobbypolitik, und zwar im Interesse der
PKVs.
({17})
Herr Minister, Ihr gestern in der Financial Times erschienenes Interview war interessant. Sie sprachen von
einer Angleichung der Systeme. Herr Singhammer, interessant ist, festzuhalten, dass die PKVs mit ihrer Finanzierungstechnik und den Altersrückstellungen nicht zukunftsfähig sind. Die Beiträge werden Jahr für Jahr
steigen,
({18})
weil die Grundbedingung für die Finanzierung von
PKVs - dass sie Jahr für Jahr einen möglichst wachsenden Anteil junger, gesunder Mitglieder gewinnen, die
nur geringe Kosten verursachen - aufgrund der demografischen Entwicklung und vieler anderer Punkte
schwindet. Nur wenn diese Bedingung erfüllt wäre, stünden sie auf einem sicheren finanziellen Fundament. Das
heißt, die finanzielle Basis der PKVs ist ausgehöhlt. Das
PKV-Modell ist nicht zukunftsträchtig und zukunftssicher.
({19})
Herr Minister, Sie gehen einen anderen Weg, nämlich
die GKVs neuen Belastungen auszusetzen oder jungen
Leuten schneller das Verlassen der GKVs zu ermöglichen. Das ist kein zukunftssicherer Weg.
({20})
Ich glaube, dass man mit einer solidarischen Bürgerversicherung,
({21})
die keine Einheitsversicherung ist, den Weg der Stabilisierung beider Systeme gehen kann,
Herr Kollege.
- der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Krankenversicherung, und das in Solidarität.
({0})
Frau Präsidentin, wollten Sie mich fragen, ob ich eine
Zwischenfrage zulasse?
Nein. Ich wollte deutlich machen, dass Ihre Redezeit
bereits abgelaufen ist.
({0})
Okay. - Ich komme zum Schluss. Einen kurzen Punkt
möchte ich noch ansprechen.
Nein, keinen Punkt mehr; einen halben Satz vielleicht
noch.
Ein Semikolon sozusagen.
({0})
Am 1. Februar 2010 hat der Minister im Fernsehen bei
Herrn Beckmann gesagt - ({1})
Herr Kollege!
Aber es wollen doch alle wissen, was er gesagt hat.
({0})
Ich fürchte, dem ist nicht so. Wenn Sie jetzt weiterreden, geht das von der Redezeit Ihrer Kollegin ab.
Ich muss mich der höheren Gewalt beugen
({0})
und danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Bundesminister Philipp Rösler hat jetzt
das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Lieber Herr Kollege
Kuhn, darf ich Ihnen sagen, was ich ganz persönlich für
ungerecht halte? Ich halte es für ungerecht, wenn man,
wie Sie von Grün und Rot, elf Jahre lang Verantwortung
({0})
für ein Gesundheitssystem hatte und den Menschen am
Ende ein Milliardendefizit hinterlässt und sie damit alleine lässt. Das ist ungerecht.
({1})
Was bedeutet es eigentlich, dass man ein Milliardendefizit zu erwarten hat, wenn man im deutschen Gesundheitssystem nichts tut? Wenn wir hören, dass wir von einem zweistelligen Milliardendefizit ausgehen müssen,
handelt es sich nicht nur um eine banale Zahl, sondern
das bedeutet ganz konkret: Wir müssten jedes fünfte
oder sechste Krankenhaus schließen, womöglich auch
jede dritte Arztpraxis - übrigens egal ob Hausarzt, Facharzt oder Kinderarzt -, und wir könnten jedes dritte Medikament nicht mehr bezahlen.
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wären
zu Leistungseinschränkungen bereit; das ist uns allen
klar.
({2})
Aber diese christlich-liberale Regierungskoalition hat
ein anderes politisches Ziel. Wir nehmen beim Ausgleich des Defizits jeden in die Verantwortung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, und zwar durch die Rückführung
des Krankenversicherungsbeitragssatzes auf seinen ursprünglichen Wert, den Sie vor der Krise eingeführt haben.
({3})
Die Leistungserbringer werden genauso in Verantwortung genommen: Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Krankenkassen und natürlich auch die Pharmaindustrie. Damit können wir eines sicherstellen: Es
muss im nächsten Jahr kein durchschnittlicher Zusatzbeitrag erhoben werden; der Wert wäre null.
({4})
Damit ist eines klar: All die Menschen, die nächstes Jahr
Leistungen in Anspruch nehmen wollen, haben die Garantie, dass sie weiterhin Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung haben, die man sich vorstellen
kann, nämlich zum exzellenten deutschen Gesundheitssystem.
({5})
Nicht nur die kurzfristigen Probleme des Jahres 2011
sind angegangen worden, sondern wir wagen auch den
Einstieg in eine langfristig andere Finanzierung
({6})
der gesetzlichen Krankenversicherungen für die weitere
Zukunft. Ich weiß, dass Sie kritisieren, dass wir beispielsweise den Arbeitgeberbeitrag festschreiben wollen. Zugegebenermaßen ist das keine angenehme
Antwort auf die Frage, wie man die gesetzliche Krankenversicherung zukünftig finanzieren kann. Aber offensichtlich beantworten Sie Fragen nur nach der Annehmlichkeit, ob die Antworten Ihnen genehm sind oder nicht,
ob sie leicht zu transportieren sind oder nicht. Wir hingegen beantworten Fragen danach, ob die Antworten richtig sind oder nicht.
({7})
Ich sage Ihnen: Es ist richtig, den Krankenversicherungsbeitrag festzuschreiben, um zu einer stärkeren Entkoppelung der Krankenversicherungskosten von den
Lohnzusatzkosten zu kommen, um die Krisenanfälligkeit zu beseitigen und um endlich den Teufelskreis zu
durchbrechen, der da lautet: Mehr Gesundheit bedeutet
weniger Beschäftigung. - Dies ist ein wesentlicher Beitrag für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland
insgesamt.
({8})
Natürlich wird es einen Sozialausgleich geben.
Herr Minister, würden Sie eine Zwischenfrage von
Frau Vogler zulassen?
Aber gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, wie
erklären Sie sich, dass die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion zugibt,
dass der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der
geplanten Änderungen schon im nächsten Jahr vermutlich 40 000 junge, gesunde, gut verdienende Mitglieder
verloren gehen werden? In welcher Art und Weise stellen Sie sich vor, dass man den Einnahmeverlust bei der
gesetzlichen Krankenversicherung durch einen Zusatzbeitrag kompensieren kann - vielleicht noch nicht im
nächsten, aber im übernächsten Jahr -, den alle bezahlen
müssen? Mit diesem Gesetz machen Sie die Scheunentore auf, damit junge, gesunde Menschen die gesetzliche
Krankenversicherung verlassen. Sie beschädigen die
Nachhaltigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung
zugunsten der Privatversicherung. Das geben Sie selber
in der Antwort auf diese Kleine Anfrage zu.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Vogler, ich kann Ihnen ein
bisschen die Angst nehmen. Zunächst einmal wird in der
Tat die Wechselfrist wieder auf das ursprüngliche eine
Jahr zurückgeführt, wie es über die größte Zeit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hinweg der
Fall gewesen ist. Die Versicherungspflichtgrenze bleibt
aber erhalten.
({0})
Das heißt, nur oberhalb der Versicherungspflichtgrenze
wird sich überhaupt ein Wettbewerb abspielen.
Eines möchte ich hier noch einmal festhalten - ich
hatte es schon in der Haushaltsdebatte gesagt -: Die
Aussage, dass diese Regierungskoalition für mehr als
80 Millionen Menschen verantwortlich ist, bedeutet
auch, dass sie für die 70 Millionen gesetzlich versicherten, aber natürlich genauso für die mehr als 8,6 Millionen privat versicherten Menschen Verantwortung trägt.
Wir machen da keinen ideologischen Unterschied wie
Sie.
({1})
Deswegen ist es richtig, dass wir den Wettbewerb zwischen diesen beiden Systemen stärken und nicht schwächen, wie das bei Ihnen der Fall gewesen ist.
({2})
Vielen Dank für diese großartige Frage.
Ich komme wieder zu der Frage des Sozialausgleichs
zurück. Selbstverständlich wird es einen Sozialausgleich
aus Steuermitteln geben. Dafür werden wir 2 Milliarden
Euro - technisch, Herr Kuhn - in die Liquiditätsreserve
einzahlen. Es sind natürlich Steuergelder. Damit wird die
Solidarität auf eine breitere Basis gestellt,
({3})
weil sich die Steuerzahler, also die Menschen mit allen
ihren Einkunftsarten, übrigens auch privat Versicherte,
künftig an einem Sozialausgleich zwischen Arm und
Reich beteiligen. Ich halte das für wesentlich solidarischer als nur einen Ausgleich innerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung.
({4})
Der Ausgleich erfolgt automatisch. „Automatisch“
heißt: Man muss selbst nicht mehr prüfen, ob man an der
Grenze ist. Wenn man an der Grenze ist, muss man den
Ausgleich nicht beantragen. Das ist heute übrigens anders, nicht dass das vergessen wird. Wer heute an der
Grenze ist, das selbst feststellt und einen Ausgleich haben will, der muss einen Antrag stellen.
({5})
Sie machen die Menschen zu Bittstellern und nicht wir.
Wir sorgen vielmehr dafür, dass es technisch vernünftig
ausgeführt wird.
({6})
Der Einnahmereform werden weitere Reformen folgen müssen, weil wir uns nicht damit zufrieden geben,
dass die Schere zwischen den Einnahmen und den Ausgaben des Fonds immer weiter auseinandergeht. Selbstverständlich muss das System effizienter werden, zum
Beispiel durch eine faire und gerechte Honorarreform,
durch eine vernünftige Kostenerstattung und durch Stärkung von Prävention.
({7})
Am Ende muss das eingezahlte Geld den Menschen für
Leistungen zur Verfügung stehen. Jeder Euro muss am
Ende bei den Menschen für Vorsorge und Versorgung
ankommen. Das bietet das bisherige System nicht. Das
haben Sie uns hinterlassen. Es ist richtig, dass wir angetreten sind, neben der Finanzierungsfrage auch die Reformen im System mit anzugehen.
Sie werfen uns immer vor, wir würden der einen oder
anderen Interessengruppe nachgeben. Das ist hier keine
bloße Diskussion und kein bloßer Austausch von Argumenten, sondern - wie heißt es so schön -: An den Taten
sollt ihr sie messen. - Gucken Sie sich die Zahlen einfach an: 11 Milliarden Euro bekommen die gesetzlichen
Krankenversicherungen im nächsten Jahr, um ein Defizit
auszugleichen. Gleichzeitig nehmen wir der Pharmaindustrie 2 Milliarden Euro.
({8})
Einen besseren Beweis für den Irrsinn und den Unfug,
die Sie mit Ihren Argumenten betreiben, hätte es an dieser Stelle gar nicht geben können. Hier sind die Zahlen
besser als all Ihre ständig wiederkehrenden Argumente.
({9})
Ich freue mich, dass sich die Linksfront wieder zusammengefunden hat. Ich will das hier ganz offen ansprechen.
({10})
Sie dürfen sich am Ende nur nicht darüber wundern, dass
Sie gemeinsam mit den Linken untergehen werden,
wenn Sie sich mit den Linken in ein Boot setzen.
({11})
Ich sage Ihnen für den kommenden Herbst: Sie dürfen
nicht glauben, dass Sie plötzlich Vorkämpfer für ein gerechtes und solidarisches Gesundheitssystem sind, nur
weil Sie sich zu den Demonstranten stellen. Wenn überhaupt, dann sind Sie nur schlechte Nachläufer. Mit politischer Führung hat das am Ende nichts, aber auch gar
nichts zu tun.
({12})
- Frau Ferner, wer dem Gegenwind den Rücken zudreht,
wie Sie das tun, und glaubt, er habe dann Rückenwind,
der irrt sich.
({13})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auf der einen
Seite die Grundlage für eine solide Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen haben und
auf der anderen Seite die kurzfristigen Probleme für
2011 gelöst haben werden. Ich freue mich auf eine angeregte Diskussion.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Der Kollege Dr. Karl Lauterbach, der bereits hier
vorne ist, hat das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Zunächst einmal
eine Korrektur: Minister Rösler hat gerade gesagt, es sei
ein großes Defizit übernommen worden. Ich weise noch
einmal darauf hin - Sie wissen das ganz genau -: Als Sie
das Amt übernahmen, hatte die gesetzliche Krankenversicherung ein Plus von 1,8 Milliarden Euro.
({0})
Sie können nicht die eigene, jetzt misslungene Reform
mit einem Defizit begründen, welches Sie selbst verursacht haben, sehr verehrter Herr Minister.
({1})
85 Prozent der Menschen in Deutschland lehnen diese
Gesundheitsreform ab, und nur 5 Prozent glauben, diese
Reform führe zu einer nachhaltigen Finanzierung des
Systems. Sind alle diese Menschen dumm? Verstehen sie
die Geschenke des Ministers nicht? Verstehen sie nicht
die dahinterstehende Brillanz der Reform? Ich sage Ihnen: Hier gibt es nichts zu verstehen.
({2})
Bei der Reform läuft es doch darauf hinaus: Der Kollege Singhammer sagt, wir müssen die Lohnnebenkosten
senken, damit Arbeitsplätze entstehen. Das Erste, was
Sie mit der Reform aber machen, ist: Sie erhöhen die
Lohnnebenkosten. Sie verstehen Ihre eigene Reform
nicht.
({3})
Weshalb haben Sie es denn dann zu dem Defizit kommen lassen, das jetzt dazu führt, dass die Lohnnebenkosten steigen, Herr Singhammer?
({4})
Genauso loben Sie die eigene Reform und sagen, es
komme zu einer verbesserten Versorgung. Gestern haben
wir gehört: Der Präsident der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft, des obersten Kontrollgremiums der deutschen Ärzteschaft für die Arzneimittelversorgung, sagt, die Versorgung würde durch Ihre Reform schlechter werden. Gibt Ihnen das denn nicht zu
denken?
({5})
Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses macht sich Sorgen darüber, dass die Versorgungsqualität bei Arzneimitteln schlechter wird.
({6})
Besorgt Sie das nicht? Besorgt es Sie nicht, dass diese
Reform nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch
von den Experten abgelehnt wird?
({7})
Ich sage Ihnen: Es ist nicht so, dass die Reform gut ist
und die Bevölkerung denkt, die Reform sei schlecht,
sondern die Reform ist schlecht.
({8})
Sie argumentieren, die Reform sei sozial ausgewogen.
Ich frage Sie hier ganz offen - auch die Kollegen von der
CDU -: Was ist denn sozial ausgewogen an einem Gesetz,
durch welches die Kosten des zukünftigen technischen
Fortschritts und aufgrund der demografischen Herausforderung in der Gesellschaft allein bei den Arbeitnehmern
abgeladen werden, während die Arbeitgeber davon komplett entlastet werden? Was ist daran sozial ausgewogen?
({9})
Fritz Kuhn hat es zu Recht gesagt: Das ist eine Störung des sozialen Friedens und eine so weitgreifende
Veränderung unseres Solidarempfindens, dass die Bevölkerung dies in der Masse ablehnt, und zwar zu Recht.
({10})
Es bedeutet eine einseitige Belastung der Arbeitnehmer
über Jahrzehnte hinweg, wenn das nicht geändert wird,
weil die Arbeitnehmer den technischen Fortschritt und
die Kosten aufgrund der demografischen Entwicklung
alleine bezahlen sollen; das ist die Wahrheit.
({11})
Es gibt nur eine Gruppe, die hier ausgenommen wird:
die Privatversicherten. Jetzt wundern Sie sich darüber,
dass wir das zum Thema machen. Ja, ist es denn gerecht,
({12})
dass ausgerechnet derjenige mit einem sicheren Arbeitsplatz und mit hohen Einkünften an der zukünftigen Finanzierung des Systems nicht beteiligt wird? Diese Reform
ist doch eine Lobbypolitik für die Arbeitgeberverbände
und für die private Assekuranz. Mehr haben wir hier doch
nicht.
({13})
Es ist eine Reform gegen die Leistungserbringer.
Schauen Sie doch, was hier passiert! Die Leistungserbringer, die Bezieher von mittleren Einkommen, müssen
sich auf Zusatzbeiträge, kleine Kopfpauschalen einstellen, sie müssen Mehrkosten bei den Arzneimitteln bezahlen, sie müssen demnächst beim Arzt in Vorkasse gehen,
({14})
wenn sie schnell einen Termin haben wollen. Sie bekommen keine Strukturreform. Es gibt eine zusätzliche Bürokratie: Wenn jemand mit 800 Euro Einkommen 4 Euro
Sozialausgleich haben will, muss er dafür Anträge stellen. Für lumpige 4 Euro bauen Sie eine riesige Bürokratie auf.
({15})
Das ist die Qualität Ihrer Reform: Bürokratie, ungerechte Belastung und keine Strukturreform,
({16})
eine Strukturreform, zu der Sie nicht in der Lage waren,
sehr verehrter Herr Minister Rösler. Das ist die Wahrheit.
({17})
In der Summe ist es so: Diese Reform wird zu mehr
Bürokratie führen, zu weniger Netto vom Brutto, zu keiner besseren Versorgung. Wir werden eine Dreiklassenmedizin bekommen. Der Privatversicherte ist der Patient
erster Klasse; derjenige, der sich Zusatzversicherungen
und Vorkasse leisten kann, ist der Patient zweiter Klasse,
und derjenige, der das alles nicht bezahlt, ist der Patient
der Holzklasse. Das ist die Reform, die Sie hier einleiten; das ist der Einstieg in die Dreiklassenmedizin,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Lauterbach, der Kollege Lotter würde Ihnen
gern eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gern, ja.
Sehr verehrter Herr Professor Lauterbach, ich habe
mit Interesse Ihre Kritikpunkte zur Kenntnis genommen.
Aber was hätten Sie denn unternommen, um ein milliardenschweres Defizit in diesem Jahr und im nächsten Jahr
auszugleichen?
Das kann ich Ihnen ganz genau sagen:
({0})
Es wäre zu unserer Zeit gar nicht zu dem Defizit gekommen.
({1})
Wir hatten ja noch einen Überschuss. Wir hätten eine
Strukturreform gemacht - zu der Sie nicht in der Lage
waren -, wir hätten die Arbeitgeber und die GutverdieDr. Karl Lauterbach
ner in der Gesellschaft an den Kosten beteiligt und sie
nicht entlastet. Wir hätten das Gegenteil dessen getan,
was Sie getan haben.
({2})
Ich komme zum Abschluss. Ich bitte Sie, sich zu erinnern: Ich habe an dieser Stelle vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl gesagt: Für die Gesundheitsreform, die Sie planen, wird Ministerpräsident Rüttgers bezahlen; er wird
seinen Schreibtisch räumen müssen. - Das ist das, was
jetzt Herrn Mappus erwartet. Sie werden für diese Reform bei der nächsten Landtagswahl büßen.
({3})
Wir werden in Baden-Württemberg flächendeckend Gesundheit 21 zum Thema machen,
({4})
sodass auch dort der Regierungswechsel erfolgen kann,
den dieses Land unbedingt braucht.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Jens Spahn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lauterbach, Sie sind ja, glaube ich, schon
ein paar Jahre länger hier im Parlament. Bei Ihrer Frage
„Woher kommen eigentlich diese bis zu 11 Milliarden
Euro Defizit?“ mussten ja gerade selbst Ihre Kollegen
das Lachen verstecken.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass das maßgeblich mit Entscheidungen der Großen Koalition zu tun hat, Entscheidungen, die wir bewusst getroffen haben, weil wir wollten, dass Ärzte in Ostdeutschland, die bisher auf einem
niedrigeren Niveau der Entlohnung waren und in einem
sehr dünn besiedelten Gebiet einen schwierigen Job tun,
mehr Geld bekommen,
({1})
weil wir im Krankenhausbereich wollten, dass die Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte, für die Ärzte vernünftig finanziert werden können; denn gerade die Pflegekräfte verrichten einen harten, aufopferungsvollen Job,
der oft nicht gut bezahlt wird. Dafür ist das Geld bereitgestellt worden. Wenn Sie das hier jetzt kritisieren, dann
müssen Sie das auch den Pflegekräften sagen und deutlich machen, welche Konsequenz es denn gehabt hätte,
wenn wir diese Entscheidung nicht getroffen hätten, lieber Herr Lauterbach.
({2})
Eines ist doch bemerkenswert: Wir haben jetzt 23 Minuten lang, vielleicht sogar etwas länger, Reden von vier
Oppositionspolitikern gehört. Wir stehen vor der Situation, dass wir im nächsten Jahr das größte Defizit in der
Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung erwarten, einer Situation, in der Nichtstun keine Option wäre.
Denn wenn wir nichts täten, wären die Krankenkassen
aufgrund der derzeitigen Systematik nicht in der Lage,
an dieses Geld heranzukommen. Sie müssten in die Insolvenz gehen. Das heißt, wir stehen im Grunde vor einer Situation, in der man handeln muss. Da kann man
auch von einer Opposition mehr erwarten als substanzloses Geschrei, da kann man erwarten, dass Sie zumindest
zwei Minuten darauf verwendet hätten, zu sagen, was
Sie denn tun würden, wenn Sie regieren würden, was ja
gottlob nicht der Fall ist. Was würden Sie denn tun? Was
sind denn Ihre Alternativvorschläge? Dazu sagen Sie gar
nichts. Das ist ein bisschen arm.
({3})
Wir kehren im nächsten Jahr im Übrigen zum alten
Beitragssatz von 15,5 Prozent zurück. Den haben wir
einmal gemeinsam eingeführt,
({4})
und wir haben ihn auch gemeinsam auf 14,9 Prozent gesenkt, weil wir in der Krise die Lohnnebenkosten stabil
halten wollten. Die Krise ist nun offensichtlich vorbei,
({5})
die Arbeitslosigkeit sinkt - das haben wir gerade heute
wieder gehört -, die wirtschaftlichen Daten verbessern
sich. Deshalb ist es richtig, wieder zum alten Beitragssatz von 15,5 Prozent zurückzukehren und Arbeitnehmer
und Arbeitgeber gemeinsam an der Bewältigung des Defizits zu beteiligen.
Aber wir machen nicht nur das. Wir sagen: Es ist eine
Gemeinschaftsaufgabe, mit diesem größten Defizit in der
Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung klarzukommen. Deswegen kehren wir zum alten Beitragssatz
zurück. Deswegen müssen aber auch alle Leistungserbringer, alle im Gesundheitswesen Tätigen einen Beitrag
leisten.
({6})
Deswegen werden wir bei den Krankenhäusern und bei
den Ärzten weniger Zuwachs haben.
({7})
Wir werden bei den Apotheken und beim Großhandel
sparen,
({8})
aber auch bei den Verwaltungskosten der Krankenkassen
und im Übrigen auch bei der Pharmaindustrie. Wir haben mit dem 10-prozentigen Herstellerabschlag, der im
nächsten Jahr wirksam wird, eins zu eins das umgesetzt
- nicht auf Ihren Vorschlag hin; auf diese Idee sind wir
selber gekommen -, was auch Sie in Ihren eigenen Antrag hineingeschrieben haben. Sie haben gefordert, den
Herstellerabschlag auf 10 Prozent zu erhöhen, nachdem
wir bereits angekündigt hatten, dass wir es tun. An dieser
Stelle müssten Sie eigentlich mit uns übereinstimmen
und sagen, dass es richtig ist, dass wir die Pharmaindustrie nächstes Jahr mit über 1 Milliarde Euro beteiligen.
Ein, zwei Worte der Anerkennung für etwas, das Sie
selbst gefordert haben und das gut läuft, wären auch von
der Opposition zu erwarten.
Wie ist es denn heute? Sie sprechen immer von Antragstellung, Bittstellern und Ungerechtigkeit. Wie ist
die Situation heute, die wir gemeinsam herbeigeführt haben? Sie wollten die 8-Euro-Regelung und die Deckelung auf 1 Prozent.
({9})
Frau Ulla Schmidt, die damalige Gesundheitsministerin,
hat die Regelung eingeführt, dass eine Zuzahlung von
bis zu 8 Euro erhoben werden kann, ohne dass überprüft
wird, ob eine Überforderung des Versicherten gegeben
ist.
({10})
Das führt dazu, dass bis zu einem Betrag von 800 Euro
überhaupt nicht geprüft wird, ob jemand überfordert ist.
({11})
Wenn sich jemand finanziell überfordert fühlt, wird das
nur auf Antrag überhaupt berücksichtigt.
({12})
Dann muss in einem komplizierten Verfahren das Einkommen geprüft werden. Sie sind die Letzten, die behaupten können, wir würden etwas einführen, was unsolidarisch sei oder dazu führen würde, dass die Menschen
Bittsteller würden. Sie schlagen sich in die Büsche und
wollen nicht mehr wahrhaben, was Sie selbst einmal entschieden haben.
({13})
Sie können vor allem nicht verkraften, dass wir es jetzt
sind, die das Ganze gerechter ausgestalten, als es heute
ist.
({14})
Wir entwickeln die Systematik des Zusatzbeitrags mit einem Sozialausgleich, der ab einer Belastung von 2 Prozent greift, weiter fort. Das heißt, es sind höchstens 2 Prozent des Einkommens zu zahlen.
({15})
Der entscheidende neue Gesichtspunkt ist, dass der Sozialausgleich steuerfinanziert ist. Der ist übrigens jetzt
schon steuerfinanziert, Herr Kuhn. Den zusätzlichen
Bundeszuschuss in Höhe von 2 Milliarden Euro, den es
im nächsten Jahr gibt, stecken wir nämlich in die Liquiditätsreserve der gesetzlichen Krankenversicherung, in
den Gesundheitsfonds. Somit wird bereits ab dem nächsten Jahr der Sozialausgleich bis 2014 aus Steuermitteln
finanziert. Dieser Sozialausgleich ist gerechter als das,
was wir heute haben.
({16})
Heute findet der Sozialausgleich ausschließlich auf dem
Rücken der 28 Millionen abhängig Beschäftigten in diesem Land statt, und zwar nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von rund 3 700 Euro. In Zukunft sind wegen der Finanzierung über die Steuern alle nach der
tatsächlichen Leistungsfähigkeit beteiligt.
({17})
Berücksichtigt werden Mieteinkünfte, Kapitaleinkünfte
und selbst Unternehmensgewinne.
({18})
Sie müssen mir schon sagen, wie man es noch gerechter
ausgestalten kann. Wir verteilen die Lasten auf mehr und
breitere Schultern. Das ist gerechter, das ist fairer. Das
sollten Sie in einer solchen Debatte auch anerkennen.
({19})
Herr Spahn, die Kollegin Klein-Schmeink würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Spahn, ist es richtig, dass im nächsten Jahr
400 Millionen Euro Steuermittel weniger als in diesem
Jahr in den Gesundheitsfonds fließen und dass der steuerliche Ausgleich damit nicht höher, sondern sogar niedriger ist?
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie wissen ja,
wie sich die unterschiedlichen Steuerzuschüsse entwickeln. Das eine ist der Steuerzuschuss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben - den haben wir übrigens
gemeinsam beschlossen -, der schrittweise auf 14 MilJens Spahn
liarden Euro anwächst. Das andere sind zusätzliche Mittel, die in der Krise zur Stabilisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung gegeben wurden, nicht zuletzt
weil wir den Beitragssatz gesenkt haben.
({0})
Der Umfang dieser Mittel wird jetzt reduziert. Um den
steuerfinanzierten Sozialausgleich zu gewährleisten, geben wir aber gleichzeitig 2 Milliarden Euro in die Liquiditätsreserve.
Ich gebe zu: Man muss hier einige Finanzströme auseinanderhalten. Ich glaube, im Hinblick auf die Gesamtübersicht kann man das tun. Entscheidend ist die
Botschaft - unser Versprechen wird eingehalten -: Wir
schaffen einen Ausgleich, der gerechter ist als der heutige,
({1})
weil wir für eine Steuerfinanzierung sorgen und die
Finanzierung damit auf breitere Schultern stellen.
({2})
Da wir gerade bei den Alternativen sind: Herr
Lauterbach, man hätte sich gewünscht, dass Sie einmal
ein oder zwei Sätze zu der Frage sagen, wie eine Bürgerversicherung unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“
aussehen soll.
({3})
Würde man Ihrem Vorschlag folgen, würde das dazu
führen, dass Mieten, Kapitaleinkünfte und andere Einkünfte verbeitragt werden müssen
({4})
und dass Krankenkassen auf einmal Einkommensprüfungen in großem Maße vornehmen müssen. Wenn Sie
Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern machen wollen, dann müssen Sie mir einmal erzählen, inwiefern Ihr
Weg unbürokratischer ist als das, was wir heute haben,
nämlich eine für den Versicherten einfache Lösung: Der
Sozialausgleich findet ohne Antragstellung automatisch
bei der Renten- und der Lohnauszahlung statt.
({5})
Herr Spahn, geben Sie Herrn Lauterbach die Gelegenheit zur Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Spahn, ich verstehe, ehrlich gesagt, die Logik Ihres Vortrages nicht. Sie sagen, dass wir kein Konzept einer Bürgerversicherung vorgelegt haben. Unmittelbar
danach sagen Sie, was Ihnen an unserem Konzept der
Bürgerversicherung alles nicht gefällt. Entweder haben
wir kein Konzept - dann können Sie daran auch nichts
kritisieren -, oder wir haben ein Konzept. Es ist aber
nicht logisch, unser Konzept zu kritisieren, obwohl Sie
zuvor unterstellt haben, wir hätten ein solches Konzept
nicht. Können Sie folgen?
Ich kann folgen, Herr Professor. Ich kann sogar so gut
folgen, dass ich erwidern kann. Natürlich kennen wir die
Grundzüge Ihres Konzeptes, die Sie auch hier immer
wieder einmal darlegen. Aber über Grundzüge sind Sie
nie hinausgekommen. Wie wäre es denn einmal mit etwas sauber Durchfinanziertem?
({0})
Sie sollten den Menschen auch sagen, dass die Umsetzung Ihres Konzeptes insbesondere für Facharbeiter und
die Mittelschicht in Deutschland zusätzliche Belastungen bedeuten würde, weil diejenigen, die kleine Ersparnisse haben, und diejenigen, die zusätzlich kleine Mieteinkünfte haben, besonders getroffen würden, während
alle diejenigen, die ein großes Vermögen haben, wegen
der Beitragsbemessungsgrenze nicht getroffen würden.
Genau diese Gruppe belasten wir aber mit unserem Modell der Steuerfinanzierung.
Wir warten auf ein paar konkrete Aussagen von Ihnen. Sie versprechen sie uns seit 2003. Noch im vergangenen Dezember haben Sie gesagt, wir könnten bald mit
einem Konzept rechnen. Es ist immer noch keines zu sehen. Sie wissen genau, warum Sie keines vorlegen: Die
schöne Überschrift „Bürgerversicherung“ würde bei den
Menschen ganz anders ankommen; denn sie würden
merken, was dahintersteckt, nämlich dass Sie vor allem
die Mittelschicht, die Facharbeiter treffen wollen. Das
wollen Sie ihnen nicht ehrlich sagen, und das ist das Problem, lieber Kollege Lauterbach.
({1})
Lieber Herr Kuhn, Sie sind grundsätzlich geworden.
Man munkelt, Sie wollten der nächste Bundesgesundheitsminister werden.
({2})
Insofern war Ihre Rede so etwas wie eine Bewerbungsrede. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Sozialversicherung seit Bismarck paritätisch finanziert wird.
Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne
Bundesregierung, die die paritätische Finanzierung in
der gesetzlichen Krankenversicherung als erste Regierung verlassen hat, indem sie gesagt hat, die Arbeitnehmer müssten 0,9 Prozentpunkte mehr zahlen.
({3})
Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne
Bundesregierung, die Steuerzuschüsse in massivem Umfang zusätzlich in die sozialen Sicherungssysteme gegeben hat, weil sie der Meinung war: Diese Finanzierung
ist am Ende gerechter, als wenn nur die abhängig Beschäftigten getroffen würden. Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine rot-grüne Bundesregierung, die die
Riester-Rente eingeführt hat, also eine kapitalgedeckte
Zusatzprivatvorsorge, die der Einzelne alleine tragen
muss, weil man die Lohnnebenkosten nicht zusätzlich
belasten wollte.
({4})
Wenn das alles so ist - ich finde übrigens richtig, was
Sie damals gemacht haben -, wie können Sie sich dann
heute hierhin stellen und kritisieren, dass irgendjemand
das Bismarck’sche System verlasse?
({5})
Sie haben zu Recht damit begonnen, dieses System zu
verlassen.
({6})
Aber das war etwas wohlfeile Kritik.
({7})
Sie haben recht - insofern war ich dankbar, dass Sie
darauf hingewiesen haben -: Man muss einmal darüber
reden, was eigentlich die Grundsätze sind. Wir brauchen
eine langfristige Antwort auf den Umstand, dass die Gesundheitskosten steigen. Das ist übrigens die Botschaft,
um die Sie von der SPD sich immer herumdrücken: den
Menschen ehrlich zu sagen, dass man in einem Land, in
dem die Menschen - Gott sei Dank bei besserer Gesundheit als früher - immer älter werden, in einem Land, das
medizinischen Fortschritt will, wobei die Kosten nicht
wegen Grippemedikamenten oder Hustensaft steigen,
sondern aufgrund von Krebsbehandlungen, von neuen
Diagnosemöglichkeiten, mit denen viele Hoffnungen für
die Patienten verbunden sind, in der Situation steigender
Gesundheitskosten eine andere Antwort auf die Frage
der Finanzierung dieser Kosten braucht als nur die Belastung von Lohnnebenkosten - in einer Gesellschaft im
Übrigen, in der die durchgängige abhängige Beschäftigung bei einem Arbeitgeber über 30 oder 40 Jahre hinweg nicht mehr der Regelfall ist. Deshalb sind andere
Grundlagen der Finanzierung eines solchen elementaren
sozialen Sicherungssystems erforderlich. Genau diese
neue Grundlage wollen wir schaffen. Insofern haben Sie
recht, dass wir grundsätzlich darüber diskutieren müssen. Dann sollten Sie aber auch ein paar Antworten liefern, die Sie unserem Konzept gegenüberstellen; denn
unser Konzept weist in die richtige Richtung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Herr Spahn, ich habe jetzt noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Volkmer anzubieten.
Ich nehme fast alles, was kommt. - Bitte schön.
({0})
Herr Spahn, ich möchte Sie fragen, ob Sie mir recht
geben, dass da ein Unterschied ist. Wir haben damals zur
Entlastung des Systems von versicherungsfremden Leistungen zusätzlich Steuermittel ins System gegeben.
Durch Ihre neue Finanzierung fließen nicht mehr Mittel
ins System; es wird nur anders umverteilt. Sie bringen
nicht einen Euro mehr hinein, sondern entlasten nur diejenigen, die den Zusatzbeitrag nicht selbst aufbringen
können. Dafür verwenden Sie die Steuermittel. Es fließt
aber nicht mehr Geld ins System.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass die bisherige
Steuerfinanzierung insbesondere zur Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben erfolgt ist. Dies gilt etwa für
die beitragsfreie Mitfinanzierung von Kindern.
Wenn steigende Kosten über Zusatzbeiträge lohnunabhängig finanziert werden und ein steuerfinanzierter
Sozialausgleich erfolgt, indem der Anteil für diejenigen,
die den Zusatzbeitrag nicht tragen können, weil er sie
überfordert, weil man mit 400 Euro Rente nicht 20 Euro
Zusatzbeitrag zahlen kann, über Steuermittel zusätzlich
ins System gegeben wird, dann fließt zusätzliches Geld
ins System. Das ist gerechter, weil es im bestehenden
System nur die rund 28 Millionen abhängig Beschäftigten und deren Arbeitgeber wären, die das Ganze finanzieren müssten. Durch eine Steuerfinanzierung wird das
jedoch auf wesentlich breitere Schultern verteilt. Jeder
muss dann nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit
seinen Beitrag leisten, auch mit seinen zusätzlichen Einkünften. Dabei werden auch Einkommen oberhalb der
Beitragsbemessungsgrenze sowie Einkünfte von Privatversicherten berücksichtigt. Selbst Unternehmensgewinne werden berücksichtigt und mit zur Finanzierung
beitragen. Insofern gibt es zusätzliches Geld.
({0})
Mit diesem zusätzlichen Geld wird das System sogar gerechter als heute, und das ist eine gute Lösung, liebe
Frau Kollegin.
({1})
Im Übrigen trägt dies - es ist die Frage nach der
grundsätzlichen Richtung gestellt worden - auch zu
mehr Wettbewerb bei. Sie müssen schauen, welche
Preissignalwirkung dieser Zusatzbeitrag hat. Früher, vor
gut zwei Jahren, hatte die eine Krankenkasse einen Beitragssatz von 16,7 Prozent, während die andere Krankenkasse einen Beitragssatz von 13,5 Prozent hatte. Bei
einem Monatseinkommen von 1 000 Euro brutto macht
dies einen Unterschied von 32 Euro pro Monat aus. Bei
3 000 Euro Bruttoeinkommen sind dies 96 Euro pro Monat. Das heißt, es hat einen Unterschied von 96 Euro
- aufgeteilt auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer - ausgemacht, ob man bei der einen oder bei der anderen Kasse
versichert war. Heute haben wir einen Zusatzbeitrag der
Kassen, der bei etwa 8 Euro liegt; in Zukunft wird sich
das weiterentwickeln. Früher hat aber niemand so richtig
den Beitragsunterschied zwischen der einen und der anderen Kasse gemerkt, weil man schon den Dreisatz beherrschen musste, da die Beiträge automatisch vom
Lohn abgezogen wurden. Deshalb war dem Einzelnen
gar nicht so richtig bewusst, wie teuer seine Kasse eigentlich ist.
In Zukunft haben wir durch den Zusatzbeitrag eine
ganz andere Preissignalwirkung. Ich kann ganz anders
vergleichen, ob ich für das, was meine Kasse durch Zusatzbeitrag teurer ist - 5 Euro, 8 Euro, 10 Euro, 12 Euro -,
tatsächlich auch das Mehr an Leistungen bekomme.
Wenn das nicht der Fall ist, wird sich eine ganz andere
Wechselbereitwilligkeit ergeben, wie wir schon im
Laufe dieses Jahres gesehen haben.
Das führt uns abschließend zum nächsten Schritt. Es
reicht eben nicht - das ist uns sehr bewusst -, nur eine
Finanzierungsreform zu machen. Wir wollen im Weiteren, also im Laufe des nächsten Jahres, auch über die
Strukturfragen reden,
({2})
also über die Fragen: Wie wird denn eigentlich Versorgung organisiert? Welchen Anreiz gibt es für die Krankenkassen, sich mit einem vernünftigen Versorgungsmanagement um die chronisch Kranken zu kümmern?
Wer wird eigentlich wofür und wie in diesem System
honoriert? Wie sieht es mit der Schnittstelle ambulantstationär aus? Müssen wir hier zu besserer und mehr
Zusammenarbeit kommen? Wie kommen eigentlich
Arzneimittel neu in den Markt, und wie werden sie angewandt?
({3})
Das heißt, die Finanzierungsreform ist die notwendige
Vorstufe, um anschließend Strukturreformen angehen zu
können,
({4})
damit die Krankenkassen im Wettbewerb auch die
Chance haben, sich in der Qualität ihres Versorgungsmanagements, in der Qualität der Verträge, die sie abschließen,
({5})
in der Qualität dessen, was sie für ihre Versicherten und
insbesondere für ihre chronisch Kranken tun, zu unterscheiden. Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie
diesen Weg - ich spreche insbesondere Sie, Herr Kuhn,
an, da Sie gesagt haben, wir müssten einmal grundsätzlich über Neues nachdenken - konstruktiv begleiteten.
Bis jetzt gab es nur substanzlose Kritik.
({6})
Kathrin Senger-Schäfer hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Rösler!
Herr Professor Lauterbach hat gerade den schönen Begriff „Gesundheit 21“ geprägt. Lassen Sie mich bitte aus
aktuellem Anlass kurz auf Stuttgart 21 eingehen. Mich
erreicht gerade die Nachricht, dass die Polizei in einem
äußerst aggressiven Einsatz in eine Kinderdemonstration
eingegriffen hat, in deren Verlauf viele, viele Kinder verletzt wurden. Für mich ist das ein Zeichen, wie Sie mit
Bürgerinnen und Bürgern und Kindern in diesem Land
umgehen.
({0})
Ich fordere Sie auf: Greifen Sie sofort ein und stoppen
Sie diese Veranstaltung!
({1})
Herr Minister Rösler, Ihr Gesetz zur nachhaltigen und
sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung ist mit drei Worten kurz zu beschreiben:
({2})
Es ist weder sozial noch ausgewogen noch nachhaltig.
Es ist vielmehr unüberlegt, unehrlich und ungerecht.
({3})
Hartz IV, Rente mit 67, das Sparpaket ({4})
geplündert werden immer nur die schmalen Geldbeutel.
Die Bundesregierung gefährdet damit massiv den sozialen Frieden in diesem Land.
({5})
Das ist eine Schande.
({6})
Die Regierungskoalition beteuert zwar, die Probleme
der gesetzlichen Krankenversicherung auf Dauer lösen
zu wollen, doch scheint es hier einen anderen Masterplan zu geben: Die Kleinen zahlen, die Großen lässt man
laufen, und zwar zur privaten Krankenversicherung.
({7})
Sie wollen, dass es den Besserverdienenden bereits nach
einem Jahr möglich ist, die Solidargemeinschaft der
gesetzlichen Krankenversicherung zu verlassen. Verwundern tut das nicht, sitzt doch der Cheflobbyist der
privaten Krankenversicherung, seit Herr Rösler das Gesundheitsministerium übernommen hat, dort an entscheidender Stelle. Was für ein Schachzug!
Auch die Wirtschaftsverbände sollten zufrieden sein.
Ihre Lobbyisten haben ganze Arbeit geleistet, bereitet
die kleine Kopfpauschale doch den Weg für eine komplette Abwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein über 120 Jahre altes Erfolgsmodell mit den
gewachsenen Grundfesten von Solidarität und Parität
wird von dieser Bundesregierung in wenigen Monaten
demontiert. Bravo, gut gemacht! Die Lohnquote in
Deutschland sinkt seit Jahren. Gleichzeitig steigt die
Zahl der Einkommens- und Vermögensmillionäre.
Durch das Einfrieren des Arbeitgeberanteils wird dieser
Trend verstärkt; dadurch werden die abhängig Beschäftigten überproportional belastet.
({8})
Außerdem werden die Arbeitgeber aus der Beteiligung
und dem Interesse an der künftigen Kostenentwicklung
entlassen. Also auch hier von Nachhaltigkeit keine Spur.
Soziale Ausgewogenheit ist nicht erkennbar; denn die
Kopfpauschale wird in Euro und Cent gerechnet, mit
dem Argument, der Millionär wäre genauso krank wie
die Briefzustellerin. Ihre Argumente haben mit dem realen Leben nichts zu tun; denn auch noch heute gilt: Wer
arm ist, wird häufiger krank und stirbt in der Folge früher. Erschreckend dabei ist, dass diese soziale Ungleichheit zunimmt. Die Schere der Lebenserwartung geht von
Tag zu Tag weiter auseinander.
Es ist eine Tatsache, dass das untere Fünftel der Bevölkerung in jedem Alter ein doppelt so hohes Risiko
trägt, schwer zu erkranken oder zu sterben, als das obere
Fünftel. Das ist unsolidarisch, und das ist unchristlich.
({9})
Wo sind die Zweifler der CSU, Herr Singhammer? Wo
ist das Gewissen einer angeblichen Volkspartei, die noch
vor kurzem erklärt hat, mit ihr werde es keine Kopfpauschalen geben?
({10})
Die Linke lehnt Ihre Pläne zu einer Kopfpauschale
grundsätzlich ab und steht damit im Schulterschluss mit
den Sozialverbänden und den Gewerkschaften und vor
allem mit der Mehrheit der Menschen in unserem Land.
({11})
Grundsätzlich brauchen wir für ein echtes solidarisches Gesundheitssystem eine stabile und gerechte Finanzierungslage. Dafür steht die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Linken.
({12})
Schwarz-Gelb will ein rund 120-jähriges Gesundheitssystem, das im Grundsatz gut funktioniert und um das
uns viele in der Welt beneiden, angeblich alternativlos
gegen die Wand fahren. Sie werden damit als diejenigen
in die Geschichtsbücher eingehen, welche die Mehrklassenmedizin eingeführt haben. Die kleine Kopfpauschale
wird ihre volle Wirkung aber erst 2011/2012 entfalten.
Die Wählerinnen und Wähler werden Ihnen diese Ungerechtigkeit bei den nächsten Landtags- und Bundestagswahlen nicht durchgehen lassen.
({13})
Die Kollegin Maria Klein-Schmeink hat jetzt für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Ich will meine Rede weniger grundsätzlich anlegen, als dies meine Vorredner und Vorrednerinnen getan haben.
({0})
Ich glaube nicht, dass Sie mit dieser Gesundheitsreform
tatsächlich in die Geschichte eingehen werden. Ich bezweifle das sogar sehr. Ihr Paket besteht aus einem Sparpaket, das nicht sonderlich fantasievoll und auch nicht
außergewöhnlich ist, und aus einem zweiten Teil, der tatsächliche Geschichte machte, würde er umgesetzt. Ich
hoffe aber, dass wir Wahlentscheidungen haben, die diesen zweiten Schritt verhindern werden. Ein zentrales
Element Ihres Vorschlags ist ja ein Sozialausgleich, der
aber wahrscheinlich erst - so vermuten Sie jedenfalls 2014, nach der nächsten Bundestagswahl, zum Tragen
kommen muss. Von daher hoffe ich, dass dieser Teil der
Geschichte ausfallen kann.
({1})
Ansonsten haben sich die Vorredner und Vorrednerinnen der Regierungskoalition sehr bemüht, so zu tun, als
sei der Vorschlag alternativlos, als lägen keine anderen
durchgerechneten Vorschläge vor und als handele es sich
um einen sozial gerechten Vorschlag. Alle Unterstellungen kann man abweisen.
Erstens wird gesagt, der Vorschlag sei alternativlos.
Natürlich haben wir Alternativen. Man hat in der langen
Debatte um die Gesundheitsreform gesehen, dass auch
Sie Alternativen erwogen haben. Ich denke dabei nur an
Herrn Rösler, der noch vor der Sommerpause den Vorschlag in die Debatte eingebracht hat, die Beitragsbemessungsgrenze hochzusetzen. Es gibt also schon verschiedene Möglichkeiten, etwas zu tun. Wir jedenfalls
schlagen vor, dass man die Bemessungsgrundlage insgesamt erweitert und dafür sorgt, dass nicht nur diese Gehälter und Löhne als Grundlage genommen werden, sondern auch andere Einnahmen, auch Einnahmen, die sonst
in die PKV abwandern.
({2})
Alternativlos ist der Vorschlag also nicht, und die Alternative wäre auch sofort umzusetzen.
Zweitens haben Sie gesagt, der Vorschlag sei sozial
ausgewogen. Die FDP versucht immer gern zu sagen,
dass dieses Sparpaket zu einer Anhebung führt, die vertretbar sei. 0,3 Beitragspunkte seien bei 2 000 Euro Bruttogehalt nicht mehr als die Pizza im Monat.
({3})
- Herr Bahr, das haben wir bereits letztens in einem Gespräch miteinander diskutiert. - Sie tun so, als sei diese
Pizza eine Kleinigkeit, eine Bagatelle; aber Sie unterschlagen natürlich, dass die Zusatzbeiträge zu massiven
zusätzlichen Belastungen führen werden. Das wissen Sie
auch ganz genau. Deshalb haben Sie die Einführung auf
die Zeit nach den nächsten Wahlen geschoben, und damit sind Sie da wohl auch eher im Sicheren. Außerdem
haben Sie die Steuerfinanzierung für genau diesen Sozialausgleich noch in keiner Weise geregelt. Auch das ist
Ihnen klar. Wir meinen, diese Mogelpackung wird Ihnen
die Bevölkerung nicht abkaufen.
({4})
Dann verweisen Sie gern darauf, dass Sie strukturelle
Maßnahmen als zweiten Schritt in Angriff nehmen wollen. Sie hätten diese strukturellen Maßnahmen natürlich
schon in diesem Jahr beginnen können und müssen. Ich
erinnere hier nur an die Honorarreform sowie daran, wie
man die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen
will. All diese Themen haben Sie auf die lange Bank
schieben müssen, weil Sie mit sich beschäftigt waren,
weil Sie damit beschäftigt waren, eine verkorkste Gesundheitsreform und eine verkorkste Finanzierungsreform auf den Weg zu bringen. Das ist doch die eigentliche Wahrheit, die wir hier zur Kenntnis nehmen müssen.
({5})
- Doch, genau so ist es; das wissen Sie auch.
({6})
Sie haben eine Honorarreform angekündigt, aber nicht
auf den Weg gebracht. Sie haben es nicht geschafft, ein
Konzept für die ländliche Versorgung vorzulegen. Sie
haben es nicht geschafft, ein Konzept für eine Präventionsstrategie vorzulegen.
({7})
All diese Dinge haben Sie in die nächsten Jahre verschoben, weil Sie mit sich beschäftigt gewesen sind.
({8})
Nun kommen wir noch einmal zur sozialen Ausgewogenheit und zu dem, was Fritz Kuhn zu Recht eben angesprochen hat: Natürlich geht es hier um eine Wertefrage.
Es geht darum, ob wir den Ausstieg aus der Solidarität
mit diesem Gesetz festschreiben oder nicht. Er soll zwar
erst ein bisschen verlagert kommen; aber im Grunde haben Sie festgeschrieben, dass sämtliche Kostensteigerungen im System in Zukunft alleine und ausschließlich
von den Versicherten zu tragen sind.
Frau Kollegin!
Sie alle wissen,
({0})
dass das zu stark erhöhten Zusatzbeiträgen führen wird
und es zu massiven Belastungen der Versicherten kommen wird.
({1})
- Nein, Sie wissen das sehr genau.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das weiß auch die Bevölkerung sehr genau. Auch die
Bevölkerung kann rechnen und weiß, dass man Ihren
schönen Worten in dieser Form in keiner Weise glauben
kann.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Koschorrek für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann es mir nicht verkneifen, gegen diese Stuttgart-21-Nummer einen Satz zu sagen. Ich halte es für eine
Katastrophe, was dort vorgefallen ist; ich habe das im
Internet nachgelesen. Da wurden Schüler und kleine
Kinder instrumentalisiert und einer wirklich militanten
Demonstration vorangetrieben. Das ist ein Zustand, der
wirklich nicht hinzunehmen ist.
({0})
Aber heute geht es hier um die Gesundheitsreform.
Frau Klein-Schmeink, Sie sagten eben, dass wir die
strukturellen Veränderungen, die wir im Koalitionsvertrag vorgesehen haben, noch nicht umgesetzt hätten. Wir
gehen da relativ systematisch vor, um es ganz klar zu sagen. Wir haben ein Finanzdefizit in der gesetzlichen
Krankenversicherung zur Kenntnis zu nehmen, ob wir es
wollen oder nicht und wer auch immer es verschuldet
hat; das ist ja alles schon gesagt. Dieses Defizit haben
wir in jedem Falle zuerst zu regeln. Bevor wir die Finanzen der GKV nicht auf ein vernünftiges Maß gebracht
haben, ist es einfach unredlich, über Strukturen zu reden
und Strukturentscheidungen voranzustellen. Wir haben
uns jetzt in mehreren Gesetzesvorhaben mit der Finanzierung befasst und schon einiges auf den Weg gebracht.
Das größte Paket liegt heute zum ersten Mal hier im Parlament zur Diskussion vor.
Herr Kollege, der Kollege Kuhn würde Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Nein, brauche ich nicht.
({0})
Zur Finanzierung des Systems ist heute so ziemlich
alles gesagt worden. Aber wir haben im zweiten Teil des
Reformgesetzes auf Ausgabenbeschränkungen gesetzt.
Wir legen großen Wert darauf, dass wir nicht in die einzelnen Leistungsbereiche hineingehen und die Kürzungen mit dem Rasenmäher vornehmen. Vielmehr haben
wir uns ganz klar darauf konzentriert, für die zukünftigen Jahre die Ausgabenzuwächse zu beschränken. Ich
glaube, das ist der richtige Weg.
Auch das geht natürlich nicht ohne Kritik einher. Wir
haben allen im System einiges abverlangt, was sie in den
nächsten Jahren zur Sanierung und Stabilisierung der Finanzen im Gesundheitswesen beizutragen haben. Das,
was wir da machen, ist alternativlos. Wir nehmen sämtliche Bereiche in den Fokus: Krankenkassen - hier die
Verwaltungskosten -, Krankenhäuser, Ärzte und in ganz
besonderem Maße Pharmaunternehmen und -großhändler. Wir gehen an alle Leistungsbereiche heran und sorgen dafür, dass wir in Zukunft eine stabile Grundlage für
die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
haben.
({1})
Für den Bereich der Ärzteschaft bedeutet dies, dass
unter anderem die Verträge zwischen Krankenkassen
und Hausärzten auf ein vernünftiges Maß begrenzt werden. Wir bleiben dem Grundsatz einer Begrenzung des
Kostenanstieges auch bei der überfälligen Angleichung
der Zahnarzthonorare in den neuen Bundesländern und
Berlin absolut treu.
({2})
Da hätten wir uns das eine oder andere mehr gewünscht;
aber das ist in der heutigen finanziellen Situation nicht
möglich. Bei der Ost-West-Angleichung der Honorare in
diesem Bereich - der letzte, der noch verblieben ist sind wir auf einem richtigen Weg; wir werden dort einen
deutlichen Schritt zur Angleichung vornehmen.
({3})
Trotz des großen und - das kann niemand bestreiten unabwendbaren Reformbedarfs nehmen wir keinen Radikalumbau im Gesundheitswesen vor. Wir werden mit
schrittweisen Reformen dafür sorgen, dass unser Gesundheitswesen nach wie vor demografiefest und zukunftstauglich ist.
({4})
Die demografische Entwicklung ist, wie sie ist: Die älter
werdende Gesellschaft und das Geburtendefizit bei den
jüngeren Jahrgängen zwingen uns zu Maßnahmen, von
denen durchaus nicht alle populär sind; sie sind aber alternativlos.
Das ist aber bestimmt nicht das Ende unserer Arbeit.
({5})
Ich erinnere daran, dass eine Legislaturperiode vier
Jahre dauert und es keinesfalls darum geht, dass eine Regierung schon im ersten Jahr alle Vorhaben in trockenen
Tüchern hat.
({6})
Wir haben in den nächsten Monaten und Jahren noch einige große Dinge vor uns. Wir werden das machen: Wir
werden in einer Art und Weise an die Strukturen herangehen,
({7})
die deutlich über das hinausgeht, was in den letzten Jahren gemacht worden ist.
Wir haben heute Bereiche, die nicht mehr transparent
sind: In der Selbstverwaltung haben sich Strukturen etabliert, die es uns unmöglich machen, die Dinge, die dort
ablaufen, politisch beurteilen zu können. Wir müssen
uns zwar politisch dafür gerademachen - wir werden für
das, was da gemacht wird, beschimpft -; aber wenn man
in eine Diskussion darüber einsteigt und die Selbstverwaltungsstrukturen hinterfragt - das haben wir gestern in
der Anhörung plastisch erleben dürfen -,
({8})
dann wird geblockt und gemauert. Wir sind nicht bereit,
das länger hinzunehmen.
({9})
Wir gehen bei der nächsten gesetzgeberischen Anstrengung sicherlich daran, dort für erheblich mehr Transparenz zu sorgen.
Gestatten Sie mir einige Sätze zum Thema Kostenerstattung. Dazu standen heute abenteuerliche Dinge in der
Presse. Es geht uns wirklich nicht darum, hier einen
Prinzipienwechsel zu erreichen.
({10})
Es geht nicht darum, vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungsprinzip zu wechseln, auch nicht morgen. Wir
müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil
der Versicherten eine Transparenz der Kosten wünscht.
Wir wollen es ihnen ermöglichen, in ein Kostenerstattungssystem einzusteigen, ohne dass sie dafür Strafe
zahlen müssen. Wir wollen die Strafbewehrung der Kostenerstattungstarife, die heute vorgesehen ist, beseitigen.
({11})
Wir wollen dort zu Strukturen kommen, die eine transparente Kostenerstattung ermöglichen, ohne dass Versicherte und Patienten übervorteilt werden. Wir wollen
eine Möglichkeit zur Eigenbeteiligung schaffen, damit
Eigenverantwortung - wir alle reden irgendwie immer
davon - wirklich gelebt werden kann. Ich glaube, das ist
ein richtiger Ansatz.
Ich fordere Sie auf, nicht nur mit Überschriften und
Kampfparolen zu arbeiten, sondern in den konstruktiven
Dialog mit uns einzusteigen: Wie kann dort ein vernünftiges System etabliert werden, das niemanden übervorteilt? Bei dieser Frage sollten Sie mitarbeiten; darüber
sollten wir diskutieren. Ich denke, da haben wir einiges
vor. Ich freue mich auf den Dialog.
Danke schön.
({12})
Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Wort zu dem, was Sie, Herr Koschorrek,
zum Thema Stuttgart 21 gesagt haben. Ich denke, es
sollte in diesem Hause Einigkeit darüber bestehen, dass
gewaltsame Einsätze gegen Kinder und Jugendliche
nicht hinnehmbar sind.
({0})
Ich denke, die Verantwortung für diese Einsätze liegt
beim baden-württembergischen Ministerpräsidenten
Mappus.
Zudem möchte ich einige Sätze zum Thema Transparenz sagen. Es ist schon heute möglich - das wissen
Sie -, eine Patientenquittung ausstellen zu lassen. Jeder,
der sie haben möchte, kann sie haben.
({1})
Sie wird leider viel zu wenig beantragt.
Aber ich denke, sie könnte zur notwendigen Transparenz beitragen Mit meinem Redebeitrag wollte ich mich
als bayerische Abgeordnete aber eigentlich mit der Rolle
der CSU in diesem ganzen Spiel beschäftigen. Die CSU
hat vor der Bundestagswahl zugesichert, dass es mit ihr
keine Kopfpauschale geben wird und
({2})
dass dieses unsoziale Konzept tot wäre. Dann hat dieselbe Partei, Herr Singhammer, dem Koalitionsvertrag,
der die Kopfpauschale euphemistisch als einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge bezeichnet, zugestimmt.
({3})
Damit startete erst eine Posse, die ihren vorläufig letzten
Höhepunkt in der heutigen Debatte hat. Lassen Sie uns
etwa ein Jahr zurückschauen. Im November 2009 erklärt
Horst Seehofer die Kopfpauschale, die eigentlich einige
Monate zuvor schon für tot erklärt worden war, für beerdigt. Im Februar 2010 legt Horst Seehofer sein Veto gegen die eigentlich schon lange tote und auch schon beerdigte Kopfpauschale ein. Ich zitiere aus der Rheinischen
Post:
Eine Umstellung der bestehenden, am Lohn orientierten … Arbeitnehmerbeiträge auf eine Pauschale
wird es mit mir nicht geben.
({4})
Angelika Graf ({5})
Im Juni 2010 verkündet Herr Dobrindt, dass die eigentlich schon sehr lange tote und beerdigte Kopfpauschale,
gegen die Herr Seehofer sein Veto eingelegt hatte, nun
wirklich endgültig vom Tisch sei. Im Juli 2010 stimmt
die CSU den Eckpunkten der Gesundheitsreform und damit einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen
- also Kopfpauschalen - zu.
({6})
Denn was ist es denn anderes, wenn ich eine Pauschale
erhebe, die pro Kopf berechnet wird? Das ist doch eine
Kopfpauschale.
({7})
- Selbstverständlich.
Wenn ich Herrn Rösler heute und auch in der Vergangenheit richtig verstanden habe, dann will er diese einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträge auch
noch weiterentwickeln. Das heißt, wir können abwarten,
wie sich das einmal so darstellen wird. Glaubwürdigkeit
sieht, denke ich, anders aus. Als bayerische SPD-Abgeordnete und auch als Landesvorsitzende unserer Seniorenarbeitsgemeinschaft hätte ich mich wirklich darüber
gefreut, wenn die Ankündigungen und Versprechungen
der CSU ernst gemeint gewesen wären.
({8})
Aber leider war es, wie ich denke, ein ziemlich erbärmliches Theater, das Sie aufgeführt haben.
Die Umsetzung Ihrer Pläne würde dramatische Auswirkungen vor allen Dingen auf die Rentnerinnen und
Rentner haben. Ich weiß nicht, ob Sie sich deren Situation wirklich vorstellen können.
({9})
Ich habe den Eindruck: eher nicht. Ich frage Sie: Wie
sollen die Rentnerinnen und Rentner nach diversen Nullrunden bzw. kaum steigenden Renten die nun unbegrenzt wachsenden Kopfpauschalen bezahlen?
({10})
Man rechnet im Jahre 2014 mit 16 Euro im Monat; das
macht knapp 200 Euro im Jahr. Es klingt ein bisschen
flapsig, aber ich sage Ihnen: Dafür muss eine alte Frau
ganz schön lange stricken.
Woher sollen die Rentnerinnen und Rentner mit kleinen Einkommen das Geld nehmen? Es ist doch jetzt
schon absehbar, dass die Kosten für die Versicherten
künftig in doppeltem Tempo steigen, weil Sie die Arbeitgeber aus der Solidarität entlassen. Die Folge wird sein,
dass keine Steuerungswirkung mehr da ist. Ganz abgesehen davon halte ich persönlich Arbeitgeberbeiträge
schon allein deshalb für wichtig, weil durch die Beschäftigung der Arbeitgeber mit der Situation der Arbeitnehmer gewährleistet ist, dass die Arbeitgeber im Betrieb
noch viel mehr auf die gesundheitliche Situation der Arbeitnehmer achten.
Man kann mit bloßem Auge sehen, dass die Arzneikosten unbegrenzt steigen werden, wenn Sie - wie wir
das gestern in der Anhörung mitbekommen haben - der
Pharmalobby die Geschenke nur so hinterherwerfen.
({11})
Sie sagen: Wenn die Zusatzbeiträge zu stark steigen,
dann könnten die Versicherten ja die Krankenkasse
wechseln. Sie können mir doch nicht erzählen, dass eine
Frau, die seit 50 Jahren in der AOK versichert und nun
alt, verwitwet, eventuell pflegebedürftig ist, die Kasse
wechselt. Das liegt außerhalb jeder Vorstellungskraft.
({12})
Frau Graf, kommen Sie bitte zum Ende.
({0})
Ich komme zum Ende. - Wenn Sie die viele Kritik,
die aus den verschiedenen Bereichen bezüglich dieses
GKV-Finanzierungsgesetzes vorgetragen wurde, nicht
ernst nehmen, dann müssen Sie sich fragen lassen, für
wen Sie eigentlich Politik machen. Ich denke, Sie werden die Quittung für das, was Sie hier tun, auch bekommen.
({0})
Das Wort hat Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit Ihrem Bericht aus dem Taxi anfangen, Frau Bunge. Sie waren in
der letzten Legislaturperiode Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Sie sind Ministerin eines Bundeslandes gewesen. Sie haben uns hier gesagt, Sie machen sich
darüber Sorgen, wie Sie die Kritik an der Gesundheitspolitik der Koalition unter die Leute bringen. Sie haben
gesagt: Seit dem, was ich heute Morgen im Taxi gehört
habe, mache ich mir keine großen Sorgen mehr;
({0})
denn der Taxifahrer hat es begriffen, so haben Sie gesagt, und äußerte, dass wir nun alle die Arztrechnung im
Voraus bezahlen sollen.
({1})
Verehrte Frau Bunge, ich weiß, dass wir politisch
komplett unterschiedliche Ausgangspositionen haben.
Wir haben eine komplett unterschiedliche Geschichte.
Ein Teil dieser Geschichte ist heute Morgen Gegenstand
der Debatte zu 20 Jahren deutsche Einheit gewesen.
Aber ich erwarte von einer ehemaligen Vorsitzenden des
Gesundheitsausschusses und von einer ehemaligen Landesministerin - auch wenn sie in einer anderen Partei ist -,
dass sie diese falsche Aussage richtigstellt;
({2})
denn es hat überhaupt keine Ankündigung gegeben, dass
die Kostenerstattung pflichtweise eingeführt wird. Es
wurde lediglich angekündigt, dass es eine Debatte darüber geben wird, ob eine Kostenerstattung als Option
gestärkt wird gegenüber dem, was jetzt Praxis ist. Mehr
ist nicht angekündigt worden.
({3})
Deswegen ist das, was Sie in dieser Debatte vortragen,
ein Beleg für die Art - Herr Lauterbach gehört auch zu
denen, die gesagt haben: Die Versicherten müssen demnächst in Vorkasse gehen -, wie Sie die Auseinandersetzung mit der Gesundheitspolitik der Koalition betreiben.
Sie versuchen jedes Verhetzungspotenzial zu nutzen.
Dabei schrecken Sie nicht davor zurück, Richtigstellungen zu unterlassen, die im parlamentarischen Umgang
der Fairness halber geboten wären.
({4})
Herr Kollege, es gibt mehrere Wünsche nach Zwischenfragen, und zwar seitens der Kollegin Bunge, der
Kollegin Bender und des Kollegen Lauterbach. Ich
würde sie alle nacheinander zulassen, aber in gebotener
Kürze.
Aber ich habe hinterher noch drei Minuten vierzig?
({0})
Kollege Henke, können Sie mir zustimmen, dass der
Begriff „Kostenerstattung“ sehr sperrig ist? Ich habe mir
einen Kopf gemacht: Wie willst du den Bürgerinnen und
Bürgern erläutern, was dahintersteckt, welche Gefahren
sich ergeben, dass sie erst bezahlen müssen? Ich war
überrascht, dass heute früh der Taxifahrer gleich das Wesentliche begriffen hatte und mir das kurz vor dem Aussteigen erzählte. Ich habe den Änderungsantrag, den der
Minister gestern in den Medien angekündigt hat, noch
nicht vorliegen. Ich konnte also erstens zeitlich und
zweitens inhaltlich keine große Aufklärung betreiben,
aber das Prinzip der Kostenerstattung hat er doch wohl
richtig erkannt.
({0})
Frau Bender möchte doch keine Zwischenfrage stellen. Dann erteile ich das Wort Herrn Lauterbach.
({0})
Sollen wir nicht erst einmal die gestellte Frage behandeln?
Nein. Ich hatte gesagt, alle drei nacheinander. Ich
gehe davon aus, dass Sie ein gutes Gedächtnis haben,
dass Sie sich das merken können. - Frau Bender zieht
ihre Zwischenfrage doch nicht zurück.
Herr Kollege Henke, kann es sein, dass Ihnen entgangen ist, dass der von Ihnen politisch unterstützte Bundesminister für Gesundheit gestern in einem Interview
kundgetan hat, er strebe eine Systemangleichung von
PKV und GKV an? Es sei langfristiges Ziel, die Kostenerstattung für alle zur Regel zu machen. Stimmen Sie
mir deswegen zu, dass die Lektüre des Pressespiegels
manchmal der politischen Einsichtsfähigkeit dienlich
sein kann?
({0})
Wer ist der dritte Fragesteller?
Der dritte Fragesteller ist uns abhanden gekommen.
({0})
Vielen Dank. - Auch die Stimme nicht.
Verehrte Frau Bunge, ich glaube, der Terminus „Vorkasse“ ist gestern in dem ministeriellen Interview gefallen. Jedenfalls ist das dem Pressespiegel von heute zu
entnehmen. Er hat sich offensichtlich bemüht, den sperrigen Begriff „Kostenerstattung“ durch den Begriff
„Vorkasse“ zu ersetzen.
Für die Union kann ich Ihnen sagen, dass wir eine obligate, pflichtweise Einführung der Vorkasse als generelles System, das für alle gilt, für das man sich nicht optional entscheiden kann, nicht anstreben. Wir wollen das
nicht.
({0})
Das hat der Kollege Singhammer eben deutlich gemacht.
Da sind auch die Ausführungen des Ministers sehr klar
gewesen. Das wird es vielleicht als Teil der reinen Lehre
der FDP geben. Das weiß ich noch nicht so genau, darüber müssen wir noch einmal debattieren. Jedenfalls ist
nicht das Ziel der Politik dieser Bundesregierung, auch
nicht der Politik dieser christlich-liberalen Koalition,
eine Vorkasse für alle - das ist Ihr Vorwurf - einzuführen. Als Wahlrecht ist das etwas anderes.
({1})
Ich bin mit der Antwort auf die Frage von Frau Bunge
fertig. Daher könnte sich Frau Bunge jetzt eigentlich setzen.
Frau Bunge entscheidet das sicher selbst.
Das entscheidet sie selbst?
Wenn Sie ihre Frage zu Ende beantwortet haben.
Ja, damit bin ich fertig.
Zur zweiten Frage. Ich bin natürlich der Meinung,
dass man die Presse immer aufmerksam studieren sollte.
({0})
Ich glaube, dass ich, was die Systemangleichung von
PKV und GKV angeht, à jour bin. Wenn Sie die Systemangleichung von PKV und GKV als Ziel dieses Gesetzentwurfs bezeichnen, dann verstehe ich überhaupt nicht
mehr, wieso Sie sich über Ungleichbehandlungen und
Unterschiede zwischen PKV und GKV so aufregen.
({1})
Dann müssten wir auf einem Weg sein, die Unebenheiten zu beseitigen. Das ist aber nicht das, was Sie sonst
kritisieren. Insofern antworte ich mit einer Gegenfrage:
Glauben Sie nicht auch, dass man manchmal etwas widerspruchsfreier argumentieren sollte?
Es gibt keine nachklappenden Zwischenfragen zu
Zwischenfragen. Jetzt, Herr Kollege, geht es weiter mit
Ihrer Rede. Sie haben noch drei Minuten zweiunddreißig.
Meiner Ansicht nach ist Ihre Darstellung angesichts
der bestehenden Probleme ein bisschen zu kleines Karo.
Kern dieser Probleme sind der demografische Wandel,
eine veränderte Altersschichtung in der Bevölkerung
und ein Zuwachs an Herausforderungen, die wiederum
mit den Krankheitsentwicklungen, die sich aus der veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung ergeben,
zusammenhängen. Ich spare es mir, das in allen Einzelheiten darzulegen. Ich will nur einige Beispiel nennen:
In den nächsten 50 Jahren werden wir bei der altersbedingten Makuladegeneration - das ist eine Krankheit,
die zu einer zentralen Blindheit führen kann - eine Zunahme um 125 Prozent verzeichnen; bei der Osteoporose erwarten wir in den nächsten 30 Jahren einen Zuwachs um 23 Prozent; bei der rheumatoiden Arthritis
müssen wir mit einer Zunahme um 18 Prozent rechnen.
Das ist doch die Herausforderung.
({0})
Die Frage ist: Wie setzen Sie sich damit auseinander?
Ich finde, Sie starten mit einer falschen Analyse. Sie versuchen, die Menschen möglichst bange zu machen. Sie
sagen: Die Kopfpauschale steigt und steigt und wird allein bei den Arbeitnehmern abgeladen. Aber genau das
ist nicht der Fall; denn es gibt eine Belastungsgrenze.
Diese Belastungsgrenze führt dazu, dass der Steuerstaat
dort einspringt, wo bisher der Beitragszahler bis zur Beitragsbemessungsgrenze belastet wurde. Das bedeutet,
dass das Spektrum derer, die sich an dem solidarischen
Ausgleich, an diesem Zusatzbeitrag beteiligen, zunimmt
und nicht abnimmt. Deswegen, auch wenn Sie immer
wieder das Gegenteil behaupten, ist dies eine größere solidarische Leistung des Steuerstaates als das, was Sie
planen.
({1})
Ich glaube auch, dass Sie mit falschen Ankündigungen operieren. Frau Ferner, Sie haben gesagt - das wollen wir einmal festhalten -: Wir werden das 2013 alles
wieder rückgängig machen.
Ich erinnere an die Einführung des demografischen
Faktors in der Rentenversicherung durch Norbert Blüm
in der bis 1998 amtierenden Regierung unter Helmut
Kohl. Sie haben einen Wahlkampf mit dem Versprechen
gemacht, den demografischen Faktor, den wir durchgesetzt hatten, wieder abzuschaffen. Sie haben dieses Versprechen 1999 gehalten und haben diesen demografischen Faktor 1999 wieder abgeschafft.
Dann hat sich die Finanzlage der Rentenkasse verschlechtert, und die Rentenkasse ist in Schwierigkeiten
gekommen. Dann hat die rot-grüne Schröder-Regierung
den Nachhaltigkeitsfaktor, der nichts anderes war als die
bekehrte rot-grüne Variante des demografischen Faktors,
2004 mit dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz wieder eingeführt. Das ist davon zu halten, wenn Sie sagen, wir machen das rückgängig. Das, was wir hier leisten, ist im
Grunde ein Stück demografischer Faktor für die Verlässlichkeit der Krankenkasse.
({2})
Das brauchen wir, damit wir ein zuverlässiges Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenkasse geben
können.
Übrigens, ein Jahr vor Verabschiedung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes war es die rot-grüne Regierung, die
den Satz von 7,9 Prozent für die Arbeitnehmer und von
7,0 Prozent für die Arbeitgeber eingeführt hat. Sie haben
damals die Parität verlassen. Das war nicht die Entscheidung einer Merkel-Regierung, sondern es war die rotgrüne Schröder-Regierung, die die Parität aufgegeben
hat.
Letzter Punkt: Ich glaube, dass Sie in der Tat eine fehlende Alternative auszeichnet. Das, was Sie immer wieder als Bürgerversicherung ankündigen, werde ich bis
auf Weiteres als Schildbürgerversicherung bezeichnen;
denn mir bleibt völlig rätselhaft, wie Sie dabei die
Finanzmittel verfassungskonform aufbringen wollen, die
Sie brauchen, um all das zu vermeiden, was Sie bei uns
kritisieren und was Sie nicht haben wollen.
Meine Bilanz ist also: falsche Analyse, falsche Ankündigungen, fehlende Alternative. Mein Prädikat: flaue
Arbeitsleistung bei der Opposition.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Die Kollegin Dr. Carola Reimann hat jetzt für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das vorliegende GKV-Finanzierungsgesetz
trägt auf den ersten Blick einen passenden Namen; denn
es befasst sich nur mit Finanzierungsfragen. Es geht Ihnen allein um das Stopfen von Finanzlöchern durch ein
halbherziges Sparpaket auf der einen und ein doppeltes
Abkassieren der Versicherten auf der anderen Seite.
Es ist wirklich bemerkenswert: Uns liegt eine Gesundheitsreform vor, die kein einziges Strukturproblem
in unserem Gesundheitswesen anpackt. Dabei hat der
Kollege Koschorrek - er schwätzt zwar gerade - gesagt,
das sei das größte Paket der Reform. Fast 70 Seiten, aber
kein Wort von Ärztemangel im ländlichen Raum, kein
Wort zu den Schnittstellenproblematiken zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, kein Wort zu Wartezeiten in Arztpraxen, kein Wort zu dem Hauptproblem
in unserem Gesundheitswesen, nämlich der widersinnigen Ungleichbehandlung gesetzlicher und privater Krankenversicherungen.
