Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf einer Verordnung
über die Bezugsfrist für das Kurzarbeitergeld.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herr
Dr. Franz Josef Jung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat heute im Rahmen ihrer Kabinettsentscheidung eine Anschlussverordnung zur Kurzarbeit beschlossen, das heißt konkret, dass das Kurzarbeitergeld, das im Jahr 2010 beantragt wird, für einen
Zeitraum von maximal 18 Monaten bezogen werden
kann. Für Anträge bis zum 31. Dezember dieses Jahres
gilt noch die maximale Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von 24 Monaten. Für Anträge ab 2010 beträgt die
Dauer 18 Monate.
Ich denke, dass gerade die Entscheidung der Regierung, das Kurzarbeitergeld länger zu zahlen, dazu geführt hat, dass wir - was den Arbeitsmarkt betrifft - einigermaßen robust durch diese Krise gekommen sind. Sie
müssen bedenken: Die Prognosen lagen bei 5 Millionen
Arbeitslosen. Ich konnte in meinem ersten Bericht
3,229 Millionen Arbeitslose angeben.
Allerdings - das muss man deutlich sagen - ist das
noch keine Trendwende. Wir haben das Tal noch nicht
durchschritten. Die Bundesregierung rechnet mit
4,1 Millionen Arbeitslosen, wobei die Sachverständigen
uns vor Kurzem mitgeteilt haben, dass die Zahl auch bei
4 Millionen oder knapp darunter liegen könnte. Ich
glaube, diese Zahlen zeigen, dass es richtig und notwendig ist, die Möglichkeit einer längeren Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes für das Jahr 2010 beizubehalten, um
damit die Chance zu schaffen, dass die Menschen in Arbeit bleiben und nicht in die Arbeitslosigkeit fallen.
Ich will des Weiteren hinzufügen, dass wir für das
Jahr 2010 noch die Möglichkeit haben, entsprechende
Zuzahlungen bzw. die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen zu gewährleisten. Das stellt eine zusätzliche Erleichterung und Unterstützung für die Betriebe
und damit letztlich auch für die Arbeitnehmer dar.
Ich will darauf hinweisen, dass Hunderttausende von
Arbeitsplätzen durch die derzeitige Regelung der Kurzarbeit gesichert worden sind. Es ist die Frage gestellt
worden, warum man die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes nicht wieder auf maximal sechs Monate beschränkt. Das wäre der Fall, wenn wir keine Regelung
für Anträge ab dem 1. Januar 2010 getroffen hätten. Ich
glaube, das ist gerade für die Planungssicherheit von Unternehmen, aber auch der Arbeitnehmer notwendig;
denn teilweise gibt es Kündigungsfristen, die über drei
Monate hinausgehen. Deshalb glaube ich, es ist richtig,
dass wir eine entsprechende Verordnung beschlossen haben. Aber die Verkürzung der maximalen Bezugsdauer
auf 18 Monate macht deutlich, dass wir ein Ende der
Krise am Arbeitsmarkt sehen und davon ausgehen, dass
die Menschen wieder in die volle Beschäftigung zurückkehren können.
Zusammengefasst: Ich halte diese Entscheidung mit
Blick auf die Arbeitnehmer, aber auch mit Blick auf die
Betriebe für richtig; denn die Betriebe können dadurch
qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren
Betrieben halten und sie, wenn es wieder mehr Aufträge
gibt, wieder voll beschäftigen. Dadurch fallen die Arbeitnehmer nicht in die Arbeitslosigkeit. Daher denke
ich, dass dies eine richtige, eine positive Entscheidung
ist, die sowohl im Interesse der Unternehmen als auch
im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer liegt.
Besten Dank.
({0})
Danke, Herr Minister. - Das Wort zur ersten Frage hat
der Kollege Roland Claus.
Redetext
Herr Bundesminister, das Geld, über das wir hier reden, muss im Etat der Bundesagentur für Arbeit eingestellt werden. Im Etatentwurf für das Jahr 2010 der vorherigen Bundesregierung, der Sie auch angehört haben,
wurde dafür ein Zuschuss von 20 Milliarden Euro veranschlagt. Inzwischen steuern wir auf einen neuen Etatentwurf zu. Sie hatten zwischenzeitlich versucht, die
BA-Zuschüsse in einem Schattenhaushalt unterzubringen, den Sie liebevoll „Sondervermögen“ nennen wollten. Ich würde jetzt gerne von Ihnen wissen: Was haben
wir an Zuschuss für die BA im Etat 2010 zu erwarten,
den Sie am 16. Dezember im Kabinett behandeln wollen?
Sehr geehrter Herr Kollege, Ihre Frage hat mit Kurzarbeit zwar nichts zu tun, aber ich will sie Ihnen trotzdem gerne beantworten.
Tatsache ist, dass die Bundesagentur für 2010 durch
die Entwicklung am Arbeitsmarkt im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit einen Bedarf in Höhe von 17,8 Milliarden
Euro hat und sie noch 1,8 Milliarden Euro Rücklagen hat.
Die Bundesregierung beabsichtig zu entscheiden, die fehlenden 16 Milliarden Euro durch einen Zuschuss abzudecken; denn es ist unser Ziel, die Lohnnebenkosten
auch in Zukunft stabil zu halten. Sie wissen, dass die
Bundesregierung die Lohnnebenkosten gesenkt hat, indem sie den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung
von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent reduziert hat. Dies bedeutete für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Entlastung in Höhe von rund 24 Milliarden Euro.
Es ist unser Ziel, dass der Beitragssatz von 3 Prozent,
der ab dem 1. Januar 2011 gelten soll, auch weiterhin
gilt, um Arbeit nicht zusätzlich zu verteuern. Ich glaube,
es wäre ein Fehler, wenn wir einen Beitrag dazu leisten
würden, Arbeit zu verteuern. Das wäre nicht im Interesse
der arbeitenden Mitbürgerinnen und Mitbürger. Deshalb
werden wir den Beitragssatz stabil halten und der Bundesagentur 2010 einen Zuschuss gewähren.
Die nächste Frage stellt der Kollege Peter Weiß.
({0})
Herr Bundesminister Dr. Jung, zunächst möchte ich
es ausdrücklich begrüßen, dass das Bundeskabinett
heute die neue Rechtsverordnung zum Bezug des Kurzarbeitergeldes beschlossen hat, weil das für die Beschäftigten in den von der Krise gebeutelten Unternehmen unseres Landes eine Beschäftigungssicherung bedeutet.
Damit wird eine gute Perspektive für das kommende
Jahr eröffnet.
Für Betriebe, die ab dem 1. Januar 2010 Kurzarbeitergeld neu beantragen, ist eine Laufzeit von 18 Monaten
möglich. Bedeutet diese Festlegung, dass die Bundesregierung aufgrund der Konjunkturerwartungen für die
Jahre 2010 und 2011 davon ausgeht, dass wir spätestens
Mitte des Jahres 2011 die ärgsten, die schlimmsten Auswirkungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise auf dem
Arbeitsmarkt überwunden haben werden und nach der
Kurzarbeit in den meisten Betrieben wieder Vollbeschäftigung möglich sein wird?
Herr Kollege Weiß, genau das ist die Annahme der
Bundesregierung. Ich will das mit konkreten Zahlen untermauern: Für das Jahr 2009 wurde ein Wirtschaftswachstum von bis zu minus 5 Prozent erwartet. Jetzt
liegen einige Prognosen bei minus 4,7 bzw. 4,8 Prozent.
Sie wissen, dass sie ursprünglich sogar bei minus
6 Prozent lagen. Auch für das Jahr 2010 wurde ursprünglich ein Minus von 0,7 Prozent prognostiziert. Die
Bundesregierung geht jetzt von einem Plus von 1,2 Prozent aus. Die Sachverständigen haben uns am letzten
Freitag gesagt, dass sie mit einem Plus von 1,6 Prozent
rechnen. Sie lesen heute in den Zeitungen, dass der eine
oder andere Sachverständige sogar von einem Plus von
2,5 Prozent ausgeht. Wir sollten hier ein Stück weit
realistisch bleiben. Unsere Zielvorstellung ist, dass wir
wieder zu einer entsprechenden Beschäftigungssituation
am Arbeitsmarkt mit Vollzeitbeschäftigung kommen.
Daher ist es sinnvoll, im Rahmen der neuen Verordnung
die maximale Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf
18 Monate zu beschränken.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Brigitte
Pothmer.
Herr Minister, insgesamt sind von der Inanspruchnahme der Kurzarbeitsregelung bis jetzt 1,4 Millionen
Menschen betroffen. Aber nach meinen Zahlen haben
nur 85 000 Menschen die Möglichkeit einer geförderten
Weiterbildung genutzt. Der Grund dafür liegt darin, dass
die Vorgängerregierung, also die Große Koalition, die
Qualifizierungsanreize aus der Regelung gestrichen hat.
Warum reagiert die Bundesregierung jetzt nicht darauf und nutzt die Verlängerung der Kurzarbeitsregelung, um Qualifizierungsanreize zu setzen? Ich sage dies
vor dem Hintergrund, dass Deutschland wie fast kein anderes europäisches Land in der Weiterqualifizierung ein
Defizit hat. Das wäre die Chance, aus der Krise besser
herauszukommen, als wir hineingegangen sind.
Frau Kollegin, konkret: Wir hatten in der Spitze
1,5 Millionen Arbeitnehmer in der Kurzarbeit. Nach aktuellen Schätzungen - die konkreten Zahlen liegen im
Dezember vor - werden 1,1 Millionen Arbeitnehmer in
Kurzarbeit sein.
Sie haben zutreffend beschrieben, dass wir uns wünschen, dass mehr Menschen die Chancen zur WeiterbilBundesminister Dr. Franz Josef Jung
dung nutzen. Die Bundesregierung hatte damals entschieden, dass bei entsprechender Weiterbildung die
Kosten der Maßnahme zum Teil sowie die Sozialversicherungsbeiträge voll erstattet werden. Dies ist aber
offensichtlich als Anreiz für Weiterbildung und Qualifizierung nicht ausreichend. Deshalb müssen wir hier konkreter werden. Das heißt im Klartext, dass wir etwa auch
die Fremdsprachenförderung als qualifizierende Weiterbildung einbeziehen, um einen zusätzlichen Anreiz zu
schaffen, sodass in Zukunft mehr Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Kurzarbeit die Chance auf Weiterbildung in Anspruch nehmen.
({0})
Die nächste Frage stellt die Kollegin Jutta Krellmann.
Guten Tag, Herr Minister! Meine Frage ist: Wieso hat
die Bundesregierung die Höchstdauer für den Bezug von
Kurzarbeitergeld nicht bei zwei Jahren belassen? Ich
persönlich erlebe, dass viele Betriebe, insbesondere im
Maschinen- und Anlagenbau, noch aus ihrer Auftragslage aus Zeiten der Hochkonjunktur schöpfen und das
Tal der Tränen praktisch noch vor sich haben. Sie werden erst im nächsten Jahr überhaupt in die Situation
kommen, Kurzarbeit anzumelden.
Warum belässt man die maximale Bezugsdauer nicht
bei zwei Jahren? Kein Betrieb meldet freiwillig Kurzarbeit an, sondern er meldet dann Kurzarbeit an, wenn
keine Arbeit da ist. Sobald wieder Arbeit vorhanden ist,
ist das Erste, das im Betrieb gemacht wird, die Kurzarbeit wieder abzumelden und alle voll arbeiten zu lassen. Das liegt im Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, weil die Kurzarbeit für Arbeitnehmer
Einkommensverluste bedeuten.
Die Frage ist noch einmal ganz klar: Wieso kann die
Bezugsdauer nicht weiterhin zwei Jahre betragen, statt
eine Entwicklung vorwegzunehmen, die man noch gar
nicht kennt?
Frau Kollegin, ich denke, Sie müssen sich schon die
Zahlen anschauen, die sich von Jahr zu Jahr verändern.
Im Jahre 2009 haben wir entschieden, den Bezug von
Kurzarbeitergeld auf 24 Monate zu verlängern. Für das
Jahr 2010 haben wir jetzt entschieden, den Bezug auf
18 Monate zu befristen. Im Jahre 2009 - das habe ich gerade gesagt - wird beim Wachstum mit einem Minus von
fast 5 Prozent gerechnet, während für das Jahr 2010 ein
Plus von 1,2 Prozent geschätzt wird. Hier gibt es eine
Veränderung. Wir dürfen nicht zu Dauersubventionen
kommen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die
Menschen wieder in Vollbeschäftigung kommen.
Wenn sich die Rahmenbedingungen positiv verändern, gerade auch beim wirtschaftlichen Wachstum,
dann ist die Einschätzung richtig, die Bezugsdauer auf
18 Monate zu beschränken. Dies schließt nicht aus, dass
man die Gesamtentwicklung weiterhin im Blick behält.
Aber unsere Einschätzung ist, dass wir heute mit dieser
18-Monate-Regelung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese Kurzarbeit genutzt werden kann, um die
Menschen im Betrieb zu halten, dass aber eine längere
Bezugsdauer aufgrund der wirtschaftlichen Daten, die
ich Ihnen gerade vorgetragen habe, nicht notwendig ist.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme.
Herr Minister, wird es im Jahr 2011 bei der Durchführung von Kurzarbeit noch Entlastungen bei den Sozialabgaben geben?
Frau Kollegin, ich habe Ihnen gerade vorgetragen,
dass für das Jahr 2010 Entlastungen bei den Sozialabgaben vorgesehen sind. Es ist per Gesetz beschlossen, dass
diese Regelung bis zum 31. Dezember 2010 gilt. Wir
müssen uns die weitere Entwicklung anschauen. Wir
müssen die entsprechenden Daten, beispielsweise der
Frühjahrsprognosen, konkret ins Blickfeld nehmen, um
festzustellen, ob gegebenenfalls eine zusätzliche Unterstützung notwendig ist. Wir gehen derzeit davon aus,
dass diejenigen, die im Jahr 2010 eine Unterstützung bei
den Sozialabgaben beantragen, diese im Jahr 2010 erhalten. Das ist mit dem Übergang ins Jahr 2011 nach heutigem Stand nicht mehr gegeben. Ich sage aber noch einmal: Wir müssen dies meines Erachtens Mitte des Jahres
2010 auf den Prüfstand stellen und die weitere Entwicklung ins Blickfeld nehmen.
Eine weitere Frage zu diesem Themenbereich stellt
nun die Kollegin Brigitte Pothmer.
Herr Minister, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie in
diesem Themenfeld noch fachfremd sind.
({0})
Es nützt jedoch nichts, den Versuch zu unternehmen,
Fragen, die ich stelle, nicht zu beantworten. Sie können
sich nämlich darauf verlassen: Ich frage einfach immer
wieder.