({0})
Herr Minister Rösler, mit dieser Reform lösen Sie
kein einziges der Probleme in unserem Land. Diese Reform bringt uns keinen Schritt weiter.
({1})
Sie ist in Wahrheit ein Rückschritt; denn das Wenige, das
Sie regeln wollen, geht in eine völlig falsche Richtung
und ist obendrein noch handwerklich schlecht gemacht.
So gesehen, Herr Minister, ist der ausführliche Titel Ihres „Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“
eher ein Fall für Ihre Kollegin Aigner; denn hier handelt
es sich ganz offensichtlich um einen klaren Fall irreführender Produktbeschreibung.
({2})
Das, was Sie den gesetzlich Versicherten zumuten, ist
weder nachhaltig noch sozial ausgewogen, sondern das
komplette Gegenteil. Das schätzt die Bevölkerung ähnlich ein. Nach der aktuellen Politbarometererhebung
glauben 5 Prozent der Bevölkerung - das ist hier schon
einmal gesagt worden -, dass damit Finanzierungsprobleme gelöst werden. 95 Prozent der Bevölkerung fragen
sich zu Recht, was eine Reform bringt, die sich nicht mit
der Lösung von Strukturproblemen befasst.
({3})
Wenn man daran nichts ändert, ist die nächste Beitragssatzerhöhung vorprogrammiert. Das heißt in diesem
Fall: massiv steigende Zusatzbeiträge.
Damit sind wir beim Punkt der sozialen Ausgewogenheit. Ist es denn sozial ausgewogen, wenn künftig alle
Kostensteigerungen auf die Versicherten abgewälzt werden?
({4})
Ist es sozial ausgewogen, wenn diese Steigerung in Form
einer stetig anwachsenden Kopfpauschale allein von den
Versicherten erhoben wird? Ist es sozial ausgewogen,
wenn der sogenannte Sozialausgleich erst bei 2 Prozent
des Bruttoeinkommens einsetzt? Wohl nicht, meine Damen und Herren.
Auch mit der Bezeichnung „Sozialausgleich“ müsste
sich Frau Aigner beschäftigen; denn er ist nichts anderes
als Etikettenschwindel.
({5})
Was ist denn mit dem Sozialausgleich, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag bei null liegt, die jeweilige
Kasse trotzdem einen kassenindividuellen Beitrag verlangt? Was ist denn, wenn dieser Beitrag höher ist als der
durchschnittliche Zusatzbeitrag? Dann gibt es keinen
Sozialausgleich. Dieser Pseudo-Sozialausgleich dient in
Wahrheit nur dazu, die sozialpolitische Schieflage Ihrer
Reform zu kaschieren. Sie können den Begriff „Sozialausgleich“ natürlich mit blumigen Worten - das ist hier
schon versucht worden - noch tausendmal erklären. Es
bleibt dabei: Diese Reform ist der Ausstieg aus dem solidarischen System und komplett unsozial.
({6})
Die Reform ist auch unsozial, weil Sie die Versicherten reichlich zur Kasse bitten, während sich andere Akteure die Hände reiben können. Von der Pharmalobby
will ich heute gar nicht sprechen; sie ist mit dem
AMNOG bereits bedient.
Über das GKV-Finanzierungsgesetz hingegen können
sich besonders die privaten Krankenversicherungsunternehmen freuen. Schwarz-Gelb macht es nämlich möglich, dass die PKV demnächst dank Fristverkürzung eine
stolze Zahl an gut verdienenden Neukunden begrüßen
darf. Dieses „PKV-Neukunden-Akquise-Gesetz“ kostet
die gesetzliche Krankenversicherung schlappe 500 Millionen Euro.
({7})
Das ist aber erst der Anfang. Demnächst werden auch
noch die Wahltarife in der GKV verboten und private
Zusatzversicherungen in der Pflege eingeführt. Und
schon hat die PKV zwei weitere lukrative Geschäftsfelder.
({8})
In diesem Zusammenhang hat der Minister den Begriff „Wettbewerb“ benutzt. Hier kommt wieder einmal
Ihr absurder Wettbewerbsbegriff zum Vorschein. Dort,
wo der Wettbewerb Ihrer Klientel - das sind die Gutverdienenden - dient, da wird er forciert, und dort, wo die
Lobby Einbußen erwartet, da werden Schutzzäune errichtet. Die Folge sind weitere Wettbewerbsverzerrungen und zusätzliche Ineffizienzen im System.
({9})
Dieses Gesetz löst keine Probleme, es schafft zusätzliche. Der gravierendste Fehler aber ist, dass das Gesetz
die Solidarität, einen der Hauptpfeiler unserer gesetzlichen Krankenversicherung, untergräbt. Sie werden dieses Gesetz durchdrücken, schon allein deswegen, um Ihr
Gesicht zu wahren.
({10})
Aber spätestens 2013 wird auch über dieses Gesetz abgestimmt, und dann wählt nicht die Lobby, sondern dann
wählen die Bürgerinnen und Bürger. Spätestens dann
wird es Geschichte sein.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3040 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Sie sind also
einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Harald Koch, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zinssätze für Dispositions- und Überziehungskredite verbrauchergerecht deckeln
- Drucksache 17/2913 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Finanzausschuss
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dr. Gerhard Schick, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherinnen und Verbraucher vor überhöhten Überziehungszinsen schützen
- Drucksache 17/3059 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Viele Menschen in diesem Land ärgern sich
über hohe Dispozinsen. Jeder Sechste steckt in den Miesen. Ich nehme an, auch Sie haben die ganz aktuellen
Zahlen zur Kenntnis genommen, die belegen, dass die
Zahl der Verbraucherinsolvenzen in einem Jahr über
10 Prozent gestiegen ist. Im letzten Halbjahr war der Anstieg sogar noch stärker. Das heißt, auch dieses Thema
wird an Bedeutung zunehmen.
Auch andere aktuelle Zahlen sprechen für sich.
777 Millionen Euro haben die Bankkunden allein in einem guten Jahr durch überhöhte Dispozinsen, durch Dispoabzocke, verloren. Denn die Banken geben die niedrigen Leitzinsen, zu denen sie sich selbst Geld leihen
können, nicht an ihre Kunden weiter. Sie alle wissen,
dass die Europäische Zentralbank im Zuge der Finanzkrise den Leitzins deutlich gesenkt hat. Während die
Banken sich Geld also für nur 1 Prozent leihen können,
({0})
verlangen sie von ihren Kunden durchschnittlich über
12 Prozent, wenn sie ihren Dispo nutzen. Einige Banken
verlangen von ihren Kunden sogar fast 17 Prozent, wenn
sie ihren Dispo nutzen. Wir als Linke finden das unverschämt. Wir wollen diese Dispoabzocke beenden.
({1})
Das Problem verschärft sich dadurch, dass die Betroffenen vor allem Erwerbslose und Geringverdiener und
Geringverdienerinnen sind; denn diese haben keine
Rücklagen. Der Dispo ist für sie häufig die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Hinzu kommt, dass viele
Menschen die finanzielle Notlage, in die sie durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise geraten sind, durch den
Dispo zu überbrücken versuchen. Das heißt im Umkehrschluss, dass sich die Banken zum Teil auf Kosten
von Erwerbslosen und Geringverdienern sanieren. Das
halten wir als Linke wirklich für skandalös.
({2})
Meine Damen und Herren, warum gehören denn die
Dispokredite - übrigens nicht erst seit der Finanzkrise zu den teuersten Krediten? Erstens ist das deshalb so,
weil davon, wie gesagt, vor allen Dingen Menschen betroffen sind, die den Banken ausgeliefert sind, die keine
Lobby haben - in den letzten Wochen und Monaten haben wir ja sehr deutlich gesehen und gelernt, dass bei
Schwarz-Gelb vor allen Dingen die Lobby zählt -,
({3})
zweitens, weil die Banken ihre Allmacht ausnutzen, und
drittens, weil es Schwarz-Gelb bislang versäumt hat,
dem Wucher beim Dispo ein Ende zu bereiten.
Die Fraktion Die Linke hat erneut einen Antrag eingebracht, mit dem wir die Zinssätze für Dispokredite begrenzen wollen. „Erneut“ sage ich: Wir haben dieses
Problem schon in der letzten Legislaturperiode thematisiert. Wir fordern, die Zinsen für Dispo- und Überziehungskredite zu deckeln. Wir haben uns dabei für das
Modell entschieden, das die Verbraucherzentrale Bremen vorgeschlagen hat, ein Modell, das schon heute bei
Zahlungsverzug gilt. Wenn es nach uns ginge, dann läge
der maximale Zinssatz für den Dispo derzeit bei 5,12 Prozent
({4})
und die Überziehungszinsen, die dann anfallen, wenn ein
Konto überzogen wird, ohne dass ein Dispo eingeräumt
war, bei maximal 8,12 Prozent.
({5})
Meine Damen und Herren, Zinsen müssen angemessen sein. Zinsexzesse auf Verbraucherkosten darf es
nach Auffassung der Linken nicht geben. Deswegen
müssen wir der Dispoabzocke ein Ende machen. Es wäre
schön, wenn sich die Koalition dieser Argumentation anschließen würde.
({6})
Nach unserer Auffassung sind die überhöhten Dispozinsen in keiner Weise zu rechtfertigen. Die Argumentation
der Kreditinstitute halte ich für nicht zielführend; darüber können wir diskutieren.
Das Problem ist vielmehr die mangelhafte Regulierung. Das sehen auch Vertreterinnen und Vertreter der
Regierungskoalition so. Frau Aigner, die Verbraucherministerin, hat im Handelsblatt vom 15. September dieses Jahres mitgeteilt, es könne nicht sein, dass sich Banken auf Kosten der Verbraucher sanieren; das sagen auch
wir. Ich habe auch Sie, Herr Professor Schweickert von
der FDP, so im Ohr, dass Sie in der letzten Debatte eine
ähnliche Argumentation vorgetragen haben. Auch hier
gilt, wie bei vielen verbraucherpolitischen Themen, bei
denen wir uns in der Zielstellung einig sind: Es zählen
die Taten und nicht die Ankündigungen.
({7})
Die Dispoabzocke reiht sich in eine Palette von Missständen ein, die auch zwei Jahre nach der Pleite von
Lehman Brothers immer noch ungehindert fortbestehen,
da die Koalition bis jetzt nicht agiert hat. Dies beginnt
mit der fehlenden Zuständigkeit der Finanzaufsicht für
den Verbraucherschutz. Es geht weiter mit dem Verkaufsdruck, der auf den Beschäftigten lastet, und der
mangelnden oder nicht erfolgten Einführung der Honorarberatung. Außerdem geht es um die mangelhafte Kostentransparenz, die wir bei vielen Finanzprodukten zu
beklagen haben; das gilt sogar für die staatlich geförderte Riester-Rente. Noch immer gibt es keine Regulierung von Finanzprodukten, die einfach nicht auf den
Markt gehören. Wir als Linke fordern hier einen FinanzTÜV.
Dem, meine Damen und Herren - ich komme zum
Schluss -, müssen Sie, muss die Koalition ein Ende machen. Ich hoffe, dass die Verbraucherschutzpolitiker den
Ankündigungen, die sie hier im Plenum gemacht haben,
tatsächlich Taten folgen lassen. Eine Bundesregierung
muss zu mehr in der Lage sein als nur zu Ankündigungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Marco Wanderwitz für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was sich derzeit rund um das Thema Banken und Finanzmarkt dreht, wird so schön als „vermintes Gelände“
bezeichnet. Die Finanzkrise steckt uns allen, glaube ich,
in den Knochen.
Dispozinssätze in Deutschland von durchschnittlich
12,5 Prozent - in der Spitze von fast 17 Prozent - sind
alles andere als ein Pappenstil. Der Leitzinssatz der Europäischen Zentralbank befindet sich seit geraumer Zeit
auf einem historischen Tief von glatt 1 Prozent. Diesen
niedrigen Geldbeschaffungszinssatz geben die Banken
nicht an ihre Kunden weiter, so der naheliegende
Schluss. Der Vorwurf wiegt schwer, da das Volumen der
Überziehungskredite in Deutschland rund 40 Milliarden
Euro beträgt.
Allerdings relativiert sich manches, wenn man genauer hinschaut, und das sollte man auch bei diesem
Punkt tun. Die Höhe des Dispozinssatzes einer Bank hat
nur bedingt mit dem Refinanzierungszinssatz zu tun. Sie
hat auch mit den Refinanzierungsstrukturen der Bank zu
tun und natürlich mit einer betriebswirtschaftlichen Risikoeinschätzung des Produktes Dispositionskredit.
Dispokredite - das sollten wir uns an dieser Stelle vor
Augen führen - sind ihrem Wesen nach kurzfristig nutzbare Angebote zur Steigerung der finanziellen Flexibilität; so sind sie gedacht. Der Verbraucher kann sich jederzeit sehr schnell innerhalb eines vorab eingeräumten
Limits mit Geld versorgen. Er kann eine Kreditsumme in
Anspruch nehmen, ohne sich einer nochmaligen Risikoprüfung zu unterziehen und ohne zusätzliche Sicherheiten stellen zu müssen.
({0})
Diese Flexibilität, sowohl im Hinblick auf den Zeitpunkt
der Inanspruchnahme und auf die tatsächliche Kredithöhe innerhalb des Limits als auch der, anders als bei einem Ratenkredit, unbestimmte Zeitpunkt der Rückführung, ist eine Summe von zusätzlichen Risikofaktoren
für die Bank, und diese fließen in die Gestaltung der
Konditionen ein. Folglich sind Dispozinssätze höher als
Zinssätze bei anderen Kreditarten, die beispielsweise besichert sind.
Die bloße Bereitstellung eines Dispokredits bindet
unabhängig von seiner Inanspruchnahme Eigenkapital
der Bank, das nicht anderweitig gewinnbringend verwendet werden kann. Diese bloße Bereitstellung kostet
den Verbraucher überhaupt nichts. Deswegen sind die
Disporahmen üblicherweise eher gering gehalten. Sie
sind nach meinem Kenntnisstand in letzter Zeit eher
nach unten korrigiert worden.
Darüber hinaus sind Dispokredite im Gegensatz zu
beispielsweise lang laufenden Immobilienkrediten
grundsätzlich unbesichert und erhöhen das Ausfallrisiko
der Bank. Zehnjährige Immobiliendarlehen gibt es in
Deutschland bei der Mehrzahl der Banken aktuell für unter 4 Prozent inklusive der Zinsbindung über die gesamte Laufzeit.
Der Dispokredit ist also aus all den genannten Gründen der teuerste unter den Krediten. Hohe Flexibilität hat
einen höheren Preis.
({1})
Die Inanspruchnahme von Dispokrediten soll eben nicht
zum Dauerzustand werden; so ist der Dispo nicht angelegt. Wer längerfristigen oder größeren Geldbedarf hat,
sollte einen Ratenkredit oder einen anderweitigen regulären Kredit mit seiner Bank vereinbaren; denn diese
weisen deutlich niedrigere Zinssätze auf.
Die Stiftung Warentest hat aufgezeigt, dass die
Spanne sehr groß ist, nämlich zwischen 7 und
17 Prozent. Das fordern die Banken aktuell. Wie es zu
einem solchen Auseinanderklaffen kommt, ist in der Tat
sehr schwer nachvollziehbar. Ein Argument, das angeführt wird, ist, dass die Direktbanken die niedrigsten
Zinsen haben und dass das etwas mit dem nicht vorhandenen Filialnetz zu tun hat. Das kann bis zu einem gewissen Punkt überzeugen. Es gibt aber beispielsweise einige Sparkassen, die sich im Bereich von 9 Prozent
bewegen. Sie haben üblicherweise ein großes Filialnetz.
Es muss also mehr dahinter sein. Ich glaube, es ist unter
anderem die unternehmerische Entscheidung, wie man
Risiken im Bereich des Dispositionskredits bewertet.
Im Juni haben wir hier im Hohen Haus die Umsetzung der Europäischen Verbraucherkreditrichtlinie diskutiert und haben am Ende das deutsche Gesetz beschlossen. „Transparenz bei den Zinssätzen“ war das
Leitmotiv dieser Gesetzgebung. Wichtig ist, dass jeder
vorab weiß - das ist gewährleistet -, was im Fall der
Fälle auf ihn zukommt. Der Bundesgerichtshof hat den
Schutz der Verbraucher in einem Urteil vom letzten Jahr
seinerseits ebenfalls besonders betont. Für Zinsanpassungsklauseln gelten die allgemeinen Grundsätze für
Preisanpassungsklauseln, wonach das Äquivalenzprinzip zu beachten ist und die Bank nicht einseitig begünstigt werden darf.
Die Ankündigung von Verbraucherschutzministerin
Ilse Aigner, zum Zinsanpassungsverhalten der Banken
nun eine ausführliche Studie durchführen zu lassen,
kann ich nur begrüßen; denn dort sehe ich die Baustelle.
Darüber können und sollten wir aber sprechen, nachdem
wir das Ergebnis dieser Studie erhalten haben. Dazu ist
das, was Stiftung Warentest hier getan hat, allein zu wenig.
Bis dahin und darüber hinaus gilt aber auch Folgendes: Durch die Auswertung von Stiftung Warentest werden verschiedene bestehende Zinssätze aufgezeigt. Es
wird nicht gezeigt, ob und in welchem Maße die teuersten der Angebote überhaupt genutzt werden. In Deutschland herrscht ein großer Wettbewerb unter den Banken.
Die Verbraucher sollten die Zahlen von Stiftung Warentest daher zum Anlass nehmen, die Angebote ihrer Bank
mit anderen Angeboten zu vergleichen und gegebenenfalls einen Wechsel in Erwägung zu ziehen. Jeder hat die
Möglichkeit, zu einer Bank zu wechseln, die ihm im
Rahmen dieser Spanne, die wir gesehen haben, günstigere Konditionen einräumt. Die Höhe des Dispozinssatzes ist dabei ein Baustein von vielen. Für viele, für die
große Mehrzahl, ist er kein Baustein, weil sie ihr Konto
schlicht und einfach im Haben führen.
Ein paar Sätze zum Schluss dazu, was Kollegin Lay
sagte - Stichpunkt: Es gibt nun viel mehr, die davon betroffen sind. Ich habe mir just vorhin die aktuellen Arbeitslosenstatistiken für meinen Wahlkreis angeschaut.
Ich kann nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante!
Man nehme einmal die Zahlen von vor der Wirtschaftskrise und schaue sich die Zahlen von jetzt an. Danach
prüfe man noch einmal, ob das, was man sagt, stimmt.
Bei meinem Wahlkreis stimmt es nicht, und der liegt
auch in Sachsen.
Ich glaube, uns allen wird durch die Dinge, die wir
jetzt beispielsweise bei der HRE wieder sehen, und vieles mehr die Zornesröte ins Gesicht getrieben. Wir als
Politiker haben aber nicht die Aufgabe, Öl ins Feuer zu
gießen, und das auch noch in der möglichst pauschalsten
Art und Weise, sondern wir haben den wenigen Unverbesserlichen, die am Ast der Wirtschaftsordnung sägen,
das Feuer aus der Hand zu nehmen. Wir als Koalition
versuchen, das zu tun. Ich möchte Sie herzlich bitten, damit aufzuhören, Öl ins Feuer zu gießen.
({2})
Das Wort hat nun Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! Ich
glaube, die derzeit absolut überzogenen Zinsen für die
Dispo- und Überziehungskredite finden wir über alle
Fraktionen hinweg nicht in Ordnung. Ich glaube, diese
Feststellung können wir hier im Parlament für alle gemeinsam treffen.
({0})
Nur bei der Antwort auf die Frage, was aus dieser Erkenntnis folgt, wird unsere Bewertung sicherlich sehr
unterschiedlich sein.
Dass die Banken derzeit Geld zu einem Zinssatz von
lediglich 1 Prozent bekommen, wenn sie es sich leihen,
während sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern,
die ihr Konto überzogen haben, im Gegenzug Zinssätze
von 6 bis 17 Prozent in Rechnung stellen, ist nicht in
Ordnung. Jeder sechste Bankkunde steht mit seinem
Konto in den Miesen. Die Europäische Zentralbank hat
die Leitzinssätze von 4,25 Prozent im Oktober 2008 auf
1 Prozent - ich habe es gerade erwähnt - im Mai 2009
gesenkt, und dort steht dieser Leitzins heute noch immer.
An die Verbraucherinnen und Verbraucher werden
niedrige Guthabenzinsen weitergereicht, gleichzeitig
werden von ihnen hohe Überziehungszinsen verlangt.
Beides ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher ein
deutlicher Nachteil; das müssen wir so sagen.
({1})
Es hat den Anschein, als würden die Banken die hohen Dispozinsen zum Gegenstand des Sanierungsprogramms erklären, um den Verlust, den sie aus der Krise
erlitten haben, wieder auszugleichen. So geht es aber
nicht. Das können und sollten wir auf keinen Fall zulassen.
({2})
- Ich nehme zur Kenntnis, dass auch Sie von der Koalition mir hierin zustimmen.
Jeder Prozentpunkt, um den der Zinssatz für Dispound Überziehungszinsen nicht gesenkt wird, kostet die
Verbraucherinnen und Verbraucher 416 Millionen Euro
im Jahr, so die Stiftung Warentest. 416 Millionen Euro
im Jahr, bezogen auf das aktuelle Kreditvolumen, das
laut der Bundesbank mit 41,6 Milliarden Euro - der Kollege hat es gesagt - ausgewiesen ist.
Der Zentrale Kreditausschuss verteidigt selbstverständlich die hohen Zinsen und sagt, das sei mit dem flexiblen Kreditrahmen und mit der Notwendigkeit der Eigenkapitalbildung zu begründen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das zur Begründung herhalten
soll, dann frage ich mich, wie es zu Unterschieden zwischen 6 und 17 Prozent kommen kann. Das ist eine an
den Haaren herbeigezogene Begründung. Auf die sollten
wir uns nicht verlassen, wenn wir uns über die Frage unterhalten: Was lernen wir denn aus der Situation, und
gibt es einen akuten Handlungsbedarf?
Die Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen im
Moment doppelt. Auf der einen Seite zahlen sie für die
überzogenen Zinsen, und auf der anderen Seite haben sie
bereits als Steuerzahlende für die staatlichen Unterstützungen bezahlt, die wir ja teilweise denselben Banken,
die jetzt die hohen Zinsen nehmen, vorher in die Tasche
gesteckt haben. Sie zahlen also auf der einen Seite als
Steuerzahler für die Unterstützung der Banken, und auf
der anderen Seite als „Melkkuh“, wenn ihnen hohe
Überziehungszinsen zugemutet werden.
Wir haben seit Juni dieses Jahres mit der Verbraucherkreditrichtlinie das Erfordernis, dass die Banken ihre
Anpassungskriterien offenlegen. Aber - das müssen wir
klar sagen - wenn es so ist, dass die Differenz zwischen
den Überziehungszinsen und den Referenzzinsen so
deutlich wie im Moment ist, dann ist das ein verbraucherunfreundliches Verhalten, das nicht zum Maßstab
für die künftige Entwicklung der Dispozinsen genommen werden darf. Deshalb müssen wir hier sehr genau
überlegen, ob die Verbraucherkreditrichtlinie an dieser
Stelle genügt, um zum jetzigen Zeitpunkt die Differenz
zu bestimmen.
Deshalb fordern ja auch alle Bundesländer die Ministerin für Verbraucherschutz auf, staatliches Eingreifen
hier nicht länger auszuschließen. Sie sagte: „Die Zinssenkungen müssen unverzüglich an die Kunden weitergegeben werden“. Die Kreditinstitute dürften sich nicht
länger auf Kosten der Verbraucher sanieren. Ferner sagte
sie: Die Institute sollen endlich die Leitzinssenkungen
weitergeben. „Das ist nicht akzeptabel“. Da denkt man
sich: Wunderbar, die Verbraucherschutzministerin will
da was tun.
Die beiden Zitate, die ich eben gebracht habe, stammen aus dem Jahr 2009. Da fragt man sich: Was ist passiert zwischen dem Zeitpunkt der Erkenntnis der Ministerin in 2009 und der Situation, die wir am heutigen Tag
haben? Da nehmen wir wahr, dass die von der Ministerin
als inakzeptabel beschriebene Situation bis heute keine
Veränderung erfahren hat, und wir nehmen auch wahr,
dass die Verbraucherschutzministerin ihre Regelungskompetenz in diesem Bereich nicht wahrnimmt, sondern
sich wie immer in Ankündigungen, in tollen Worten, in
Entsetztsein erschöpft, aber mal wieder nicht in der Lage
ist, irgendeine Regelung auf den Weg zu bringen. Die
Leidtragenden sind die Verbraucherinnen und Verbraucher, und das kann es nicht sein.
({3})
Deshalb fordern wir die Ministerin ganz nachdrücklich auf, an dieser Stelle mit ihrer Studie nicht noch mehr
Zeit zu vertun. Wir haben doch von der Stiftung Warentest genau eine solche Studie vorliegen, und zwar nicht
nur für dieses Jahr, sondern auch noch für die letzten
Jahre. Da brauchen wir jetzt nicht noch mehr Zeit ins
Land gehen zu lassen, bis wir wissen, dass es hier einen
Handlungsbedarf gibt und wie sich das alles entwickelt
hat. Deshalb sagen wir: Ran, entscheiden, vorlegen!
Die Frage, ob geltendes Recht reicht oder nicht - das
will ich noch zum Schluss sagen -, soll auch Teil der
jetzt vorzulegenden ausführlichen Studie sein. Dazu
muss man sagen: Ob das geltende Recht das abdeckt
oder nicht, dazu brauchen wir keine mehrmonatige Erarbeitung einer Studie. Das müssen die Juristen aus einem
Ministerium einem in wenigen Stunden sagen können.
Diese Erwartungshaltung an gutbezahlte Juristen kann
man haben. Das können die auch, wir brauchen also
keine Zeit zu vergeuden.
Wir haben Grund genug, die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht länger wegen Nichthandeln Kosten
tragen zu lassen. - Frau Präsidentin, ich weiß, ich habe
meine Redezeit überzogen. - Deswegen unterstützen wir
das Ansinnen der beiden antragstellenden Fraktionen.
Ich sage noch einmal deutlich: Es gibt einen Handlungsbedarf und kein Erkenntnisdefizit.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Erik Schweickert für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht um das Überziehen
nicht nur der Zeit, sondern auch der Konten. Nicht nur
der Staat hat die letzten Jahre deutlich über seine Verhältnisse gelebt, was übrigens jetzt die christlich-liberale
Koalition beenden wird, nein, auch viele Bürgerinnen
und Bürger haben mehr ausgegeben, als sie eingenommen haben. Oftmals hat dieses Schuldenmachen damit
begonnen, dass das Konto überzogen worden ist. Es ist
aber auch klar: Dispo- und Überziehungszinsen sind der
Preis für Flexibilität - wir haben es schon gehört -, und
die Möglichkeit der Überziehung bedeutet einen Notpuffer. Allerdings wird dieser Notpuffer von vielen Verbrauchern heute so genutzt, als ob es sich dabei um ein
Guthaben handele. Ob das so ist, weil sich der Bürger
dazu gezwungen sieht oder weil er sich keine Gedanken
macht, sei dahingestellt. Aus diesem Grund sollten wir
die Diskussion nicht so aufgeregt führen, wie es bisher
geschehen ist.
Ich halte es für gerechtfertigt, dass die Banken für einen Dispositionskredit höhere Zinsen veranschlagen, da
für diesen ein höheres Ausfallrisiko besteht. Man könnte
nämlich sagen: Es gibt kein Recht auf billige Schulden.
Jeder Verbraucher hat die Verantwortung, darauf zu achten, dass er sein Konto nicht überzieht. Man kann ein
Konto so einrichten, dass man es nicht überziehen kann.
Die Frage ist, ob das sinnvoll ist. Man hat auch die Möglichkeit, beispielsweise einen Ratenkredit in Anspruch
zu nehmen. Dann hat man klare Verhältnisse.
({0})
- Frau Lay, ich komme gleich dazu. - Grundsätzlich haben wir als Verbraucher auch die Möglichkeit, die Bank
zu wechseln. Daher sehe ich schon eine große Verantwortung des Bankkunden. Jeder ist für seine Kassenlage
verantwortlich.
({1})
Die Sache hat natürlich einen Haken; denn einige
Entwicklungen erscheinen mir etwas problematisch. Der
Leitzins der Europäischen Zentralbank liegt derzeit bei
1 Prozent und damit auf einem historischen Tiefstand.
Das dient den Banken als Rechtfertigung, dass sie für
Guthaben und Festgeld so gut wie keine Zinsen zahlen.
Auf der anderen Seite werden für Dispo- und Überziehungskredite sehr hohe Zinsen verlangt. Während der
Leitzins von 4,25 Prozent im Oktober 2008 auf derzeit
1 Prozent gesunken ist, sind die Zinsen für Dispo- und
Überziehungskredite im Durchschnitt nur unwesentlich
zurückgegangen. Die Banken können sich also sehr
günstig Geld bei der Europäischen Zentralbank leihen,
aber dem verschuldeten Verbraucher stellen sie überhöhte Zinsen in Rechnung. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen,
({2})
wenn die Banken die Schuldenspirale der Verbraucher
weiterdrehen. Ich sage Ihnen ganz offen: Zinsen für
Dispo- bzw. Überziehungskredite in Höhe von 16,99 Prozent grenzen fast schon an Wucher.
({3})
Die Verbraucherzentralen überprüfen das, und die Gerichte werden entscheiden, ob der Tatbestand des Wuchers erfüllt ist.
Eines erscheint mir noch wichtiger - das kommt in
der Diskussion viel zu kurz, und ich hätte gedacht, dass
dieser Punkt insbesondere von Ihnen vorgebracht wird -:
Was ich noch kritischer als die hohen Zinsen sehe, ist die
Tatsache, dass es Banken gibt, die über die Zinsen für einen Dispo- oder Überziehungskredit hinaus noch eine
Gebühr pro Abhebung berechnen, also on top. Da muss
man den Banken sagen: Irgendwann ist auch mal
Schluss.
({4})
Jetzt ist die Frage, wie sich das Ganze darstellt; denn
nicht nur einzelne Banken machen das, sondern das ist
ein weit verbreitetes Phänomen. Die Verbraucherzentrale Bremen hat die entsprechenden Daten erhoben.
({5})
- Die Maßnahmen kommen jetzt. Herr Heil, Sie sind
doch sonst nicht so ungeduldig. - Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass die Dispozinsen durch verbraucherfeindliche Klauseln in den AGBs zu Recht unzulässig sind. Wörtlich heißt es:
Danach muss eine Zinsänderungsklausel das Äquivalenzprinzip beachten und darf die Bank nicht einseitig begünstigen.
Allerdings ist es in der Realität etwas anders. Deswegen habe ich das Bundeskartellamt letzte Woche aufgefordert, die Geschäftspraxis der Banken einer wettbewerblichen Prüfung zu unterziehen, und zwar deshalb,
weil diese Überziehungszinsen insbesondere in räumlichen Clustern genommen werden. Wie interpretiere ich
sonst, dass dies insbesondere in Bremen und zwei anderen Clustern geschieht? Also, wir wollen kein Konjunkturprogramm für Peter Zwegat, sondern einen effizienten
Verbraucherschutz, und deshalb wollen wir eine Überprüfung.
({6})
Darum ist auch die Regelung zum Referenzzinssatz
zu hinterfragen, nach der die Banken einen überprüfbaren Referenzzinssatz benennen müssen, an dem sie ihre
Zinsentwicklung anpassen. Denn natürlich werden die
Banken den derzeit niedrigen Leitzins als Referenz angeben. Steigt der Leitzins, werden die Banken die Möglichkeit haben, auch die Dispo- und Überziehungszinsen
weiter zu erhöhen und dies anhand des steigenden Referenzzinses zu rechtfertigen. Das darf natürlich nicht sein.
Deswegen muss dieses Thema im Ausschuss angesprochen werden.
Für mich ist eins deutlich: Die Commerzbank ist bei
dieser Sache mit dabei.
({7})
Frau Kollegin Tack, ich habe es in der letzten Sitzungswoche angesprochen, und ich bleibe bei meiner Meinung: Der Staat ist nicht der bessere Banker.
({8})
Wenn die Commerzbank einen Zinssatz von 13,24 Prozent im Dispobereich verlangt, dann komme ich zu dem
Schluss: Der Staat ist gefordert, sich aus seiner Zuständigkeit für die Commerzbank schnellstmöglich zurückzuziehen.
({9})
Was da stattfindet, bringt dem Verbraucher nichts.
Heute, kurz vor dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit,
möchte ich wiederholen: Der Staat ist nicht der bessere
Banker.
Meine Damen und Herren, Sie haben mich auf Ihrer
Seite, wenn es darum geht, dem Verbraucherschutz in
der Finanzaufsicht zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen.
({10})
Das Ganze gehört, da es um Verbraucherschutz geht, institutionell in die Finanzaufsicht. Wir werden unser Vorhaben umsetzen, spätestens bei der Zusammenführung
der Bankenaufsicht unter dem Dach der Deutschen Bundesbank.
({11})
Das macht die von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag angeregte Marktwächterfunktion in diesem Bereich
überflüssig, übrigens so überflüssig wie im Moment
manche Bank aufgrund ihres Geschäftsgebarens.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Nicole Maisch für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aktienmärkte haben sich beruhigt, aber für die Verbraucherinnen und Verbraucher geht die Finanzkrise weiter.
Diese Krise ist für die Kundinnen und Kunden natürlich
vor allem eine Krise des Vertrauens in die Banken. Die
Referenzzinsen, die wir zur Verfügung haben - zum Beispiel den EZB-Leitzins oder den Drei-Monats-Euribor;
das sind übliche Referenzzinsen -, liegen um 1 Prozent.
Die Banken und Sparkassen geben den Sparern diese
niedrigen Zinssätze weiter; gleichzeitig senken sie die
Zinssätze für den Dispo aber nicht. Angesichts dessen
weiß man, woher diese Vertrauenskrise kommt. Die Anlegerinnen und Anleger, die Bankkunden glauben nicht
mehr daran, dass sie von den Banken fair und ehrlich behandelt werden.
Herr Wanderwitz, Sie haben gesagt: Wir als Politiker
haben die Aufgabe, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Ich glaube, dass durch solches Geschäftsgebaren Öl
ins Feuer gegossen wird. Eine Studie, die die Stiftung
Warentest durchgeführt hat, zeigt: Durch solches Geschäftsgebaren wird Öl ins Feuer gegossen; dadurch
wird Vertrauen auf den Finanzmärkten zerstört.
({0})
Es gibt unterschiedliche Erhebungen. Wir Grünen haben im Sommer selber eine durchgeführt. Dabei ist herausgekommen: Zinssätze von 13 oder 14 Prozent - nur
nominal; effektiv sind sie höher - und für eine geduldete
Überziehung von bis zu 20 Prozent sind keine Seltenheit. Der Kollege Schweickert hat es gesagt: Wenn man
20 Prozent Zinsen für eine geduldete Überziehung zahlen muss, dann ist das hart am Wucher.
Herr Wanderwitz, Sie haben argumentiert, dass eine
Kopplung an einen Leitzins nicht sachgerecht sei, weil
die Beschaffungskosten für Geld nur ein Element der
Kosten des Dispos seien. Da stimme ich Ihnen zu. Trotzdem gibt es Banken, die einen Referenzzins gewählt haben, an den sie ihre Dispozinssätze koppeln. Da gibt es
unterschiedliche Modelle, entweder den EZB-Leitzins
oder den Euribor. Das Problem ist nur, dass die Banken
dabei einen Zeitpunkt in der Finanzkrise herangezogen
haben, sodass aufgrund der Koppelung die Zinssätze für
die Verbraucher noch weiter nach oben gehen. Das zerstört weiter Vertrauen auf den Finanzmärkten.
Ich möchte kurz noch etwas zum Dispo sagen. Es
stellt sich ja die Frage, ob alle, die einen solchen Kredit
in Anspruch nehmen, über ihre Verhältnisse leben. Klar
ist: Natürlich soll man den Dispo nicht jeden Monat als
erweitertes Einkommen benutzen; das weiß jedes Kind.
Es gibt aber auch Menschen, die unverschuldet in finanzielle Notlagen geraten. Wir hatten während der Wirtschaftskrise eine ganze Menge Kurzarbeiter. Das sind
Personen, die nicht über ihre Verhältnisse gelebt und unverantwortlich gehandelt haben; vielmehr blieb vielen
von ihnen keine andere Möglichkeit, als ihr Konto zu
überziehen.
Ich glaube, dass wir es im Dispobereich mit einem
Marktversagen zu tun haben. Das ist übrigens nicht nur
regional so. Ich habe eine ähnliche Erhebung für Hessen
wie die für Bremen gemacht. Ich habe einfach einmal
die Banken angerufen und dabei festgestellt, dass die
Zinssätze ähnlich sind: 18 Prozent oder 19 Prozent für
eine geduldete Überziehung findet man überall.
Die Vielfalt des deutschen Bankensystems ist dabei
keine Hilfe. Wir haben kleine Sparkassen, große internationale Player wie Santander oder Targobank, große
Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Diese geben
sich alle nichts. Es sind teure und billige dabei. Das
heißt, wir haben es sowohl quer durch die Regionen als
auch quer durch die unterschiedlichen Sektoren mit solchen überhöhten Zinsen zu tun.
Deshalb haben wir Ihnen einen Antrag zur Debatte
vorgelegt. Wir fordern einen gesetzlichen Referenzzinssatz, an dem sich die Banken orientieren sollen. Dieser
sollte möglichst einheitlich sein, damit es für die Kunden
transparent ist.
({1})
- Es wäre aber schön, wenn man sich auf einen einigen
könnte, entweder auf den Euribor oder den EZB-Leitzins. Im Moment wählen die Akteure im Markt unterschiedliche Referenzzinssätze. Die Commerzbank hat
einen anderen Referenzzinssatz als bestimmte Sparkassen. Ich finde, Einheitlichkeit würde für mehr Transparenz sorgen.
Wir fordern außerdem eine gesetzliche Obergrenze,
einen Korridor oberhalb dieses Zinssatzes. Wie breit dieser Korridor ist, darüber muss man diskutieren. An dieser Stelle eröffnet sich der Spielraum für die betriebswirtschaftlichen Erwägungen der einzelnen Banken. Wir
finden, wenn man solche fairen Leitplanken für Wettbewerb setzt, dann passt das zu einer sozialen Marktwirtschaft.
({2})
Wir fordern, dass die Finanzaufsicht verbessert wird.
Ich denke, wenn solches Marktversagen möglich ist,
wenn solche Wucherzinsen möglich sind, dann zeigt das,
dass hier noch einiges im Argen liegt.
Wir haben Vorschläge von Herrn Schweickert und
Ankündigungen von Frau Aigner gehört. Wir hoffen,
dass Sie als schwarz-gelbe Regierung irgendwann einmal auch das machen, wozu Sie da sind, nämlich zu regieren und Handlungen folgen zu lassen.
({3})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Julia Klöckner.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe mich geärgert. Ich habe mich richtig
geärgert, als wir die Ergebnisse von „Finanztest“ lesen
konnten.
Ich bin übrigens der Stiftung Warentest sehr dankbar
dafür. Deshalb haben wir als Koalition sie mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet. Ich bin ihr sehr dankbar, dass
sie genau die aktuellen Themen, die uns beschäftigen,
aufgreift. Das tut manch einem weh. Das ist oft unbequem. Wir halten es für richtig, dass die Stiftung Warentest genau aus diesem Grund Schritt für Schritt in die
Unabhängigkeit entlassen wird, damit sie etwas anpackt,
was vielen anderen eben nicht passt. Deshalb noch einmal: Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
das Thema der Banken seit Wochen und Monaten auf
der Tagesordnung haben. Ich wünsche mir, dass sie dieses Thema auch in Zukunft weiter so im Blick haben,
auch wenn es um die Beratungsprotokolle und um die
Produktinformationsblätter geht.
({0})
Ich stimme Frau Kollegin Maisch zu. Ganz klar:
Nicht jeder, der sein Konto überzieht, ist jemand, der
nicht mit Geld umgehen kann. Ansonsten könnten die
Banken auch nicht mit Geld umgehen, weil sie sich bei
den Bürgerinnen und Bürgern Geld leihen. Die Asymmetrie, dass auf der einen Seite die Bürger den Banken
gerne Geld leihen, aber nicht zu zweistelligen Prozentsätzen, und dass auf der anderen Seite Bürgerinnen und
Bürger mitunter 17 Prozent oder gar 20 Prozent Zinsen
an die Banken zahlen müssen, halte ich für unanständig.
({1})
Das halte ich deshalb für unanständig, weil das immer
nur in eine Richtung geht. Viele Banken kennen immer
nur eine Richtung. Wenn die Refinanzierungskosten
hoch sind, dann geben sie diese hohen Kosten weiter.
Das ist schnell zu erläutern. Man bekommt aber selten
einen freundlichen Brief mit dem Hinweis, dass die Refinanzierungskosten günstiger geworden sind und dass
es deshalb für den Kunden günstiger wird.
Das ärgert uns alle, ganz gleich, welcher Fraktion wir
angehören, welcher Partei wir angehören. Auf der einen
Seite wird versucht, richtig Kasse zu machen. Auf der
anderen Seite, wenn etwas nicht funktioniert, soll der
Staat einspringen - das sind übrigens auch die Kunden,
nämlich die Steuerzahler -, dann wiederum zeigt sich
ein demütiges Verhalten. Ich denke, das wird auf Dauer
nicht funktionieren. Deshalb müssen wir hier auch ganz
klare Worte finden.
Jetzt geht es natürlich darum, liebe Kolleginnen und
Kollegen, eine Lösung zu finden. Dazu gibt es in den
heute vorliegenden Anträgen verschiedene Vorschläge.
Man kann es sich einfach machen, indem man banal fordert, eine Obergrenze festzusetzen. Ich halte diesen Vorschlag, mit Verlaub, für sehr schlecht. Eine Obergrenze
einzuziehen, ist meiner Meinung nach auch falsch, weil
das der marktwirtschaftlichen Realität und der Vielfalt
der angebotenen Preismodelle bei Girokonten nicht gerecht wird. Dass die Linken da zusammenzucken, ist
klar, da sie mit Marktwirtschaft nicht so viel am Hut haben.
Die Zinssätze im Test variieren zwischen 6 und
17 Prozent. Da muss man genau hinschauen, damit wir
den Verbrauchern nicht einen Bärendienst erweisen. Der
Kollege Wanderwitz hat eben erläutert, wie unterschiedlich die Berechnungsgrundlagen sind. Bei dem einen
Girokonto ist die Kontoführung kostenlos, was viele
schätzen; vielleicht kostet dafür aber eine beleggebundene Überweisung etwas mehr, oder der Dispozins liegt
etwas höher. Bei einem anderen Girokonto wird dagegen
eine Kontoführungsgebühr erhoben; vielleicht liegt dafür aber der Dispozins etwas niedriger.
Natürlich wird die Gebührenhöhe auch davon beeinflusst, wie engmaschig das Filialnetz ist. Ich selbst
komme aus Rheinland-Pfalz, einem ländlich geprägten
Raum. In vielen Regionen sind wir dankbar dafür, dass
dort einige Banken noch Filialen haben, während andere
Banken sich schon zurückgezogen haben. Ein Filialnetz
kostet Geld.
({2})
Das muss natürlich, sozial gerecht, mischfinanziert werden, also nicht nur von denen, die ein kleines Portemonnaie haben. All das muss in die Überlegung einfließen,
ob wir nicht, wie ich vorhin sagte, dem Verbraucher einen Bärendienst erweisen, wenn wir eine starre Obergrenze einziehen. Ich glaube, dass diese Lösung dem
Gesamtkomplex nicht gerecht wird und zur Folge haben
würde, dass einige kleinere Banken nicht mehr im ländlichen Raum vertreten wären.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist meiner
Meinung nach der staatsdirigistische Ansatz nicht die
richtige Lösung. Dass es aber klare Regeln braucht, wie
Zinssätze anzupassen sind, darin sind wir uns sicherlich
alle einig. Es gibt einen klaren Grundsatz, dem Geltung
verschafft werden muss: So stark wie die Sollzinsen in
Hochzinsphasen steigen, genauso stark müssen sie auch
in Niedrigzinsphasen sinken. Einen starken Verbündeten
bei der Durchsetzung dieser Maxime haben wir im Bundesgerichtshof. Er hat im April 2009 erneut entschieden,
dass auf der Basis des geltenden Rechts eine Anpassungssymmetrie der Zinssätze der Banken nach oben
und nach unten bestehen muss.
Neue gesetzliche Regelungen sorgen zwar immer für
eine schöne Schlagzeile, aber meiner Meinung nach besteht überhaupt kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit.
({4})
Es hilft doch keinem Bürger, wenn er sich eine weitere
Drucksache anschauen kann - das macht ja nur bedingt
Spaß -, sondern dem Verbraucher hilft es, wenn die vorhandenen gesetzlichen Regelungen auch effektiv und
nachhaltig durchgesetzt werden. Es gibt zum Beispiel
das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, gemäß dem die Art und Weise der Anpassung des
Sollzinssatzes im Kreditvertrag anzugeben ist. Hier
richte ich meine Aufforderung an die Finanzaufsicht, gegen vielfache Rechtsverstöße und Missverständnisse
vorzugehen, und an die Kartellbehörden, genau zu prüfen.
Abschließend möchte ich sagen: Es liegen einige Lösungsvorschläge vor. Wir haben eine Studie in Auftrag
gegeben haben, die untersuchen soll, wie sich die mit der
Kontoführung verbundenen Kosten flächendeckend entwickeln, damit wir eine solide Basis für unser Handeln
erhalten, statt - davor warne ich noch einmal - dem Verbraucher einen Bärendienst zu erweisen. Wir werden
also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern
als Verbraucherministerium weiter am Thema dranbleiben und dafür sorgen, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher nach wie vor ein flächendeckendes Filialnetz vorfinden und die Zinssätze so verbraucherfreundlich wie möglich gestaltet werden. Andere Regierungen
haben hier ja, als sie etwas zu sagen hatten, nichts getan.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt haben wir also gehört, was sich die Regierung vorstellt. Die Staatssekretärin hat gesagt, dass sie sich ärgert
({0})
und dass alles, was wir diesbezüglich vorfinden, unanständig ist. Dann hat sie über Lösungen gesprochen.
Aber ich habe hier nichts anderes gehört, als dass alle
Lösungen, die in der Diskussion sind, infrage gestellt
werden und dass die kritischen Punkte und die Problemlagen beschrieben werden. Ich erwarte etwas anderes. Es
reicht nicht, eine Studie in Auftrag zu geben. Das Problem ist schließlich seit längerem bekannt. Das Ministerium muss zügig eine Lösung vorlegen und darlegen, in
welche Richtung es gehen soll; darum geht es.
({1})
Ansonsten - wenn ich mir diese Bemerkung erlauben
darf, Frau Staatssekretärin - reicht Ihre Darbietung zu
nicht viel mehr als vielleicht dazu, irgendwann einmal
die Oppositionsführerin in Rheinland-Pfalz zu werden.
Das kann es aber nicht sein.
({2})
- Dass es so kommen wird, wissen wir alle. Von daher
brauchen wir uns darüber jetzt nicht aufzuregen.
Ich möchte darauf eingehen, in welche Richtung das
Konzept gehen muss. Wir werden darüber reden müssen,
wie man ein entsprechendes Konzept verbindlich machen kann und welche nachvollziehbaren und umsetzbaren Regeln es geben soll.
({3})
Gerade wenn man die Entgleisungen in den letzten Monaten sieht, ist es natürlich vom Grundsatz her richtig,
einen Referenzzinssatz zu nehmen, auf den man einen
Korridor setzt. Die Kritik an einem solchen Vorschlag,
den unter anderem die Staatssekretärin gemacht hat, lautet: Die Banken haben unterschiedliche Geschäftsmodelle. - Natürlich muss der Korridor so beschaffen sein,
dass keine Bank gezwungen ist, ihn voll auszunutzen.
Vielmehr müssen sich andere Kostenpositionen kalkulatorisch wiederfinden. Wenn eine Bank Girokonten führt,
muss man berücksichtigen, welche Fixkosten und welche variablen Kosten - zum Beispiel für Überweisungen damit einhergehen. Wir brauchen einen Rahmen, der
marktwirtschaftlichen Wettbewerb der Banken um unterschiedliche Dinge ermöglicht. Dieser fehlt bislang.
Ich weiß gar nicht, warum man die Korridoridee kleinredet und auf die unterschiedlichen Geschäftsmodelle verweist. Vielmehr ist ein ordentlicher Rahmen erforderlich, in dem sich die unterschiedlichen Geschäftsmodelle
wiederfinden. Dann konkurrieren die Finanzinstitute
endlich miteinander. Sie tun das bislang nicht und erhöhen nur die Dispozinsen. Das ist wirklich unanständig.
Darin gebe ich Ihnen recht.
({4})
In diese Richtung muss es also gehen.
Ich möchte nun noch ein Argument aufnehmen, das in
der Debatte von Ihnen, Herr Kollege Schweickert, genannt worden ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass die
Dispozinsen einen Bezug zum vorhandenen Ausfallrisiko haben müssen. Es ist völlig richtig, dass ein solcher Bezug vorhanden sein muss. Wenn wir uns die Realität anschauen, müssen wir jedoch feststellen, dass es
keinen Bezug mehr gibt. Ich hoffe, darin sind wir uns einig.
({5})
- Er darf auch immer höher sein. - Es darf aber nicht
sein, dass man, wenn man noch im Disporahmen ist,
17 Prozent und, wenn man den Disporahmen überschreitet - das ist noch schlimmer -, sogar bis zu 25 Prozent
Zinsen zahlen muss. Da besteht kein Bezug mehr zum
Ausfallrisiko. Deshalb muss man an dieser Stelle einschreiten.
({6})
Es ist richtig und notwendig, hier das Kartellamt ins
Spiel zu bringen. Jeder, der das fordert - auch Sie haben
das getan -, ist auf dem richtigen Weg. Aber man kann
noch weitergehen. - Wie ich sehe, ist der Staatssekretär
Kampeter, der ebenfalls damit befasst ist, wieder anwesend. Da die Entwicklung im Bankensektor, die zu einer
völligen Entkoppelung von den Realitäten geführt hat, in
den Zuständigkeitsbereich der Finanzaufsicht fällt, stellt
sich die Frage, warum nicht auch die BaFin für diese
Verbraucherfragen zuständig ist. Herr Staatssekretär
Kampeter, wie ich in der Zeitung gelesen habe, geben
Sie als Amtsvertreter von Herrn Schäuble Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie auch Ihren Staatssekretärskollegen gern einmal ein paar Hinweise und Anweisungen.
({7})
Machen Sie das an dieser Stelle! Sorgen Sie dafür, dass
die Dispozinsen endlich begrenzt werden! Seien Sie eine
Regierung der Tat! Darauf warten wir. Tun Sie etwas!
Das brauchen die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Norbert Schindler für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Gäste auf den Tribünen! Meine
Damen und Herren hier im Plenum! Es ist gut, dass wir
über dieses Thema reden. Es grenzt schon an Unverschämtheit, was sich manche Bankenvorstände erlauben.
Darin sind wir uns alle in diesem Saal mit Sicherheit einig.
({0})
Es kann nicht sein, dass zwischen 8 und 17 Prozent
Überziehungszinsen beim Dispo berechnet werden.
Kommt dann noch ein Zuschlag von 4 Prozent obendrauf, sind es 20 oder 21 Prozent.
Nun ist aber die Frage, was wir in diesem Staat noch
alles reglementieren sollen. Ich komme aus dem Sparkassenbereich Rhein-Haardt. Wenn Sie in den Test der
Stiftung Warentest schauen, stellen Sie fest, dass die
zweitbeste Sparkasse mit 8 Prozent meine Sparkasse ist.
({1})
Ich weise nur darauf hin, dass man auch als Verwaltungsratsmitglied auf die Geschäftspolitik der Vorstände
einwirken kann. Dies kann man auch im Genossenschaftsbereich tun. Aber wie „Warentest“ mit Unterstützung des Bundes, also des Steuerzahlers, völlig zu Recht
solche Vergleiche anstellt und so den Markt anschiebt,
das war eine gute Berichterstattung. Nur muss der Gesetzgeber in all diesen Bereichen fragen, worin ein Korridor bestehen könnte: Sind es 3 oder 5 Prozent über
dem Referenzzins der Europäischen Zentralbank? Derzeit liegt er bei zweijährigen Kreditaufnahmen der Banken bei 1,32 Prozent. Bei zehnjährigen Kreditaufnahmen
- der Fachbegriff ist DGZF - liegt der Zins bei
2,7 Prozent. Daraus wäre zu entwickeln, was die Banken
darüber hinaus nehmen dürfen.
Auf der anderen Seite reden wir vom vollständig geschäftsfähigen, mündigen Bürger. Wem die Abrechnung
nicht passt, wer mit Ärger feststellt, dass 15 Prozent Zinsen genommen werden, zu denen vielleicht noch Einzelabrechnungen in Höhe von 4 Cent bis zu 20 Cent pro
Überweisung und Kosten für die Kontoführung pro Monat kommen, der sollte sich die schwäbische Hausfrau
zum Vorbild nehmen. Sie bemüht sich, von den in Rede
stehenden 41 Milliarden Euro nichts in Anspruch zu
nehmen. Das wäre doch die Konsequenz. Im Schnitt
nehmen 25 Prozent der Bankkunden in der Bundesrepublik Deutschland Überziehungskredite in Anspruch, und
zwar in Höhe von einem bis drei Monatseinkommen. Da
muss man jeden Kreditnehmer einmal an die Kandare
nehmen und ihn fragen: Warum dulden Sie das so? Können Sie nicht einmal fünf, sechs Monate etwas weniger
ausgeben, um sich selbst aus der Zwangsjacke „Kontoüberziehung“ zu befreien und beim laufenden Konto
nicht mehr im Minus zu stehen? Diese Chance haben der
selbstständig-mündige Bürger und natürlich auch die
Bürgerin.
Vor diesem Hintergrund appelliere ich an uns alle,
wenn wir eine solche Diskussion führen, zwar darauf
hinzuweisen, mit welcher Unverschämtheit manche
Banker dabei vorgehen, aber auch deutlich zu machen,
dass jeder das Recht hat, selbst solche Zinssätze abzuwehren. Dann soll er die Bank wechseln; dann soll er ein
ernstes Gespräch führen. Das ist auch möglich, indem
man solche Banker in der eigenen Region vorführt und
ihnen klar sagt, dass man so miteinander nicht umgeht.
Wenn man immer nur hilflos nach dem Gesetzgeber
ruft und ihn auffordert, diese oder jene Latte anzulegen,
dann führt dies zu Zwangswirtschaft. Lieber Herr
Troost, das haben wir mit Totalvorschriften in der Deutschen Demokratischen Republik erlebt,
({2})
und bankrott seid ihr dann auch geworden. Ein bisschen
Wettbewerb darf ja sein.
({3})
Abschließend noch ein mahnendes Wort an die Banken.
Herr Kollege, bevor Sie das mahnende Wort sprechen, wollte die Kollegin Maisch noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Ich danke Ihnen, Herr Kollege. - Mit dem Thema des
Bankenwechsels habe ich mich natürlich befasst. Ich
habe geschaut, welche Banken Filialen in meiner Region
haben und wie hoch die Zinssätze sind. Bei mir in Kassel
sind es bei Commerzbank, Kasseler Sparkasse, Genossenschaftsbank zwischen 13,5 und 12,9 Prozent. Wenn
man nicht zu einer Direktbank gehen will, weil man seinem Bankberater ins Gesicht schauen will, dann frage
ich Sie bei solchen Preisen, die eigentlich sehr ähnlich
und alle zu hoch sind, wo denn der Wettbewerb ist.
Frau Kollegin, der recht große Unterschied zwischen
den Zinssätzen von Direktbanken auf der einen Seite und
den Sparkassen sowie Genossenschaftsbanken auf der
anderen Seite lässt sich dadurch erklären, dass uns die
Sparkassen und Genossenschaftsbanken in der Fläche
viel besser versorgen als etwa die Banken in Schottland.
Kollegin Klöckner hat darauf hingewiesen: In Schottland ist die nächste Bankfiliale durchschnittlich 30 Kilometer entfernt; in der Bundesrepublik Deutschland sind
es zwei oder drei Kilometer.
({0})
- Ich wollte nur feststellen, dass es zwischen den einzelnen Bereichen Unterschiede geben kann.
Jeder, der die Unterschiede kennt, kann doch ein ernstes Gespräch mit der Bank führen oder einen Wechsel
vornehmen. Ich mache das; Sie selbst machen das doch
auch. Ich akzeptiere keinen Zinssatz von 12 oder 15 Prozent. Es steht doch jedem frei, ein solches ernstes Gespräch zu führen. Jeder hat zudem die Freiheit, sich zurückzunehmen und das Auto ein Jahr später zu kaufen.
Leute, so ist es doch! Manche sind offenbar der Meinung: Das Konto zu überziehen, ist sportlich; das tun
wir. Die Konsumgesellschaft ist angesagt. - Darauf beziehe ich mich in meiner Rede.
Nun möchte ich auf etwas anderes zu sprechen kommen; denn es geht nicht nur um die eigene Verantwor6492
tung. Der Euribor-Zinssatz betrug am 1. April 2001
4,56 Prozent, am 1. April 2004 2,07 Prozent, am 1. Juni
2008 4,86 Prozent, am 1. Oktober 2009 0,75 Prozent
und am 1. August 2010 0,9 Prozent. Obwohl die Zinssätze um fast 4 Prozentpunkte variieren, hat es bei den
Zinsen, die in den zehn Jahren draußen berechnet wurden, keine gravierenden Veränderungen gegeben. Es ist
schon eine Unverschämtheit, wie sich da Banken bereichert haben. Der Geschäftspartner, der Kunde kann aber
probieren, seine Macht auszuspielen; das ist nicht immer
nur dem Gesetzgeber zu überlassen.
({1})
- Herr Kollege, sind wir nicht volljährig, selbstständig
und mündig genug? Alle rufen nach dem Gesetzgeber,
und nur wenig später reden wir über zu viel Bürokratie.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? - Dann verlängern Sie Ihre Redezeit, Herr Kollege Schindler.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, man müsse nicht alles per Gesetz regeln. Wir haben nichts anderes vorgeschlagen, als die Regelungen, die es für den Zahlungsverzug längst gibt, jetzt auch auf Dispokredite
anzuwenden. Wie können Sie dann Ihre Argumentation
aufrechterhalten, dass dies zu einer Überregulierung des
Marktes führen würde? Wir wollen nur, dass bestehende
Gesetze, die in anderen Fällen offensichtlich auch von
der Koalition akzeptiert werden, auf einen Bereich ausgeweitet werden, in dem es keine Regulierung gibt. Warum kann das, was in anderen Bereichen längst Stand der
Gesetzgebung ist, nicht auch für Dispokredite gelten?
Ich kann nur an die Worte der Staatssekretärin
Klöckner erinnern. Sie sagte zu der Frage, ob wir ein Gesetzes- oder ein Vollzugsdefizit haben, dass wir hier ein
Vollzugsdefizit mehr haben. Die Überregulierung in diesem Staat wird in anderen Debatten in diesem Haus bis
zum Exzess gegeißelt. In der angesprochenen Frage ist
Selbstverantwortung in der Geschäftspartnerschaft angesagt, auch vonseiten der Bankkunden. Wir beklagen
doch zu Recht, dass die Kunden ihre Konten überziehen.
Wenn wir das alles in Gesetzesform gießen, lassen die
nächsten Änderungen nicht lange auf sich warten.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der
Fraktion Die Linke zu Zinssätzen für Dispositions- und
Überziehungskredite auf Drucksache 17/2913 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Rechtsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den
Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke - Federführung beim Ausschuss für Verbraucherschutz - abstimmen. Wer stimmt für den Vorschlag der Linken? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der Koalitionsmehrheit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der
Koalitionsmehrheit angenommen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zu Zinssätzen für Überziehungskredite auf
Drucksache 17/3059. Dieser Antrag soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist ebenfalls strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
beim Rechtsausschuss. Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Vorschlag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Verbraucherschutzausschuss, abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP, also Federführung
beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der
gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2011 ({0})
- Drucksache 17/3030 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Steffen Kampeter für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was mit dem Titel „Haushaltsbegleitgesetz
2011“ so technisch daherkommt, ist eigentlich Bestandteil eines wirklich fundamentalen Wechsels in der Haushalts- und Finanzpolitik. Die alte Haushalts- und Finanzpolitik, insbesondere die der letzten zwei Jahre, basierte
auf der Grundlage „Wachstum durch Schulden“. Wir erkennen jetzt, dass diese These zumindest in Zukunft
nicht weiter tragfähig ist. Schuldenwachstum hat nicht
zu mehr wirtschaftlichem Wachstum geführt. Vielmehr
erkennen wir in diesen Tagen, dass diejenigen Staaten,
die konsolidieren, sehr viel schneller, sehr viel nachhaltiger und sehr viel überzeugender aus der Krise herausgekommen sind.
Aus diesem Grund haben wir uns, beginnend mit der
Kabinettsklausur und der Auflegung des Zukunftsprogramms im Juni, entschlossen, unsere Haushalts- und Finanzpolitik unter den Oberbegriff „Wachstum durch
Konsolidierung und Reform“ zu stellen. Wir glauben,
dass dies für die Bewältigung der Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts, für die Gestaltung der Phase nach
der Krise eine zukunftsfähige Konzeption ist. Die ersten
Erfolge, die ersten Früchte dieser Politik können wir an
der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung dieses
Jahres ablesen. Dies ist eine Gemeinschaftsleistung derjenigen, die in der Krise die Ärmel hochgekrempelt haben - beispielsweise die Tarifvertragsparteien -, aber es
ist auch eine Leistung kluger Politik, wie sie zum Beispiel bei der Kurzarbeiterregelung betrieben wurde, die
sich als erfolgreich erwiesen hat.
Es ist aber auch festzuhalten, dass wir angesichts der
guten wirtschaftlichen Entwicklung einen Grundsachverhalt nicht vergessen dürfen. Die Wirtschaftslage ist
deutlich besser als die Haushaltslage.
({0})
Der Bundeshaushalt, über den wir in der vorvergangenen Woche diskutiert haben, weist mit fast 60 Milliarden
Euro noch immer eine der höchsten Nettokreditaufnahmen in der Finanzgeschichte auf. Deswegen ist wachstumsfreundliche Konsolidierung das Gebot der Stunde.
Das Zukunftspaket, der Bundeshaushalt und das Haushaltsbegleitgesetz 2011 sind die Bausteine dieser wachstumsfreundlichen Konsolidierung. Die Ausgaben werden gesenkt. Die Schulden und die Nettokreditaufnahme
werden gesenkt. Die strukturellen Defizite der öffentlichen Haushalte werden gesenkt. Zugleich halten wir die
Investitionen stabil und stärken Bildung und Forschung.
Das sind die konkreten Bausteine, mit denen wir Zukunft gestalten. Das sind die konkreten Bausteine für
eine nachhaltige Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der christlich-liberalen Koalition.
({1})
Es ist auch eine gesellschaftspolitische Weichenstellung, die wir mit diesem Wechsel in der Haushaltspolitik
vornehmen. Freiheit und Verantwortung stehen im Kern
unserer Haushaltspolitik. Wir treten damit der Behauptung entgegen, dass staatliche Bevormundung und verantwortungslose Verschuldung ein zukunftsfähiges, ein
nachhaltiges Konzept sind.
Das unserer Politik zugrundeliegende Menschenbild bedeutet, dass wir den Menschen etwas zutrauen. In der
letzten Debatte sind die unterschiedlichen Auffassungen
in diesem Haus deutlich geworden. Wir sind der Meinung: Der Staat kann nicht alle Probleme der Welt lösen.
Wir setzen - auch durch die Zurücknahme von staatlichen Aktivitäten - auf mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Der Mensch ist zur Freiheit bestimmt; wir
müssen sie ihm auch lassen. Unsere Haushaltspolitik ist
daher darauf ausgerichtet, die Staatsquote in diesem
Land zu senken und damit die Freiräume für die Bürgerinnen und Bürger auszuweiten.
({2})
Mit dem Zukunftspaket und dem Haushaltsbegleitgesetz gehen bestimmte sozialpolitische Maßnahmen einher. Der Bundeshaushalt besteht zu weit über 50 Prozent
aus Sozialausgaben. Unsere Konsolidierungsstrategie
setzt nicht auf Steuererhöhungen, sondern auf Ausgabensenkung und fördert damit das Wachstum. Wir müssen uns daher auch mit den Sozialausgaben befassen.
({3})
Viele in diesem Hause unterliegen dem Missverständnis,
dass viel Geld für Soziales viel soziale Gerechtigkeit bedeutet. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Sozialstaat, der
nicht treffsicher agiert und die Ziele, die er vorgibt, nicht
erreicht, wird von den Menschen nicht akzeptiert. Ein
Sozialstaat, der viel Geld ausgibt und wenig erreicht, delegitimiert sich in seinem Kern. Einen solchen Sozialstaat wollen wir nicht. Wir wollen einen treffsicheren
Sozialstaat, der in den Bereichen, in denen er Geld ausgibt, die Ziele erreicht, die er ankündigt.
Ich will einige Beispiele für die Steigerung von Treffsicherheit und mehr Fairness bei staatlicher Ausgabenpolitik aus unserem Zukunftspaket nennen. Beispiel Elterngeld. Das Elterngeld ist eine Lohnersatzleistung.
Künftig wird jeder Anspruch auf Elterngeld haben, der
in der entsprechenden Situation ist. Es wird nur in bestimmten Bereichen auf andere Lohnersatzleistungen angerechnet, weil wir vermeiden wollen, dass es eine Doppelauszahlung von Lohnersatzleistungen gibt.
({4})
Das ist fair, insbesondere dann, wenn man unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit nicht ausschließlich die6494
jenigen betrachtet, die Leistungen empfangen, sondern
auch diejenigen einbezieht, die die Leistungen zu finanzieren haben.
({5})
Soziale Gerechtigkeit definiert sich auch über die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Deshalb ist es
richtig und bedeutet es mehr soziale Gerechtigkeit, wenn
wir Doppelforderungen ausschließen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Kressl?
Aber selbstverständlich, Frau Kollegin Kressl.
Herr Kollege Kampeter, wären Sie so freundlich, uns
zu erklären, warum im Haushaltsbegleitgesetz vorgesehen ist, dass die Frau eines sehr vermögenden Partners,
die zehn Jahre nicht gearbeitet hat, weiterhin Elterngeld
bekommen wird, obwohl das Elterngeld eine Lohnersatzleistung ist, wie Sie eben behauptet haben. Das hat
doch mit Lohnersatzleistung nichts zu tun.
({0})
Ihrem Gesetz fehlt völlig die Logik.
({1})
Frau Kollegin Kressl, das ist ein völlig anderer Sachverhalt, den Sie hier vortragen. Es entspricht der kontinuierlichen Diskriminierung der Erziehungsleistung in
der Familie, dass Sie diesen Sachverhalt als Beispiel
nennen. Jener Bevölkerungskreis, der eine Lohnersatzleistung - wir werden im Oktober noch über das Thema
Hartz-IV-Leistungen sprechen - und damit eine umfassende existenzsichernde Leistung inklusive der für Kinder bekommt, würde doppelt gefördert, wenn wir ihm mit
steuerlichen Mitteln finanzierte zusätzliche Lohnersatzleistungen geben. Zum einen wäre das nicht angemessen.
Zum anderen wäre das im Hinblick auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und das Lohnabstandsgebot ein Fehlanreiz; das wäre unfair. Durch unsere Politik hingegen sorgen wir für mehr soziale Gerechtigkeit.
({0})
Das gilt im Übrigen auch für die Veränderungen, die
wir beim Heizkostenzuschlag vornehmen. Dieser Heizkostenzuschlag geht zurück auf eine Explosion der Heizkosten. Dieser Zustand ist nicht mehr existent. Die
Rücknahme dieses Heizkostenzuschlags ist daher nichts
anderes als eine Anpassung an die realen Verhältnisse.
Es wäre unfair und sozial ungerecht, ihn beizubehalten.
Wenn wir im Kontext unserer Treffsicherheitsstrategie für den Sozialstaat darüber hinaus auch den Wildwuchs bei den arbeitsmarktpolitischen Leistungen
beenden, die nicht zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung führen, dann bedeutet das sowohl für die
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die diese
Leistungen finanzieren, als auch für diejenigen, die von
Brücken in Beschäftigung profitieren, ein Mehr an Fairness und damit ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, und
das ist das Credo des Zukunftspaketes, das ich Ihnen hier
heute vorstelle.
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass
die Bundesregierung gut daran tut, in diesem Bereich
auch international Vorbild zu sein. Wir stellen fest, dass
immer mehr Staaten in der Welt aufgrund ihrer Haushaltspolitik in Schwierigkeiten geraten. Das Beispiel
Griechenland ist in aller Munde. Es ist ein Beleg dafür,
dass wir in Europa und weit darüber hinaus nur dann
dauerhaft stabile Verhältnisse erreichen können, wenn
wir dauerhaft stabile Haushalte haben. Dieses Credo einer nachhaltigen Finanzpolitik, das wir zum Maßstab
dieses Haushaltsbegleitgesetzes gemacht haben und
auch zukünftig beachten werden, macht es Deutschland
möglich, im internationalen Kontext für eine stärkere
Konsolidierungspolitik in Europa einzutreten. Nur wer
Vorbild ist, kann von anderen mehr einfordern. Das ist
der Unterschied zu 2004/2005, als wir - unter anderen
Mehrheitsverhältnissen im Deutschen Bundestag - in
Sachen Haushaltspolitik kein Vorbild waren und der
europäische Stabilitätspakt mit deutscher und französischer Hilfe verwässert worden ist.
({1})
Jetzt geht es darum, durch unsere Haushaltspolitik dafür zu sorgen, dass es als legitim angesehen wird, wenn
wir von anderen Staaten verlangen, im Gleichschritt mit
uns zu einem Mehr an haushaltspolitischer Konsolidierung und zu einem Mehr an fiskalpolitischer Stabilität zu
gelangen. Was wir angestoßen haben, wird jetzt konkret.
Die Van-Rompuy-Gruppe wird Ende Oktober ihre Empfehlungen vorlegen. Die Kommission hat am gestrigen
Tag mit sechs Gesetzespaketen ihren Beitrag zur Wiedererstarkung des 2004/2005 geschwächten europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes geleistet. Dies
zeigt, dass unser Vorbild auf Europa ausstrahlt und es
mit gemeinsamem Wirken gelingen wird, die Finanzund Haushaltspolitik wieder auf einen Kurs zu bringen,
der nicht nur die Stabilität der Haushalte, sondern auch
die Stabilität unserer gemeinsamen Währung garantiert.
Zum Schluss meiner Ausführungen möchte ich deutlich machen: Konsolidierung ist nicht allein zu betrachten. Nur mit Sparen oder Konsolidieren werden wir
nachhaltiges Wachstum und Stabilität nicht erreichen.
Wir müssen diese wachstumsfreundliche Konsolidierung durch eine Reformstrategie begleiten. Deswegen ist
es richtig, dass wir beispielsweise in der Gesundheitspolitik bei den Reformen wieder Tempo aufnehmen und
der Gesundheitsminister Rösler heute hier im Parlament
engagiert Stellung bezogen hat.
({2})
Auch das ist ein Beleg dafür, dass unsere Konsolidierungsstrategie begleitet wird durch glaubwürdige Reformelemente in anderen Bereichen. So entsteht ein Gesamtbild:
Konsolidierung plus Reform. Das ist der Markenkern
von wachstumsfreundlicher Konsolidierung. Das ist zukunftsgerichtete Politik. Das ist christlich-liberale Verantwortung.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was jetzt deutlich wird, ist das Bild von SchwarzGelb. Bisher haben Sie sich hinter Ihrem Nichtstun versteckt. Herr Kampeter, die Schulden, die Sie eben genannt haben, haben Sie in den vergangenen Jahren mit
verursacht. Es gibt einen guten Grund für diese Schulden. Hätten wir die Konjunkturprogramme nicht aufgelegt, wäre die Situation in diesem Land jetzt noch viel
schlimmer. Dann hätten wir nicht nur 3 Millionen Arbeitslose. Das vergessen Sie gerne.
({0})
Das Bild, das Sie von der Zukunft in diesem Land gezeichnet haben, dass Sie von Freiheit und Verantwortung
gezeichnet haben, zeigt, was uns in diesem Land erwartet. Ich habe den Eindruck, dass es bei Ihnen um Freiheit
von Verantwortung geht, insbesondere bei denen, die es
sich eigentlich leisten könnten, Verantwortung zu übernehmen.
({1})
Ich will einmal aufzeigen, welche Auswirkungen dieses Gesetz, das aus 23 Artikeln besteht, im Sommer
2011 haben wird. Im Sommer 2011 wird es zwei Lager
in diesem Land geben. Da wird es die Familie geben, die
mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen will. Das wird
teurer für sie, weil Sie eine neue Steuer auf Flüge einführen.
({2})
- Herr Fricke!
({3})
- Bisher sind Sie - zur Bundestagswahl, in den Koalitionsverhandlungen, bis in den Mai hinein - damit angetreten, dass Sie Steuern senken wollen.
({4})
Sie haben gesagt, dass Sie kein Gesetz unterschreiben, in
dem nicht Steuersenkungen drin sind. Sie wollen keine
Steuererhöhung.
({5})
Jetzt tun Sie das Gegenteil dessen, Herr Fricke. Sie
führen eine neue Steuer ein.
({6})
Zu denjenigen, die wenig verdienen. Ich habe heute in
der Post den Brief einer Rentnerin gehabt. Herr
Kampeter, Sie haben das mit dem Wohngeld gerade angesprochen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode
das Wohngeld erhöht. Wir haben für diejenigen, die gerade so viel verdienen, dass sie nicht Hartz-IV-Empfänger sind, und die Rentner, die eine relativ niedrige Rente
haben und daher Wohngeld erhalten, den Heizkostenzuschuss eingeführt. Da haben Sie mit zugestimmt. Die damalige Begründung waren nicht die hohen Preise, sondern es waren vor allem die niedrigen Löhne und
Renten, die wir stützen wollten.
Ich kann Ihnen also von einer Bürgerin aus meinem
Wahlkreis berichten, die mir vorgerechnet hat, wie viel
sie im Monat hat: Nettorente 588 Euro, Wohngeld
60 Euro, Heizgeld 24 Euro. Das heißt, sie verliert in einem Jahr Monat für Monat die 24 Euro. Sie sagt, sie
habe nicht einmal mehr Geld, um die GEZ-Gebühren für
den Fernseher zu bezahlen. Das sind Leute, die an dem
Letzten knabbern, was sie haben. Diese Menschen bluten in diesem Land für Ihre Politik.
({7})
Es geht weiter mit denen, die Sie eigentlich entlasten
wollten, nämlich den Arbeitnehmerhaushalten. Diese
werden belastet. Sie werden belastet durch höhere Sozialabgaben - höhere Sozialabgaben sind eine Belastung -,
auch bei der Krankenversicherung, weil es Ihnen nicht
gelingt, die Kosten in den Griff zu bekommen. Im Gegenteil, die private Krankenversicherung wird mit
1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt zulasten der
gesetzlichen Krankenversicherung gestützt.