Sie haben in Ihrer Antwort auf die Bedeutung der
Qualifizierung der Beschäftigten für die wirtschaftliche
Entwicklung in Deutschland hingewiesen. Sie haben die
Defizite, die wir in Deutschland insbesondere in diesem
Bereich haben, zuerkannt. Vor dem Hintergrund dieser
Erkenntnis frage ich Sie: Warum haben Sie nicht wenigstens die entsprechenden Anreize, die schon einmal
bestanden haben und geeignet sind, diese Defizite auszuräumen, wieder ins Gesetz aufgenommen?
Wenn Sie mich schon so ansprechen, will ich Sie darauf hinweisen: Wir reden jetzt über eine Verordnung,
nicht über ein Gesetz. So viel zur Frage des Sachverstands.
({0})
Eine zweite Feststellung: Wir haben innerhalb der
Koalition vereinbart, dass wir uns im Hinblick auf Weiterbildung die Dinge genauer anschauen wollen, um hier
gegebenenfalls nachzujustieren. Man muss die unterschiedlichen Entwicklungen betrachten. Wenn Sie sich
einmal mit den Unternehmen auseinandersetzen, dann
werden Sie sehen, dass die Kurzarbeitsregelungen sehr
unterschiedlich angewandt werden, auch im Hinblick
auf den zeitlichen Umfang. Eine auf längere Zeit angelegte Weiterbildung ist deshalb nicht immer passend.
Man muss sich schon sehr konkret auf die einzelne
Situation beziehen.
Wir haben damals in der Großen Koalition die Entscheidung getroffen, dass bei einer Weiterbildung die
vollen Sozialversicherungsbeiträge erstattet werden.
Hier ist also ein zusätzlicher Anreiz geschaffen worden.
Wie gesagt: Wir werden uns den Punkt genauer anschauen, um hier gegebenenfalls nachjustieren zu können.
({1})
Die nächste Frage stellt der Kollege Peter Weiß.
({0})
Frau Kollegin Pothmer, man kann sich auch ohne
Sprechzettel in der Gesetzesmaterie auskennen. Das hat
Herr Bundesminister Dr. Jung soeben hervorragend unter Beweis gestellt.
({0})
Herr Bundesminister Dr. Jung, ich beziehe mich auf
Ihre Antwort auf die Frage der Kollegin Pothmer. Ist es
richtig, dass es dringend notwendig war, eine Rechtsverordnung des Bundeskabinetts zu erlassen, weil nur so die
gesetzliche Befristung des Kurzarbeitergeldbezugs auf
sechs Monate aufgehoben und die Frist verlängert werden kann? Ist es auch richtig, dass die Frage der Freistellung von den Sozialversicherungsbeiträgen bzw. der Erstattung der Beiträge in vollem Umfang durch die
Bundesagentur für Arbeit nicht über eine Rechtsverordnung geregelt werden kann? Wir haben in einem Gesetz,
beschlossen von der Großen Koalition, festgeschrieben,
dass die entsprechende Regelung bis zum Ende des Jahres 2010 gilt. Wir müssen im kommenden Jahr darüber
nachdenken, ob wir am Gesetz gegebenenfalls etwas ändern; das geht nicht per Rechtsverordnung.
Herr Bundesminister, ich wollte Sie fragen, ob die Erfahrungen Ihres Hauses so sind wie die, die ich in meinem Wahlkreis mache: Für viele Firmen, die wegen des
geringen Auftragseingangs für längere Zeit Kurzarbeit
anmelden müssen, ist die Befreiung von den Sozialversicherungsbeiträgen ab dem siebten Monat Kurzarbeit
ein wichtiger, meist der wichtigste Grund, dass sie sich
doch zur weiteren Kurzarbeit entschließen und keine
Entlassungen vornehmen. Daher glaube ich - im Gegensatz zu Frau Pothmer -, dass diese Regelung der Erstattung der gesamten Sozialversicherungsbeiträge durch
die Bundesagentur für Arbeit ab dem siebten Monat
Kurzarbeit ohne weitere Bedingungen, also auch ohne
die Bedingung von Qualifizierungsmaßnahmen, für die
Betriebe, denen es besonders schlecht geht, der entscheidende Grund ist, Kurzarbeit statt Entlassung zu wählen.
Ist das eine Erfahrung, die auch Ihr Haus in Deutschland
macht?
({1})
Lieber Kollege Weiß, das kann ich nur mit Nachdruck
unterstreichen. Ich habe mit den Betroffenen darüber gesprochen, und das kam immer wieder sehr deutlich zum
Ausdruck. Wir haben ja jetzt die Regelung, dass wir im
ersten halben Jahr die Hälfte der Sozialversicherungsbeiträge und ab dem siebten Monat die gesamten Sozialversicherungsbeiträge erstatten. Das ist für ein Unternehmen meist der Hauptgrund, sich letztlich doch für
Kurzarbeit zu entscheiden und die Menschen nicht in die
Arbeitslosigkeit fallen zu lassen.
Deshalb, glaube ich, ist es in beiderseitigem Interesse;
es ist sinnvoll und geboten. Es ist im Interesse des Betriebes, dass die Arbeitnehmer dem Betrieb auch in Zukunft mit ihrer Qualifizierung voll zur Verfügung stehen,
und es ist im Interesse der Arbeitnehmer, dass sie nicht
in die Arbeitslosigkeit fallen. Deshalb halte ich es für
richtig, dass diese gesetzliche Regelung bis zum 31. Dezember nächsten Jahres gilt. Ich habe ja gesagt: Wir
müssen Mitte des Jahres noch einmal überprüfen, inwiefern es gegebenenfalls weiteren Bedarf gibt. Diese Regelung trägt aber entscheidend dazu bei, dass die Menschen in Kurzarbeit bleiben.
Kollege Weiß, da Sie ein erfahrener Kollege sind,
nehme ich jetzt Ihre Frage zum Anlass, alle Kolleginnen
und Kollegen darauf hinzuweisen, dass wir in der Befragung der Bundesregierung und in der Fragestunde davon
leben, dass wir Fragen stellen, die mit einem Fragezeichen enden und sich nicht über mehr als drei Minuten erstrecken. Das gibt uns die Möglichkeit, möglichst viele
Vizepräsidentin Petra Pau
Fragen zu stellen und natürlich auch möglichst viele
Antworten zu hören.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer.
Ich will versuchen, diese Anregung gleich aufzugreifen. - Herr Minister, ich habe eben sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass Sie planen, im nächsten Jahr anhand
einiger Kriterien zu überprüfen, ob diese Regelung verlängert werden soll. Ich habe das jetzt so verstanden
- das muss ich als Frage formulieren -, dass Sie dabei
allgemeine wirtschaftliche Zahlen zugrunde legen wollen. Werden die Zahlen der allgemeinen wirtschaftlichen
Entwicklung die einzige Grundlage bei der Überprüfung
oder Veränderung der Regelungen zur Kurzarbeit sein,
oder könnten zum Beispiel auch strukturelle Argumente
oder Gesichtspunkte des Arbeitsmarktes dabei berücksichtigt werden? Wenn weitere Punkte berücksichtigt
werden, spielen dann auch Qualifikationsgesichtspunkte
in Ihren persönlichen Überlegungen eine Rolle, um auch
an die Zukunft der jungen Menschen zu denken?
Ich denke, ob es solche Überprüfungsnotwendigkeiten gibt, hängt nicht nur vom wirtschaftlichen Wachstum
ab. Ich will Ihnen auch sagen: Natürlich muss man
schauen, wie sich das in den unterschiedlichen Industriezweigen auswirkt. Das heißt konkret: Wir haben heute
im verarbeitenden Gewerbe eine wesentlich andere Entwicklung als beispielsweise in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Weiterbildung. Das sind Punkte, die
man bei der Gesamtabwägung berücksichtigen muss;
denn letztlich - auch das will ich sagen; ich bin ja vorhin
nach den finanziellen Aspekten gefragt worden - ist es
immer noch sinnvoller, in Arbeit zu investieren als in
Arbeitslosigkeit. Deshalb muss man diese Fragen Mitte
des Jahres auf den Prüfstand stellen, um gegebenenfalls
zu entsprechenden Entscheidungen zu kommen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Heinrich Kolb.
Herr Minister, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Verordnung nur die maximal mögliche
Bezugsdauer geregelt ist und dass die tatsächliche Inanspruchnahme von Kurzarbeit durch die Betriebe davon
zu unterscheiden ist. Gibt es in Ihrem Haus Zahlen dazu,
wie lang die Kurzarbeitsphasen in den Unternehmen tatsächlich sind? Das heißt, ist eine Dauer von mehr als
sechs Monaten in der jetzigen Wirtschaftslage die Regel,
oder ist das eher die Ausnahme?
Es gibt diesbezüglich Untersuchungen. Die Kurzarbeitsphasen dauern zum Teil bis zu drei Monate, zum
Teil bis zu sechs Monate oder länger, wobei sich das in
etwa die Waage hält. Kollege Kolb, die einzelnen Zahlen
habe ich jetzt nicht im Kopf. Ich bin aber gerne bereit,
sie Ihnen schriftlich nachzureichen, damit Sie sich die
unterschiedliche Dauer dieser Phasen ansehen können.
Ich möchte hinzufügen: Im Hinblick auf die Situation
auf dem Arbeitsmarkt betrachte ich es als durchaus positiv, dass ein Teil der Betriebe von der im Rahmen der
Arbeitszeitkonten geschaffenen Flexibilität Gebrauch
gemacht hat; auch diese Regelung bietet nämlich eine
Möglichkeit, besser durch die Krise zu kommen. Die
zeitliche Inanspruchnahme ist allerdings sehr unterschiedlich. Die konkreten Zahlen werde ich Ihnen gerne
nachreichen.
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert.
Herr Minister, mit welchen Auswirkungen auf die
verschiedenen Branchen und auf den Arbeitsmarkt für
Frauen und Männer rechnen Sie?
Ich möchte mich jetzt nicht ins Spekulative begeben,
Frau Kollegin. Man muss aber zur Kenntnis nehmen,
dass die Situation beispielsweise im Maschinenbau, um
eine Branche zu nennen, noch schwieriger ist als in den
Berufen, die, wie ich vorhin sagte, einen Bezug zur Gesundheit haben.
Da dies auch unmittelbar mit dem Export zusammenhängt, kann ich nur hoffen und wünschen, dass wir diese
krisenhafte Situation in dem zeitlichen Rahmen, den ich
dargestellt habe, bewältigen und dass es dann auch für
die besonders betroffenen Unternehmen einschließlich
der Automobilindustrie wieder eine Perspektive gibt.
Die Entwicklungen in den einzelnen Industriezweigen
sind, wie gesagt, sehr unterschiedlich. Deshalb muss
man darauf auch unterschiedlich reagieren.
Ich glaube, dass die Grundsatzentscheidung, den Betrieben jetzt die Möglichkeit zu eröffnen, im Jahre 2010
für eine Dauer von 18 Monaten Kurzarbeit in Anspruch
zu nehmen, auch ihren Interessen gerecht wird. Ich kann
nur hoffen und wünschen, dass die Betriebe, die in Bereichen tätig sind, in denen sich die Situation heute noch
schwierig gestaltet, dann wieder die Perspektive haben,
zur vollen Beschäftigung zurückzukehren.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Anette
Kramme das Wort.
Herr Minister, wann liegt nach Auffassung des Ministeriums ein Neuantrag vor? Nehmen wir die Sachverhaltskonstellation an, dass ein Betrieb im Jahr 2009 bis
einschließlich Januar 2010 Kurzarbeit beantragt hat.
Reicht beispielsweise eine Unterbrechung von zwei Mo326
naten aus, um die Stellung eines Neuantrages zu vermuten?
Frau Kollegin, es kommt auf die konkrete Antragstellung an. Für alle Anträge, die bis zum 31. Dezember dieses Jahres gestellt werden, gilt noch der Zeitraum von
24 Monaten. Für Anträge, die ab dem 1. Januar 2010 bis
zum 31. Dezember 2010 gestellt werden, gilt dann der
Zeitraum von 18 Monaten.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Pothmer.
Die Zahl der Betrugsverdachtsfälle beim Kurzarbeitergeld ist stark gestiegen. Warum nutzt die Regierung
die Neuregelung der Verordnung nicht, um hier strengere Regelungen zu treffen?
Hierzu will ich Ihnen Folgendes sagen: Es geht um
insgesamt 100 000 Betriebe. In 633 Fällen werden derzeit entweder vonseiten des Zolls oder vonseiten der
Bundesagentur Sonderprüfungen durchgeführt. Nach
meiner Kenntnis hat sich der Verdacht in 67 Fällen als
nicht zutreffend erwiesen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind mittlerweile 60 Fälle an die Staatsanwaltschaft
abgegeben worden, und die Staatsanwaltschaft ist in ihre
Ermittlungen eingetreten. Diesen Verdachtsfällen wird
sehr konkret nachgegangen, damit ein solches strafrechtlich relevantes Verhalten in Zukunft unterbleibt.
Die nächste Frage stellt der Kollege Jens Petermann.
Herr Minister, eine Kollegin ist mir zuvorgekommen,
daher will ich nur ergänzend fragen: Haben Sie einen
Überblick über die Höhe des Schadens, der durch Missbrauch der Kurzarbeiterregelung entstanden ist?
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Ich kann Ihnen
nur sagen, dass jetzt durch Sonderprüfungen den einzelnen Fällen nachgegangen wird und dort, wo es relevant
ist, auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen aufgenommen werden. Selbstverständlich hat dies zur Konsequenz, dass Schadensersatzansprüche geltend gemacht
werden. Von daher sage ich: Alle rechtlichen Möglichkeiten werden ausgeschöpft, um diesen Fällen nachzugehen.
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger.
Herr Minister, eine Kollegin der Linken - mir ist leider Gottes der Name nicht geläufig; dafür bitte ich um
Entschuldigung - hat etwas vorwurfsvoll gesagt,
({0})
dass die Neuregelung nur die Möglichkeit biete, für
18 Monate Kurzarbeitergeld zu bekommen, während
dies nach der alten Regelung für bis zu 24 Monate möglich war. Haben Sie Erkenntnisse über die Betriebe, die
insgesamt für 24 Monate Kurzarbeit beantragt haben?
Für bis zu 24 Monate hat nur ein sehr geringer Teil
der Betriebe Kurzarbeit beantragt. Ich habe dem Kollegen Kolb gesagt, dass ich ihm die Einzelaufschlüsselung
noch gebe.
Es wird - das will ich noch sagen - oft vergessen,
dass die Kurzarbeiterregelung, auch wenn wir die Sozialversicherungsbeiträge übernehmen, sowohl die Betriebe als auch die Arbeitnehmer etwas kostet; aber natürlich ist das immer noch besser als Arbeitslosigkeit.