Es geht weiter mit der Pharmaindustrie, die Ihnen die
Gesetze diktiert, was dazu führt, dass Mehrausgaben in
Milliardenhöhe entstehen. Die Bürgerinnen und Bürger
in diesem Land, die jeden Tag arbeiten gehen, werden
das bezahlen. Das heißt, weniger Netto vom Brutto. Das
ist das Gegenteil dessen, was wir bräuchten, und auch
das Gegenteil dessen, was Sie versprochen haben.
Dazu kommen die Kürzungen im Bereich des Arbeitslosengeldes. Der Zuschlag für diejenigen, die Arbeitslosengeld I erhalten haben und dann Arbeitslosengeld II bekommen, wird komplett gestrichen. Das fehlt
bei der Binnennachfrage, und es fehlt natürlich den
Menschen mit den geringsten Einkommen.
Carsten Schneider ({8})
Ich glaube, sie hätten sogar Verständnis dafür, dass sie
etwas geben sollen; denn sie wissen: Die Situation ist
kritisch. - Aber wenn man einmal den Blick auf Europa
wirft und sich die Proteste gestern in Spanien ansieht,
dann muss man eines festhalten: Sie werden eine Konsolidierungsstrategie, einen Ausgleich des Staatshaushalts
nur hinbekommen, wenn Sie die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, wenn es sozial gerecht zugeht. Das Urteil über dieses Gesetz ist ganz eindeutig: Es ist nicht sozial gerecht und nicht ausgewogen. Im Gegenteil, es ist
sozial ungerecht, weil die FDP sich zu 100 Prozent
durchgesetzt hat.
({9})
Vermögende in diesem Land werden nicht herangezogen. Auch eine Finanztransaktionsteuer gibt es nicht.
({10})
Herr Schäuble hat vorige Woche in einem Hintergrundkreis des Wirtschaftsrates - so heißt das, glaube ich, bei
der CDU - gesagt, er sei kein Freund der Finanztransaktionsteuer. Die Krise auch der öffentlichen Haushalte
haben wir nur, weil sich an den Finanzmärkten Menschen mit sehr viel Geld verspekuliert haben.
({11})
- Herr Kampeter, Sie haben die Finanztransaktionsteuer
in Ihre mittelfristige Finanzplanung geschrieben. 2 Milliarden Euro wollen Sie darüber ab 2012 jedes Jahr einnehmen. Herr Schäuble aber hat erklärt, er sei kein
Freund davon. Er wird sie in Europa auch nicht durchsetzen. Das ist doch der Punkt. Er hat uns hier etwas vorgemacht. Ihnen geht es nur darum, die Armen zu schröpfen und die Reichen zu schonen, meine Damen und
Herren. So bitter ist das.
({12})
- Tut mir leid. Ich kann nur das bewerten, was hier vorliegt und was Sie bisher beschlossen haben.
Ich will Ihnen auch sagen, was unsere Gegenvorschläge wären. Es geht auch gerecht. Nehmen Sie das
zum 1. Januar 2010 - man kann es nicht oft genug sagen in Kraft getretene Gesetz, das den Hoteliers 1 Milliarde
Euro einbringt, zurück!
({13})
Nehmen Sie noch die Geschenke für die Unternehmen und die reichen Erben dazu! Dann sind wir bei
3 Milliarden Euro. Erhöhen Sie, wie es ursprünglich
auch in der CDU, als sie - zumindest inhaltlich - noch
Volkspartei war, Konsens war, den Spitzensteuersatz in
Deutschland! Die Leute sind bereit, ein Stück weit zurückzugeben, damit in diesem Land sozialer Frieden
herrscht.
({14})
Das tun Sie aber nicht; im Gegenteil.
Als Letztes wollen Sie das Lohnabstandsgebot dadurch erreichen, dass Sie bei den Hartz-IV-Empfängern
kürzen.
({15})
Herr Kampeter, eine Frau, die von Hartz IV lebt und
Mutter wird, hat bisher Elterngeld in Höhe von 300 Euro
bekommen. Es nutzt dieser Frau - und dem Kind - nun
überhaupt nichts, wenn Sie sagen, das sei systemisch
nicht gerecht. Genau das hat der Bundestag hier beschlossen. Wir haben es guten Gewissens getan, weil wir
wollten, dass sie diese zusätzlichen 300 Euro bekommt.
Sie braucht sie nämlich. Es handelt sich hierbei um diejenigen, die am wenigsten haben und das Geld daher am
meisten brauchen. Sie kürzen an dieser Stelle radikal.
Das ist das Gesicht von Schwarz-Gelb. Mit Verlaub: Sie
machen Politik für die Atomkonzerne und für die Pharmalobby. Bei den Armen aber kürzen Sie. Das ist das
Gesicht von Schwarz-Gelb. Das ist ziemlich bitter und
kalt.
({16})
Das Wort hat nun Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schneider, es ist schon bemerkenswert, welches Bild von diesem Land Sie zu erzeugen versuchen.
Sie mögen weiterhin Ihre Vorurteile haben. Sie werden
aber bemerken, dass es Ihnen am Ende nichts nutzt. Gerade als Haushälter müssten Sie doch eigentlich von
Zahlen reden und nicht nur von Gefühlen und Vorurteilen.
({0})
Das passt gar nicht zu Ihnen. Sie sind in der Sache doch
viel besser.
Ich sage Ihnen einmal, was Sie hätten erwähnen können. Sie hätten es am liebsten getan, haben es aber vermieden. Sie hätten fragen können: Wie hoch war die Arbeitslosenquote vor einem Jahr, und wie hoch ist sie
heute? Wie viele Hunderttausend Leute mehr sind mittlerweile in Arbeit, weil die Politik des letzten Jahres
- bei aller Kritik - so gut funktioniert hat? Ich kann Ihnen eines sagen: Diese 300 000 Leute, die nun weniger
in Arbeitslosigkeit sind, sind es, worauf es uns ankommt. Für Sie kommt es auf Vorurteile an. Für uns
kommt es auf Arbeitsplätze an. Darum muss es gehen.
({1})
Herr Kollege Schneider, ich hätte von Ihnen erwartet,
dass Sie in Bezug auf das Thema Sparen einmal überlegen, wie man es dem Bürger sagt. Man müsste doch
erklären: Ja, es ist in den letzten Jahren in der Tat eine
Verschuldung aufgebaut worden. Ja, wir haben eine Rekordverschuldung. Bürger, bitte verstehe: Es ist beim
Staat wie bei dir auch. Wenn du zu viele Schulden hast,
dann musst du irgendwann auch an deine Ausgaben herangehen. - Diese Ehrlichkeit vermissen wir als Koalition bei Ihnen. Diese Art von Ehrlichkeit wurde doch
bisher von Ihnen immer unterstützt.
({2})
Man kann nicht jahrelang immer nur mehr fordern,
wenn man am Ende der Krise nicht bereit ist, zu sagen:
Wir müssen in der Zeit sparen, um in der Not zu haben. Diese Koalition spart,
({3})
wissend, dass es nicht einfach ist, dies zu erklären. Es ist
immer der einfache Weg, wenn man sagt: Wir geben
mehr.
({4})
Sie gehen den einfachen Weg. Sie haben an keiner
Stelle gesagt, dass Sie unangenehme Sachen machen
wollen.
({5})
Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern einmal sagen: Sicherlich kann man diese Politik fahren. Natürlich
hört es sich im ersten Moment gut an, wenn ein Politiker
sagt: Du kriegst das. Das ist gerechter. Das ist sozialer.
({6})
Sie vergessen aber völlig, was am Ende dabei herauskommt. Und das ist spätestens nach einer Legislaturperiode der Fall. Das wäre auch der Fall, wenn Sie wieder an die Macht kämen. Sie würden als Nächstes nicht
nur die angebliche Reichensteuer erhöhen. Sie würden
machen, was Sie in der Vergangenheit auch gemacht haben: Sie würden die Mehrwertsteuer erhöhen. Nichts anderes würden Sie machen. Und wer würde leiden? Die
von Ihnen genannte Dame aus Ihrem Wahlkreis würde
leiden. Der Rentner würde leiden. Der Hartz-IV-Empfänger würde leiden.
({7})
Das ist die Politik, die Sie machen, weil Sie nicht bereit
sind, zu sparen. Im Endeffekt fordern Sie mehr für alle,
um dann am Ende zu sagen: Jetzt müsst ihr es zahlen.
Wir präsentieren euch die Rechnung nach der Wahl. Das ist Ihre Politik. Diese wollen wir nicht mittragen.
({8})
Ein beliebter Vorwurf ist es, etwas als unsozial zu bezeichnen. In einer sozialen Marktwirtschaft, die von der
Freiheit zur Verantwortung geprägt ist, Kollege
Schneider, wird nämlich sofort erklärt: Nein, das will ich
dann nicht. - Dazu kann man sagen: Okay. Man muss
sich aber auch die Zahlen ansehen. Ist es denn beim
Sparpaket so, dass wir im Verhältnis zum Anteil des Sozialen übermäßig sparen? Nein. Das Gegenteil ist der
Fall.
({9})
Ist denn das, was die Koalition im nächsten Jahr für Soziales ausgibt, prozentual weniger als das, was Sie unter
Rot-Grün ausgegeben haben? Nein, auch das ist nicht
der Fall. Das ist auch keine Trickserei. Wissen Sie, der
große Vorteil ist: Zahlen lügen nicht, und gegen Zahlen
kann man nicht allein mit Emotionen ankommen.
({10})
- Sehen Sie, das ist Ihre Reaktion. Für die linke Seite des
Hauses ist es so, dass sogar Zahlen lügen.
({11})
Wer so Haushaltspolitik macht und so über die Zukunft
redet, der kann zukünftigen Generationen nicht ehrlich
in die Augen schauen. Das sollten Sie sich merken.
({12})
- Entschuldigung, es war doch gerade so, dass ich gesagt
habe: Zahlen lügen nicht. - Dann haben Sie gesagt:
Doch, natürlich; das können sie.
({13})
Ich muss sagen: Wenn das so ist, haben Sie in den letzten
Legislaturperioden, zumindest unter Ihren Finanzministern, ein wirklich interessantes Bild abgeliefert, meine
Damen und Herren.
({14})
Ich will noch auf das Thema Soziales eingehen. Es
hieß, soziale Maßnahmen seien nicht vorgesehen. Unseren Bürgerinnen und Bürgern sage ich: Diese Koalition
stellt im Bereich Soziales für die gesetzliche Krankenversicherung 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung.
({15})
- Nein, lieber Kollege Schneider,
({16})
dieses Geld ist nicht für die private Krankenversicherung.
({17})
Lieber Kollege Schneider, Sie wissen ganz genau, dass
diese 2 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung bereitgestellt werden.
({18})
Es geht um die Frage, ob Sie sich diesen Zahlen verweigern oder ob Sie diese Zahlen zur Kenntnis nehmen und
anerkennen - das ist gerade schon dargelegt worden -,
dass im nächsten Jahr aufgrund unserer guten Politik von
den gesetzlichen Krankenkassen keine Zusatzbeiträge
erhoben werden müssen. Auch dies verschweigen Sie.
Meine Damen und Herren, zum Schluss. Es werden
noch umfangreiche Beratungen dieses Haushaltsbegleitgesetzes, das sich technisch anhört, stattfinden.
({19})
Es kann sicherlich auch noch Verbesserungen geben.
Aber eines steht für diese Koalition fest: Die Verbesserungen müssen sich erstens im Rahmen der Verfassung
bzw. der Schuldenbremse bewegen, die Sie völlig ignorieren.
({20})
Zweitens müssen diese Verbesserungen konkret, belastbar und geeignet sein. Ich bin sehr gespannt, welchen
Beitrag Sie dazu liefern werden, außer der Wiederholung
Ihrer Vorurteile, außer dem Verneinen von Zahlen und
außer der Verkennung der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zu Beginn, beste Genesungswünsche an
den Herrn Bundesfinanzminister zu senden. Ich hoffe,
dass er sein Amt möglichst schnell wieder in vollem
Umfang ausüben kann. Denn selbst eine CDU-Rede ist
besser als eine FDP-Rede wie die, die Herr Kampeter
gehalten hat.
({0})
Ich will zunächst darauf eingehen, dass von einem
fundamentalen Wechsel die Rede war. Im Haushaltsbegleitgesetz steht, dass eine Wende in der Haushalts- und
Finanzpolitik vollzogen wird und dass es zur Einleitung
der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte kommt.
({1})
Ich muss schlicht und einfach feststellen, dass das nicht
wahr ist. Es gibt keine Wende in der Haushalts- und
Finanzpolitik des Bundes, und die Einleitung der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte findet nicht statt.
({2})
Eben wurde gesagt: Zahlen lügen nicht. - Hören Sie
sich die Zahlen an: Im nächsten Jahr machen wir rund
60 Milliarden Euro neue Schulden,
({3})
und die Koalition sagt, dass in dieser Legislaturperiode
insgesamt 200 Milliarden Euro neue Schulden gemacht
werden. Das ist die Realität.
Das Markenzeichen Ihrer Koalition sind Kürzungen
bei den Ärmsten der Gesellschaft. Das ist die Realität.
Ich höre immer wieder, dass Sie treffsicher vorgehen
wollen. Lassen Sie uns doch einmal über das Elterngeld
reden. Wie ist denn da die Praxis? Bei wem kürzen Sie
das Elterngeld? Sie kürzen es ausschließlich bei den
Hartz-IV-Empfängern. Eine Millionärsgattin bekommt
natürlich den bisherigen Betrag auch weiterhin. Selbst
jemand, der nicht gearbeitet hat, bekommt 300 Euro pro
Monat. Aber bei den Ärmsten streichen Sie.
({4})
Daran ist nur eines treffsicher: eine Kürzung bei den
Schwächsten der Gesellschaft.
Ein anderes Beispiel ist der Übergang vom
Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II. Hier kürzen
Sie. Warum an dieser Stelle? Warum streichen Sie den
Heizkostenzuschuss? Sie sagen, die Preise seien gesunken. Einverstanden! Angesichts dessen hätten Sie den
Heizkostenzuschuss vielleicht etwas kürzen können.
Aber Sie streichen ihn komplett. Auch das trifft die
Ärmsten der Gesellschaft.
Zu diesem Thema gehört auch - das ist die Kehrseite
der Medaille -, dass Sie den Banken inzwischen
50 Milliarden Euro direkte Kapitalhilfen gegeben haben.
Das ist die Wahrheit. Die Garantieübernahmen haben inzwischen eine Größenordnung von 200 Milliarden Euro,
({5})
und niemand weiß, was uns HRE und andere Banken in
den nächsten Tagen kosten werden. Das alles gehört mit
zur Wahrheit.
({6})
Ja, die Bundesregierung hat gespart. Sie hat wieder
einmal an sozialer Gerechtigkeit gespart, das allerdings
sehr heftig.
({7})
Natürlich muss ich noch kurz auf die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen eingehen. Dazu kann ich nur sagen: Der Berg
kreißte und gebar letztlich ein Mäuschen. - Warum ausgerechnet diese neue Schikane der von Hartz IV Betroffenen, wie die Kanzlerin gesagt hat, ein sehr großer
Schritt für die Menschen sein soll, um aus Hartz IV herauszukommen, können Sie niemandem erklären. Es ist
ein Hohn, diese Regelsätze willkürlich und nach Kassenlage festzulegen. Aber das Entscheidende ist: Mit dieser
Regelung finden Sie sich damit ab, dass Menschen in
Armut leben. Das ist schlicht eine Tatsache.
({8})
Die Regierung hat keinerlei Kenntnis und Einfühlungsvermögen, was die Lage derjenigen Menschen angeht,
die wirklich am Existenzminimum leben müssen.
({9})
Im Übrigen - das möchte ich noch ergänzen; das
muss man festhalten - hat die Sozialdemokratie sehr laut
dazu geschrien; wie ich finde, zu Recht. Sie hat aber offensichtlich vergessen, dass der Regelsatz, der davor
galt, in sozialdemokratischer Verantwortung eingeführt
worden ist. Ich hoffe nur, dass Sie im Bundesrat ein
Stück weit Wiedergutmachung leisten, wenn Sie dieser
Sache in Konsequenz nicht zustimmen, und dass Sie
nicht irgendwelche Kompromisse machen, die nicht akzeptabel sind.
({10})
Warum gibt es denn Kinderarmut in Deutschland? Bei
der Politik, die Sie machen, spielen Sie die Ärmsten gegen die Armen aus. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz verschärfen Sie das noch. Natürlich trifft die Streichung des
Elterngelds die Kinder. Wen denn sonst? Damit treffen
Sie genau die Kinder, die in unserem Land schon jetzt in
Armut leben. Dort, wo Reichtum ist, dort, wo Geld ist,
bei den Krisenverursachern, bei den Gewinnern der
Krise, kneifen Sie in Gänze. Es ist doch kein Zufall, dass
die Brennelementesteuer in dem Haushaltsbegleitgesetz
nicht vorkommt.
({11})
- Ja, sie kommt nicht vor, sie ist nicht drin.
({12})
- Ich weiß, warum. Aber sie ist nicht drin. Das ist kein
Zufall.
({13})
Ist die Luftverkehrsabgabe eine Steuererhöhung? Ja, sie
ist eine Steuererhöhung. Das widerspricht doch Ihren
vor der Wahl gemachten Versprechungen, Herr Fricke.
({14})
Es bleibt dabei: „Einfach, niedrig und gerecht“ war Ihr
Versprechen. Richtig ist: Die Umfragen sind einfach,
niedrig und gerecht, und das ist auch gut so.
({15})
Ihre Politik, die in dem Haushaltsbegleitgesetz sichtbar wird, ist falsch. Sie ist ungerecht, sie ist unsolide,
und sie ist auch unsozial. Sie kürzen bei Investitionen,
Stichwort „Stadtumbauprogramm“.
({16})
Herr Kampeter, Sie sagen, Sie würden da kürzen, wo es
notwendig sei. Warum tun Sie das dann? Selbst der
Minister ist dagegen. Das ist eine völlig falsche Maßnahme. Bei der Gebäudesanierung ist es genauso. Warum kürzen Sie genau dort, wo wirklich Investitionen für
die Zukunft geleistet werden müssen? Das alles ist eine
grundsätzlich falsche Politik. Die Linke wird dies nicht
akzeptieren.
Ich kann nur hoffen, dass in den Beratungen, die stattfinden werden, auch unsere Vorschläge ernsthaft geprüft
werden; denn dieser neoliberale Kurs ist nicht alternativlos. Es muss Schluss sein mit dem Abkassieren bei den
Ärmsten der Armen. Steuerpolitische Handlungsfähigkeit für Bund, Länder und Kommunen muss hergestellt
werden.
Da Sie unsere Vorschläge vielleicht nicht so gut finden, will ich einen Saarländer zitieren,
({17})
nämlich den Ministerpräsidenten des Landes Saarland,
Herrn Müller. Er sagt: Unsere Steuerquote ist die niedrigste in Europa. Da sehe ich Spielraum. - Der Mann hat
recht.
({18})
Deswegen sage ich Ihnen: Warum machen Sie in dieser
Situation keine Millionärsteuer?
({19})
Warum kassieren Sie nicht bei denjenigen, die extrem
viel haben? Die Zahl steigt; wir bewegen uns auf die
900 000 zu. Eine bescheidende Millionärsteuer bei einem Freibetrag von 1 Million Euro würde wirklich niemanden in Armut stürzen.
({20})
Warum denken Sie nicht über die Erbschaftsteuer nach?
Das ist eine Reform, die wirklich nur die privaten Geldvermögen, nur das Immobilienvermögen betrifft. Auch
das würde Milliarden in die Haushalte spülen.
({21})
- Bitte?
({22})
- Das bekommen die Länder.
({23})
- Ich habe von der Haushaltslage des Bundes, der Länder und der Kommunen gesprochen. Sagen Sie etwa,
dass es den Ländern gut geht, Herr Fricke? Selbst in den
Ländern, in denen Sie regieren, ist das nicht der Fall.
Warum denken Sie in dieser Situation nicht über Einnahmeerhöhungen über den Spitzensteuersatz nach?
Was ist denn so absurd, ihn angesichts dieser Krise wieder in Richtung 50 Prozent anzuheben?
({24})
Warum kommt man nicht darauf? Auch Menschen in Ihrer Partei sagen, man sollte ihn wieder anheben. Sie
müssen in dieser Situation über Einnahmeerhöhungen
nachdenken; denn Sparen bei den Ärmsten ist der falsche Weg.
({25})
Eine wirkliche Wende hin zu Gerechtigkeit steht auf
der Agenda. Wir haben heute früh über 20 Jahre deutsche Einheit diskutiert. Haben Sie den Mut, in dieser
schwierigen Situation Entscheidungen zu treffen, die in
Konsequenz eingreifen! Nehmen Sie die Vorschläge der
Opposition ernst, damit Deutschland gerechter wird!
({26})
Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, am Anfang zu sagen, dass es mir als Baden-Württemberger schwerfällt, nach den Vorfällen, die
sich gerade in Stuttgart abspielen, heute Abend hier in
einer ruhigen Parlamentsdebatte zu sitzen. Dort ist nämlich, ausgehend von den Verantwortlichen, eine unverantwortbare Brutalität eskaliert.
({0})
Inzwischen sind tausend Bürgerinnen und Bürger mit
Augenverletzungen - durch Reizgas verursacht, das von
der Polizei eingesetzt wurde - in den Krankenhäusern.
Dort wurde eine Prügelattacke gegen 14-jährige Schülerinnen und Schüler für ein milliardenschweres Großprojekt durchgezogen, das Sie durchsetzen.
({1})
Ich finde, eine Fraktion, die sich christlich nennt, sollte
sich solche Zwischenrufe wirklich schenken, Herr
Michelbach.
({2})
Es ist eine Schande, dass in diesem Parlament ein Polizeieinsatz dieser Brutalität auch noch per Zwischenruf
legitimiert wird. Ich schäme mich wirklich dafür, dass in
diesem Land Vorgänge, wie wir sie heute in Stuttgart erlebt haben, möglich sind. Das muss ich an dieser Stelle
wirklich deutlich sagen.
({3})
Was wir in Stuttgart erleben, hat nur mittelbar etwas
mit dem Bundeshaushalt zu tun, über den wir hier auch
diskutieren. Was haben wir in den letzten zwei Wochen,
also zwischen der ersten Lesung des Bundeshaushalts
und der heutigen ersten Lesung des Entwurfs des Haushaltsbegleitgesetzes 2011, erlebt? Der Gesetzentwurf hat
sich verändert. Vor zwei Wochen waren noch Elemente
enthalten, durch die in geringem Maße auch Unternehmen an den notwendigen Konsolidierungen im Bundeshaushalt beteiligt würden.
Was war inzwischen? - Die Kanzlerin war beim BDI,
dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Sie hat
dort nicht die Rede gehalten, die sie einmal angekündigt
hat und bei der es um die offensive ökologische Neuausrichtung auch bei der Besteuerung gehen sollte. Sie hat
dort auch nicht darüber gesprochen, was sie hier versprochen hat, dass nämlich die Ausnahmen bei der ÖkoAlexander Bonde
steuer wenigstens im kleinen Maße bereinigt werden, indem Mitnahmeeffekte ausgeschlossen werden. Das war
die Ansage, mit der die Kanzlerin hier in die Diskussion
über den Bundeshaushalt hereinmarschiert ist. Der Abbau dieser Mitnahmeeffekte hat nicht mal einen Auftritt
beim BDI überlebt. Hieran sieht man wieder, wie
Schwarz-Gelb am Gängelband der Lobbyisten hängt
({4})
und dass Sie es nicht einmal schaffen, diese Mitnahmeeffekte, die ökologisch auch noch doppelt falsch sind,
tatsächlich abzuschaffen. Was in den letzten zwei Wochen hier passiert ist, ist auch ordnungspolitisch ein Armutszeugnis.
({5})
Das bedeutet 1 Milliarde Euro mehr für den BDI,
1 Milliarde Euro gegen die ökologische Modernisierung
in diesem Land.
Auf der anderen Seite des Konsolidierungspaketes
passiert nichts. Dort sind weiter 2 Milliarden Euro weniger für die Rentenversicherung für Arbeitslose vorgesehen.
({6})
Herr Kollege Bonde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Aber immer.
Erstens. Herr Kollege Bonde, auch wenn ich Ihre
Aufregung emotional nachvollziehen kann, möchte ich,
damit das hier nicht so stehen bleibt, schon noch feststellen: Es ist für jeden in diesem Parlament ein unangenehmes Gefühl, wenn jemand im Rahmen einer Demonstration verletzt wird. Ich glaube, Unterstellungen, dass das
der einen oder anderen Seite egal ist, passen nicht. Ich
gehe aber auch davon aus, dass Sie das nicht so gemeint
haben.
Zweitens. Sie behaupten hier jetzt, dass die Stromsteuer und die möglichen Änderungen im Rahmen der
Verfassung unter gleichzeitiger Deckung, wie es die
Bundeskanzlerin gesagt hat, angeblich nicht in dem Gesetzentwurf stehen. Das klang so heraus. Könnten Sie
wenigstens kurz bestätigen, dass das nicht der Fall ist,
sondern dass das weiterhin hier in dem Gesetzentwurf
steht, den wir heute hier beraten, dass das Teil der Beratungsgrundlage ist und dass da nichts herausgenommen
worden ist?
Kollege Fricke, Sie haben recht: Es handelt sich um
eine Ankündigung, diesen Gesetzentwurf, über den wir
heute diskutieren, zu verändern, eine Ankündigung, die
genau im Dissens zu dem steht, worüber wir hier vor
zwei Wochen gemeinsam diskutiert haben, als es um
massive Steuervergünstigungen im Bereich der Energieund Stromsteuer ging, und zwar insbesondere für besonders energieintensive Betriebe; wir reden hier über eine
Größenordnung von 5,5 Milliarden Euro. Die Bundesregierung hatte angekündigt, genau an dieser Stelle Mitnahmeeffekte auszuschließen.
Dabei ging es auch um den Missbrauch von EnergieContracting.
({0})
Dabei haben sich Unternehmen, die erkennbar nicht im
internationalen Wettbewerb stehen, durch Umgehungstatbestände, fragwürdige Rechtskonstruktionen und Ähnliches Subventionen erschlichen, die noch nie für sie gedacht waren.
Schon diese Ankündigung der Kanzlerin halte ich
nicht für wirklich weitgehend, da wir über jährlich
48 Milliarden Euro an umweltschädlichen Subventionen im Bundeshaushalt reden, während es gleichzeitig
eine Klima- und Haushaltskrise gibt. Wenn die Bundeskanzlerin jetzt aber auch noch diesen minimalen Schritt,
den ich richtig gefunden hätte, infrage stellt, sie also
selbst diesen Trippelschritt in Richtung Ökologiesierung
nach einem Pfiff aus dem Lobbyistenclub schon wieder
zurücknimmt, um einmal wieder Applaus beim BDI zu
bekommen, dann, mit Verlaub, muss ich das als Opposition geißeln. Also, das ist doch genau das, was ich gerade kritisiert habe. Das ist umweltpolitisches, das ist
haushaltspolitisches und ordnungspolitisches Versagen.
Sie wissen das auch, sonst hätten Sie die Frage ja nicht
gestellt, Kollege Fricke.
({1})
Zum Subventionsabbau: Das bisschen, was Sie da angekündigt haben, soll ja hier schon kassiert werden. Die
Süddeutsche Zeitung hat es heute im Kommentar sehr
schön auf den Punkt gebracht: „Das war’s mit dem Subventionsabbau“, schreibt sie. Ich finde, den denkwürdigen Satz zum Schluss sollten Sie sich ins Stammbuch
schreiben. Die Süddeutsche Zeitung schreibt:
In einem CDU-Wahlprogramm jedenfalls sollte der
beliebte Begriff „Subventionsabbau“ nie wieder
auftauchen.
Das ist die adäquate Zusammenfassung der Vorgänge in
den letzten zwei Wochen.
({2})
Sie zementieren die ökologische Schieflage. Die ökologische Verschuldung wird dadurch größer, dass Sie
hier selbst die kleinsten Teile einer sinnvollen Strategie
im Subventionsabbau zurückziehen. Beim Luftverkehr
passiert das Gleiche. Diese Branche wird jährlich mit
rund 11,5 Milliarden Euro subventioniert: circa 7,2 Milliarden Euro durch Energiesteuerbefreiung des Kerosins,
circa 4,2 Milliarden Euro durch die Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge. - Das sind alles keine
Zahlen von mir, sondern Zahlen vom Umweltbundesamt.
({3})
Jetzt haben Sie sich endlich dazu durchgerungen,
Kollege Fricke, sich in Form der „Flugticketabgabe“
oder - seien wir mal ehrlich und nennen es so - der Besteuerung von Flugtickets hier mal so ein bisschen heranzurobben. Dies ist zwar nur ein Bruchteil der falschen
Subventionen, aber Sie haben sich wenigstens mal herangewagt. Ich als Grüner bin dafür und sage: Machen
Sie das!
Nur, der entscheidende Punkt ist: Selbst an der Stelle
sind Sie nicht in der Lage, es wirklich durchzuhalten. Sie
haben keinen Plan zur Ökologisierung des Verkehrs mit
klaren Lenkungseffekten. Stattdessen machen Sie wieder
einen Wirrwarr an Einzelausnahmen, Sonderbegünstigungen und Ähnlichem. Auch da wieder belegt das, was
Sie als Haushaltsbegleitgesetz auf den Tisch gelegt haben, Ihr völliges ordnungspolitisches Versagen.
({4})
Die soziale Verschuldung steigt. In den letzten Wochen haben wir nun weiß Gott genug Gründe dafür auf
den Tisch gepackt, weshalb wir meinen, dass Sie hinsichtlich der Rentenbeiträge für Bezieher von Arbeitslosengeld II auf einem völlig falschen Gleis sind. Davor
gibt es bundesweit Warnungen von Ihren kommunalen
Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern,
von der Rentenversicherung und von Betroffenen. Nur,
interessanterweise bewegt sich da bei dieser Koalition
nichts. Millionen Betroffene, Tausende betroffene Kommunen sind nichts wert. Ich frage mich dann schon: Jeder Pfiff des Lobbyisten bringt Bewegung in diese Koalition, und dort, wo es um echte Betroffenheit geht,
dort, wo es um die Zukunft der Rentenversicherung geht,
dort, wo es um die kommunale Handlungsfähigkeit, um
die Zukunft bei den Kommunalfinanzen geht, da bewegt
sich diese Koalition nicht.
Man hat schon langsam den Eindruck, Sie sind wirklich in sozialpolitischen Autismus verfallen, sehr geehrte
Damen und Herren von CDU und FDP.
({5})
Die Schieflage beim Elterngeld wurde bereits benannt. Auch da ist die Logik klar: Wer viel verdient,
wird nicht belastet, wer durchschnittlich verdient, wird
ein wenig belastet, und bei den Schwachen nimmt man
alles. Das ist die Logik, die sich quer durch dieses Haushaltsbegleitgesetz zieht. Ich weiß nicht, was Sie damit
begleiten, aber eine sinnvolle Haushaltskonsolidierung
ist es sicherlich nicht.
({6})
Denn wenn Sie die wirklich ernsthaft machen wollen
- und die müssen wir ja gemeinsam machen -, dann
müssen Sie die Breite der Gesellschaft auf diesem Konsolidierungsweg mitnehmen. Sie brauchen eine faire, gemeinsame Strategie, um diesen Konsolidierungsprozess
hinzubekommen.
Das tun Sie nicht, und dieses Haushaltsbegleitgesetz
macht es noch weniger, als es die Debatte vor zwei Wochen schon vermuten ließ. Insofern, mit Verlaub, ich
glaube, auch an der Stelle bräuchte diese Koalition wirklich einen Neustart. Das Gesetz taugt nichts, es bringt die
notwendige Konsolidierung nicht, und es verschärft die
ökologische und soziale Verschuldung in diesem Land.
Das war mal wieder nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Hans Michelbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die
schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise hat eine historisch hohe Staatsverschuldung und einen makroökonomischen Wohlstandsverlust allein in Deutschland innerhalb von zwei Jahren in Höhe von 170 Milliarden Euro
zur Folge gehabt. Aber: Die teuren Rettungsschirme waren notwendig, und das antizyklische Vorgehen war aus
heutiger Sicht richtig.
({0})
Das zeigen die erfolgreiche Krisenbewältigung und die
Konjunkturerholung. Das Wachstum hat für neue Arbeitsplätze und Mehreinnahmen der Kommunen und des
Bundes gesorgt. Das hohe Haushaltsdefizit war also zunächst unvermeidlich, um mit zielgerichteten Wachstumsimpulsen den Weg aus der Krise zu ebnen. Nun, da
es wirtschaftlich wieder spürbar bergauf geht, müssen
wir natürlich umsteuern, müssen wir zügig mit dem Abbau der nicht dauerhaft akzeptablen Schuldenquote beginnen. Wir leiten heute die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte mit diesem Haushaltsbegleitgesetz
konsequent ein.
({1})
Die Ausgabenreduzierungen, die unausweichlich sind,
sind ausgewogen, maßvoll und vor allem auch konjunkturschonend und geben damit den Menschen in unserem
Land neue Chancen. Darauf kommt es an.
({2})
Wir sichern damit auch mit Blick auf die nachfolgenden Generationen die Zukunftsfähigkeit unseres Staates.
Das ist eine Herkulesaufgabe, der wir uns verantwortungsbewusst stellen müssen. Wir haben Grund zur ZuDr. h. c. Hans Michelbach
versicht, dass wir die Konsolidierung in der Zukunft
schaffen. Wir nehmen hier zur Kenntnis, dass Sie von
der Opposition jede Einsparung und jeden Vorschlag zur
Konsolidierung ablehnen.
({3})
Sie machen Politik nach dem Prinzip: Freibier für alle,
Transferleistungen für alle. Sie sagen aber nicht, woher
die Mittel dafür kommen sollen.
({4})
Nur draufsatteln, neue Forderungen stellen und neue
Versprechungen machen, das ist keine verantwortungsvolle Politik.
({5})
Sie müssen doch sehen, dass wir nicht alleine in dieser
Situation sind. Sie schlagen sich in die Büsche. Alle anderen Länder in der EU und in der Welt, die großen Industriestaaten haben Sparpakete auf den Weg gebracht.
Sie von der Opposition stehen mit Ihrer Ausgaben- und
Schuldenpolitik völlig alleine in dieser Welt. Alle müssen konsolidieren und werden zum Erhalt der Währungssicherheit und der Sicherheit der Weltwirtschaft diesen
Weg beschreiten müssen. Wir stehen von allen großen
Industriestaaten Gott sei Dank immer noch am besten
da. Mit einem Staatsdefizit von 3,3 Prozent in diesem
Jahr liegt die Bundesrepublik Deutschland von den
27 Staaten der Europäischen Union unter den ersten
fünf. Im Vergleich mit den Industriestaaten stehen wir
ganz vorne. Wir sind Wachstumslokomotive - das ist unser Anspruch - und nicht Schlusslicht, das wir wären,
wenn wir Ihre Vorschläge befolgen würden.
Sie beklagen unter anderem den Rettungsschirm für
die Banken. Sie müssen aber einmal anerkennen: Das
haben wir doch nicht für uns getan, sondern das haben
wir zur Rettung der Sparkonten und zur Sicherung der
Arbeitsplätze getan. Das ist die Situation.
({6})
Sie werfen uns vor, dass wir im Sozialbereich kürzen.
({7})
Wir verlangen von den Menschen keine Opfer, sondern
wir sichern ihre Sozialversicherungssysteme. So wird
ein Schuh daraus. Das ist das Prinzip.
({8})
Im Bereich des Sozialetats müssen Opfer gebracht werden, weil dieser einen Anteil von 54 Prozent am Bundeshaushalt hat. Man kommt angesichts dieser Zahlen um
eine ausgewogene und vernünftige Einsparung gar nicht
umhin.
({9})
Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir diese Maßnahmen ergreifen.
Ich komme zum Schluss. Wir nehmen sicherlich einige Änderungen im Steuerbereich in Angriff; aber wir
planen keine Einkommensteuererhöhungen, wie Sie sie
vorschlagen. Ertragsteuererhöhungen werden von uns
nicht durchgeführt.
({10})
Das ist der richtige Ansatz, um auch in der Zukunft
Wachstum zu erzielen. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was Sie fordern, und dem, was
wir tun. Sie fordern Steuererhöhungen, unter anderem
über eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Dafür würden die Bezieher der mittleren Einkommen die Zeche
zahlen. Wir wollen, dass mehr Menschen arbeiten und
dass Arbeit sich lohnt. Leistung darf nicht dadurch bestraft werden, dass der Staat den Ertrag der Arbeit übermäßig besteuert. Mit unserer Politik werden wir Wachstum erzielen. Arbeitswillige werden so immer wieder
einen Arbeitsplatz und eine neue Chance in Deutschland
erhalten.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Michelbach, Sie haben in Ihrer Analyse, wie es
dazu kam, dass wir jetzt in Deutschland eine gesamtstaatliche Haushaltskonsolidierung vornehmen können,
vollkommen recht. Wir können miteinander feststellen,
wie Deutschland im Jahr 2008 dastand. Im Jahr 2008 unter der Ägide von Finanzminister Peer Steinbrück gab
es, gesamtstaatlich gesprochen, ausgeglichene Haushalte
in Deutschland. Herr Kampeter, unter der Ägide des Vorgängers von Herrn Schäuble hätten wir ohne Finanzkrise
im Jahre 2010/2011 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt. Ich will das an dieser Stelle einmal sagen. Es geht
darum, klarzustellen, was uns eingebrockt hat, dass der
Staat Konjunkturprogramme auflegen musste und Einnahmeausfälle hatte: Es ist einzig und allein die Finanzkrise.
({0})
Wir kommen deshalb nicht umhin, zu sagen, Herr
Kollege Fricke: Es ist ein Armutszeugnis, dass Sie den
Sektor, der am Entstehen dieser Krise beteiligt war, bei
der Bemühung um Haushaltskonsolidierung vollständig
außer Acht lassen. Ich wiederhole: Sie lassen ihn vollständig außer Acht.
Hubertus Heil ({1})
({2})
Nicht eine Maßnahme in diesem Haushaltsbegleitgesetz
bezieht diejenigen mit ein, die diese Krise verursacht haben. Im Gegenteil: Sie halten sich schadlos an denjenigen, die zum Entstehen dieser Krise nichts beigetragen
haben: Sie sparen bei Rentnern, Sie sparen bei Alleinerziehenden, Sie sparen bei Langzeitarbeitslosen. Dass das
Menschen in diesem Land als ungerecht empfinden, das
können Sie doch nicht leugnen.
({3})
Herr Fricke, ich habe Ihrer Rede und der von Herrn
Kampeter aufmerksam zugehört. Das Lieblingswort - fast
ein Gummiwort im parlamentarischen Betrieb; das muss
man leider sagen - ist der Begriff der Nachhaltigkeit.
({4})
- Herr Fricke, wenn Sie sich ein wenig später melden,
beantworte ich Ihre Zwischenfrage gerne. Einen kleinen
Moment noch! - Nachhaltigkeit ist, wie ich schon sagte,
zu einem Gummiwort geworden. Alles ist nachhaltig
geworden. In der Werbung gibt es schon nachhaltigen
Joghurt. Fragen wir einmal, was der Begriff „nachhaltig“
meint. Dieses Wort kommt aus der Forstwirtschaft, und
es bedeutet: Man sollte nicht mehr aus dem Wald ausschlagen, als nachwachsen kann.
({5})
Gerade deshalb stellt sich die Frage, warum Sie in diesem Haushaltsbegleitgesetz genau da die Axt ansetzen,
wo es um Investitionen der öffentlichen Hand und der
privaten Wirtschaft geht. Beispiele lassen sich nennen.
Wenn wir den Weg der Haushaltskonsolidierung beschreiten wollen, Herr Kollege Kampeter, dann werden
wir uns um Ausgabendisziplin kümmern müssen - gar
keine Frage -, dann werden wir uns um die Einnahmebasis der öffentlichen Hand kümmern müssen - keine
Frage -; aber wir werden das Ganze nicht ohne ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen. Wenn wir uns
die Ökonomie in diesem Land anschauen, dann erkennen wir, dass wir Probleme haben, was die Investitionsquoten der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft betrifft.
({6})
All das, was wir in der Vergangenheit getan haben,
um in diesem Bereich zu mehr Investitionen zu kommen, beschneiden Sie in diesem Gesetzentwurf.
({7})
Ein Stichwort ist „Städtebau“. Sie streichen bei der energetischen Gebäudesanierung, obwohl Sie sie für Ihr Klimapaket brauchen. Das Achtfache dessen, was die öffentliche Hand dort einsetzt, wird in der privaten
Wirtschaft für Investitionen mobilisiert. Sie streichen
beim Marktanreizprogramm, und Sie verzichten vollständig auf das, was Sie noch im Koalitionsvertrag vollmundig angekündigt haben, nämlich auf die steuerliche
Forschungsförderung, mit der wir durch Innovationen
tatsächlich auf einen nachhaltigen Wachstumspfad kommen können. Sie sparen an Zukunft, und Sie sparen ungerecht. Das ist unser Vorwurf.
({8})
Es gibt Alternativen. Herr Kollege Fricke, Sie stellen
sich hierhin und erklären Sozialdemokraten, die mit Peer
Steinbrück und anderen den Weg zur Haushaltskonsolidierung in diesem Land geebnet haben, dass sie die
Staatsfinanzen nicht in Ordnung bringen wollen. Was für
ein Popanz! Es war doch diese schwarz-gelbe Bundesregierung, die kurz nach der Bundestagswahl 2009 erst
einmal nichts Besseres zu tun hatte, als Klientelgeschenke, etwa die Hotelsteuer, an die eigene Klientel,
zum Beispiel an die reichen Erben und die großen Konzerne, auszureichen.
({9})
Nichts anderes haben Sie an dieser Stelle gemacht.
Wenn Sie das als falsch erkannt haben - Herr Fricke,
ich weiß, in Ihrem Herzen finden Sie diese Hotelnummer doch genauso peinlich wie der Rest der deutschen
Öffentlichkeit -, dann hätten Sie bei diesen Sparanstrengungen den Mut haben müssen, diese Geschenke wieder
einzusammeln, bevor Sie sich an den Schwächsten vergreifen.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie denn jetzt die angekündigte Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Gerne.
Also, bitte schön.
Herr Kollege Heil, erstens wollen Sie, dass wir das
Gesetz zurücknehmen. Dann sollten Sie aber auch so
ehrlich sein und der Öffentlichkeit sagen, dass Sie den
Leuten mit der Zurücknahme des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes auch die Kindergelderhöhung wegnehmen wollen.
({0})
Wenn Sie das wollen, ist das in Ordnung. So weit zur
Feststellung.
({1})
- Er hat gesagt, das Gesetz solle zurückgenommen werden. Damit müssen Sie leben. Er hat es gesagt.
Nein!
Zweitens. Herr Kollege Heil, Sie haben gerade gesagt, dass wir mit dem Haushaltsbegleitgesetz den Rentnern etwas wegnehmen würden. Ich frage Sie in aller
Ernsthaftigkeit: Bleiben Sie bei der Aussage, dass wir
mit dem Haushaltsbegleitgesetz den heutigen Rentnern
Geld wegnehmen?
Herr Kollege Fricke, ich bin Ihnen für beide Fragen
sehr dankbar. Wenn Sie das im Protokoll nachlesen sollten, werden Sie feststellen, dass ich mich auf die Teile
Ihres sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes
bezogen habe,
({0})
die Ihre Klientel bessergestellt haben.
({1})
- Die Binnenkaufkraft wird nicht durch die Hoteliergeschenke gestärkt, die Sie gemacht haben. Das ist doch
Quatsch mit Soße. Genau darauf habe ich mich bezogen.
({2})
Herr Kollege Fricke, Sie haben ein ohnehin sehr undurchsichtiges Ausnahmesystem bei der Mehrwertsteuer
noch undurchsichtiger gemacht, das wir übrigens im
Jahr 2002 gegen Ihren Widerstand versucht haben zu reformieren.
({3})
Ich sage noch einmal: Wir haben im Jahr 2002, als
Hans Eichel Finanzminister war, Vorschläge gemacht,
um diese undurchsichtigen und widersinnigen Dinge, die
wir im Mehrwertsteuerrecht haben, zu beseitigen. Daraufhin haben Sie das Land mit populistischen Kampagnen überzogen.
Jetzt haben Sie diesen Zustand noch verschlimmert
und Ihre Klientel bessergestellt. Ihr Herr Burgbacher im
Bundeswirtschaftsministerium hat sich an dieser Stelle
als Hotellobbyist betätigt. Das kostet die öffentliche
Hand über 1 Milliarde Euro. Ich habe nichts anderes gesagt als: Wenn Sie sparen müssen - und der Staat muss
sparen -, dann fangen Sie doch bei denen an, denen Sie
es hinten reingesteckt haben, um es norddeutsch zu sagen, bevor Sie sich an den Schwächsten vergreifen.
({4})
Ich halte meine Aussage aufrecht, dass die Art und
Weise, wie Sie Zuschüsse für die Rentenversicherung
kürzen, langfristig dazu führen wird - ({5})
- Ich sage Ihnen, Sie kürzen Zuschüsse an die Rentenkasse im Bereich des Arbeitslosengeldes. Am Ende des
Tages wird das dazu führen, dass vermehrt Menschen in
der Grundsicherung landen.
({6})
- Natürlich. Das trifft Menschen, die trotz Arbeitslosigkeit höhere Rentenversicherungsansprüche hätten, die
Sie in die Grundsicherung jagen. Am Ende des Tages
kippen Sie den Kommunen das Ganze vor die Tür. Das
ist der Verschiebebahnhof auf der langen Strecke, und
das ist auch Teil Ihres Pakets. Das werden Sie sich sagen
lassen müssen. Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun.
({7})
Nachhaltigkeit ist die Verbindung von wirtschaftlicher Vernunft, sozialem Fortschritt und ökologischen
Notwendigkeiten. Wenn man sich dieses Paket anschaut,
dann stellt man fest, dass es nicht im Sinne wirtschaftlicher
Vernunft eines selbsttragenden langfristigen Aufschwungs
ist, wenn Sie Investitionen in wichtigen Bereichen der Zukunft kürzen. Wenn man bei der energetischen Gebäudesanierung oder beim Marktanreizprogramm kürzt, wird
das ökologische und ökonomische Folgen haben. Was
Sie machen, ist nicht sozial gerecht. Lassen Sie sich das
sagen.
Herr Michelbach, an dieser Stelle zitiere ich jemanden aus Ihren Reihen, und zwar Herrn Lauk. Das ist der
Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats. Dieser hat Ihnen
ins Stammbuch geschrieben, eine Volkspartei wie CDU
und CSU würde sich im Hinblick auf die Akzeptanz von
Konsolidierungspolitik keinen Zacken aus der Krone
brechen, wenn man den Spitzensteuersatz anheben
würde. Wie gesagt, Herr Lauk ist einer von Ihnen und
unverdächtig, irgendein böser Sozialist zu sein. Das werden Sie bestätigen. Ich finde, dieser Mann hat vollkommen recht. Wir schlagen Ihnen vor, das gemeinsam miteinander hinzubekommen.
Ich bin der Meinung, dass der Spitzensteuersatz ruhig
erst bei einem höheren Jahreseinkommen als 53 000 Euro
greifen kann. Ein Lediger, der 53 000 Euro verdient, ist
in diesem Land ein Gutverdiener, aber kein reicher
Mensch.
Ich fände es aber im Sinne der Hygiene in unserem
Land richtig, bevor man bei den Ärmsten der Armen
kürzt, zunächst die Solidarität derjenigen in Anspruch zu
nehmen, die gerne bereit sind, ihre patriotische Pflicht zu
erfüllen und einen Beitrag zu einem gesunden Gemeinwesen zu leisten. Deshalb ist es nicht unanständig, sondern ein Gebot der Vernunft und der Fairness, dafür zu
sorgen, dass auch Spitzenverdiener in diesem Land einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Kein
Spitzenverdiener in diesem Land ist von den Maßnahmen betroffen, die Sie beschlossen haben.
Hubertus Heil ({8})
({9})
Kein Spitzenverdiener leistet an dieser Stelle einen Beitrag. Herr Michelbach, was ist eigentlich Ihr Beitrag und
mein persönlicher Beitrag zur Haushaltskonsolidierung?
Diesen erkenne ich an dieser Stelle gar nicht. Sie kürzen
das Elterngeld von Langzeitarbeitslosen und Alleinerziehenden, lassen es aber den Millionärsgattinnen. Auch
das ist ein Beispiel von Schieflage.
({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Kollege Michelbach.
Herr Kollege Heil, würden Sie zur Kenntnis nehmen,
dass die oberen 50 Prozent der Steuerzahler in Deutschland 95 Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer
leisten?
({0})
Warum wollen Sie die Leute, die durch einen höheren
Spitzensteuersatz einen steileren Tarif bekommen würden und durch die Progression stärker belastet würden,
noch zusätzlich über diese 95 Prozent hinaus zur Kasse
bitten? Ist es nicht notwendig, dass die Leistung, die
diese Leute für das Gemeinwohl und für die Sozialtransferleistungen erbringen, auch honoriert wird?
Herr Michelbach, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese Frage. Damit kann ich an dieser Stelle einiges aufklären. Ich habe vorhin gesagt: Wir sind nicht dafür, die Progressionskurve steiler zu machen. Wir können
auch darüber reden, dass der Spitzensteuersatz nicht
schon bei einem Einkommen in Höhe von 53 000 Euro
greift; dann sollte er aber auch ein Stück höher sein.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir damit nicht dafür
sorgen, dass die Progressionskurve für die mittleren
Steuerzahler steiler wird.
In Ihrer Darstellung lassen Sie aber ein, zwei Dinge
außer Betracht. Wenn Sie davon reden, dass die oberen
50 Prozent der Steuerzahler 95 Prozent der Steuerlasten
tragen, unterschlagen Sie damit zugleich den Beitrag
derjenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
Sozialversicherungsleistungen und Abgaben für den Sozialstaat entrichten.
({0})
Wenn wir den Blick nun auf das gesamte Steuer- und
Abgabensystem richten, dann ergibt sich folgende Situation: Die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen
leisten den wesentlichen Beitrag zur Finanzierung dieses
Gemeinwesens, Spitzenverdiener einen zu geringen.
({1})
In Zeiten der Haushaltskonsolidierung müssen die
Lasten fair verteilt werden. Ja, es ist nicht so, dass man
in solchen Zeiten nur Populäres fordern und durchsetzen
kann. Wir haben unsere Erfahrungen damit gemacht. Es
ist aber eine Frage von Fairness, auch diejenigen, die
nicht überproportional belastet würden, wenn sie einen
angemessenen Beitrag leisten müssten, stärker in die
Verantwortung zu nehmen.
Ich will Ihnen sagen, warum ich das auch ökonomisch
für richtig halte, Herr Kollege Michelbach. Wir können
in diesem Land eine erfreuliche Entwicklung verzeichnen, weil wir einen exportgetriebenen Aufschwung haben. Wir haben in der Großen Koalition gemeinsam
dafür gesorgt, dass Deutschland besser durch diese Finanzkrise gekommen ist, als es zu erwarten gewesen
wäre. Jetzt wächst die Wirtschaft wieder. Das ist im Wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass wir stark im Export sind, dass wir, wenn Sie so wollen, starke Auswärtsspiele haben. Aber wir haben Probleme beim Heimspiel.
Die Binnennachfrage ist zwar durch Kurzarbeit und
viele andere Maßnahmen, die dafür gesorgt haben, dass
Menschen nicht in Arbeitslosigkeit abgerutscht sind,
recht stabil geblieben, aber sie liegt chronisch zu niedrig.
Die Investitionen der öffentlichen Hand und der privaten
Wirtschaft sind zu niedrig. Wir müssen also etwas für
die Binnennachfrage in diesem Land tun. Das betrifft
Kaufkraft, öffentliche und private Investitionen. An dieser Stelle ist es sinnvoller, eine Perspektive für die Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen
zu schaffen als für die von Spitzenverdienern.
({2})
Es ist ganz klar, Herr Michelbach, wen Sie an dieser
Stelle im Blick haben:
({3})
Sie glauben nicht, dass Normalverdiener Leistungsträger
dieses Landes sind. Ihr Begriff von Leistungsträgern
fängt wahrscheinlich erst bei Menschen an, die
80 000 oder 100 000 Euro verdienen. Das ist nicht die
Mehrheit der Menschen in diesem Lande. Die Mehrheit
der Menschen in diesem Lande verdient ein ganzes
Stück weniger, ist aber durch Steuern und Abgaben stärker belastet als diejenigen, bei denen aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze die Belastung abgeriegelt wird
und die derzeit keinen höheren Spitzensteuersatz zu zahlen haben. Das ist der Zusammenhang.
Deshalb noch einmal, Herr Michelbach: Wir können
auflisten, wen Sie durch Ihre Maßnahmen belasten. Wir
können aber auch auflisten, wen Sie nicht belasten.
({4})
Das weiß die deutsche Öffentlichkeit ganz genau, Herr
Michelbach. Das ist möglicherweise auch ein Grund dafür, dass das Vertrauen in eine Volkspartei in Bayern, die
das „S“ im Namen führt, nämlich CSU, und die früher
stark war, schwindet; die Menschen spüren nämlich,
dass sie nicht mehr Politik für die Mehrheit macht, sonHubertus Heil ({5})
dern Politik für wenige zulasten der Mehrheit - ob in der
Gesundheitspolitik, in der Energiepolitik, bei den Hotelsteuern oder anderswo.
({6})
Sie machen Politik gegen das Gemeinwohl. Das schadet
dem Ansehen aller demokratischen Parteien, leider nicht
nur den schwarz-gelben Koalitionsparteien.
Wir aber werden Alternativen auf den Tisch legen.
({7})
Konsolidierung geht gerechter, und Konsolidierung geht
intelligenter, als es Schwarz-Gelb derzeit macht.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Redner der Opposition haben in dieser Debatte zum Haushaltsbegleitgesetz und in den Debatten
zum Haushalt 2011 ein völlig düsteres Bild gezeichnet.
Es war von sozialem Kahlschlag, von Unausgewogenheit die Rede.
({0})
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition,
lieber Herr Schneider, diese Vorwürfe sind haltlos, ja unseriös. Gemessen am Anteil der Sozialausgaben am
Haushalt kann von sozialem Kahlschlag überhaupt keine
Rede sein. Auch Herr Heil sollte dies zur Kenntnis nehmen.
Die öffentliche Verschuldung in Deutschland beträgt
unvorstellbare 1,7 Billionen Euro.
({1})
Das heißt, jeder Bürger, vom Baby bis zum Greis, steht
mit über 20 000 Euro in der Kreide. Wenn wir so weitermachen, haben wir keinen Handlungsspielraum für die
Zukunft, und das ist unfair gegenüber der jungen Generation.
({2})
Allein der Bund zahlt in diesem Jahr über 36 Milliarden Euro an Zinsen. Das ist Geld, das wir an anderer
Stelle wesentlich besser gebrauchen könnten.
({3})
Deswegen hat sich auch die christlich-liberale Koalition
das vielleicht unpopuläre, aber notwendige Ziel gesetzt,
diese massive Verschuldung endlich abzubauen.
({4})
Das Sparpaket macht deutlich, dass jeder seinen Beitrag
zur Sanierung der Finanzen zu leisten hat, der Staat, die
Wirtschaft und der Bürger. So sparen wir im staatlichen
Bereich etwa bei der Verwaltung, bei den Subventionen
oder bei den Verteidigungsausgaben. Über die Kernbrennstoffsteuer, die Streichung von Steuervergünstigungen und die Luftverkehrsabgabe beteiligen wir natürlich auch die Wirtschaft an den Sparmaßnahmen, und
auch der Sozialbereich muss einen angemessenen Beitrag leisten. Uns deswegen sozialen Kahlschlag vorzuwerfen, ist falsch; denn auch 2011 fließen weiterhin
158,8 Milliarden Euro, nämlich 51,7 Prozent des gesamten Bundeshaushalts, also mehr als die Hälfte aller Ausgaben des Staates, in den sozialen Bereich.
Wichtig ist uns, dass mehr Menschen unabhängig von
sozialen Leistungen leben können. Der bislang gezahlte
Zuschlag beim Übergang vom Bezug des Arbeitslosengeldes I zum Bezug des Arbeitslosengeldes II hat hierbei
falsche Anreize gesetzt. Dewegen wird er auch gestrichen.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von
der SPD-Fraktion?
Nein, ich möchte gern fortfahren.
({0})
Wir gehen die notwendigen Kürzungen maßvoll und
zielgenau an. Das ist schon gesagt worden. Dessen können Sie sicher sein, Herr Schneider.
({1})
Ich möchte dazu ein weiteres Beispiel herausgreifen:
Für Bezieher des Arbeitslosengeldes II werden künftig
keine Rentenbeiträge mehr gezahlt.
({2})
Auch das ist schon gesagt worden. Dem einzelnen Arbeitslosen schadet diese Maßnahme allerdings kaum. Er
verliert einen zusätzlichen Rentenanspruch von gerade
einmal 2 Euro, Herr Heil. Der Bund spart dadurch aber
jährlich 1,8 Milliarden Euro ein. Das ist eine stattliche
Summe, mit der man viel Gutes tun kann.
({3})
Diese Beispiele zeigen auf: Wir steigern die Effizienz
des Sozialstaates und stellen ihn auf eine solide finanzielle Grundlage.
({4})
Die Sicherung unserer Sozialsysteme ist genauso
wichtig wie die Schaffung von Wirtschaftswachstum
und mehr Arbeitsplätzen.
({5})
Diesem Ziel werden wir gerecht, weil wir im Haushalt
2011 und auch in den Folgejahren viel Geld in Zukunftsbereiche wie Forschung, Bildung und erneuerbare Energien investieren.
({6})
Wir müssen im Haushalt die richtigen Prioritäten setzen
({7})
und wollen deshalb natürlich auch die Investitionen steigern. Daher wird in den Bereichen Forschung und Bildung auch keine Kürzung vorgenommen, sondern es
werden 12 Milliarden Euro draufgesattelt. Auch im Verkehrsbereich investieren wir mehr als vor der Krise. Das
müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
({8})
Unser Sparkurs ist richtig, damit unser Staat auch in
Zukunft die Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft unterstützen kann.
({9})
Nur ein finanziell solider Staat ist ein starker Staat. Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, schüren
hingegen aus durchsichtigen Gründen die Angst der
Menschen und betreiben Panikmache gegen die Politik
der Regierung. An konstruktiven Vorschlägen fehlt es
bei Ihnen völlig.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen!
Sie machen das nach dem Motto: Freiheit von Verantwortung. Das scheint eher Ihre Devise zu sein.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu Beginn meiner Rede möchte ich ganz kurz
auf das eingehen, was wir von unserem Kollegen Bonde
zu Stuttgart 21 und den Demos gehört haben. Jeder von
uns in diesem Hause bedauert es, wenn bei einer Demonstration Menschen verletzt werden. Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, zu dem wir alle stehen. Die
freie Meinungsäußerung ist ein Kennzeichen unserer
freien Gesellschaft.
Lieber Kollege Bonde, an dieser Stelle muss ich aber
auch eines sagen: In der Art und Weise, wie Sie das gegen Stuttgart 21 instrumentalisieren, ist es nicht in Ordnung.
({0})
Ich habe mich bei den Polizeibehörden kundig gemacht.
Tatsache ist: Es handelt sich um eine Schülerdemo.
Diese Schülerdemo war für die Lautenschlagerstraße genehmigt. Von den Stuttgart-21-Gegnern wurde diese Demonstration in den Bereich des Schlossgartens umgelenkt; dort sollten die laufenden Bauarbeiten gestört
werden. Wenn es dann im Rahmen dieser nicht genehmigten Demo zu Verletzungen kommt, dann muss ich
den Gegnern von Stuttgart 21 den Vorwurf machen, dass
sie so etwas billigend in Kauf nehmen.
({1})
Dies halte ich für nicht in Ordnung. Wenn die Ordnungskräfte des Staates die öffentliche Ordnung herstellen
({2})
und es dabei Verletzungen gibt, dann ist es nicht in Ordnung, dies einseitig denjenigen in die Schuhe zu schieben, die dafür sorgen, dass dieses Projekt gebaut wird.
Das muss ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen.
({3})
Kollege Barthle, gestatten Sie gleich zwei Zwischenfragen? Ich vermute, sie sind zum selben Thema.
Ja, gerne, da können wir gerne noch ein Disput führen.
Herr Kollege Bonde, und danach der Kollege von der
Linksfraktion.
Herr Kollege Barthle, ich habe heute Nachmittag einen Anruf einer ehemaligen Nachbarin bekommen, deren 14-jährige Tochter auf dieser Demonstration war.
Halten Sie es für einen verhältnismäßigen Polizeieinsatz,
wenn ein 14-jähriges Mädchen bei einer friedlichen Demonstration von Knüppeln der Polizei getroffen wird?
Herr Kollege Barthle, es gibt Meldungen der Nachrichtenagentur DAPD, in denen von 1 000 Menschen gesprochen wird, die durch Einsatz von Reizgas verletzt
worden sind und in Stuttgarter Kliniken behandelt werden; entsprechende Bilder veröffentlicht dpa dazu. Halten Sie dies für einen verhältnismäßigen Einsatz, und
wären Sie bereit, den Versuch, diese Bewegung zu kriminalisieren und auch noch jemandem in die Schuhe zu
schieben, ein für alle Mal zu beenden?
({0})
Herr Kollege Barthle, lassen Sie noch eine zweite
Zwischenfrage des Kollegen Lutze zum selben Sachverhalt zu?
Aber gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Barthle, vorhin hat der Kollege
Koschorrek aus Ihrer Fraktion schon einmal zu diesem
Thema interveniert. Als er über die Schülerdemo und
den Polizeieinsatz sprach, redete er nicht von Schülern,
sondern von militanten Autonomen. Haben Sie diese
Sprachregelung Ihres Fraktionskollegen zur Kenntnis
genommen?
Herr Kollege Bonde, Herr Kollege Lutze, ich kann
einzelne Vorkommnisse dieser Demo nicht kommentieren. Das will ich auch nicht tun, weil ich die Zusammenhänge nicht kenne. Ich wiederhole aber: Wenn 14-jährige Schüler, wie ich von Ihnen höre, von einer genehmigten Demonstrationsroute auf eine nicht genehmigte
umgelenkt werden, dann halte ich dies für nicht in Ordnung; denn bei diesen Jugendlichen, die den Unterschied
wahrscheinlich nicht so genau kennen und nicht wissen,
welche Konsequenzen daraus erwachsen, nimmt man
billigend in Kauf, dass genau solche Ergebnisse eintreten. Das geht so nicht. Demonstrationen sind in Ordnung, wenn sie genehmigt sind. Dann ist alles okay,
dann hat kein Mensch etwas dagegen.
({0})
Dann tritt auch keine Polizeibehörde dagegen auf. Aber
wenn es sich um Ereignisse auf einer nicht genehmigten
Demonstrationsstrecke handelt, dann ist das etwas anderes. Bei dem, was sich dort ereignet hat, besteht möglicherweise - ich weiß es nicht - kein großer Unterschied
zu dem, was sich am 1. Mai in Kreuzberg ereignet.
Um auch auf die zweite Frage einzugehen: Ich kenne
die Äußerung des Kollegen Koschorrek nicht. Aber in
diesem unseren Rechtsstaat muss alles rechtmäßig zugehen.
({1})
Herr Kollege Barthle, es gibt noch aus der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Schön.
Herr Montag, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich habe jetzt Ihre Einlassungen zu dieser Demonstration in Stuttgart mit Interesse verfolgt. Dabei wundere ich mich über eines; ich
würde Sie herzlich bitten, es zu erklären: Sie sprechen
dauernd von „genehmigten Demonstrationen“. Würden
Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Demonstrationen in
Deutschland nicht genehmigt werden? Wir leben nicht in
einem Obrigkeitsstaat. Demonstrationen sind frei.
({0})
Auch Sie wissen, dass Demonstrationen bei den Ordnungsämtern angemeldet werden müssen.
({0})
- Im normalen Sprachgebrauch ist das mit einer Genehmigung gleichbedeutend.
({1})
- Ich habe es so gemeint; ich bitte, das zur Kenntnis zu
nehmen.
Jetzt kommen wir zu unserem eigentlichen Thema:
dem Haushaltsbegleitgesetz. Ich will auf die Diskussion
eingehen, die wir jetzt wieder erlebt haben, ausgehend
von allen Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses,
allen voran Herr Heil mit seiner unsäglichen Rede.
({2})
Dabei wird immer wieder hervorgehoben, die Sparbeschlüsse seien unsozial und wir müssten an die Verursacher der Krise herangehen. Herr Heil, es dürfte auch zu
Ihnen durchgedrungen sein, dass diese Krise ihre Ursache in den Börsen von New York und Chicago gefunden
hat.
Sie reden nie über die Auswirkungen. Ich glaube,
man sollte einen Moment darüber nachdenken, wer denn
von dieser Finanzkrise und der damit einhergehenden
größten Wirtschaftskrise unserer Geschichte betroffen
war. Betroffen waren nicht diejenigen, die Sie permanent
anführen. Diejenigen, die von sozialen Transferleistungen leben, waren von dieser Krise überhaupt nicht betroffen.
({3})
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir die Rentenbezüge gekürzt hätten. Ich kann mich auch nicht daran
erinnern, dass wir die Hartz-IV-Sätze gekürzt hätten. Ich
kann mich nicht daran erinnern, dass wir irgendjemanden, der von sozialen Transferleistungen lebt, in die Situation gebracht hätten, von dieser Wirtschaftskrise betroffen zu sein.
({4})
Betroffen waren aber diejenigen, die Unternehmen
haben, die Handwerksbetriebe haben, die Umsatzeinbrüche von 70, 80 oder 90 Prozent hinnehmen mussten. Ich
kann Ihnen in meinem Wahlkreis kleine Betriebe mit
20 Beschäftigten zeigen - Automobilzulieferer -, die
plötzlich nur noch Arbeit für zwei hatten, alle anderen
mussten sie in die Kurzarbeit schicken.
({5})
Wir haben dafür gesorgt, dass die Kurzarbeitsregelung möglich wurde,
({6})
sodass weitestgehend niemand entlassen werden musste.
Wir haben dafür gesorgt, dass ein Großteil unserer Bevölkerung von dieser Wirtschaftskrise so wenig wie
möglich betroffen war. Wenn wir jetzt aber daran gehen,
uns der Auswirkungen dessen, was wir beschlossen haben - Konjunkturprogramme, Abwrackprämie, Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren, was nichts anderes als eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme
bedeutet -, Stück für Stück, Zug um Zug anzunehmen,
müssen wir die gesamte Gesellschaft daran beteiligen;
das geht nicht anders. Genau dies tun wir, und zwar in
einem ausgewogenen Verhältnis.
({7})
Herr Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Gerne.
Herr Kollege Barthle, nehmen Sie an dieser Stelle
bitte auch zur Kenntnis, dass durch die von uns gemeinsam eingeführte, richtige Regelung der Kurzarbeit - Olaf
Scholz hat sie als Arbeitsminister vorgeschlagen - auf der
einen Seite richtigerweise Jobs gerettet wurden, weil
Unternehmer die Regelung Gott sei Dank in Anspruch
genommen haben, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber auf der anderen Seite natürlich einen Beitrag geleistet haben, weil sie dadurch weniger Geld in
der Tasche hatten. Das ist schon ein Beitrag der Menschen mit unteren und mittleren Einkommen. Würden
Sie mir zustimmen, dass die Frage, welchen Beitrag zur
Haushaltskonsolidierung Spitzenverdiener zu leisten haben, von Ihnen noch nicht geklärt wurde?
({0})
Wo wir gerade dabei sind, hätte ich noch eine Frage.
Ich war auf dem BDI-Kongress, bei dem die Kanzlerin
gesagt hat: Das mit der Ökosteuer für die energieintensiven Unternehmen würde schon nicht so schlimm werden; sie habe es zwar als Kanzlerin beschlossen, aber als
Abgeordnete würde sie das wieder ändern. Ich bin darüber gar nicht so unglücklich; ich möchte nur wissen:
Was machen Sie stattdessen?
({1})
- Nicht ändern? Sie lassen es also so, wie es ist? Können
Sie das aufklären? Dazu besteht hier Gelegenheit.
({2})
Herr Heil, ich bin froh, dass Sie mich gefragt haben.
Ich antworte Ihnen gerne. - Ich komme zu den Aussagen
der Kanzlerin beim BDI-Kongress. Es ist unbestritten,
dass das Stromsteuergesetz Bestandteil unseres Haushaltsbegleitgesetzes ist. Es ist unbestritten, dass wir uns
alle Bestandteile dieses Haushaltsbegleitgesetzes im parlamentarischen Beratungsverfahren genau anschauen
werden, unter anderem auch das Stromsteuergesetz.
({0})
Ich will nicht ausschließen, dass wir an dieser Stelle
noch Korrekturen vornehmen.
({1})
Ich will nicht ausschließen, dass wir ausgerechnet beim
Stromsteuergesetz Korrekturen vornehmen. Aber es ist
noch lange nicht entschieden, ob wir dafür eine andere
Steuer in den Blick nehmen oder sonst etwas machen.
({2})
Tatsache ist, dass wir die Beträge, die im Haushaltsbegleitgesetz stehen, innerhalb unseres Sparpaketes auch
erreichen. Herr Heil, insofern müssen Sie ganz einfach
warten, bis die parlamentarischen Beratungen zu Ende
sind. Wenden Sie sich an Ihre Kollegen im Haushaltsausschuss. Die können Ihnen immer berichten, wie der
aktuelle Stand ist. Spätestens nach der Bereinigungssitzung wissen Sie es. So lange müssen Sie sich gedulden.
({3})
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen: Das
Paket, das wir vorlegen, ist ausgewogen,
({4})
weil wir ein Drittel im Unternehmensbereich, ein Drittel
in unserem eigenen Bereich und nur ein Drittel im sozialen Bereich festmachen. Es wurde schon zum Ausdruck
gebracht, dass der soziale Bereich innerhalb unseres
Bundeshaushaltes 54 Prozent der Ausgaben ausmacht.
Wer den Haushalt konsolidieren will - und dies anders,
als es in früheren Jahren geschah, und anders, Herr Heil,
als es in NRW geschieht -, kommt nicht darum herum,
den gesamten Haushalt in den Blick zu nehmen. Dazu
muss ich Ihnen schon einmal sagen, dass ich Ihnen raten
würde, Ihre Hetzreden in Nordrhein-Westfalen zu halten.
({5})
Denn dort hat man ganz offensichtlich alle Vernunft über
Bord geworfen; dort hat man ganz offensichtlich die
Schuldenregel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen;
dort hat man ganz offensichtlich alles über Bord geworfen, was zu einer Konsolidierung des Haushaltes beiträgt.
({6})
- Verehrter Herr Kollege, das ist keine Aufgabe, die wir
hier in diesem Hause alleine stemmen können. Wenn es
darum geht, den Bundeshaushalt, den gesamtstaatlichen
Haushalt, zu konsolidieren und langfristig auf gesunde
Beine zu stellen, dann brauchen wir die Zusammenarbeit
mit den Ländern und die Bereitschaft der Länder, an diesem Ziel, das für uns und für die nachkommenden Generationen so bedeutsam ist, ein Stück weit mitzuwirken.
Aber hierzu beobachte ich leider keinerlei Bereitschaft.
Aus diesem Grund sage ich nochmals: Wir haben mit
diesem Gesetzentwurf ein Konzept vorgelegt, das den
Weg in die kommenden Jahre hinein vorzeichnet - nicht
nur für das Haushaltsjahr 2011, sondern weit darüber hinaus. Wenn ich dann noch den Zusammenhang zum
Energiekonzept herstelle, das in diesen Tagen hier schon
beraten wurde und morgen noch intensiv beraten werden
wird, dann wird wirklich ein Konzept in die kommenden
Jahrzehnte hinein erkennbar. Das unterscheidet uns von
Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Opposition. Sie verharren im Hier und Jetzt. Sie beklagen das Jetzt, Sie beklagen das Heute. Wir eröffnen Perspektiven, wir bereiten einen Weg in die kommenden
Jahrzehnte hinein. Das unterscheidet uns massiv von
dem, was wir von Ihnen zu hören bekommen.
Mit diesem Gesetz, das eigentlich nicht Haushaltsbegleitgesetz, sondern Zukunftsstabilisierungsgesetz heißen müsste - zumindest unter Rot-Grün hätte es so geheißen -, schaffen wir stabile Voraussetzungen für die
Zukunft dieses Landes und für die Bürgerinnen und Bürger. Und darum geht es letztlich.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich auch noch
an den Familienausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind
Sie mit den Überweisungen so einverstanden, und die
Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate MüllerGemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ELENA aussetzen und Datenübermittlung
strikt begrenzen
- Drucksachen 17/658, 17/1553 Berichterstattung:
Abgeordneter Kai Wegner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Claudia Bögel für die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind die Arbeitgeber verpflichtet, die Entgeltdaten ihrer Beschäftigten an eine zentrale Speicherstelle zu übermitteln. Dieser
Vorgang mit dem schönen Namen ELENA wurde durch
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und den
Grünen, ins Leben gerufen. Am 16. August 2002 wurde
dieses Vorgehen durch Sie beschlossen, seit Januar 2010
per Gesetz angewandt, und nun soll es Ihrem Wunsch
nach wieder ausgesetzt werden.
({0})
Sie sehen mich verwundert.
Am 16. August 2002 legte die von der damaligen
Bundesregierung eingesetzte sogenannte Hartz-IV-Kommission ihren Bericht zum Abbau der Arbeitslosigkeit
und zur Umstrukturierung der Bundesagentur für Arbeit
vor. Unter anderem sah dieser Bericht die Entwicklung
einer Versicherungskarte als Signatur- und Schlüsselkarte vor. Diese sollte für den Abruf von diversen Bescheinigungen zur Verfügung stehen. Das war die Idee.
Am 21. August 2002 stimmte die damalige Bundesregierung, an der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen beteiligt waren, zu.
({1})
Die Einführung der sogenannten Jobcard war damit beschlossen. Ich fasse noch einmal diesen kleinen Exkurs
in die Vergangenheit zusammen: ELENA war ein rotgrünes Projekt, ein Ausfluss der Hartz-IV-Reform, in der
letzten Legislaturperiode verabschiedet.
({2})
Nun zurück in die Gegenwart. Ihr vorliegender Antrag fordert nun die Aussetzung dieses Verfahrens. Uns
Liberalen ist die Kritik an dem Projekt hinsichtlich der
Kosten und des übermittelten Datensatzumfangs bewusst. Der Nationale Normenkontrollrat hat auf Bitten
der beteiligten Ressorts ein Gutachten zu dem Verfahren
erstellt. Es wurde am 13. September 2010 vorgelegt. Das
Ergebnis ist bisher nicht zufriedenstellend. Eine Verbesserung im Kosten-Nutzen-Verhältnis für alle Beteiligten
wie Bürger, Unternehmen und Verwaltung muss angestrebt werden.