Die Betriebe nehmen die Möglichkeit der Kurzarbeit
aber nicht länger in Anspruch als es zwingend notwendig ist. Was der Kollege Weiß vorhin angesprochen hat,
ist natürlich zutreffend. Durch die volle Entlastung bei
den Sozialversicherungsbeiträgen - nach 7 Monaten -,
haben wir eine zeitliche Perspektive eröffnet; aber die
Ausschöpfung von insgesamt 24 Monaten geht, wenn
ich es richtig im Kopf habe, gegen null.
Die Kollegin Jutta Krellmann hat das Wort zu einer
weiteren Nachfrage.
Ich habe noch eine Nachfrage zur Dauer. Wenn die
Bundesregierung sieht, dass der Bedarf, Kurzarbeit anzumelden, branchenabhängig ist, wieso hat sie dann im
Rahmen der Anschlussregelung nicht ermöglicht, dass
entsprechend entschieden werden kann: dass eine Branche, die Kurzarbeit braucht, diese bekommt und Branchen, die sie nicht brauchen - zum Beispiel, wie Sie
selbst gesagt haben, das Gesundheitswesen -, keine Genehmigung für zwei Jahre Kurzarbeit bekommen?
Frau Kollegin, wo Kurzarbeit nicht zwingend notwendig ist, wird sie gar nicht beantragt; denn Kurzarbeit
kostet, wie ich gerade gesagt habe, sowohl die Betriebe
als auch die Arbeitnehmer etwas. Umsonst ist Kurzarbeit
jedenfalls nicht. Deshalb glaube ich, dass Kurzarbeit
nicht beantragt wird, wenn das nicht geboten ist. Es
kommt auf die entsprechende Notwendigkeit an.
Letztlich - das ist doch das Ziel, das man nicht aus
dem Auge verlieren darf - geht es darum, einen Beitrag
zu leisten, dass die Menschen in Arbeit bleiben und nicht
in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Ich denke, das
sollte unser gemeinsames Interesse sein. Ein entscheidender Faktor dafür, dass wir durch diese größte Wirtschafts- und Finanzkrise, die die Bundesrepublik
Deutschland je erlebt hat, bisher, was den Arbeitsmarkt
anbetrifft, einigermaßen robust durchgekommen sind, ist
neben anderen Faktoren die Kurzarbeit. Deshalb halte
ich es für geboten, dass wir, weil wir durch das Tal noch
nicht hindurch sind, den Zeitraum, für den man Kurzarbeit anmelden kann, auf 18 Monate festlegen.
({0})
Weitere Fragen zu diesem Themenbereich liegen mir
nicht vor.
Gibt es Fragen zu anderen Themenbereichen der heutigen Kabinettssitzung? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der hier anwesende
Staatssekretär Otto hat laut Tickermeldungen die beabsichtigte Einflussnahme des Ministerpräsidenten Koch
auf die am Freitag anstehende Entscheidung über die
Neubesetzung des Chefredakteurpostens beim ZDF zu
Recht kritisiert.
Daran schließen sich meine Fragen an, ob die Bundesregierung diese Bewertung teilt, denn aus unserer
Sicht wird dadurch die Unabhängigkeit des öffentlichrechtlichen Rundfunks insgesamt in der Tat infrage gestellt, und welche konkreten Maßnahmen seitens der
Kanzlerin und seitens des Beauftragten für Kultur und
Medien ergriffen worden sind oder ergriffen werden, um
einen solchen Sündenfall zu verhindern, zumal der
Staatsminister im Verwaltungsrat ja auch mit Sitz und
Stimme vertreten ist.
Zur Beantwortung steht der Staatsminister bei der
Bundeskanzlerin Eckart von Klaeden zur Verfügung, der
auch für die Bund-Länder-Koordination zuständig ist.
Sie haben das Wort.
Herr Kollege, ungeachtet der Wertungen in Ihrer
Frage kann ich Ihnen mitteilen, dass der von Ihnen angesprochene Sachverhalt in der Kabinettssitzung keine
Rolle gespielt hat.
({0})
Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen an die
Bundesregierung? - Herr Kollege Oppermann.
Sehr geehrter Herr Staatsminister von Klaeden, mit
der Antwort kann man sich nicht zufriedengeben. Die
Bundesregierung ist ja auch für die Einhaltung der Verfassung und die Respektierung der Rundfunkfreiheit in
Deutschland zuständig und verantwortlich. Deshalb
frage ich: Welche Haltung hat die Bundesregierung in
dieser Frage?
Herr Kollege Oppermann, bei aller persönlichen
Wertschätzung: Ihnen als erstem Geschäftsführer Ihrer
Fraktion sollte doch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geläufig sein. Darin steht, dass in der
Regierungsbefragung nach Sachverhalten gefragt wird,
die in der Kabinettssitzung eine Rolle gespielt haben.
Es ist Ihnen unbenommen, dringliche Fragen oder
Fragen an die Bundesregierung zu stellen. Wenn Sie die
Antwort auf diese Frage so sehr interessiert, dann können wir sie gerne in der nächsten Fragestunde beantworten.
Die letzte Frage, die in der jetzigen Regierungsbefragung eine Rolle spielt, stellt der Kollege Wolfgang
Gehrcke.
Herr Staatsminister von Klaeden, man muss sich ja
erst einmal an Ihre neue Rolle gewöhnen; das gebe ich
zu. Ich frage Sie auch nicht nach der Außenpolitik. Darauf dürften Sie ja nicht antworten. Das hat sich jemand
anderes vorbehalten.
Meinen Sie nicht, dass sich die Bundesregierung mit
diesem Vorgang in Hessen beschäftigen muss, da Herr
Koch in einem Aufruf von 25 Intellektuellen hinsichtlich
seiner Haltung zu den Medien mit Herrn Berlusconi verglichen wird? Ich halte das für einen ernsten Vorgang.
Damit müsste sich das Kabinett eigentlich auseinandersetzen.
Herr Kollege Gehrcke, zunächst einmal darf ich mich
zu allen Fragen äußern, die in der Kabinettssitzung eine
Rolle gespielt haben. Ich wiederhole, dass der von Ihnen
angesprochene Sachverhalt nicht zu diesen gehört, und
ich bitte doch um Verständnis dafür, dass sich die Bundesregierung an die Geschäftsordnung hält, die sich das
Parlament selbst gegeben hat.
({0})
Es ist der Bundesregierung unbenommen, zu entscheiden, was sie beantwortet. Richtig ist aber: In unserer Geschäftsordnung steht, dass in der Regierungsbefragung zuerst ein Mitglied der Bundesregierung fünf
Minuten lang zu einem selbst gewählten Thema vorträgt,
dass dann vorrangig Fragen dazu gestellt werden und an328
Vizepräsidentin Petra Pau
schließend nach weiteren Themen der an diesem Tag
stattgefundenen Kabinettssitzung gefragt werden kann.
Ich hatte, weil das in unserer Geschäftsordnung vorgesehen ist, ausdrücklich danach gefragt, ob es sonstige
Fragen an die Bundesregierung gibt. Das war eine solche
sonstige Frage. Das heißt natürlich noch lange nicht,
dass die Bundesregierung die Frage sozusagen zur Zufriedenheit der Fragesteller beantworten muss. Das liegt
dann in ihrem Ermessen.
Eine weitere Frage ist in diesem Bereich jetzt nicht
mehr möglich, Kollege Beck.
Ich beende die Regierungsbefragung und rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde ({0})
- Drucksachen 17/48, 17/54 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 17/54 des Kollegen Volker Beck
auf:
Welches Land hat für den Hasssänger Sizzla alias Miguel
Collins ein Visum ({1}) ausgestellt, und warum
wird die Einreise nach Deutschland oder in den SchengenRaum anders als nach Großbritannien nicht verhindert, obwohl Sizzla 2008 im Schengen-Informationssystem zur
Nichteinreise ({2}) ausgeschrieben wurde und entsprechend die Einreise nach Deutschland dann auch misslang?
Sie betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung. - Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Französische Republik hat Herrn Collins am
23. September 2009 ein Schengen-Visum erteilt. Für den
Zeitraum ab dem 9. Oktober 2009 waren und sind zahlreiche Auftritte von Herrn Collins in verschiedenen
europäischen Staaten vorgesehen. Die Zuständigkeit für
allgemeinpolizeiliche und ordnungsbehördliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Konzertveranstaltungen
liegt bei den Ländern. Daher hat das Bundesministerium
des Innern die Innenressorts der betreffenden Länder
nochmals gebeten, notfalls durch ordnungsbehördliche
Maßnahmen sicherzustellen, dass kein strafbewehrtes
Liedgut vorgetragen wird. Dadurch werden die Belange
der öffentlichen Sicherheit auch weiterhin angemessen
gewahrt. Das Bundesministerium des Innern wird die
Wirksamkeit dieser Maßnahmen genau beobachten.
Auch ist zu berücksichtigen, dass Herr Collins den
Reggae Compassionate Act, eine Art freiwillige Grundsatzerklärung der Reggae-Repräsentanten, für einen respektvollen und toleranten Umgang unterzeichnet hat und
polizeilichen Erkenntnissen bei zurückliegenden Konzerten unter anderem in Budapest und Den Haag im Jahr
2008 zufolge keine Liedtexte mit strafrechtlich relevantem Inhalt bekannt geworden sind. Ich bitte auch um
Verständnis, dass die Bundesregierung zu Einzelmaßnahmen der Länder nicht Stellung nehmen kann.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, Kollege
Beck.
Frau Präsidentin, würden Sie mir noch eine Bemerkung zu dem vorigen Vorgang gestatten? In der Anlage 7
unserer Geschäftsordnung ist zur Befragung der Bundesregierung eindeutig geregelt, dass die Bundesregierung
zu Fragen von aktuellem Interesse im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit Rede und Antwort steht und nur vorrangig zur vorangegangenen Kabinettsitzung. Das heißt,
wenn die Fragen vom Parlament nicht vorrangig gestellt
werden, dann werden nachrangig üblicherweise auch die
Materien behandelt, die das Parlament nachrangig interessieren. Das ist von unserer Geschäftsordnung gedeckt. Das ist keine Kritik an Ihnen, Frau Präsidentin,
sondern eher an der Antwort oder Nichtantwort der Regierung.
Dies hatte ich auch gerade eben klargestellt für die
Bundesregierung wie auch für die neuen Kolleginnen
und Kollegen. Denn viele Kolleginnen und Kollegen
sind heute in einer Premierensituation.
Genau.
Jetzt bitte Ihre Nachfrage, Kollege Beck.
Es ist richtig, Herr Staatssekretär, dass der ReggaeSänger Sizzla den Reggae Compassionate Act im April
2007 unterschrieben hat. Er hat sich danach bei mehreren Auftritten auch in Europa erneut homophob geäußert, in Jamaika die Unterzeichnung des Reggae Compassionate Act bestritten und ein neues Lied „Nah
Apologize“ - „don’t apologize to no batty-boy“, wie es
darin auf Patois heißt - gesungen, in dem an vier Stellen
zum Mord an Homosexuellen aufgerufen wird. Dieses
Lied ist nach der Unterzeichnung geschrieben worden.
Es ist an verschiedenen Stellen auf YouTube abrufbar.
Ich habe vorhin die entsprechenden Stellen als Links ans
Ministerium geschickt.
Ich frage Sie, ob die Bundesregierung bereit wäre,
aufgrund dieses Sachverhaltes zu prüfen, dass wie im
Jahr 2008 Herr Collins alias Sizzla erneut im SchengenInformationssystem zur Nichteinreise ausgeschrieben
wird. Denn ich finde, es bringt nichts, wenn jemand
zwar hier keine Mordaufrufe singt, aber dort damit weitermacht, wo es wie in Jamaica zu realen Morden führt.
Ich glaube, wir alle würden doch auch nicht akzeptieren,
dass uns ein Holocaust-Leugner verspricht, bei seinem
Auftritt in Deutschland nur über den Ersten Weltkrieg zu
sprechen, statt den Holocaust zu leugnen. Es muss Regeln geben, wie wir mit Leuten umgehen, die zu Mord
und Gewalt gegen Minderheiten aufrufen. Ich finde, solche Leute haben in unserem Land nichts verloren.
Wir sind uns völlig einig, dass jede Form von Hassgesang und Hasspredigten in unserem Land nichts zu suchen haben, unabhängig gegen wen, ob gegen Homosexuelle, gegen Frauen, in welcher Form auch immer.
Wir sind an die uns vorliegenden Informationen gebunden. Denn wir leben in einem Rechtsstaat. Dieser
Rechtsstaat gilt für alle. Deshalb müssen wir auch das
Prinzip der Verhältnismäßigkeit berücksichtigen.
Eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem bedeutet, dass der Betroffene auch keine privaten
Reisen durchführen darf. Wir stehen in sehr engem Kontakt mit verschiedenen Ländern und beobachten genau,
welche Lieder dieser Sänger singt. Wir sind dankbar für
jeden Hinweis, der dazu führen kann, dass wir eine solche Person im Schengener Informationssystem ausschreiben, um Straftaten in Deutschland zu verhindern.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Welcher Umstand oder neue Aspekt hat eigentlich
dazu geführt, dass die Daten von Herrn Sizzla, nachdem
er 2008, also nach seiner berühmt-berüchtigten Unterschrift, im Schengener Informationssystem erfasst war,
offensichtlich 2009 herausgenommen wurden? Er hat
seitdem nichts widerrufen, und es ist auch kein neuer
Gesichtspunkt aufgetaucht. Er hat vielmehr in schöner
Regelmäßigkeit weiter seine Mordaufrufe in Jamaika gesungen. Deshalb ist mir das administrative Handeln, das
die Herausnahme aus dem Schengener Informationssystem bewirkt hat, nicht verständlich.
Ich hatte die Ehre, mit Otto Schily, Herrn Müller und
anderen an den Zuwanderungsverhandlungen teilzunehmen. Damals gab es über alle Parteigrenzen hinweg den
Konsens, dass Hassprediger und Hasssänger hier in
Deutschland nichts verloren haben und dass wir sogar
versuchen, solche Personen außer Landes zu bringen,
obwohl sie ein Aufenthaltsrecht haben. Umso mehr
müsste man verhindern, dass Personen, die keinen Aufenthaltsstatus und keine Rechte, die sich aus einem solchen Status ableiten lassen, besitzen, mit einem Visum
einreisen.
Ich habe bereits vorgetragen, dass nach den hiesigen
Erkenntnissen im Jahr 2008 in Budapest und Den Haag
keine Liedtexte mit strafrechtlich relevanten Inhalten bekannt geworden sind. Daraufhin ist die Ausschreibung
im Schengener Informationssystem offensichtlich nicht
verlängert worden. Solche Ausschreibungen erfolgen
immer nur befristet. Nun geht es darum, dass wir das
Ganze weiter beobachten, um Informationen und Anhaltspunkte zu bekommen, die es nach unseren rechtsstaatlichen Prinzipien rechtfertigen, erneut eine solche
Ausschreibung vorzunehmen.