({3})
Das ist richtig. Natürlich darf die Belastung der öffentlichen Haushalte nicht ins Unermessliche steigen.
({4})
Besonders ernst nehme ich vor allem auch die Kritik
des Mittelstandes.
({5})
Es muss unbedingt sichergestellt werden, dass dieser tatsächlich eine Erleichterung und eine Entbürokratisierung
durch das Verfahren erfährt. Der Mittelstand darf nicht
durch immer mehr bürokratische Hürden gehemmt werden.
({6})
Zum Beispiel kann man die Effizienz des ELENA-Verfahrens in wesentlichen Punkten erhöhen. In puncto Datenschutz möchte ich darauf aufmerksam machen, dass
die vorliegenden Bedenken zuerst von meiner Fraktion
geäußert wurden. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. September 2010 gibt mir recht,
wenn ich dazu rate, das Kind jetzt nicht mit dem Bade
auszuschütten;
({7})
denn hier wurde ein Eilantrag von fünf Beschwerdeführern auf eine einstweilige Anordnung zur Aussetzung
des ELENA-Gesetzes abgelehnt.
({8})
Eines ist klar: Das von Ihnen in der Vergangenheit als
deutsches Vorzeigeprojekt zum Bürokratieabbau dargestellte ELENA-Verfahren haben wir mit großen Mängeln
übernehmen müssen. Die Inhalte der Datenübermittlung
wurden durch Sie im Leistungsgesetz verankert. Jetzt so
zu tun, als ob man nicht beteiligt gewesen sei, ist doch
schon fast bigott.
({9})
Lamentieren und Forderungen nach schlichter Abschaffung helfen hier nicht weiter.
ELENA kann einen Beitrag zur Entbürokratisierung
leisten. Das ist richtig. Wir werden ELENA prüfen, korrigieren und hübsch schlank auf den Laufsteg schicken.
Ihren Antrag lehnen wir ab.
({10})
Die Kollegin Doris Barnett hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Grünen ist eigentlich längst überholt.
Das wissen Sie, und es ist schade, dass Sie ihn nicht zurücknehmen. Der Antrag ist wahrscheinlich dem Hype
geschuldet, den die Datensammelwut, die im Zusammenhang mit der Telefonüberwachung zu beobachten
war, verursacht hat. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dachte man: ELENA sammelt ja
auch. Was liegt da näher, als es gleich mitzukassieren.
Dabei ist ELENA die Fortsetzung eines Datensammelverfahrens der Datenerfassungs- und -übermittlungsverordnung aus dem Jahr 1998/99, an dem Sie von der jetzigen Regierung sogar beteiligt waren. Es wurde nur
fortgesetzt, weil man auf die Daten, die man für die
Krankenversicherung, für die Rentenversicherung und
die Finanzverwaltung braucht, aufbaute. Man hat
ELENA genommen; denn man braucht ein paar Daten
mehr, um Arbeitsbescheinigungen oder auch Nachweise
für das Wohngeld oder für das Kindergeld zu erstellen.
Auch der Vorwurf der FDP, dass von diesem Verfahren vor allem die kleinen Unternehmen betroffen sind,
zieht nicht; denn schon seit dem 1. Januar 2006 müssen,
wie Sie, Frau Bögel, eben zu Recht gesagt haben, alle
Betriebe die Daten ihrer Mitarbeiter melden, auch die
kleinen Unternehmen, zum Beispiel die Gaststätten, die
nur einen Mitarbeiter auf 400-Euro-Basis beschäftigen.
Jetzt wird im Zusammenhang mit ELENA verlangt, dass
zusätzlich ein paar spezielle Daten gemeldet werden,
aber nicht an die Krankenversicherung, sondern an eine
separate Stelle, bei der die Daten getrennt zu erfassen
sind.
Bei den Krankenversicherungen ist es bisher übrigens
nicht zu Verstößen gegen das Datenschutzgesetz gekommen. Millionen und Abermillionen Daten werden dort
seit Jahren gesammelt. Trotzdem kam es noch nie zu einem Verstoß gegen das Datenschutzgesetz oder einem
sonstigen relevanten Vorfall im IT-Sicherheitsnetz.
Wenn der Datenschutzstandard und der IT-Sicherheitsstandard sehr hoch ist, warum glauben trotzdem ausgerechnet die Grünen, dass im Zusammenhang mit
ELENA jetzt plötzlich ein Problem auftritt? Wo soll das
Problem denn herkommen? Glauben Sie, dass man bei
ELENA andere, weniger gute Sicherheitsstandards einsetzen wird?
ELENA darf nicht einfach auf den bestehenden Datenspeicher bei der Krankenversicherung zugreifen, sondern braucht - das habe ich schon gesagt - einen getrennten Datenspeicher, die zentrale Speicherstelle, die
jetzt aufgebaut wird. ELENA basiert auf den Datensätzen für die Rentenversicherung, braucht aber ein paar
zusätzliche Daten.
Sie von den Grünen sagen, dass dort ein Übermaß an
Daten vorliegt und dieses begrenzt werden solle. Ich
weiß bis heute nicht, wo Sie das Übermaß sehen und was
begrenzt werden soll. Anfang des Jahres haben Sie gesagt, dass Daten zu Streikzeiten und Parteizugehörigkeit
gesammelt würden. Solche Aussagen schwirren da
durch die Luft. Angeblich würde auch die Gewerkschaftszugehörigkeit notiert. Wenn Sie sich das genau
anschauen, werden Sie feststellen, dass das alles Unsinn
ist. Die Streikdaten sind raus. Es wird nicht notiert, ob
jemand gestreikt hat. Das wissen Sie auch. Notiert wird
die Zeit, in der kein Geld fließt. Der Grund dafür kann
natürlich in der Tat ein Arbeitskampf sein. Das kann
aber genauso gut ein unbezahlter Urlaub sein. Die Arbeitsverwaltung muss solche Daten aber wissen, wenn
sie auf Basis dieses Datensatzes später zum Beispiel das
Arbeitslosengeld berechnen soll.
({0})
Diese Daten muss sie auch heute schon kennen.
Nebenbei bemerkt, damit wir uns recht verstehen:
Nach wie vor sind zusammen mit dem Datensatz, der an
die gesetzliche Krankenkasse zu übermitteln ist, Arbeitskampfzeiten von mehr als einem Monat zu melden.
Diese Vorgabe ist bisher nicht entfernt worden. Das steht
da noch. Bei ELENA hingegen hat man das bereinigt.
Dort wird das nur als Zeit notiert, in der kein Geld fließt.
Das ist der große Unterschied, wenn Sie so wollen.
Das hat man im Dezember berichtigt, noch bevor Sie
Ihren Antrag gestellt haben. Deswegen bin ich ein Stück
weit entsetzt. Sie machen die Leute draußen verrückt.
Die wundern sich, was da für ein Bohei betrieben wird,
fragen sich, was alles an Daten gesammelt wird, obwohl
das hinten und vorne nicht stimmt. Es wird auch nichts
ohne Wissen der Beschäftigten an ELENA, die zentrale
Speicherstelle, gemeldet. Im Gegenteil: Auf den Gehaltsbescheinigungen wird jetzt darauf hingewiesen,
dass diese Daten weitergemeldet werden. Das müssten
Sie eigentlich schon bemerkt haben.
Die Datenbank, die zentrale Speicherstelle, wird jetzt
erst einmal aufgebaut. Sie braucht natürlich ziemlich
viele Daten, da man vor allem auf Daten zurückgreifen
muss, die sich auf einen längeren Zeitraum beziehen.
Schon heute ist es so: Für die Berechnung des Arbeitslosengeldes benötigt man Daten, die sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken. Genau diese Daten werden an
die zentrale Speicherstelle übermittelt. Es wird dort nicht
mehr gesammelt als das, was bisher schon beim Arbeitgeber bzw., wenn es ein kleinerer Arbeitgeber ist, bei
dessen Steuerberater gesammelt wird. Deswegen kann
ich immer noch nicht nachvollziehen, wo Sie hier die
große Gefahr sehen.
Mich verblüfft, dass Sie gar keine Bedenken haben,
dass der Arbeitgeber jede Menge Daten sammelt - auf
welche Art auch immer, elektronisch, in Papierform oder
sonst wie - oder auch der Steuerberater, zu dem der Arbeitnehmer ja gar kein Verhältnis hat und zu dem er auch
nicht gehen kann, um zu gucken, was für Daten er von
ihm sammelt und speichert. Im Gegensatz dazu kann
man sehr wohl bei der zentralen Speicherstelle mit der
Chipkarte die eigenen Daten abrufen.
Es gibt bei ELENA eine extrem hohe Sicherheit, weil
eine getrennte Speicherung und eine anonymisierte Verschlüsselung erfolgen, das Vier-Augen-Prinzip eingehalten wird und eine revisionssichere Protokollierung von
Zugriff und Löschung vorgenommen wird. Alles das,
was uns das Bundesverfassungsgericht im Urteil über
die Telefonüberwachung ins Stammbuch geschrieben
hat, wird bei ELENA beachtet. Mehr noch: ELENA ist,
wenn Sie so wollen, fast die Blaupause dafür, wie man
zukünftig arbeitet.
In ELENA wird auch alles - so wie es die Gesetze
vorsehen - wieder gelöscht. Zum Beispiel werden die
Daten, die man braucht, um eine Bescheinigung für
Wohngeld auszustellen, nach einem Jahr gelöscht. Die
Daten, die man braucht, um Arbeitslosengeld zu beantragen, werden gelöscht, wenn sie vier Jahre alt sind. Sie
brauchen da also keine Bedenken zu haben. Deswegen
kann ich Sie nur nochmals auffordern: Überlegen Sie, ob
Sie uns allen hier, aber besonders den Menschen draußen
wirklich einen Gefallen tun, wenn Sie so tun, als hätten
wir hier ein Ungeheuer losgelassen; denn das Gegenteil
ist der Fall.
Seit 1. Januar dieses Jahres sind über 250 Millionen
Datensätze im Rahmen von ELENA verarbeitet worden.
Das entspricht ungefähr 70 Prozent der Sollmenge. Die
meisten kleinen Betriebe machen mit. Nur die großen
machen seltsamerweise Probleme. Da es ein vernünftiges Verfahren ist und es hilft, Bürokratie einzusparen,
kann ich Sie nur nochmals auffordern: Überlegen Sie
sich, ob die Forderungen Ihres Antrages nicht längst erfüllt sind, Ihr Antrag also überholt ist und Sie ihn deswegen zurücknehmen sollten.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn man zu so später Stunde über ELENA
spricht, hat man sicherlich eine andere Vorstellung, als
sich um trockenen Datentransfer kümmern zu müssen.
Das primäre Ziel von ELENA - das haben wir heute
schon mehrfach gehört - ist ja, Wirtschaft, Bürger und
letztlich auch die Verwaltung von bürokratischen und finanziellen Belastungen zu befreien. Es geht darum, Papier einzusparen, das heißt, eine papierlose Verwaltung
einzuführen.
Am 1. Januar dieses Jahres wurde das Projekt gestartet. Die Grünen fanden das wahrscheinlich sehr aufregend; denn sie haben bereits am 9. Februar, also nicht
einmal sechs Wochen nach Einführung des Projektes, einen Antrag darauf gestellt, das Projekt auszusetzen.
Meine Damen und Herren, warum brauchen wir eigentlich ELENA? Man muss sich die Zahlen noch einmal vergegenwärtigen. Nach Schätzungen werden im
Jahr ungefähr 60 Millionen papierene Bescheinigungen
ausgestellt. Das ist eine gewaltige Zahl. Angesichts dieses Wusts an Papieren geht es darum, erstens die Erstellung und zweitens auch die Ausstellung der Bescheinigungen deutlich zu vereinfachen.
Zwischen der elektronischen Personalverwaltung, die
heute in der Wirtschaft eigentlich gang und gäbe ist, und
der elektronischen Sachbearbeitung bei den Behörden
klafft einfach eine Lücke; da wird noch Papier beschrieben.
Neben der grundsätzlichen Zustimmung zum
ELENA-Projekt seitens der großen Wirtschaftsverbände
- DIHK, ZDH, ZKA und BDA - und größtenteils auch
der Wirtschaft selbst ist das ELENA-Verfahren seit Inkrafttreten in der Öffentlichkeit auch kritisiert worden,
und das am Anfang sicherlich auch zu Recht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, der DGB, hat sich über Dinge
aufgeregt, die der damalige Arbeitsminister Scholz in
das ELENA-Verfahren eingebracht hat und die niemand
wirklich wollte. Auch vom Bund der Steuerzahler und
von der Bundessteuerberaterkammer gab es immer wieder Hinweise zu dem Verfahren. Die Hauptkritikpunkte
waren erstens die Verfassungsmäßigkeit, zweitens die
mangelnde Verbreitung der sogenannten Signaturkarten,
drittens die nicht ausreichende Verfügbarkeit entsprechender Lesegeräte, viertens der Umfang des zu übermittelnden Datensatzes und schließlich fünftens die zusätzliche Belastung für Kleinst- und Kleinunternehmen.
Zur Verfassungsmäßigkeit kann man sagen: Die Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums, des Bundeswirtschaftsministeriums und des Bundesinnenministeriums besagen ganz klar, dass das Programm ELENA
den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht.
Zu den Signaturkarten. Die sogenannte qualifizierte
elektronische Signatur ist ein Verfahren, welches technisch beherrschbar und allen bereits bekannt ist. Man
setzt es schließlich im Bankenverkehr bereits teilweise
ein. Es hat aber in Deutschland bisher zu wenig Verbreitung gefunden. Die Nachfrage ist gering, weil der Bedarf
ganz einfach fehlt. Durch das Projekt ELENA würde der
Bedarf einer elektronischen Signaturkarte notwendig.
Zu den Kartenlesegeräten. Sie sind nicht in dem erforderlichen Umfang vorhanden. Es gibt mittlerweile aber
standardisierte einfache Kartenlesegeräte. Wenn es in
Deutschland endlich den elektronischen Personalausweis gäbe, dann würden solche Lesegeräte ausreichen,
um den Nutzer bzw. den Antragsteller klar zu identifizieren.
Zum Umfang der zu erhebenden Daten. Man kann natürlich darüber streiten, ob Streiktage oder ähnliche
Dinge in die Datensätze aufgenommen werden sollen.
Man muss fairerweise aber sagen: Schon im März dieses
Jahres wurde der Datensatz auf die wichtigen Punkte reduziert.
Zur Belastung der Kleinst- und Kleinunternehmen.
Hierüber kann man sich sicherlich streiten. Ich werde
dazu auch noch etwas sagen. Vorweg: Ein Verfahren, das
neu eingeführt wird, macht natürlich immer erst einmal
Arbeit. Die Unternehmer beschweren sich, dass der Staat
immer mehr die Erledigung von Abrechnungen oder Berichterstattung von den Betrieben einfordert. Dieser Aufwand muss natürlich von den Unternehmen getragen
werden. Das ist bei der Einführung solcher Projekte einfach so. Wichtig ist nur, dass die Einführung gut vorbereitet wird. Das war wahrscheinlich in diesem Fall nicht
unbedingt gegeben.
Der Normenkontrollrat hat noch einmal deutlich gemacht, dass es wichtig ist, nicht nur die gegenwärtigen
fünf Bescheinigungen in das System einzubeziehen. Es
ist wichtig, weitere Bescheinigungen aufzunehmen.
Der Normenkontrollrat spricht von Einsparungen an
Bürokratiekosten in Höhe von 85 Millionen Euro. Laut
Normenkontrollrat kann die Wirtschaft mit jeder zusätzlich einbezogenen Bescheinigung insgesamt 5 Millionen Euro an Bürokratiekosten einsparen. So weit zur
Theorie.
Jetzt zur Praxis. Ich habe bei uns in Sachsen eine Telefonumfrage durchgeführt. In den letzten zwei Tagen
habe ich Unternehmen verschiedener Größen angerufen
und gefragt: Wie läuft es bei euch mit ELENA? Beschwert euch das? Was ist damit? Hier ist das Ergebnis:
Zwei Unternehmen wussten gar nichts davon. Sie haben
gesagt, dass sie ihre gesamte Lohnabrechnung ausgelagert haben. Das machen andere Unternehmen. Pro Kopf
wird dann eine bestimmte Summe entrichtet. Diese UnterAndreas G. Lämmel
nehmen haben es daher bisher gar nicht gespürt. Von einem Unternehmen mit knapp 800 Mitarbeitern wurde gesagt: Die ganze Sache hat uns große Mühe gemacht, weil
schon die Implementierung der EDV aufwendig ist. - Wir
wissen auch, dass die ersten Versionen der Software
nicht so gut waren und nicht so gut funktioniert haben.
Hinzu kommt, dass die Datensätze auch erst einmal eingegeben werden müssen.
Als ich bei der Kammer und bei einem Wohnungsunternehmen angerufen habe, sagte man mir: Ja, es gab
Aufwendungen. - Die Kosten der Implementierung der
Software betrugen 10 000 bis 15 000 Euro. Aber mittlerweile ist das Verfahren in Gang gekommen.
Zum Antrag der Grünen kann man nur sagen: Er ist
völliger Quark, weil er sehr veraltet ist. Er stammt vom
März dieses Jahres. Die Welt hat sich mittlerweile weitergedreht. Wir sagen ganz klar: Kein Aussetzen von
ELENA. Das fordern auch die Unternehmer. Sie fragen
uns: Was soll denn das? Wenn ihr ELENA jetzt aussetzt,
bleiben wir auf allem sitzen; das Verfahren läuft nicht
weiter, und der ganze Aufwand war umsonst. Wir brauchen Planungssicherheit und Verlässlichkeit politischer
Entscheidungen.
Die Softwareprobleme müssen zügig beseitigt werden; das ist ganz wichtig, um die Akzeptanz zu erhöhen.
Außerdem müssen wir die Datensätze daraufhin durchforsten, ob alle derzeit vorhandenen Daten tatsächlich
notwendig sind.
Ich fasse zusammen: Die wichtigsten Punkte im Antrag der Grünen sind schon lange erledigt. Insofern kann
ich Ihnen nur empfehlen, Ihren Antrag zurückzuziehen.
Ansonsten müssten wir ihn leider ablehnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Jan Korte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da heute recht viele Innenpolitiker anwesend sind, will
ich folgende Bemerkung machen: Das, was heute in
Stuttgart abgelaufen ist, ist dermaßen unglaublich, dass
wir als Linksfraktion soeben für morgen früh eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt haben. Es ist
notwendig, dass diesem Antrag alle Fraktionen zustimmen.
({0})
Ich hoffe, dass Sie das tun werden. Nach Agenturmeldungen war übrigens auch die Bundespolizei in die Geschehnisse verwickelt.
({1})
Wenn man sich die entsprechenden Bilder ansieht, muss
man sagen: Da es sich bei Stuttgart 21 um ein Bundesprojekt handelt, ist es in der Tat dringend notwendig,
dass wir uns morgen damit befassen, was heute in Stuttgart abgelaufen ist.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema
ELENA. Wir haben vor einigen Monaten über das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
den Auftrag gegeben, in uns zu gehen und uns eine andere Lösung zu überlegen, weil man es so wie bisher
nicht machen kann. Heute diskutieren wir über ELENA,
was nichts anderes ist als eine gigantische Vorratsspeicherung sensibelster Sozialdaten. Das ist im Kern das
Problem, um das es geht. Deswegen ist der Antrag der
Grünen mitnichten veraltet, sondern er ist aktueller denn
je, insbesondere im Hinblick auf Hartz IV.
({3})
Das Hauptproblem ist, dass sensibelste Daten zentral
gespeichert werden. Das ist unverhältnismäßig und stellt
eine große Gefahr für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dar. Zuerst wird gesagt: Die Daten werden nur zum Zwecke der Leistungsberechnung
gespeichert. - Diese Argumentation kennen wir. Später
heißt es dann: Wenn wir die Daten schon haben, können
wir sie auch für die Strafverfolgung, für die Steuerfahndung etc. etc. zur Verfügung stellen. - So fängt es immer
an. Das Kernproblem ist: Wenn diese Daten zentral gespeichert sind, werden Begehrlichkeiten geweckt, werden Persönlichkeitsprofile entwickelt. Das darf nicht
sein, nicht bei solch sensiblen Daten.
({4})
Zum zweiten Punkt, den ich ansprechen will. Über
das Kernproblem der ganzen Debatte haben wir bisher
noch zu wenig diskutiert. Es geht um die Frage: Warum
brauchen wir, wenn es um die Berechnung von Leistungen geht, die den Bürgerinnen und Bürgern zustehen, eigentlich diese immense Zahl hochsensibler Daten? Warum müssen wir all diese Daten erheben? Hartz IV ist
nicht nur Armut per Gesetz, sondern auch Demütigung
per Gesetz, weil die Betroffenen all diese Daten offenlegen müssen. Wir brauchen eine Reduzierung der Sozialdaten und keine zentrale Speicherung.
({5})
Interessant ist auch, was für ein Kuddelmuddel bei
der FDP herrscht. Herr Brüderle sagt auf einmal:
ELENA ist zu teuer und bringt zu viel Bürokratie mit
sich, und man sollte es vielleicht aussetzen.
({6})
Außerdem habe ich gehört, dass Frau Merkel,
({7})
die sich nach fünf Jahren endlich entschieden hat, jetzt
entscheiden zu wollen, gesagt hat: Vielleicht braucht
man ein Moratorium für ELENA. Weil die Wirtschaft
Ärger macht und weil die Datenschützer Ärger machen,
sollte man darüber einmal nachdenken.
Wenn sie tatsächlich eine Entscheidung treffen wollte,
dann müsste sie entscheiden, dass ihre Fraktion dem Antrag der Grünen zustimmt. Der Antrag ist nämlich richtig. Außerdem wäre das eine wirkliche Entscheidung.
Ich würde sogar sagen: Man muss darüber hinausgehen.
Wir brauchen nicht nur ein Moratorium für ELENA,
sondern wir brauchen auch ein Moratorium für sämtliche
datenschutzrelevanten elektronischen Großprojekte, die
noch auf Eis liegen oder in Arbeit sind. Es ist Zeit dafür.
({8})
Ich komme zum Schluss. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Kernfrage lautet: Wofür brauchen wir
diese Daten eigentlich? Der Antrag der Grünen ist, wie
gesagt, richtig. Er wurde gerade noch rechtzeitig vorgelegt. Wir sollten ELENA jetzt stoppen. Es wäre auch aus
wirtschaftlichen Erwägungen - ich dachte immer, dies
sei ein Hauptthema der FDP; ein anderes haben Sie ja
nicht mehr -, und zwar gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, von enormem Vorteil, wenn
wir das gesamte Projekt aussetzen würden, und zwar sowohl aus Datenschutz- als auch aus Wirtschaftlichkeitserwägungen. Deswegen sollten wir ELENA ohne Wenn
und Aber stoppen und in Zukunft - wir sind gerade in
den Haushaltsberatungen - keine Gelder für einen
Quatsch versenken, den kein Mensch braucht, der in die
Grundrechte eingreift und der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung all
das, was uns aufgetragen wurde, schlicht nicht beachtet.
Deswegen stimmt die Linke dem Antrag selbstverständlich zu.
Schönen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist eine fröhliche Debatte - wenn ich das einmal so sagen darf -, wenn ich den Kolleginnen und Kollegen von SPD, CDU/CSU und FDP sagen kann: Es
lohnt sich, den Antrag einmal zu lesen, anschließend, da
die Debatte zum ersten Mal im März erfolgt ist, einmal
zu gucken, was über das Jahr hinweg eigentlich passiert
ist, und dann, wenn die Debatte noch einmal ansteht, die
Rede tatsächlich neu zu schreiben. Das hilft. Sonst erzählt man nämlich das, was man schon vor Monaten erzählt hat und was inzwischen längst überholt und falsch
ist.
({0})
Es geht um ELENA. ELENA ist das größte Datensammelprojekt, das es jemals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat und das ursprünglich durchaus ehrbaren Zielen dienen sollte, nämlich der
Entbürokratisierung und dem Schutz von Interessen.
({1})
- Genau, weil es ehrbaren Zielen dienen sollte. - Aber
gute Ideen kann man auch schlecht machen. Das haben
Sie in der Großen Koalition - bedauerlicherweise ist von
der SPD kaum jemand mehr da - leider schlecht gemacht.
({2})
ELENA ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Trotz aller
Bedenken ist die entsprechende gesetzliche Grundlage
am 1. Januar in Kraft getreten. Seither hat die Kritik
stark zugenommen. Wir müssen ELENA aus Gründen
des Datenschutzes, der Mittelstandsentlastung und aufgrund der enormen Kosten für die Verwaltung sofort
aussetzen.
({3})
Als wir hier den Antrag meiner Fraktion aus dem Februar, also vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, zum ersten Mal debattiert haben, gab es
wie heute Befürworter aus den Fraktionen der CDU/
CSU, der FDP und der SPD. Sie haben wie heute das Datensammeln, Speichern und Verwalten via ELENA vehement gelobt. Es war zu hören: ELENA ist ein Signal für
Innovationen und erfüllt höchste Sicherheitsstandards. Aber inzwischen gab es die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Seither
sind bis zu diesem Tage eigentlich nur Kritiker von
ELENA unterwegs gewesen, übrigens auch aus Ihren
Fraktionen. Jetzt ist leider auch Frau Piltz nicht mehr da.
Sie gehört auch dazu.
({4})
- Ich habe Sie übersehen. Verzeihung!
Ich nenne sie Ihnen einmal: den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar, den ehemaligen Bundesinnenminister Baum, die Kolleginnen und Kollegen der
Koalition Piltz, Ahrendt und Philipp, die Bundesjustizministerin, den Bundeswirtschaftsminister und selbst die
Bundeskanzlerin - sie alle haben sich öffentlich sehr kritisch zu ELENA geäußert und ein Moratorium gefordert.
Genau dieses Moratorium beantragen und fordern wir
seit Februar. Es liegt Ihnen heute zur Abstimmung vor.
Stellvertretend für alle Kritiker möchte ich hier den
Kollegen Hans-Peter Uhl zitieren, der im April erklärt
hat - er ist leider nicht hier -, bei ELENA handele es
sich um eine Art der Vorratsdatenspeicherung, die weit
über die nicht minder umkämpfte verdachtsunabhängige
Protokollierung von Telekommunikationsdaten hinausgehe.
({5})
- Da hat der Kollege Uhl einen lichten Moment gehabt. - Er ergänzt noch, es liege ihm am Herzen, auf einen „Wertungswiderspruch“ hinzuweisen. So habe das
Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationssektor gekippt, obwohl es dort „um vergleichsweise harmlose Daten“
gehe. Demgegenüber würden bei ELENA „deutlich sensiblere“ Informationen etwa über Einkommen, Fehlzeiten oder Kündigungen gesammelt, und dies zum Zweck
des Bürokratieabbaus, der ein minderes Rechtsziel darstelle. - Das sind wahre Worte, gelassen ausgesprochen
vom Kollegen Uhl. Da dürfen Sie ruhig klatschen, er ist
nämlich ein Fraktionskollege.
({6})
In der Tat stellt sich die Frage - um auf die Äußerungen der Kollegin Barnett einzugehen, die auch nicht
mehr da ist -, ob eine anlasslose, zentrale und massenhafte Speicherung von sensibelsten Daten zum Zweck
des Bürokratieabbaus legitim sein kann, wenn das Verfassungsgericht eine solche Datensammlung selbst für
höchste Rechtsgüter wie den Schutz von Leib und Leben
für verfassungswidrig erklärt hat.
Zum Bürokratieabbau, dem Sie hier Lobgesänge widmen, kommt es eben nicht. Nach einem Gutachten des
Nationalen Normenkontrollrates sind bei der Umsetzung
von ELENA für die öffentliche Hand bis zu achtmal höhere Kosten als geplant zu erwarten. Auch für kleine und
mittlere Betriebe gibt es erhebliche Mehrkosten, die so
nicht eingeplant waren.
Hinzu kommt noch, dass ELENA gegen fundamentale Datenschutzgesetze verstößt. Bezüglich der übermittelten Daten, die alle seit dem 1. Januar 2010 an die
Zentrale Sammelstelle gesandt werden, gibt es bis 2012
keinen Auskunftsanspruch. Bis 2012 können Sie also
nicht erfahren, was Ihr Arbeitgeber dahin übermittelt.
Das ist ein klarer Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
({7})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Sehr gerne. - Ich komme zum Schluss. Manchmal
soll es Regierungsfraktionen ja schwerfallen, aus Gründen der Fraktions- oder Regierungsdisziplin sinnhaften
Anträgen der Opposition nicht zustimmen zu können.
Darum geht es heute aber nicht. Heute geht es darum,
dass Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als zuzustimmen, wollen Sie nicht sich selbst, Ihre Ministerinnen und
Minister und Ihre Kanzlerin im Bereich des Datenschutzes der totalen Lächerlichkeit preisgeben. Wir werden
das Abstimmungsverhalten genau verfolgen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel: „ELENA aussetzen und Datenübermittlung strikt begrenzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1553, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/658 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? ({0})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht
- Drucksache 17/2637 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Max Stadler
für die Bundesregierung das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Folgender Fall hat sich tatsächlich zugetragen:
Das Opfer einer schweren Straftat, nämlich einer Entführung, hat einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt. Daraufhin sind die Telefone dieses
Anwalts - sowohl die in der Kanzlei als auch das Mobiltelefon - durch gerichtlichen Beschluss überwacht worden.
({0})
Erst das Bundesverfassungsgericht hat diese Überwachungsmaßnahme aufgehoben.
Immerhin wurde den Karlsruher Richtern durch diesen unglaublichen Vorgang die Gelegenheit geboten, in
dem Beschluss vom 30. April 2007 - ich zitiere - „die
herausgehobene Bedeutung einer nicht-kontrollierten
Berufsausübung eines Rechtsanwalts zum Schutz des
Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant“
hervorzuheben.
Meine Damen und Herren, über diese Bedeutung des
Schutzes des Vertrauensverhältnisses zwischen Mandant
und Anwalt sind wir uns alle hier im Hohen Haus sicher
einig. Es war ja auch mit § 160 a Abs. 1 StPO der Versuch unternommen worden, dieses Vertrauensverhältnis
vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Aber die bisherige Regelung ist nach unserer Auffassung unzureichend. Das korrigieren wir jetzt. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf unternehmen wir einen wichtigen Schritt
zur Stärkung der Bürgerrechte.
({1})
Wir sorgen dafür, dass in Zukunft wieder alle Rechtsanwälte und nicht alleine die Strafverteidiger gleichermaßen vor heimlichen Ermittlungsmaßnahmen des
Staates geschützt werden. Damit stärken wir das Vertrauensverhältnis zwischen Mandanten und Anwälten,
und wir stärken zugleich das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger in den freiheitlichen Rechtsstaat.
({2})
Die Koalition setzt damit ein wichtiges Vorhaben aus
ihrem Regierungsprogramm um. Für mich ist das praktizierte Bürgerrechtspolitik. Wir erfüllen damit das Versprechen, das ungestörte Vertrauensverhältnis zwischen
Anwälten und Mandanten als das Fundament jeder anwaltlichen Tätigkeit besonders anzuerkennen.
Was war unzureichend am bisherigen § 160 a StPO?
Er erstreckte diesen Schutz nur auf das Verhältnis von
Mandanten zu Strafverteidigern. Es ist aber nicht einzusehen, dass dieser Schutz nicht gleichermaßen für das
Vertrauensverhältnis der Bürger zu einem Anwalt gelten
soll, den sie beispielsweise mit der Wahrnehmung zivilrechtlicher Aufgaben oder in sozialrechtlichen Fällen
oder verwaltungsrechtlichen Fällen oder womit auch immer betrauen.
Deshalb werden in Zukunft nach unserem Gesetzentwurf alle Rechtsanwälte den gleichen absoluten Schutz
in § 160 a Abs. 1 StPO bekommen.
({3})
Sofern also nicht gegen Anwälte wegen eines Tatverdachts selbst ermittelt wird, dürfen Angehörige der Anwaltschaft und der anderen genannten Berufsgruppen
nicht zum Objekt strafrechtlicher Ermittlungen werden,
wenn dadurch Informationen erlangt würden, die von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht umfasst sind.
Eine Telefonüberwachung, wie ich sie in dem Eingangsbeispiel geschildert habe, oder eine längerfristige
Observation - um nur zwei Beispiele zu nennen - sind in
Zukunft in diesen Fällen nicht mehr zulässig.
Die bisherige Regelung, die wir vorgefunden haben,
war auch völlig praxisfremd. Denn es ist in der Praxis
keine Seltenheit, dass andere Rechtsgebiete immer wieder mit strafrechtlichen Fragen in einem Zusammenhang
stehen. So kann eine Beratung, die ein Anwalt in einer
zivilrechtlichen oder einer steuerrechtlichen Angelegenheit durchführt, durchaus ergeben, dass auch eine Strafverteidigung nötig wird. Aus diesem Grund hat die bisherige Regelung auch aus Praktikabilitätserwägungen zu
Recht die Kritik der Anwaltschaft gefunden.
Dass diese Kritik heutzutage weitverbreitet ist, zeigte
übrigens jüngst eine Entschließung des Bundesrats. Der
Bundesrat hat nämlich zu § 20 u des BKA-Gesetzes, des
Gesetzes über das Bundeskriminalamt, festgestellt, dass
auch dort dieselbe nicht nachvollziehbare Unterscheidung wie in der bisherigen Vorschrift des § 160 a StPO
enthalten sei, und hat uns aufgefordert, diese Unterscheidung auch dort zu beseitigen.
Meine Damen und Herren, wir sind bereit, diesen
Vorschlag des Bundesrats zu prüfen, genauso wie wir
auch prüfen wollen, ob nicht weitere Berufsgeheimnisträger, die bislang nur einen relativen Schutz genießen,
in § 160 a StPO besser geschützt werden sollen, zum
Beispiel Steuerberater, Notare oder Ärzte.
Ich freue mich, dass es mit dem heutigen Gesetzentwurf möglich ist, eine Vereinbarung, die CDU/CSU und
FDP im Koalitionsvertrag getroffen haben, umzusetzen.
Dies ist ein Projekt zum besseren Schutz der Bürgerrechte. Ich hoffe darauf, dass wir dafür die breite Unterstützung des Hauses finden.
({4})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Peter Danckert.
({0})
Nicht zu viel Beifall. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Man muss
der FDP gratulieren. Sie haben sich in dem KoalitionsDr. Peter Danckert
vertrag in dieser jetzt hier zu behandelnden Materie
durchgesetzt und ein Versprechen eingelöst, mit dem Sie
in der Anwaltschaft kräftig geworben haben. Ich sage
das ohne jeden Neid. Ich erinnere mich nur - Herrn
Kauder wird es genauso gehen - an die Anhörungen im
September 2007 zum Telekommunikationsgesetz und an
die Beratungen im Parlament im November 2007, die
dann zu dem § 160 a StPO geführt haben. Ich weiß nicht,
ob der Kollege Sensburg auf das eingehen wird, was
seine Fraktion veranlasst hat, auf die Vorschläge der
FDP einzugehen.
({0})
Wenn wir uns die Entwicklung in dieser Zeit ansehen,
dann stellen wir fest, dass es damals eine heiße Debatte
über die Frage gab, wie weit der Geheimnisschutz gehen
soll und welche Personen betroffen sein sollen. Ursprünglich war der § 53 a der StPO einschlägig, der
durch einen Änderungsantrag in den § 160 a übergegangen ist. Das war richtig, weil das der eigentliche Ort war,
um die gesetzlichen Regelungen zu treffen. Herr Kauder
und ich - das gilt auch für unsere Fraktionen - waren
uns einig, wenn ich mich recht entsinne, dass der Schutz,
wie wir ihn in § 160 a Abs. 1 festgelegt hatten, ausreichend sein würde. Als überzeugter Anwalt, der jetzt über
40 Jahre auf dem Buckel hat, muss ich sagen, dass es an
dieser Stelle problematisch ist, zwischen Strafverteidigern einerseits und Rechtsanwälten andererseits zu unterscheiden. Herr Stadler hat schon ein Beispiel gegeben.
Man kann sich lebhaft vorstellen, dass in der Praxis ein
Gespräch mit einem normalen Rechtsanwalt, der Zivilsachen für einen Mandanten bearbeitet, unversehens in
ein Gespräch über einen strafrechtlichen Vorwurf münden kann. Dann wird die Sache sehr problematisch, weil
der Zivilanwalt nicht der Strafverteidiger ist und durchaus Probleme entstehen könnten, die wir nur dadurch lösen können - das ist auch die Auffassung meiner Fraktion -, dass wir eine Gleichstellung vornehmen und nicht
zwischen Strafverteidiger einerseits und Rechtsanwalt
andererseits unterscheiden.
Insofern trage ich als Anwalt aus Überzeugung, aber
nach intensiver Beratung auch meine Fraktion, diese Regelung mit. Ich glaube, wir tun damit nicht nur der
Rechtsanwaltschaft insgesamt einen Gefallen, sondern
wir nivellieren einen Unterschied, der in der Praxis sehr
problematisch war. Wir dürfen aber nicht übersehen,
dass an dieser Stelle - wir werden sehen, wie sich die
Dinge entwickeln - auch der Grundsatz der effektiven
Strafverfolgung, der sich ebenfalls aus der Verfassung
ableiten lässt, unter Umständen berührt sein kann. Das
waren damals auch unsere Überlegungen. Wir werden
das sehr aufmerksam verfolgen.
Ich will die mir zustehende Redezeit nicht weiter ausnutzen, weil ich glaube, dass das Haus in dieser Thematik wahrscheinlich einheitlich votieren wird. Auch die
Beratungen in den Ausschüssen werden daran nichts ändern. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
lasse mir für das nächste Mal drei Minuten gutschreiben.
({1})
Vielen Dank.
({2})
So einfach ist das dann doch wieder nicht.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Patrick Sensburg
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das mit dem
Gutschreiben hätte mich mit meinen zwölf Minuten Redezeit auch interessiert, aber ich habe gelernt, dass das
nicht so einfach ist.
Es geht in dem vorliegenden Gesetzentwurf um die
Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu
Rechtsanwälten in der Strafprozessordnung und damit
um die Erweiterung des Schutzes in einem besonderen
Bereich der Berufsgeheimnisträger. Es handelt sich zwar
um einen nicht sehr groß gefassten Bereich, wie ich
gleich aufzeigen werde, aber um einen Bereich, dessen
Ergänzung sinnvoll ist. Es geht darum, den Unterschied
zwischen Verteidiger und Rechtsanwalt in § 160 a der
StPO abzuschaffen.
In der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem
§ 160 a StPO den Unterschied dahin gehend ausgestaltet, dass wir ein absolutes Erhebungs- und Verwertungsverbot unter anderem für den Bereich der Strafverteidiger und ein relatives Verbot von Maßnahmen gegenüber
Rechtsanwälten geregelt haben. Für Letztere greift
§ 160 a Abs. 2 StPO und damit ein Erhebungs- und Verwertungsverbot nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall. Es besteht also bereits
jetzt ein Schutz für alle Berufsgeheimnisträger, nur eben
in abgestufter Weise. Auf der einen Seite besteht er für
Geistliche, wenn sie in der Seelsorge tätig sind, für Verteidiger und Abgeordnete; da gilt insoweit das absolute
Erhebungs- und Verwertungsverbot. Auf der anderen
Seite gilt für alle anderen Berufsgeheimnisträger der
wirksame, aber relative Schutz. Es handelt sich folglich
um einen abgestuften Schutz der Vertrauensverhältnisse
im anwaltlichen Bereich.
Es ist wohl schwerlich zu übersehen, dass man bei
Strafverteidigern, die in der Beratung mit dem Mandanten strafrechtsrelevante Sachverhalte besprechen, eine
andere Interessenlage hat als bei einem Rechtsanwalt,
der zum Beispiel auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts
mit seinem Mandanten diskutiert. Ich glaube, es ist klar
zu erkennen, dass das der Grund der Differenzierung gewesen ist. Das ist auch nachvollziehbar. Der Übergang
vom Anwalts- zum Verteidigermandat ist in der Praxis
aber oft fließend. Darum wollen wir eine Gleichstellung.
Klarheit und auch Sicherheit schaffen wir insoweit für
die Rechtsanwälte. Aber das ist nicht nur für die Rechtsanwälte wichtig, sondern auch für die Mandanten, die
den feinen Unterschied des Übergangs vom Rechtsan6520
waltsmandat zum Strafverteidigermandat nicht erkennen
können. Durch den Wegfall dieser Unterscheidung
schaffen wir Klarheit sowohl für die Anwaltschaft als
auch für die Mandanten, die sich dann keine Sorge machen müssen, ob sie sich im Bereich der strafrechtlichen
Beratung oder im Bereich von anderen Beratungstätigkeiten bewegen.
({0})
Das ist es, was Staatssekretär Stadler gesagt hat: Aus der
Anwaltschaft wird über die Verunsicherung von Mandanten berichtet. Da schaffen wir jetzt Klarheit.
Anwälte sind als unabhängige Organe der Rechtspflege unverzichtbar für einen funktionierenden Rechtsstaat. Die unbehelligte Arbeit der Anwälte und ihr
Schutz vor Ermittlungsmaßnahmen sind daher ein hohes
Gut. Ganz konkret ist es für das Mandantenverhältnis
von großer Bedeutung, dass eine ungestörte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant stattfinden kann.
Die Besorgnis, ein Anwalt könne im Rahmen seiner
Mandatsausübung abgehört werden, würde diesem Vertrauensverhältnis Schaden zufügen, und deswegen ändern wir auch § 160 a StPO.
Gerade mit Blick auf die Debatten aus dem Jahre
2007 - der Kollege Danckert hat es gerade angesprochen halte ich es für wichtig, § 160 a StPO einmal in den Gesamtkontext der Schutznormen einzuordnen und zu zeigen, wo die einzelnen Schutzbereiche in diesem Themengebiet liegen. Bei der Beschlagnahme von
Schriftstücken gilt bereits jetzt § 97 StPO für alle Anwälte und damit im Bereich ihres Mandantenverhältnisses. Auch der Bereich der akustischen Wohnraumüberwachung, also das Abhören und Aufzeichnen im
Wohnraum ohne Wissen des Betroffenen, ist für Anwälte
bereits jetzt geregelt, nämlich in § 100 c Abs. 6 StPO.
Damit haben wir auch hier einen Schutz für alle Rechtsanwälte.
Mit der Erweiterung von § 160 a StPO soll nun der
Schutz vor allen anderen Ermittlungsmaßnahmen gegen
Rechtsanwälte ausgedehnt werden. Das ist richtig. Wir
haben gerade gehört, welche Bereiche das umfassen
kann. Insbesondere sind es die Telekommunikationsüberwachungen, also die sogenannten TKÜ, auch die
längerfristige Observation, die Staatssekretär Stadler gerade dargestellt hat; das findet in der Praxis aber eher
weniger statt. Es sind in der Regel die TKÜ, also die Telekommunikationsüberwachungen, die hier relevant
sind. Konkret handelt es sich dabei um das Abhören von
Telefongesprächen, das Mitlesen von E-Mails oder das
Mitlesen von sogenannten Kurzmitteilungen wie SMS
oder Telefax, wobei die Anzahl der Telefaxe in der Praxis im Verhältnis Mandat zu Rechtsanwalt wohl etwas
kleiner wird.
Bisher hat es für diese Varianten nach dem aktuell
gültigen § 160 a StPO nur sehr selten Maßnahmen zulasten von Rechtsanwälten gegeben. Die Zahl, die uns aus
der Anwaltschaft genannt wird, liegt im laufenden Jahr
bei unter zehn Fällen von Telekommunikationsüberwachung zulasten von Rechtsanwälten. Man kann daher
feststellen, dass wir mit der bisherigen Regelung im
Großen und Ganzen gut gefahren sind und gute Erfahrungen gemacht haben und dass die Rechte von Berufsgeheimnisträgern nicht zu kurz kamen. Eine große Zahl
von Überwachungsmaßnahmen im Rahmen von Telekommunikationsüberwachungen zulasten von Rechtsanwälten gab es und gibt es in Deutschland nicht. Trotzdem ist jeder Fall, der stattgefunden hat, problematisch,
und jeden Fall müssen wir genau ins Auge nehmen.
Das zeigt die Berichterstattung über den vorhin geschilderten Fall Gnjidic aus dem Jahr 2006. Ich glaube,
man kann den Namen nennen; denn er ist inzwischen
durch die Presse gegangen. Außerdem ist Rechtsanwalt
Manfred Gnjidic auf Veranstaltungen präsent. Damals
ging es um Ermittlungsmaßnahmen bezüglich der Entführung des Islamisten el-Masri. Konkret ging es um
eine Telefonanschlussüberwachung zulasten des Rechtsanwalts, weil man der Überzeugung war, durch diese Telefonüberwachung könnte man herausfinden, wer die
Entführer sind. Das ist zu Recht als verfassungswidrig
eingeordnet worden.
Auch diese Überlegungen sind in die vorliegende Gesetzesnovelle eingeflossen. Das zeigt, dass sich unsere
Rechtspolitik nicht an populistischen Überlegungen,
sondern an der Praxis misst. Wir schauen, was in der
Praxis notwendig ist. Dann passen wir die Gesetzeslage
dementsprechend an.
({1})
Es ist deshalb auch konsequent und folgerichtig, dass
wir mit den Erkenntnissen, die wir aus der Rechtsanwendung gewonnen haben, § 160 a anpassen, eine Stufe weitergehen und den Schutz auch auf Rechtsanwälte ausdehnen.
Die Fallzahlen aus der Praxis zeigen aber zugleich,
dass verfassungsrechtlich keine Gleichstellung mit weiteren Berufsgruppen, zum Beispiel mit Steuerberatern
oder Buchprüfern, zu treffen ist.
({2})
Ich sehe hier keine Anwendungsfälle, die den absoluten
Schutz erfordern. Schauen wir einmal, wie wenig Anwendungsfälle wir im Bereich der Rechtsanwälte haben,
dann frage ich mich im Umkehrschluss: Wie viele Anwendungsfälle sollen es dann im Bereich der Buchprüfer
und Steuerberater sein? Stellen Sie sich einmal vor, in einer gemeinsamen Sozietät würde ein Mandant nicht den
beratenden Rechtsanwalt, sondern den Buchprüfer oder
den Steuerberater der Sozietät anrufen. Das ist praxisfern. Lassen Sie uns doch beobachten, ob es tatsächlich
Fälle in der Praxis gibt und weitere Berufsgruppen in
den Schutz genommen werden müssen.
({3})
Wenn wir feststellen, dass es Anwendungsfälle gibt,
dann können wir eine Nachregelung des § 160 a vornehmen. Wenn es aber keine Fälle gibt, dann gilt das verfassungsrechtliche Gebot, den Schutz nicht weiter auszudehnen.
({4})
Gerade der Fall Gnjidic/el-Masri zeigt beispielhaft
das Spannungsverhältnis zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Schutz von Berufsgeheimnisträgern auf. Zum einen muss deutlich gemacht
werden, dass § 160 a in der alten wie in der geplanten
neuen Fassung schon seinem Wortlaut nach nicht auf
selbst beschuldigte Zeugnisverweigerungsberechtigte
angewendet werden kann. In den Fällen also, bei denen
Berufsgeheimnisträger selber als schwarze Schafe in Ermittlungsmaßnahmen involviert sind, bietet § 160 a natürlich keinen Schutz, und das ist meines Erachtens auch
selbstverständlich.
Die neue Regelung trägt aber auch dem Rechnung,
dass es ein Spannungsverhältnis bei der Abwägung zwischen den berechtigten Interessen der Berufsgeheimnisträger und den notwendigen Strafverfolgungsinteressen
gibt. Bei dieser Abwägung sagt uns das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich Folgendes - ich zitiere -:
Angesichts des rechtsstaatlichen Postulats der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege bedarf die Einräumung von Aussageverweigerungsbefugnissen aus beruflichen Gründen stets
einer besonderen Legitimation, um vor der Verfassung Bestand zu haben.
Wir brauchen also die besondere Legitimation und können nicht ohne Grund Berufsgruppen hinzunehmen.
Ich glaube, das sind zwei Seiten derselben Medaille,
die wir in einem Abwägungsprozess berücksichtigen
müssen. Gerade die Einzelfälle, die wir in der Praxis in
den vergangenen Jahren erlebt haben, bringen uns dazu,
§ 160 a neu zu regeln. Lassen Sie uns doch einmal
schauen, ob eine Ausdehnung auf weitere Berufsgruppen überhaupt praxisrelevant ist. Wenn ja, dann kann
man auch darüber diskutieren.
({5})
Wenn ich mir die Debatte um den Haushalt des Justizministeriums vom 16. September 2010 vor Augen halte,
in der uns die Fraktion Die Linke vorgeworfen hat, wir
seien Sicherheitsfanatiker,
({6})
dann kann ich nur sagen, dass sie ein Problem mit dem
Rechtsstaat hat. Diese Abwägung findet bei Ihnen nämlich nicht statt. Sie sehen die eine Seite. Sie sehen aber
nicht das Strafverfolgungsinteresse des Staates. Mir
scheint manchmal, Sie haben ein Problem mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates.
({7})
- Ich kann Ihnen gleich gerne auch noch etwas zur Bundespolizei sagen. Wir haben schon im Zusammenhang
mit § 20 u BKAG darüber diskutiert, ob wir Rechte der
Berufsgeheimnisträger einschränken. An dieser Stelle
bringe ich ein Zitat von Ihnen: Bereits im Vorfeld von
Berichterstattungen wird versucht, den Journalisten einen Maulkorb zu verpassen. - So der Wortlaut einer
Pressemeldung von Ihnen. Das ist Populismus, und das
wird diesen Sachverhalten nicht gerecht.
({8})
Noch eine Sache zum Thema Stuttgart 21.
({9})
Man muss schon beide Seiten der Medaille sehen und
auch berücksichtigen, dass viele Demonstranten gut vorbereitet waren und Aggressionen von den Demonstranten ausgegangen sind. Außerdem sind Steine geworfen
worden. Das war das, was man gerade im Ticker lesen
konnte und was man auch auf Bildern im Internet sehen
konnte.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der vorliegende Gesetzentwurf schafft Klarheit im Verhältnis von
Anwälten und Strafverteidigern - das ist uns wichtig gewesen -,
({10})
er trägt aber auch dem verfassungsrechtlichen Gebot des
abgestuften Schutzes der einzelnen Berufsgeheimnisträger Rechnung, und es gelingt, das Strafverfolgungsinteresse des Staates hinreichend zu berücksichtigen. Es
handelt sich also um einen ausgewogenen Gesetzentwurf. Ich würde mich daher freuen, wenn auch Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen könnten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({11})
Nun hat das Wort die Kollegin Halina Wawzyniak für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Sensburg, ehrlich gesagt, finde ich es nicht
angemessen, um mich jetzt zurückzuhalten, demonstrierende Schülerinnen und Schüler mit Leuten gleichzusetzen, die, wie Sie unterstellen, gewalttätige Aktionen auf
Demonstrationen durchführen.
({0})
Das ist keine vernünftige Einstellung zur Zivilcourage.
({1})
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung
des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht geht in die richtige Richtung, greift aber zu kurz. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass die bisherigen Differenzierungen zwischen
Strafverteidigerinnen und -verteidigern und sonstigen
Rechtsanwälten, wie sie bislang in § 160 a vorgesehen
war, aufgehoben wird. Die Mandantin bzw. der Mandat
kann nunmehr alle Informationen, die zu einer effektiven Rechtsvertretung notwendig sind, offenbaren. Die
Linke ist aber der Auffassung, dass auch Ärztinnen und
Ärzte, Therapeutinnen und Therapeuten sowie Journalistinnen und Journalisten, aber auch Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer und Steuerberaterinnen und -berater dem
gleichen absoluten Schutz unterliegen müssen wie Strafverteidigerinnen und -verteidiger, Abgeordnete und
Geistliche und nunmehr auch Rechtsanwälte.
Der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen, dass
ein Vorschlag des Bundesrates vorliegt, der geprüft werden soll. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Nach den Ausführungen von Herrn Sensburg sehe ich noch nicht, dass
Sie sich durchsetzen können - aber trotzdem viel Erfolg.
Auch auf die Berufsgruppen, die ich eben genannt
habe, ist das Erhebungs- und Verwertungsverbot hinsichtlich aller Ermittlungsmaßnahmen auszuweiten. Insbesondere psychologische Therapeutinnen und Therapeuten sowie Ärztinnen und Ärzte können ihre Tätigkeit
nur dann richtig wahrnehmen, wenn sie ihren Patientinnen und Patienten die Gewähr geben können, dass das,
was ihnen in ihrer beruflichen Eigenschaft anvertraut
oder bekannt gegeben worden ist, nicht gerichtlich abrufbar bzw. verwertbar ist. Menschen, die medizinische
und therapeutische Hilfe und Sachkunde in Anspruch
nehmen wollen oder auch müssen, setzen ein großes
Vertrauen in die Personen, denen sie sich offenbaren, denen sie ihr Intimstes verraten. Hier muss die Regierung
schnellstens nachbessern.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig,
dass das, was einem Geistlichen in seiner Funktion als
Seelsorger anvertraut wird, den absoluten Schutz des
§ 160 a Abs. 1 genießt. Mir ist aber nicht plausibel, warum dies für Therapeutinnen und Therapeuten sowie
Ärztinnen und Ärzte in ihrem Verhältnis zu Patientinnen
und Patienten nicht gelten soll. Warum sollen Menschen,
die sich einem Geistlichen anvertrauen, weniger Angst
davor haben müssen, dass das Gesagte öffentlich wird,
als die, die sich einer Therapeutin oder einem Therapeuten offenbaren?
({2})
Die Vorschrift, um die es hier geht, nämlich § 160 a,
ist folgendermaßen konstruiert: In Abs. 1 werden diejenigen Berufsgruppen genannt, die absoluten Schutz vor
Ermittlungsmaßnahmen genießen, in Abs. 2 die Berufsgruppen, die zumindest einen relativen Schutz haben
sollen. Wie soll das aber in die Praxis umgesetzt werden? Wie soll denn die Feststellung getroffen werden, ob
eine Information kernbereichsrelevant ist oder nicht?
Dazu müssen die Beratungsinhalte doch erst einmal offenbart werden. Danach müsste geprüft werden, ob diese
Inhalte nun kernbereichsrelevant sind oder nicht. Diese
Feststellung ist aber an keinerlei objektive Maßstäbe gebunden. In einem Rechtsstaat muss aber für alle Beteiligten klar sein, welche Informationen geschützt sind
und welche nicht. Deshalb ist eine derart unbestimmte
Abwägungsklausel wie in § 160 a Abs. 2 rechtsstaatlich
bedenklich.
Lassen Sie mich aber an dieser Stelle und zum
Schluss noch anmerken, dass diese Kritik nicht neu ist.
Was wir hier kritisieren, ist die Folge - das wurde bereits
gesagt - des hier beschlossenen Telekommunikationsüberwachungsgesetzes. Die Linke hat damals mit immer
noch tragenden guten Gründen das Telekommunikationsüberwachungsgesetz abgelehnt. Der Abbau von
Bürgerrechten und rechtsstaatlichen Grundstandards ist
mit uns nicht zu machen.
({3})
Deshalb möchte ich mit einer Bitte schließen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, schauen Sie sich
bitte noch einmal Ihren Antrag 16/11170 aus der letzten
Legislaturperiode an und bringen Sie ihn bitte erneut ein.
Wir stimmen dann zu.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Jerzy Montag.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Gesetzentwurf der Koalition ist richtig und notwendig. Wir stimmen ihm zu. Aber der Gesetzentwurf greift
viel zu kurz, und dazu will ich etwas sagen.
Jawohl, der Staat hat die Verpflichtung, Straftaten zu
ermitteln und Straftäter zu verfolgen. Das Gesetz, § 163
der Strafprozessordnung, sagt, wie das zu geschehen hat:
indem Ermittlungen geführt werden. Ich zitiere aus dem
Gesetz: „Ermittlungen jeder Art“. Die Frage stellt sich:
Wirklich jeder Art? Natürlich nicht jeder Art, obwohl es
so im Gesetz steht. Es ist verboten, zu ermitteln, indem
man selbst Straftaten begeht. Es ist verboten, zu ermitteln, indem man verbotene Vernehmungsmethoden benutzt. Es ist verboten, zu foltern. Es wird aber auch ermittelt, indem man Zeugen über ihr Wissen befragt.
Dazu gibt es ebenfalls Ausnahmen, und zwar in § 53
StPO. Bestimmte Berufsgeheimnisträger, nicht nur die
Rechtsanwälte, sondern auch die Ärzte, die Psychiater
und die Psychologen dürfen die Aussage als Zeuge verweigern, weil sie Schweigepflichten haben. Dieses
Recht gilt absolut und für alle Berufsgruppen gleich. Die
Strafrechtspflege wird dadurch natürlich rechtsstaatlich
begrenzt, weil man die Aussagen dieser Zeugen nicht
bekommen kann; denn sie müssen nicht aussagen.
Jetzt kann man das Wissen dieser Zeugen auch auf
eine andere Weise ermitteln, als sie zu fragen. Man kann
hinter ihnen her spionieren, man kann ihre Telefone
überwachen, man kann alle geheimen Ermittlungsmethoden anwenden, die die Strafprozessordnung vorsieht.
Das dient dazu, herauszufinden, welches Wissen sie haben, ein Wissen, zu dem sie, würde man sie befragen, die
Aussage zu Recht verweigern könnten.
({0})
- Als Zeugen, selbstverständlich, nach § 53 StPO. Soweit ihr Aussageverweigerungsrecht greift, ist das so.
Jetzt ist es unlogisch und schon immer falsch gewesen, dass es bei diesen Ersatzmaßnahmen zur Erlangung
von Erkenntnissen von Zeugen einen abgestuften Schutz
gibt.
({1})
Wenn man einen Arzt als Zeugen fragt, dann darf er sagen: Ich sage nichts. - Aber wenn man sein Telefon abhört, um herauszubekommen, was er sagen könnte,
wenn man ihn fragen würde, dann sagen Sie, dieses Abhören sei nicht absolut verboten, sondern nur relativ. Das
ist unlogisch. Das war schon immer unlogisch. Deswegen ist es völlig klar: So weit, wie der Schutz nach § 53
StPO für die Aussagen von Zeugen geht, muss natürlich
nach § 160 a auch der Schutz bei Ersatzmaßnahmen zur
Erlangung dieses Wissens von diesen Zeugen gehen.
({2})
Die Bundesregierung weiß das; denn sie schreibt in
der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf, dass die bisherige Differenzierung unbefriedigend sei. Ich zitiere wortwörtlich: „unbefriedigend“. Sie möchte gerne ein befriedigendes Ergebnis erreichen. Dazu schreibt sie in ihrer
Begründung, sie mache erst eine vorsichtige Ausweitung. - Sie ist nicht vorsichtig, sie ist ängstlich und unsystematisch und insofern zu kritisieren.
({3})
Die Ärzte, Psychiater und Journalisten sind empört über
diese Ungleichbehandlung, und sie bleiben so lange empört, bis man sie, wie ich es ausgeführt habe, in diesen
Rechten gleichsetzt.
Lieber Kollege Stadler, Sie haben zu Beginn Ihrer
Ausführungen einen Fall geschildert. Diesen Fall könnte
man für einen Arzt, für einen Journalisten, für einen Psychiater und für einen Psychologen genauso konstruieren.
Genau das ist das Problem. Wir werden so lange bohren,
bis Sie uns zu diesem Gesetz auch die anderen Gesetze
vorlegen werden, die Sie so vorsichtig zwischen den
Zeilen angekündigt haben. Da bleiben wir miteinander
im Gespräch.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Barthel, Garrelt Duin, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Arbeitsbedingungen im Briefmarkt - Sozialklausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3
Postgesetz und Verordnung über zwingende
Arbeitsbedingungen für die Branche Briefdienstleistungen auf Grund des ArbeitnehmerEntsendegesetzes
- Drucksachen 17/1615, 17/2883 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns bereits vor der Sommerpause mit der
Großen Anfrage der SPD zu den Arbeitsbedingungen im
Briefmarkt befasst. Heute beraten wir die Antwort der
Bundesregierung. Nach Auswertung der Antwort kann
ich für meine Fraktion Folgendes feststellen: Der Briefmarkt ist auf einem guten Weg; die Entwicklung ist positiv. Ich glaube, dass die Sozialklausel im Postgesetz faktisch überholt ist.
Das Bild, das Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, vom Briefmarkt zeichnen - Stichworte:
Sozialdumping, massenhafter Lohnwucher -, entspricht
zum Glück nicht der Realität. So gibt es bis heute keinen
einzigen Fall, in dem eine Lizenz wegen erheblicher Unterschreitung der wesentlichen Arbeitsbedingungen untersagt oder widerrufen werden musste. Das entnehme
ich der Antwort auf Ihre Frage 12. Es gibt sogar Bereiche, in denen die Arbeitsbedingungen bei den Wettbewerbern besser als bei der Deutschen Post AG sind. So
beträgt beispielsweise die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitarbeitskräfte bei der Deutschen Post 39,2 Stunden; bei den Wettbewerbern sind es
durchschnittlich nur 38,9 Stunden.
Man kann sagen, dass auch die Lohnentwicklung positiv ist. Während sich bei der Deutschen Post die Löhne
zwischen 2007 und 2009 nach unten entwickelt haben,
sind sie bei den Wettbewerbern gestiegen.
({0})
Wichtig ist auch: Wer eine Lizenz haben will, muss zuverlässig sein, muss ein sauberes polizeiliches Führungszeugnis vorweisen und steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen der Finanzämter vorlegen können. Es ist
fast so etwas wie eine Ironie der Geschichte, dass an diesen Voraussetzungen ausgerechnet ein früherer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post scheitern würde,
würde er heute einen Antrag auf Lizenzerteilung stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
sollten endlich aufhören, ein Zerrbild vom Briefmarkt zu
zeichnen. Freuen Sie sich lieber mit uns über rund 850
am Markt aktiv tätige und vorwiegend kleine und mittlere Unternehmen sowie über die 31 400 Beschäftigungsverhältnisse, die hier entstanden sind. Man muss
sagen, es könnten noch viel mehr sein, wären private
Anbieter nicht durch Mindestlohnvorschriften und die
Umsatzsteuerbefreiung für den Hauptkonkurrenten in
die Insolvenz getrieben worden. Zu Zeiten des Mindestlohns sind zwischen 2007 und 2009 17 000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Dies entnehme ich jedenfalls
der Antwort auf Ihre Frage 2.
Wenn wir jetzt vergleichen, kann man feststellen:
Tendenziell problematische Beschäftigungsverhältnisse
gibt es auch bei der Deutschen Post. Von den rund
12 000 Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen, die Ende
2008 im Briefmarkt tätig waren, entfielen rund 10 000
auf die Deutsche Post AG. Dazu kommen noch die Billigtöchter der Deutschen Post, die Stundenlöhne zahlen,
die weit unter Tarifvertrag liegen,
({1})
und dies, Herr Barthle, auch noch mit gewerkschaftlicher Unterstützung.
({2})
Ich glaube, man muss jetzt einfach den Blick nach
vorne richten. Eines muss man bei einer realistischen
Betrachtung sehr deutlich sagen: Einen Postmindestlohn
2.0 wird es nicht geben. Wir haben uns mit unserem Koalitionspartner verständigt; das wissen Sie sicherlich,
weil Sie unseren Koalitionsvertrag diesbezüglich studiert haben. Nachdem der Postdienstleistungsbereich
noch zu Zeiten der Großen Koalition in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen worden ist, würde
bei einem zweiten Anlauf das in der Koalition vereinbarte Verfahren mit den entsprechenden Vorgaben für
Mindestlöhne gelten. Das Verfahren hat sich in anderen
Bereichen bereits bewährt. Kollege Barthel, daran sehen
Sie, dass wir das ganz undogmatisch sehen.
Ein neuer Branchenmindestlohn bedarf nach unserer
Vereinbarung des einstimmigen Beschlusses durch den
Tarifausschuss zudem einer einvernehmlichen Regelung
im Bundeskabinett. Das hat dazu geführt, dass in der Abfallwirtschaft, der Gebäudereinigung und im Dachdeckergewerbe Mindestlohnverordnungen erlassen worden
sind. In anderen Bereichen, etwa beim Wach- und Sicherheitsgewerbe und bei den Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen, ist dies mangels ausreichender Mehrheit im Tarifausschuss nicht geschehen. Ich glaube, man
kann feststellen, dass ein neuer Anlauf beim Postmindestlohn am absehbaren Veto der Arbeitgeber im Tarifausschuss scheitern würde.
({3})
Ich muss für meine Fraktion sagen: Wir können mit diesem Ergebnis sehr gut leben.
({4})
Wir wollen - das ist weiterhin unser Ziel - die politischen Voraussetzungen für einen vollständigen, sich
selbst tragenden und chancengleichen Wettbewerb herstellen und den Marktzutritt von Wettbewerbern ermöglichen. Der Marktanteil der Wettbewerber der Deutschen
Post liegt bisher bei lediglich 10 Prozent. Da ist noch
viel Luft; es gibt noch viele Chancen auf neue Arbeitsplätze bei neu entstehenden Unternehmen. Ich glaube,
die Verbraucher werden insgesamt von mehr Wettbewerb profitieren, sowohl durch tendenziell niedrige
Preise als auch durch ein vielfältigeres, stärker kundenorientiertes Angebot an Postdienstleistungen. Wer es
nicht glaubt, sollte sich einfach einmal anschauen, was
im Bereich der Telekommunikation zwischenzeitlich alles entstanden ist.
Man kann als Fazit feststellen: Die Bundesregierung
hat recht; es gibt keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Wie gesagt: Einen Postmindestlohn 2.0 wird es
auch nicht geben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere aus dem Postgesetz:
Die Lizenz ist zu versagen, wenn … Tatsachen die
Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die
wesentlichen Arbeitsbedingungen, die im lizenzierten Bereich üblich sind, nicht unerheblich unterschreitet.
Weiter heißt es:
Eine Lizenz kann durch die Regulierungsbehörde
… widerrufen werden, wenn der Lizenznehmer seinen Verpflichtungen nach diesem Gesetz … nicht
nachkommt.
Herr Kolb, ich zitiere keine Gesetzentwürfe oder Anträge aus der linken Ecke dieses Hauses, für die wir angesichts von Schwarz-Gelb eh keine Mehrheit hätten.
Das ist seit 13 Jahren geltendes Recht für den Wettbewerb im Briefsektor, einer Branche mit mindestens
200 000 Beschäftigten. Die gesetzliche Regelung ist das
Ergebnis eines Kompromisses, den die SPD-Bundesratsmehrheit seinerzeit nach langen Auseinandersetzungen
mit der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung
durchgesetzt hat als Bedingung für die schrittweise Liberalisierung des Postmarkts. Damals haben Sie - Herr
Kolb, ich glaube, auch Sie waren dabei ({0})
die zitierten Klauseln gegen Sozial- und Lohndumping
und für Sozialstandards als verbindliches Regulierungsziel angenommen.
Heute stellen wir fest - wir haben es gerade gehört -:
Die schwarz-gelbe Bundesregierung des Jahres 2010
kündigt den damaligen Konsens faktisch auf.
({1})
Anders kann man die Antwort auf unsere Große Anfrage
nämlich nicht verstehen. Sie haben vier Monate gebraucht, um uns mitzuteilen, dass Sie in bester Tradition
Ihrer einjährigen Regierungszeit nichts tun wollen, um
dem Recht zur Geltung zu verhelfen.
Die Bundesregierung duldet bewusst und gezielt Behördenversagen. Die Bundesregierung lässt unter anderem zu, dass sich eine Bundesoberbehörde weigert,
„branchenübliche Arbeitsbedingungen“, wie es im Gesetz heißt, als Maßstab für die Lizenzerteilung überhaupt
festzustellen, damit sich Lizenznehmer daran orientieren
können. Sie lässt es zu, dass eine Bundesoberbehörde es
in Zukunft wieder ablehnt, Vollerhebungen wie 2007
und 2009 zu den Arbeitsbedingungen überhaupt festzustellen, dass sich diese Behörde weigert, gegen massenhafte und gravierende Unterschreitung dieser Arbeitsbedingungen vorzugehen, und dass bis heute eigentlich
niemand so genau weiß, wie viele Menschen bei all den
Subunternehmen, bei den Erfüllungsgehilfen, von denen
Sie hier gerade geredet haben, überhaupt arbeiten und
wie es denen eigentlich geht, obwohl Gerichtsurteile
ganz klar sagen, dass auch die zu erfassen sind.
Die Kanzlerin - das finde ich in unserem Rechtsstaat
spannend - hat neulich in anderem Zusammenhang erklärt, Sie werde keine rechtsfreien Räume zulassen. Im
Briefsektor wäre es ganz einfach, aufzuräumen: Ein Gesetz ist da; eine zuständige Behörde ist da; die Datenbasis dafür könnte da sein. Doch das Ergebnis - insofern
müssen wir einfach einmal genauer hinschauen - dieses
rechtsfreien Raumes ist, dass der Briefsektor immer
mehr zum Niedriglohnsektor übelster Art verkommt.
Der Durchschnittslohn bei den Wettbewerbern der
Deutschen Post AG liegt 2009 sogar nach den nicht
überprüfbaren Angaben der Wettbewerber selbst um
mehr als ein Drittel unter dem der Deutschen Post AG.
2007 waren es noch rund 40 Prozent, und jetzt, als die
Regelungen über den Postmindestlohn ausgelaufen ist,
geht die Tendenz wieder weiter nach unten. Die als
Durchschnitt der Wettbewerber ermittelten Löhne verschleiern außerdem die Realität mehr, als dass sie sie abbilden, weil einige Wettbewerber tatsächlich höhere
Löhne bezahlen und auch Führungskräfte mitgerechnet
werden. In zwei Bundesländern haben wir sogar Durchschnittslöhne von unter 6 Euro, und ein global agierender Postkonzern aus den Niederlanden brüstet sich in aller Öffentlichkeit damit, seinen Zustellern zwischen
6,75 Euro und 7,60 Euro zu zahlen.
Bei öffentlichen Ausschreibungen von Behörden wie
Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit, Landesministerien oder der Justiz bekommen die Billiganbieter
den Zuschlag für die Zustellung von Behördenpost, weil
der preisgünstigste Bewerber genommen wird. Die Zusteller, die dort arbeiten, kommen dann wieder zu ebendiesen Behörden - zum Staat -, um die Aufstockung ihrer Dumpinglöhne zu beantragen. Absurder geht es doch
gar nicht, meine Damen und Herren.
Den Vergabestellen sind scheinbar die Hände gebunden, weil die Anbieter darauf verweisen können, dass sie
eine Lizenz haben, scheinbar die Lizenz zum Lohn- und
Sozialdumping. Jeder halbwegs seriöse Unternehmer in
diesem Wettbewerb ist der Dumme, weil alle Wettbewerber in den Sog dieses Lohndumpings kommen. Das
führt jetzt dazu, dass die Deutsche Post AG wieder einmal der Gewerkschaft Verdi damit droht, weitere Zustellbezirke outzusourcen, wenn es beim Lohn keine
weiteren Zugeständnisse nach unten gibt. Die Spirale
dreht sich also weiter.
Diese Fakten sind amtlich bekannt. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort, es lägen der Bundesnetzagentur - Herr Kolb - „zu keiner Zeit Erkenntnisse vor,
die hier ein postrechtliches Eingreifen gerechtfertigt hätten“, obwohl die Fakten so sind, wie ich sie beschrieben
habe. Das ist der Wettbewerb, von dem Union und FDP
träumen. Die Bundesregierung will die sozialen Standards im Gesetz stehen lassen. Herr Kolb hat gesagt, er
wolle sie eigentlich nicht drinstehen lassen. Ich bin gespannt, was insofern von anderer Seite kommt.
Vor ein paar Tagen wurde eine Studie von Input Consulting veröffentlicht. In ihr kann man lesen, dass es
durchaus Wege gegeben hat, die Lohnsenkungsspirale zu
durchbrechen. Diese Studie sollte sich die Koalition, insbesondere die Union, einmal durchlesen. In der Großen
Koalition haben wir nämlich mit Müntefering, mit den
Postarbeitgebern und mit Verdi den Mindestlohn durchgesetzt. Das hat dazu geführt, dass die Stundenlöhne tatsächlich gestiegen sind, nämlich im Westen um 8,8 Prozent und im Osten um 11,8 Prozent. Die Studie zeigt
auch auf, dass die Behauptung, der Mindestlohn hätte
Arbeitsplätze vernichtet - das haben wir heute wiederholt gehört -, unhaltbar ist.
({2})
Der Mindestlohn für die Briefbranche und sein Erfolg
widerlegt aber auch die Behauptung vonseiten der Linken, wir als SPD würden heute etwas beklagen, wogegen
wir selber nichts getan haben.
({3})
Jetzt stehen wir vor der Situation, dass der Postmindestlohn aus formalen Gründen aufgehoben ist und die Gewerkschaften heute keinen Arbeitgeber, keinen neuen
Verband mehr finden, um einen neuen Antrag zu stellen.
Der Mindestlohn ist weg, und die Löhne sinken wieder. Das ist die Bilanz, die wir nach 15 Jahren Postreform ziehen müssen. Der Wettbewerb funktioniert nach
wie vor nicht. Der Markt schrumpft unaufhaltsam. Die
Dienstleistungsqualität verschlechtert sich an vielen
Stellen. Arbeitsplätze und Einkommen verschwinden.
Das ist genau das Gegenteil all der Verheißungen, die
wir seit 20 Jahren hören. Damit ist der Postsektor zum
traurigen Symbol einer gesellschaftlichen Entwicklung
der letzten 20 Jahre geworden, nämlich des ökonomisch
und politisch erzwungenen Abstiegs der gesellschaftlichen Mitte.
Der Postbote, der Paketfahrer, der Schalterbeamte
- das waren bis in die 90er-Jahre anerkannte gesellschaftliche - man muss fast sagen - Institutionen. Ein
Zusteller bekam 1997 im Schnitt 28 Mark Stundenlohn
und eine anständige Altersversorgung. Das wären heute
gut 14 Euro in der Stunde. Aber selbst der Zusteller bei
der Post AG erleidet heute trotz enorm gestiegener Arbeitsbelastung einen Realeinkommensverlust. Von einem Renteneintritt mit 65 kann er angesichts eines Wirbelsäulenschadens nur träumen; die neuen Beschäftigten
in der Briefbranche können das ganz vergessen. Hier
sinkt ein ganzer Berufsstand in den unteren Einkommensbereich ab und verliert mindestens die Hälfte seines
Einkommens.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Sofort. - Ohne Mindestlohn - das belegen die Zahlen
der Bundesnetzagentur, die zum Teil in der Antwort vorkommen - bekommt der durchschnittliche Zusteller bei
den Wettbewerbern heute einen Stundenlohn, der ihn
selbst bei Vollzeit zum Aufstocker degradiert, von den
Minijobbern und den anderen ganz zu schweigen. Das
ist eines der Beispiele dafür, wie neoliberale Politik
Leistungsträger zu Leistungsempfängern macht. Das ist
nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Ansehens und des Selbstwertgefühls. Es ist eine Frage des
Vertrauens in die Politik, in den Rechtsstaat und seine
Institutionen. Sie sollten noch einmal genauer darüber
nachdenken, ob Sie dieser Entwicklung weiter zuschauen wollen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Barthel, ich weiß nicht, wer Ihnen die Rede
aufgeschrieben hat; der Redenschreiber scheint mir nicht
besonders sachkundig gewesen zu sein.
({0})
Es ist festzuhalten, dass der Wettbewerb im Gegensatz zu dem, was Sie ausgeführt haben, funktioniert;
denn wenn der Wettbewerb nicht funktionieren würde,
dann gäbe es nicht 857 Lizenznehmer, nur einer davon
ist die Deutsche Post. Herr Barthel, Sie haben die Zahl
von 12 000 Erfüllungsgehilfen genannt. Sie müssen aber
dazu sagen, dass von den 12 000 Erfüllungsgehilfen allein die Post 10 000 Erfüllungsgehilfen beschäftigt.
({1})
Man muss sich fragen, Herr Barthel, was mit den
10 000 Erfüllungsgehilfen ist, die die Post beschäftigt.
({2})
Darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Wenn man sich mit dem Thema Bezahlung auf dem
Briefmarkt befasst, dann muss man die gesamte Wettbewerbssituation betrachten. Schrumpfender Markt als
Folge des Wettbewerbs, es ist gruselig, was Sie da erzählen. Der schrumpfende Markt ist nur deswegen entstanden, weil die Zahl der Postsendungen enorm zurückgeht,
weil es - vielleicht ist es bei Ihnen noch nicht angekommen - elektronische Wege gibt. Es gibt heute ganz andere Möglichkeiten, in Kommunikation zu treten. Ich
weiß nicht, wann Sie den letzten Brief geschrieben haben. Wenn ich allein überlege, wie viele Briefe ich als
Jugendlicher an meine Freundinnen geschrieben habe.
Heute rufe ich meine Frau an; ich habe bloß noch eine.
({3})
Jeder muss sich einfach einmal klarmachen, dass die
Summe der Postdienstleistungen stark zurückgegangen
ist. Wenn die Bevölkerungszahl sinkt, dann geht auch
die Zahl der Dienstleistungen auf dem Briefmarkt zurück.
({4})
Es ist doch völliger Unsinn, diesen Zusammenhang herzustellen.
({5})
Sie haben den Mindestlohn bei der Post gelobt. Das
war das größte Eigentor, das die Post je geschossen hat.
Das wissen Sie ganz genau, Herr Barthel. Das, was Sie
hier erzählt haben, ist einfach falsch. Die Deutsche
Post AG kann den Mindestlohn, den sie selbst ausgehandelt hat, nicht mehr bezahlen.
({6})
Deshalb hat sie eine Tochterfirma gegründet, die First
Mail.
({7})
Die Post schiebt ihre Mitarbeiter, denen sie den alten
Mindestlohn nicht mehr zahlen kann, zur First Mail, um
sie zu den Bedingungen der Wettbewerber zu bezahlen.
({8})
Das sind die Folgen des Mindestlohns. Das ist ganz eindeutig. Sie wissen ganz genau, dass die Post trotzdem
mit ihrem Geld nicht auskommt und wir im Zusammenhang mit dem Postgesetz über verschiedene Dinge reden
müssen.
Dadurch, dass der Mindestlohn, der von der Deutschen Post eingeführt wurde, durch das VerwaltungsgeAndreas G. Lämmel
richt - nicht durch die Politik - zum Glück aufgehoben
worden ist, wurden die Voraussetzungen für einen Wettbewerb geschaffen.
({9})
- Es geht jetzt nicht um die Menschen. Es ging um den
Fakt, dass Herr Barthel gesagt hat, der Mindestlohn war
ein Erfolg. Er war genau das Gegenteil davon. Wenn Sie
mit den Postleuten reden, werden Sie merken, dass sie
das ganz genau wissen.
Herr Kollege Lämmel, darf ich Sie unterbrechen? Der Herr Kollege Barthel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, natürlich. - Bitte schön, Herr Barthel.
Bitte.
Herr Lämmel, woher nehmen Sie eigentlich Ihre
Kenntnis, dass bei der First Mail, dem Tochterunternehmen der Deutschen Post, der Mindestlohn nicht gezahlt
wird? Die Fragen, die sich, selbst wenn er nicht gezahlt
würde, daran anschließen: Warum finden Sie es eigentlich gut, dass inzwischen auch bei der Post AG Bedingungen wie bei den ganzen Dumpingwettbewerbern
herrschen? Warum finden Sie es gut, dass sich die Spirale weiter nach unten dreht, weil der Mindestlohn weg
ist? Ich verstehe Ihre Logik nicht ganz.
Herr Barthel, ich habe mit keinem Wort gesagt, dass
ich das gut finde. Ich habe lediglich den Fakt erwähnt,
dass die Deutsche Post ihren Leuten den Mindestlohn
nicht mehr zahlen kann, und sie deswegen eine Tochterfirma gegründet hat, um diese Löhne nicht länger zahlen
zu müssen. Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich
das gut finde.
Zum Zweiten kann ich sagen: Die Behauptung, dass
die Wettbewerber ausschließlich Dumpinglöhne zahlen,
wurde von Ihnen in den Raum gestellt. Löhne bilden
sich am Markt. Das wissen Sie ganz genau. Da die Wettbewerber für ihre Dienstleistung keinen höheren Erlös
erzielen können, weil sie bei ihrem Vorhaben, ein neues
Geschäft aufzubauen, einem Monopolisten gegenüberstehen, kann das Lohnniveau bei ihnen - Sie können eins
und eins zusammenrechnen - nicht so hoch sein wie bei
der Post, die aus einem staatlichen Unternehmen, quasi
aus dem Beamtenapparat heraus entstanden ist.
Sie haben die Tarifverträge angesprochen. Herr
Barthel, uns wäre es hundertmal lieber, wenn es im Bereich der Briefpost einen Tarifvertrag gäbe. Für den Abschluss eines Tarifvertrages ist es aber notwendig - das
ist eine Grundvoraussetzung; das wissen Sie genau -,
dass die Mehrheit der Branche erfasst ist. Die Gewerkschaften müssen sich einmal mit den Arbeitgebern zusammensetzen und darüber sprechen, wie man zu einem
Tarifvertrag kommt. In einem Tarifvertrag kann man natürlich - auch das wissen Sie genau - Lohnuntergrenzen
formulieren, ohne einen Mindestlohn festzulegen.
({0})
- Warten Sie doch einmal! - Wenn die Gewerkschaften
aber solche Löhne aushandeln wie Verdi in Sachsen für
verschiedene Handwerksberufe, dann ist das der eigentliche Skandal. Der Skandal ist nicht, dass zu wenig bezahlt wird, sondern, dass das tariflich vereinbart wurde. Das dazu.
({1})
Zur Rolle der Bundesnetzagentur. Herr Barthel, Sie
wissen ganz genau, dass die Bundesnetzagentur den
Wettbewerb überwachen soll und keine Sozialagentur
ist.
({2})
Das heißt, sie überprüft das. Mit keinem einzigen Wort
beschreibt sie die Arbeitsbedingungen von heute.
({3})
Die von der Deutschen Post definierten Arbeitsbedingungen entsprechen nicht den durchschnittlichen Arbeitsbedingungen im Bereich des Briefverkehrs. Genau
das ist das Problem, Herr Barthel. Wenn es einen Tarifvertrag gäbe, dann hätte man durchschnittliche Arbeitsbedingungen. Dann hätte man die Möglichkeit, bei starken Abweichungen die Sozialklausel greifen zu lassen.
Aber die Deutsche Post hat es vorgezogen, einen
Haustarifvertrag abzuschließen. Sie hat ihn sozusagen
als allgemein definiert. Sie hat ihn zum Mindestlohn angemeldet und hat gedacht, das Problem damit lösen zu
können. Sie wissen ganz genau, dass das ein Weg gewesen ist, der völlig in die Irre geführt hat, und dass dadurch insgesamt mehr Schaden entstanden ist, als es an
Nutzen gebracht hat.
Zusammenfassend ist festzustellen: Die Große Anfrage hat noch einmal ein paar wichtige Zahlen deutlich
gemacht. Sie hat aber auch deutlich gemacht, dass für
uns, für den Gesetzgeber im Moment kein Handlungsbedarf besteht.
({4})
Denn jetzt ist die Branche ganz einfach aufgefordert,
sich zu finden, sich zu organisieren und in Tarifvertragsverhandlungen einzutreten.
({5})
- Dann muss ein Arbeitgeberverband gegründet werden.
Es ist doch auch in anderen Branchen nicht unüblich,
dass man einen Arbeitgeberverband gründet.
({6})
Herr Barthel, zusammenfassend kann man sagen: Sagen Sie Ihrem Redenschreiber noch einmal Bescheid, er
soll wenigstens die Sachverhalte richtig darstellen, bevor
Sie hier ans Pult treten. Ich denke, wir werden auch in
anderem Rahmen über das Thema weiter sprechen müssen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Michael Schlecht.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich noch einmal kurz
auf das eingehen, was hier an abenteuerlichen, weltfremden Formulierungen geliefert worden ist.
Die Postbranche ist ein Beispiel dafür, wohin es führt,
wenn auf Teufel komm raus privatisiert und dereguliert
wird. Es gibt menschenunwürdige Arbeitsbedingungen
und einen immer größer werdenden Druck auf die
Löhne, so wie wir in den letzten 10, 15 oder 20 Jahren in
vielen anderen Bereichen eine massive Politik gegen die
Beschäftigten, gegen das Volk vorgefunden haben.
Heute ist im Übrigen ein Tag, an dem diese Politik
eine neue Etappe eingeleitet hat; denn seit heute wird
Politik gegen das Volk nicht nur durch Gesetze gemacht,
sondern seit heute wird Politik gegen das Volk durch den
Einsatz von Bundespolizei gemacht, die Bürgerinnen
und Bürger niedergeknüppelt, so wie heute in Stuttgart.
({0})
- Seien Sie ruhig, ich bin jetzt dran! - In Stuttgart sind
heute von Ihrer Bundespolizei bis zur Stunde über
300 Leute niedergeknüppelt und krankenhausreif geschlagen worden, sie sind verletzt worden.
({1})
Es ist eine vollkommen neue Qualität, dass hier in autoritärer Weise vonseiten der Politik, von Ihren Parteifreunden in einer hochaggressiven Weise gegen die
Stuttgarter Bevölkerung vorgegangen wird. Sie werden
aber über kurz oder lang noch zur Rechenschaft gezogen; das sage ich Ihnen.
({2})
In der Post gibt es mittlerweile die Situation, dass
Briefträgerinnen und Briefträger immer größere Mengen
zustellen müssen, und zwar nicht nur bei den Privaten,
sondern auch bei der Post AG. In Hamburg müssen die
Briefträger - ich habe gestern noch mit Kollegen telefoniert, die dort tätig sind - mittlerweile am Samstag zusätzlich zu der normalen Post fünf bis acht Zentner austragen. Viele Kolleginnen und Kollegen dort gehen
mittlerweile auf dem Zahnfleisch. Ab 50 sind die meisten ziemlich fertig. Wenn sie von der Rente mit 67 hören, so ist das für sie mehr als blanker Zynismus.
Richtiger Druck entstand erst nach der Privatisierung
und auch mit der Agenda 2010. Selbst bei der Post AG
gibt es mittlerweile nur noch befristete Arbeitsverhältnisse. Mit der stückchenweisen Zulassung der Privaten
wurde der Druck auf die Löhne immer größer. Es gibt
Postbereiche, in denen nur noch Stundenlöhne von
4,50 Euro gezahlt werden, weil es mittlerweile ein hochgradiges System von Subunternehmertum gibt, bei dem
am Ende dann ein Solounternehmer mit seinem PrivatPkw die Post ausfahren bzw. die Briefkästen leeren
kann.
Diese Entwicklung hatte ihren Ausgangspunkt Mitte
der 90er-Jahre, als privatisiert wurde. Damals ist die
SPD umgefallen. Sie hat sich sozusagen gegen die Gewerkschaften gestellt und hat die Privatisierung mitgetragen. Ausgangspunkt war darüber hinaus noch die
Agenda 2010, die viele deregulierende Maßnahmen mit
sich brachte, unter denen die Beschäftigten bei der Post
noch heute leiden.
Die Antwort auf diese Entwicklung ist vollkommen
klar: All das muss zurückgedreht werden. Die Post muss
wieder in öffentliche Trägerschaft. Es muss dafür gesorgt werden, dass bei der Post anständige Löhne gezahlt
werden. Herr Kollege Barthel hat eben ein paar Beispiele von vor 20 Jahren gebracht. Das wäre das Bild, zu
dem wir wieder zurückkehren müssten. Die ersten wichtigen Stufen müssen aber sein, dass ein gesetzlicher
Mindestlohn eingeführt und vor allen Dingen - die jetzige Koalition wehrt sich dagegen - zumindest für die
Beschäftigten ein Branchenmindestlohn eingeführt wird,
damit die menschenunwürdigen Verhältnisse, die dort zu
verzeichnen sind, ein Ende haben.
Danke schön.
({3})
Herr Kollege Schlecht, ich darf Sie bitten, dass Sie
sich bei künftigen Reden einer Ausdrucksweise bedienen, die auch dem Parlament entspricht. Das Wort „verrecken“, dass Sie gerade gebraucht haben, gehört meines
Erachtens nicht unbedingt dazu.
({0})
- So ist es mir gesagt worden.
Das Wort hat nun die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD die unBeate Müller-Gemmeke
fairen Arbeitsbedingungen auf dem Briefmarkt hier im
Deutschen Bundestag zum Thema macht. Die SPD stellt
in ihrer Anfrage die richtigen Fragen. Die Antworten
zeigen auch, welche Probleme die Liberalisierung hinterlassen hat.
Herr Kolb, Sie malen wieder einmal ein wunderschönes Bild.
({0})
Ich habe aber auch nichts anderes von Ihnen erwartet.
Die Realität zeigt jedenfalls, dass die Liberalisierung des
Briefmarktes zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt hat. Noch deutlicher wird dies, wenn man die vom
Kollegen Barthel als Beiratsmitglied in der Bundesnetzagentur gestellten Fragen und die Antworten in Bezug
auf die durchschnittlichen Stundenlöhne liest. Bei der
Deutschen Post AG bewegt sich die Spreizung der Stundenlöhne für Zusteller, Sortierer und Fahrer zwischen
9,80 und 13 Euro. Bei den Wettbewerbern liegen die
oberen Stundenlöhne zwar auch bei 13 Euro. Die unteren hingegen liegen bei 6 Euro. Das zeigt, dass die
Löhne durch die Wettbewerber beträchtlich nach unten
ausfransen.
Ich frage die Regierungsfraktionen: Können Menschen von einem Stundenlohn von weniger als 6 Euro leben? Natürlich nicht.
({1})
Diese Menschen müssen hart arbeiten, und zwar auch zu
nicht immer angenehmen Arbeitszeiten. Dennoch müssen sie Arbeitslosengeld II beantragen. Warum tun Sie
nichts dagegen? Warum handeln Sie nicht?
({2})
Sie sagen doch immer: Leistung muss sich lohnen. Wir
können und wollen diesen Zustand nicht einfach ignorieren, zumal der Wettlauf um die niedrigsten Löhne nicht
nur auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.
Letztlich müssen alle Steuer- und Beitragszahler für aufstockende Transferleistungen und klamme Sozialversicherungskassen zahlen. Wir brauchen also baldmöglichst einen neuen Postmindestlohn, von dem die
Menschen auch leben können.
({3})
Ich weiß, dazu muss der Postmindestlohn beantragt
werden; Herr Kollege Barthel hat die momentane Situation soeben ausgeführt. Ich weiß aber auch, dass für
solch einen Antrag zurzeit ein ungebrochener Optimismus notwendig ist. Denn Wirtschaftsminister Brüderle
und die FDP lassen keine Gelegenheit aus, die Mindestlöhne zu blockieren. In diesem Zusammenhang habe ich
es mir angetan, den FDP-Antrag aus dem Jahr 2008 zu
lesen, auf den die Große Anfrage Bezug nimmt. Ich
muss es wirklich als grausig bezeichnen, was ich dort lesen musste: nichts anderes als „Wettbewerb“.
({4})
Wenn es nach Ihnen von der FDP ginge, würden Sie
alle Mindestanforderungen an Arbeitsbedingungen abschaffen.
({5})
Die FDP interessiert sich schlichtweg nicht für die Menschen in den unteren Lohngruppen.
({6})
Beim Lesen konnte ich mir bildhaft vorstellen, wie es
hinter den Kulissen der Regierung teilweise zugeht,
wenn es um dieses Thema geht. Ich muss ehrlich sagen:
Beim Lesen hatte ich für einen kurzen Moment Mitleid
mit der CDU/CSU-Fraktion, aber natürlich nur bei diesem Thema. Ich bleibe dabei: Wir brauchen unbedingt
einen Postmindestlohn.
Die Antworten auf die Große Anfrage zeigen weiteren Korrekturbedarf. Es reicht nicht aus, dass wir nur die
Arbeitsbedingungen bei den Postdienstleistern, die einer
Anzeige- und Lizenzpflicht unterliegen, in den Blick
nehmen. Auch der Wildwuchs bei den Arbeitsbedingungen und Löhnen der Subunternehmer und Erfüllungsgehilfen muss abgestellt werden. Hierzu gibt es noch nicht
einmal belastbare Daten. Ich finde, das ist ein Skandal.
Wieder einmal appelliere ich an die Regierungsfraktionen: Tun Sie etwas, damit nicht auch der Briefmarkt
komplett zum Niedriglohnbereich wird! Kümmern Sie
sich endlich auch um die Menschen in den unteren
Lohngruppen! Denn sie arbeiten hart und haben diese
Wertschätzung verdient.
Vielen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es
stimmt, der Briefmarkt schrumpft. Aber er schrumpft
nicht etwa deshalb, weil der Kollege Lämmel weniger
Liebesbriefe als früher verschickt
({0})
- er hat sich ja selber in dieser Weise eingelassen - oder
weil wir jetzt so etwas wie Wettbewerb haben, sondern
er schrumpft aus technologischen Gründen, wie schon
dargestellt wurde.
Es ist natürlich schwierig, in einem schrumpfenden
Markt einen Wechsel vom staatlichen Monopol hin zu
Wettbewerb zu vollziehen. Insofern, Herr Kollege
Barthel, räume ich ein: Es ist wichtig, dass wir Parlamentarier die Frage im Blick haben: Was passiert im sozialen Bereich, was passiert mit den Mitarbeitern? Das
möchte ich in aller Deutlichkeit unterstreichen.
({1})
Unter diesem Gesichtspunkt muss man sich überlegen: Welche Voraussetzungen haben wir der Regulierungsbehörde an die Hand gegeben? Ich weise darauf
hin, dass in § 6 Abs. 3 Nr. 3 des Postgesetzes, der im Übrigen in Einklang mit der dritten EU-Postdiensterichtlinie steht, geregelt ist, dass die Regulierungsbehörde
keine Lizenz an Briefdienstleister erteilen darf oder Anbietern diese Lizenz entziehen muss, wenn diese die wesentlichen Arbeitsbedingungen, die im lizenzierten Bereich üblich sind, erheblich unterschreiten. Wir als
Gesetzgeber haben also die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Behörde handeln kann.
Ihrer Großen Anfrage entnehmen wir, dass die Behörde bis dato an einem Punkt angelangt ist, an dem sie
gesagt hat: Hier sind die Voraussetzungen offenkundig
nicht erfüllt. - Natürlich will ich keinem deutschen Beamten Untätigkeit unterstellen, einer so renommierten
Behörde wie der Regulierungsbehörde auch nicht.
Darf ich Sie unterbrechen, Herr Kollege Nüßlein? Der Herr Barthel möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Bitte.
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben sich dem Kern des
Problems gerade schon sehr genähert. Deswegen möchte
ich Ihnen eine Frage stellen. Die üblichen Arbeitsbedingungen sind seit mittlerweile 13 Jahren im Gesetz geregelt. Wie kann eine Bundesregierung dabei zuschauen,
dass dann, wenn es keinen Mindestlohn gibt, die üblichen Arbeitsbedingungen nicht einmal festgestellt werden, damit man Lizenznehmer, die gar nicht wissen, woran sie sich zu orientieren haben, darauf hinweisen kann,
welche Arbeitsbedingungen sie einzuhalten haben?
Ich habe Ihrer Großen Anfrage entnommen, dass die
Behörde keinen Anhaltspunkt gesehen hat, an dieser
Stelle einzugreifen. Ich wäre jetzt auf einen Punkt zu
sprechen gekommen, der vielleicht auch für Sie ein bisschen versöhnlich ist. Wir müssen uns aus meiner Sicht
noch einmal mit der Rolle der Regulierungsbehörde beschäftigen. Ich habe nämlich ein Problem damit - das
gebe ich ganz offen zu -, dass sich diese Behörde aufgrund ihrer Unabhängigkeit mittlerweile in eine Richtung entwickelt, dass sie fast nicht mehr steuerbar ist.
Dies könnte dazu führen, dass wir Vorhaben, deren Umsetzung wir politisch anmahnen, letztlich vielleicht aufgrund von eigener Machtlosigkeit nicht mehr umsetzen
können, weil die Behörde unabhängig handeln kann.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In weiten Teilen sind
wir uns politisch einig, dass wir eine investitionsorientierte Regulierung brauchen, zum Beispiel bei den Netzen. Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, das auch dieser
Behörde klarzumachen. Vielleicht können wir einmal
gemeinsam über die Frage diskutieren: Sind die Regelungen zur Unabhängigkeit dieser Behörde, die uns teilweise auch von europäischer Ebene oktroyiert werden,
wirklich von Vorteil, oder sollte man das Primat der
Politik nicht ein bisschen deutlicher hervorheben? Dann
könnte man nämlich im Verwaltungswege ein bisschen
deutlicher klarstellen, wo letztendlich die Kriterien sind,
nach denen sie entscheidet. Ich habe immerhin aufgenommen, dass die Behörde bisher sagt, aus ihrer Sicht
gebe es keine erheblichen Abweichungen, was die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich angeht.
Erlauben Sie dem Kollegen Barthel noch eine zweite
Zwischenfrage?
Es ist jetzt 20 Uhr. Die Kollegen freuen sich alle auf
den Feierabend. Aber wenn Sie sich bei den Kollegen
weiter unbeliebt machen wollen, dann bitte ich auch in
Ihrem Namen schon einmal um Entschuldigung. Bitte
schön.
Herr Kollege Barthel.
Das kommt auf Ihre Antwort an, die Ja oder Nein lauten kann. Würden Sie mir zustimmen, dass es sich dann,
wenn der branchenübliche Lohn, der nach den uns vorliegenden Daten bei etwa 11,50 Euro liegt, um mehr als
50 Prozent unterschritten ist - wie selbst im Durchschnitt einiger Bundesländer und wie bei vielen Unternehmen -, um eine erhebliche Verletzung der branchenüblichen Arbeitsbedingungen handelt, die von der
Bundesnetzagentur eigentlich sofort beanstandet und mit
den Konsequenzen des Lizenzentzuges geahndet werden
muss?
Aus meiner Sicht würde ich Ihnen zustimmen. Ich bin
aber noch nicht Chef der zuständigen Behörde.
({0})
- Sie haben mich gefragt, und ich würde Ihnen an dieser
Stelle durchaus zustimmen.
Ich bin der Auffassung, dass wir uns mit diesem
Thema noch sehr präzise auseinandersetzen müssen;
denn ich kann mir vorstellen, dass insbesondere diejenigen, die der Deutschen Post schon länger angehören, ein
gewisses Problem mit dem haben, was sich letztendlich
entwickelt. Ich sage auch dazu: Auf das allein kann es
nicht ankommen. Dass sich in diesem Bereich so etwas
wie ein Niedriglohnthema entwickelt, ein Thema, bei
dem Qualifikation und Entlohnung in einem gewissen
Verhältnis zueinander stehen, ist nicht immer nur zu beanstanden. Vielmehr muss man auch berücksichtigen,
dass es eine ganze Menge an Arbeitnehmern gibt, die
aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit in bestimmte Arbeitsverhältnisse müssen, in denen sie adäquat entlohnt werden können. Das darf aber nicht zu Lohndumping führen. Wir wollen einen ordentlichen Wettbewerb über
Qualität und Innovation und keinen Wettbewerb, der
dazu führt, dass sich letztendlich die Löhne nur nach unten entwickeln.
({1})
Ich unterstreiche ganz deutlich: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass wir in einer Situation des
schrumpfenden Wettbewerbs sind. Wenn man sich anschaut, dass hier etwa 10 Prozent Marktanteil bei der
Konkurrenz liegen und rund 31 000 Arbeitsplätze bei
dieser Konkurrenz entstanden sind, dann muss man feststellen, dass wir am Anfang einer solchen Entwicklung
sind. Wir müssen aufpassen - das zum Thema Mindestlohn -, dass wir über solche Ideen am Schluss nicht an
einen Punkt kommen, wo nur Hürden aufgebaut werden,
sodass sich der Wettbewerb nicht weiterentwickeln
kann. Es ist wohl unstrittig, dass die Intention der Deutschen Post AG bei der letzten Thematik genau in diese
Richtung gegangen ist, nämlich den Versuch zu unternehmen, eine Hürde aufzubauen, um Dritte nicht mehr
zuzulassen. Das hat uns natürlich geärgert, weil wir
schon erwarten, dass die Deutsche Post an diesem
Thema entsprechend mitwirkt.
Das, meine ich, kann man zu diesem schwierigen
Thema sagen. Ich bin der Ansicht, dass wir das Thema
im Auge behalten müssen. Ich kann zwar momentan
nicht erkennen, wo der Gesetzgeber gefragt ist. Aber ich
trete gerne mit Ihnen in einen Dialog darüber ein, ob die
Regulierungsbehörde an dieser Stelle richtig gearbeitet
hat. Ich führe auch gerne den Dialog darüber, ob man
das mit der Unabhängigkeit der Behörde so belassen
kann oder ob das Primat der Politik nicht entsprechend
höher gehängt werden muss und man hier eine entsprechende Möglichkeit der Einflussnahme hat. Das würde
ich mir wünschen, meine Damen und Herren.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des
Kraftfahrsachverständigengesetzes
- Drucksachen 17/3022, 17/3035 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Gero Storjohann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Hauptbotschaft des vorliegenden Gesetzentwurfs lautet: Das begleitete Fahren mit 17 wird zum
1. Januar 2011 in Dauerrecht überführt; denn dieser Modellversuch war erfolgreich, und der Führerschein mit 17
bekommt jetzt seinen festen Platz im deutschen Führerscheinwesen. Was gibt es Schöneres?
({0})
Ich freue mich außerordentlich über den vorliegenden
Gesetzentwurf, auch weil ich ganz persönlich seit 2004
für das Fahren mit 17 eintrete. Meine Fraktion weiß das
leidgeprüft. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war immer überzeugt von der Richtigkeit dieser Maßnahme.
Ich glaube, wir alle kennen das aus eigener Erfahrung, wenn es auch schon etwas her ist: Mit 18 Jahren ist
die Freude über den neuen Führerschein grenzenlos. An
Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten mangelt es
nicht. Leider mangelt es aber an Fahrerfahrung.
Es war eine christlich-liberale Koalition in Niedersachsen, die 2004 auf dieses Missverhältnis von zu viel
Fahrbegeisterung und zu wenig Fahrerfahrung reagierte.
Der dortige Verkehrsminister Walter Hirche setzte das
begleitete Fahren mit 17 einfach einmal durch.
({1})
Dort konnte die Führerscheinprüfung fortan bereits mit
17 Jahren abgelegt werden, und das Fahren war bis zur
Volljährigkeit nur in Begleitung einer erwachsenen Person erlaubt.
Es gab natürlich Reaktionen auf diesen christlichliberalen Vorstoß, und die waren heftig. Rot-Grün war
außer sich. 2005 lehnte die rot-grüne Mehrheit hier im
Bundestag einen Antrag der CDU/CSU zum begleiteten
Fahren mit 17 ab. Wir forderten damals bundeseinheitliche Regelungen für einen Modellversuch. Andere Bundesländer folgten dann glücklicherweise. Auch sie wollten das begleitete Fahren mit 17 erproben. Ich möchte
hier noch besonders den schleswig-holsteinischen Verkehrsminister Dietrich Austermann nennen, der das bei
uns eingeführt hat.
Große Verkehrsverbände, allen voran der ADAC, kritisierten uns in der Anfangsphase. Die 17-Jährigen seien
zu jung und zu unerfahren, um einen Pkw zu fahren. Der
Hauptkritikpunkt war aber die Gefahr von signifikantem
Missbrauch. Als Beispiel diente der betrunkene Vater,
der von dem jungen Fahrer nachts gegen 23 Uhr aus der
Kneipe abgeholt wird, und dieser Betrunkene stellte den
begleitenden Fahrer dar.
({2})
Das alles galt es zu widerlegen.
Die reale Entwicklung hatte mit dieser anfänglichen
Kritik überhaupt nichts zu tun. Vielmehr bewahrheitete
sich erneut: Wer Neues probiert und innovative Konzepte entwickelt, der stößt - geradezu im Reflex - auf
Widerstände. Doch die Zahlen sprechen eine deutliche
Sprache: Das begleitete Fahren ist die Erfolgsgeschichte
der Verkehrssicherheitspolitik der letzten Jahre.
Diese jungen Fahrer sammeln durchschnittlich acht
Monate lang Fahrerfahrung in Begleitung. Sie legen im
Durchschnitt über 2 400 Kilometer zurück und nehmen
somit als Autofahrer aktiv am Verkehrsgeschehen teil.
Aufgrund dieser beeindruckenden Zahlen sind dann
auch die Kritiker verstummt. Deshalb bekommen wir
heute sicherlich auch eine große Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr
ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies gilt insbesondere für die Zielgruppe der 18- bis 24-Jährigen, in
der die Zahl der Verkehrstoten um 10 Prozent zurückgegangen ist. Durch diese Zahlen wird belegt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind. Die Verkehrssicherheitspolitik
in Deutschland ist auch im Vergleich zu der in anderen
Ländern in Europa erfolgreich.
Maßnahmen wie das Alkoholverbot für Fahranfänger,
die Verkehrserziehung in den Schulen und auch das begleitete Fahren mit 17 sind Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit. Diesen Weg zur Erhöhung der Verkehrssicherheit sollten wir weiter gemeinsam beschreiten. Ich
bin zuversichtlich, dass uns das auch gelingt.
Der Gesetzentwurf beinhaltet noch eine weitere Regelung. Die 3. EG-Führerscheinrichtlinie schreibt vor,
dass alle Führerscheindokumente zukünftig nur noch
15 Jahre Gültigkeit besitzen. Alle bisher ausgestellten
Führerscheine sind bis zum Jahre 2033 zu befristen. Das
ist für einige wenige hier im Haus recht bitter, aber ich
finde, das Ganze ist zeitgemäß. Diese Vorgaben setzen
wir mit dem Gesetzentwurf um.
Lassen Sie mich noch auf einen Änderungsantrag des
Bundesrates eingehen. Der Bundesrat fordert in seiner
Mehrheit die Möglichkeit, besondere Stellplätze im öffentlichen Verkehrsraum ausdrücklich für Elektrofahrzeuge einzurichten. Dabei verkennt der Bundesrat aber,
dass die Straßenverkehrs-Ordnung es bereits heute zulässt, besondere Parkplätze für verschiedene Fahrzeugarten einzurichten. Dies können beispielsweise auch
Elektrofahrzeuge sein.
({3})
Das heißt, es ist längst möglich, entsprechende Tatbestände zu schaffen, um Ladestationen für Elektrofahrzeuge herzurichten.
({4})
Deshalb lehnen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den Vorschlag des Bundesrates ab.
Unser Ziel ist es, die Ausschussberatungen zügig zum
Abschluss zu bringen und das Modellprojekt „Begleitetes Fahren mit 17“ zum 1. Januar 2011 in den Regelbetrieb zu überführen.
({5})
Das Wort hat nun Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wir beraten hier heute einen Gesetzentwurf, der das umsetzt, was Pädagogen eigentlich schon lange fordern,
nämlich die langsame, stufenweise und begleitete Übernahme von Verantwortung - in unserem Fall beim PkwFahren.
Für Jugendliche steht der Erwerb einer Fahrerlaubnis
auf der Wunschliste immer ganz oben - das ist klar -,
bedeutet er doch mehr Selbstständigkeit. Aber wir wissen auch - Sie haben es eben angesprochen, Herr
Storjohann -, es ist immer noch so: Keine Altersgruppe
hat ein so hohes Risiko, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden, wie junge Fahranfangende. Das Risiko
ist immer noch dreimal höher als in jeder anderen Altersgruppe. Ich finde, damit dürfen wir uns nicht abfinden.
Dieser Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“
bestätigt die Forderung der Unfallforschung, dass man
vor dem ersten selbstständigen Fahren die Möglichkeit
haben muss, Fahrerfahrung zu sammeln. Dass die Bundesregierung das jetzt in Dauerrecht überführt, finden
wir richtig und wichtig.
Junge Menschen, die an diesem Modellversuch teilgenommen haben, verursachen in der Anfangsphase,
wenn sie dann selbstständig fahren, 22 Prozent weniger
Unfälle als die Jugendlichen in der Vergleichsgruppe,
und sie begehen auch 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße.
Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen, damit sollten
wir uns nicht zufriedengeben; denn in zwei wesentlichen
Punkten geht dieser Gesetzentwurf nicht weit genug. Es
geht um die Gruppe der Jugendlichen, die an diesem begleiteten Fahren nicht teilnehmen wollen oder die es
nicht können, weil sie keine Person haben, die sie begleitet.
Die zweite Gruppe, die ich anspreche, sind die jungen
Menschen, die auffällig werden. Was machen wir mit
denen? Ich möchte, dass diese dazu verpflichtet werden,
an speziellen Fahrsicherheitstrainings teilzunehmen.
Dazu gehört auch, dass sie Fahrübungen machen, die ihnen zeigen, welche Risiken das Fahren zum Beispiel bei
starkem Regen oder bei Schnee mit sich bringt.
Wenn Sie sagen: „Wir haben doch schon Nachschulungen von Heranwachsenden, die eine Fahrerlaubnis
auf Probe haben“, dann sage ich Ihnen: Das sind reine
Placebos; sie sind weder dazu geeignet, eine dauerhafte
Bewusstseinsveränderung hervorzurufen, noch eignen
sie sich dazu, dass diese jungen Menschen, die auffällig
geworden sind, bessere Fahrpraxis bekommen.
Namhafte Experten unterstützen uns in dieser Forderung nach einem verpflichtenden Mehrphasenmodell,
und wir sollten uns diesen Forderungen nicht verschließen.
Es gibt in dem angesprochenen Gesetzentwurf auch
minimale Änderungen, die das Thema Anforderungen
an Fahrprüfer und Fahrprüferinnen beinhalten. Ich
denke, wir sollten uns diesem Thema weiterhin widmen;
denn in einer Veranstaltung des ADAC, die dieser kürzlich zu dem Thema junge Fahranfangende durchgeführt
hat, wurde festgestellt, dass die Fahrlehrenden in
Deutschland zwar über hervorragende theoretische
Kenntnisse verfügen, aber dass bei der Beantwortung
der Frage: „Wie bringe ich dieses Wissen an den Mann
oder an die Frau bzw. wie erreiche ich mein jugendliches
Gegenüber?“, noch erhebliche Defizite bestehen.
Ich denke, diesem Thema müssen wir uns stellen,
wenn wir die Verkehrssicherheitsarbeit ernst nehmen.
Durch zahlreiche Maßnahmen des letzten Jahres haben wir dafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer werden, nicht zuletzt durch das von der rot-grünen Bundesregierung 2001 eingeführte Programm für mehr Sicherheit im Straßenverkehr, das dazu geführt hat, dass in Zusammenarbeit mit der Deutschen Verkehrswacht und
dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat in den letzten
Jahren hervorragende Arbeit geleistet wurde. Noch nie
sind auf Deutschlands Straßen so wenig Menschen getötet worden. Diese positive Entwicklung haben wir auch
dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat und der Deutschen Verkehrswacht zu verdanken.
So gut und so wichtig der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum begleiteten Fahren mit 17 für mehr Sicherheit im Straßenverkehr auch ist, so unverständlich
ist unter Berücksichtigung des von mir eben Genannten
der Beschluss des Bundeskabinetts, im Haushalt 2011
die Mittel für Verkehrssicherheitsarbeit von 10 Millionen Euro auf 5 Millionen Euro jährlich zu kürzen. Wir
haben gestern im Verkehrsausschuss die Auskunft von
Staatssekretär Scheuer erhalten, dass sich die Bundesregierung aufgrund des massiven Protestes gegen diese
Pläne bewegen will. Ich halte das für sehr wichtig, insbesondere wenn wir uns überlegen, dass die Europäische
Union gerade ein europäisches Verkehrssicherheitsprogramm auflegen will und dass auch die Bundesregierung
angekündigt hat, dass sie das nationale Verkehrssicherheitsprogramm überarbeiten will.
Ich sage Ihnen ehrlich: Es kommen mir natürlich
Zweifel an der Ernsthaftigkeit Ihrer Initiative zur Verkehrssicherheit auf, sollte es bei diesen geplanten Kürzungen bleiben. Denn was würden sie bedeuten? Sie
würden bedeuten, dass weniger Schülerlotsen arbeiten
könnten, dass Fahrsicherheitstrainings für junge Fahranfangende und Verkehrserziehung in Kitas und Schulen
nicht mehr in ausreichendem Maße stattfinden könnten.
Die hervorragende Arbeit vieler Ehrenamtlicher würde
so zunichte gemacht. Ich meine, das ist Sparen an der
falschen Stelle.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheuer?
Ich bringe den Gedanken eben zu Ende.
Ich bitte Sie nur, dass Sie den Haushaltsentwurf einen
Entwurf sein lassen und dass Sie die Mittel für die Verkehrssicherheitsarbeit auf dem bisherigen Niveau belassen, und zwar nicht nur für das Jahr 2011, sondern auch
in der mittelfristigen Finanzplanung.
({0})
Ich habe gehört, dass es Pläne dazu gibt. Ich bitte Sie
alle, diese Pläne zu unterstützen und zu verwirklichen.
Bitte schön, Herr Kollege.
Hochgeschätzte Frau Kollegin Lühmann, würden Sie
zur Kenntnis nehmen, dass die Ansätze schon wieder auf
dem alten Niveau sind, und sich bei Ihrem Haushaltsberichterstatter, dem geschätzten Kollegen Kahrs, informieren, dass diese Maßnahme bereits im Rahmen des
Haushaltsberichterstattergesprächs erfolgt ist?
Ja, das nehme ich zur Kenntnis, insbesondere die Tatsache, dass Sie das im Berichterstattergespräch besprochen haben. Herr Kahrs konnte mir aber noch nicht sagen, ob das auch in der Mittelfristplanung weitergeführt
wurde oder ob es sich nur um eine Maßnahme für 2011
handelt. Wenn Sie mir jetzt sagen, dass das auch für die
folgenden Haushaltsjahre gilt, sind wir beruhigt und
freuen uns auf die weitere Arbeit.
Ein anderer Bereich des Gesetzentwurfs - das ist
schon angesprochen worden - betrifft die EG-Führerscheinrichtlinie. Es geht darum, dass die Führerscheine
- nicht die Fahrerlaubnisse - nach 15 Jahren ähnlich wie
der Personalausweis und der Reisepass neu beantragt
werden müssen. Der Vorteil ist: Das Dokument ist auf
dem neuesten Stand. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung berichten, dass einige Fotos aus Führerscheinen,
die mir bei Kontrollen vorgelegt wurden, wenig mit der
Person zu tun hatten, die mir gegenüberstand.
({0})
Wir mussten dann den Personalausweis zur Identifizierung heranziehen. Das wird zukünftig nicht mehr der
Fall sein. Darüber freue ich mich.
Ich freue mich auch darüber, dass die Bundesregierung von der Möglichkeit, die die Richtlinie zugelassen
hat, keinen Gebrauch macht, nämlich bei dieser Neuausstellung auch die körperliche und geistige Tauglichkeit
zu überprüfen. Nichtsdestotrotz möchten wir, dass das
auf freiwilliger Basis geschieht, indem wir Anreize geben. Wir sind schon der Meinung, dass es im Interesse
der betroffenen Autofahrenden ist, regelmäßig ihre Gesundheit überprüfen zu lassen. Wir könnten uns vorstellen, das über Versicherungsrabatte zu realisieren, und
wollen erst einmal die freiwillige Lösung probieren.
Herr Storjohann, Sie haben zwei weitere Punkte nicht
angesprochen.
Das eine ist die Verbesserung im Datenschutz des
KBA. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich war bis
jetzt der Meinung, dass im KBA genauso wie in den
meisten anderen Behörden schon seit Jahren Protokolldatenspeicherungen normal sind. Ich musste jetzt feststellen, dass das nicht so ist. Ich freue mich, dass wir
diese Lücke jetzt endlich schließen.
Wir haben eine weitere Rechtsumsetzung zu vollziehen; es geht um die Zulassung von Gutachtern zur MPU.
Ich denke, das wird im Fachausschuss unstrittig sein.
Zum Schluss komme ich kurz auf die von Ihnen angesprochene Initiative des Bundesrates zurück. Ich halte es
für sehr sinnvoll, dass wir durch solche Regelungen die
Attraktivität von Elektromobilität steigern und notwendige Infrastrukturen aufbauen. Sie haben recht: Ob es
unbedingt eine Änderung des Gesetzes sein muss oder
ob man das mit anderen Kennzeichnungsregelungen genauso gut zustande bringt, darüber wie auch über einige
andere Punkte, die ich hier angesprochen habe, sollten
wir im Ausschuss noch einmal eingehend beraten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes.
Dabei geht es zum einen um die bereits vor der Sommerpause debattierten Übertragungen des Modellversuchs
„BF 17“, „Begleitetes Fahren ab 17“, in Dauerrecht.
Zum anderen geht es um eine wichtige Änderung, die im
Rahmen der Umsetzung der 3. EG-Führerscheinrichtlinie notwendig geworden ist. Hierbei geht es um die Befristung von Führerscheinen und um Neuerungen beim
Datenschutz in der Zuständigkeit des KBA, des Kraftfahrt-Bundesamtes.
Lassen Sie mich beim letzten Punkt beginnen - es
wurde eben zu Recht angesprochen -: Die Bundesregierung strebt mit diesem Gesetzentwurf Verbesserungen
beim Datenschutz an. Auf Anregung des Datenschutzbeauftragten werden die Zugriffe, beispielsweise von Behörden, auf das Zentrale Fahrerlaubnisregister zukünftig
protokolliert, und diese Protokolldaten werden gespeichert. Das erhöht gerade bei diesen für Bürger wichtigen
Daten die Rechtssicherheit und die Nachvollziehbarkeit
von Entscheidungen. Das ist insbesondere aus Sicht der
Datenschutzpartei FDP eine begrüßenswerte Maßnahme.
({0})
Mit in diesen Gesetzentwurf aufgenommen ist ein
Thema, das die Gemüter in der Sommerpause teilweise
bewegt hat: die anstehende Befristung der Führerscheine
auf 15 Jahre. Notwendig geworden ist sie durch die Umsetzung der 3. EG-Führerscheinrichtlinie, da von der Befristung an sich nicht mehr abgewichen werden darf. Die
Bundesregierung ist bemüht, den Aufwand für die Bürger so gering wie möglich zu halten, da der maximale
Spielraum von 15 Jahren, den diese Richtlinie vorsieht,
ausgereizt wird. Ich darf darauf hinweisen, dass es auch
für andere amtliche Dokumente wie den Personalausweis üblich ist, dass sie nicht ewig gelten. Ich glaube,
gerade im Zuge einer europaweiten Verbesserung der Sicherheitsstandards ist es sinnvoll, Führerscheine auf dem
neuesten Stand der Technik zu halten, gerade weil wir
immer mehr Fälschungen haben.
Es ist aber auch wichtig, in diesem Zusammenhang
darauf hinzuweisen - das geistert nämlich immer wieder
durch die Gazetten -, dass es beim Führerscheinumtausch eben nicht zu einer Diskriminierung älterer Mitbürger kommen soll. Mobilität muss und soll auch im
Alter möglich sein, gerade in Zeiten des demografischen
Wandels.
({1})
Lassen Sie mich zum Thema „Begleitetes Fahren
ab 17“ kommen. In der Tat, die Evaluation des Modellversuchs war hervorragend. Die Bereitschaft der Jugendlichen zur Teilnahme war gut. Da gibt es durchaus noch
Verbesserungsbedarf. Die Ergebnisse haben gezeigt:
22 Prozent weniger Unfälle, 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße. Das sind dauerhaft positive Effekte. Das
begleitete Fahren ab 17 führt also nachweislich zu einer
Erhöhung der Verkehrssicherheit durch die frühe und betreute Heranführung von Fahranfängern an den Verkehr.
Ich freue mich, dass auch der Bundesrat der dauerhaften
Implementierung von „BF 17“ zugestimmt hat und sich
die Fraktionen hier im Haus über die Grenzen hinweg
bei diesem Thema einig sind.
Nichtsdestotrotz meine ich, dass die Verkehrssicherheit bei diesem Punkt nicht stoppen sollte. Das gilt gerade für den Bereich der Fahranfängerausbildung und
-betreuung. Wir müssen uns darüber Gedanken machen,
ob der Erwerb des Führerscheins das Ende der Fahrausbildung, wie es im Moment der Fall ist, oder vielmehr
ein Zwischenschritt im Erlernen der sicheren Fahrweise
und der Beherrschung neuer Technik sein sollte.
Was die Verbesserung der Fahrausbildung angeht,
gibt es in der Tat andere Modelle im Ausland, die wir
uns anschauen sollten. In Österreich beispielsweise gibt
es eine zweite Stufe der Fahrausbildung. Dies ist ein
Modell, das Feedback-Fahrten mit einem Fahrlehrer im
eigenen Wagen sowie Fahrsicherheitstrainings vorsieht.
Das hat zu einer deutlichen Verringerung der Unfallzahlen geführt. Unter der Prämisse, dass der Führerscheinerwerb dadurch nicht deutlich teurer wird - wir wollen
schließlich alle, dass Individualmobilität erschwinglich
bleibt und dass es keinen sozialen Ausschluss gibt -,
sollten wir uns dieses Modell anschauen. Ich glaube, wir
können von anderen lernen, wie wir die Verkehrssicherheit noch weiter verbessern können.
({2})
Wir sind gerade bei den Haushaltsberatungen. Frau
Kollegin Lühmann hat vorhin den Etattitel für die Verkehrssicherheit angesprochen. Selbstverständlich müssen alle Ressorts ihren Beitrag zum richtigen und notwendigen Sparpaket leisten, auch der Einzelplan 12.
Anfangs gab es Überlegungen, die Mittel des Etattitels
für Maßnahmen zur Verkehrserziehung zu halbieren. Ich
freue mich - Kollege Scheuer hat das vorhin zu Recht
bestätigt -, dass es in Zusammenarbeit der Fachpolitiker
mit den Haushaltspolitikern und der Hausspitze gelungen ist, zu verhindern, dass es zur Halbierung der Mittel
dieses Etattitels kommt. Das ist ein erfreulicher Erfolg
für die Verkehrssicherheitspolitik dieser Koalition.
({3})
Auch vor diesem Hintergrund möchte ich abschließend sagen: Wir freuen uns auf weitere konstruktive
Debatten, damit wir den hohen Standard, den wir in
Deutschland bei der Verkehrssicherheit haben, weiter
verbessern. Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einen Schritt in die richtige Richtung.
Ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit herzlich bedanken. Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Thomas Lutze für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch als Verkehrspolitiker fällt es mir vor
dem Hintergrund dessen, was heute in Stuttgart passiert
ist, sehr schwer, zur Tagesordnung überzugehen. Ich
denke, da sind Sachen passiert, da sollte auch dieses
Hohe Haus sich den Luxus gönnen, an der Aufklärung
und an der Aufarbeitung mitzuarbeiten, und für die morgige Tagesordnung die entsprechenden Konsequenzen
ziehen.
({0})
Als es heute Morgen am Beginn der Tagesordnung um
die deutsche Einheit ging, ist ein wichtiger Ruf zitiert
worden: Keine Gewalt! - Ich glaube, was heute in Stuttgart passiert ist, wird dem nicht gerecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum eigentlichen
Tagesordnungspunkt. Es dürfte über Fraktionsgrenzen
hinweg Einigkeit darüber bestehen, dass der Modellversuch „Begleitetes Fahren ab 17“ erfolgreich gewesen ist
und noch erfolgreich ist. Die Evaluierung belegt diesen
Erfolg eindrucksvoll. Die Verringerung der Zahl der Unfälle um 22 Prozent und die Verringerung der Zahl der
Verkehrsverstöße um 20 Prozent sollten an dieser Stelle
als Beispiele ausreichen.
Dieser empirisch belegte Gewinn an Verkehrssicherheit macht die Überleitung des Modellversuchs in dauerhaftes Recht zu einem Gebot der Vernunft. Auch die
Akzeptanz in der Zielgruppe der Führerscheininteressentinnen und -interessenten unter 19 Jahren spricht dafür.
Mit knapp 300 000 Menschen in 2009 hat mehr als die
Hälfte der genannten Gruppe die Möglichkeit des begleiteten Fahrens ab 17 genutzt.
Für einen Modellversuch sind das sehr gute Zahlen.
In der dauerhaften Praxis sollten wir allerdings eine noch
höhere Teilnahmequote erreichen. Viele Fahranfängerinnen und Fahranfänger haben nämlich Schwierigkeiten,
eine Begleitperson zu finden. Ich freue mich auf kreative
Ideen der Bundesregierung und des Verkehrsministers,
um das begleitete Fahren ab 17 für erwachsene Begleitpersonen attraktiver zu machen.
Das begleitete Fahren ab 17 kann bei aller Zustimmung zum Gesetzentwurf aber nur ein Baustein einer
umfassenden Mobilitätserziehung sein. Auch gerade den
Führerscheinneulingen sollten Alternativen zum Auto
ans Herz gelegt werden. Jede Fahrt, die mit Bus oder
Bahn erledigt wird, ist im statistischen Mittel bis zu vierzigmal sicherer als eine Autofahrt. Ein Discobus etwa,
der eine Heimreise auch nachts unabhängig vom kostenintensiven Taxi oder vom eigenen Pkw ermöglicht, reduziert von vornherein die Wahrscheinlichkeit einer Risikofahrt, die eventuell übermüdet oder sogar unter
Alkoholeinfluss angetreten wird. Allerdings braucht es
hier erst einmal entsprechende Angebote. Wenig Verständnis habe ich da zum Beispiel für Aussagen der
Ministerin Aigner. Sie wird in der Presse mit der Aussage zitiert, das begleitete Fahren bringe Jugendlichen
auf dem Land mehr Unabhängigkeit. So unstrittig der
Lerneffekt beim begleiteten Fahren sein dürfte, so klar
muss doch ebenso sein, dass sich das Mehr an unabhängiger Mobilität sehr in Grenzen halten wird. Welcher Elternteil wird mit seinem Sohn oder seiner Tochter zur
Disco fahren und dort fünf Stunden warten? Das Gleiche
gilt für Fahrten zur Schule, zum Ausbildungsplatz oder
ins Schwimmbad. Das begleitete Fahren soll einen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten; das ist richtig. Es
darf aber nicht als Argument für das Streichen oder den
Nichtausbau von Nahverkehrsleistungen herhalten.
({1})
Genau auf diese Leistungen der Gesellschaft sind gerade
junge Menschen angewiesen.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie attraktiv es für
eine finanziell gebeutelte Kommune ist, mit jedem Jahr6536
gang, der seinen Führerschein ein Jahr früher macht, beispielsweise bei den Schulbussen zu sparen. Auch vor
diesem Hintergrund sind die Pläne der Regierung zur
Reduzierung des Einstiegsalters beim Mopedführerschein kritisch zu sehen.
Der vorliegende Gesetzentwurf findet dennoch unsere
Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Anton Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten über zwei sehr unterschiedliche
Bereiche: auf der einen Seite über ein Thema der Verkehrssicherheit und auf der anderen Seite über ein
Thema aus dem Bereich Elektromobilität.
Zur Verkehrssicherheit gibt es hier als Positives zu
vermelden, dass wir uns einig sind. Begleitetes Fahren
mit 17 ist ein Erfolgsprojekt. Wir sind uns alle darin einig, dass hierfür eine entsprechende Regelung gefunden
werden sollte. Noch schöner würde ich es finden, wenn
wir uns bei dem ganz entscheidenden Thema Verkehrssicherheit insgesamt einiger wären. Obwohl wir in der
Vergangenheit sehr große Erfolge hatten - die Zahl der
Verkehrstoten ist massiv zurückgegangen, genauso wie
die der Schwerverletzten; aber da schaut es noch lange
nicht so gut aus -, darf man nicht vergessen, dass die
Zahlen noch immer sehr hoch sind. Deshalb wünsche ich
mir, dass wir uns auch in weiteren Fragen der Verkehrssicherheit einig sind.
Nach dem Berichterstattergespräch ist der Haushaltsansatz zum Glück gehalten worden. Wir hoffen sehr,
dass es auch am Ende der Haushaltsberatungen noch so
ist. Es gibt aber eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen,
die ganz entscheidend für die Verkehrssicherheit sind.
Hier hört die Einigkeit in diesem Haus leider auf. Denken wir bloß einmal an Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen! Bei der Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen ist es mit der Einigkeit schnell
vorbei. Da heißt es plötzlich, das sei eine ideologische
Frage. Dabei zeigen alle Untersuchungen, dass überhöhte Geschwindigkeit die Hauptunfallursache ist. Wir
wissen auch, dass die Erlaubnis, in bestimmten Straßenabschnitten so schnell zu fahren, wie man will, dazu
führt, dass man sich in anderen Straßenabschnitten weniger an Tempobegrenzungen hält. Ich wünsche mir mehr
Einigkeit bei dem wichtigen Thema Verkehrssicherheit.
Nun zu Ihren Ausführungen, lieber Kollege Luksic.
Sie haben im Zusammenhang mit dem Führerschein gesagt, dass es nicht dazu kommen darf, dass Autobesitz
und individuelle Mobilität zu einer sozialen Frage werden. Hier stellt sich zunächst einmal die Frage nach der
Klientel. Für die Menschen, die ich kenne, ist das längst
eine soziale Frage.
({0})
Es gibt sehr viele Menschen, die sich schon derzeit kein
Auto leisten können. 50 Prozent der Bevölkerung können nicht täglich über ein Auto verfügen.
({1})
Diese Menschen brauchen eine vernünftige Alternative.
({2})
Hier kommt es darauf an, dass der ÖPNV ausgebaut
wird, dass vernünftige Bahnpolitik betrieben wird, dass
entsprechende Nahverkehrsangebote bestehen und dass
Städte so gestaltet werden, dass die Leute nicht zur Benutzung eines Autos geradezu gezwungen werden.
Nun zu einem weiteren Punkt, zur Elektromobilität.
Es gibt tolle Elektromobilitätsgipfel. Dabei weiß man
ganz genau: Um einer neuen Technik zum Durchbruch
zu verhelfen, kommt es darauf an, sinnvolle gesetzliche
Regelungen und Standards einzuführen. Was passiert
hier? Hier passiert nichts. Elektromobilitätsgipfel vor
Kameras abhalten, aber die entsprechenden gesetzlichen
Regelungen nicht durchsetzen und sich dann vielleicht
auch noch selber Klimakanzlerin nennen - das ist beschämend. Noch nicht einmal so kleine Maßnahmen gelingen.
({3})
Wir brauchen eine vernünftige Bahnpolitik. Ich habe
mir vor kurzem in mehreren Videos angeschaut, was in
Stuttgart passiert. Wir sind der Verkehrsausschuss.
({4})
Letztlich wird hier im Namen des zu 100 Prozent in unserem Besitz befindlichen Unternehmens mit extremer
Brutalität geräumt. Ich habe so etwas bei Wackersdorf
und in anderen Auseinandersetzungen erlebt. Ich finde,
wir sollten im Verkehrsausschuss dringend darüber reden, ob es sinnvoll ist, ein Verkehrsprojekt mit einer solchen Brutalität durchzusetzen.
({5})
Wie gesagt, es handelt sich um ein zu 100 Prozent in
Bundesbesitz befindliches Unternehmen.
Danke.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Volkmar Vogel
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Tagesordnung sieht, kann man sich zunächst nicht richtig vorstellen, worüber wir hier reden.
Einem Außenstehenden kommt es sehr bürokratisch vor.
Teilweise sind es bürokratische Regelungen, die wir hier
treffen müssen, gerade wenn es um den Datenschutz
beim KBA oder den Führerschein geht.
Beim Führerschein setzen wir eine EU-Richtlinie um.
Diese Eins-zu-eins-Umsetzung überfordert die Führerscheinbesitzer nicht. Ich habe mit 15 Jahren meinen Mopedführerschein gemacht. Als ich im vergangenen Jahr
50 wurde, musste ich meinen Führerschein verlängern
lassen - mittlerweile kann ich auch Lkw fahren - und
war sehr erstaunt, wie mein alter Führerschein aussah
und wer ihn damals abgestempelt hatte. Wir müssen jedenfalls darauf achten - auch in der Diskussion im Ausschuss -, dass zum einen die Kosten für jene, die ihn
umtauschen müssen, in vertretbarem Rahmen bleiben
und dass zum anderen der zeitliche Aufwand, der damit
verbunden ist, nicht so ausufert, dass man das im Alltag
nicht mehr schnell nebenbei erledigen kann.
Als ich mit 15 meinen Mopedführerschein machte,
gehörte ich natürlich zu der Risikogruppe der jungen
Leute. Ein wesentlicher Punkt des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Kraftfahrsachverständigengesetzes ist - meine Vorredner haben
das bereits angesprochen - das begleitete Fahren ab 17.
In allen Modellregionen, in denen es praktiziert wird, hat
es dazu geführt, dass die Fahranfänger eine hohe Fahrkompetenz nachweisen können. Das hat auch die Bundesanstalt für Straßenwesen in ihrem Fortschrittsbericht
festgestellt. Fast 25 Prozent weniger Unfälle und eine
fast 30 Prozent geringere Beteiligung junger Leute an
Unfällen - das ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen
kann. Neben dem vorrangigen Ziel dieser Maßnahme,
Personenschäden und damit unendliches menschliches
Leid zu verhindern, ist zu erwähnen, dass es aufgrund
der besseren Fahrpraxis und der Betreuung durch einen
Begleiter vielfach auch nicht zu Sachschäden kommt.
Für mich ist ganz wichtig, dass das begleitete Fahren
mit 17 seine Praxistauglichkeit bewiesen hat und dass es
einfach handhabbar ist. Jeder weiß inzwischen, dass der
Begleiter mindestens 30 Jahre alt sein muss, dass er
nicht mehr als drei Punkte in Flensburg haben darf, dass
er mindestens fünf Jahre ununterbrochen im Besitz der
Fahrerlaubnis sein muss, dass er selbstverständlich die
Promillegrenze einhalten und seinen Führerschein mitführen muss.
Wir bringen den jungen Leuten mit der Möglichkeit
des begleiteten Fahrens ab 17 sehr großes Vertrauen entgegen. Allerdings kann und muss missbrauchtes oder
enttäuschtes Vertrauen natürlich auch geahndet werden.
Die jungen Fahrer erhalten - genauso wie alle anderen ihre Fahrerlaubnis zunächst nur auf Probe, und damit
gelten auch die bestehenden verkehrsrechtlichen Regelungen der Probezeit.
Die Kernpunkte der Gesetzesänderung, die wir in den
Ausschüssen behandeln und dann hoffentlich auch zügig
beschließen werden, sind, den jungen Leuten die Teilhabe an der Mobilität zu ermöglichen, gleichzeitig die
allgemeine Verkehrssicherheit zu verbessern und Sachschäden zu reduzieren. Überdies ist dieses Vorhaben
- ich habe es bereits ausgeführt - leicht umzusetzen.
Seit 2005 hatten die Bundesländer die Möglichkeit,
sich an dem Pilotprojekt „Begleitetes Fahren ab 17“ zu
beteiligen. Mein eigenes Bundesland Thüringen hat dies
ebenfalls getan; auch hier gibt es hervorragende Ergebnisse, die eine bundeseinheitliche Regelung als sinnvoll
erscheinen lassen.
Mit dem Gesetz, das maßgeblich auf einen Antrag unserer christlich-liberalen Koalition zurückzuführen ist,
wird das begleitete Fahren ab 17 in dauerhaftes Recht
überführt. Das begleitete Fahren ist damit auch eine
sinnvolle Ergänzung der professionellen Fahrschulausbildung. Meine sehr geehrten Kollegen, liebe Eltern und
Gäste, ganz nebenbei gesagt: Die jungen Leute lernen
hier, dass es durchaus sinnvoll sein kann, wohlgemeinte
Ratschläge der älteren Generation, die auf dem Beifahrersitz sitzt, anzunehmen und ihnen zu folgen.
Zurück zu den Fakten. Begleitetes Fahren führt zu
weniger Verkehrsverstößen und zu weniger Unfällen mit
schlimmen Folgen. Daher bitte ich Sie, in den Ausschüssen über diese Gesetzesänderung zügig zu debattieren,
sodass die jungen Leute, vor allen Dingen diejenigen,
die bei allen Möglichkeiten, die die öffentlichen Verkehrsträger bieten, etwa im ländlichen Raum auf individuelle Mobilität angewiesen sind - ich komme selber
aus dem ländlichen Raum -, in der Schule, im Beruf, im
Ehrenamt und natürlich in der Freizeit mobil sein und
damit schnellstmöglich zum Zuge kommen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf den Drucksachen 17/3022 und 17/3035 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist of-
fensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Obligatorische Prüf- und Zulassungsverfah-
ren für Haltungseinrichtungen für Nutztiere -
Tierschutz-TÜV zügig einführen
- Drucksachen 17/2143, 17/2912 -
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bessere Haltung für Kaninchen zu Erwerbszwecken - Konkrete Haltungsbedingungen
in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufnehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Karin Binder, Alexander Süßmair,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen
in Deutschland und der Europäischen Union
tiergerechter regeln - Mindestanforderungen unverzüglich auf den Weg bringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Undine Kurth ({2}),
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die gewerbliche Haltung von Mast- und
Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern
- Drucksachen 17/2017, 17/1601, 17/2006,
17/2962 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem
Kollegen Dieter Stier für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Im Juni des vergangenen Jahres hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen
der damaligen Großen Koalition das Zweite Gesetz zur
Änderung des Tierschutzgesetzes beschlossen. Mit dieser Neuregelung wurde die Voraussetzung geschaffen,
dass künftig nur noch serienmäßig hergestellte Stalleinrichtungen verwendet werden dürfen, wenn sie vorher
auf Tiergerechtheit geprüft worden sind. Damit hat das
Parlament grünes Licht für die Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens gegeben. Ab
dem Jahr 2012 soll es demnach nur noch geprüfte Haltungssysteme für Legehennen geben. Für bereits bestehende Stalleinrichtungen gilt Bestandsschutz.
Zu dieser Entscheidung für den sogenannten Tierschutz-TÜV steht auch die jetzige CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Dabei stelle ich an dieser Stelle jedoch klar,
dass es sich bei diesem irreführenden Begriff nicht, wie
vielleicht von einigen angenommen wird - wir haben
gerade über Verkehrsfragen gesprochen -, um die regelmäßige Überprüfung von Stallungen ähnlich der Fahrzeugüberprüfung handelt. Vielmehr werden Haltungseinrichtungen für Legehennen vor dem Inverkehrbringen
einer staatlichen Prüfung unterzogen. Auch Stalleinrichtungen aus Drittländern müssen die Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, die für heimische Produkte gelten.
Weiterhin gibt es positive Erfahrungen mit zertifizierten
Haltungssystemen in Schweden und in der Schweiz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
fordern in Ihrem Antrag, dass endlich Durchführungsverordnungen erlassen werden, mit denen die Prüf- und
Zulassungsanforderungen für alle serienmäßig hergestellten Haltungseinrichtungen festgelegt werden können. Es gibt dabei jedoch nach meinem Kenntnisstand
ein großes Hindernis - ein Ei, welches Sie sich selbst ins
Nest gelegt haben -: Das Bundesland Rheinland-Pfalz
hat bekanntlich beim Bundesverfassungsgericht eine
Normenkontrollklage zur Legehennenhaltung eingereicht. Darin fordert Ministerpräsident Kurt Beck, SPD,
ein Verbot der sogenannten Kleingruppenhaltung. Bisher
ist aber nicht einmal ein Verhandlungstermin für dieses
anhängige Verfahren in Aussicht bzw. durch das Gericht
anberaumt. Bevor hierzu nicht eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vorliegt, kann die Hennenhaltungsverordnung nicht umgesetzt werden. Ich zweifle
deshalb daran, dass das Datum 2012 einzuhalten ist. Das
Verhalten von Herrn Ministerpräsidenten Beck in dieser
Sache ist - ich möchte das sehr vorsichtig formulieren nicht gerade zielführend. Durch diese Intervention wird
die geplante Einführung der geprüften Haltungssysteme
für Legehennen weiter verzögert. Damit haben Sie weder der deutschen Landwirtschaft noch dem Tierschutz
und erst recht nicht dem Verbraucher einen Gefallen getan, sondern Rechtsunsicherheit statt Planungssicherheit
geschaffen.
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel, weshalb ich
glaube, dass das Bundesland Rheinland-Pfalz versucht,
in Sachen Tierschutz der Retter der deutschen Landwirtschaft zu sein.
({0})
- Frau Wolff, lassen Sie mich bitte ausreden. - In der
Bundesratssitzung am vergangenen Freitag stand ein
Antrag von Rheinland-Pfalz mit der Forderung nach einem Verbot des Schenkelbrandes als Kennzeichnungsmethode bei Pferden auf der Tagesordnung,
({1})
ein Antrag, welcher für mich nicht nur populistisch, sondern auch wirtschaftsschädlich für die deutsche Pferdezucht ist. Deutschland ist weltweit die größte und erfolgreichste Nation im Pferdesport und in der Pferdezucht.
Die 300 000 Arbeitsplätze in dieser Branche mit einen
Gesamtumsatz von über 5 Milliarden Euro werden,
glaube ich, durch solche Anträge in Gefahr gebracht.
Ich bin selber Pferdezüchter; ich kenne mich da aus.
Liebe Frau Wolff, nach meiner eigenen Erfahrung - ich
habe Fohlen dabei festgehalten - verursacht die vorgeschriebene Injektion des sogenannten Chips beim Fohlen
deutlich mehr Aufregung als das Setzen des Schenkelbrands.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier von der SPD?
Sehr gerne.
Herr Kollege Stier, können Sie vielleicht bestätigen,
dass der Einstich mit einer Kanüle nicht so viele
Schmerzen hervorruft wie das Verbrennen der Haut?
Das, was nach dem Schenkelbrand zurückbleibt, ist eine
gebrannte Narbe; sie wird mit einem heißen Eisen gebrannt. Insofern halte ich diese Methode wegen der dabei auftretenden Schmerzen für grob tierschutzwidrig.
({0})
Es gibt Alternativen; es gibt andere Methoden. Das, was
Sie vertreten, ist bar jeder wissenschaftlichen Erkenntnis.
Lieber Kollege Priesmeier, Sie möchten sicherlich
eine ehrliche Antwort. Ich habe Ihnen gerade gesagt,
dass ich sehr oft bei solchen Vorgängen dabei war. Ich
kann aber nicht bestätigen, dass der Schenkelbrand für
das Fohlen deutlich schmerzhafter ist.
({0})
- Liebe Frau Wolff, ich antworte erst einmal Ihrem Kollegen Priesmeier. - Es gibt Gutachten, die das Gegenteil
beweisen sollen. Heute ist aber nicht die Zeit für eine
Debatte darüber; wir sollten an anderer Stelle darüber
diskutieren. Ich habe jedenfalls aus eigener Erfahrung
wahrgenommen, dass es nicht schmerzhafter ist.
({1})
Ich bin bei diesem Thema wirklich Fachmann; wir können darüber gern noch diskutieren.
Ich setze zum Wohle von Rheinland-Pfalz große
Hoffnung darauf, dass man dort in absehbarer Zeit unter
Julia Klöckner wieder an mehr Sachlichkeit orientiert
ist, nicht an polemischer Effekthascherei.
({2})
Wir laufen in der Debatte über Tierschutz - auch die
heute vorliegenden Anträge untermauern das - immer
wieder Gefahr, den Tierschutz zu vermenschlichen und
ihn bestimmten Ideologien zu unterwerfen. Wenn Menschen sich jedoch am ganzen Körper mit Tattoos verunstalten und Ringe durch die Nase ziehen
({3})
und wir hinterher oftmals Folgekosten im solidarisch finanzierten Gesundheitswesen zu tragen haben, dann interessiert uns das hier zumeist wenig. Das macht mich
mittlerweile sehr betroffen.
({4})
Ich weise an dieser Stelle erneut darauf hin, dass wir
die Frage, was art- und tiergerecht ist, nicht ideologisch
beantworten sollten, sondern dass wir die Antwort darauf den Experten der Landwirtschaft und auch der Wissenschaft ganz unaufgeregt überlassen sollten.
({5})
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eine grundsätzliche Anmerkung zum Spannungsfeld zwischen Tierschutz und Wirtschaftlichkeit machen. Bei allen tierschutzrechtlichen Fragen, die durchaus berechtigt sind
und die von der christlich-liberalen Koalition auch sehr
ernst genommen werden, müssen wir jedoch Kompromisse zwischen Tierschützern und Tierhaltern und damit auch der Wirtschaft erreichen. Das ist für beide Seiten nicht immer leicht zu ertragen. Wir könnten
natürlich - darin gebe ich Ihnen recht - die Legehennenhaltung in Ställen generell verbieten und durch artgerechte Freilandhaltung ersetzen. Aber diese Eier würde
in Deutschland niemand mehr kaufen, weil sie einfach
zu teuer sind. Zum Teil ist das auch schon der Fall.
({6})
Was noch viel schlimmer ist: Die nicht tiergerechte Hühnerhaltung würde ins Ausland verlagert und sich dort auf
Dauer etablieren. Ich glaube, dass wir damit dem Tierschutz insgesamt einen Bärendienst erweisen würden.
Zudem würden in Deutschland Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet.
({7})
Gleichzeitig dürfen wir die Unternehmen nicht durch
zusätzliche Bürokratie überfordern und in ihrer wirtschaftlichen Freiheit einschränken. Bevor wir neue Gesetze und Verordnungen erlassen, sollten wir prüfen, ob
die bestehenden Anforderungen das nicht schon hergeben. Die Veterinärämter vor Ort haben heute schon die
Möglichkeit, bei Verstößen einzugreifen. Zumindest ich
will nicht, dass der Landwirt mehr am Schreibtisch sitzt,
als sich seinen Tieren zu widmen oder auf dem Traktor
zu sitzen. Wir sollten uns als Agrarpolitiker immer kritisch fragen, wie viel Regelungswut wir uns im Tierschutz auf dem Rücken der landwirtschaftlichen Betriebe noch leisten können.
Mein Fazit lautet: Für uns hat der Tierschutz - und
das haben wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart eine zentrale Bedeutung; das wird auch so bleiben. Die
deutschen Tierhalter haben in den vergangenen Jahren
mit sehr viel Engagement und wirtschaftlichem Aufwand den Tierschutz in den Ställen weiterentwickelt und
verbessert.
({8})
Man muss aber auch anerkennen, dass bei der Nutztierhaltung der Verkauf der Produkte vom internationalen
Wettbewerb geprägt ist.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Trotzdem
leisten wir uns mit den bestehenden Regelungen in
Deutschland, in der EU und weltweit schon jetzt die besten Bedingungen für den Tierschutz auf allerhöchstem
Niveau. Damit haben wir eine Vorreiterrolle.
Herr Kollege!
Jawohl, Herr Präsident. - Über diese Vorreiterrolle
sind wir froh und lehnen aus diesem Grund noch weitergehende Regelungen ab.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Heinz Paula für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Stier,
({0})
ich habe den Eindruck, dass Sie an der Realität, an den
Tatsachen schlicht und ergreifend vorbeischrammen.
Bei mir ist es so - und bei Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, mit Sicherheit auch -, dass tagtäglich Briefe und
E-Mails eintreffen, die auf Missstände hinweisen und
bestimmte Sachverhalte zu Recht kritisieren: Fehler bei
der Tierhaltung, Fehler beim Tiertransport, die Situation
in Schlachthöfen. Kurz und gut: Diese Bürgerinnen und
Bürger halten genauso wie ich den Umgang mit Tieren
in unserem Land für oft nicht hinnehmbar.
({1})
Diese Bürgerinnen und Bürger haben vollkommen recht.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei ihnen für ihr Engagement, genauso wie bei allen anderen, die sich mit großem Nachdruck für die Belange unserer Tiere einsetzen.
Ein Dankeschön auch an alle Medien, die immer wieder
die Lampe in diesen Bereich hineinhalten und versuchen, Missstände zu thematisieren. Wer die entsprechenden Berichte gesehen hat - Kollege Stier, ich stelle Ihnen
gerne einmal eine Auswahl zur Verfügung -, dem bleibt
nichts anderes übrig, als zu handeln; denn die gezeigten
Tiere erleiden teilweise unvorstellbare Qualen. Das hat
nichts mit Ideologie zu tun, wie Sie versuchen, groß auszuführen. Das sind reale Schmerzen, Herr Kollege. Man
sollte höllisch Obacht geben, keine faulen Kompromisse
zu schließen. Es gibt nur ein Ja zum Tierschutz. Für
mich steht schlicht und ergreifend das Wohl des Tieres
über allem.
Sie kennen unser Tierschutzgesetz. Ich rate Ihnen
dringend, einen Blick in das Grundgesetz zu werfen.
Nach Art. 20 a GG hat der Staat die Tiere zu schützen.
Davon sind sie meilenweit entfernt.
({2})
Meine Fraktion hat im Gegensatz dazu gehandelt. Wir
haben einen Antrag auf Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens für Tierhaltungssysteme eingebracht. Wir wollen, dass sich etwas ändert.
Deswegen haben wir - jetzt wird es spannend, Herr Kollege Stier; zu diesem Zeitpunkt waren Sie noch nicht im
Bundestag - zur Zeit der Großen Koalition das Tierschutzgesetz geändert; sie haben zu Recht darauf hingewiesen. Auf dieser Rechtsgrundlage muss allerdings
endlich eine entsprechende Verordnung erlassen werden.
In diesem Bereich hapert es bei Ihnen ganz gewaltig.
Dem Kollegen Beck die Verzögerung in die Schuhe zu
schieben
({3})
- Entschuldigung, ich habe bisher viele schwache Argumente gehört -, schlägt wirklich alles, Herr Kollege.
({4})
Wir fordern die Bundesregierung in aller Deutlichkeit
auf, endlich zu handeln. Kollege Staatssekretär Müller,
bringen Sie endlich eine entsprechende Verordnung auf
den Weg! Dann können wir das große Elend der Tiere
beenden. Wir fordern einen TÜV für Stallungen und entsprechende Vorschriften für die Transportwege. Darüber
hinaus fordern wir einen Tierschutz-TÜV für Schlachthöfe. Als die Tagesthemen vor kurzem die Situation in
den Schlachthöfen darstellten, wurde deutlich, dass die
Betäubung aufgrund mangelhafter Arbeit oft nicht ausreichend ist. Jährlich - man stelle sich das vor - gerät
über eine halbe Million Tiere ohne wirksame Betäubung
in die Brühkessel. Das ist schlicht und ergreifend unerhört!