Es gibt noch eine Nachfrage des Kollegen Josef
Winkler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
mir stellt sich folgende Frage: Muss in die Bewertung
nicht einfließen, dass jemand, der in seinem Liedgut zu
Straftaten aufruft, in Deutschland eine Straftat begehen
würde, wenn er es hier täte, und wäre das nicht visumsrelevant? Herr Kollege Beck hat darauf hingewiesen,
dass auch die aktuellen Liedtexte dieses Sängers, die
nach 2007 veröffentlicht wurden, Mordaufrufe enthalten. Damit ist doch die Wahrscheinlichkeit hinreichend
gegeben, dass er solche Liedtexte auch auf seiner Tournee in Deutschland singt. Allein der Hinweis, dass er das
bisher auf anderen Konzerten in Europa nicht getan hat,
erhöht nicht die Wahrscheinlichkeit, dass er das auch in
Deutschland nicht tut.
Ich möchte jetzt nicht diesen Einzelfall en detail
durchdeklinieren. Dazu müssten wir sämtliche Informationen haben. Wir müssen aufpassen, dass wir das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung beachten. Wenn
sich jemand in der Vergangenheit an die Gesetze in
Europa gehalten und solche Liedtexte nicht gesungen
hat, dann ist das ein allgemeiner Anhaltspunkt dafür,
dass er das auch zukünftig nicht tun wird. Umgekehrt
gilt auch: Wenn jemand solche Platten aufnimmt, dann
ist das ein Anhaltspunkt dafür, dass er sich unter Umständen nicht an die Gesetze hält. Das muss abgewogen
werden. Es geht hier um eine Einzelfallentscheidung.
Noch einmal: Die Einstellung in das Schengener Informationssystem ist ein sehr weitreichender Schritt.
Das gilt nicht nur für Konzertreisen, sondern für alle privaten Reisen. Deshalb muss genau beachtet werden, ob
das verhältnismäßig ist oder nicht.
Ich finde, wir sollten diese Diskussion in allen Bereichen führen. Das gilt für alle Hassprediger, für alle Hasssänger. Schauen Sie sich an, was nicht nur in manchen
Reggaetexten, sondern vor allen Dingen auch in manch
anderen Texten steht. Wir sollten zukünftig viele Bereiche beobachten, nicht nur Reggaemusiker, sondern auch
andere Musiker, die in ihren Texten beispielsweise zur
Gewalt gegen Frauen aufrufen. Wir sollten insgesamt die
Diskussion darüber führen, welche Maßstäbe hierfür
gelten und zu welchen Konsequenzen das führen muss.
Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der dringlichen Frage.
Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet worden ist, rufe ich jetzt die Fragen auf
Drucksache 17/48 in der üblichen Reihenfolge auf.
Die Frage 1 des Kollegen Volker Beck ({0}) zur Benennung von Erika Steinbach als Stiftungsratsmitglied
Vizepräsidentin Petra Pau
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wird
schriftlich beantwortet. Das entspricht Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien für die Fragestunde. Das heißt, dieses
Thema wird in einem anderen Tagesordnungspunkt der
Sitzungswoche behandelt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Wolfgang Gehrcke
auf:
Wird die Bundesregierung bei der gemeinsamen deutschisraelischen Kabinettssitzung am Montag, dem 30. November
2009, die israelische Regierung nachhaltig zu einem Baustopp
in den besetzten palästinensischen Gebieten auffordern?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Bei Begegnungen mit israelischen Regierungsmitgliedern, so auch am 30. November 2009, wenn die
zweiten deutsch-israelischen Regierungskonsultationen,
wie Sie wissen, in Berlin stattfinden, stehen im Rahmen
des Nahostfriedensprozesses diese Fragen ständig auf
der Tagesordnung. Zuletzt war dies der Fall bei dem
Gespräch von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel mit
Ministerpräsident Netanjahu am 27. August 2009 in
Berlin sowie bei den Gesprächen des Bundesministers
des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, bei seinem
Besuch in Israel am 23./24. November. Die Position der
Bundesregierung zum Siedlungsbau ist bekannt und gilt
fort. Die Fortsetzung des Siedlungsbaus widerspricht
den zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen
und erschwert eine verhandelte Endstatuslösung. Die
Bundesregierung und ihre europäischen Partner haben
regelmäßig verdeutlicht und werden das auch in Zukunft
tun, dass sie die Fortsetzung des Siedlungsbaus ablehnen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank für Ihre Antwort, Frau Staatsministerin. Ich habe mit Interesse gelesen, dass der Außenminister in Israel gesagt hat, um es wörtlich zu zitieren,
dass die Regelungen zum Siedlungsbau Teil der
Roadmap bleiben. Das war nie bestritten. Die Roadmap
ist abgeschlossen. Die Frage ist, was die Bundesregierung zu tun gedenkt, um Israel zu bewegen, sie einzuhalten. Das ist der Punkt, um den die Auseinandersetzungen
gehen.
Bundesminister Westerwelle hat sich mehrmals dazu
geäußert. Er hat unter anderem während seiner Reise
auch geäußert, dass es um die Siedlungspolitik gehen
wird, die auch Thema der Gespräche der amerikanischen
Außenministerin gewesen ist und die natürlich auch in
der Nahostpolitik eine große Rolle spielt. Er hat sich zur
sogenannten Roadmap für den Nahostfriedensprozess
bekannt. Die Roadmap sieht auf dem Weg zum Frieden
das Einfrieren der Siedlungsaktivitäten vor. Er hat deutlich gemacht, dass diese Haltung von Deutschland vertreten wird. Die Roadmap ist klar vereinbart. Er hat zum
Einfrieren der Siedlungsaktivitäten aufgefordert, und das
vertritt er nach außen. Ich glaube, dass die Bundesregierung immer wieder eine ganz klare Haltung auch in den
Gesprächen mit der israelischen Regierung zeigt und
dass diese nicht anzuzweifeln ist.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nachfragen,
welche Bedeutung die Bundesregierung dem Umstand
beimisst, dass der Palästinenserpräsident Abbas erneut
für diese Aufgabe kandidiert. Glauben Sie, dass man
Herrn Abbas davon überzeugen kann, dass, wenn von
Europa faktisch wenig Unterstützung geleistet wird, das
ein Schritt ist, der notwendige Friedensverhandlungen
wieder in Gang bringen kann? Was Sie gesagt haben, ist:
Wir bleiben dabei. - Sie haben aber nicht gesagt, was Sie
tun wollen, um Israel dazu zu bringen.
Gehen Sie davon aus, dass die Bemühungen der Bundesregierung weiterhin darauf ausgerichtet sein werden,
dass wir einen schnellen Einstieg in die Friedensverhandlungen bekommen und dass wir dabei alle Aspekte
abwägen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Rolf
Mützenich das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatsministerin, im Zusammenhang mit der Bearbeitung des Nahostkonfliktes stehen wir vor vielen Entscheidungen. Der
Außenminister hat soeben Israel und die palästinensischen Gebiete bereist. Vor diesem Hintergrund möchte
ich Sie gerne fragen, ob Sie uns möglicherweise über die
Reaktionen Israels und der am UNIFIL-Prozess beteiligten Staaten auf die Reise des Außenministers in Kenntnis setzen können. Wie ist darauf reagiert worden, dass
die Bundesregierung beabsichtigt, diesen Einsatz nur für
die nächsten sechs Monate zu verlängern, wodurch ein
Ausstieg Deutschlands bereits vor einer weiteren Verlängerung des Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen erfolgen würde?
Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung begleitet
diese Friedensbemühungen sehr intensiv. Gehen Sie einmal davon aus, dass das auch weiterhin so geschehen
wird.
Ich kann Ihnen keine konkrete Antwort auf Ihre Frage
geben. Ich bin aber gern bereit, sie schriftlich zu beantworten.
Damit kommen wir zur Frage 3 des Kollegen
Wolfgang Gehrcke:
Wird die Bundesregierung den Umgang mit dem sogenannten Goldstone-Bericht über Menschenrechtsverletzungen
im Gazakrieg zu einem Thema bei den deutsch-israelischen
Regierungsgesprächen machen?
Sie haben das Wort, Frau Staatsministerin.
Wie bereits in der Antwort auf Frage 2 ausgeführt,
Herr Gehrcke, sind bei Begegnungen mit israelischen
Regierungsmitgliedern für den Nahostfriedensprozess
relevante Fragen selbstverständlich stets Thema. Die
Position der Bundesregierung zum Goldstone-Bericht ist
bekannt und gilt natürlich fort.
Die Bundesregierung hat sich von Beginn an für eine
angemessene, ausgewogene Behandlung eingesetzt. Der
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ist als Auftraggeber des Goldstone-Berichts das geeignete Gremium für eine sorgfältige Aufarbeitung der erhobenen
Vorwürfe. Das liegt im Interesse beider Parteien. Dafür
setzt sich natürlich auch die Bundesregierung ein.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Die Bundesregierung hat sich gegen die Weiterleitung
des Goldstone-Berichtes, in dem beiden Konfliktparteien
- nicht nur Israel; es ist mir wichtig, das zu betonen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, an
die Vollversammlung der Vereinten Nationen ausgesprochen. Könnten Sie dem Parlament erklären, warum die
Bundesregierung nicht möchte, dass der Goldstone-Bericht in dieser Ausgewogenheit von der Vollversammlung der Vereinten Nationen diskutiert wird?
Wie Sie wissen, haben bei dieser Frage nicht nur
Deutschland, sondern auch die USA, Italien, Tschechien
und die Niederlande mit Nein gestimmt. Nach Auffassung der Bundesregierung ist der Menschenrechtsrat der
Vereinten Nationen als Auftraggeber des Goldstone-Berichts das geeignete Gremium für die Befassung; das
habe ich schon gesagt. Vorverurteilungen und dem Weiterverweisen an andere Stellen hat sich die Bundesregierung von Anfang an widersetzt.
Nach schwierigen Verhandlungen in New York über
einen Textentwurf der palästinensischen Delegation mit
dem Ziel, einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss
zu finden, berücksichtigte der zur Abstimmung vorgelegte Text weder die Verhandlungsergebnisse noch
Kompromissvorschläge verschiedener Parteien. Die
erste vorgelegte Version dieses Textes war für die Bundesregierung und andere Mitgliedstaaten nicht akzeptabel. Daher hat die Bundesregierung am 5. November
2009 gemeinsam mit einigen EU-Mitgliedstaaten und
den USA die Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen abgelehnt, die den Goldstone-Bericht
indossiert und an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weiterverweist.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Frau Staatsministerin, können Sie verstehen, dass vor
diesem Hintergrund bei der palästinensischen Autorität
- nicht bei irgendwelchen Randgruppen - der Wunsch
nach einer einseitigen Ausrufung eines palästinensischen
Staates wächst, um die Anliegen der Palästinenser, auch
rechtlich gesehen, endlich durchsetzen zu können? Wie
wird sich die Bundesregierung dazu verhalten?
Der Bundesaußenminister, Herr Westerwelle, hat sich
ganz klar auch während seines Besuches und während
des Gesprächs mit Herrn Netanjahu zu einer Zwei-Staaten-Lösung geäußert. Das wissen Sie sicherlich; denn
das konnten Sie ja den Medien so entnehmen.
({0})
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Rolf
Mützenich das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Im Zusammenhang
mit den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen,
die ja hier angesprochen worden sind, würde ich gerne
noch einmal nachfragen, ob Sie sich - weil die Bundeskanzlerin ja gesagt hat, dass der Einsatz im Rahmen des
UNIFIL-Mandats im Interesse der israelischen Sicherheit ist, und die Gesprächspartner in Israel uns nahegelegt haben, den Beitrag doch so lange aufrechtzuerhalten, wie das Mandat des Sicherheitsrates gilt - zu einer
Korrektur Ihrer Mandatsentscheidung entschließen
könnten.
Sie wissen, dass wir zu diesem Thema noch im Deutschen Bundestag debattieren werden. Deswegen will ich
an dieser Stelle den Äußerungen des Bundesaußenministers und der Bundeskanzlerin nicht vorgreifen.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Paul Schäfer werden
schriftlich beantwortet.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Tom Koenigs auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um sich für
menschenwürdige Haftbedingungen und einen legalen Status
der Häftlinge im Militärgefängnis Bagram, Afghanistan, und
im neu eingerichteten Gefängnis Parwan, Afghanistan, einzusetzen, und hat die Bundesregierung vor, entsprechende Initiativen im UN-Menschenrechtsrat vorzubringen?
Sie haben das Wort, Frau Staatsministerin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich beantworte die
Frage für die Bundesregierung wie folgt: Nach Kenntnis
der Bundesregierung beabsichtigt die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika im Zusammenhang mit
dem Neubau des Gefängnisses Parwan und der Verlegung der Gefangenen in dieses neue Gefängnis, die bis
Ende dieses Jahres abgeschlossen sein soll, Lage und
Rechte der Insassen zu verbessern.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit wiederholt gegenüber der US-Administration deutlich gemacht, dass der internationale Terrorismus entschlossen
bekämpft werden muss, dabei aber rechtsstaatliche
Grundsätze und völkerrechtliche Verpflichtungen eingehalten werden müssen. Diese Haltung wird die Bundesregierung auch weiterhin gegenüber der US-Administration vertreten.
Sie haben das Wort zu einer ersten Nachfrage.
Frau Staatsministerin, wie steht die Bundesregierung
zur Einbeziehung der afghanischen Justiz in die rechtsstaatliche Behandlung von Gefangenen bisher in Bagram
und künftig in Parwan?
Die afghanische Regierung hat deutlich gemacht, dass
sie in dieser Frage aktiv werden will und sich letztendlich auch verpflichtet sieht, zukünftig diese Aufgabe zu
übernehmen. Das ist Ihnen ja bekannt. Ich denke, dass
man weiterhin in Gesprächen, auch mit der amerikanischen Regierung, daran arbeiten sollte, das zu vollziehen.
Kollege Koenigs, Sie haben das Wort zu einer zweiten Frage.
Das begrüße ich ausdrücklich. - Glauben Sie, dass
sich die Bundesregierung eventuell auch bereit erklären
würde, nicht abschiebefähige Häftlinge im Rahmen eines Asylverfahrens zu übernehmen?
Dazu gibt es noch keine Klärung, wie Sie wissen.
({0})
Deswegen kann ich dazu auch keine Aussage machen.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Koenigs auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC, dem
High Commissioner for Human Rights und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen Zugang zu den Gefangenen in beiden Gefängnissen zu verschaffen?