({5})
Da gibt es auch keine Kompromisse, Herr Kollege Stier.
Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie Ihr Papier! Sie haben
das wunderbare Papier „Die CDU fühlt sich dem Staatsziel Tierschutz verpflichtet“ erstellt. Dort heißt es völlig
zu Recht: „Der Tierschutz-TÜV kommt.“ Die spannende Frage lautet allerdings: Wann kommt er? Ich
kann Ihnen nur dringend raten, das aufzugreifen, was
bereits vorliegt, zum Beispiel die Beschlussfassung des
Bundesrates vom 7. April 2006, das Eckpunktepapier
einer hochkarätigen Fachkommission zur Einführung eines obligatorischen Prüf- und Zulassungsverfahrens vom
12. Dezember 2007 oder unseren Antrag. Kollege
Staatssekretär, handeln Sie! Dann sind Sie unser Mann.
Das wäre hervorragend.
({6})
- Stimmt, er muss noch etwas mehr tun, aber es wäre ein
wesentlicher Pluspunkt für den Kollegen Müller.
Lassen Sie mich kurz auf die Haltung von Kaninchen
eingehen. Herr Stier ist darauf interessanterweise nicht
eingegangen. Das spricht für sich. Meine Fraktion stellt
einen Antrag, die Linke stellt einen Antrag, und die Kollegen der Grünen stellen einen Antrag.
({7})
Nun stellt sich die spannende Frage: Wo ist Ihre Initiative, Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP? Wo bleibt die Initiative der Bundesregierung? Was
ist bisher geschehen? Nichts!
({8})
Dabei wissen wir alle ganz genau, dass die Haltungsbedingungen für Kaninchen teilweise katastrophal sind.
Drahtgitterböden führen zu massiven Wunden. Für unsere Zuhörer nenne ich ein kurzes Beispiel. Können Sie
sich allen Ernstes vorstellen, dass ein Kaninchen in einem Käfig, der kleiner als ein halbes DIN-A-4-Blatt ist,
zu vegetieren - von „leben“ kann man nicht sprechen hat? Das ist leider teilweise Tatsache. Das muss
schnellstens beendet werden. Das ist ein klarer Verstoß
gegen das Tierschutzgesetz.
({9})
Leider gibt es auch auf EU-Ebene bisher keine Regelung. Deswegen verlangen wir in unserem Antrag, dass
auf dieser Ebene ebenfalls entsprechende Initiativen gefördert werden. Wir verlangen klipp und klar, Kaninchen
in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufzunehmen.
({10})
In einem Punkt sind wir uns einig - auch mit den Kolleginnen und Kollegen der FDP und der CDU/CSU -:
Wir brauchen weitere Forschungstätigkeit in diesem Bereich. Das ist absolut richtig. Aber es kann nicht angehen, dass Sie mit Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Forschungsergebnisse Ihre Hände in den Schoß
legen. Immer nur abwarten - das darf nicht hingenommen werden. Ich appelliere eindringlich an Sie: Handeln
Sie! Unsere Tiere brauchen dringend Hilfe. Sonst - diesen Vorwurf müssen Sie sich schon anhören - kommt
der Tierschutz in unserem Land immer weiter unter die
Räder.
Sie, verehrte Damen und Herren von der CDU/CSU
und von der FDP, sitzen momentan - ich hoffe, dass ich
sagen darf: noch - im Bremserhäuschen. Ich hoffe, das
gehört bald der Vergangenheit an. Sie tragen ganz entscheidend mit die Verantwortung für das, was im Tierschutzbereich passiert, und vor allem für das, was momentan leider noch nicht passiert.
Dabei gibt es doch sehr positive Beispiele. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erinnern sich an die letzte
Ausschusssitzung. Es hat doch wirklich Mut gemacht,
wie der Kollege Goldmann bezüglich der Haltung von
Tieren in Zirkussen versucht hat, eine Lösung zu finden.
Ich darf mich bei unserem Ausschussvorsitzenden dafür
sehr herzlich bedanken. Kolleginnen und Kollegen der
FDP und der CDU/CSU, das ist ein Ansatzpunkt. Am
besten folgen Sie diesem Beispiel beim Tierschutz-TÜV
und bei der Haltung von Kaninchen. Dann kommen wir
im Interesse unserer Tiere ein großes Stück voran. Handeln Sie!
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist überhaupt keine Frage, dass Tierschutz nicht
nur für die Arbeit im Ausschuss, sondern für unsere Gesellschaft insgesamt ein Schlüsselthema ist,
({0})
und das nicht nur, weil der Tierschutz im Grundgesetz
verankert ist. Nebenbei bemerkt: Das war eine hervorragende Leistung des Parlaments, zu der die Liberalen einen Anstoß gegeben haben.
({1})
Wir sagen ganz klar: Tiere sind keine Sache. Das hat der
damalige Bundesjustizminister Engelhard, auch ein Liberaler, auf den Weg gebracht. Im Koalitionsvertrag und
in unserer Ausschussarbeit ist das, wie ich schon sagte,
ein zentrales Thema.
Egal wer Ausschussvorsitzender oder Ausschussvorsitzende war, sind wir immer gut damit gefahren, die
Themen gemeinsam anzugehen. Deswegen haben wir
ein Handelsverbot für Robbenerzeugnisse erreicht. Wir
haben ein Importverbot für Katzen- und Hundefelle erreicht. Wir haben nicht alles, aber doch ein bisschen
beim Walschutz erreicht, bei den Wildvögeln und auch
bei den Tierversuchen.
Jetzt wollen wir etwas bei der Mast und der Zucht von
Kaninchen erreichen, aber sicherlich auch bei den Wildtieren in den Zirkussen. Aber, Kollege Paula, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr dafür, dass man ein
solches Thema auch mit Emotionalität angeht. Ich
glaube, jeder, der zu Hause ein Tier hat, der Kinder hat,
die Tiere haben, begegnet den Herausforderungen des
Tierschutzes mit dem Herzen. Wir brauchen aber auch
die Basis kluger, substanzieller Fachlichkeit.
({2})
Das Kindchenschema reicht nicht. Das Tier ist kein
Mensch. Wir müssen klar sagen: Wir haben das Nutzungsrecht für Tiere, aber es ist gekoppelt an die Tierschutzverpflichtung. Das ist ganz eindeutig. Wir müssen
uns über Begrifflichkeiten inhaltlich klar werden. Wir
müssen zum Beispiel wissen: Was ist ein eigentlich ein
Wildtier? Was ist eigentlich ein Haustier?
Wenn wir das aufarbeiten, dann brauchen wir als Erstes Tierschutzbildung. Bei den Haltern ist sie sehr stark
ausgeprägt.
({3})
Auch bei den Landwirten ist sie in großem Maße vorhanden.
({4})
Bei den Tierärzten gibt es an der einen oder anderen
Stelle sicherlich noch Verbesserungsbedarf. Es geht darum, dass wir das Wissen, das wir haben, einsetzen, um
die Bedingungen für die Haltung und Nutzung der Tiere
so auszugestalten, dass der Tierschutzgedanke und die
Tierschutzverpflichtung zum Tragen kommen.
({5})
Es geht um Verantwortlichkeit. Wir haben nie etwas
vom Tierschutz-TÜV gehalten. Ich halte aber zum Beispiel etwas davon, dass man als Halter von Schweinen
die Schweinehaltungshygieneverordnung einhält, weil man
davon überzeugt ist, dass sie gut ist. Ich halte etwas davon, dass man im QS-System besondere Anstrengungen
unternimmt, um bei der Haltung den Bedürfnissen der
Tiere gerecht zu werden.
Lieber Herr Kollege Paula, Sie versuchen, für die
Mastkaninchen holterdiepolter etwas auf den Weg zu
bringen. Das ist der falsche Ansatz. Wir haben ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht. Dieses müssen
wir auswerten. Wir müssen uns abstimmen und Leitlinien entwickeln. Wir können nicht einfach sagen: Wir
nehmen die Kaninchen in die Nutztierhaltungsverordnung auf. - Wir müssen erst einmal wissen, was wir aufnehmen wollen. Dafür brauchen wir wissenschaftliche,
fachliche Grundlagen.
Das Gleiche gilt für das Halten von Wildtieren in Zirkussen. Es gab meiner Meinung nach eine sehr erfreuliche Entwicklung im Ausschuss, die darin besteht, dass
wir die Musik nicht von PETA bestimmen lassen, sondern uns gemeinsam darum bemühen, Lösungen zu finden.
Aber auch da müssen wir uns fragen - das sage ich
jetzt vielleicht ein bisschen amüsiert -: Wie wild ist eigentlich das Tier, das da im Zirkus lebt? Wie wild waren
die Nilpferde, die wir gestern Abend auf einer Veranstaltung im Zoo in Berlin kennengelernt haben? Was machen wir mit dem Zirkustier, das nur den Zirkus kennengelernt hat? Die Tiere sind häufig gar nicht in Freiheit
geboren, sondern sie sind in Zirkussen zur Welt gekommen.
({6})
Was machen wir mit den auffälligen Tieren? Lassen
Sie uns uns gemeinsam darum kümmern! Es ist ein großes Problem, wenn in einem kleinen Zirkus Tiere auffällig werden; denn fast nirgendwo sind bei denjenigen, die
die Kosten zu übernehmen haben, Haushaltsmittel vorhanden. Das sind im Allgemeinen diejenigen, die die
Kontrollen durchführen, nämlich die Kommunen. Da
sind überhaupt keine Mittel vorhanden, um den Gedanken des Tierschutzes wirklich so zum Tragen zu bringen,
dass es zu einer guten Lösung kommt.
Deswegen bin ich froh darüber, dass Kollege
Priesmeier und der gesamte Ausschuss gestern meinem
Vorschlag gefolgt sind,
({7})
das Thema zu vertagen, es abzuarbeiten und hundertprozentig konsequent zu einer guten Lösung für die Wildtiere in Zirkussen zu kommen.
({8})
- Ja, wir können auch gerne zu einer zügigen Lösung
kommen. Aber wir müssen mit den Botschaften, die da
vermittelt werden, auch ein bisschen vorsichtig sein. Ein
großer deutscher Zirkus ist verurteilt worden, weil er an
einem Tag kein frisches Blattwerk für Elefanten zur Verfügung hatte. Ich finde, da gehen die Dinge dann auch
ein bisschen zu weit.
Was das Beispiel Österreich angeht, so ist es richtig,
dass in Österreich keine Zirkusse mit Wildtieren mehr
auftreten können. Aber es ist paradox, dass österreichische Zirkusse mit Wildtieren in Deutschland auftreten
können. Deswegen brauchen wir in diesem Bereich eindeutig europäische Lösungen.
({9})
Ich sage ganz klar: Tierschutz, ja bitte, aber bitte fachlich begründet und nicht so, dass irgendwelche Botschaften in den Raum gestellt werden, die im Grunde
genommen dem wahren Tierschutzgedanken nicht Rechnung tragen.
Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit bei
diesen Themen im Ausschuss. Ich bin ziemlich sicher,
dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Kirsten Tackmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Am 1. August 2002 wurde
der Tierschutz in Art. 20 a des Grundgesetzes verankert,
der entsprechend ergänzt wurde. Damit hat der Tierschutz Verfassungsrang; das ist hier schon gesagt worden. Trotzdem stehen uns heute wieder nur 30 Minuten
zu später Stunde zur Verfügung, um über zwei wichtige
tierschutzpolitische Entscheidungen zu diskutieren. Sicher, wir haben schon im Ausschuss über Anträge diskutiert. Dennoch wäre es dringend notwendig und aus meiner Sicht auch richtig, hier im Plenum einmal etwas
ausführlicher zu diskutieren, und zwar auch zu publikumsfreundlichen Zeiten.
({0})
Über den Tierschutz-TÜV diskutieren wir unter Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern ja schon eine ganze
Weile. Natürlich hat die Linke nicht die Illusion, dass
wir damit alle Probleme in der Nutztierhaltung lösen
können. Aber wir leben in einem Land, in dem obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für technische und
bauliche Anlagen allgegenwärtig sind.
({1})
Wenn Probleme auftreten, sind wir froh, wenn wir darauf verweisen können, dass wir genau diese Vorschriften eingehalten haben. Deshalb stelle ich mir oder auch
der CDU/CSU und der FDP schon die Frage, warum das
ausgerechnet bei Stallanlagen für Nutztiere nicht so sein
soll. Das ist doch nicht nachvollziehbar.
Klar ist auch, dass jede Tierhaltung, wenn Tiere in
Menschenobhut gehalten werden, ein Kompromiss ist.
Auf der einen Seite der Waagschale liegt das, was objektiv tier- oder artgerecht wäre; darauf hat Kollege
Goldmann schon hingewiesen. Auf der anderen Seite ist
das, was von der Gesellschaft unter ethischen Aspekten
akzeptiert wird.
Hinzu kommt aber schon ein wirtschaftlicher Druck.
Der ist in Zeiten eines hochspekulativen Agrarmarktes,
der nur billige Produkte fordert, schon stark gewachsen.
Damit werden natürlich die wirtschaftlichen Spielräume
für die Betriebe kleiner, sowohl für soziale und ökologische Leistungen als auch für den Tierschutz. Es ist natürlich schlichtweg teurer, wenn man Hühner im Auslauf
hält und nicht in einen Käfig sperrt. Der Tierschutz-TÜV
kann aus unserer Sicht dazu beitragen, dass tierschutzgerechte Lösungen gefunden und vorangebracht werden.
Deshalb werden wir als Linke dem Antrag der SPD zustimmen. Ich denke, das ist überfällig.
({2})
Kommen wir zu den Kaninchen. Die Haltungsbedingungen für Kaninchen sind besonders problematisch; darüber sind wir uns hoffentlich wirklich einig. Das liegt
wahrscheinlich daran, dass der Schutz von Kaninchen
nicht in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung verankert ist. Die Linke hat daher im Frühjahr 2010 die Diskussion, die in der Öffentlichkeit läuft, durch ihren Antrag ins Parlament zurückgeholt. Dieser konzentriert sich
auf den Regelungsbedarf und umfasst sechs wichtige
Punkte:
Erstens. Aufnahme der Kaninchen in die TierschutzNutztierhaltungsverordnung. Das hat die SPD auch gefordert.
Zweitens. EU-weite Mindestforderungen. Es ist nicht
einzusehen, dass das bei uns anders geregelt wird als in
anderen EU-Ländern.
Drittens. EU-weite Haltungs- und Herkunftskennzeichnung für importiertes Kaninchenfleisch. Es ist nicht
nachvollziehbar, dass hier andere Bedingungen gelten
als für andere importierte Fleischsorten.
Viertens. Datenerfassung in Bezug auf Haltung und
Verbrauch. Auch darüber wissen wir viel zu wenig.
Fünftens. Förderung artgerechter Tierhaltung. Auch
an dieser Stelle muss man die Betriebe unterstützen.
Sechstens. Forschungsprojekte zur besseren Kaninchenhaltung. In der Tat gibt es in diesem Bereich Wissensdefizite, die wir beheben müssen.
({3})
Das heißt aber nicht, dass man nicht handeln kann. Ich
weiß ehrlich gesagt nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, warum man einen solchen Antrag
ablehnen kann.
Wir sehen die Probleme aber nicht nur in der gewerblichen Kaninchenhaltung. Wir sehen sie durchaus auch
in der Heimtierhaltung. Die Grünen fordern nun in ihrem
Antrag, auch dies zu regeln. Das bedeutet für mich aber
eine kaninchenrechtliche Kontrolle in Kinderzimmern.
Das hört sich für mich dann doch eher nach Orwell als
nach Tierschutz an. Deswegen sagen wir als Linke: Ja,
wir möchten auch für die Kaninchen in der Hobbyhaltung mehr tun.
({4})
Das sollten wir aber eher über eine Sensibilisierung
und Überzeugung von Kindern und Eltern erreichen.
Diese haben nämlich keinen ökonomischen Zwang und
können durchaus in einem breiteren Spektrum entscheiden.
({5})
Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: Eine Zivilisation
kann man danach beurteilen, wie sie ihre Tiere behandelt. - Wir befinden uns aus meiner Sicht also gegenwärtig in einem sehr unvollkommen zivilisierten Status der
Tierhaltung. Es wäre aus meiner Sicht und aus Sicht der
Linken ein großer Schritt, wenn Sie sich überwinden
könnten, den vernünftigen Anträgen, die hier vorliegen,
endlich zuzustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Glückliche Kühe,
({0})
Hühner auf grünen Weiden, Schweine im Stroh, malerische Fachwerkbauernhöfe - immer noch haben Verbraucherinnen und Verbraucher dieses Bild vor Augen, wenn
sie an der Fleischtheke zum Kotelett greifen. Keine Werbung ohne diese Bilder!
({1})
Leider sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Außer bei
NEULAND und der Biolandwirtschaft hat die Realität in
den Ställen wenig mit der Schönmalerei auf den Verpackungen zu tun.
({2})
Es besteht dringender Handlungsbedarf.
({3})
Deshalb wollen auch wir Grüne den Tierschutz-TÜV
für Stalleinrichtungen, für Betäubungsgeräte und für
Heimtierunterkünfte. Aber damit der Tierschutz-TÜV
ernsthaft Wirkung zeigt, müssen die Zertifizierungskriterien höher sein als die gesetzlichen Standards. Unabhängige Prüfverfahren mit unabhängigen Prüfern aus Tierschutzorganisationen sind unerlässlich. Das sehen die
Koalitionsfraktionen bisher leider anders.
({4})
Der Tierschutz-TÜV ist ein wichtiger Schritt. Wir
müssen uns aber über die Grenzen einer solchen Maßnahme immer im Klaren sein. Wesentliche Fragen bleiben unbeantwortet. Was ist mit dem Grundbedürfnis der
Tiere nach Auslauf, nach Stroh und Kontakt zur Außenwelt? Was ist mit der artgerechten Behandlung des Tieres durch den Tierhalter? Ich möchte vor allem wissen:
Welche Form der Tierhaltung wollen wir uns als zivilisierte Gesellschaft in Zukunft leisten?
Staatssekretär Müller, wollen wir denn wirklich Anlagen mit vielen Zehntausenden Schweinen oder einer halben Million Hühnern oder Hähnchen, Anlagen, in denen
planmäßig Schweineschwänze und Geflügelschnäbel
kupiert werden, damit die Tiere wegen des Platzmangels
nicht zu Kannibalen werden, Anlagen, in denen die Tiere
in qualvoller Enge vor sich hin darben, Anlagen wie die
im niedersächsischen Holthusen II, in denen bei Störfällen Zehntausende von Tieren einen qualvollen Brandtod
sterben?
({5})
Der bundesweite, ständig wachsende Protest der Bürgerinitiativen gegen die Massentierhaltung zeigt, dass
immer mehr Menschen diese unwürdigen Haltungsbedingungen ablehnen.
({6})
Meine Damen und Herren, nicht die Tiere müssen sich
den Haltungssystemen anpassen, wie wir es heute praktizieren, sondern die Haltungssysteme den Bedürfnissen
der Tiere. Das ist das Gebot der Zukunft.
({7})
Orientierung für eine artgerechte Tierhaltung bietet
das NEULAND-Leitbild. Dieses Leitbild legt klare Kriterien für die Haltung und die Fütterung von Nutztieren
fest. Gerade in Richtung der Kolleginnen und Kollegen
aus den Fraktionen mit dem „C“ im Namen sage ich
- Sie sind ja in Ihrem schwarz-gelben Herbst gerade auf
der Suche nach Ihrem Wertekern -: Auch Nutztiere sind
Mitgeschöpfe,
({8})
für die wir alle Verantwortung tragen. Das steht in der
Bibel, aber auch im Grundgesetz.
({9})
- Ja, das sollten Sie nachlesen.
Die Menschen sind bereit, für Produkte mit Tierschutzlabel tiefer in die Tasche zu greifen; das belegt
auch die aktuelle Studie des BMELV. Das ist ein klarer
Handlungsauftrag für die Politik. Wir müssen die Tierhaltung endlich so verbessern, wie es unsere Mitbürger
erwarten, Herr Staatssekretär, statt die Welt mit billigem,
oft nicht artgerecht erzeugtem Fleisch zu beglücken.
({10})
Dieser Maßstab muss für jedes uns anvertraute Tier gelten, egal ob es Tiere in der Landwirtschaft, Heimtiere
oder nicht frei lebende Wildtiere im Zirkus oder im Zoo
sind.
Das Leitbild des Mitgeschöpfs Tier prägt auch unseren Antrag, mit dem wir die Haltungsbedingungen für
Zucht- und Mastkaninchen deutlich verbessern wollen.
Frau Aigner hat uns vor wenigen Monaten versprochen,
im Herbst 2010 die Vorstellungen des Ministeriums vorzulegen. Wir warten darauf leider bis heute.
({11})
- Doch. Sie hat von diesem Jahr gesprochen. - Sie alle
haben jetzt die Gelegenheit, unseren Antrag zu unterstützen. Wir sind ja gerne behilflich.
({12})
Wir begrüßen die Bereitschaft der anderen Fraktionen, bei der Haltung von Wildtieren im Zirkus eine Lösung im Konsens zu finden; der Ausschussvorsitzende,
Herr Goldmann, hat dankenswerterweise schon darauf
hingewiesen. Ihm ist ausdrücklich dafür zu danken, dass
auch er versucht hat, in dieser Frage einen Konsens zu
erzielen.
({13})
Doch auch hier gilt: Wir werden keinem Kompromiss
zustimmen, der der Verantwortung gegenüber dem Mitgeschöpf Tier nicht gerecht wird, Herr Bleser.
({14})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegin Carola Stauche für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass die christlich-liberale
Koalition den Tierschutz für besonders wichtig hält.
({0})
Wir als Koalition aus CDU, CSU und FDP setzen uns
für den Tierschutz und gute Bedingungen für Tiere ein.
({1})
Wir nehmen dieses Thema sehr ernst und werden uns
auch weiterhin für eine Verbesserung der Tierhaltung
einsetzen, wie es die Union bereits in früheren Jahren
getan hat. CDU und CSU sind Vorreiter beim Tierschutz.
({2})
Ohne uns wäre der Tierschutz nicht ins Grundgesetz gekommen.
({3})
Das heute geltende Tierschutzrecht wurde in der Regierungszeit der Union konzipiert und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt.
({4})
Deshalb sind wir auch bereit, sinnvolle Veränderungen
im Tierschutzrecht mitzutragen.
Den heute zur Abstimmung stehenden Anträgen werden die Abgeordneten von CDU und CSU jedoch nicht
zustimmen. Alle von den Oppositionsfraktionen gestellten Anträge hätten nur wenige Verbesserungen der Bedingungen für die Tiere zur Folge, würden aber zu einem
enormen Ausbau der Bürokratie führen.
({5})
Nehmen wir die Anträge zur Haltung von Mast- und
Zuchtkaninchen, die sich durchaus ähnlich sind! Darin
fordern Sie unter anderem eine Erfassung des Kaninchenbestands. Ich frage mich: Wie soll das vonstattengehen?
({6})
Wollen wir bei Kaninchen Chips oder Ohrmarken verwenden? Als wir das in Thüringen bei Ziegen machen
wollten, hatten wir Riesenprobleme. In großen Betrieben
wird es sicherlich weniger Probleme geben. So geht aus
der Fleischuntersuchungsstatistik des Jahres 2009 hervor, dass im letzten Jahr an etwa einer Viertelmillion Kaninchen inländischer Herkunft Schlachttieruntersuchungen durchgeführt wurden. Daraus kann man eventuell
Rückschlüsse auf den Umfang des Tierbestandes ziehen.
Aber was machen wir mit den unzähligen Hobbyhaltern - Sie haben es vorhin angesprochen -, die sich privat ein paar Kaninchen halten? Die Tiere werden selbst
verzehrt oder zum Teil innerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises verkauft. Streng genommen ist das eigentlich schon gewerbliche Haltung. Wer soll über das
Land fahren und die Kaninchen zählen, die Kreisveterinäre, während sie noch überprüfen, ob das Tier artgerecht gehalten wird?
({7})
Ich glaube nicht, dass das funktioniert.
({8})
Die bereits geltenden Regelungen des Tierschutzgesetzes und der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung
sind sicherlich an der einen oder anderen Stelle verbesserungswürdig. Aus diesem Grund initiierte und förderte
das BMELV das Projekt „Untersuchungen zur Gruppengröße und zum Flächenbedarf in der Mastkaninchenhaltung“. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und weiteres wissenschaftliches Material werden gerade mit
Stellungnahmen von Verbänden im Ministerium zur Vorbereitung eines weitreichenden Verordnungsentwurfs
genutzt. Hier haben wir die Lösung; Sie haben sie vorhin
von uns gefordert.
({9})
Es ist mir wichtig, hier auf den Umstand hinzuweisen,
dass die Kaninchenproduktion für Deutschland hauptsächlich im Ausland stattfindet
({10})
und deshalb eine europäische Regelung den Tierschutz
verbessern würde. Aber das ist schwierig; das wissen
Sie. Gerade die Gespräche mit den Haupterzeugerländern wie Frankreich, Spanien und Italien gestalten sich
sehr schwierig.
({11})
Lassen Sie mich an dieser Stelle die Frage stellen, warum gerade Deutschland immer wieder ohne Not die Situation der heimischen Tierschützer und Tierbauern verschlechtern soll? Warum soll Deutschland immer
vorpreschen und ohne Not eine neue Tierschutzverordnung einführen, über die auf europäischer Ebene nicht
einmal nachgedacht wird?
({12})
Ich möchte auch noch ein paar Worte zum TierschutzTÜV verlieren, obwohl Kollege Stier dazu schon viel
Wichtiges und auch Richtiges angebracht hat. Ob man
bei der Nutzung des Namens Probleme mit dem technischen TÜV bekommt, kann ich hier nicht einschätzen.
Lassen Sie uns doch erst einmal das Normenkontrollverfahren abwarten, das durch die rheinland-pfälzische
Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist.
({13})
Die Union hat, wie auch das BMELV, immer die Auffassung vertreten, dass ein Prüfungs- und Zulassungsverfahren für Stalleinrichtungen als Erstes im Legehennenbereich von Vorteil ist. Natürlich befürworten wir das
Ziel, dass Landwirte und Tierhalter nicht nur technisch
sichere, sondern auch im Sinne des Tierschutzes geprüfte Einrichtungen erhalten, wenn sie ihre Ställe modernisieren oder neue Ställe bauen.
Auch wenn wir das Thema der Wildtierhaltung im
Zirkus aufgrund der Rücknahme des Antrags der Grünen
nicht mehr auf der Tagesordnung haben, möchte ich
noch ganz kurz ein paar Worte dazu sagen. Lassen Sie
uns doch erst einmal die Erfahrungen mit dem Zirkuszentralregister evaluieren. Dann sehen wir, was dabei
herauskommt. Darüber, was als Wildtier angesehen werden kann und was nicht, können wir uns bereits in dieser
Zeit Gedanken machen. Denn diese Frage zu beantworten, würde mir persönlich heute sehr schwer fallen.
({14})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, abschließend
möchte ich mit Deutlichkeit darauf hinweisen: Der Tierschutz in Deutschland ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ordentlich geregelt. In Deutschland gelten gute und strenge Vorschriften. Dass es zu Verstößen
kommt, kann man natürlich nicht immer verhindern.
({15})
Aber Tierquälerei, teilweise mit krimineller Energie,
durch mehr Bürokratie zu bekämpfen, halte ich persönlich für wenig hilfreich.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Kollegin Stauche, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche für Ihre Arbeit in diesem Hause!
({0})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Obligatorische Prüf- und Zulassungsverfahren für
Haltungseinrichtungen für Nutztiere - Tierschutz-TÜV
zügig einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2912, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2143 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/2962.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2017 mit dem Titel
„Bessere Haltung für Kaninchen zu Erwerbszwecken Konkrete Haltungsbedingungen in die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung aufnehmen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1601 mit dem Titel „Die Haltung von
Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union tiergerechter regeln - Mindestanforderungen unverzüglich auf den Weg bringen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/2006 mit dem Titel: „Die gewerbliche
Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland
und der Europäischen Union deutlich verbessern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Vereinbarte Debatte
Bilanz und Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Politikberatung „Technikfolgenabschätzung“
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist besser, alle Zeit in Gottesfurcht zu leben, als
daß man sich abquält in Furcht mit den zukünftigen
Dingen.
So hat es Luther einst formuliert.
({0})
In Zeiten, in denen dieses Gottvertrauen in die Kirche
und die Religion im Allgemeinen verloren gegangen ist,
muss jemand anderes kommen, der dafür garantiert, und
das ist die Wissenschaft.
({1})
Nun hatten wir ein Zeitalter der Technikgläubigkeit
und danach eine ganz lange Periode der Technikskepsis.
Furcht entsteht immer nur dort, wo die Erkenntnis fehlt.
Insofern versucht man mit der Technikfolgenabschätzung - das kann man durchaus etwas missverstehen von Anfang an vor allen Dingen auch, die Chancen unserer Technologien zu erkennen.
Unser verehrter Kollege Heinz Riesenhuber hat im
Jahr 1989 dazu gesagt
({2})
- ja, wo ist er? Er ist immer bei uns -: Technikfolgenabschätzung wird keine Verhinderung von Technik bedeuten, durch sie wird Technik erst ermöglicht. - Genau
diesem Leitspruch hat sich das Büro für Technikfolgenabschätzung, das ich im Folgenden kurz „TAB“ nennen
möchte, gewidmet.
1973 begannen die Diskussionen darüber, wie eine
Technikfolgenabschätzung zur Unterstützung des Parlaments aussehen könnte.
({3})
Nur 16 Jahre später traf der Bundestag im Jahr 1989 die
Entscheidung, die Technikfolgenabschätzung zu institutionalisieren.
Nach nun 20 Jahren Technikfolgenabschätzung ist es
auch einmal an der Zeit, Danke zu sagen. Danke dem
TAB und seinen Mitarbeitern, danke auch für die weise
Entscheidung des Parlamentes, genau diese Institution
einzurichten, und auch danke für den Umstand, dass das
Büro für Technikfolgenabschätzung seit 20 Jahren gute
Qualität zum gleichen Preis bietet.
({4})
Die Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikberatung hat für mich vor allem folgenden Mehrwert: Der
kontinuierliche Dialog zwischen Politik und Wissenschaft wird gefördert. Das Büro ist keiner von beiden
Seiten verpflichtet, sondern muss beide Interessen ausgleichen. - Dieser Dialog verläuft nicht immer reibungslos, aber - ich denke, so kann ich für uns alle sprechen immer erkenntnisfördernd für beide Seiten.
Eine wissenschaftliche Einrichtung, die vom Parlament beauftragt wird und dann unabhängig eine wissenschaftliche Expertise erstellt, ist etwas Besonderes und
reagiert in besonderer Weise auf die Informationsbedürfnisse des Parlaments.
({5})
Das, was wir vor allen Dingen in der Zukunft besonders berücksichtigen müssen, ist der ethische Aspekt des
technologischen Fortschritts. Auch dazu hat Heinz
Riesenhuber, unser großer Mann der Wissenschaft, einmal gesagt: Weil uns mit den neuen Techniken auch
neue Chancen erwachsen, weil mit neuen Chancen neue
Freiheit entsteht, muss aus dieser Freiheit neue Verantwortung wachsen, wenn wir gestalten wollen, was wir
gestalten können. - Das kann man sich mal auf der
Zunge zergehen lassen. Aus meiner Sicht hat er das sehr
gut zusammengefasst.
Ich möchte jetzt noch einen persönlichen Aspekt einbringen. Wir hatten hier ja gestern die Festveranstaltung
„20 Jahre wissenschaftliche Politikberatung - Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag“, und da
brachte mich meine Kollegin Dr. Sitte von der Linkspartei darauf, dass ja nun zwei Jubiläen quasi neben- oder
übereinander liegen, nämlich zum einen 20 Jahre Technikfolgenabschätzung und zum anderen 20 Jahre deutsche Einheit.
Für jemanden, der in Leipzig aufgewachsen ist - für
die, die nicht genau wissen, wo Leipzig liegt, sage ich:
Es liegt so zwischen Bitterfeld, Leuna und Espenhain,
also zwischen den größten Dreckschleudern, die wir im
Osten hatten -, ist es besonders wichtig, dass vor
20 Jahren die Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag verankert wurde.
({6})
Nebenbei gesagt, ich bin als Leipziger auch ein wenig
stolz darauf, dass wir durch unsere friedliche Revolution
einen großen Beitrag zur deutschen Einheit, deren Jubiläum wir in wenigen Tagen begehen können, geleistet
haben.
({7})
Angesichts dessen erkenne ich umso mehr den Wert
kontinuierlicher wissenschaftlicher Beratung des Parlaments. Dies will ich Ihnen einmal verdeutlichen. Versetzen Sie sich doch einmal 20 Jahre zurück in den Osten
Deutschlands. Da hätten wir eventuell unter anderem so
etwas hören können: Liebe Genossinnen und Genossen,
({8})
ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der aus
dem Westen kommt, kopieren müssen? Auch wenn sich
der Klassenfeind von nun an mit Technikfolgenabschätzung beschäftigt, kann ich nur sagen: Unsere Betriebe
brauchen so etwas nicht. Denn sozialistische Technik hat
keine schädlichen Folgen. Sie dient allein dem Wohl des
werktätigen Volkes.
({9})
Ich bin froh, dass uns dieses Szenario erspart geblieben ist.
({10})
Da ich in einem Land aufgewachsen bin, das weder auf
seine Ressourcen geachtet hat noch auf die Umwelt oder
seine Bevölkerung, ist es mir umso wichtiger, dass wir
uns im Parlament anhand des Instruments der Technikfolgenabschätzung verantwortlich mit diesen Fragen beschäftigen, und ich bin dankbar, dass mit der deutschen
Einheit die erzielten Ergebnisse auch dem gesamten
deutschen Volk zugute kommen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion Kollege René
Röspel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bildungs- und Forschungspolitiker der
SPD-Bundestagsfraktion haben am Sonntag einen sehr
spannenden Vortrag von Professor Gigerenzer zum
Thema „Risikokompetenz - Der informierte Umgang
mit einer modernen technologischen Welt“ gehört. Eine
der Aussagen war - fast selbstverständlich -: Vertrauen
- nicht immer Gottvertrauen, Herr Kollege Feist - ist
Zement einer Gesellschaft, und Politik leidet in den letzten Jahren eher unter Vertrauensverlust. Als Gegenrezept
empfahl uns Professor Gigerenzer, mehr Transparenz,
mehr Öffentlichkeit und vonseiten der Politik auch mehr
Glaubwürdigkeit an den Tag zu legen.
({0})
Diese Gedanken im Kopf, habe ich mir heute Morgen
im Eingangsbereich, in dem all die Gesetzentwürfe ausliegen, die in einer Sitzungswoche behandelt werden,
fast wahllos einen geschnappt, weil diese Gesetzentwürfe unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung
eigentlich immer gleich aufgebaut sind. Ich habe mal
den „Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP - Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes“ genommen. Unter „A. Zielsetzung“ wird
immer erklärt, worum es geht. Hier geht es um die Laufzeitverlängerung bei 17 Atomkraftwerken um 12 Jahre.
Auf der zweiten Seite steht immer „B. Lösung“. Hier
steht, wie die Zielsetzung des Gesetzes erreicht werden
soll. Jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Unter C findet sich immer der Abschnitt „Alternativen“.
Jetzt raten Sie mal, was da in neun von zehn Gesetzentwürfen immer steht, übrigens unabhängig von der jeweiligen Regierung.
({1})
- Keine. - Jetzt frage ich uns ernsthaft: Glauben wir das
eigentlich selbst, oder glauben wir, dass die Leute draußen glauben, dass es niemals eine Alternative zu den Gesetzentwürfen gäbe, die wir alle hier machen?
({2})
Ich bin davon eher nicht überzeugt. Wenn es um
Glaubwürdigkeit geht, sollten wir entweder den Punkt C
demnächst mit Alternativen ausfüllen - denn die gibt es
immer; jedem Handeln steht ein Unterlassen gegenüber
und umgekehrt, und beides hat natürlich Folgen - oder
diesen Punkt einfachen streichen. Das wäre vielleicht
genauso glaubwürdig. Ebenso sollten wir als Politiker
häufiger sagen, dass wir nicht die allumfassenden Lösungen anbieten können, dass wir immer wieder fragen,
welcher Weg eigentlich der richtige ist, und dass wir auf
der Suche sind, wenn wir ein Gesetz machen.
Gigerenzer sagte auch, dass wir in einer Zeit rasanter
Technologieentwicklung leben und dass das Verständnis
der Menschen von Technologie immer weniger mit diesen neuen Technologien Schritt halten kann. Und: Risiken sind immer vorhanden. Wir müssen nur lernen - und
das frühzeitig -, mit Risiken vernünftig umzugehen und
sie abzuwägen. Ich bin überzeugt: Wer Risiken verschweigt, wird gerade nicht Vertrauen erzeugen, sondern
Misstrauen und Vorurteile hervorrufen. Albert Einstein
hat zu Recht gesagt, dass es viel einfacher ist, einen
Atomkern zu zertrümmern als ein Vorurteil. Das sollten
wir uns manchmal in Erinnerung rufen.
({3})
Richtig ist deswegen: Wir müssen Risiken benennen,
transparent machen und wirkliche Alternativen - also
Punkt C - suchen, und dazu braucht das Parlament eine
gute Beratung. Ich bin sehr froh, dass vor mehr als
20 Jahren vorausschauende Kollegen wie Jürgen
Rüttgers aus der CDU/CSU-Fraktion, Edelgard
Bulmahn und Wolf-Michael Catenhusen und seitdem die
als Motor fungierende, aber jetzt leider abwesende Ulla
Burchardt diesen Prozess verfolgt und das Büro für
Technikfolgenabschätzung ins Leben gerufen haben. Damit hat nämlich der Bundestag eine unabhängige, frei
von äußeren Einflüssen handelnde und Vorschläge machende politische und wissenschaftliche Politikberatung
bekommen, die im Auftrag des Bundestages handelt.
Das war ein Glücksgriff und eine Glanztat. Danke an die
vielen Kolleginnen und Kollegen, die das vor 30 Jahren
angestoßen und seit dieser Zeit kontinuierlich verfolgt
haben.
({4})
Dabei wird eines deutlich: Wissenschaft ist nicht politikfrei. Spätestens seit der Göttinger Erklärung vor über
einem halben Jahrhundert wissen wir das. Politik ist
auch nicht unwissenschaftlich und darf nicht unwissenschaftlich sein. Zentral dabei scheint mir, dass die wissenschaftliche Politikberatung an das Parlament angekoppelt ist. Es gibt eine Berichterstattergruppe im
Ausschuss für Technikfolgenabschätzung, die einstimmig im Konsens entscheidet. Auch das findet man nicht
immer im Bundestag. 144 Berichte ganz unterschiedlicher Art sind in den letzten 20 Jahren vom Büro für
Technikfolgenabschätzung vorgelegt worden. Es waren
Berichte zur Bio- und Gentechnologie, zur Kommunikationstechnologie, zu den Auswirkungen und Folgen von
Mobilfunk, zur Innovationspolitik, zu ganz vielen unterschiedlichen Fragen zur Nahrungsmittelqualität. Diese
Berichte haben nicht nur dem Parlament als Beratungsgrundlage gedient, sondern sie haben sehr häufig auch
öffentliche Resonanz hervorgerufen und dienen auch
heute noch als gute wissenschaftliche Grundlage für
viele Beratungen und Diskussionen.
Aufgabe solcher Berichte ist es, zu Themen, über die
wir manchmal noch gar nicht viel wissen, den Stand der
Wissenschaft und der Forschung, Perspektiven, mögliche Entwicklungen und - sofern das möglich ist - Handlungsoptionen, also unterschiedliche Wege aufzuzeigen,
die wir als politisch Entscheidende gehen können. Damit
sind wir wieder bei Punkt „C. Alternativen“. Uns werden also auch Alternativen aufgezeigt. Das TAB ist sozusagen ein Radar für neue technologische Entwicklungen, die stattfinden, und zeigt uns mitunter Untiefen, die
vor uns liegen. Die Politik ist der Kapitän, der entscheiden und den Kurs festlegen muss. Das geht auch nicht
anders. Aber die Informationen des Radars zu berücksichtigen, mag für das Schiff sicherlich nicht falsch sein.
Ich will einige Beispiele nennen. Der Bericht „Stand
und Perspektiven der Nanotechnologie“ aus dem
Jahr 2003 war nicht nur eine gute wissenschaftliche
Grundlage zu dem sich entwickelnden Bereich der Nanotechnologie, sondern er hat auch eine große öffentliche Resonanz erfahren und fast erstmals in der Geschichte die Politik in die Lage versetzt, einigermaßen
auf der Höhe der technischen Entwicklung zu sein und
frühzeitig über Risiken und Chancen zu reden, aber auch
Regulationsmechanismen einzubauen und eine öffentliche Diskussion in Gang zu bringen. Wir als Parlament
haben das immer begleiten können. So kann man Transparenz auf einem neuen technologischen Gebiet herstellen und Misstrauen verhindern: indem man frühzeitig
und verständlich darüber redet.
Der zweite Bericht, der bald vorgelegt wird, ist der
über Fortpflanzungsmedizin. Er wird uns sicher eine
wichtige, in manchen Fällen auch überraschende und interessante Grundlage für eine ethische Debatte, die auf
uns zukommen wird, bieten können: über die Frage, ob
Präimplantationsdiagnostik zulässig sein soll oder nicht.
Auch da lohnt sich ein Blick in den Bericht zum Thema
Fortpflanzungsmedizin, der den Berichterstattern jetzt
vorliegt und der in einigen Wochen sicherlich veröffentlicht werden wird.
Ein weiteres, zukunftsgerichtetes Beispiel ist der von
der Berichterstattergruppe in Auftrag gegebene Bericht
zu Geo-Engineering - ein fürchterliches Wort. Wir erwarten in einem Bereich, der sehr neu ist, Antworten auf
die Frage, welche Auswirkungen auf Klima und Welt
kann es haben, wenn die Menschen großflächig Eisenoxid in die Weltmeere kippen, Algen damit düngen und
so hoffen, dass Kohlendioxid gebunden wird, oder Sulfat
in die Stratosphäre schießen, in der Hoffnung, dass großflächig Sonnenstrahlen reflektiert werden und die Erderwärmung nicht zunimmt. All das sind offene Fragen, die
wir nicht beantworten können. Das TAB wird uns - dessen bin ich sicher - eine gute Stütze und wissenschaftliche Hilfe sein.
Mein Fazit: 20 Jahre TAB - zumindest ich bin klüger
geworden; ich gebe zu, dass das gesellschaftlich nicht
wirklich relevant ist. Wichtig ist, dass das TAB, also das
Büro für Technikfolgenabschätzung, uns wirklich in die
Lage versetzt, Entscheidungen so zu treffen, dass auch
künftige Generationen genügend Freiraum und Spielraum haben, eigene Wege zu gehen, eigene Entscheidungen zu treffen, vielleicht auch eigene Fehler zu machen.
Das ist ein wichtiger Wert. Deshalb gilt der Dank der
SPD-Fraktion wie sicherlich aller anderen Fraktionen
ausdrücklich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
TAB und allen beteiligten Gutachtern. Wir werden sie
weiterhin unterstützen, auch in Haushaltsfragen; denn
die Mittel sind knapp.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt Sylvia Canel für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Deutschlands Ruf in der Welt eilen nicht
immer nur große Erfindungen voraus, sondern man
kennt auch das Wort von der „German Angst“. Aber:
„Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss
nur alles verstehen.“ Wissenszuwachs und die Reduzierung von Vorurteilen mindern Angst; denn nur so können wir Vorgänge und Sachverhalte verstehen, angemessen bewerten und Handlungen ableiten.
Ziehen wir heute Bilanz der 20-jährigen Arbeit des
TAB, dann zeigt sich: Die von mir eingangs zitierten
Worte der Physikerin Marie Curie sind richtungsweisend. Wissenschaftliche Entwicklungen und deren politische Begleitung durch das Parlament, zum Beispiel
durch Forschungsförderungsprogramme, durch Technologieprogramme, durch Bildungsprogramme, verlangen
immer mehr nach einer fundierten und belastbaren Wissensbasis. Eine permanente und fest verankerte Technikfolgenabschätzung in Form des TAB ist Ausdruck einer
lebendigen Politikberatung des Parlaments auf wissenschaftlicher Basis. Eine zu frühe Festlegung auf Positionen in dieser Auseinandersetzung dient keiner ergebnisoffenen Diskussion. Ausgewogene, unabhängige und
zuverlässige Informationen zu wissenschaftlichen, technischen und ethischen Fragen sind die Voraussetzung,
um das Wissen und die Entscheidungsfindung zu unterstützen. Zuerst muss die entsprechende Expertise zur
Verfügung stehen. Erst dann kann auf einer wissenschaftlichen Basis politisch diskutiert und können Entscheidungen verantwortlich getroffen werden. Wir können uns beraten lassen; aber die Verantwortung tragen
die Mitglieder des Parlaments schon selber.
({0})
Gerade der empfundene Mangel an ausgewogenen Informationen und Beratung auf dem Feld von Wissenschaft und Technologie war es, der zur Einrichtung des
TAB führte. Ohne wissenschaftliche Expertise ist es
schwer möglich, die Chancen technischer Innovationen
zu erkennen und dabei gleichzeitig die ökonomischen,
ökologischen und sozialen Fragen und Risiken objektiv
zu betrachten. Ohne wissenschaftliche Expertise kann
keine fundierte politische Diskussion darüber stattfinden, wie Innovationen am besten gefördert und unterstützt werden.
Durch Technikfolgenabschätzung wird der zentrale
Auftrag des Parlaments, die Diskussion und Erörterung
politischer Felder, maßgeblich unterstützt. Komplexe
Sachverhalte zu analysieren und eine transparente und
verständliche Vermittlung der Arbeitsergebnisse zu liefern, zeichnet die Tätigkeit des TAB aus. Durch die Arbeit des TAB wird ein Gegenstand aus verschiedenen
Perspektiven betrachtet und das Spektrum der gesamten
gesellschaftlichen Meinungsbilder nutzbar gemacht. An
dieser Stelle hervorzuheben, ist der inhaltliche Reichtum
der TAB-Berichte, vor allem deren wissenschaftliche
Qualität und ausgewogene Darstellung, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich und immer weiter verbessert wurde.
Die Potenziale einer Technikfolgenabschätzung wurden nicht von Anfang an von allen Abgeordneten gesehen. Anfänglich herrschte Skepsis. Den Berichterstattern
ist es zu verdanken, dass sie durch ihren Einfluss in den
Fraktionen Schritt für Schritt zur allgemeinen Akzeptanz
des TAB auf allen Ebenen beigetragen haben.
Das Ergebnis: Heute müssen die TAB-Berichterstatter
die unzähligen Vorschläge für Untersuchungen aus den
Reihen der Abgeordneten, aus den Fraktionen und aus
den Ausschüssen sichten, bündeln und letztlich entscheiden, welche Untersuchungsaufträge überhaupt durchgeführt werden.
Allein im ersten Quartal 2010 sind 67 Projektanträge
eingereicht worden. Die Auswahl ist nicht immer einfach; denn die Gruppe der Berichterstatter muss im Konsens entscheiden. Das Ergebnis der Berichte ist überzeugend. Die vom Bundestag angenommenen und
veröffentlichten TAB-Berichte stoßen auf eine breite Resonanz in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Erfreulicherweise können wir heute feststellen, dass
die Technikfolgenabschätzung in der Mitte des Parlaments angekommen ist und die anfänglichen Bedenken
sich nicht bewahrheitet haben.
Über die Jahre haben sich neue inhaltliche Akzente
ergeben, und es kam zu einer wichtigen Fokussierung
auf die Themen, die in einer modernen Industriegesellschaft relevant sind. Exemplarisch möchte ich - ergänzend zu Ihrem Beitrag - die CO2-Abscheidung und -Lagerung nennen, die im Jahr 2008 debattiert und
untersucht wurde. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie
es durch eine zeitgerechte Bearbeitung gelingen kann,
Technikfolgenabschätzung frühzeitig mit dem öffentlichen Diskurs und den Beratungserfordernissen im Gesetzgebungsverfahren zu verknüpfen.
Die Ergebnisse der TAB-Berichte befördern die politische Auseinandersetzung. Sie wurden und werden inner- und außerparlamentarisch bewertet, debattiert und
genutzt und fließen somit unmittelbar in politisches Handeln ein. Um beim Beispiel CO2 zu bleiben: Den Diskussionsprozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist,
werden wir weiter begleiten.
Da alle Resultate dem Bundestag und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, geht die Rezeption über den Bundestag hinaus. Verbände, NGOs,
Bildungseinrichtungen sowie Landes- und Bundesministerien profitieren ebenfalls vom TAB.
Unser Anliegen ist es, die parlamentarische Technikfolgenabschätzung in Zukunft verstärkt als ein öffentliches Diskussionsforum zu gestalten. Mit dieser aktiven
Rolle des Bundestags bei der Bearbeitung hochrelevanter Zukunftsfragen werden wir seiner Funktion als Öffentlichkeitsorgan gerecht. Das Parlament ist und bleibt
Initiator und Moderator der gesellschaftlichen Debatten
zu den Brennpunkten wissenschaftlich-technischer EntSylvia Canel
wicklungen. Das TAB hat sich als ein sehr wirkungsvolles Instrument der wissenschaftlichen Politikberatung
erwiesen. Darüber hinaus finden sich weitere gute Instrumente auch in den Serviceeinrichtungen der Wissenschaftsgemeinschaften und -gesellschaften. Eine wissenschaftliche Politikberatung dieser Art und Weise ist
weiterhin unerlässlich.
Ich danke Herrn Professor Dr. Grunwald als Leiter des
TAB, seinem Vorgänger, Herrn Professor Dr. Paschen,
Herrn Dr. Petermann, Herrn Zoche sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des TAB für ihre über die
Jahre geleistete exzellente Arbeit und freue mich, diese
in den kommenden Jahren weiter nutzen zu dürfen.
({1})
Die nächste Rednerin, Kollegin Petra Sitte von der
Linksfraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
Deswegen erteile ich jetzt Kollegen Hans-Josef Fell von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Feist, Sie haben das richtig dargestellt: In der DDR gab es in der Tat große Defizite bei
der Technikfolgenabschätzung. Wir sollten uns aber
nicht täuschen. Die gleiche Situation gab es auch im
Westen. Wie viele Menschen haben darunter gelitten,
dass ohne Technikfolgenabschätzung Holzschutzmittel
auf sie losgelassen wurden, die große Probleme hervorgerufen und Krankheiten verursacht haben! Wie viele
Menschen haben sich darüber geärgert, dass es Chemiefabriken gibt, die ungeklärte Abwässer in die Flüsse gelassen und Abgase in die Luft geblasen haben! Wie viele
Menschen haben sich darüber geärgert, dass Atomkraftwerke gebaut wurden, wobei wir bis heute noch nicht
einmal wissen, wohin wir mit dem Atommüll sollen!
({0})
Hier hat man in den 50er-Jahren Chancen vertan. Man
hätte damals schon Technikfolgenabschätzung betreiben
sollen.
Es hat in der Tat auch viel zu lange gedauert, bis der
Deutsche Bundestag ein entsprechendes Büro eingerichtet hat. Viele sind ungeduldig geworden und haben deshalb eine grüne Partei gegründet. Sie ist ein Ausfluss genau dessen, dass in unserer Gesellschaft nicht in
ausreichendem Maße Technikfolgenabschätzung betrieben wurde.
({1})
Diese Partei glich ein Stück weit dieses Defizit aus.
Meine Damen und Herren, jetzt haben wir das Büro
für Technikfolgenabschätzung im Deutschen Bundestag.
1) Anlage 3
Es hat, wie die Vorredner schon gesagt haben, hervorragende Arbeit geleistet. Deswegen sollten wir es auch gut
pflegen. Aber nicht nur das: Wir müssen auch weiter investieren. Aus Kapazitätsmangel kann das Büro für
Technikfolgenabschätzung viele Berichtswünsche aus
dem Parlament aktuell gar nicht mehr erfüllen. Wir sehen daran, dass hier große Nachfrage besteht. Deswegen
fordern wir von Ihnen, in diesen Haushaltsberatungen
endlich die Mittel für das Büro für Technikfolgenabschätzung aufzustocken.
({2})
Dies ist notwendig, nachdem es in den letzten 20 Jahren
keine Aufstockung gegeben hat.
Diese Investition wird sich lohnen. Ein berühmtes
Beispiel ist das Raumschiff „Sänger II“. Nachdem vom
TAB dargestellt wurde, dass das nicht sinnvoll ist, wurde
vermieden, dass die Politik Milliardenbeträge für dieses
Projekt in die Hand nimmt.
Es geht aber nicht nur darum, rückblickend zu fragen,
ob die Technikfolgenabschätzungsberatung wirklich sinnvoll war. Wir müssen schauen, ob die Beratungen zu aktuellen Projekten sinnvoll sind, und entsprechende Ergebnisse auch in der Politik ernst nehmen. Es geht nicht
nur um ökologische Fragen - natürlich geht es auch um
ökologische Fragen -, es geht auch um soziale Akzeptanz, um Verbraucher- und Datenschutz, um gesundheitliche Auswirkungen oder Gender- und Friedenspolitik.
Alles muss bei der Technikfolgenabschätzung mit in den
Fokus genommen werden, wenn sie sinnvoll sein soll.
({3})
Wir brauchen generell eine unabhängige Begleitforschung als festen Bestandteil jeder Forschung, bei der es
um technische und gesellschaftliche Fragen geht. Deshalb sollten insgesamt 5 Prozent der Forschungsgelder
für Technikfolgenabschätzung ausgegeben werden.
Wir müssen uns in der Politik aber auch immer wieder fragen, ob wir genügend Rücksicht auf die Technikfolgenabschätzung nehmen. Im Jahre 2002 hat das Büro
für Technikfolgenabschätzung einen Bericht über Kernfusion abgegeben und damit uns im Bundestag den Auftrag gegeben, endlich einmal innezuhalten und eine Neubewertung der Kernfusion vorzunehmen. Nichts davon
wurde umgesetzt. Heute gibt es nun das Finanzdesaster
auf EU-Ebene. Man weiß nicht mehr, wie die Finanzierung für ITER gelingen soll. Auch hier mangelte es an
entsprechenden Entscheidungen der Politik im Zuge von
Technikfolgenabschätzung.
({4})
Es geht aber nicht nur darum, in unserer Gesellschaft
die Folgen, die problematisch sein können, zu beachten.
Es geht auch darum, die Ergebnisse der Technikfolgenabschätzung als Chancen zu begreifen. Diese Chancenorientierung muss in den Mittelpunkt gestellt werden,
und auf dieser Basis müssen Konsequenzen gezogen
werden. So hat das TAB vor wenigen Jahren einen tollen
Bericht über geothermische Stromerzeugung erstellt:
Hier gibt es riesige Potenziale, die man nutzen könnte,
um die Grundlast bei der Stromerzeugung sicherzustellen und somit Atom- und Kohlekraftwerke zu ersetzen.
Nur, wie sieht die Politik von Union und FDP aus? Im
aktuellen Energiekonzept finden wir nichts davon.
({5})
In den nächsten 50 Jahren soll die geothermische Stromerzeugung ein Nischendasein fristen. Das ist ein Beispiel
für fehlende Akzeptanz von Technikfolgenabschätzung.
Hier sollten wir die sich bietenden Chancen ergreifen
und energischer umsetzen.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das TAB bietet
eine Fülle wertvoller Politikberatung; das wissen wir.
Wir sollten aber in allen Fraktionen mehr noch als bisher
die Empfehlungen des TAB in den politischen Entscheidungen auch wirklich berücksichtigen.
({7})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen
Axel Knoerig das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Leben wird immer komplexer.
Wir leben heute in einer Welt, in welcher der Einzelne
kaum mehr alle Lebensbereiche im Blick haben kann.
Unverändert hält der Trend zur weiteren Spezialisierung
an. Wir wissen von immer weniger immer mehr. Gleichzeitig lässt die zunehmende Informationsflut oft die Berücksichtigung vieler wichtiger Details nicht mehr zu.
Umso bedeutsamer ist die Vermittlung inhaltlicher
Einzelheiten durch Wissenschaftler an Politiker. Heute
ist es für politische Entscheidungsträger unerlässlich, zuverlässige Informationen über die Wirkungen von Gesetzen, Entwicklungen und Innovationen auf unsere Gesellschaft zu erhalten.
20 Jahre Büro für Technikfolgenabschätzung beim
Deutschen Bundestag - ich nenne es in meiner Rede
auch kurz „TAB“ - sind daher ein Grund, an dieser
Stelle einmal laut und deutlich Danke zu sagen und diese
Institution entsprechend zu würdigen.
({0})
Der Dank der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gilt insbesondere dem Leiter des TAB, Herrn Professor
Dr. Armin Grunwald, und seinem Team für deren Leistung. Politikberatung durch unabhängige Wissenschaftler ist wenig öffentlichkeitswirksam und für den Bürger
im politischen Alltag kaum wahrnehmbar. Ich möchte an
dieser Stelle eine Lanze für diesen wichtigen wissenschaftlichen Dienst brechen, der oft in aller Stille geschieht und doch für uns alle von großem Nutzen ist.
Die über 150 Publikationen, Gutachten und Empfehlungen zeigen sehr deutlich den Charakter dieser „Denkwerkstatt“, deren Aufgabe es ist, den wissenschaftlichen
Fortschritt zu analysieren. Dabei steht der rasante technische Wandel, der die Geschwindigkeit der Veränderung
unserer Lebensverhältnisse beträchtlich erhöht hat, im
Mittelpunkt der Analysen. Die Untersuchungen und Berichte zur Technikfolgenabschätzung machen diesen
Wandel für uns transparent und erleichtern so sachbezogene und abgewogene Entscheidungen. So machen sie
uns immer wieder aufmerksam auf die Ursachen und
Folgen, auf die Richtung und die Geschwindigkeit von
Technik- und Wissenschaftsentwicklungen.
Die zahlreichen TAB-Analysen wie zum Beispiel die
Studie „Netzöffentlichkeit und digitale Demokratie“, die
im Jahr 2006 erschienen ist, oder auch das laufende Projekt „Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informationsgesellschaft“ waren für meine Berichterstattung
zum Arbeitnehmerdatenschutz in der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU sehr hilfreich.
Eine heftige Diskussion zu einem weiteren Themenkomplex erlebe ich zurzeit in meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg in Niedersachen. Hierbei geht es um die
Veränderung der Kulturlandschaften im ländlichen
Raum durch die Anpflanzung von Mais für Biogasanlagen. Ein aktueller TAB-Bericht dazu ist 2010 abgeschlossen worden und trägt den Titel „Chancen und Herausforderungen neuer Energiepflanzen“. Dabei geht es
unter anderem um Energiepflanzen und die damit verbundenen ökologischen und ökonomischen Herausforderungen sowie um Flächenkonkurrenz und Förderinstrumente. Auch dies ist wieder eine gelungene
Unterstützung für uns Parlamentarier und hilft tagtäglich
bei unserer Arbeit.
Die Qualität der Arbeit des TAB wird außerhalb des
Parlaments vor allem in der akademischen Fachwelt geschätzt. Der Wirkungskreis geht über Parlament und
Wissenschaft noch hinaus. Wirtschaft, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen der Bildungsarbeit nutzen die Analysen des TAB. Diese Nachfrage zeigt, dass wissenschaftliche Beratung der Politik
hinsichtlich der Technikfolgenabschätzung mehr für die
Allgemeinheit leistet, als man weithin annimmt.
({1})
Insofern ist der wissenschaftliche und gesellschaftliche
Wert der TAB-Analysen beträchtlich.
Nach 20 Jahren Büro für Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen Bundestag steht fest: Das Konzept der
wissenschaftlichen Beratung des Parlaments ist erfolgreich und erhöht unsere Entscheidungskompetenz. Das,
meine Damen und Herren, ist eine gute Bilanz, die zum
20-jährigen Gründungstag zum Feiern einlädt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik
- Drucksachen 17/2434, 17/3084 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Müller ({1})
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Als Erstem gebe ich dem Kollegen Gero Storjohann
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke fordert mit ihrem Antrag
eine amtliche Statistik der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland. Es ist richtig, dass die Bundesregierung keine eigenen Erhebungen zur Entwicklung der
Obdach- und Wohnungslosigkeit durchführt.
({0})
Auch in den Bundesländern existieren keine flächendeckenden Daten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass uns
keine Zahlen vorlägen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe veröffentlicht jährlich Schätzzahlen. Demnach ist seit 1998 die Zahl der Wohnungslosen
in Deutschland kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008
ging man von 227 000 Menschen aus, die in Deutschland wohnungslos sind. Das waren 6 Prozent weniger als
ein Jahr zuvor. 20 000 Menschen davon lebten ohne jegliche Unterkunft auf der Straße. Das sind immer noch
20 000 zu viel; aber es sind auch 1 000 weniger als noch
im Jahre 2007.
Die CDU/CSU-Fraktion tut alles, um Wohnungs- und
Obdachlosigkeit in Deutschland zu bekämpfen. In den
letzten Jahren wurde viel erreicht. Eine weitere Statistik
löst die Probleme der Wohnungs- und Obdachlosen natürlich nicht. Aber die Frage ist, ob eine Statistik vielleicht eine Hilfe ist, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit
zu vermeiden oder zu verhindern. Wir als Union meinen,
dass die Statistik eine Scheinlösung eines realen Problems wäre; denn Obdachlose brauchen konkrete Hilfen.
Diese Unterstützung bietet unser Sozialstaat längst an.
Das SGB II garantiert jedem erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen die finanziellen Mittel für eine angemessen
ausgestattete Wohnung. Die Kosten für Unterkunft und
Heizung werden im Notfall getragen. In Deutschland
muss niemand obdachlos sein. Auch Mietschulden übernimmt im Notfall der Staat. In Deutschland wird niemand zur Obdachlosigkeit gezwungen. Es ist der Sozialstaat, der den wohnungs- und obdachlosen Menschen in
Deutschland hilft.
Art. 1 unserer Verfassung legt fest:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Wir sind uns wohl alle einig, dass es zu einem menschenwürdigen Leben gehört, ein Dach über dem Kopf
zu haben.
({1})
Deshalb halten wir entsprechende finanzielle Mittel im
Sozialhaushalt bereit, und deshalb unterstützen wir beispielsweise Wohnheime, die ein Ausweg aus der Obdachlosigkeit sein können. Wir versuchen durch konkrete Sozialpolitik, Menschen in Notlagen zu helfen
oder Notlagen erst gar nicht entstehen zu lassen.
Aber eine Statistik ohne Aussagekraft bietet natürlich
auch keinen Hinweis auf Problemlösungen. Die CDU/
CSU-Fraktion hält den Antrag der Linken deshalb nicht
für zielführend. Darüber hinaus würde eine solche Erhebung unter praktischen Mängeln leiden. Das ist auch den
Antragstellern bekannt. Schließlich debattieren wir dieses Thema nicht zum ersten Mal.
So hat das Statistische Bundesamt Ende der 90erJahre eine Machbarkeitsstudie durchgeführt. Das Ergebnis: Wir können nur diejenigen verlässlich zählen, die in
Einrichtungen für Obdachlose eingeliefert wurden. Wir
können nur die Personen zählen, die bereits in Kontakt
mit Ordnungsbehörden getreten sind.
Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Nichtsesshafte kaum statistisch zu erfassen sind - wenn ja, dann
wo? -; man kann das also praktisch nicht umsetzen.
Würden wir also eine Studie in Auftrag geben, wäre das
Ergebnis nicht so aussagekräftig, wie es den Anschein
erweckt. Außerdem würde eine entsprechende Statistik
erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vorliegen.
Der Wohnungsmarkt bzw. die Bedürfnisse der Wohnungslosen entwickeln sich aber dynamisch. Eine Statistik würde nie die aktuelle Lage realistisch und ausreichend abbilden.
({2})
Die CDU/CSU steht für gute Sozialpolitik. Wir helfen
den Wohnungs- und Obdachlosen, indem wir versuchen,
sie in ihrer Notlage aufzufangen. Dazu gehören finanzielle Hilfen sowie karitative Einrichtungen. Wir werden
aber keine Statistik auf den Weg bringen, deren Aussagekraft nicht über die einer Schätzung hinausgehen
würde. Deshalb lehnen wir den Antrag der Linken ab.
({3})
Der Kollege Sören Bartol spricht für die Fraktion der
SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade in
Großstädten wie Berlin sehen wir immer wieder Menschen, die augenscheinlich kein Zuhause haben: Leute,
die nach Kleingeld fragen, eine Straßenzeitung verkaufen, in Notquartieren übernachten oder gar ohne jedes
Obdach sind. Das ist der für uns alle sichtbare Teil des
Problems der Wohnungslosigkeit. Er ist zwar sichtbar,
aber statistisch nicht leicht zu erfassen; darauf komme
ich noch zu sprechen.
Wohnungslosigkeit betrifft noch viel mehr Menschen,
die aber im Alltag unsichtbar bleiben. Dabei handelt es
sich um solche, die bei Freunden oder Verwandten übernachten, in selbstbezahlten Billigpensionen wohnen oder
in Unterkünften verschiedenster Träger untergebracht
sind.
Etwas weiter gedacht, muss man in diesem Zusammenhang auch die Menschen betrachten, die konkret
vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind, weil zum Beispiel ihr Vermieter oder ihre Vermieterin versucht, sie
herauszuklagen. Es müssen auch die Menschen Beachtung finden, die unter unzumutbaren Umständen leben:
in viel zu kleinen Wohnungen mit viel zu vielen Personen oder aber zu Mieten, die ihre finanziellen Verhältnisse bei weitem übersteigen. Diese Menschen haben
keine angemessene Wohnung, finden aber offensichtlich
keine bessere, die für sie infrage kommt.
Es gibt viele verschiedene Gründe, eine Wohnung zu
verlieren bzw. keine angemessene Bleibe zu finden. Das
reicht von finanziellen Ursachen bis hin zum grundsätzlichen Unvermögen, sich um sich selbst zu kümmern, sei
es aufgrund von Krankheit, Sucht oder traumatischen
Ereignissen wie Arbeitsplatzverlust, Trennung oder Tod
von Angehörigen.
Mit dieser Aufzählung habe ich versucht, die Vielschichtigkeit des Themas Wohnungslosigkeit zu verdeutlichen. In Deutschland gab es 2008 ungefähr
230 000 Wohnungslose und circa 100 000 von Wohnungslosigkeit Bedrohte, zusammen also, wie es heißt,
etwa 330 000 Wohnungsnotfälle. Dies sind Schätzungen
der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe;
denn eine offizielle Statistik gibt es in der Tat nicht. Das
hat die Linksfraktion gut erkannt.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion hat das erkannt,
und zwar schon 1993. Damals hat die SPD im Bauausschuss eine bundesweite Statistik über Wohnungslosigkeit gefordert. Dieses Anliegen wurde vom Ausschuss
sogar in einen gemeinsamen Antrag übernommen, der
auch im Plenum verabschiedet wurde. Daraufhin hat die
Bundesregierung beim Statistischen Bundesamt eine
Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Diese lag im
Jahr 1998 vor. Daraufhin hat sich der Bauausschuss erneut mit der Thematik befasst. Letztlich wurden die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie einem Praxistest durch
das nordrhein-westfälische Landesamt für Statistik unterzogen. Das geschah bis 2002.
Es hat sich gezeigt, dass es viele methodische
Schwierigkeiten gibt, wenn man versucht, möglichst alle
Wohnungsnotfälle statistisch zu erfassen. Um nur ein
Problem zu erwähnen, das ich schon zu Beginn ansprach: Die Erfassung von auf der Straße lebenden Wohnungslosen, die vielleicht nicht einmal Hilfe in Anspruch nehmen, ist wohl nicht sauber möglich. Das hat
auch die Machbarkeitsstudie des Statistischen Bundesamtes gezeigt. Deshalb wurde diese Gruppe bei einer
NRW-Folgestudie von 2002 von vornherein von der Betrachtung ausgenommen. Das ist problematisch; denn die
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt,
dass jeder zehnte Wohnungslose ohne jegliche Unterkunft ist; Angaben aus Berlin sind noch viel höher. Wir
sprechen also über eine signifikante Gruppe, deren ganz
spezielle und signifikante Probleme wir nicht aus den
Augen verlieren dürfen, wenn es einmal eine bundesweite Statistik geben sollte, in der sie dann möglicherweise gar nicht auftauchen.
Gefordert wird eine Bundesstatistik über Wohnungslosigkeit. Zuständig für soziale Wohnraumförderung
sind seit der Föderalismusreform allerdings die Länder.
Mindestens ebenso wichtig, um Wohnungslosigkeit zu
verhindern oder zu beenden, sind konkrete Hilfs- und
Beratungsangebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen. Diese Angebote zur Verfügung zu stellen, ist
wiederum hauptsächlich eine Aufgabe der Kommunen.
Bleibt also die Frage, ob eine Bundesstatistik für die
Bekämpfung von Wohnungslosigkeit wirklich hilfreich
ist, wenn die eigentliche Zuständigkeit bei Ländern,
Städten und Gemeinden liegt. Vielleicht ist eine regionale Sozialberichterstattung ja eine viel bessere Grundlage, zumal Bundesländer und Kommunen ganz unterschiedliche Systematiken haben, die erst einmal in einen
einheitlichen methodischen Rahmen gebracht werden
müssten.
Es gibt zu viele Menschen ohne Wohnung und zu
viele Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht
sind; das steht außer Frage. Daran ändert auch die wirklich gute Entwicklung der letzten zehn Jahre nichts. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht
davon aus, dass sich dieser langjährig positive Trend gerade wieder umkehrt, das Problem also wieder drängender wird.
Es ist daher durchaus nachvollziehbar, eine Statistik
zu fordern. Ich habe trotz aller eben aufgezählten
Schwierigkeiten auch große Sympathien dafür. Gerade
deshalb - das muss ich an dieser Stelle deutlich sagen finde ich es so ärgerlich, dass sich die Linksfraktion bei
diesem Thema jetzt so halsstarrig verhält. Denn sie beerdigt diesen Antrag - das muss man so deutlich sagen heute ohne Not. Es wäre erheblich glaubwürdiger gewesen, wenn Sie unserem Vorschlag gefolgt wären und die
Beratung Ihres Antrags einfach verschoben hätten.
({0})
Selbst die CDU/CSU-Fraktion ist Ihnen entgegengekommen und hat im Ausschuss Gesprächsbereitschaft signalisiert. Aber Sie peitschen diesen Antrag heute lieber
durchs Parlament, ohne auf die Chancen zu achten, die
Sie damit in meinen Augen völlig zerstören! Es besteht
noch Beratungs- und Informationsbedarf, bevor ich mich
und bevor sich meine Fraktion eindeutig für eine Bundesstatistik aussprechen kann. Das geht auch anderen
Kollegen im Ausschuss so. Hat sich die Datenlage seit
der letzten Machbarkeitsstudie geändert? Gibt es vielleicht neue methodische oder technische Möglichkeiten?
Welche aktuellen Erkenntnisse haben eigentlich Soziologie und Sozialarbeit? All diesen Fragen konnten wir jetzt
nicht mehr nachgehen, da Sie einer Vertagung leider
nicht zugestimmt haben. In meinen Augen haben Sie der
Sache einen echten Bärendienst erwiesen. Ich hoffe, dass
wir trotzdem bald erneut über das Thema Wohnungslosigkeit sprechen können - dann aber in der angemessenen Gründlichkeit und ohne künstlichen Termindruck.
Eines muss ich noch sagen, um nicht nur der Linkspartei etwas mit auf den Weg zu geben. Erlauben Sie mir
deshalb abschließend noch ein Wort zur Bundesregierung. Schwarz-Gelb hat nämlich vor, den Schutz von
Mietern zu senken. So sollen die Kündigungsfristen für
Vermieter und Mieter „einheitlich“ sein; das ist ein Zitat
aus dem Koalitionsvertrag von 2009. Das bedeutet die
Gleichberechtigung von ungleichen Partnern. Gerade
diejenigen Mieter, die nicht gut aufgestellt sind - sei es
finanziell oder von ihrer Fähigkeit her, sich um sich
selbst zu kümmern -, brauchen Schutz.
({1})
Unser aktuelles Mietrecht hat sich bewährt; es hat zu
einem insgesamt sehr ausgeglichenen Wohnungsmarkt
geführt. Ich finde, daran sollten wir nicht rütteln - im Interesse von Menschen, die sonst Gefahr laufen, wohnungslos zu werden, aber auch im Interesse von anderen
Mietern, die einfach in Ruhe leben möchten, also ohne
die ständige Bedrohung, in einem Vierteljahr umziehen
zu müssen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche
Ihnen noch einen schönen Abend.
({2})
Erst einmal noch einen schönen Abend hier im Plenum! Nicht dass jetzt alle gehen!
Ich gebe das Wort der Kollegin Petra Müller für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für Sie und für mich gehört es zu den Selbstverständlichkeiten, ein Dach über dem Kopf zu haben - ein
Dach, das uns nicht nur vor Regen und Wetter schützt,
sondern das auch Geborgenheit, Rückzugsmöglichkeit
und Privatheit bedeutet. Es gibt jedoch genügend Menschen in diesem Land, die über keine Wohnung verfügen. Sie können nicht so nach Hause gehen wie wir alle.
Sie können auch nicht die Tür hinter sich schließen, sondern führen meist Tag für Tag einen anonymen Überlebenskampf.
Die Linke fordert jetzt eine Bundesstatistik. „Wohnungslosigkeit stellt einen erheblichen, nicht hinnehmbaren Makel in einer wohlhabenden, auf sozialen Ausgleich bedachten Gesellschaft dar“, so heißt es in ihrem
Antrag.
({0})
Sie haben recht, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
Sie haben auch recht, dass dieser Makel beseitigt gehört.
Jeder Bürger, jede Bürgerin ohne eine Wohnung, ohne
ein Zuhause, ist eine oder einer zu viel. Selbst wenn die
Wohnungslosigkeit im vergangenen Jahrzehnt - Kollege
Bartol hat es ausgeführt - gesunken ist, so ist die gesellschaftliche Aufgabe doch bestehen geblieben. So weit
zur Einigkeit auf allen Seiten.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
machen es sich aber zu einfach. Erst kürzlich, am Tag
der Wohnungslosen, am 23. September - ich war übrigens nicht eingeladen, Frau Kollegin Bluhm -, verteilte
Kollegin Lötzsch in Berlin mit der Gießkanne Steuergelder für jedermann.
({1})
Ob Energiewirtschaft, ob Herr Sarrazin, unsere Soldatinnen und Soldaten im UN-Einsatz, ob der Außenminister
persönlich, indem er ein paar Infobroschüren weniger
drucken lässt - alle sollen zahlen, der Sozialstaat wird es
schon richten. Wohltätigkeit kann aber nicht so einfach
sein, jedenfalls nicht, wenn man Regierungsverantwortung trägt.
Das Problem ist viel komplexer und viel ernster. Wir
Liberale sagen: Der Sozialstaat soll niemanden alleine
lassen, der in Not geraten ist. Es ist unsere ethische
Pflicht und moralische Verantwortung, Notanker zu sein
für alle, die sich selbst nicht mehr helfen können. Ja, wir
tun das mit dem gesamten Spektrum des sozialstaatlichen Leistungspakets, mit konkreter öffentlicher Fürsorge. Nein, wir tun das nicht mit einer Statistik.
({2})
- Danke schön. Nein, ich glaube nicht, dass ein Zahlenwerk hilft, mehr Menschen Obdach zu geben. Im Gegenteil: Die Machbarkeitsstudie und der Praxistest in NRW
- der Kollege hat es eben ausgeführt - haben gezeigt,
dass erstens nur eine Teilerfassung von Wohnungslosen
möglich ist und zweitens der bürokratische Aufwand
und die Kosten dafür absolut zu hoch sind.
Wir dürfen das Problem nicht bürokratisch behandeln, sondern wir müssen es an der Wurzel packen. Ja,
der Weg aus der Wohnungslosigkeit geht über Chancengerechtigkeit, die Chance, selbst wieder auf eigenen Füßen zu stehen und in den Arbeitsmarkt zu kommen. Ja,
der Weg aus der Wohnungslosigkeit geht über einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und nicht über massive
Petra Müller ({3})
Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau, wie es die rotgrüne Minderheitsregierung in NRW plant.
({4})
- Ja, ja! Drittens. Der Weg aus der Wohnungslosigkeit
geht über staatliche Unterstützung, Stichwort: Wohngeld.
So konkret kann Politik sein, dann hilft sie. Um die
Wohnungslosigkeit in Deutschland weiter zu minimieren, müssen wir, die christlich-liberale Koalition, die
Menschen befähigen, ihr Leben selbst zu gestalten und
aus eigener Kraft Chancen zu nutzen. Der vorliegende
Antrag hilft nicht. Deshalb sagen wir Nein zu diesem
Antrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Heidrun Bluhm hat nun das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie eigentlich, wie viele Bleistifte und
Zahnbürsten ein Bürger unserer Republik pro Jahr im
Durchschnitt verbraucht? Wissen Sie, wie viele Eier er
isst? Wissen Sie, wie oft er Lotto spielt oder wie oft er
seine Hemden wechselt? Das wissen Sie nicht? Das
macht nichts. Sie können es im Statistischen Jahrbuch
des Statistischen Bundesamtes nachlesen.
Sie wissen auch nicht - Sie können es auch nicht in
Erfahrung bringen -, wie viele wohnungslose Menschen
wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, wie viele
Männer, Frauen und Kinder von Wohnungslosigkeit betroffen sind, wie viele davon in Ihrem Wahlkreis leben.
Darüber gibt es keine Zahlen, nirgendwo. Wir verlassen
uns auf die Zahlen, die die BAG Wohnungslosenhilfe
schätzt. Damit gehen wir um.
Ich finde die Debatte, die vor allem meine Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition geführt haben,
scheinheilig; denn sie wollen gar nicht wissen, sie wollen sich nicht vor Augen führen lassen, wie groß die
Zahlen tatsächlich sind. Sie führen Schwierigkeiten an
und weisen darauf hin, wie schwer das alles ist. Natürlich ist das schwierig. Natürlich sind die Umstände nicht
leicht. Aber Sie versuchen es ja nicht einmal.
Ein Punkt, der Ihre Scheinheiligkeit zeigt: Frau
Müller, ich bin auf dem Alexanderplatz gewesen, Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen auch.
({0})
Sie sagen, Sie waren nicht eingeladen. Das kann ich
nicht beurteilen. Von allen anwesenden Kolleginnen und
Kollegen, auch von denen aus Ihrer Fraktion, ist der
Wunsch der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, zu einer bundeseinheitlichen Statistik zu kommen, begrüßt worden.
Zweite Scheinheiligkeit: Auf Antrag aller Fraktionen
hat es in den 90er-Jahren eine Machbarkeitsstudie gegeben, weil Sie alle der Auffassung waren, dass Sie diese
Statistik brauchen. Dann haben Sie festgestellt, dass
diese Statistik schwer zu erstellen ist.
({1})
Dann lassen Sie es eben, und damit ist das Problem vom
Tisch. Das ist die dritte Scheinheiligkeit. Weil es keine
Zahlen gibt, fehlt der Beweis dafür, dass es das Problem
gibt. Wohnungslosigkeit gibt es also nicht.
({2})
- Ich habe Sie nicht persönlich gemeint, Frau Müller.
Hier ist eben gesagt worden, dass Menschen freiwillig
unter der Brücke schlafen. Es ist gesagt worden, dass es
genügend Wohnraum gibt. Jeder kann die Hilfe in Anspruch nehmen, ist hier gesagt worden.
({3})
Schließlich stellen wir fest, dass zu dieser Frage im
Koalitionsvertrag nichts, aber auch gar nichts steht.
Selbst im Wohngeld- und Mietenbericht der Bundesregierung steht nichts dazu. Wir blenden auch dieses Problem aus und überlassen es denjenigen, die davon betroffen sind.
Ich denke, ich muss meine Redezeit nicht unnötig
verlängern. Unser Antrag ist klar. Er ist weder populistisch noch ideologisch. Er ist auch nicht links; auch das
will ich hier deutlich sagen. Er ist einfach notwendig.
Lassen Sie es uns einfach tun. Lassen Sie uns beschließen, die Daten für die Statistik zu erheben. Danach werden wir weiter an den Inhalten arbeiten müssen. Ich kann
Ihnen versprechen - Herr Bartol, auch Ihnen -: Wir werden nicht aufgeben, auch wenn der Antrag heute nicht
angenommen wird. Wir werden in Kürze einen weiteren
Antrag einbringen und Sie dann beim Wort nehmen.
Danke schön.
({4})
Daniela Wagner hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir widmen uns zu ziemlich
später Stunde
({0})
einem Teil unserer Gesellschaft, der oft vergessen, mithin als lästig empfunden wird: den Obdachlosen. Man
begegnet ihnen bisweilen an den einschlägigen Stellen,
hier in Berlin an der U-Bahn. Wenn wir vorbeigehen,
wissen wir, dass wir nicht jedem dieser Menschen helfen
können. Wir können auch nicht verhindern, dass sie die
Anonymität der Straßen in den Großstädten suchen.
Aber wir können natürlich versuchen, die Ursache für
Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, egal welcher Fraktion man
angehört, dürfte eines klar sein: Ein Leben ohne festen
Wohnsitz, ohne den Schutz einer Wohnung und einer
Haustür, die man abends zumachen kann, wünschen wir
alle niemandem.
Das Problem der Wohnungslosigkeit beginnt allerdings bereits vor dem Verlust der festen Unterkunft. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft hat zu Recht darauf hingewiesen, dass drei Gruppen unterschieden werden müssen: Wohnungslose, von Wohnungslosigkeit Bedrohte
und Menschen, die in unzumutbaren Wohnverhältnissen
leben. Deswegen müssen Hilfsangebote jedweder Art
zielgruppen- und geschlechtsspezifisch ausgerichtet
werden. Genau dafür brauchen die Praktikerinnen und
Praktiker vor Ort ausdifferenzierte Kenntnisse, die über
eine Bundesstatistik zentral gewonnen werden könnten.
Bei aller Einsicht hinsichtlich der operativen Probleme, die das bereitet, sind wir der Auffassung, dass
man dem Antrag der Fraktion der Linken zustimmen
kann und die Beschlussempfehlung des Ausschusses ablehnen muss.
Aber machen wir den zweiten Schritt nicht vor dem
ersten. Wir müssen verhindern, dass Menschen wohnungslos werden, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können. Das betrifft vor allem die Menschen in den
Großstädten und den Ballungsräumen mit ihrer relativen
Anonymität. Dort leben häufig Menschen in prekären
sozialen Lebenslagen. In diesem Zusammenhang ist
festzustellen: Wegen der derzeit angekündigten mieterfeindlichen Politik der Bundesregierung ist davon auszugehen, dass die in der Tat zurückgegangene Zahl der
Wohnungslosen in den kommenden Jahren wieder deutlich ansteigen wird.
({1})
Wir wissen natürlich, dass die Wohnungslosigkeit durchaus mit der Situation auf dem Wohnungsmarkt und mit
den Mietpreisen korreliert.
Es kommt noch etwas hinzu: Wenn Sie zum Beispiel
die Kosten der Unterkunft pauschalieren, wird auch das
natürlich in erhöhtem Maße Wohnungslosigkeit produzieren.
Meine Damen und Herren, gerade wir als Grüne wissen natürlich - das findet auch unsere Zustimmung -,
dass der Wohnungsmarkt umfassend energetisch saniert
werden muss.
({2})
Aber - es ist ganz wichtig, das hier festzustellen - wir
dürfen und können das nicht vorwiegend auf dem Rücken der Mieterinnen und Mietern abladen, wie Sie es
anscheinend vorhaben.
({3})
Man hat ja in diesen Tagen gelesen, was Sie vorhaben.
({4})
Sie haben vor, die Modernisierungsumlage stark zu steigern, sodass ein wesentlich größerer Anteil der Modernisierungskosten auf die Miete umgelegt werden kann.
Das wird zu eklatanten Mietsteigerungen führen.
({5})
Schon jetzt ist es so, dass eine umfassende energetische Sanierung Mietsteigerungen von bis zu 200, 300
oder 400 Euro zur Folge haben kann. Sie werden sehen,
dass sich das natürlich auch beim Thema Obdachlosigkeit auswirken wird.
({6})
Deswegen sagen wir: Wir wollen uns hier nicht aus
der Verantwortung stehlen. Der Antrag der Linken ist
durchaus mitzutragen. Wir wollen eine Datengrundlage
haben, die es ermöglicht, tatsächlich wirksame Handlungsansätze zu entwickeln. Deswegen werden wir dem
Antrag zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen guten Nachhauseweg.
({7})
So weit sind wir noch nicht. Es bleiben alle hier. Daniela Raab hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit ist nicht nur in
Deutschland, sondern weltweit ein Zustand, in dem immer noch - das bestreitet hier sicherlich keiner - viel zu
viele Menschen leben. Es stimmt natürlich, dass es keine
bundeseinheitliche Datenerfassung gibt. Ich möchte hier
nicht allzu viel von dem wiederholen, was meine Kolleginnen und Kollegen richtigerweise schon ausgeführt
haben. Ich glaube schon, dass der Vorschlag vom Grundsatz her richtig ist. Aber ich sehe noch nicht, wie wir ihn
praktikabel umsetzen können.
Deswegen möchte ich gleich zu Anfang sagen: Mir
wäre es sehr recht gewesen, wenn Sie selber Ihren eigenen Antrag so ernst genommen hätten, dass Sie ihn einer
Debatte zugeführt hätten, und zwar nicht nur einer ZehnMinuten-Debatte im Ausschuss und heute einer zu relativ später Stunde, und wenn Sie das Angebot angenommen hätten und über die Brücke gegangen wären, die wir
Ihnen gestern im Ausschuss gerne gebaut hätten, indem
wir sagen: Wir setzen uns einmal zusammen, schauen
uns das Thema an und versuchen zu ergründen, ob wir
das bundesweit tatsächlich so erfassen können, dass es
denen hilft, denen es helfen soll, nämlich den Obdachlosen, oder ob es wieder nur denjenigen hilft, die eine
Statistik aufstellen, die dann wiederum keinen interessiert, weil man mit ihr nichts anfangen kann, weil sie
nicht aussagekräftig ist. Das ist der Grund, weshalb wir
uns hier sperren.
({0})
Um auch das gleich vorwegzunehmen: Ich muss aus
Ihrem Verhalten, über die von uns angebotene Brücke
nicht zu gehen, schließen, es ginge Ihnen darum, hier
einmal ein Ballyhoo zu diesem Thema zu machen und
dann zu sagen: Hier sitzen ein paar ganz Böse, die sich
mit dem Thema nicht auseinandersetzen wollen und uns
dann überstimmen. - Ich muss ganz einfach sagen, da
haben Sie ganz offensichtlich ein sehr sensibles, sehr
ernstes und sehr wichtiges Thema einfach nur der Parteitaktik geopfert. Das kann ich so nicht gut finden.
({1})
Wir haben natürlich auch schon gehört, wie vielfältig
die Gründe dafür sein können, ohne Wohnung, ohne Obdach zu leben. Ich möchte sie hier nicht wiederholen. Es
sind vielfach menschliche Schicksale, die wir alle Gott
sei Dank nicht teilen müssen und hoffentlich nie teilen
werden. Ich glaube - da stimme ich meinem Kollegen
Storjohann, aber ganz ausdrücklich auch Ihnen, Herr
Bartol, zu -, wichtig ist schon, was wir vor Ort machen
und was wir den Menschen vor Ort anbieten; denn - ich
sage es noch einmal - mit einer Statistik, in der vielleicht
nur die Hälfte derer erfasst ist, die betroffen sind, helfen
wir den Betroffenen nicht. Wir helfen ihnen eigentlich
nur mit konkreten Angeboten.
Natürlich sind die Länder hierfür zuständig. So ist es
nun einmal. Es hat aber auch schon vonseiten des Bundes Initiativen gegeben. Der Bund hat diese Zielgruppe
zum Beispiel in das Wohnraumförderungsgesetz aufgenommen und schon im Vorfeld in den Verwaltungsvereinbarungen zwischen Bund und Ländern festgelegt,
dass der Versorgungsauftrag des sozialen Wohnungsbaus
die Wohnungslosen einschließt und sie zu den vordringlich zu behandelnden Gruppen zählt. Das zumindest
kann der Bund mit den Ländern vereinbaren. Das hat er
auch gemacht.
Ich nehme einmal mein Bundesland Bayern als Beispiel und frage: Was wird dort für die Wohnungslosen
getan? Jeder Kollege kann auf diese Frage hin zahlreiche
praktische und konkrete Hilfsangebote aufzählen. Es
gibt bei uns die Konferenz der Wohnungslosenhilfe. Das
ist ein Gremium, in dem sich ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen zusammengeschlossen haben, um
gemeinsam die Belange wohnungsloser Menschen zu
behandeln.
({2})
- Nein. Bitte keine Zwischenfragen mehr. Sie hatten
gestern ausführlich Zeit. Sie hatten vorher auch Redezeit.
({3})
Ich sage Ihnen auch, Frau Bluhm: Wenn Sie sich ernsthaft mit uns hätten unterhalten wollen, dann hätten Sie
gestern unser Angebot dazu angenommen. Dann müssten Sie jetzt auch keine Zwischenfrage stellen. So einfach ist das.
({4})
Des Weiteren gibt es in Bayern den Fachausschuss
Wohnungslosenhilfe. Das ist die Wohnungslosenhilfe
der Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und
freien Wohlfahrtspflege. Es sind also alle dabei, die mit
wohnungslosen Menschen zu tun haben. Sie wissen, wo
sie sich aufhalten, und vielleicht auch, wie sie ihnen helfen können. Darüber hätten wir uns wunderbar austauschen können. Aber nicht nur das: Wir hätten auch darüber reden können, wie konkret die Angebote in den
anderen Bundesländern tatsächlich sind, und was wir
von der Bundesseite noch tun können. Dann wären wir
vielleicht zu einem Ergebnis bei der Frage gekommen:
Brauchen wir die Statistik, oder brauchen wir sie nicht?
Ich weiß es nicht.
({5})
- Ich rede jetzt nicht für meinen Koalitionspartner, sondern, wie gestern im Ausschuss auch, für meine Fraktion. Da sind wir uns einig. Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist nur parteipolitisches Geplärr. Das ist einzig
und allein eine Debatte, um uns vorzuführen. Das ist Ihnen aber Gott sei Dank nicht gelungen. Wir setzen uns
nämlich inhaltlich mit dem Thema auseinander; das haben Sie leider nicht so getan. Nur: Das wird nicht reichen, und das lasse ich mir hier nicht gefallen.
({6})
Wer ernst gemeinte Angebote abschlägt, darf sich im
Nachhinein nicht wundern, wenn er keine Mehrheiten
findet. Vielleicht machen Sie es beim nächsten Mal anders. Wir wollen uns diesem Thema gerne weiterhin nähern. Ich glaube, die Angebote waren deutlich und vielfältig. Damit darf ich diese Debatte abschließen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3084, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/2434 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition angenommen.
Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. Dagegen haben
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke gestimmt.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens
Ackermann, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen Gemeinsam die Entwicklung ländlicher
Räume stärken
- Drucksache 17/2478 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben haben die
Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler, Klaus
Brähmig, Heinz Paula, Jens Ackermann, Kornelia
Möller, Markus Tressel und der Parlamentarische Staats-
sekretär Ernst Burgbacher.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2478 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn
auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen
- Drucksache 17/2488 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolle-
ginnen und Kollegen Steffen Bilger, Ulrich Lange, Ute
Kumpf, Sibylle Laurischk, Sabine Leidig und Kerstin
Andreae.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2488 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung
1) Anlage 4
2) Anlage 5
des Benachrichtigungswesens in Nachlass-
sachen durch Schaffung des Zentralen Testa-
mentsregisters bei der Bundesnotarkammer
- Drucksache 17/2583 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute
Granold, Christoph Strässer, Jens Petermann, Ingrid
Hönlinger und der Parlamentarische Staatssekretär Max
Stadler.3)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/2583 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie
- Drucksache 17/3023 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Peter Aumer, Martin Gerster,
Frank Schäffler, Dr. Axel Troost und Dr. Konstantin von
Notz.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die Bun-
desregierung die Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 16. September 2009 in natio-
nales Recht um. Der damalige Binnenmarkt-Kommissar
Charlie McCreevy bewerte die Richtlinie im Januar
2010 folgendermaßen: „Diese Richtlinie wird nicht nur
das Zahlungssystem in der EU verbessern, sondern
ebenfalls den Weg für konkrete Vorteile der Verbraucher
aus der Integration der Finanzmärkte ebnen.”
Die Zweite E-Geld-Richtlinie über die Aufnahme, Aus-
übung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von E-Geld-In-
stituten wird fristgerecht bis zum 30. April 2011 in deut-
sches Recht umgesetzt. Von den Änderungen betroffen
sind das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz, das Geld-
wäschegesetz, das Handelsgesetzbuch und das Unterlas-
sungsklagengesetz. Die aufsichtsrechtlichen Vorschrif-
ten der Zweiten E-Geld-Richtlinie sehen für die neue
Institutskategorie der E-Geld-Institute ein spezifisches
Erlaubnisverfahren und besondere Regelungen für die
laufende Aufsicht vor. Diese werden in das Zahlungs-
diensteaufsichtsgesetz aufgenommen, und im Gegenzug
dazu werden E-Geld-Institute aus dem Kreditwesenge-
setz herausgelöst.
Im Zuge der Umsetzung werden weitere Änderungen
in den genannten Aufsichtsgesetzen vorgenommen, die
Defizite bei den geldwäscherechtlichen Normen beseiti-
3) Anlage 6
gen sollen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland
wirksamer vor einem Missbrauch durch Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung zu schützen.
Die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie in den
Vertragsstaaten der EU bringt wesentliche Vorteile für
unseren Wirtschaftsraum:
Erstens. Sie schafft einen modernen und rechtlich kohärenten Zahlungsverkehrsraum für die Ausgabe von
elektronischem Geld im Europäischen Binnenmarkt. Auf
diese Weise wird der Weg für neue innovative und sichere E-Geld-Dienstleistungen geebnet.
Zweitens. Sie fördert faire Wettbewerbsbedingungen
und setzt gleiche Marktzugangskriterien für alle Zahlungsdiensteanbieter einschließlich der E-Geld-Institute.
Drittens. Sie initiiert einen echten und wirkungsvollen Wettbewerb.
Viertens. Sie schafft einen einheitlichen aufsichtsrechtlichen Rahmen.
Wie sehen die Änderungen konkret aus? Nach der
Zweiten E-Geld-Richtlinie ist die Kreditinstitutseigenschaft nun nicht mehr zwingende Voraussetzung für das
Betreiben des E-Geld-Geschäfts. Mit der Durchsetzung
des Erlaubnisvorbehaltes, der Zulassung und der laufenden Aufsicht über die E-Geld-Institute wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({0})
beauftragt werden. Durch die Modifizierung der bestehenden Regelungen soll bewirkt werden, dass in
Deutschland die Nachfrage an E-Geld-Lizenzen erhöht
wird und sich auch deutsche E-Geld-Institute auf dem
europäischen Markt etablieren können. Entscheidend ist
hier auch, dass diese nun ein erweitertes Tätigkeitsfeld
haben sollen und zusätzliche Dienstleistungen anbieten
dürfen. Zukünftig sollen Internetzahlungen verstärkt
auch mit E-Geld möglich werden. In dieses Marktsegment sind bereits ausländische Anbieter wie PayPal vorgestoßen. Die Gesetzesänderung soll nun auch inländischen Unternehmen diesen Markt eröffnen.
Zudem soll die „Geldkarten“-Funktion, über welche
viele inländische EC-Karten-Besitzer die Möglichkeit
besitzen, ihre Karte an SB-Terminals mit E-Geld aufzuladen, erweitert werden. Damit soll die Handhabung
benutzerfreundlicher gestaltet und auch der Einsatz von
E-Geld vielseitiger und attraktiver gemacht werden.
Überdies beseitigt die Richtlinie Defizite im deutschen Rechtssystem, die die Financial Action Task Force
on Money Laundering ({1}) im Deutschland-Bericht
vom 18. Februar bei der Bekämpfung von Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung feststellte. Gerade in
Deutschland ist die Umsetzung der Richtlinie und die
Beseitigung der angesprochenen Defizite besonders
wichtig. Im europäischen Vergleich ist das Angebot qualitativ hochwertiger Finanzdienstleistungen bei uns besonders hoch. Hinzu kommen die zentrale geografische
Lage Deutschlands, die engen wirtschaftlichen Beziehungen und die internationale Vernetzung der deutschen
Wirtschaft, die eine lückenlose, genaue und effiziente
Implementierung der internationalen Vorgaben gerade
in Deutschland besonders wichtig machen.
Deutschland ist als Gründungsmitglied der FATF seit
ihrer Bildung 1989 aktiv an der Erarbeitung und Weiterentwicklung der international anerkannten Standards
zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich immer zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt. Der vorliegende Gesetzentwurf muss begrüßt werden.
Es ist fast schon eine ökonomische Binsenweisheit,
dass unsere Wirtschaft in erheblichem Maße auf Vertrauen basiert. Die jüngste Finanzkrise hat uns deutlich
vor Augen geführt, wie sensibel die ökonomischen Seismografen auf Signale der Unsicherheit reagieren. Große
Bankhäuser, ja ganze Staaten geraten ins Wanken, wenn
das Vertrauen in ihre Kreditwürdigkeit schwindet. Und
ohne den Glauben an die Stabilität seiner Kaufkraft ist
unser Geld letztendlich nicht viel mehr als bedrucktes
Papier.
Gerade im Umgang mit Geld und den Instituten, die
es verwalten, ist es deshalb unerlässlich, Vertrauen zu
schaffen und die Verbraucher vor Schaden zu schützen.
So auch im Falle von E-Geld, also digitalem Bargeld,
das auf elektronischen Geräten, Chipkarten oder Servern gespeichert ist.
Wir starten heute mit der Beratung des Gesetzes zur
Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie und diskutieren somit über die Zukunft des E-Geldes in Deutschland.
Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende EU-Richtlinie zielt darauf ab, einen klaren, harmonisierten Aufsichts- und Rechtsrahmen für die Ausgabe von elektronischem Geld in der EU zu schaffen. Bislang führt die
E-Geld-Branche in Deutschland eher ein Nischendasein,
und das Geschäft mit E-Geld wurde weitestgehend von
den herkömmlichen Kreditinstituten übernommen, was
nicht zuletzt an den strengen Reglementierungen gelegen haben dürfte, die den entsprechenden Unternehmen
durch das Kreditwesengesetz bislang vorgegeben waren.
Insofern ist nichts dagegen einzuwenden, hier analog zu
den Zahlungsinstituten für mehr Wettbewerb und
Rechtssicherheit zu sorgen, solange der Kunde und die
Stabilität der Finanzmärkte geschützt werden.
Den von der Bundesregierung gewählten Weg, die
E-Geld-Institute zu diesem Zwecke aus dem Kreditwesengesetz, KWG, herauszunehmen und sie in die Regelungen des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetzes zu integrieren, halte ich im Prinzip für richtig. In der Tat sind
sich die Institutsformen des Zahlungsinstituts und des
E-Geld-Instituts ähnlich genug, um sie in einen gemeinsamen Regelungsrahmen zusammenzuführen, der
den europarechtlichen Vorgaben entspricht. Diesen
Rahmen haben wir im vergangenen Jahr unter Peer
Steinbrück in der Großen Koalition geschaffen. Ich
finde es angemessen, diesen Kurs weiter zu verfolgen,
der eine kluge Balance zwischen einem Mindestmaß an
Wettbewerb und einem Maximum in Sachen Verbraucherschutz anstrebte. Allerdings befürchte ich, dass sich
unter Schwarz-Gelb die Vorzeichen umkehren könnten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wie dem auch sei: Im Ansatz positiv ist der Versuch zu
werten, mit dem vorgelegten Gesetzentwurf auch bestehende Defizite anzugehen, die in Deutschland bei der
Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung
bestehen. So beinhaltet der Gesetzentwurf auch die Zielsetzung, die deutliche Kritik aufzugreifen, welche die Financial Action Task Force, FATF, in ihrem Deutschlandbericht vom Februar 2010 formuliert hat. Seit 1989
widmet sich dieses OECD-Gremium dem Kampf gegen
Geldwäsche und die Finanzierung des internationalen
Terrors. 49 Kriterien umfasst der Kriterienkatalog, anhand derer die Antigeldwäschepolitik der Bundesrepublik durch die Organisation bewertet wurde. Von diesen
erfüllte Deutschland zum Untersuchungszeitpunkt 29 zumindest weitgehend. 15-mal wurde die lediglich teilweise Umsetzung der Empfehlungen moniert, fünfmal
diagnostizierten die FATF-Prüfer, die zentralen Umsetzungskriterien seien mehrheitlich nicht erfüllt. Um ein
Haar wäre Deutschland auf der schwarzen Liste der
FATF gelandet, wie das „Handelsblatt“ seinerzeit berichtete. Ein deutliches Zeichen für vielfachen und
dringlichen Handlungsbedarf.
Tatsächlich nimmt der Gesetzentwurf an mehreren
Punkten Bezug auf die Empfehlungen der FATF und versucht, aufsichtsrechtliche Lücken bei der Behandlung
von Kreditinstituten und Finanzdienstleistern sowie im
Bereich der Versicherungsunternehmen zu schließen. So
weit, so gut. Interessant wird es jedoch, wenn man einen
genauen Blick darauf wirft, welche der 49 geprüften
Kriterien mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angegangen werden. Denn schnell wird deutlich: Ein nicht unwesentlicher Teil der Regelungen, in denen der Gesetzentwurf die FATF-Kritik aufgreift, betrifft Empfehlungen,
die seitens der Prüfer ohnehin als eher weniger problematisch eingeschätzt werden. Zentrale Punkte der
FATF-Kritik bleiben hingegen völlig unberührt. So moniert die Organisation die strafrechtliche Behandlung
von Insiderhandel und Marktmanipulationen, die in
Deutschland nicht als Vortaten zur Geldwäsche angesehen werden. Auch wird kritisiert, dass bei der Verfolgung von Geldwäsche und Terrorfinanzierung beispielsweise Kasinobetrieben, dem Handel mit Edelsteinen und
Edelmetallen oder der Immobilienmaklerbranche nach
wie vor zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, und
das, obwohl diese Berufsfelder - ebenso wie bestimmte
geschützte Berufsgruppen - besonders interessant für
die entsprechenden Kriminalitätsformen sein dürften.
So richtig die Ansätze des hier zur Beratung anstehenden Gesetzentwurfes im Prinzip auch sein mögen: Es
kann keinesfalls die Rede davon sein, dass damit die
substanziellen Kritikpunkte der FATF aus der Welt wären. Im Gegenteil: Auf diesem Feld bleibt noch viel zu
tun.
Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung ihren in der
Begründung des Gesetzentwurfes nachdrücklich dokumentierten Willen auch in der weiteren gesetzgeberischen Praxis zeigen wird. Seitens der FATF steht die
nächste Bewertung Deutschlands 2012 an. Wir werden
sehr genau im Auge behalten, welche Schritte die Bundesregierung bis dahin ergreifen wird, um die nach wie
vor bestehenden Schwächen im Kampf gegen Geldwäsche und die Finanzierung des internationalen Terrors
aufzuarbeiten.
Die Europäische Union hat in den letzten Monaten
viele Schlagzeilen gemacht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird mal wieder eine konkrete Maßnahme
im Interesse der Unions-Bürger umgesetzt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schafft einen Rechtsrahmen für die Beaufsichtigung von Unternehmen, die elektronisches Geld ausgeben. Elektronisches Geld, das auf
einem Datenträger ({0}), auf einem
Server oder einem Zahlungskonto gespeichert ist, kann
im Austausch gegen gesetzliche Zahlungsmittel vom
Kunden für Zahlungsvorgänge verwendet werden.
Die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie ist ein
weiterer Baustein auf dem Weg zu einem modernen Zahlungsverkehrsraum im Binnenmarkt. Ziel ist es, den
Wettbewerb auch in diesem Bereich des Binnenmarkts
zu intensivieren.
Vor gut einem Jahr haben wir im Bundestag vergleichbare Regelungen für die sogenannten Zahlungsinstitute geschaffen. Nun bauen wir die Kategorie der
E-Geld-Institute in das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz
ein. Da nach der Richtlinie nicht mehr vorausgesetzt
wird, dass ein E-Geld-Institut auch Kreditinstitut im
Sinne des Kreditwesengesetzes, KWG, ist, sind die entsprechenden Vorschriften des KWG aufzuheben. Der
Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt die Richtlinie
eins zu eins um. Wir werden im Laufe der Gesetzesberatungen prüfen, wo wir im Detail vielleicht noch präzisere Formulierungen wählen können, um Unklarheiten
oder auch unnötige Bürokratie zu vermeiden.
Gerade auf die Vermeidung von unnötigen Bürokratiekosten legen wir als christlich-liberale Koalition ein
besonderes Augenmerk. Der vorliegende Entwurf verursacht geschätzte Bürokratiekosten in Höhe von rund
37 000 Euro. Diese sind jedoch hauptsächlich auf solche
Vorschriften der Richtlinie zurückzuführen, bei denen
wir keinen Umsetzungsspielraum haben.
Darüber hinaus werden wir mit diesem Gesetzentwurf Empfehlungen der Financial Action Task Force on
Money Laundering umsetzen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wirksamer vor Missbrauch durch Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu schützen. Hier
erfolgt insbesondere eine aufsichtsrechtliche Präzisierung von Sorgfalts- und Organisationspflichten. Auch in
diesem Bereich werden wir im Gesetzgebungsverfahren
prüfen, ob es bei einzelnen Vorschriften noch Klarstellungsbedarf gibt.
Bislang befindet sich der Markt für elektronisches
Geld - chip- und kartengestütztes, aber auch Netzgeld
({0}) - im Dornröschenschlaf. Das soll sich mit
dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Zweiten E-GeldRichtlinie nun ändern. Hierdurch sollen gleiche Wettbewerbs- und Marktzugangsbedingungen für alle Zahlungsdienstanbieter, einschließlich der E-Geld-Institute,
geschaffen werden. Allerdings birgt der neue rechtliche
Zu Protokoll gegebene Reden
Rahmen erhebliche Risiken für Verbraucherinnen und
Verbraucher. Zum anderen bleibt einiges im Argen, gerade was das Aufsichtsrecht in Zusammenhang mit der
Bekämpfung von Geldwäsche betrifft.
Durch den Gesetzesentwurf wird der Komplex E-Geld,
bislang im Kreditwesengesetz, KWG, geregelt, nun in
das weitaus laxere Regularium des Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz überführt, ZAG. Bereits das im Juni 2009
geschaffene ZAG wurde von unserer Fraktion abgelehnt,
da hierdurch dubiose Kreditkartengeschäfte erleichtert
werden. Mit der nun erfolgten Ausweitung des ZAG auf
den Bereich des E-Geldes wird ein weiterer Bereich des
Retail-Bankings, das heißt des End- bzw. Einzelkundengeschäfts, einem geringeren Regulierungs- und Beaufsichtigungsniveau unterworfen, als es unter dem KWG
der Fall wäre. Aus Verbrauchersicht stört, dass der
Rücktausch von E-Geld in hartes Geld nicht jederzeit
gebührenfrei möglich ist. Was hingegen ein angemessenes Entgelt ist, weiß kaum jemand. Das Entgelt muss lediglich „in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlich entstandenen Kosten des E-Geld-Emittenten
stehen“, heißt es in den entsprechenden Passagen des
§ 23 des ZAG lapidar.
Weiterer Risikofaktor ist die Herabsetzung des Anfangskapitals von derzeit 1 Million Euro auf 350 000 Euro.
Welche Betrügereien möglich sein werden, wenn nur
350 000 Euro und 2 Prozent unterlegt sein müssen, kann
man zwar heute noch nicht sagen. Doch würde man sich
gerade auch als Instrument eines vorausschauenden
Monitoring einen Erfahrungsbericht nach zwei Jahren
gewünscht haben.
Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird darüber
hinaus zu prüfen sein, ob die bekannten Mängel bei der
Geldwäschebekämpfung mit diesem Gesetzesentwurf
tatsächlich hinreichend abgestellt werden. So wurden
von der Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, im Deutschland-Bericht vom 18. Februar
2010 diesbezüglich Defizite im deutschen Rechtssystem
identifiziert, die zum Teil auch das Aufsichtsrecht betreffen. Insbesondere die landeseigenen Spielbanken stehen
im Verdacht, eigenen monetären Interessen zu unterliegen und den Meldepflichten nicht nachzukommen. Die
Bundesregierung tut folglich gut daran, hierzu Sachverständige der FATF sowie des BKA anzuhören und den
Entwurf samt Integration in das ZAG-Regelwerk entsprechend zu überdenken. Die Fraktion Die Linke wird
dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Nach Ansicht der Kommission gibt es bislang keinen
funktionierenden Binnenmarkt bei Dienstleistungen im
Zusammenhang mit E-Geld in Europa. Aus diesem
Grund hat die Kommission beschlossen, die diesbezügliche Richtlinie aus dem Jahr 2000 aufzuheben und diese
durch eine neue, zweite Richtlinie zu ersetzen. Mit ihrer
Hilfe sollen bestehende Marktzutrittsbeschränkungen
beseitigt, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Zahlungsdienstleister erreicht und ein einheitlicher aufsichtsrechtlicher Rahmen für E-Geld-Institute geschaffen werden.
Der uns heute zur Beratung vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nach eigenen Aussagen
eine 1:1-Umsetzung der Vorgaben der europäischen
Ebene, die meine Fraktion grundsätzlich begrüßt. Dennoch haben wir gewisse Bedenken, die ich ihnen im Folgenden darstellen will.
Bezüglich der Schaffung eines einheitlichen und
vor allem effizienten aufsichtsrechtlichen Rahmens für
E-Geld-Institute ist meine Fraktion, gerade vor dem
Hintergrund, dass die Bundesregierung selbst davon
ausgeht, dass es im Zuge der gewährten Erleichterungen
bei der Neugründung von E-Geld-Instituten auch tatsächlich zu etlichen Neugründungen kommen wird, wodurch der Arbeitsaufwand für die Kontrollbehörden in
Zukunft massiv steigen wird, skeptisch. Ein solcher effizienter aufsichtsrechtlicher Rahmen für E-Geld-Institute
muss jedoch im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher angesichts der heutigen, aber gerade auch der
zukünftigen Bedeutung von E-Geld-Instituten unbedingt
konsequent durchgesetzt werden. Aus den datenschutzrechtlichen Mankos derzeit bestehender Zahlsysteme,
die oftmals höchst problematische AGBs aufweisen, in
denen unter anderem die Weitergabe von persönlichen
Informationen an dritte Stellen vorbehalten wird, sollten
wir lernen.
Gleichzeitig bietet die erleichterte Gründung europäischer E-Geld-Institute die Chance, den derzeit zu beobachtenden Zustand, dass Anbieter von E-Geld-Instituten oftmals in den USA ansässig sind und nur allzu
gerne auf die dortigen, laschen Datenschutzbestimmungen verweisen, die US-Behörden weitreichende Zugriffsbefugnisse auf gespeicherte Datenbestände genehmigen, abzumildern und europäische, sich hoffentlich dann
höheren Datenschutzstandards verpflichtet fühlende Institute bei ihrem Aufbau zu unterstützen. Insbesondere
im hochsensiblen Bereich des elektronischen Zahlungsverkehrs muss zukünftig sichergestellt sein, dass datenschutzrechtlich höchsten Anforderungen Genüge getan
wird. Das Vorhaben der Bundesregierung, angesichts
der heutigen, aber gerade auch der zukünftigen Bedeutung von E-Geld-Instituten und den ihnen eigenen spezifischen Anforderungen hier einen eigenen Institutstypus
zu schaffen, ist daher richtig.
Mindestens genauso wichtig ist jedoch die Aufsicht
über die Institute. Nicht ganz zu Unrecht geht die Bundesregierung in dem nun von ihr vorgelegtem Gesetzentwurf davon aus, dass es für die Aufsichtsbehörde bereits
auf kurze Sicht zu einer Mehrbelastung komme, vor allem was den Anwendungsbereich des neuen Gesetzes für
Unternehmen, von denen zu vermuten sei, dass sie die
Grenze der sachlichen Bereichsausnahmen auszureizen
suchen oder gar mit dem Gedanken spielen, diese zu
überschreiten, angehe. Meine Fraktion hofft, die Bundesregierung war sich hier bewusst, welcher Arbeitsaufwand hier zukünftig auf die Kontrollbehörde zukommt.
Zwar ist es richtig, einheitliche Regelungen für die
Gründung von E-Geld-Instituten zu definieren. Dies darf
jedoch nicht dazu führen, dass es durch eine allzu willZu Protokoll gegebene Reden
fährige Ausgestaltung des Aufsichtsregimes zu für die
Verbraucherinnen und Verbraucher nicht hinnehmbaren Risiken kommt und dem mit dem Geschäftsmodell
E-Geld verbundenen, spezifischen Risiken, vor allem im
Bereich des Datenschutzes und des Schutzes des Rechts
auf informationelle Selbstbestimmung, nicht in adäquater Art und Weise Rechnung getragen wird. Die neuen,
in vielerlei Hinsicht erleichterten Bestimmungen für die
Gründung von E-Kreditinstituten und eine damit einhergehende anzunehmende Neugründungswelle, die zweifellos für die europäischen Binnenwirtschaft von Nutzen
sein könnte, dürfen auf keinen Fall dazu führen, dass es
durch eine zu hohe Arbeitsbelastung für die Aufsichtsbehörden zu einer qualitativen Absenkung der aufsichtsrechtlichen Kontrollen kommt.
Lassen Sie mich noch einen zweiten Punkt ansprechen: Das in der nun vorgelegten Richtlinie der EU erwähnte „E-Geld“ tritt heute vor allem in zwei Formen
auf. Erstens als ein auf einer Bankkarte mithilfe eines
Chips gespeicherter Betrag zur Begleichung von Kleinbeträgen. Diese Funktion findet sich heute auf praktisch
jeder Geldkarte, zweitens im Verkehr über die eben bereits beschriebenen E-Geld-Institute. Laut Richtliniendefinition ist es deren Aufgabe als Zahlungsdienstleister
geldwerte Einheiten gegen Vorauszahlung bereitzustellen, welche dann später wiederum für Zahlungen verwendet werden können, weil sie von Dritten akzeptiert
werden. Statt einer direkten Überweisung von einem
Kunden zu einem Händler geschieht die Transaktion
also zwischen „Plattform-Händlern“. Da dies für Kunden zweifellos viele Vorteile bietet, zum Beispiel den,
dass ein grenzüberschreitender Handel erleichtert wird,
ist diese Form der Bezahlung bereits heute weit verbreitet.
Im Grunde genommen handelt es sich hier um nichts
anderes als um ein auf Vertrauen basierendes Gutscheinsystem für die digitale Welt. Die Zusicherung des
Vertrauens wiederum - sowohl das zwischen den einzelnen Plattformen untereinander, als auch das zwischen
Verbraucher und Plattform - wird durch Verträge zugesichert. Ein solcher Vertragsabschluss kann, muss aber
nicht rechtlich unausweichlich sein.
Während wir bei der Bezahlung mit Geld, aber eben
auch mit E-Geld in der realen Welt durchaus anonym bezahlen können, ist dies bislang beim Bezahlen im Netz
nicht möglich. Warum eigentlich nicht?
Meines Erachtens nach müssen wir auch verstärkt
darüber nachdenken, wie wir im Netz überall dort, wo es
nicht zwingend erforderlich ist, den jeweiligen Vertragspartner zu identifizieren, Angebote schaffen, um zukünftig auch ein anonymisiertes Bezahlen im Netz zu ermöglichen. Im Übrigen fordert uns die derzeit bestehende
Gesetzeslage ausdrücklich auf, beispielsweise durch
eine Rechtspflicht zur Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung bei der Ausgestaltung von Verfahren wie sie
im § 3 a des Bundesdatenschutzgesetzes vorgesehen ist.
Es ist daher nur folgerichtig, auch im Bereich des
E-Geldes im Sinne einer erhöhten Datensparsamkeit
und der Ermöglichung des Selbstdatenschutzes durch
die Verbraucherinnen und Verbraucher gezielt Techniken der Anonymisierung zu fördern. So würde es uns
eventuell auch gelingen, den im ersten Teil meiner Rede
zur Sprache gebrachten Aufwand für die Kontrollbehörden zu senken.
Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
Drucksache 17/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
wieder einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika
Graf ({1}), Iris Gleicke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein
Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren
- Drucksachen 17/1049, 17/3085, 17/3108 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Ullrich Meßmer
Katrin Werner
Ingrid Hönlinger
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Frank
Heinrich, Ullrich Meßmer, Pascal Kober, Stefan Liebich
und Volker Beck.1)
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung bzw. seinem Bericht auf Drucksachen 17/3085 und 17/3108, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1049
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben die SPD-Fraktion und
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 20:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011 ({2})
- Drucksachen 17/1878, 17/2066 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/3086 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({4})
Michael Hartmann ({5})
Dr. Stefan Ruppert
Frank Tempel
1) Anlage 7
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/3087 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Herrmann
Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Armin
Schuster, Michael Hartmann, Dr. Stefan Ruppert, Frank
Tempel und Dr. Konstantin von Notz.1)
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/1878 und
17/2066 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung und
Schlussabstimmung beim gleichen Stimmverhältnis wie
vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Ulla Lötzer, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen Verhandlungsmandat in demokratischem Prozess neu festlegen
- Drucksache 17/2420 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hier haben ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben:
Erich G. Fritz, Rolf Hempelmann, Dr. Martin Lindner,
Annette Groth und Uwe Kekeritz.
Partnerschaften der Europäischen Union mit wichti-
gen Akteuren in der Welt bilden ein nützliches Instru-
ment für die Verfolgung der politischen Ziele der Union
1) Anlage 8
und europäischer Interessen. Dabei ist der Erfolg immer
dann am größten, wenn die Zusammenarbeit keine Einbahnstraße ist, sondern in beiderseitigem Interesse gehandelt und verhandelt wird. Die strategische Partnerschaft EU-Indien, die im Jahr 2004 begründet wurde,
wird dem mehr als gerecht - auch wenn die Fraktion Die
Linke uns mit ihrem Antrag etwas anderes weismachen
will. Gerade der politische Dialog zwischen der Europäischen Union und Indien ist durch unterschiedliche
Foren der Zusammenarbeit wie beispielsweise die jährlich stattfindenden EU-Indien-Gipfel dichter und konkreter geworden. Die EU wird in Indien zunehmend als
einheitlicher Akteur wahrgenommen, und auch in die
seit Juni 2007 laufenden Verhandlungen über das EUIndien-Freihandelsabkommen ist mehr Bewegung gekommen.
Die Fraktion Die Linke stellt es in ihrem Antrag so
dar, als würde das Abkommen nur auf Wunsch der EU
zustande kommen und dass Indien kein eigenes Interesse
an einem bilateralen Abkommen hätte. Dem ist nicht so.
Sie können, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, den Indern nicht vorschreiben, mit wem sie zu
verhandeln haben. Indien ist Manns genug, um seine Interessen selbst zu vertreten. Indien hat dafür alle Voraussetzungen, politische Verfahren, qualifizierte Vertreter, eine hinreichende parlamentarische Kontrolle,
gerade was Handelsfragen angeht, und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl, verbunden mit einer hohen Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung,
die bei uns häufig noch nicht richtig wahrgenommen
wird. Die Vorstellung, Indien müsse bei bilateralen Verhandlungen von politischen Parteien in Deutschland geschützt werden und insofern mit kleinen Volkswirtschaften der am wenigsten entwickelten Art gleichgesetzt
werden, zeugt von völliger Unkenntnis der Kapazitäten
und Fähigkeiten Indiens.
Die indischen Vertreter haben auf dem letzten Gipfeltreffen im November 2009 deutlich gemacht, dass auch
sie einen Abschluss der Verhandlungen des Freihandelsabkommens bis Ende dieses Jahres anstreben. Ob sich
dieses ambitionierte Ziel in die Tat umsetzen lässt, ist
zum derzeitigen Zeitpunkt unklar; schließlich haben
beide Seiten sehr unterschiedliche und deutlich artikulierte Interessen. Fest steht aber, dass kommende Verhandlungsrunden wie ein Gespräch am 4. Oktober auf
der Ebene der Generaldirektion und der am 1. Dezember stattfindende EU-Indien-Gipfel von den Führungsebenen beider Akteure dazu genutzt werden, den Verhandlungen einen nachdrücklichen Schub zu einem
baldigen und erfolgreichen Abschluss zu geben.
Bislang sind bereits gute Fortschritte im Wettbewerb
erzielt worden. Wichtige Schlüsselthemen für die anstehenden Beratungen werden die Bereiche Investitionen,
technische Handelshemmnisse und Ursprungsregeln
sein. Es ist auch in deutschem Interesse, dass in dem Abkommen ein strikter Schutz von Urheberrechten und Patenten ({0}) und Transparenz beim öffentlichen Auftragswesen geregelt sind.
Über den Fortgang der Verhandlungen, den darin geäußerten Forderungen sowie über die Ergebnisse wird die
Kommission die Mitgliedstaaten im handelspolitischen
Ausschuss fortlaufend unterrichten, so wie sie dies bereits in der Vergangenheit immer getan hat. Darum
braucht man sich in der Linksfraktion nun wirklich nicht
zu sorgen.
Die neuen Zuständigkeiten des Europäischen Parlamentes in der Gemeinsamen Europäischen Handelspolitik sollten von der Linken im Übrigen auch zur Kenntnis
genommen werden. Sie ermöglichen eine breite Behandlung aller Fragen in der Öffentlichkeit, wie das bisher
bei Handelsabkommen auf europäischer Ebene nicht
der Fall gewesen ist. Ich bezeichne das als demokratischen Fortschritt. Dass dabei nicht alle Forderungen,
die das Europäische Parlament an zukünftige Abkommen stellt, zum Beispiel was Standards angeht, von der
indischen Seite sofort als ihren Interessen dienlich angesehen wird, ist weder überraschend noch ein wirkliches
Hindernis für einen Abschluss. Es ist ein großer Schritt
in der europäisch-indischen Zusammenarbeit, dass
heute über Fragen gesprochen und diskutiert wird, die
noch vor wenigen Jahren von Anfang an hätten ausgeschlossen werden müssen.
Auch die Argumentation der Linksfraktion, Indien
hätte kein Interesse an einem Freihandelsabkommen,
weil Indiens staatlich regulierte Volkswirtschaft sich weniger krisenanfällig zeigte, ist nicht nachvollziehbar. Es
ist richtig, dass kaum ein Land die weltweite Finanzund Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 so glimpflich
überstanden hat wie Indien. Dennoch war es aber doch
stärker von der Krise betroffen als ursprünglich erwartet. Das Wirtschaftswachstum ging auf 6 bis 7 Prozent
zurück, aber es brach glücklicherweise nicht ein. Grund
dafür waren sicherlich auch die von der Regierung beschlossenen drei Konjunkturprogramme, die ein Volumen von 28 Milliarden Euro umfassten. Außerdem ist Indien noch immer ein Land, das wenige Industriegüter
ausführt und das deshalb weniger betroffen war. Für
dieses Jahr erwartet Indien bereits wieder einen Anstieg
des Bruttoinlandsproduktes und Prognosen für 2009/
2010, die inzwischen auf 7,4 Prozent angehoben wurden, bestätigen die Rückkehr der Wirtschaftsaktivität.
Die Krisenresistenz erklärt sich nicht hauptsächlich
aus der vom Staat stärker regulierten Volkswirtschaft Indiens, sondern vielmehr aus Indiens geringer Abhängigkeit vom Außenhandel. Die neue Stärke der indischen
Wirtschaft wird nicht nur von internationalen Beobachtern, sondern auch von indischen Wissenschaftlern und
wirtschaftlichen und politischen Akteuren sogar gerade
der Öffnungspolitik seit 1991 und nicht den noch immer
sehr bürokratisch in die Wirtschaft eingreifenden staatlichen Strukturen zugeschrieben. Die Wachstumsdynamik speist sich vordergründig aus der Binnennachfrage.
In Indien, wo rund 1,1 Milliarden Menschen leben,
wächst eine gut ausgebildete Mittelschicht heran, die
die Konsumgüternachfrage positiv anregt. In einer Studie zählt die asiatische Entwicklungsbank, ADB,
260 Millionen Inder zur Mittelschicht, für die ein Mobiltelefon, ein Fernseher und immer öfter auch ein Auto,
denken Sie beispielsweise an das zuerst belächelte billige Auto „Nano“, das jetzt in Serie vom Band rollt und
durch Tata Motors zu einem ernsthaften Konkurrenten
geworden ist, zum Lebensstandard gehören. Ein rasanter Anstieg der privaten Konsumausgaben ist die Folge.
Dass Indien die ländliche Entwicklung in besonderer
Weise berücksichtigen wird und besondere Interessen
bei den Dienstleistungen, insbesondere beim Dienstleistungsexport durch die Freiheit des Personenverkehrs
etwa von wettbewerbsfähigen IT-Fachleuten und Ingenieursdienstleistungen hat, ist doch sehr verständlich.
Ich bin einmal gespannt, wie die Linke sich diesen Forderungen gegenüber verhalten wird.
Die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns auf
drastische Weise gezeigt, wie sehr unser Wohlergehen
und unsere Sicherheit von externen Entwicklungen abhängig ist. Dank unserer unionsgeführten Politik ist
Deutschland gut aus der Krise gekommen. Und das
auch, weil wir erkannt haben, dass es in unserem internationalen Umfeld neue Akteure gibt, die ihre eigenen
Weltanschauungen und Interessen haben und verstehen,
dass Zusammenarbeit lohnend ist. Auch Indien hat dies
Anfang der 90er-Jahre erkannt, als es grundlegende
Wirtschaftsreformen einleitete. Mit seiner Öffnung der
Wirtschaft von einem nahezu sozialistischen Wirtschaftssystem hin zu einer weltoffenen und wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft ist Indien bereits ein gutes
Stück vorangekommen. Es gilt, den Einfluss des Staates
auf den Wirtschaftsprozess weiter zu reduzieren, damit
sich die indische Wirtschaft weiter so dynamisch entwickelt und neben den schon erreichten Verbesserungen in
der Gesundheitsversorgung und Kindersterblichkeit
auch der kleine Mann mehr vom Wirtschaftsboom profitieren kann.
Der EU und der Bundesrepublik Deutschland eröffnet dieser Strukturwandel große Chancen. Der bilaterale Handel hat in den vergangen Jahren erheblich
zugenommen. Mit einem Handelsvolumen von 77 Milliarden Euro in 2008 zählt Indien zu einem der wichtigsten Handelspartner der EU-27. Aus indischer Sicht ist
die EU inzwischen der größte Handelspartner, noch vor
China und den USA. Deutschland alleine liegt auf Platz
sechs. Deutsche Waren genießen auf dem Subkontinent
einen guten Ruf, und der Markt dafür wächst rasant.
Laut „Handelsblatt“ betrug das Exportvolumen im Jahr
2009 rund 8 Milliarden Euro. Vor allem kann die deutsche Industrie ihre Stärken in Indien ausspielen. Unter
den deutschen Exporten nach Indien dominierten Investitionsgüter wie Maschinen, auf die knapp ein Drittel
entfielen, Elektrotechnik sowie Mess- und Regeltechnik.
Aber nicht nur als Handelspartner, auch als Ziel für
Direktinvestitionen gewinnt Indien an Attraktivität für
deutsche Unternehmen. Waren können hier verhältnismäßig günstig produziert werden und aufgrund Indiens
guter Lage in andere Länder Asiens sowie nach Afrika
verkauft werden. Indien zeichnet sich durch ein hohes
unternehmerisches Know-how sowie ein überdurchschnittliches Innovationspotenzial aus. Das alles macht
das Land zu einer guten Exportbasis; dennoch müssen
sich deutsche Investoren auf einen schwierigen Start
einstellen. Gründe dafür sehen wir in der CDU/CSUBundestagsfraktion in der noch bestehenden hohen Regulierungsdichte, der zum Teil ineffizienten öffentlichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Verwaltung und in dem komplizierten Arbeits- und Steuerrecht. Dies spiegelt sich auch im Doing-Business-Index der Weltbank wieder, in dem Indien hinter Tansania
und Malawi einen schlechten 133. Platz belegt. Wenn
die Wirtschaft weiter Stück für Stück liberalisiert wird,
dürfte sich dieser Befund aber schnell bessern.
Gleichzeitig zeigen alle Gespräch mit indischen Politikern und Wirtschaftsvertretern, dass Indien auch ein
großes Interesse an Energieeffizienz, alternativer Energieerzeugung, Verbesserung der Infrastruktur, am Ausbau des Bildungswesens und anderer Felder aussichtsreicher Zusammenarbeit hat und sich auch auf diesen
Feldern durch das Freihandelsabkommen gegenseitige
Vorteile verspricht.
Durch eine solide Wirtschaft und einen festen inneren
Zusammenhalt wird die Fähigkeit der Europäischen
Union und der Bundesrepublik gestärkt, ihren Einfluss
in der Welt geltend zu machen. Wir in der Union bekennen uns dabei zu einem wirksamen Multilateralismus.
Geben wir Indien als einem der Hauptakteure in der
Doha-Runde die Möglichkeit, sein Blockadeimage, das
es in den WTO-Verhandlungen zutage gelegt hat, abzuschütteln und wenigstens mit einem für beide Seiten ausgewogenen Freihandelsabkommen zum Deal Maker
statt Deal Breaker zu werden.
Jedenfalls hat der Deutsche Bundestag keinen Anlass, sich in diesen Verhandlungen zur Zensurstelle für
indische Interessen aufzuschwingen und diesem großen
Land Vorschriften machen zu wollen. Der Antrag der
Fraktion Die Linke „EU-Freihandelsabkommen mit Indien stoppen“ ist aus den dargelegten Gründen abzulehnen.
Ich denke, die meisten von Ihnen stimmen mit mir
darin überein, dass die Ausweitung eines fairen multilateralen Freihandels der Europäischen Union mit verschiedenen Partnern nicht nur eine Säule der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den
jeweiligen Ländern ist, sondern gleichzeitig dazu beiträgt, auch den Wohlstand in Europa und Deutschland
zu wahren und zu mehren. Ergänzend hierzu können
auch einzelne Freihandelsabkommen eine sinnvolle Ergänzung sein.
Selbstverständlich muss auch aus Sicht der SPDBundestagsfraktion in Verhandlungen über Freihandelsabkommen, wie sie derzeit zwischen der Europäischen
Union und Indien stattfinden, neben ökonomischen auch
politischen, sozialen und menschenrechtlichen Aspekten
Rechnung getragen werden. Dennoch werden wir dem
heute zu diskutierenden Antrag der Linksfraktion in der
vorliegenden Form aus verschiedenen Gründen nicht
zustimmen. Zum einen, weil Sie die wichtige Frage der
Ausgestaltung eines Freihandelsabkommens dazu nutzen, wieder einmal grundsätzliche Systemkritik hinsichtlich der europäischen Marktwirtschaft zu üben. Doch
darüber können wir gern an anderer Stelle diskutieren.
Hier und heute geht es konkret darum, wie die Europäische Union den Handel mit Indien intensivieren kann,
ohne die im Land vorhandenen ökonomischen und sozialen Infrastrukturen zu beeinträchtigen. In dieser Frage
haben die Mitglieder dieses Hohen Hauses schon wichtige Aktivitäten entfaltet, aufgrund derer der Antrag vom
Lauf der Zeit überholt wurde und auch aus diesem
Grund von uns nicht unterstützt wird.
Denn bereits im Frühjahr dieses Jahres haben sich
sowohl der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als auch der Unterausschuss Gesundheit in Entwicklungsländern des Deutschen Bundestages mit den Folgen eines Freihandelsabkommens
für die indische Generikaproduktion und den Zugang zu
Medikamenten vor dem Hintergrund des TRIPS-Abkommens befasst. Ergebnis dieser Überlegungen waren
fraktionsübergreifende Beschlüsse, in denen die Abgeordneten klare Forderungen zur Ausgestaltung des europäisch-indischen Freihandelsabkommens formulierten,
die noch im Frühsommer an die Kanzlerin, die mit dem
Thema befassten Bundesminister, den Präsidenten der
Europäischen Kommission Jose Manuel Barroso, sowie
den europäischen Generaldirektor für Handel, Ignacio
Garcia Bercero, versandt wurden. Hierbei wurde von
den Abgeordneten insbesondere die Notwendigkeit betont, dass Verpflichtungen im Rahmen des derzeit verhandelten Freihandelsabkommens den Zugang zu essenziellen Medikamenten nicht einschränken. Darüber
hinaus wurde die EU aufgefordert, koordiniert gegen
gefälschte Arzneimittel vorzugehen und Initiativen und
Innovationen zu unterstützen, die sich vor allem auf bisher vernachlässigte Krankheiten richten. Vor dem Hintergrund dieser Forderungen sprachen sich die Ausschüsse gegenüber Bundesregierung und Europäischer
Kommission dafür aus, dass die Regelungen zu geistigen
Eigentumsrechten im Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS entsprechen sollen. Zudem sei darauf zu
achten, dass Patentlaufzeiten durch das Abkommen
nicht über den TRIPS-Standard von 20 Jahren angehoben werden.
Erfreulicherweise wurde von Kommissionspräsident
Barroso und Handelsdirektor Bercero in Schreiben vom
August mitgeteilt, dass die Europäische Union sich die
genannten Forderungen der Ausschüsse, die ja auch so
im Antrag der Linksfraktion auftauchen, zu eigen gemacht hat. Beide betonen, dass eine Verlängerung der
Patentlaufzeit durch ergänzende Schutzzertifikate in den
Verhandlungen mit Indien nicht mehr diskutiert werden.
Dies ist ein wichtiger Schritt hin zur Erhaltung der für
viele Patienten in Entwicklungsländern lebenswichtigen
Generikaproduktion in Indien. Zudem wird von europäischer Seite aus unmissverständlich betont, dass die für
das Abkommen zu treffenden Regelungen bezüglich des
geistigen Eigentums auf keinen Fall über den TRIPSStandard hinaus verstärkt werden.
Ich habe gezeigt, dass sich die Fachpolitiker aller
Fraktionen bereits seit längerem mit den Forderungen
des heute diskutierten Antrags befasst und wichtige Aktivitäten entwickelt haben - mit Erfolg im Sinne der betroffenen Menschen in Indien. Auch zukünftig werden
wir darauf achten, dass Freihandelabkommen eben
nicht irgendeiner neoliberalen Ideologie nachlaufen,
sondern zum Nutzen aller Menschen auf beiden Seiten
dienen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Abschluss des Freihandelsabkommens EU - Indien ist eine gute Nachricht. Die Wirtschaftsbeziehungen der EU zu Indien haben in den letzten Jahren deutlich an Dynamik und Intensität gewonnen, zumal sich
Deutschland als Indiens wichtigster Handelspartner innerhalb der EU darstellt. Beide Seiten sind sich einig,
dass ein Handels- und Investitionsabkommen mit einer
breiten Basis im gemeinsamen Interesse liegt. Indien
schickt sich an, eine Führungsrolle an der geopolitischen Schnittstelle zwischen dem „boomenden“ Fernen
Osten und dem an Energiequellen reichen Nahen Osten
und Zentralasien zu übernehmen. Es ist an der Zeit, die
enormen wirtschaftlichen und politischen Potenziale
von Indien für uns zu nutzen. Wir dürfen den Markt nicht
dem schon starken wirtschaftlichen Einfluss Amerikas
oder Chinas überlassen.
Unsere Außenwirtschaftspolitik ist freiheitlich, orientiert an Marktwirtschaft, Freihandel und Hilfe zur
Selbsthilfe. Sie setzt auf Vertrauen, auf Bündnisse und
auf den Multilateralismus - anstelle nationaler Alleingänge, wie von den Linken gefordert. Die Liberalisierung der Märkte muss konsequent fortgeführt werden.
Denn durch die weiteren wirtschaftlichen Fortschritte in
Indien, die das Abkommen mit sich bringen wird, wird
auch der politische Prozess der Öffnung des Landes unterstützt. Nach außen ist eine Öffnung der Märkte für
eine höhere Wettbewerbsfähigkeit unerlässlich. Die EU
muss andere Staaten wie Indien von den Vorteilen freier
Märkte überzeugen. Daran kann auch der Appell der
Fraktion Die Linke, Importzölle auf indische Landwirtschaftsprodukte zu erheben und weiterhin auf Exportzölle in anderen Bereichen zu bestehen, nichts ändern.
Die protektionistischen Forderungen nach der Einführung von Exportzöllen und Verhinderung von transparenten Strukturen zur Offenlegung im öffentlichen Auftragswesen in Indien zeigt nur die Antiquiertheit der
linken Anschauungen.
Dies zeigt sich auch bei der Forderung nach einem
Verzicht auf einen effektiven Patentschutz nach europäischem Vorbild. Nur ein auch über die europäischen
Grenzen wirksamer Patentschutz garantiert, dass die
mit einem Patent einhergehende Offenlegung der Innovation kein unzumutbares Wagnis ist. Das Ablehnen der
längeren Patentlaufzeiten durch die Fraktion Die Linke
und der Verzicht auf Datenexklusivität würde dies bedeuten und ist damit unbedingt zurückzuweisen.
Die Koalition setzt sich für eine Fokussierung der
Entwicklungszusammenarbeit auf die schwächsten und
ärmsten Länder ein, während die Zusammenarbeit mit
Schwellenländern auf eine grundsätzlich neue Grundlage
gestellt werden muss. Statt klassischer Entwicklungszusammenarbeit mit den Schwellenländern brauchen wir
eine Partnerschaft in den Bereichen Rechtsstaats- und
Demokratieförderung, Umwelt- und Klimapolitik, Wissenschaft und Forschung.
In dem Zeitalter offener Märkte und globaler Vernetzung der Handelsbeziehungen sind Forderungen nach
Aufrechterhalten von Exportzöllen lächerlich. Nationale
Alleingänge gegen gemeinsame europäische Interessen
wird es mit der Koalition nicht geben. Die Kritik der
Fraktion Die Linke an dem Freihandelsabkommen
EU-Indien zeichnet sich durch das Schüren von Ängsten
und dem Wunsch nach Abschottung vom Weltmarkt aus.
Sie lässt die, nicht nur wirtschaftlich, erfolgreichen Anstrengungen einer Annäherung von EU und Indien außer Acht. Deshalb lehnen wir diesen Antrag der Linken
ab.
„Wir können die Kommission als unser Sprachrohr
benutzen“, so zitierte die „taz“ Anfang des Monats ein
Mitglied der Lobbygruppe „European Business Group“.
Das Zitat bezieht sich auf die Verhandlungen der EU mit
Indien über das Freihandelsabkommen und stammt aus
einem Bericht der Nichtregierungsorganisationen Corporate Europe Observatory und India FDI Watch. In
dem Bericht wird aufgezeigt, wie eng sich die EU-Kommission in ihren Verhandlungen mit den Lobbyisten europäischer Konzerne abspricht.
Es ist nicht wirklich neu, dass die Kommission und
das Bundeswirtschaftsministerium mit den Konzernlobbys an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, lukrative Märkte in den Schwellenländern zu knacken. Die
Leidtragenden sind immer diejenigen, deren Lobby nicht
so mächtig ist, deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse
aber von den Ergebnissen der Verhandlungen am unmittelbarsten betroffen sind.
Ich würde Ihnen die Lektüre des Berichts „Trade Invaders - How big business is driving the EU-India free
trade negotiations” sehr ans Herz legen. Die darin
nachgewiesenen Verflechtungen zwischen Kommission
und Konzernlobbys werfen ein sehr bezeichnendes Licht
auf die Freihandelspolitik der EU und dieser Bundesregierung. Ich bin mir sicher, dass Sie sich anschließend
unserer Forderung nach Aussetzung der Verhandlungen
und nach einer Neuformulierung des politischen Auftrags an die Kommission anschließen werden.
Was steht auf dem Spiel? Für die deutschen und europäischen Konzerne: ein riesiger aufstrebender Markt.
Europäische Banken und Versicherungen, Supermarktketten, Agrar- und Industriekonzerne drängen mit aller
Macht darauf, dass der indische Markt komplett geöffnet wird. Die Verhandlungsagenda der Kommission
deckt sich eins zu eins mit den Interessen dieser Konzerne. Indien hat in der europäischen Marktöffnungsstrategie „Global Europe“ eine herausgehobene Stellung.
Der indische Finanzmarkt ist bislang relativ stark reguliert. Ich sehe darin übrigens einen wesentlichen
Grund dafür, dass Indien so glimpflich aus der Weltwirtschaftskrise herausgekommen ist. Der Wirtschaftsminister brachte jetzt für seine Klientel eine gute Nachricht
von der Indienreise mit: Indien sei endlich doch bereit,
seinen Finanzmarkt weiter zu liberalisieren. Eine gute
Nachricht für die deutschen Banken und Versicherungen. Eine schlechte Nachricht für alle, die auf stabile,
allen zugängliche Finanzdienstleistungen angewiesen
sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der öffentliche Beschaffungsmarkt in Indien ist ebenfalls noch stark reguliert - bis jetzt noch ein wichtiges
entwicklungspolitisches Instrument der öffentlichen
Hand, zugleich jedoch ein gewaltiger Markt, an dem die
europäischen Konzerne interessiert sind. Im Gleichklang fordern deshalb BDI, EU-Kommission und Wirtschaftsministerium, genau an diesem Punkt in den Verhandlungen nicht nachzugeben.
Was steht für die Menschen in Indien auf dem Spiel?
Kleine und mittlere Unternehmen in Indien, die öffentliche Aufträge wahrnehmen, müssten sich auf den Verdrängungswettbewerb europäischer Versorgungskonzerne gefasst machen. Kleine Kreditnehmer hätten noch
weniger Zugang zu Bankdienstleistungen. Für Kranke,
nicht nur in Indien, sondern in vielen Ländern des Südens, könnte sich der Zugang zu preiswerten Medikamenten erheblich erschweren, weil die Generikaproduktion verteuert und verlangsamt wird, wenn sich die
Pharmaindustrie mit ihrer Forderung nach Datenexklusivität und Patentlaufzeitverlängerung durchsetzt.
Kleinbauern fürchten die Konkurrenz des europäischen
Agrarbusiness. Unverantwortlich wäre die von der EU
geforderte Öffnung des Marktes für Milchprodukte, an
dem in Indien 90 Millionen Arbeitsplätze hängen. Alle
diese Menschen finden in den Verhandlungen kaum Gehör. Konzernlobbyisten dagegen sind informiert, nehmen Einfluss auf die Verhandlungsführung der Kommission und die Agenda der Verhandlungen.
Übrigens winkt in Indien auch ein riesiger Rüstungsmarkt: Als Wirtschaftsminister Brüderle kürzlich mit
80 Unternehmern Indien besuchte, war die Rüstungsindustrie in der Delegation stark vertreten, wie man lesen
konnte. Indien vergibt riesige Rüstungsaufträge EADS, ThyssenKrupp und Krauss-Maffei hoffen auf den
Zuschlag. Ich kann nur hoffen, dass es hier zu keinen
Geschäftsabschlüssen kommt. Indien ist umgeben von
Krisenregionen - von Afghanistan über Pakistan bis Sri
Lanka - und hat einen Gewaltkonflikt im eigenen Land,
in Kaschmir.
Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen in
Europa und Indien und gemeinsam mit indischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern fordert Die Linke,
dass die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen
gestoppt werden. Bevor weiter verhandelt werden kann,
müssen die Entwürfe und gegenseitigen Forderungen offengelegt und die Organisationen der Betroffenen gehört
werden.
Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien wird in Indien zu mehr Armut
führen und die soziale Ungleichheit noch vergrößern,
aber auch in Europa soziale Standards in Gefahr bringen. Die EU muss von ihrer unverantwortlichen Freihandelspolitik abrücken. Wir brauchen ein neues
Verhandlungsmandat für die Kommission, in dessen
Zentrum nicht die Interessen der Konzerne, sondern die
Ermöglichung einer sozial und ökologisch nachhaltigen
Entwicklung in Indien und Europa steht.
Das geplante EU-Indien-Freihandelsabkommen ist
das fragwürdige Resultat der aggressiven Handelspolitik der EU im Rahmen der Global-Europe-Strategie.
Erstmals wurden auf dem EU-Indien-Gipfel im Jahre
2006 die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen initiiert. Jetzt stehen die Verhandlungen kurz vor Abschluss,
und es ist mal wieder zu befürchten, dass das Abkommen
eine nachhaltige, soziale und ökologische Entwicklungspolitik konterkariert. Die Bundesregierung unterstützt
die EU mit aller Macht und drängt auf Deregulierung,
Privatisierung und Liberalisierung, ungeachtet der noch
nicht überstandenen Wirtschafts- und Finanzkrise. Im
ideologischen Blindflug berücksichtigt das Abkommen
überwiegend die Interessen der europäischen Exportund Dienstleistungsunternehmen; soziale und ökologische Aspekte sowie Menschenrechtskriterien finden sich
zwar auf dem Papier wieder, an konkrete Umsetzungsmöglichkeiten wurde vermutlich nicht gedacht.
Europa will seiner Entwicklungsverpflichtung offensichtlich nicht nachkommen. Beispielhaft hierfür ist das
erst in diesem Jahr unterzeichnete Handelsabkommen
mit Peru/Kolumbien. Die immensen Quoten für hochsubventioniertes Milchpulver aus Europa bedrohen jetzt
den Milchmarkt und damit die Existenzen vieler Kleinbauern. Mit verantwortungsvoller Handelspolitik hat
das nichts zu tun.
Der Green New Deal fordert die Neuausrichtung unseres Wirtschaftens auf lokaler, nationaler, europäischer
und globaler Ebene. In diesem Rahmen gilt es auch eine
ökologische und soziale Handelspolitik zu gestalten. Die
Antwort auf die drei globalen Krisen - Hungerkrise, Finanz- und Wirtschaftskrise und Klimakrise - liegt auch
in einer fairen und nachhaltigen Ausgestaltung von biund multilateralen Handelsabkommen.
Gerade noch hat die Welt eine magere und traurige
Zwischenbilanz zu den Millenniumsentwicklungszielen
und den Kampf gegen Armut gezogen. Aber nicht nur die
vielen leeren Versprechungen der Bundesregierung verhindern das Erreichen der Ziele, sondern auch die fehlende Politikkohärenz. Handels- und Entwicklungspolitik müssen in Einklang gebracht werden.
Meine besondere Sorge bezüglich des EU-IndienFreihandelsabkommen gilt dem Kapitel zu geistigen Eigentumsrechten und damit dem Zugang zu preiswerten
generischen Medikamenten. Die Forderung der EU,
über den Standard des TRIPS hinauszugehen, ist unverantwortlich. Indien ist weltweit einer der größten Generikahersteller. Die Herstellung und Versorgung der
ärmsten Länder mit Generika ist von herausragender
Bedeutung. Würde die Produktion der Generika eingeschränkt - und darauf hatten die EU-Verhandlungsstrategen abgezielt - käme dies einem Todesurteil von Tausenden von Menschen in den ärmsten Ländern gleich.
Der gewährte Spielraum für Entwicklungsländer, wie
beispielsweise die Möglichkeit, Zwangslizenzen zu nutzen, darf nicht durch besondere Schutzklauseln zur Datenexklusivität ausgehebelt werden.
Ich möchte ausdrücklich auf den interfraktionellen
Beschluss des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hinweisen, der auf Initiative
des Unterausschusses Gesundheit in Entwicklungsländern die Bundesregierung und die Europäische KomZu Protokoll gegebene Reden
mission aufgefordert hat, sich dafür einzusetzen, dass
die Regelungen zu geistigen Eigentumsrechten im EUIndien-Freihandelsabkommen dem Standard von TRIPS
entsprechen und Patentlaufzeiten nicht über 20 Jahre hinaus anzuheben.
Ich teile die Ansicht der Linken, bezüglich eines entwicklungsförderlichen Verhandlungsmandats das Menschenrecht auf bestmögliche medizinische Versorgung
nicht mit überzogenem Patentschutz zu konterkarieren.
Auch teile ich den Wunsch, das Abkommen - so denn es
sich um ein gemischtes Abkommen handelt - hier im
Bundestag zur Abstimmung zu bringen. Zunächst gilt es
allerdings zu klären, ob es sich tatsächlich um ein gemischtes Abkommen handelt und damit nicht in der alleinigen Kompetenz der EU liegt. Sollte es in der alleinigen Kompetenz der EU liegen, muss sichergestellt
werden, dass das Abkommen effizient und effektiv die
Stärkung der Menschenrechte gewährleistet.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, die rechtlich
bindenden Bestimmungen zu beachten und im Falle eines „Gemischten Abkommens“ das Freihandelsabkommen dem Bundestag zur Entscheidung vorzulegen. Zu
kritisieren bleibt, dass die bisher erzielten Vereinbarungen nicht rechtzeitig und vollständig den zuständigen
Ausschüssen vorgelegt wurden. Bis zur Klärung der offenen Fragen enthalten wir uns der Zustimmung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2420 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Arabischen Republik
Syrien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/2251 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Malaysia zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung
der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/2252 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Abkommen vom 25. Januar 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Bulgarien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/2253 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
30. März 2010 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Vereinigten Königreich
Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/2254 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll
vom 21. Januar 2010 zum Abkommen vom
11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Belgien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Regelung verschiedener anderer Fragen auf
dem Gebiete der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazugehörigen Schlussprotokolls in der Fassung
des Zusatzabkommens vom 5. November 2002
- Drucksache 17/2255 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/2571 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({1})
Zu Protokoll genommen haben wir die Reden von
Manfred Kolbe, Lothar Binding, Dr. Birgit Reinemund,
Dr. Barbara Höll und Dr. Gerhard Schick.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ab-
kommen mit der Arabischen Republik Syrien zur Ver-
meidung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
kommen.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/
2251 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sich gleich zu erheben. - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD ange-
nommen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen ge-
stimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit Ma-
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
laysia zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/2252 anzunehmen. Diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Auch dieser Gesetzentwurf ist angenommen mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie der vorherige.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der
Republik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteue-
rung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver-
mögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/2253 anzunehmen. Wer zustimmen
will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustim-
mung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Niemand hat da-
gegengestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke
haben sich enthalten.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit dem
Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhin-
derung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanz-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2571, auch
diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/2254 anzunehmen. Wer möchte zustimmen und er-
hebt sich deswegen? - Wer möchte dagegen stimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei
Zustimmung durch CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die
Grünen und SPD. Dagegen hat niemand gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zum Änderungsprotokoll zum
Abkommen mit dem Königreich Belgien zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und zur Regelung verschie-
dener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Ge-
werbesteuer und der Grundsteuern sowie des dazuge-
hörigen Schlussprotokolls in der Fassung des Zusatz-
abkommens. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/2571, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/2255 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist angenommen bei Zustimmung durch die
Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen hat niemand gestimmt. Die Fraktion
Die Linke hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Unerlaubte Telefonwerbung wirksam bekämpfen
- Drucksache 17/3060 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unlautere Telefonwerbung effektiv verhindern
- Drucksache 17/3041 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Wir haben zu Protokoll genommen die Reden von
Dr. Patrick Sensburg, Peter Bleser, Marianne Schieder,
Dr. Erik Schweickert, Caren Lay und Nicole Maisch.