Sie haben immer noch das Wort, Frau Staatsministerin.
Die Antwort auf die Frage des Kollegen Koenigs lautet: US-Präsident Barack Obama hat den Auftrag erteilt,
die Haftbedingungen und die rechtliche Stellung von
Terrorverdächtigen in Gefängnissen außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika zu prüfen. Nach Auffassung
der Bundesregierung schließt dieser Prüfauftrag auch
den Zugang unabhängiger Menschenrechtsorganisationen zu den Gefängnissen ein.
Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Hat die Bundesregierung die Vertreter der USA auch darauf hingewiesen, dass die Afghanistan Independent Human
Rights Commission ein Recht darauf hat, die Gefangenen zu besuchen?
In der Tat ist es so, dass es zu den Aufgaben der amerikanischen Regierung gehört, zu prüfen, ob Menschenrechtsorganisationen Zugang zu den Gefangenen haben.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat bereits
Zugang. Wir sehen es so, dass die Prüfung in unserem
Interesse vorankommt.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. - Glauben Sie nicht, dass eine Initiative
der Bundesregierung in dieser Angelegenheit einen Beitrag zur Prüfung durch die Regierung der Vereinigten
Staaten liefern könnte?
Sie können davon ausgehen, dass die Bundesregierung diesen Vorgang weiterhin aktiv verfolgen wird. Sie
hat großes Zutrauen in die Zusagen von Präsident
Obama in dieser Sache.
Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Andrej Hunko auf:
Welche Bedeutung misst die Bundesregierung einer fairen
und freien Parlamentswahl in Afghanistan im Sommer nächsten Jahres bei?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Die Durchführung einer demokratischen Parlamentswahl in Afghanistan ist natürlich auch ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Die glaubwürdige Kontrolle der Exekutive kann nur durch ein funktionierendes
Parlament gewährleistet werden. Die Verantwortung für
Planung, Durchführung und Bereitstellung der notwendigen Sicherheit für die Parlamentswahl liegt bei der
afghanischen Regierung. Allerdings wird die internationale Gemeinschaft, wie schon bei den Präsidentschaftsund Provinzratswahlen am 20. August 2009, den Wahlprozess aktiv begleiten und unterstützen. Die Bundesregierung beabsichtigt, dabei selbstverständlich einen
substanziellen Beitrag zu leisten.
Sie haben das Wort zu einer ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. - Sehen Sie denn
in Afghanistan die Voraussetzungen für eine faire und
freie Parlamentswahl im nächsten Jahr als gegeben an?
Ich sehe sie als gegeben an. Die Bundesregierung
wird alles daransetzen, sie mit konkreten Maßnahmen zu
unterstützen. Sie wissen, dass sich die Bundesregierung
seit 2008 über das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung an den Wahlvorbereitungen beteiligt, dass
die finanzielle und technische Unterstützung über
UNDP/ELECT erfolgt und die Bundesregierung den
Wahlprozess 2008 mit 10 Millionen US-Dollar unterstützt hat und ihn 2009 mit 12 Millionen US-Dollar unterstützt. Ich glaube, dass diese Unterstützungsmaßnahmen letztendlich dazu beitragen werden, dass der
Demokratisierungsprozess in Afghanistan voranschreitet.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Vielen Dank. - Ist die Bundesregierung bereit, die nationale afghanische Armee bei der kommenden Parlamentswahl erneut mit Marder-Schützenpanzern zu
unterstützen, wie sie das auch im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr gemacht hat?
Die Bundesregierung ist zu den Maßnahmen bereit,
die die Sicherheit der Parlamentswahlen gewährleisten.
Alle bisherigen Maßnahmen werden auch weiterhin in
Betracht gezogen.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Tom Koenigs das
Wort.
Bei der letzten Wahl hat sich herausgestellt, dass der
Vorsitzende der sogenannten Independent Election Commission unfähig ist. Die Bundesregierung wird bei der
nächsten Wahl einen finanziellen Beitrag leisten, der
wahrscheinlich so groß ist, dass man daran Bedingungen
knüpfen kann. Wird die Bundesregierung darauf hinwirken, dass dieser Vorsitzende aus seinem Amt entlassen
wird?
Dazu sind mir keine Bestrebungen der Bundesregierung bekannt.
Eine weitere Nachfrage stellt nun der Kollege
Wolfgang Gehrcke.
Keine Sorge, es ist die letzte für heute. - Frau Staatsministerin, können Sie dem Parlament vielleicht erklären, auf welche Fakten sich Ihre Beurteilung, dass die
Voraussetzungen für freie und faire Wahlen in Afghanistan gegeben seien, nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen stützt? Mich würde wirklich interessieren,
welche Fakten Sie zu dieser Aussage gebracht haben.
Wie Sie wissen, sind wir an dem Demokratisierungsprozess in Afghanistan sehr interessiert. Es gab sehr intensive Gespräche des Bundesaußenministers bei seinem
Besuch in Afghanistan. Wir gehen davon aus, dass die
bevorstehenden Wahlen mit der entsprechenden Unterstützung der internationalen Völkergemeinschaft so ablaufen werden, wie ich es Ihnen beschrieben habe und
wie es die Bundesregierung begrüßt.
Eine weitere Nachfrage stellt nun der Kollege Jörn
Wunderlich.
Frau Staatsministerin, es wurde gerade nach den Fakten gefragt. Fakten haben Sie aber nicht genannt. Sie haben über Vermutungen der Bundesregierung gesprochen.
Die Frage lautete aber, welche Fakten den von Ihnen geäußerten Vermutungen zugrunde liegen.
Ich habe Ihnen mehrere Fakten genannt und auch Zitate des Ihnen bekannten Bundesaußenministers Guido
Westerwelle hier vorgetragen. Diese müssen Sie einfach
zur Kenntnis nehmen. Wir bleiben in der Diskussion
über dieses Thema. Gehen Sie davon aus, dass meine
Antwort auf Ihre Frage auch die Fakten enthalten hat,
nach denen Sie gefragt haben.
Wir kommen damit zur Frage 9 des Kollegen Andrej
Hunko:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die neu
gefassten Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon lediglich
das verfassungsrechtlich geforderte Minimum der Beteiligung
des Deutschen Bundestages an Angelegenheiten der Europäischen Union umsetzen?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Die neu gefassten Begleitgesetze setzen die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts vollständig um, mit dem
Ziel, den Bundestag in die Lage zu versetzen, die vom
Gericht geforderte „Integrationsverantwortung“ umfassend wahrnehmen zu können. Die im „Integrationsverantwortungsgesetz“ enthaltenen Gesetzes- und Zustimmungsvorbehalte zur Weiterentwicklung des Primärrechts gehen dabei in einzelnen Fällen über die vom
Bundesverfassungsgericht formulierten Vorgaben hinaus. Das ist beispielsweise bei den Mitwirkungsrechten
vor einer eventuellen Einführung einer gemeinsamen
europäischen Verteidigung der Fall. Hier ist ein zusätzlicher Beschluss des Bundestages vor einer Entscheidung
im Europäischen Rat erforderlich, damit der deutsche
Regierungsvertreter zustimmen kann. Ein weiteres Beispiel - um bei den Fakten zu bleiben -: Im Gesetz über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag, EUZBBG, wurde der Begriff des „Vorhabens der
Europäischen Union“ ausgedehnt, unter anderem im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Sehen Sie ein Spannungsverhältnis zwischen den
Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle, wie sie im
Begleitgesetz vorgesehen sind, und den Anforderungen
in der Regierungspraxis?
Ich sehe dieses Spannungsverhältnis. Wir befinden
uns ja immer in einem Diskussionsprozess. Ich glaube,
das gehört zu einer parlamentarischen Demokratie.
Ihre zweite Nachfrage.
In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie geschrieben:
Wir werden im Verlauf der Legislaturperiode bewerten, ob die durch die Begleitgesetze eröffneten
Möglichkeiten größerer parlamentarischer Kontrolle den Anforderungen der Praxis genügen, und
gegebenenfalls entsprechende Initiativen ergreifen.
Meine Frage: Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass sich die Möglichkeiten parlamentarischer
Kontrolle nach den Anforderungen der Praxis zu richten
haben?
Unsere Auffassung dazu haben wir im Koalitionsvertrag ganz klar niedergelegt. Wir glauben, dass es auch im
Interesse des Parlaments ist, dass man den Prozess ständig überprüft.
Die Frage 10 der Kollegin Dağdelen wird schriftlich
beantwortet.
Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Werner Schieder
auf:
Unter welchen Bedingungen ist die Bundesregierung bereit, dem geplanten Abkommen über die Übermittlung von
Finanztransferdaten des Dienstleisters SWIFT an die USA
zum Zwecke der Terrorismusfahndung zuzustimmen, und
welche Bedeutung kommt dabei dem im Koalitionsvertrag
formulierten Ratifizierungsvorbehalt zu?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Bei SWIFT handelt es sich um eine privat verfasste
Genossenschaft, über die europäische Finanzinstitute
ihre Transaktionen abwickeln. Zurzeit wird über ein EUUS-Übereinkommen zur Verarbeitung und Übermittlung
dieser Daten an die USA verhandelt. Gegenstand des
Abkommens ist die Festlegung von Voraussetzungen für
die Übermittlung von Zahlungsverkehrsnachrichten aus
Belgien - dort ist der SWIFT-Sitz - oder den Niederlanden - dort ist der SWIFT-Server - an die USA.
Es wird danach gefragt, unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung bereit ist, einem SWIFT-Abkommen, über das gerade verhandelt wird, zuzustimmen. Maßgeblich hierfür ist der Koalitionsvertrag.
Danach setzt sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen für ein hohes Datenschutzniveau und einen effektiven Rechtsschutz ein. Ein automatisierter Zugriff auf
SWIFT von außen ist auszuschließen. Die Übermittlung
der Daten ist an Tatbestandsvoraussetzungen zu knüpfen
und aufgrund einer Bedrohungs- und GefährdungsanaParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
lyse eingegrenzt. Die Menge der zu übermittelnden
Daten ist gering zu halten. Das Abkommen ist unter Ratifizierungsvorbehalt zu stellen. Der Ratifizierungsvorbehalt - auch danach ist gefragt worden - bezweckt,
dass das Abkommen nur in Kraft tritt, wenn in den Mitgliedstaaten die verfassungsrechtlichen Vorschriften dafür eingehalten werden. In Deutschland wäre dazu ein
Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes erforderlich.
Ich möchte hinzufügen, dass Deutschland die Verhandlungen nicht selbst führt, sondern die Europäische
Kommission zusammen mit der schwedischen Ratspräsidentschaft. Morgen findet eine zusätzliche Verhandlungsrunde im Ausschuss der Ständigen Vertreter statt.
Da Deutschland nicht selbst verhandelt, ist es natürlich
ausgesprochen schwierig, den jeweiligen Sachstand der
Verhandlungen wiederzugeben.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Können Sie etwas
dazu sagen, ob die Bundesregierung diesem Abkommen
zustimmen wird? Mich würde interessieren, welche Folgen es Ihrer Einschätzung nach hätte, wenn die Bundesregierung dem nicht zustimmen würde, bzw. welche
weiteren Verfahrensschritte aus Ihrer Sicht dann erforderlich wären.
Wie gesagt, die Verhandlungen werden noch geführt.
Insofern kann die Bundesregierung jetzt noch nicht sagen, ob sie am Montag zustimmen wird oder nicht. Das
wird sehr kurzfristig zu entscheiden sein, weil die Verhandlungen noch geführt werden.
Das Ziel ist natürlich, ein möglichst hohes datenschutzrechtliches Niveau sicherzustellen, insbesondere
in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo eine völlig
andere datenschutzrechtliche Systematik existiert als bei
uns. Jede Speicherung von Daten bedeutet nach unserem
Rechtsverständnis einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und bedarf deshalb einer
rechtlichen Grundlage. Das wird im amerikanischen
Recht völlig anders gesehen. Das bloße Abspeichern von
Daten wird im amerikanischen Rechtssystem als Nullum
betrachtet. Erst die Abfrage bei einem entsprechenden
Verdacht wird nach amerikanischem Rechtsverständnis
als Eingriff gewertet. Das Problem ist natürlich, diese
völlig unterschiedlichen Rechtssystematiken zusammenzubringen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, gesetzt den Fall, die Bundesregierung würde am Ende nicht zustimmen - das ist eine hypothetische Frage; aber vielleicht können Sie sie trotzdem beantworten -, welche Verfahrensschritte sind dann
nach Ihrer Einschätzung erforderlich, oder welche Folgen hätte das, welche Problemlage würde dann entstehen?
Zunächst einmal: Es gibt schon jetzt ein Übereinkommen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und
der Europäischen Union über Rechtshilfe. Dieses Übereinkommen sieht schon jetzt vor, dass es in bestimmten
Fällen einen Anspruch auf die Übermittlung von Daten
gibt.
Jetzt muss im Verhandlungswege erörtert werden,
welche Folgen ein Abkommen hätte. Das hängt natürlich
insbesondere auch davon ab, wie sich die Niederlande
und Belgien verhalten; denn diese müssen das EU-Übereinkommen umsetzen.
Wie gesagt, die Bundesrepublik Deutschland verhandelt nicht selbst, und sie hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Behörden in Belgien und den Niederlanden,
die eine solche Konvention administrativ ausführen
müssen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Gerold
Reichenbach das Wort.
Wie der Presse zu entnehmen war, beabsichtigt das
Innenministerium, sich am Montag zu enthalten. Meine
Frage ist a): Trifft dies zu? Und b): Gibt es eine abgestimmte Position zwischen dem Innen- und dem Justizministerium, was die Bedingungen für eine Zustimmung
oder eine Enthaltung betrifft?
Der Verhandlungsprozess ist noch im Gange. Deshalb
können wir uns auch noch kein abschließendes Urteil erlauben. Wir stehen in engem Kontakt mit den Verhandlungsführern, der schwedischen Ratspräsidentschaft und
der Kommission. Natürlich wird es eine Ressortabstimmung geben, sobald das Verhandlungsergebnis feststeht.
Das ist völlig normal.
Wir bleiben bei diesem Thema. Ich rufe die Frage 12
des Kollegen Dr. Konstantin von Notz auf:
In welcher Form wird sich die Bundesregierung nach den
sich als schwierig erwiesenen Verhandlungen über das sogenannte SWIFT-Abkommen zwischen der EU und den USA
nun für eine - den innerhalb der EU geltenden datenschutzrechtlichen Standards gerecht werdende - zukünftige Regelung einsetzen, um letztendlich zu verhindern, dass Bankdaten
von Bürgerinnen und Bürgern der EU, zum Beispiel durch
Weitergabe an Dritte, missbraucht werden könnten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Frage hat letztendlich das zum Inhalt, was wir
eben angesprochen haben. Die Bundesregierung wird
alle ihr nach dem Vertrag von Lissabon zustehenden Einflussmöglichkeiten nutzen, um in einem künftigen Abkommen Regelungen auf dem hohen europäischen
Datenschutzniveau zu erreichen, die einen Datenmissbrauch ausschließen.