Am 4. August 2009 ist das von der damaligen Großen
Koalition verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen in
Kraft getreten. Nötig geworden war diese Gesetzesänderung, weil ein hoher Anstieg an unerwünschter Telefonwerbung, insbesondere im Bereich der Wett- und Lotteriedienstleistungen, bei Zeitungen und Zeitschriften
sowie bei Dienstleistungen im Telekommunikationssektor zu verzeichnen war. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sahen sich immer stärker durch Werbeanrufe
unseriöser Anbieter belästigt. Dies hat zu einem hohen
Eingang an telefonischen und schriftlichen Beschwerden
bei den Verbraucherzentralen geführt. Telefonanrufe zu
Werbezwecken, die ohne vorhergehende Einwilligung
der Verbraucherinnen und Verbraucher erfolgten, sind
bereits seit 2004 gesetzlich verboten. In der Praxis
musste man jedoch feststellen, dass die Durchsetzung
des bereits geltenden Rechts nicht in der gewünschten
Form zu gewährleisten war. Das Ziel unseriöser Anbieter ist es ja grade, die Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihren Anrufen zu überrumpeln und ihnen einen
Vertrag aufzuschwatzen. Oft wird sogar ein Vertragsabschluss vorgetäuscht, in dem eine „Auftragsbestätigung“ nach dem Telefonat per Post zugesendet wird.
Dem Verbraucher wird hier ein oft teures Geschäft regelrecht „untergeschoben“. Die unlauteren Geschäftspraktiken der unseriösen Anbieter waren also bekannt.
Angesichts der geschilderten Problematik sah sich
die damalige Regierungskoalition daher veranlasst, eine
gesetzliche Regelung zu treffen, die einen hohen Schutz
der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzocke am
Telefon durch windige Anbieter gewährleistet. Dieses
Ziel wurde durch entsprechende Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch, BGB, im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, sowie durch Änderungen im
Telekommunikationsgesetz, TKG, und der BGB-Informationspflichten-Verordnung, BGB-InfoV, weitestgehend
erreicht. Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben
seit Inkrafttreten des Gesetzes im August 2009 die Möglichkeit, von jedem per Telefon oder im Internet in den
aufgeführten Bereichen abgeschlossenen Vertrag innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen zurückzutreten. Darüber hinaus können die Verbraucherinnen
und Verbraucher noch bis zur vollständigen Vertragserfüllung durch beide Vertragsparteien vom abgeschlossenen Vertrag zurücktreten, wenn sie vorher nicht ordnungsgemäß über ihr Widerrufsrecht aufgeklärt worden
sind. Diese Regelung wurde extra für Fernabsatzverträge eingeführt und gilt nicht für Dienstleistungen, die
auf Wunsch oder ausdrückliche Zustimmung der Verbraucherin oder des Verbrauchers vorzeitig geleistet
werden. Folge aus dieser Regelung ist, dass Unternehmen auf eigene Rechnung leisten, solange der Vertrag
noch nicht von beiden Seiten vollständig erfüllt ist. Unternehmen, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern
Geschäftsabschlüsse „unterschieben“, müssen also damit rechnen, dass sie auf den Kosten für bereits erbrachte Leistungen sitzenbleiben. Diese Lösung wurde
von der damaligen Regierung als ausreichende Sanktion
für Unternehmen gesehen, die sich unlauterer Geschäftsmethoden bedienen.
Bis zur Gesetzesänderung 2009 war es auch noch
möglich, ein bestehendes Dauerschuldverhältnis durch
Eingehen eines ersetzenden Dauerschuldverhältnisses
zu kündigen. Es konnte also passieren, dass man als Verbraucher oder Verbraucherin einen neuen Telefonvertrag unbewusst abschließt, der den bestehenden Vertrag
auflöst und dann am Ende auch noch teurer wird. Dies
ist nicht mehr möglich. Ein Vertragsabschluss, der ein
Dauerschuldverhältnis ersetzt, muss seit August 2009 in
Schriftform bestätigt werden. Auch hier wurde also eine
große Verbesserung des Verbraucherschutzes erzielt.
Wir haben also schon viel erreicht, und ich würde mir
wünschen, dass die Opposition dies einmal anerkennt.
Seit August 2009 ist zudem das Durchführen unerlaubter Telefonwerbung ein Bußgeldtatbestand, der mit
bis zu 50 000 Euro geahndet werden kann. Gleichzeitig
wurde das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
({0}) konkreter gefasst, in dem explizit gefordert wird,
dass der Verbraucher oder die Verbraucherin vorher in
den Werbeanruf einwilligen muss und eine Einwilligung
nicht mehr aus dem Verhalten des Angerufenen gefolgert
werden kann. Ein Bußgeld von bis zu 10 000 Euro kann
fällig werden, wenn die Unternehmen ihre Rufnummer
bei Werbeanrufen unterdrücken und somit für den Verbraucher nicht erkenntlich ist, wer ihn oder sie anruft.
Auch hier wurde also eine deutliche Verbesserung der
Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt,
und gleichzeitig besteht die Möglichkeit, Missbrauch mit
schmerzhaften Bußgeldern zu bestrafen.
Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes hat die
CDU/CSU-Fraktion die Bunderegierung gebeten, den
Erfolg spätestens nach drei Jahren zu evaluieren - ein
Zeitraum, der angesichts der Ergebnisse der am 14. Juli
2010 veröffentlichten Erhebung der Verbraucherzentrale recht lang ist, und ich würde mir wünschen, wir bekämen schneller weitere Zahlen. Die Verbraucherzentrale hat im Zeitraum vom 1. März 2010 bis 30. Juni
2010 Verbraucherbeschwerden gesammelt und analysiert. Insgesamt wurden 40 753 Beschwerden registriert,
davon 12 444 Online-Beschwerden und 28 310 persönliche, telefonische und schriftliche Beschwerden. 66,2 Prozent der Beschwerden gehörten zu dem Themenbereich
Gewinnspiele und Lotterie. In 22,1 Prozent der Fälle
war die Rufnummer unterdrückt.
An den Ergebnissen der Verbraucherzentrale wird
deutlich, dass trotz der bisher guten Gesetzgebung immer noch nicht der gewünschte Erfolg eingetreten ist.
Noch immer werden die Verbraucherinnen und Verbraucher von unerwünschten Telefonanrufen belästigt und
oft genug auch abgezockt. Die Ergebnisse der Verbraucherzentrale sind alarmierend, und ich danke der Verbraucherzentrale für die Arbeit ganz nachdrücklich.
Aber allein auf Grundlage der aus der Studie resultierenden Lösungsvorschläge eine Reform des Gesetzes zur
Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen durchzuführen, halte ich für voreilig. Die
rot-grüne NRW-Landesregierung hat im Bundesrat jetzt
den Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des
Verbraucherschutzes bei unerlaubter Telefonwerbung
eingebracht. Ich halte diesen Entwurf für vorschnell und
populistisch. Sie wissen doch, dass wir gerade eine Evaluierung durchführen. Und dann lese ich im Antrag der
Grünen, dass eine Taskforce einzurichten sei - ich zitiere
-, „die zusammen mit den Staatsanwaltschaften auf die
konsequente Verfolgung von Straftatbeständen im Zusammenhang mit Rufnummermissbrauch und unlauterer
Telefonwerbung hinwirkt.“
So weit, so gut, aber jetzt kommt die Begründung:
Bisher gab es nur elf Ordnungswidrigkeitsverfahren mit
Bußgeldbescheiden, und weil das zu wenig ist, bilden
wir eine Taskforce. Was ist das denn bitte schön für eine
Argumentation? Das zeigt doch nur, wie unausgegoren
Ihr Konzept ist. Sie berufen sich zwar auf alarmierende
Zahlen der Bundesnetzagentur; aber diese geben doch
nur die Zahl der Beschwerden wieder und nicht die Zahl
der Ordnungswidrigkeiten. Sie handeln hier nach dem
Motto: Wenn man einmal nicht weiterweiß, bilden wir
einen Arbeitskreis. - Das ist unseriös. Vor der Feststellung der legislativen Handlungsnotwendigkeit hat erst
einmal eine umfassende Analyse der Sachlage zu erfolgen.
Wenn wir also das Gesetz überarbeiten wollen und
den gewünschten Erfolg erzielen wollen, brauchen wir
zusätzlich zu den Zahlen der Verbraucherzentrale und
der Bundesnetzagentur eine fundierte Evaluation der
Erfolge, aber auch der noch bestehenden Probleme. Darum wird das Bundesministerium der Justiz im Laufe des
Jahres eine aussagekräftige Evaluation erstellen. Diese
soll bis zum Jahresende vorliegen, und die Zahlen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Verbraucherzentrale weisen ja schon jetzt darauf hin,
dass aller Voraussicht nach weiterer Handlungsbedarf
besteht. Warum arbeiten Sie nicht mit uns zusammen,
sondern versteifen sich auf Stimmungsmache? Anhand
der gewonnen Erkenntnisse werden wir dann eine angemessene Überarbeitung des Gesetzes zur Bekämpfung
unerlaubter Telefonwerbung erarbeiten und dem Parlament vorlegen. Sollte das Ergebnis der Evaluation ähnlich ausfallen wie die Studie der Verbraucherzentrale,
werden wir natürlich auch die Bestätigungslösung in
Betracht ziehen. Nur wenn wir wie beschrieben vorgehen und die Evaluation des BMJ abwarten, ist gewährleistet, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher zuverlässig und nachhaltig vor Telefonabzocke und vor
Belästigung durch automatische Anwählcomputer geschützt werden. Eine vorschnelle Reform wäre purer Aktionismus und nicht zielführend. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken ist daher abzulehnen.
Auf Grundlage der Zahlen, die wir demnächst erwarten,
werden wir so schnell wie möglich seriös entscheiden.
Dreist, nervig und teuer - mit diesen Worten lässt sich
das Verbreiten von Telefon-Spam umschreiben. Jeder
kennt das Phänomen, und fast jeder ist genervt davon:
Anrufe beim Mittagessen oder am Abend von einem Callcentermitarbeiter, der besonders vorteilhafte Telefontarife, gewinnträchtige Lotterielose oder günstige Abonnements anzubieten hat, sind allzu oft Alltag in deutschen
Haushalten. Auch teure Mehrwertdienste-Rufnummern,
automatische Anwählcomputer oder dubiose PremiumSMS auf dem Handy häufen sich.
Die Abzockmethoden auf dem Telekommunikationsmarkt machen deutlich: Die Rechte des Verbrauchers im
Bereich Telekommunikation sind immer noch nicht ausreichend geschützt. Allzu oft tummeln sich hier eine
Menge von Trickbetrügern und Kriminellen. Die Telefonrechnung wird immer häufiger zum Inkassoinstrument für Anbieter von Mehrwertdiensten. Das werden
wir stoppen! Für die Unions-Verbraucherpolitiker steht
fest: Wir brauchen ein sauberes Telefon.
Trotz einiger Erfolge in der vergangenen Legislaturperiode: Die bestehenden Gesetze reichen nicht aus, um
Verbraucher auf Augenhöhe mit Unternehmen und Anbietern zu bringen. Mit der Verschärfung des Gesetzes
zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung haben wir
zwar Ende der vergangenen Legislaturperiode erste Erleichterungen für die Verbraucher erreicht: Durch ein
deutlich höheres Bußgeld, dem Verbot der Rufnummernunterdrückung und der Erweiterung des Widerrufsrechts
auf Lotterie-, Abo- und Gewinnspiele werden unlautere
Anrufe seitdem strenger geahndet. Auch ein Anbieterwechsel oder eine Änderung eines Vertrages ist nur noch
mit einer schriftlichen Bestätigung bzw. einer Widerrufsmöglichkeit des Kunden erlaubt. Dennoch ist die Plage
immer noch Realität: Die Versuche von dubiosen Unternehmen, Verbrauchern Verträge unterzuschieben, oftmals ältere Menschen mit Inkassodrohungen einzuschüchtern oder mit angeblichen Gewinnversprechen zu
locken, sind nicht schönzureden.
Wir als Unions-Verbraucherpolitiker sehen uns deshalb in unserer Position aus der vergangenen Legislatur
bestätigt: Unlautere Telefonwerbung wird sich für das
werbende Unternehmen nur dann nicht lohnen, wenn die
Folgeverträge bei fehlender schriftlicher Bestätigung
durch den Verbraucher von vornherein unwirksam sind.
Eine schriftliche Bestätigung bei erstmaliger Aufnahme
von Geschäftsbeziehungen ist und bleibt die verbraucherfreundlichste Lösung. Nur so können wir den wirtschaftlichen Anreiz für „schwarze Schafe“ stoppen, um
so die Zahl ungebetener Anrufe zu reduzieren. Unerbetene Werbeanrufe sind für jeden belästigend und schädigen das Image der Unternehmen, die sich an Recht und
Gesetz halten.
Gerne hätten wir diese Maßnahmen schon im vergangenen Jahr umgesetzt; dies war aber leider bei unserem
damaligen Koalitionspartner nicht durchsetzbar. Vor allem die damalige SPD-Bundesjustizministerin Zypries
verweigerte diese verbraucherfreundliche Lösung. Um
den Kompromiss nicht zu gefährden, haben wir dem Gesetz in seiner jetzigen Fassung zugestimmt.
Auch Umfragen durch den Verbraucherzentrale Bundesverband sowie die Bundesnetzagentur bestätigen unsere Bedenken. Bundesweit haben sich vom März bis
Juni 2010 insgesamt 40 754 Verbraucher an der durchgeführten Umfrage der Verbraucherzentralen beteiligt.
66 Prozent der Angerufenen beschwerten sich über unerwünschte Werbung für Gewinnspiele und Lotteriedienstleistungen. Jeder sechste Anruf kam laut Umfrage
von einem Energieversorger, Telefon- und Internetdienstleister, einem Zeitschriftenvertrieb oder einem
Dienstleister für Bank- und Finanzprodukte, und rund
20 Prozent der Angerufenen sollten eine kostenpflichtige
Rufnummer zurückrufen. Betroffen waren in zwei Dritteln der Fälle Senioren im Alter von über 65 Jahren. Das
ist Abzocke und Belästigung der Verbraucher, die wir
nicht länger hinnehmen werden!
Die christlich-liberale Koalition hat deshalb im
Sommer eine Evaluierung des Gesetzes eingeleitet; erste
Ergebnisse liegen im Winter vor. Wir brauchen wissenschaftlich fundierte und valide Zahlen, um flächendeckend zu prüfen, wo es im Einzelnen Nachbesserungsbedarf gibt. Gründlichkeit geht bei uns - anders als bei der
Opposition - vor Schnelligkeit.
Fakt ist aber auch: Wir haben vor Ort oftmals ein
Vollzugsdefizit. Wir brauchen mehr und spezielleres Personal in den Ländern. Zentrale Ermittlungsstelle der
Staatsanwaltschaften zur effektiveren Bekämpfung könnte
hier effektiv und schnell eingreifen und „schwarze
Schafe“ zur Rechenschaft ziehen. Übrigens: Auch die
Länder könnten so ihren Worten von der Verbraucherschutzministerkonferenz endlich Taten folgen lassen und
unseriösen Callcenterbetreibern das Handwerk legen.
Denn die Androhung immer schärferer gesetzlicher Regelungen ist wenig wert, wenn man den Vollzug vor Ort
nicht sicherstellen kann.
Sie sehen, wir haben das Problem erkannt und werden
es zeitnah mit unserem Koalitionspartner beheben. Wir
gehen aber noch weiter, indem wir nicht nur unerlaubte
Telefonwerbung bekämpfen, sondern den Verbrauchern
Zu Protokoll gegebene Reden
mehr Rechte im ganzen Telekommunikationsbereich einräumen. Der Referentenentwurf zum Telekommunikationsgesetz liegt nun vor und enthält eine Fülle von
Regelungen im Sinne des Verbrauchers. Nur einige Beispiele:
Kosten für Warteschleifen von Servicehotlines werden bald der Vergangenheit angehören. Der Kunde wird
künftig erst von dem Moment zahlen, in dem er tatsächlich eine Gegenleistung erhält.
Preisansagepflichten werden für alle Servicenummern gelten, nicht nur für 0900er-Nummern oder andere
bestimmte Gassen.
Der Wechsel des Telefon- oder Internetanbieters muss
künftig innerhalb von 24 Stunden vollzogen werden.
Mobilfunkkunden werden ihre Rufnummer unabhängig von der konkreten Vertragslaufzeit zu einem neuen
Anbieter mitnehmen können.
Die bestehenden Widerrufsrechte für das Festnetz
werden auf den Mobilfunkbereich ausgeweitet. Damit
erhalten Kunden bei der Nutzung per Handy eine Widerspruchsmöglichkeit gegen einzelne Rechnungsposten.
Telefon- und Internetfirmen müssen künftig ein Vertragsmodell mit einer Höchstlaufzeit von unter einem
Jahr anbieten.
Kurzum: Die Union hält, was sie verspricht: Mehr
Rechte, mehr Kompetenzen und mehr Schutz im Telekommunikationsdschungel - ein Punktsieg für den Verbraucher. Der Weg hin zu einem „sauberen“ Telefon ist
damit frei.
Eines muss uns aber auch bewusst sein: Solange der
Verbraucher nicht juristisch alle Möglichkeiten erhält,
sich gegen Übervorteilung zu wehren, werden wir immer
weiter mit Abzocke und Telefon-Spam zu kämpfen haben. Wirkliche Hilfe erreichen wir nur durch die Beweislastumkehr zugunsten des Kunden. Wer eine Leistung erbringt, muss auch belegen, dass diese erfüllt wurde.
Damit fällt der wirtschaftliche Anreiz für dubiose Unternehmen weg. Nur so können wir sicherstellen, dass der
Verbraucher auch bei kleineren Beträgen, wo sich der
Rechtsschutz schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für den einzelnen Verbraucher nicht realisieren
lässt, wieder auf Augenhöhe mit den Anbietern am
Markt gebracht wird. Deshalb plädiere ich dafür, Rechnungsposten von Drittanbietern in der Rechnung gesondert auszuweisen und die Beweislast für die tatsächlich
erbrachte Leistung bei dem Drittanbieter einzufordern.
Die Beweislastumkehr ist und bleibt das schärfste
Schwert, um im Telekommunikationssektor die Abzockmethoden einzudämmen.
Das sind viele Ziele, die wir in den kommenden Monaten Schritt für Schritt gemeinsam mit unserem Koalitionspartner beraten und umsetzen werden.
Im letzten Jahr, am 26. März 2009, hat der Deutsche
Bundestag nach langen und intensiven Diskussionen das
Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung
und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen beschlossen - im Übrigen mit
den Stimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke. Am 30. Juli 2009 trat das Gesetz in
Kraft.
Mit diesem Gesetz wurden die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher erheblich gestärkt, denen
über unerlaubte Telefonwerbung unerwünschte Verträge
untergeschoben worden sind. Ihnen steht nun ein zweiwöchiges Widerrufsrecht zu, ein Rechtsmittel, das den
Bürgerinnen und Bürgern aus dem Bereich der Haustürgeschäfte mittlerweile vertraut ist. Für den Fall, dass
der Vertag telefonisch zustande gekommen ist, wurde für
die Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten sowie die Erbringung von Wett- und Lotteriedienstleistungen das Fernabsatzgesetz zugunsten der
Verbraucherinnen und Verbraucher geändert.
Zudem wurde im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb die Werbung mit einem Telefonanruf bei nichtvorhandener vorheriger ausdrücklicher Einwilligung
explizit als unzumutbare Belästigung definiert und mit
hohem Bußgeld belegt.
Außerdem wurde im Telekommunikationsgesetz für
die Telefonwerbung die Rufnummernunterdrückung untersagt.
Im Zuge der dazu geführten Diskussionen haben wir
uns auch schon ausführlich mit der in den vorliegenden
Anträgen jetzt wieder geforderten Bestätigungslösung
- also der Notwendigkeit einer schriftlichen Bestätigung
des Verbrauchers bzw. der Verbraucherin für das Inkrafttreten des telefonisch zustande gekommenen Vertrags - auseinandergesetzt. Dieser Weg wurde nicht
zuletzt aus rechtsdogmatischen Gründen im Gesetzgebungsverfahren verworfen. Bei Anwendung der Bestätigungslösung wären telefonisch geschlossene Verträge
bis zu ihrer schriftlichen Bestätigung durch den Verbraucher bzw. die Verbraucherin schwebend unwirksam.
Wie kann es dann aber sein, dass ein Vertrag, der
durch arglistige Täuschung oder Drohung zustande gekommen ist, nach § 123 BGB lediglich anfechtbar und
damit vorerst wirksam ist? Unter rechtsdogmatischen
Gesichtspunkten, wie ich meine, ist das schwer nachvollziehbar.
Aktuell hat sich auch die Verbraucherschutzministerkonferenz der Länder am 16. und 17. September 2010 in
Potsdam mit dem Thema unerlaubter Telefonwerbung
beschäftigt. Ich bin ausgesprochen erfreut, dass sich
ausgerechnet das bayerische Verbraucherschutzministerium äußerst differenziert zur Sachlage geäußert hat. So
werden neben der Bestätigungslösung noch andere
Rechtsinstrumente in Erwägung gezogen.
Angedacht wird zum Beispiel, bei untergeschobenen
Verträgen über entgeltliche Glücks- und Gewinnspiele
den Vollzug der entsprechenden ordnungsrechtlichen
Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrags oder des Gewerberechts ({0}) zu stärken.
Außerdem wird zu Recht davor gewarnt, dass sich
zahlreiche Verbraucherinnen und Verbraucher von ZahZu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({1})
lungsaufforderungen und Mahnschreiben einschüchtern
lassen, mit denen dann die schnelle schriftliche Einwilligung erzwungen werden soll, unabhängig davon, ob
überhaupt eine Vertragserklärung abgegeben wurde
oder ob diese mangels nachträglicher Bestätigung in
Textform unwirksam ist.
Auch ich kann mir hier gut vorstellen, dass sich dieselben Jugendlichen und Senioren, denen ein Vertrag
per Telefon untergeschoben wurde, durch weitere Anrufe
mit dem Ziel der schriftlichen Bestätigung des Vertrags,
dem sie dann aber nicht mehr entkommen können, genötigt fühlen oder durch zahlreiche Mahnschreiben verunsichert werden.
In diesem Zusammenhang halte ich es ebenso wie die
Bayerische Staatsregierung für überlegenswert, nach
Wegen zu suchen, wie Inkassounternehmen und mit Inkassotätigkeiten beauftragte Rechtsanwälte stärker zur
Prüfung der bei ihnen geltend gemachten Forderungen
verpflichtet werden können.
Zusätzlich könnte das Gesetz besser umgesetzt werden, wenn in den Ländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Verfügung stünden, damit wesentlich mehr
Fälle zur Anklage gebracht, sich der Abschreckungseffekt erhöhen und das mögliche Bußgeld auch verhängt
würden. Somit könnte eine effizientere Strafverfolgung
gewährleistet werden. Darum appelliere ich an die Länder, es nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen zu belassen, sondern solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften
zu bilden.
Ganz bewusst wurde auf Drängen der SPD im Gesetzgebungsverfahren dessen Evaluierung verlangt, um
die Wirksamkeit genau zu untersuchen und eventuelle
Schwächen aufzudecken.
Der Zeitraum dafür wurde auf bis zu drei Jahre festgelegt, wovon erst eines vergangen ist.
Auch wenn eine erste Zwischenbilanz der Verbraucherzentralen auf ein weiterhin hohes Niveau an Beschwerden hinweist, rate ich dennoch einen kühlen Kopf
zu bewahren und die Evaluierung durch die Bundesregierung abzuwarten.
Erfreulicherweise wird diese vorgezogen und bereits
durch das Justizministerium vorbereitet. Dadurch werden wir hoffentlich bis Ende des Jahres genauere Erkenntnisse erlangen, in welchen Bereichen nachgebessert werden muss.
Nicht umsonst haben die Ausschüsse des Bundesrates
das ganze Thema vorerst vertagt, bis die Ergebnisse der
Evaluierung vorliegen.
In diesem Sinne kann ich mich nur der Protokollerklärung Bayerns und Schleswig-Holsteins zum Beschluss der Verbraucherministerkonferenz anschließen:
Die Bestätigungslösung ist eine denkbare Lösung zur
Bekämpfung der unlauteren Telefonwerbung. Dies lässt
sich jedoch erst nach Vorliegen der Evaluationsergebnisse abschließend beurteilen.
Wir werden die Anträge eingehend in den Ausschüssen beraten. Gleichwohl möchte ich schon jetzt einen
Punkt aus dem Antrag der Fraktion Die Linke aufgreifen
und feststellen, dass die Agentur für Arbeit Arbeitsuchende von sich aus nicht in unseriöse Beschäftigungsverhältnisse vermittelt.
Wir alle kennen diese nervigen, unerwünschten und
eigentlich auch unerlaubten Werbeanrufe. Vielleicht
hatten Sie auch schon - wie ich - das zweifelhafte Vergnügen, mit der Computerstimme von Carmen Götz zu
telefonieren. Die verheißungsvolle Botschaft lautete, ich
sei nur noch einen Anruf vom Gewinn eines niegelnagelneuen BMW entfernt. Der Haken daran: eine teure
0900er-Rückrufnummer, hinter der eine Firma in England steckte. Natürlich habe ich nicht zurückgerufen.
Wer aber diese Nummer unbedarft zurückgerufen hat,
bekam keinen BMW, sondern lediglich eine teure Telefonrechnung serviert. Bei Carmen Götz handelte es sich
nämlich um nichts anderes als eine Telefonabzocke. Und
so wie Carmen Götz treiben viele Abzocker in der Telefonwelt ihr Unwesen und nutzen ahnungslose Verbraucher aus, um auf deren Kosten kräftig Kasse zu machen.
Nicht nur Gewinnversprechen wie der geschilderte Fall
gehören dazu. Auch scheinbar seriöse Firmen nutzen
das Telefon, um Verbrauchern Zeitschriftenverträge,
Handyverträge, neue Stromtarife oder Gewinnspielteilnahmen unterzujubeln.
Eigentlich sollte diese Form der unerlaubten Telefonwerbung längst vorbei sein. Aber leider hat die Große
Koalition es versäumt, dieser Abzockemasche einen
wirksamen Riegel vorzuschieben, als Schwarz-Rot vor
gut einem Jahr ein entsprechendes Gesetz gegen unerlaubte Telefonwerbung beschloss. Das Gesetz erweist
sich aber als zahnloser Tiger. Allein in diesem Jahr sind
bei der Bundesnetzagentur 34 000 Beschwerden von
Verbrauchern eingegangen, die mit unerwünschter Telefonwerbung belästigt wurden, obwohl sie dazu gar nicht
eingewilligt hatten. Das Gesetz erweist sich also als lückenhaft und daher wirkungslos. Daher ziehen wir auch
die Evaluierung des Gesetzes, welche eigentlich erst
nach zwei Jahren vorgesehen war, auf dieses Jahr vor.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Denn die Große
Koalition mit den kleinen Ergebnissen hat vor allem eines versäumt: dem Druck der Werbelobby zu widerstehen. Warum hat denn Frau Zypries als Bundesjustizministerin dafür gesorgt, dass es bei Vertragsabschlüssen
am Telefon keine schriftliche Bestätigung des Vertrags
durch den Verbraucher geben muss? Weil die Werbeklientel stärker war und lauter gerufen hat, als es der
Verbraucher vermag. Darum wurde ein Gesetz geschaffen, das für den Verbraucher keinen Fortschritt gebracht
hat.
Der Dumme sozialdemokratischer Politik ist meistens
der Verbraucher; das zeigt sich hier wieder ganz deutlich. Ob Maßnahmen gegen Telefonwerbung, kostenfreie
Telefonwarteschleifen oder Bestätigungsbuttons bei Internetverträgen - all das sind positive Entwicklungen,
die wir Liberale nach Jahren des verbraucherpolitischen Stillstandes nun umsetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nach der erfolgten Evaluierung werden wir als
christlich-liberale Koalition auf Basis der dann vorliegenden Ergebnisse handeln und der Abzocke einen wirksamen Riegel vorschieben. Denn unsere Klientel ist
nicht die Werbewirtschaft, sondern sind die Verbraucher. Sollte die vorgezogene Evaluierung durch das Bundesministerium der Justiz die von der Verbraucherzentrale und der Bundesnetzagentur aufgezeigte Faktenlage
bestätigen, wollen wir das Gesetz anpassen und eine
schriftliche Bestätigung durch Unterschrift des Kunden
einfordern für solche telefonischen Vertragsschlüsse, bei
denen der Verbraucher angerufen worden ist. Dann
kann der Verbraucher die Details eines Vertrags erst
noch einmal in Ruhe durchlesen und läuft weniger Gefahr, ungewollt einen Vertrag abzuschließen oder durch
fehlende Informationen oder falsche Versprechen am Telefon einen ungewollten Vertrag abzuschließen. Erst mit
der Unterschrift des Verbrauchers wird dann ein am Telefon geschlossener Vertrag auch rechtsverbindlich. Damit wird der Verbraucher effizienter geschützt.
Wir wollen aber nicht bei jedem Vertragsabschluss
am Telefon eine schriftliche Bestätigung des Vertragsschlusses vorschreiben. Dies wäre für den Verbraucher
wenig effizient. Wenn ein Verbraucher selbst bei einem
Vertragspartner anruft und einen Vertrag abschließt,
soll weiterhin der alleinige Vertragsschluss ohne nachträgliche schriftliche Bestätigung am Telefon erfolgen
können. Alles andere würde nur unnötige Bürokratie
schaffen und schnelle, auch für den Verbraucher häufig
einfache und gewünschte Vertragsschlüsse unterbinden.
Der Bestellung des Handys für die Ehefrau kurz vor
Weihnachten bleibt also weiterhin möglich, wie auch die
anderen Abschlüsse per Telefon, die man bei seinen
langjährigen Lieferanten- bzw. Vertragspartnern tätigt.
Wir schwingen aber nicht nur die Gesetzeskeule, sondern setzen zudem auf eine wirksamere Strafverfolgung
und mehr Transparenz bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die Bundesnetzagentur unternimmt bereits
heute viel, um dem Problem der unerlaubten Telefonwerbung habhaft zu werden. Betrügerisch eingesetzte Rufnummern werden schnell abgeschaltet, sodass die Abzocker nicht weiter ihr Unwesen treiben können. Auch
werden in solchen Fällen Rechnungslegungs- und Inkassoverbote verhängt, sodass betrogene Verbraucher vor
finanziellem Schaden bewahrt werden. Zudem kann die
Bundesnetzagentur einen Antrag auf Zuteilung einer
Rufnummer ablehnen, wenn der Antragsteller in der Vergangenheit bereits wegen Verstößen gegen das Telekommunikationsgesetz aufgefallen ist.
Nur reichen diese Möglichkeiten bislang nicht aus. In
meinem Gespräch mit dem Präsidenten der Bundesnetzagentur wurde deutlich, dass die Handlungsmöglichkeiten der Bundesnetzagentur durch die Grenzen ihrer
Zuständigkeit eingeschränkt sind. Da die Bundesnetzagentur eine missbräuchliche Nutzung von Rufnummern
nicht bereits im Vorfeld erahnen kann, kommt der Strafverfolgung eine wichtige Bedeutung bei der Eindämmung der unerlaubten Telefonwerbung zu. Hier mangelt
es aber oft an der ausreichenden Problemwahrnehmung
durch die Ermittlungsbehörden. Bislang arbeiten die
Strafverfolgungsbehörden weitgehend unkoordiniert
und ohne ausreichendes Wissen über die Spezialmaterie,
wodurch das Problem der unerlaubten Telefonwerbung
oft als Einzelfall abgetan und nicht mit ausreichendem
Nachdruck verfolgt wird. Was wir daher anstreben, ist
die Etablierung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft,
die solchen Fällen gesammelt nachgeht, der Bundesnetzagentur ein zentraler Ansprechpartner ist und daher
intensiver als bisher die Strafverfolgung in die Hand
nimmt.
Wir sollten aber auch noch weitere Maßnahmen ergreifen, um eine effektivere Rechtsdurchsetzung zu ermöglichen. Dazu gehört: Wir sollten die Hürden bei der
Einwilligung zu Werbeanrufen erhöhen. Nicht selten
verstecken Anbieter solche Einwilligungserklärungen
im Wirrwarr ellenlanger und unverständlicher allgemeiner Geschäftsbedingungen und sind für die Verbraucher
daher nur schwer zu durchschauen. Letztlich wird auch
die juristische Auseinandersetzung dadurch erschwert.
Solche pauschalen Erklärungen sind aus meiner Sicht
nicht ausreichend. Eine gesonderte Zustimmung durch
ein Extrafeld wäre eine sinnvolle Lösung, um dem Verbraucher eine bewusste Entscheidung für oder gegen Telefonwerbung zu ermöglichen. Zudem bin ich dafür, dass
solche Einwilligungen nicht unbegrenzt gelten, sondern
nach einer bestimmten Frist auch wieder verfallen und
neu eingeholt werden müssen. Wenn wir die Hürden bei
der Einwilligung dergestalt erhöhen, wird es auch für
die Bundesnetzagentur und die Verbraucher einfacher,
vor Gericht Bußgelder durchzusetzen. Und wenn es finanziell schmerzhaft wird, werden sich die Abzocker genauer überlegen, ob sie ihre Geschäftsmodelle, die auf
unerlaubter Telefonwerbung beruhen, so weiterführen.
Seit August 2009 soll das Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung die Belästigung durch unerwünschte Werbeanrufe verhindern. Es soll Verbraucherinnen und Verbraucher vor dem Unterschieben von
Verträgen am Telefon schützen. Das Gesetz hat sich jedoch als völlig unzureichend erwiesen. Innerhalb von
nur vier Monaten gingen 40 000 Beschwerden bei den
Verbraucherzentralen ein. Einige Verbraucherzentralen
haben sogar die Erfahrung gemacht, dass die Verbraucherbeschwerden nach der Gesetzesänderung noch zugenommen haben. Dabei stammen über 4 000 Verbraucherbeschwerden aus Sachsen. Hauptsächlich betroffen
sind Menschen über 65 Jahre.
Die Erfahrungen zeigen: Es geht nicht nur um
„schwarze Schafe“ unter den Unternehmen. Vielmehr
ist unlautere Telefonwerbung ein Massenproblem. Ein
Klassiker ist nach wie vor das telefonische Unterschieben von Zeitschriftenabonnements. Oft haben Verbraucherinnen und Verbraucher lediglich der Zusendung von
Informationsmaterial zugestimmt. Daraufhin erhielten
sie prompt Vertragsbestätigungen.
Um unlautere Telefonwerbung wirksam zu verhindern, braucht es deutlich weiterreichende Maßnahmen
als bisher. Es kann nicht sein, dass Menschen trotz eines
Verbotes Werbeanrufe erhalten und sich hinterher mühsam gegen untergeschobene Verträge wehren müssen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Daher hat die Linke einen eigenen Antrag mit Lösungsvorschlägen eingebracht.
Darin fordern wir unter anderem, dass telefonisch
vereinbarte Verträge erst durch die schriftliche Bestätigung des Kunden wirksam werden. Eine solche Bestätigungslösung ist ein zentraler Baustein, um unerlaubte
Telefonwerbung einzudämmen. Deshalb hat die Linke
bereits bei der Verabschiedung des bisherigen Gesetzes
im März 2009 einen entsprechenden Änderungsantrag
vorgelegt, Bundestagsdrucksache 16/12426. Leider hatten die Koalition aus CDU/CSU und SPD sowie die
FDP den Antrag abgelehnt.
Außerdem ist gesetzlich klarzustellen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nicht blindlings über die allgemeinen Geschäftsbedingungen in Telefonwerbung
einwilligen. Viele Firmen behaupten mit Verweis auf
ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, dass eine Einverständniserklärung zu Werbeanrufen vorläge. Die
Linke fordert stattdessen, ein Opt-in-Verfahren einzuführen: Dabei müssen Verbraucherinnen und Verbraucher
aktiv in die Nutzung ihrer Daten für Werbezwecke einwilligen oder eben nicht.
Weiter setzt die Linke sich für präventive Maßnahmen
ein. Bisher reagiert die Bundesnetzagentur als zuständige Regulierungsbehörde zumeist erst, wenn Menschen
schon geschädigt wurden. Das bestätigt auch die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke,
Bundestagsdrucksache 17/2694. Deshalb fordert die
Linke, dass die Bundesnetzagentur vor der Vergabe von
Rufnummern die Geschäftsmodelle der Unternehmen
prüft.
Schließlich müssen Geldbußen gegen Gesetzesverstöße hoch genug sein, um Wirkung zu sein. Denn angesichts hoher Gewinnmöglichkeiten für die Unternehmen
verpuffen vergleichsweise geringe Bußgelder. Die Linke
fordert eine Erhöhung auf 250 000 Euro. Verbotene Telefonwerbung darf sich nicht länger lohnen. Die Bußgelder und unlauteren Gewinne müssen nach dem Verursacherprinzip den Verbraucherverbänden zufließen.
Insbesondere ist zu gewährleisten, dass Arbeitsagenturen und Grundsicherungsträger Erwerbslose nicht in
unseriöse Callcenter vermitteln, die illegale Telefonwerbung betreiben. Hierzu müsste die Bundesagentur für
Arbeit vor Einstellen eines Stellenangebotes über die
Bundesnetzagentur prüfen, ob die Firma negativ bekannt ist. Das ist ohne nennenswerten Aufwand möglich.
Skandalös ist hingegen, Menschen zur Aufnahme illegaler Tätigkeiten zu zwingen. Ebenfalls unzumutbar ist,
den Nachweis der Illegalität eines Unternehmens auf die
Erwerbslosen abzuwälzen.
Die Linke begrüßt ausdrücklich die Entscheidung der
Verbraucherschutzministerkonferenz vom 15./16. September 2010. Die Forderungen der Verbraucherschutzministerkonferenz decken sich im Wesentlichen mit unseren. Die Bundesregierung muss endlich aktiv werden!
Gegen das Verbot von Telefonwerbung wird nach wie
vor massenhaft verstoßen, trotz Ihres Gesetzes aus dem
Jahr 2009 zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung
und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen. Dabei hatten meine Fraktion,
der Bundesrat, die Verbraucherverbände und Experten
in der Anhörung im Rechtsausschuss den Gesetzentwurf
schon damals als unzureichend im Kampf gegen die unerlaubte Telefonwerbung kritisiert. Das hat Sie aber
nicht gehindert, das mangelhafte Gesetz trotzdem auf
den Weg zu bringen.
Dass das Gesetz definitiv als gescheitert angesehen
werden kann, belegen die aktuellen Zahlen der Beschwerdefälle von Verbrauchern, die weiterhin durch
unerlaubte Telefonwerbung belästigt werden: In den
ersten neun Monaten seit Inkrafttreten des Gesetzes meldete die Bundesnetzagentur über 57 000 schriftliche Beschwerden. Die Verbraucherzentralen erhielten während ihrer viermonatigen Erhebung von März bis Juni
2010 insgesamt 40 753 Beschwerden über unerwünschte
Telefonwerbung. Hinter diesen Zahlen stehen unzählige
Kunden, denen Verträge untergeschoben werden, und
noch mehr Menschen, deren Privatsphäre durch permanente Anrufe verletzt wird. Auch Firmen klagen, dass die
Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter durch unerwünschte Werbeanrufe verschwendet wird.
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen forderte daraufhin in einem Brief an die Justizministerin,
das Gesetz kurzfristig nachzubessern. Wichtigste Forderung der Verbraucherschützer war und ist die schriftliche Bestätigung von Verträgen, die durch Cold Calling
angebahnt werden. Außerdem fordern sie die Stärkung
der Strafverfolgungsbehörden durch die Schaffung von
Schwerpunktstaatsanwaltschaften und eine Verschärfung der Gewerbeordnung bei wiederholten schweren
Verstößen gegen das Gesetz.
Die Erhebung der Verbraucherzentralen und die Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen deutlich, dass dringend gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Auf die vorgezogene Evaluierung des Gesetzes zu warten, wäre
verlorene Zeit. Denn die Fakten aus der täglichen Lebenswelt der Verbraucher sprechen für sich. Verlieren
Sie deshalb nicht noch mehr Zeit und Geld, sondern gehen Sie jetzt zügig und effektiv gegen diese unseriösen
Geschäftsmodelle vor.
In unserem grünen Antrag fordern wir erneut die
schriftliche Bestätigung für Verträge, die aufgrund von
unerlaubter Telefonwerbung angebahnt werden. Damit
wird es ungleich schwieriger, Kunden Verträge unterzuschieben, und das unseriöse Geschäftsmodell unerlaubter Telefonwerbung verliert an Attraktivität. Außerdem
fordern wir eine verpflichtende Registrierung für Gewinnspielanbieter. In der Beratungspraxis der Verbraucherzentralen spielen vorgetäuschte Gewinne eine große
Rolle; wir wollen mit einer Registrierung eine zusätzliche Hürde für solche unseriösen Geschäftsmodelle einbauen.
Die konsequente Verfolgung von Straftatbeständen
bei unerlaubter Telefonwerbung ist ein weiterer wichtiger Baustein im Kampf gegen solche betrügerischen Geschäftsmodelle. Wir wollen, dass der Bund eine
Taskforce zu diesem Thema einrichtet, die den Ländern
Zu Protokoll gegebene Reden
mit Know-how und Koordinierung zur Seite steht. Die
Verbraucherminister der Länder haben Ihnen bei der
letzten Verbraucherministerkonferenz am 17. September
ebenfalls diesen Handlungsauftrag erteilt. Auch sie fordern die Einführung der schriftlichen Bestätigung sowie
schärfere Sanktionen gegen Verstöße und die Erleichterung des Widerrufs.
Ich bin der Meinung, wir dürfen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht länger zumuten, dass sie
weiterhin massenhaft durch unerlaubte Telefonanrufe
belästigt und abgezockt werden. Deshalb fordere ich Sie
auf, sofort zu handeln und das Gesetz entsprechend unserer Forderungen zu verschärfen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3060
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, Bündnis 90/Die Grünen beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz.
Zunächst lasse ich über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Vorschlag abgelehnt. Zugestimmt
haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dagegengestimmt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP, also Federführung
beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer ist dafür? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen. CDU/CSU, FDP und
SPD haben dafür gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke dagegen.
Tagesordnungspunkt 23 b. Der Antrag der Fraktion
Die Linke zu unlauterer Telefonwerbung auf Drucksache
17/3041 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen wiederum Federführung beim Rechtsausschuss, die Fraktion Die Linke beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Antrag der Fraktion Die
Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt gegen die Stimmen der Linken und
von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der restlichen Fraktionen.
Wir kommen zum Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim
Rechtsausschuss. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.
CDU/CSU, SPD und FDP waren dafür, die übrigen
Fraktionen waren dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sozialkassen vor Beitragsverlusten bewahren
- Drucksache 17/3042 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden von Dr. Matthias Zimmer, Paul Lehrieder, Katja
Mast, Johannes Vogel, Klaus Ernst und Beate MüllerGemmeke zu Protokoll genommen.
Das Bundesarbeitsgericht hat Anfang Juli den Anhörungstermin zur Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft
Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen auf den 14. Dezember 2010 festgesetzt. Es ist aber offen, ob es bereits an diesem Tag zu einer Entscheidung kommt und bis wann diese dann
schriftlich begründet und den Beteiligten zugestellt
wird.
Dass die CGZP tarifunfähig ist und die mit ihr abgeschlossenen Tarifverträge von Anfang an unwirksam
sind, steht erst fest, wenn das Bundesarbeitsgericht
diese Feststellung trifft. Erst aus einer solchen letztinstanzlichen Entscheidung kann dann auch abgeleitet
werden, dass wegen des Fehlens eines wirksamen Tarifvertrags rückwirkend der gesetzliche Lohnanspruch
„equal pay“ greift und dieser gesetzliche Lohnanspruch
auch die maßgebliche Beitragsbemessungsgrundlage für
die Entrichtung der Beiträge hätte darstellen müssen.
Vor einer abschließenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage, ob die mit der CGZP geschlossenen Tarifverträge als von Anfang an unwirksam
anzusehen sind, dürfen die Prüfdienste der Rentenversicherungsträger keine darauf basierenden Beitragsbescheide erlassen. Die Rentenversicherungsträger handeln deshalb rechtmäßig, wenn sie - im Übrigen in
Absprache mit den Spitzenorganisationen der Sozialversicherung - derzeit keine die Verjährung hemmenden
Beitragsforderungen erheben und zunächst die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abwarten.
Auch ist das Bundessozialgericht in einem Urteil im
Jahr 1996 zu dem Schluss gekommen, dass Beitragsansprüche der Sozialversicherungsträger für den Fall,
dass über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses oder
über den Entgeltanspruch zwischen dem Beschäftigten
und dem Arbeitgeber ein arbeitsgerichtlicher Rechtsstreit geführt wird, grundsätzlich erst mit rechtskräftiger
Beendigung dieses Rechtsstreits fällig werden, weil erst
dann die für die versicherungsrechtliche Beurteilung erforderlichen Tatsachen feststehen. Das bedeutet, dass im
Fall einer rechtskräftigen Verurteilung eines Arbeitgebers zur Nachzahlung des Differenzlohnes der Beitrag
neu fällig wird und die Verjährungsfrist erneut anläuft.
Zudem sind wir der Auffassung, dass unabhängig davon,
ob Betroffene ihre Ansprüche gegenüber den Arbeitgebern geltend machen oder nicht, die Sozialversicherungsbeiträge abzuführen sind.
Ich möchte in der Diskussion aber noch ein paar
Worte zur Zeitarbeit selbst sagen, die im Antrag der Linken klar zu kurz kommen.
Das Instrument der Zeitarbeit sollte den Unternehmen Möglichkeiten zur flexiblen personellen Ausgestaltung ihrer Produktionsspitzen geben. Das ist die Grundidee der Arbeitnehmerüberlassung, die uns im globalen
Wettbewerb Vorteile verschafft, da Betriebe so kurzfristig ihre erhöhte Arbeitskräftenachfrage befrieden können.
Allerdings darf Leiharbeit nicht missbraucht werden,
um Tarifverträge zu unterlaufen oder sich wirtschaftliche Vorteile aufgrund menschlicher Notlagen zu verschaffen. Die Erfahrungen, die ich in Gesprächen mit
Betriebsräten und Mitarbeitern in Unternehmen sammeln konnte, bestätigen, dass Abweichungen von der
Entlohnung zur Stammbelegschaft in der Praxis nicht
unbedingt die Ausnahme darstellen. Das Problem sind
aber dabei oftmals nicht die entleihenden Betriebe. Sie
haben in der Regel ein Interesse daran, auch den Zeitarbeitnehmern einen fairen Lohn zu zahlen. Problematisch
sind die Zeitarbeitsunternehmen, die ihren Angestellten
nur einen Bruchteil des Lohnes weitergeben, den der
entleihende Betrieb gezahlt hat.
Menschen müssen aber für ihre Arbeit fair entlohnt
werden. Der Mensch darf auf dem Arbeitsmarkt nicht
schutzlos dem Spiel von Angebot und Nachfrage ausgesetzt werden, denn er ist wichtiger als der Markt.
Schließlich dient ein anständiger Lohn der Motivation
und Anerkennung der menschlichen Arbeitskraft. Einem
Wettbewerb um die billigsten Arbeitskräfte und Missbrauchstendenzen in der Zeitarbeit müssen wir deshalb
entschieden entgegentreten.
Die christlich-liberale Koalition wird daher - vor allem im Zuge der weiteren Ausdehnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai 2011 - alles daran setzen,
dem missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeit entgegenzutreten. Hierfür werden wir noch in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vorlegen. Mit
diesem werden wir unter anderem sicherstellen, dass
auch zuvor arbeitslose Leiharbeiter vom Grundsatz der
Gleichstellung beim Nettoarbeitsentgelt nicht länger
ausgenommen werden dürfen.
Mit ihrem Antrag zur infrage stehenden Tariffähigkeit
der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften
sprechen die Kollegen von den Linken einen diffizilen
Sachverhalt an. Entscheidet das Bundesarbeitsgericht
im Dezember gegen die Christlichen Gewerkschaften,
wären unter Umständen hohe Nachzahlungen an die Sozialkassen fällig. Auch meine Fraktion sieht die Problematik, die sich aus diesem möglichen Ausgang ergibt.
Eine Lösung verlangt allerdings viel Fingerspitzengefühl.
Es ist sicherlich ehrenwert, dass Sie, liebe Kollegen
von den Linken, den Sozialversicherungsträgern in Ihrer
Kleinen Anfrage vom 22. März 2010 nahelegen, jede
sich bietende Möglichkeit zu nutzen, um die eigene Finanzausstattung zu verbessern. Dennoch bleibt zunächst
festzuhalten: Das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht ist noch nicht abgeschlossen. Auch wenn ich die
Ungeduld der Linksfraktion in gewisser Weise nachvollziehen kann: Wir sollten das Verfahren erst einmal als
ergebnisoffen betrachten und den Ausgang abwarten.
Schließlich wird das Urteil noch für Anfang/Mitte Dezember dieses Jahres erwartet - und damit rechtzeitig
vor Jahresende, das für die Verfristung von Ansprüchen
maßgeblich ist. Erst wenn das Urteil des Bundesarbeitsgerichts bekannt ist, wird die Bundesregierung möglichen Handlungsbedarf prüfen und darüber mit den Sozialversicherungsträgern sprechen.
Wie Sie sicherlich wissen, haben sich sowohl die Bundesregierung als auch die Sozialversicherungsträger bei
Zweifeln an der Tariffähigkeit von Vereinigungen neutral zu verhalten. Das verlangt der Respekt vor der Tarifautonomie und im Sinne der Gewaltenteilung auch
der Respekt vor der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Sozialversicherungsträger haben sich darüber verständigt,
erst nach der abschließenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts tätig zu werden.
Seit das Landesarbeitsgericht Berlin den Christlichen
Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen im Dezember 2009 die Tariffähigkeit abgesprochen hat, stehen die möglichen Konsequenzen aus
einem möglicherweise gleich lautenden Urteil des BAG
ja schon im Raum. Die Träger der Rentenversicherung
klären deshalb bereits jetzt Arbeitgeber, bei denen anlässlich der turnusmäßigen Betriebsprüfung erkannt
wird, dass sie möglicherweise von dem Urteil betroffen
sein könnten, darüber auf, dass im Fall einer anfänglichen Unwirksamkeit der mit der CGZP geschlossenen
Tarifverträge und daraus resultierender höherer Zahlungsansprüche der Arbeitnehmer auch beitragsrechtliche Konsequenzen eintreten können. Sollten die
Christlichen Gewerkschaften den Prozess vor dem Bundesarbeitsgericht verlieren, sind für die Arbeitgeber bzw.
Verleiher Nachforderungen in Milliardenhöhe nicht auszuschließen, wie die Kollegen von den Linken in der Begründung ihrer Anfrage richtig erwähnen. Bis aber das
Bundesarbeitsgericht entschieden hat, ist nicht zu beanstanden, wenn Arbeitgeber, die die mit der CGZP
geschlossenen Tarifverträge anwenden, als Bemessungsgrundlage für die Abführung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge den dort vereinbarten Arbeitslohn
zugrunde legen.
In ihrer Kleinen Anfrage haben die Kollegen von den
Linken auch die Frage nach dem Ziel der Beitragsprüfung durch die Rentenversicherungsträger aufgeworfen,
keine Beitragseinnahmen verloren zu geben. Auch sehen
sie die Gefahr, dass die Rentenversicherungsträger aufgrund einer etwaigen Verjährung der Beitragsansprüche mit der Frage des Schadenersatzes konfrontiert sein
Zu Protokoll gegebene Reden
könnten. Wie schon gesagt und wie auch von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der Linken ausgeführt, dürfen die Prüfdienste der Rentenversicherungsträger keine Beitragsbescheide erlassen, bevor
das BAG zur Frage der Tariffähigkeit der Christlichen
Gewerkschaften abschließend entschieden hat.
Die Rentenversicherungsträger handeln deshalb
rechtmäßig, wenn sie derzeit keine die Verjährung hemmenden Beitragsforderungen erheben und zunächst die
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abwarten. Ein
auf den Eintritt der Verjährung gestützter Schadenersatzanspruch der übrigen Zweige der Sozialversicherung gegen die Rentenversicherungsträger scheidet deswegen mangels pflichtwidrigen Verhaltens von
vornherein aus.
Sie sehen: Es ist in dieser heiklen Problematik unbedingt notwendig, die Entscheidung des zuständigen Gerichts abzuwarten und erst dann zu handeln.
Unsere soziale Marktwirtschaft braucht gute Löhne
und faire Arbeitsbedingungen. Denn soziale Sicherheit
- also Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, vor Altersarmut,
vor Erwerbsunfähigkeit, vor Berufsunfällen und vielem
mehr - hängt davon ab, wie viele Beiträge jeder von uns
in die Sozialkassen einzahlen kann. Damit erwirbt jeder,
zumindest in der Renten- und Arbeitslosenversicherung,
individuelle Ansprüche unterschiedlicher Höhe. Gleichzeitig ist es so, dass gerade in der Kranken- und Pflegeversicherung über die Höhe der Sozialabgaben Solidarität in unsere Gesellschaft organisiert wird. Wer also
niedrige Löhne in Deutschland duldet, legt die Axt an
unseren Sozialstaat an. Deshalb ist für mich klar - und
übrigens auch für die gesamte SPD-Bundestagsfraktion:
Wir brauchen eine Politik, die existenzsichernde Löhne
garantiert. Das Instrument hierfür ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn. Doch Sie, Frau von der
Leyen, sind mit Ihrer christlich-liberalen Koalition nicht
bereit, für die kleinen Leute Politik zu machen. Sie verweigern sich einer echten Lohnuntergrenze und akzeptieren damit, dass Menschen trotz Arbeit arm sind.
Das wurde gerade diese Woche noch einmal deutlich,
wo Sie bei jedem Interview zum Thema Regelsätze für
Arbeitslosengeld-II-Empfänger die kleinen Leute gegeneinander ausgespielt haben. Sie argumentieren nämlich
so, dass Sie sagen: Ich kann das Arbeitslosengeld II nur
um 5 Euro erhöhen, weil sonst der Lohnabstand zum
Verkäufer und der Friseurin nicht mehr stimmt. Das ist
doch paradox. Als Arbeits- und Sozialministerin können
Sie auch dem Verkäufer und der Friseurin helfen. Stoppen Sie die Lohnspirale nach unten und sorgen Sie für
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Ihre
Politik des Spaltens der kleinen Leute, also das Gegeneinanderausspielen von Geringverdienern und Arbeitslosen, ist einer Sozialministerin nicht würdig. Sie haben
die Instrumente in der Hand, beiden zu helfen. So viel
zum Allgemeinen.
Doch hier geht es jetzt um einen konkreten Antrag
zum Thema „Beitragssicherheit in den Sozialkassen“,
weil zum Ende des Jahres sonst eine Verjährung für
Rückforderungen ansteht; wohl gemerkt Geld - geschätzt sind es über eine halbe Milliarde Euro -, das für
unsere soziale Sicherheit fehlt. Hier wird sich zeigen, ob
Sie, Frau von der Leyen, zusammen mit Ihrer schwarzgelben Koalition tatsächlich die soziale Marktwirtschaft
ernst nehmen. Sie müssten nur vor Ablauf des Jahres
vorsorglich Betriebe prüfen, damit die Verjährungsfrist
nicht verstreicht. Das ist wirklich nicht zu viel verlangt
für voraussichtlich über eine halbe Milliarde Euro. Handeln Sie!
Worum geht es konkret? - Die sogenannte Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit
und Personalserviceagenturen, CGZP, ist wieder einmal
in die Schlagzeilen geraten. Es ist nicht das erste Mal,
dass wir im Deutschen Bundestag über die Rolle der
CGZP sprechen. Voraussichtlich im Dezember wird das
Bundesarbeitsgericht abschließend über die Tariffähigkeit der CGZP entscheiden. Stellt das Bundesarbeitsgericht fest, dass diese sogenannte Gewerkschaft tarifunfähig ist, dürften sämtliche abgeschlossene Tarifverträge
von Anfang an unwirksam sein. Die gute Konsequenz für
die Beschäftigten daraus wäre, dass den Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern dann der gleiche Lohn
zustünde, den Festangestellte erhalten, und zwar voraussichtlich rückwirkend. Dass ist richtig und folgt dem von
der SPD verfolgten Ansatz „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“, den wir auch in unserem Antrag „Fairness in
der Leiharbeit“ klar formuliert haben und am Freitag im
Plenum beraten werden. Übrigens, die Gewerkschaften,
gerade die IG Metall, stehen an unserer Seite, denn sie
wollen den Sozialstaat erhalten.
Wenn die Arbeitnehmer rückwirkend mehr Lohn bekämen, zahlen sie natürlich auch rückwirkend mehr Sozialabgaben - das wären also geschätzt über eine halbe
Milliarde Euro, um die es geht, Geld, das sonst insbesondere der Rentenversicherung fehlen würde.
Im Kern geht also darum, dass der im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz formulierte Grundsatz „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ hier von Ihnen, Frau von der
Leyen, vorsorglich in einem Sonderfall durchgesetzt
werden kann, indem Sie Ihre nachgeordneten Behörden
zum vorsorglichen Handeln bringen. Ich verstehe überhaupt nicht, wo hier das Problem liegt. Jede schwäbische Hausfrau würde hier handeln. Und Kanzlerin
Merkel hat doch gerade diese schwäbischen Hausfrauen
zum Vorbild ihrer Politik erklärt.
Aber der heute zu beratende Antrag bildet nur einen
Einzelfall ab. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht, dass
wir in der Leiharbeit ganz allgemein zum Grundsatz
„Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ zurückkommen. Das
ist eine Kernfrage für mehr soziale Gerechtigkeit. Mich
treibt um, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer so wenig verdienen, dass sie
zusätzlich Arbeitslosengeld II bekommen. Das ist ein
Kombilohn zur Förderung von Lohndumping. Das ist
kein sozialdemokratisches Verständnis von Fairness auf
dem Arbeitsmarkt und erst recht nicht von sozialer
Marktwirtschaft. Wer arbeitet, soll sich davon ernähren
können. Das geht mit 5 Euro pro Stunde nicht. Wir brauchen den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das gilt heute in der Debatte, und das gilt auch Freitag
in der Debatte. Deutschland ist in ganz Europa Schlusslicht in Sachen Mindestlohn. Einzig Zypern und Deutschland haben keine Lohnuntergrenze in der Europäischen
Union. Auch hier könnten wir von Großbritannien,
Frankreich, Schweden und all den anderen Ländern in
Europa lernen.
Frau von der Leyen, Sie können handeln. Sie können
Solidarität organisieren. Sie können den Menschen
mehr netto vom Brutto geben, indem Sie dafür sorgen,
dass sie genug verdienen. Hören Sie auf, rhetorisch die
kleinen Leute gegeneinander auszuspielen. Fangen Sie
endlich an, Sozialministerin zu werden. Führen Sie eine
Lohnuntergrenze ein - am besten einen flächendeckenden Mindestlohn. Dann müssten wir uns nicht mehr über
Tarifverträge mit Löhnen unter 5 Euro streiten. Sie haben die Instrumente in der Hand. Und vergessen Sie
nicht - gleiches Geld für gleiche Arbeit.
Zuallererst möchte ich feststellen, dass es keineswegs
verwundert, dass die Deutsche Rentenversicherung
Bund abwartet, bis der Rechtsweg vollends ausgeschöpft ist; so verhält es sich nun einmal in einem
Rechtsstaat.
Sie fordern in Ihrem Antrag, Beitragsforderungen aus
Entgelten, die auf den Tarifverträgen der Christlichen
Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen, also der CGZP, beruhen, in ihrer Höhe konkret festsetzen zu lassen und so möglicherweise rückwirkend fällig werdende Beitragseinnahmen vor der
gesetzlichen Verjährung zu schützen. Schwerlich werden
wir uns hier ohne jede weitere Begründung Spekulationen hingeben können.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass es erhebliche
Zweifel an der Tariffähigkeit der CGZP gebe. Dies ist insofern richtig, als dass die Verträge nach einer Klage
von Verdi in zwei Gerichtsinstanzen für ungültig erklärt
wurden. Die CGZP selbst wurde hier für tarifunfähig erklärt. Es ist ja richtig: Zuerst hat das Arbeitsgericht Berlin die Tariffähigkeit der CGZP bestritten, dann hat das
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg diese Entscheidung bestätigt. Aber noch einmal: Solange der
Rechtsweg nicht ausgeschöpft, ist die Frage nach der
Tariffähigkeit nicht abschließend beantwortet und so
lange ist die CGZP auch noch als tariffähig anzusehen.
So sieht es offenbar die Deutsche Rentenversicherung,
und so sehe ich das auch. Warten wir also auf die endgültige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die ja
voraussichtlich im Dezember 2010 fallen wird, und dann
sehen wir weiter.
Ich möchte es hier ganz deutlich sagen: Sozialkassen
bewahrt man nicht durch Ihre Rezepte vor Beitragsverlusten, sondern indem man wirksam die Arbeitslosigkeit
bekämpft und unsere Sozialversicherungssysteme zukunftssicher macht. Die christlich-liberale Koalition hat
in dieser Hinsicht schon viel bewegt, und die Arbeitslosenzahlen vom heutigen Donnerstag bestärken uns in
unserem Tun. Auf ihrer monatlichen Pressekonferenz hat
die Bundesagentur für Arbeit heute die Zahlen für den
zurückliegenden Monat September veröffentlicht. Die
Arbeitslosenzahl ist im September um weitere 157 000
auf 3 031 000 zurückgegangen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen Rückgang um 315 000.
Es ist ferner wichtig, eine generationengerechte Rentenpolitik zu betreiben, um die Sozialversicherungssysteme auch für kommende Generationen zu sichern.
Gerade im Hinblick darauf, dass heutzutage erfreulicherweise weit mehr ältere Menschen im Arbeitsmarkt
verbleiben, weil ihr Wissen und ihre Erfahrung gerade
in Zeiten des Fachkräftemangels gefragt sind, ist es unerlässlich, die Diskussion um einen flexiblen Renteneintritt zu führen. Die gesetzliche Rente muss zudem in
Zukunft stärker durch private und betriebliche Altersvorsorge ergänzt werden; denn die individuelle Altersvorsorge wird künftig Grundlage der Lebensstandardsicherung sein.
Hierzu müssen die freiwillige Altersvorsorge umfassend und unbürokratischer gefördert werden als bisher
und eine Abschaffung der Hinzuverdienstgrenzen bei
gleichzeitigem Rentenbezug erfolgen. Ebenso wichtig ist
jedoch - ich kann das diese Tage gar nicht oft genug sagen - eine Verbesserung der Zuverdienstmechanismen
im ALG-II-Bereich. Eine Erhöhung der Zuverdienstgrenzen soll Hilfe dabei sein, sich Schritt für Schritt aus
dem Transferbereich emporzuarbeiten, um dann bestenfalls keine Bezüge mehr zu benötigen. Derzeit fehlt vielen hier der Anreiz, und das ist kein Wunder; denn wenn
nach den ersten 100 Euro je weiterem Euro nur noch
20 Cent beim ALG-Beziehenden verbleiben, dann ist
dies schlicht ungerecht und unfair. Wir stehen in der Verantwortung, dies zu korrigieren. Schließlich schafft eine
Verbeitragung dieser Zuverdienste zusätzliche Einnahmen für die Sozialversicherung. Auf diese Weise wird ein
Anreiz dafür geschaffen, auf Wunsch länger im Erwerbsleben zu verbleiben, und die Sozialkassen würden wirklich und nachhaltig entlastet.
Bereits 2003 hat die Tarifgemeinschaft Christlicher
Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-ServiceAgenturen - CGZP - den ersten bundesweiten Flächentarifvertrag für Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen.
Schuld daran haben SPD und Grüne: Sie haben der
Zeit- und Leiharbeit Tür und Tor geöffnet. Und sie sind
dafür verantwortlich, dass Pseudogewerkschaften Gefälligkeitstarifverträge abschließen dürfen. Dabei
machten sie sich eine Ausnahmeregelung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, zunutze: Der Grundsatz
„equal pay“ kann ausgehebelt werden, wenn ein für
Leiharbeitnehmer gültiger Tarifvertrag vorliegt. Diese
Ausnahmeregelung lässt den Gleichbehandlungsgrundsatz im AÜG ins Leere laufen. Die Folgen für den Arbeitsmarkt und die Beschäftigten sind fatal; denn mithilfe dieses Schlupflochs vereinbarten die sogenannten
Christlichen Gewerkschaften Dumpinglöhne in der
Leiharbeitsbranche. Die CGZP hatte solche Scheintarifverträge abgeschlossen und damit sittenwidrige Löhne
von weniger als 5 Euro durchgesetzt. Selbst bei nicht religiös eingestellten Leiharbeitern bleibt bei diesen unZu Protokoll gegebene Reden
christlichen Löhnen nur noch die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod.
Ich möchte daran erinnern, dass es das Land Berlin
zusammen mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi
war, die gegen die CGZP gerichtlich vorgegangen sind.
Am 7. Dezember letzten Jahres hat das Landesarbeitsgericht Berlin entschieden, dass die CGZP als Dachverband weiterhin nicht tariffähig ist. Damit wurde festgestellt, dass die CGZP keine Zeitarbeitstarifverträge
abschließen darf und bereits abgeschlossene Tarifverträge unwirksam sind. Inhaltlich begründet wird die
Entscheidung damit, dass es an der Tarifzuständigkeit
zum Abschluss dieser Vereinbarungen fehle. Damit bestätigte das Landesarbeitsgericht die gleichlautende
Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. April
2009. Weil das LAG Rechtsbeschwerde zugelassen hat,
ist mit einem endgültigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts erst am 14. Dezember zu rechnen.
Egal wie der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht ausgeht, er hätte weitreichende Folgen: Gewinnt die CGZP,
erhält eine systematische Praxis des Lohndumpings grünes Licht. Verliert die CGZP, sind ihre Tarifverträge
rückwirkend unwirksam, und es greift der Equal-PayGrundsatz. Somit können alle Leiharbeitnehmer, die unter CGZP-Verträgen gearbeitet haben, die Differenz der
Lohnsummen gegenüber den Stammbelegschaften nachfordern. Gleichzeitig müssten die Entleihbetriebe die
entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge abführen.
Die Beitragsnachforderungen aus den Jahren 2004
und 2005 sind bereits unwiederbringlich verloren, weil
diese einer vierjährigen Verjährungsfrist unterliegen.
Bisher sehen sich aber weder die Sozialversicherungsträger noch die Bundesregierung in der Lage, wenigsten
die Sozialversicherungsbeiträge vor Gericht feststellen
zu lassen. Damit verzichtet allein die Rentenversicherung auf die größte Beitragseinnahme seit Jahren. Argumentiert wird, dass sich die Sozialversicherungsträger
solange bis das letztinstanzliche Urteil vorliegt, neutral
zu verhalten hätten. In das gleiche Horn stößt die Bundesregierung. Tatsächlich könnte die Deutsche Rentenversicherung Bund als zuständige Institution schon jetzt
Änderungsbescheide erlassen. Eine kleine Anfrage unserer Fraktion „Konsequenzen aus einer vorläufigen Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft der Christlichen
Gewerkschaften Zeitarbeit und Personalserviceagenturen“, Bundestagsdrucksache 17/1121, hat zudem ergeben, dass mindestens 122 Firmen und Verbänden, die
namentlich bekannt sind, Tarifverträge mit der umstrittenen CGZP abgeschlossen haben. Die könnten sich die
Prüfer der Rentenversicherung ganz unkompliziert zuerst vornehmen.
Angesichts des schmalen Zeitkorridors muss die Rentenversicherung jetzt handeln, wenn sie weitere Verluste
aufgrund der Verjährungsregelung vermeiden will. Aber
das glatte Gegenteil ist der Fall: Da werden Hunderttausende von Beschäftigten in der Leiharbeit aufgrund
von Gefälligkeitstarifverträgen mit pseudochristlichen
Gewerkschaften um ihre Ansprüche gebracht und die
Bundesregierung sowie die Sozialversicherungsträger
haben nichts anders zu tun, als die Hände in die Hosentaschen zustecken. Dies ist umso skandalöser weil nach
Schätzungen des Münsteraner Arbeitsrechtlers Professor Dr. Schüren allein die Deutsche Rentenversicherung
Bund angesichts von jährlich rund 200 000 betroffenen
Leiharbeitnehmern auf Beitragseinnahmen von mindestens 1,8 Milliarden Euro verzichtet. Wer glaubt er könne
Jahr für Jahr auf 600 Millionen Euro verzichten, hat
entweder nicht erkannt, was die Uhr geschlagen hat,
oder handelt absichtlich grob fahrlässig und schützt diejenigen, die absichtlich und willentlich Scheintarifverträge abschließen, die offenkundig gesetzeswidrig sind.
Gleichzeitig muss dem Leiharbeitsmissbrauch endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Der Gesetzentwurf, den Frau von der Leyen vorgelegt hat, ist aber
vollkommen unzureichend. Ich hab den Eindruck, dass
auch hier die Lobby der Zeitarbeitsunternehmen kräftig
mitgemischt hat. Für die Masse der Leiharbeitsbeschäftigten gilt weiterhin, dass sie Arbeitnehmer zweiter
Klasse bleiben: Dumpinglöhne und die Spaltung der Belegschaften werden weitergehen. Wir fordern deshalb
„equal pay“ als grundsätzliches Prinzip für jeden Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten.
Im Interesse der von illegalen Dumpinglöhnen Betroffenen und im Interesse der Solidargemeinschaft dürfen die Sozialversicherungsträger solche Kostensenkungsstrategien, wie zwischen dem Arbeitgeberverband
Mittelständische Personaldienstleister und CGZP nicht
auf sich beruhen lassen. Handeln Sie deshalb jetzt!
Die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften
für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen ({0}) ist
bekannt dafür, Gefälligkeitstarifverträge mit Arbeitgebern abzuschließen, durch die Beschäftigte niedrige
Löhne hinnehmen müssen. Das ist uns schon seit langem
ein Dorn im Auge. Deswegen begrüße ich auch, dass der
CGZP in zwei Instanzen die Tariffähigkeit aberkannt
wurde. Im Dezember wird das Bundesarbeitsgericht voraussichtlich endgültig darüber urteilen. Ich hoffe, dass
die Urteile der Vorinstanzen bestätigt werden und der
CGZP endgültig die Tariffähigkeit aberkannt wird. Damit wäre endlich Schluss mit Billigtarifverträgen, unter
denen die Beschäftigten zu leiden haben.
Jetzt stellt sich die Frage, welche Folgen eine Aberkennung der Tariffähigkeit der CGZP durch das Bundesarbeitsgericht hat. Einerseits könnten diese Pseudogewerkschaften in Zukunft keine Tarifverträge mehr
abschließen. Andererseits erhielten die Beschäftigten,
die bisher die Leidtragenden dieser Tarife waren, erhebliche Rückzahlungen, sofern sie gerichtlich ihre Löhne
anfechten. Sie hätten aber auch erhebliche Sozialversicherungsansprüche. Letztere müssten aber nicht von den
Beschäftigten selbst eingeklagt werden. Die Deutsche
Rentenversicherung könnte selbst tätig werden und Beiträge nacherheben, ohne dass die Beschäftigten vor Gericht gehen müssen.
Entscheidend ist dabei insbesondere für die Beschäftigten, für wie viele Jahre die Sozialversicherungsbeiträge nachträglich erhoben werden können und ebenso,
Zu Protokoll gegebene Reden
ob die Deutsche Rentenversicherung in der Lage ist, eine
Verjährung der Ansprüche aufzuhalten. Ich bin - wie die
Fraktion Die Linke - der Auffassung, dass die Deutsche
Rentenversicherung diese Verjährung stoppen kann.
Deswegen begrüße und unterstütze ich den Antrag
der Fraktion Die Linke. Die Deutsche Rentenversicherung Bund muss schnellstmöglich handeln und vorsorglich Beitragsforderungen aus Entgelten basierend auf
Tarifverträgen mit der CGZP durch Betriebsprüfungen
feststellen, um rückwirkend fällige Beitragseinnahmen
vor der Verjährung zu schützen. Die Bundesregierung
muss endlich tätig werden und die Deutsche Rentenversicherung Bund zum Handeln auffordern.
Meines Erachtens hat die Deutsche Rentenversicherung Bund die Pflicht, tätig zu werden und die Versichertengemeinschaft vor Beitragseinbußen zu schützen.
Auch die circa 200 000 betroffenen Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer könnten so vor erheblichen
Nachteilen geschützt werden. Bleibt die Deutsche Rentenversicherung Bund weiter untätig, müssten sie Einbußen bei ihren Rentenversicherungsansprüchen hinnehmen. Und das wäre ein Skandal.
Wir können es nicht akzeptieren, dass sich die Bundesregierung hinter den Gerichten versteckt und abwartet, bis das Bundesarbeitsgericht den CGZP die Tariffähigkeit aberkennt - zumal zwei Instanzen schon
eindeutige Urteile gesprochen haben. Bundesministerin
von der Leyen muss endlich dafür sorgen, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund ihrer Pflicht gerecht
wird. Sie hat die Rechtsaufsicht über die Deutsche Rentenversicherung und kann handeln, sofern der politische
Wille vorhanden ist.
Die Ministerin muss im Sinne der Beitragszahlenden
handeln, und ebenso haben die Beschäftigten das Recht,
von der Bunderegierung vor der Verjährung ihrer
schwer verdienten Sozialversicherungsansprüche geschützt zu werden.
Die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3042
an den Ausschuss für Arbeit und Soziales wird vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung, was sehr schade ist.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Oktober 2010,
9 Uhr, ein.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.