Sie haben das Wort zu einer ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, das steht doch sicherlich auch
nach Ihrem Verständnis in offenem Widerspruch zu den
Aussagen der Justizministerin, die klar gesagt hat, dass
Deutschland dieses Abkommen ablehnen wird.
Ich habe andere Informationen. Die Verhandlungen
sind im Gange. Insofern wird sich auch die Justizministerin, genauso wie die gesamte Bundesregierung, noch
kein abschließendes Urteil erlauben. Das ist erst möglich, wenn die Verhandlungen zum Abschluss gekommen sind. Morgen findet, wie gesagt, noch einmal eine
Sitzung des Ausschusses der Ständigen Vertreter statt.
Während des Wochenendes werden sicherlich noch Gespräche geführt. Dann finden auch noch Gespräche im
JI-Rat statt. Jetzt von einer abschließenden Bewertung
zu sprechen und zu spekulieren, wäre nicht seriös.
Ihre zweite Nachfrage.
Erlauben Sie sich denn ein Urteil zu dem gestrigen
Beschluss des Europäischen Parlaments? Es verbittet
sich darin ausdrücklich, dass es einen Tag vor Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags, praktisch auf den letzten
Drücker, durch die Hintertür umgangen werden soll, indem man diesen Gesetzentwurf durchschleust.
Das ist kein Gesetzentwurf, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von
Amerika und der Europäischen Union. Von einer Umgehung des Europäischen Parlaments kann überhaupt nicht
die Rede sein, weil es sich nur um ein Interimsabkommen handelt. Es wird auch nur über ein Interimsabkommen verhandelt. Natürlich wird das Europäische Parlament entsprechende Verhandlungen aufnehmen und die
eigenen Einflussmöglichkeiten geltend machen können.
Danach wird es entscheiden, ob nach Auslaufen dieses
Interimsabkommens - wenn es denn dazu kommt, das
wissen wir noch nicht - ein Nachfolgeabkommen beschlossen wird oder das Interimsabkommen ausläuft.
Hier hat das Parlament Mitwirkungsmöglichkeiten. Es
dauert eine gewisse Zeit, bis ein solches Abkommen
ausverhandelt ist. Deshalb kann von einer Umgehung
des Europäischen Parlaments überhaupt nicht die Rede
sein.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Gerold
Reichenbach das Wort.
Es ist klar, dass man ein Verhandlungsergebnis, das
noch nicht vorliegt, nicht beurteilen kann. Aber ich frage
noch einmal: Gibt es eine Abstimmung innerhalb der
Bundesregierung zwischen dem Justiz- und dem Innenressort darüber, welche Mindeststandards erfüllt sein
müssen, um zustimmen zu können?
Ich habe bereits dargelegt, an welchen Maßstäben wir
uns orientieren. Wir orientieren uns am Koalitionsvertrag; dort haben wir das festgelegt. Wir wollen ein größtmögliches datenschutzrechtliches Niveau in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist unser Ziel. Wichtig
ist natürlich auch, dass das hohe datenschutzrechtliche
Niveau, das wir in Europa haben, durch ein solches Abkommen auf gar keinen Fall gesenkt wird. Das ist die
Zielrichtung, mit der wir verhandeln: das datenschutzrechtliche Niveau in Amerika heben, soweit das angesichts der unterschiedlichen datenschutzrechtlichen Systematiken möglich ist - das habe ich eben erwähnt -,
und das datenschutzrechtliche Niveau in Europa, insbesondere auch in Belgien und den Niederlanden, nicht absenken. Ich habe von dem Ratifizierungsvorbehalt gesprochen, der natürlich auch wichtig ist, damit dieses
Parlament darüber entscheiden kann und sichergestellt
wird, dass durch dieses Abkommen auf gar keinen Fall
das datenschutzrechtliche Niveau in Deutschland abgesenkt wird.
Eine weitere Nachfrage stellt nun der Kollege Volker
Beck.
Da Sie uns auf die Frage des Kollegen von Notz hin
nicht die Haltung des Justizministeriums mitteilen konnten, Herr Kollege Schröder, frage ich Sie: Wäre es Ihnen
möglich, den jetzt neben Ihnen sitzenden Staatssekretär
Stadler kurz zu fragen, ob das Justizministerium dem
SWIFT-Abkommen zustimmen will oder es abzulehnen
gedenkt? Vielleicht können Sie das kurz machen und
Ihre gewonnenen Erkenntnisse dem Haus und mir anschließend mitteilen.
Der Kollege Stadler wird Ihnen nichts anderes antworten können als ich, nämlich: Die Verhandlungen sind
noch im Gange. Insofern wäre das jetzt nur Spekulation.
Zu spekulieren, was am Ende ausverhandelt wird, ist mit
Sicherheit nicht sinnvoll. Noch einmal: Wir haben das
Problem, dass Deutschland die Verhandlungen nicht
selbst führt. Die Verhandlung wird von der Europäischen
Kommission zusammen mit der schwedischen Ratspräsidentschaft geführt.
Eine weitere Nachfrage stellt nun der Kollege Josef
Winkler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
gerade ist die Entschließung des Europäischen Parlaments angesprochen worden. Erstens: Haben Sie diese
zur Kenntnis genommen? Zweitens: Wie bewertet die
Bundesregierung die Tatsache, dass das Europäische
Parlament der Ansicht ist, dass die Position des Europäischen Parlaments in den Verhandlungen über ein Dauerabkommen, über das nach dem Interimsabkommen verhandelt wird, deutlich geschwächt ist, wenn es vorher
ein zwischen der Kommission und der amerikanischen
Regierung vereinbartes Abkommen ad interim gibt?
Ich finde, das Europäische Parlament hat völlig recht.
Ein solches Interimsabkommen darf die Position des
Europäischen Parlaments in keiner Weise präjudizieren.
Das Europäische Parlament ist völlig frei, dieses Abkommen, wenn es denn zustande kommt - das ist ja
überhaupt noch nicht sicher -, zu verlängern, Anpassungen vorzunehmen und seinen Einfluss geltend zu machen, wie es im Lissabonner Vertrag festgeschrieben ist.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max
Stadler zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Caren Lay auf:
Plant die Bundesregierung Korrekturen an der nationalen
Umsetzung der EU-Zahlungsdiensterichtlinie, um die in den
neuen allgemeinen Geschäftsbedingungen vieler Banken verankerte verschuldungsunabhängige Haftung von bis zu
150 Euro Selbstbehalt bei Verlust oder Diebstahl der ECKarte einzuschränken, und welche Ausnahmen beabsichtigt
die Bundesregierung insbesondere im Falle von Raubopfern
gesetzlich zu fixieren?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich darf die Frage wie folgt beantworten: Tatsächlich
gibt es in Deutschland seit kurzer Zeit, nämlich seit dem
31. Oktober 2009, aufgrund der Umsetzung einer EGRichtlinie eine neue Rechtslage für die verschuldensunabhängige Haftung bei missbräuchlicher Nutzung von
Zahlungsauthentifizierungsinstrumenten, zum Beispiel
von Bankkarten. Demnach kann ein Zahlungsdienstleister nach § 675 v BGB eine Schadensbeteiligung des Karteninhabers bei nichtautorisierten Zahlungsvorgängen
verlangen. Diese Beteiligung gilt verschuldensunabhängig bis zu einem Höchstbetrag von 150 Euro, wenn die
Zahlungskarte entweder verloren gegangen, gestohlen
oder sonst abhanden gekommen ist, und meint immer
Vorgänge bis zur Meldung des Verlustes. Das ist wichtig,
wie wir gleich sehen werden.
Nun haben die Mitgliedstaaten nach Art. 61 Abs. 3
der Zahlungsdiensterichtlinie die Option, den Betrag von
150 Euro herabzusetzen. Der deutsche Gesetzgeber hat
jedoch ebenso wie zahlreiche andere EU-Mitgliedstaaten
von dieser Option keinen Gebrauch gemacht. Die Bundesregierung hält dies für sachgerecht. Es geht bei dieser
Regelung vor allem um die Obliegenheit des Karteninhabers, Schäden zu vermeiden oder die Höhe von
Schäden zu begrenzen, also um eine Schadensminderungsobliegenheit. Deswegen soll ein Karteninhaber den
Verlust einer Zahlungskarte unverzüglich anzeigen. Damit dafür ein zusätzlicher Anreiz gegeben wird, hat sich
der Gesetzgeber entschieden, die in der Richtlinie genannte verschuldensunabhängige Schadensbeteiligung
in Höhe von 150 Euro in vollem Umfang zu übernehmen. Diese verschuldensunabhängige Haftung gilt unabhängig von den jeweiligen Fallkonstellationen, weil immer das Grundprinzip zur Geltung gebracht werden soll,
dass es einen Anreiz für eine rasche Verlustanzeige gibt.
Ich darf noch darauf hinweisen, dass diese 150 Euro
eine Maximalvorgabe sind. Es bleibt den Kreditinstituten unbenommen, ihren Kunden günstigere Konditionen
einzuräumen. Beispielsweise hat eine der größten
Finanzgruppen schon angekündigt, diesen Betrag bei einem Missbrauch der Bankkarte nicht zu erheben, wenn
der Kunde sorgfältig mit der Karte und der Geheimzahl
umgegangen ist.
Sie haben das Wort zu einer ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, erst einmal herzlichen Dank für
die sehr umfangreiche Antwort auf diese Frage, die sehr
viele Bankkunden in den letzten Wochen bewegt hat und
vor allen Dingen zukünftig bewegen wird, wenn der Fall
der verschuldensunabhängigen Haftung beim Verlust der
EC-Karte tatsächlich eintritt.
Ich muss dennoch nachfragen, ob ich Sie richtig verstanden habe, dass die neue Bundesregierung zunächst
nicht plant, die Regelungen der alten Bundesregierung,
wie es von den Verbraucherverbänden gefordert wird,
dahin gehend zu korrigieren, dass der nationale Handlungsspielraum für Ausnahmeregelungen genutzt wird,
die im Einzelfall sogar bis zum Haftungsausschluss führen können.
Sie haben mich völlig richtig verstanden. Grundsätzlich sind wir zur Umsetzung der EG-Richtlinie verpflichtet. Die Option bestand darin, dass man für Ausnahmefälle eine Herabsetzung dieses Betrages von
150 Euro hätte vorsehen können, so wie dies in der Praxis von Kreditinstituten ohnehin praktiziert wird.
Im Gesetzgebungsverfahren ist diese Frage ausführlich erörtert worden. Es hat sich die Auffassung
durchgesetzt, dass das Grundprinzip, dass mit dieser verschuldensunabhängigen Schadensbeteiligung eine rasche Anzeige des Verlusts herbeigeführt werden soll, auf
alle Fallgruppen zutrifft. Dieses Grundprinzip findet
seine Rechtfertigung darin, dass der Karteninhaber dazu
beitragen soll, dass Schäden erst gar nicht entstehen oder
möglichst gemindert werden.
Ihre zweite Nachfrage.
Vielen Dank. - Ich möchte Sie weiter fragen, wie Sie
mit dieser Prämisse verhindern wollen, dass Kreditinstitute künftig zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher an ihren Sicherheitsvorkehrungen sparen oder eben
nicht in diese investieren, weil jetzt nicht mehr allein das
Kreditinstitut, sondern verschuldensunabhängig auch die
Verbraucherinnen und Verbraucher zur Kasse gebeten
werden.
Gleichwohl bleibt es natürlich ein Interesse der Kreditinstitute, selber Vorkehrungen zu treffen, dass solche
Schäden nicht eintreten. Es handelt sich hier nur um eine
ergänzende Maßnahme, damit der Verbraucher seine Obliegenheit, die ihn nach dem geltenden Recht ohnehin
trifft, nämlich den Verlust der Karte rasch anzuzeigen,
tatsächlich erfüllt.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Koschyk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Dr. Barbara Höll
auf:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 18. Juni 2009
({0}) zur steuerlichen Behandlung der Kosten des
Erststudiums, und welche Konsequenzen und Umsetzung ergeben sich nach Ansicht der Bundesregierung aus dem Urteil?
Frau Präsidentin, ich möchte die Frage der Kollegin
Höll wie folgt beantworten: Zunächst möchte ich darauf
hinweisen, was die zentrale Aussage der Entscheidung
des Bundesfinanzhofs zum Erststudium ist. Der Bundesfinanzhof hat in der von Ihnen nachgefragten Entscheidung deutlich gemacht, dass der Begriff des Erststudiums nun dahin gehend konkretisiert wird, dass
Aufwendungen für ein erstmaliges Studium nach einer
bereits abgeschlossenen nichtakademischen Berufsausbildung nicht unter das Abzugsverbot fallen. Vielmehr
hat er aufgrund des Veranlassungszusammenhangs mit
einer späteren beruflichen Tätigkeit einen Abzug dieser
Aufwendungen als Werbungskosten in vollem Umfang
zugelassen.
Frau Kollegin, ich bitte um Verständnis, dass die Bundesregierung die Schlussfolgerungen, nach denen Sie
gefragt haben, nicht alleine treffen kann. Da die Besprechungen mit den zuständigen Behörden der Länder noch
nicht abgeschlossen sind, können wir noch keine Aussagen über Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus
dem Urteil machen.
Kollegin Höll, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke für die Antwort, Herr Staatssekretär. Da Sie
gesagt haben, dass Sie eigentlich noch nicht antworten
können, ist es ein bisschen schwierig, eine Nachfrage zu
stellen. Trotzdem möchte ich nachfragen. Ich beziehe
mich dabei auf den Umstand, dass sich an dem Sonderausgabenabzug seit 2004 prinzipiell nichts geändert
hat, also noch immer eine Deckelung in Höhe von
4 000 Euro besteht. Meines Erachtens besteht auch beim
Sonderausgabenabzug, der im Zusammenhang mit den
Werbungskosten steht, Änderungsbedarf. Da die Kosten
des Studiums in den vergangenen fünf Jahren aufgrund
der Einführung von Studiengebühren in verschiedener
Form gestiegen sind, sind sie nicht mehr durch einen Betrag von 4 000 Euro abgedeckt. Zudem wissen wir, dass
Deutschland im internationalen Vergleich viel zu wenige
Studentinnen und Studenten hat.
Frau Kollegin Höll, ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Koalitionsfraktionen in
ihrem Koalitionsvertrag unter dem Stichwort Steuervereinfachung vereinbart haben, die steuerliche Abzugsfähigkeit von Ausbildungskosten neu zu ordnen. Die
Frage, die Sie gerade gestellt haben, wird ebenso wie die
Frage nach den Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs bei der grundsätzlichen konzeptionellen
Ausrichtung, der Neuordnung der Abzugsfähigkeit von
Ausbildungskosten zu berücksichtigen sein.
Haben Sie eine zweite Nachfrage?
Ich weiß nicht, Herr Staatssekretär, ob Sie auch noch
meine Frage 15 beantworten werden.
Natürlich beantworte ich die nächste Frage.
Dann verzichte ich jetzt auf eine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Höll auf:
Plant die Bundesregierung eine Neuregelung der steuerlichen Behandlung der Kosten des Erststudiums, und, wenn ja,
sieht diese eine einheitliche Behandlung der Kosten für ein
Erststudium als Werbungskosten oder generelles Abzugsverbot vor?
Herr Staatssekretär, Sie haben weiterhin das Wort.
Frau Kollegin Höll, Ihre Frage reicht in den Teil des
Koalitionsvertrags hinein, der eine Neuregelung der
steuerlichen Abzugsfähigkeit von Ausbildungskosten
vorsieht. Natürlich muss die Entscheidung des Bundesfinanzhofs auch in diesem Zusammenhang bewertet
werden; es müssen Konsequenzen daraus gezogen werden. Insofern kann ich heute noch keine abschließende
Stellungnahme zu den Planungen der Bundesregierung
in diesem Bereich abgeben.
Ihre erste Nachfrage.
Danke, Herr Staatssekretär. Sie können noch nicht sagen, wann die abschließenden Beratungen stattfinden
werden. Können Sie uns eventuell zur Kenntnis geben,
mit welchem Zeithorizont Sie planen?
Frau Kollegin, ich weise auch hier darauf hin, dass
die Bundesregierung nicht alleine entscheiden kann,
welche Konsequenzen aus dem Urteil gezogen werden.
Hier ist eine umfassende Abstimmung mit den Finanzministerien der Länder notwendig. Die grundsätzliche
Frage der Neuregelung der Abzugsfähigkeit von Ausbildungskosten muss in enger Abstimmung mit anderen
Ressorts, zum Beispiel dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, geklärt werden. Sie entnehmen den
Aussagen des Koalitionsvertrags, dass die Bundesregierung dieses Thema nach meiner Überzeugung in allzu
naher Zukunft sehr engagiert in Angriff nehmen wird.
Danke, Herr Staatssekretär. - Ich stelle damit fest,
dass wir einer Meinung sind, dass es auf alle Fälle Handlungsbedarf gibt, weil für Studentinnen und Studenten
momentan nicht durchschaubar ist, wie sie ihre Kosten
steuerlich absetzen können, sodass wir erwarten können,
dass in Bälde eine Neuregelung zugunsten der Studentinnen und Studenten erfolgt.
Ich darf es noch einmal sagen, Frau Kollegin: Das ist
Thema des Koalitionsvertrags. Selbstverständlich ergeben sich aus der von Ihnen angesprochenen Entscheidung des Bundesfinanzhofs Konsequenzen für die Umsetzung - die sieht jeder -; aber die Bundesregierung
kann diese Konsequenzen nicht alleine ziehen, sondern
nur im Benehmen mit den Ländern, weil die Länder davon ganz entscheidend betroffen sein werden.
Danke.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann auf:
Welche Belastungen bringt die von der Bundesregierung
nach der Klausurtagung in Meseberg angekündigte steuerliche Entlastung von 20 Milliarden Euro für 2010 und 2011 jeweils für die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen,
und auf welche Weise will die Bundesregierung die steuerlichen Mindereinnahmen insbesondere für finanzschwache
Länder sowie für die Kommunen kompensieren?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Verehrte Frau Kollegin Enkelmann, die Verteilung der
Steuermindereinnahmen auf die Gebietskörperschaften
erfolgt entsprechend dem grundgesetzlich festgelegten
Aufteilungsmaßstab für gemeinschaftliche Steuern. Danach entfallen von der Einkommensteuer jeweils
42,5 Prozent auf Bund und Länder sowie 15 Prozent auf
die Kommunen. Den Ausfall beim Solidaritätszuschlag
trägt allein der Bund. Bei Steuermindereinnahmen von
20 Milliarden Euro würden sich beispielhaft die nachfolgend dargestellten Auswirkungen ergeben, wobei die
Angaben gerundet sind: Es wären 19 Milliarden Euro im
Bereich der Einkommensteuer und 1 Milliarde Euro an
Solidaritätszuschlag. Diese Ausfälle würden sich wie folgt
verteilen: Bund 9,1 Milliarden Euro, Länder 8,1 Milliarden Euro, Gemeinden 2,8 Milliarden Euro.
Die von Ihnen gestellte Frage nach einer Kompensation stellt sich wegen der in Art. 106 des Grundgesetzes
festgelegten Verteilung der Steuereinnahmen nicht. Über
Kompensationen wurde weder in den Koalitionsverhandlungen noch bei der Klausurtagung in Meseberg gesprochen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Zunächst einmal: Sie haben die Zahlen selber genannt. Der saarländische Finanzminister und auch
Finanzminister anderer Bundesländer sprechen von
nichtverkraftbaren Einnahmeausfällen. Ich denke, insofern ist die Frage durchaus berechtigt. Ich kann mich erinnern, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik
durchaus einen Ausgleich gegeben hat, zum Beispiel
durch das Aufkommen der Mehrwertsteuer. Die Frage
lautet: Gibt es in der Bundesregierung Überlegungen,
diese Einnahmeausfälle zum Beispiel durch ein erhöhtes
Aufkommen bei der Mehrwertsteuer auszugleichen?
Derartige Überlegungen gibt es bei der Bundesregierung nicht.
Noch nicht?
Sie haben eine zweite Frage?
Das war noch nicht meine zweite Nachfrage; es war
sozusagen eine Halbfrage.
Erhebliche Kritik vom Handwerk und von den kommunalen Spitzenverbänden gibt es an der Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen. Das ist Ihnen ja
nicht ganz unbekannt; das ist ein bayerisches Modell.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks fordert in
diesem Zusammenhang eine umfassende Reform der
Umsatzsteuer. Ich will daran erinnern, dass die Linke in
den letzten Jahren unter anderem gefordert hat, zum Beispiel bei Dienstleistungen für Kinder, bei Handwerksdienstleistungen und auch bei Medikamenten die Mehrwertsteuer abzusenken. Die Frage ist: Plant die
Bundesregierung, eine solche umfassende Reform der
Umsatzsteuer vorzunehmen?
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, Frau Kollegin,
dass sich eine Kommission darüber Gedanken machen
soll, wie man im Bereich der verschiedenen Mehrwertsteuersätze möglicherweise zu Veränderungen kommt.
Jetzt haben die Koalitionsfraktionen im Entwurf des
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes in einem Bereich
eine Änderung vorgeschlagen. Dass es darüber hinaus
Diskussionen über die Gestaltung der Mehrwertsteuersätze gibt, ist allgemein bekannt. Diese Diskussionen
will die Bundesregierung aufgreifen. Die Vorschläge sollen in einer Kommission erörtert werden.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie haben gesagt, dass die Einnahmeausfälle für die Länder und Kommunen nicht kompensiert werden sollen.
Nun ist es so, dass den Ländern und Kommunen immer
mehr Aufgaben übertragen werden. Wir führen jetzt im
Zusammenhang mit dem Bildungsstreik die Diskussion
darüber, wofür die Länder verantwortlich sind.
Ich will zu einem anderen Thema nachfragen. Es gibt
einen aktuellen Streit darüber - wir werden am Donnerstag darüber diskutieren -, wie die Kommunen und dann
letztlich die Länder die Kosten der Unterkunft finanzieren sollen. Sehen Sie nicht einen Widerspruch darin,
dass die Länder Einnahmeausfälle haben, aus Sicht des
Bundes aber einen immer größeren Teil der Finanzierung der Daseinsvorsorge übernehmen sollen?
Frau Kollegin Lötzsch, wie Sie wissen, stellt der
Bund den Ländern und damit den Kommunen gerade bei
den Kosten für Unterkunft in nicht geringer Höhe Leistungen zur Verfügung. Wir sind der Meinung, dass der
Schlüssel, den wir zugrunde gelegt haben, angemessen
ist. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass wir in den letzten Jahren immer die Erfahrung machen konnten, dass nicht nur der Bund, sondern auch die
Länder und die Kommunen von Wachstumsimpulsen, einem Anziehen der Konjunktur und steigenden Steuereinnahmen der öffentlichen Hand erheblich profitiert haben.
({0})
Frau Kollegin Lötzsch, ich darf Ihnen die Entwicklung der Zahlen in den Jahren 2006, 2007 und 2008 in
Erinnerung rufen. Auch in den Jahren 2006, 2007 und
2008 haben sich die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden infolge der konjunkturellen Impulse, die die Große Koalition gesetzt hat, und des Anziehens der Konjunktur bis zu einer von niemandem
prognostizierten Höhe entwickelt. Selbstverständlich
sind die Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die Realwirtschaft jetzt mit Einnahmeverlusten verbunden.
Genau deshalb setzt die Bundesregierung mit ihrem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das die Koalitionsfraktionen eingebracht haben, jetzt auf Wachstumsimpulse und auf steigende Steuereinnahmen; sie werden
dann auch den Ländern und den Kommunen zugutekommen.
({1})
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin
Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Staatssekretär, die Proteste von Landesfinanzministern resultieren daraus, dass sie den von Ihrem
Haus prognostizierten Zahlen nicht trauen. Bei der geplanten Senkung des Mehrwertsteuersatzes für das Hotel- und Gaststättengewerbe geht die Regierung von Einnahmeausfällen in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro aus,
Landesfinanzminister sprechen von bis zu 4 Milliarden
Euro. Woraus resultiert diese sehr große Diskrepanz der
Annahmen? Sind Sie in der Lage, dem Haus kurz zu erDr. Barbara Höll
klären, warum Sie wesentlich unter den Annahmen der
Landesfinanzminister bleiben?
Frau Kollegin Höll, mir sind derart unterschiedliche
Bewertungen von Landesministern nicht bekannt. Ich
habe an einer Besprechung von Herrn Bundesminister
Schäuble mit Landesfinanzministern teilgenommen. Außerdem habe ich eine Besprechung mit Staatssekretären
und Leitern der Steuerabteilungen der Länder geleitet.
Auch dort ist über dieses Thema gesprochen worden. Es
wurden aber keine Zahlen genannt, die von den Erwartungen, die im Tableau des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes zugrunde gelegt sind, derart stark abweichen.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Alexander Bonde
auf:
Gilt die durch die Verordnung zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz festgelegte Begrenzung für Gehalts-, Bonus- und
Dividendenzahlungen an Bankmitarbeiter in vom Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung durch Eigenkapital oder Risikoübernahmen gestützten Banken für die gesamte Dauer der
Stabilisierungsmaßnahmen und für alle Mitarbeiter dieser
Banken?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Bonde, gemäß § 5 Abs. 2 der Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung sollen den Begünstigten von Rekapitalisierungen und Risikoübernahmen nach dem Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz
bestimmte Auflagen zu Vergütungssystemen, zur Vergütung von Organmitgliedern und zur Dividendenpolitik
aufgegeben werden.
Insbesondere soll die Vergütung der Organmitglieder
und der Geschäftsleiter auf ein angemessenes Maß begrenzt werden. Der Fonds soll unter anderem darauf hinwirken, dass Organmitglieder keine unangemessene Gesamtvergütung erhalten, wobei eine monetäre Vergütung
über 500 000 Euro grundsätzlich als unangemessen gilt.
Außerdem sollen für die Dauer der Stabilisierungsmaßnahme keine in das freie Ermessen des Unternehmens
gestellten Vergütungsbestandteile einschließlich Bonifikationen, die zu einer unangemessenen Gesamtvergütung führen, gezahlt werden. Der Zusatz „für die Dauer
der Stabilisierungsmaßnahme“ ist bei der genannten
Bestimmung zur Begrenzung der monetären Vergütung
nicht enthalten. Die genannten Bestimmungen gelten,
wie erwähnt, nur für Organmitglieder.
Darüber hinaus soll den begünstigten Unternehmen
aufgegeben werden, die Anreizwirkung und die Angemessenheit der Vergütungssysteme für alle Mitarbeiter
zu überprüfen und darauf hinzuwirken, dass sie nicht zur
Eingehung unangenehmer Risiken verleiten sollen, sondern an langfristigen und nachhaltigen Zielen ausgerichtet und transparent sind. In diesem Sinne unangemessene
Vergütungssysteme oder auch Vergütungsbestandteile
sind im Rahmen der zivilrechtlichen Möglichkeiten zu
beenden. Im Hinblick auf abhängig Beschäftigte sind
aber die Vertragsfreiheit und die Tarifautonomie zu berücksichtigen. Grundsätzlich sollen während der Dauer
der Stabilisierungsmaßnahmen auch keine Dividenden
gezahlt werden.
Über die konkreten Auflagen im Einzelfall und damit
auch über deren zeitliche Geltung entscheidet gemäß § 4
Abs. 1 Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz ein interministerieller Lenkungsausschuss unter Berücksichtigung der genannten Sollbestimmungen der Verordnung.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, Kollege
Bonde.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort großen Wert darauf gelegt, dass sich die Einschränkungen
nicht zwangsläufig auf die gesamte Dauer der Stabilisierungsmaßnahme beziehen. Gibt es aktuell Fälle, dass
Banken bei Rettungsmaßnahmen durch den SoFFin
keine Auflagen dieser Art gemacht worden sind oder
aber bei der Verlängerung von Maßnahmen geplant ist,
Gehaltsobergrenzen und Boni abweichend von den
Grundsätzen, die Sie genannt haben, zu regeln?
Mir ist im Moment nicht bekannt, dass Vergütungsfragen bei infrage kommenden Instituten abweichend
von den Regelungen, die ich angesprochen habe, geregelt werden sollen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Wie bewertet die Bundesregierung die bisherige Erfahrung mit den Obergrenzen? Wie steht die Bundesregierung zu einer Ausweitung auf den gesamten Instrumentarienkasten des SoFFin, und weshalb wird dieser
Sanktionsmechanismus bei der Übernahme von Bürgschaften bisher nicht ausgeübt?
Herr Kollege, ich darf sagen, dass sich dieses Instrumentarium aus unserer Sicht bewährt hat; es wird auch
angewandt. Gegenwärtig überlegt die Bundesregierung
nicht, es auszuweiten.
Ich rufe die Frage 18 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung vom DeutscheBank-Chef Josef Ackermann, die Gesellschaft müsse akzeptieren, dass der Staat in systemischen Bankenkrisen der Aktionär der letzten Instanz bleibt, und, wenn nein, was will die
Bundesregierung unternehmen, damit die Banken nicht weiter
die Krisenkosten auf die Bürger abladen können?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Verehrte Frau Kollegin Lötzsch, der Staat hat in der
Finanzkrise nicht wie ein privater Aktionär gehandelt.
Es ging weder um Gewinnmaximierung noch um die
Rettung von Banken um ihrer selbst willen. Es ging vielmehr um die Wahrung der Stabilität des Finanzsystems,
und zwar aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.
Ein stabiles Finanzsystem ist entscheidend für die gesamte Volkswirtschaft sowie für Wohlstand und Arbeitsplätze. Die systemische Bedeutung des Finanzsektors
begründet die Verantwortung und das Recht des Staates,
den Finanzsektor einer strengen Regulierung und Aufsicht zu unterwerfen.
Als Lehre aus der Krise wird es eine deutlich verschärfte Regulierung geben. Vieles wurde bereits angestoßen; aber der Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Dieser Prozess kann nicht national geregelt werden. Sie
wissen, Frau Kollegin, dass sich die G-20-Staaten mit
diesem Sachverhalt beschäftigen. Sie wissen, dass auf
der Ebene der Europäischen Union in diesem Zusammenhang eine Reihe von Entscheidungen getroffen worden sind und weitere anstehen.
Im Rahmen dieser notwendigen Regulierung ist es ein
wichtiges Anliegen, die systemische Bedeutung einzelner Institute zu verringern, um Krisen überhaupt und vor
allem eine Abwälzung der Krisenbewältigungskosten
auf den Steuerzahler zu vermeiden. Die Möglichkeiten
dazu im internationalen, europäischen und nationalen
Bereich - auch eine offenere Diskussion darüber im internationalen Bereich - nutzt die Bundesregierung intensiv, Frau Kollegin Lötzsch. Deutschland hat sich beispielsweise erfolgreich dafür eingesetzt, dass dieses
Thema international auf der Tagesordnung bleibt. Das
Financial Stability Board wird der G 20 im Herbst dieses
Jahres einen Bericht dazu vorlegen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, Kollegin
Lötzsch.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine Frage, die ganz
konkret auf die Äußerungen von Herrn Ackermann bezogen war, nicht beantwortet. Vielleicht können Sie
noch einmal konkretisieren, ob Sie die Auffassung von
Herrn Ackermann teilen, dass der Staat - der Steuerzahler, wir alle - immer der Aktionär der letzten Instanz
bleibt. Wenn Sie diese Auffassung in Gänze teilen,
würde ich gerne ein deutliches Ja hören. Wenn Sie die
Auffassung nicht in Gänze teilen, würde ich gerne wissen, wie Sie konkret verhindern wollen, dass sich die
Banken dieses Risikos auf Kosten der öffentlichen Hand
entledigen.
Frau Kollegin, ich glaube, dass sowohl die Bundeskanzlerin in der letzten Woche auf einem Wirtschaftssymposium einer Tageszeitung hier in Berlin als auch
der Bundesfinanzminister bei der großen Zusammenkunft von Bankenvertretern in Frankfurt hinreichend
deutlich gemacht haben, wie die Auffassung der Bundesregierung dazu ist.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
das Problem bei Ihren Antworten besteht darin - das entgeht Ihnen selber ja auch nicht -, dass sie reichlich unkonkret sind. Darum würde ich gerne wissen, welchen
konkreten Zeitplan die Bundesregierung hat, um welche
konkreten Gesetzentwürfe vorzulegen, um eine Wiederholung dieser Krise zu verhindern. Ich habe all die Reden der Bundeskanzlerin gehört. Sie sagte: Manche
Leute haben nichts gelernt. Das darf sich nicht wiederholen. - Welche konkreten Gesetzesvorhaben wollen Sie
dem Deutschen Bundestag in welchem Zeitraum vorlegen?
Frau Kollegin, im Koalitionsvertrag sind eine ganze
Reihe von Maßnahmen zur Regulierung und Stabilisierung der Finanzmärkte enthalten. In dem Bereich, in
dem wir national gefordert sind, wird die Bundesregierung die im Koalitionsvertrag vorgeschlagenen Maßnahmen unverzüglich angehen.
Ich darf aber noch einmal darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung auf diesem Sektor auch international
sehr aktiv ist. Der Bundesfinanzminister war extra beim
G-20-Finanzministertreffen in St. Andrews in Schottland, wo er dieses Thema auf der Tagesordnung gehalten
hat.
Über die Umsetzung der national zu treffenden Maßnahmen wird die Bundesregierung und werden die
Koalitionsfraktionen zu gegebener Zeit das Parlament
durch entsprechende konkrete Gesetzesinitiativen unterrichten.
Wir kommen zur Frage 19 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch:
Was hat die Bundesregierung unternommen, um eine internationale Finanztransaktionsteuer einzuführen, und unter
welchen Bedingungen ist die Bundesregierung bereit, die von
der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung angekündigte Börsenumsatzsteuer einzuführen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, auf Initiative der Bundesregierung hat
der G-20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs im
September dieses Jahres den Internationalen Währungsfonds beauftragt, für den nächsten G-20-Gipfel einen
Bericht zur Beteiligung der Finanzwirtschaft an den
Kosten, die durch staatliche Eingriffe zur Korrektur des
Bankwesens entstehen, vorzubereiten.
Die Einführung einer Finanztransaktionsteuer ist ein
mögliches Instrument, das allerdings nicht national, sondern nur international abgestimmt unter Einbeziehung
der wichtigsten Finanzplätze Wirkung entfaltet. Die
Überlegungen der Bundesregierung, aber auch im internationalen Rahmen sind noch nicht abgeschlossen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wir alle wissen, die
Legislaturperiode ist noch nicht sehr alt. Sie beginnen ja
erst mit vielen Dingen. Es ist aber nicht so, dass diese
Krise völlig neu ist und man sich nicht vorher schon einige Gedanken hätte machen können, wie man ihr entgegentritt.
Ich möchte auf Ihre Antwort eingehen und Sie fragen:
Auf welchen Feldern, meinen Sie, könnte die Bundesrepublik Deutschland als eine der größeren Volkswirtschaften dieser Welt mit gutem Beispiel vorangehen? Sie
sagen immer, es müsse alles international geleistet werden. Das hört sich gut an; vieles muss international geleistet werden. Wo aber sagen Sie als Bundesregierung:
„Hier sind wir Vorbild und entscheiden selbst, ohne uns
hinter den anderen zu verstecken“?
Frau Kollegin, ich glaube, man muss hier auch die
Diskussionen in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der G 20 sehr sorgfältig beobachten.
Ich erlaube mir, im Hinblick auf die Diskussion über die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer darauf hinzuweisen, dass sich zum Beispiel Österreich und Frankreich dafür ausgesprochen haben, zuletzt auch Großbritannien im Rahmen des Gipfels der G-20-Finanzminister
in St. Andrews. Diesen Meinungsbildungsprozess begleitet die Bundesregierung durch bilaterale Beratungen
und durch Beratungen im Bereich der europäischen Gremien. Sie wissen aber, dass es auch andere Herangehensweisen gibt. So plant zum Beispiel Schweden für Ende
des Jahres 2009 die Einführung einer Stabilitätsabgabe.
Diese ist von Finanzinstituten zu entrichten und fließt in
einen Sicherungsfonds, aus dem künftig anfallende Kosten zur staatlichen Stützung des Finanzsektors finanziert
werden sollen.
An diesem Meinungsbildungsprozess auf EU-Ebene,
aber auch im G20-Gipfel beteiligt sich die Bundesregierung aktiv. Die Meinungsbildung der Bundesregierung,
welcher Königsweg schließlich in dieser Frage beschritten werden soll, ist noch nicht abgeschlossen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie haben einige EU-Mitgliedstaaten genannt. Mit welchen EU-Mitgliedstaaten hat denn die Bundesrepublik
die größten Übereinstimmungen in der Frage der Einführung oder Nichteinführung einer internationalen Finanztransaktionsteuer? Wer sind dabei Ihre engsten Verbündeten?
Die Diskussion über diesen gesamten Themenkomplex - Abgabe wie in Schweden, Finanztransaktionsteuer,
Börsenumsatzsteuer - zeigt, dass es bei allen genannten
Bereichen Gründe gibt, die dafür oder dagegen sprechen.
Die Meinungsbildung der Bundesregierung, welches der
möglichen Instrumente das geeignete ist, ist noch nicht
abgeschlossen.
Damit kommen wir zur Frage 20 der Abgeordneten
Caren Lay von der Fraktion Die Linke:
Wie schätzt die Bundesregierung gerade auch angesichts
des aktuellen Massenaustauschs von Kreditkarten das Risiko
für Verbraucherinnen und Verbraucher ein, Opfer von Datenmissbrauch zu werden, und welche entsprechenden Maßnahmen für den Verbraucherschutz plant die Bundesregierung,
um ähnliche Vorgänge künftig zu verhindern?
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, die
Polizeiliche Kriminalstatistik 2008 weist insgesamt
7 940 Betrugsfälle mittels Kreditkarten auf. Die Zahl der
Betrugsfälle bei der Nutzung von Kreditkarten bewegte
sich in den Vorjahren auf einem ähnlichen Niveau. Aktuelle Zahlen für das Jahr 2009 liegen noch nicht vor.
Dennoch lässt sich angesichts von mehr als 20 Millionen Kreditkarten, die von deutschen Kreditinstituten
ausgegeben worden sind, die Aussage treffen, dass nur
bei einer geringen Zahl von Fällen die Daten von Kreditkarteninhabern missbraucht worden sind. Obwohl die
tatsächlichen Schadensfälle gering sind, ist es erforderlich, dass Banken und Zahlungsinstitute ebenso wie Kartennutzer die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen bei der
Nutzung der Kreditkarte und bei Zahlungen mittels
Karte treffen, um kriminelle Zugriffe auf Karteninformationen und daraus resultierende Schäden zu verhindern.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht zwar noch nicht
fest, dass im Zusammenhang mit dem aktuell von europäischen Banken durchgeführten Austausch von Kreditkarten ein krimineller Angriff tatsächlich stattgefunden
hat; der Fall - darüber sind wir uns sicherlich einig, Frau
Kollegin - zeigt aber deutlich, dass durch eine weiter
verbreitete Kartennutzung und die zunehmende Zwischenschaltung von Dienstleistern bei der Abwicklung
von Kreditkartenzahlungen die Risiken zugenommen
haben.
Bereits nach geltendem Recht sind Kreditinstitute
verpflichtet, zur Verhinderung betrügerischer Handlungen angemessene geschäfts- und vor allem kundenbezo344
gene Sicherheitssysteme zu schaffen, diese zu aktualisieren und zu kontrollieren. Das Bundesministerium der
Finanzen hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aber auch im Lichte des jüngsten Falles
aufgefordert, ihre aufsichtsrechtlichen Anforderungen
an die institutsinternen Sicherungsmaßnahmen gegen Finanzbetrug zu verstärken. Zusätzliche Maßnahmen, die
dem Verbraucherschutz dienen, sind derzeit von der
Bundesregierung nicht geplant.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, zunächst herzlichen Dank für
diese Antwort. Ich möchte eine Nachfrage zu den Sicherheitsvorkehrungen stellen, die die Bundesregierung
planen könnte. Derzeit wird insbesondere von den Verbraucherverbänden gefordert, nach Vorbild anderer europäischer Länder die sehr betrugsanfälligen Magnetstreifensysteme durch moderne Chipsysteme zu ersetzen.
Gibt es seitens der Bundesregierung Planungen, diese
Umstellung zu vollziehen?
Ich habe darauf hingewiesen, dass das ein ständiger
Prozess ist, der sicherlich zusammen mit den Verbraucherschutzverbänden, aber auch mit den Instituten erfolgt. Wenn zum Beispiel aus den Instituten Vorschläge
kommen, wo gesetzgeberisches oder verordnungsgeberisches Handeln notwendig ist, um zu mehr Sicherheitsstandards zu kommen, wird dies sicherlich von der Bundesregierung positiv aufgegriffen. Konkrete Maßnahmen
sind aber derzeit nicht geplant.
Ich habe aber bereits gesagt, dass wir über die BaFin
die Kreditinstitute auffordern werden, ihre institutsinternen Sicherungsmaßnahmen zu verstärken.
Weitere Nachfragen? - Bitte schön.
Herzlichen Dank. - Im Zusammenhang mit dem aktuellen Massenumtausch von Kreditkarten geht es auch
um Aufklärung, also um die Frage, wie es dazu kommen
konnte und wo das Leck war. Viele kritisieren auch die
schlechte Informationspolitik der beteiligten Kreditkartenanbieter. Ist die Bundesregierung tätig geworden, um
die Aufklärung dieser Vorgänge weiter voranzubringen?
Frau Kollegin, die Bundesregierung ist immer daran
interessiert und wirkt mit ihren Möglichkeiten darauf
hin, dass die Institute solche Fälle zum Anlass nehmen,
für mehr Aufklärung der Verbraucher über ihre Aufbewahrungspflichten zu sorgen, aber auch tätig zu werden,
damit in Zukunft solche Fälle verhindert werden.
Vielen Dank.
Dann kommen wir zu Frage 21 der Kollegin Cornelia
Behm:
Welche weiteren Kriterien berücksichtigt die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImA, allgemein bei der Entscheidung über den Verkauf von Flächen, wenn öffentliche Interessen direkt berüht sind, wie beispielsweise am
Griebnitzsee in Potsdam, wo die Stadt Potsdam nach Verhandlungen mit der BImA über alle zum Verkauf stehenden Uferflächen einen Preis von 2,6 Millionen Euro geboten hat, aber
nach öffentlichem Bekanntwerden dieses Preises jetzt laut
Zeitungsberichten ein höheres Kaufangebot eines privaten
Bieters eingegangen ist, oder ist in jedem Fall mit dem Verkauf an den Meistbietenden zu rechnen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Sehr geehrte Frau Kollegin, neben den gesetzlichen
Bestimmungen, an die die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben im Rahmen ihrer Verkaufstätigkeit gebunden ist, zum Beispiel die Bundeshaushaltsordnung, beachtet die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
natürlich im Rahmen von Verkaufsverhandlungen auch
den Grundsatz der kaufmännischen Treue. Sie hat daher
in dem von Ihnen in Ihrer Frage angesprochenen Fall der
Stadt Potsdam die Möglichkeit gegeben, sich zu dem höheren Kaufangebot eines privaten Anbieters für die
Uferweggrundstücke am Griebnitzsee zu äußern. Sobald
der Bundesanstalt die Stellungnahme der Stadt Potsdam
vorliegt, wird sie diese prüfen und dann entscheiden, wie
in diesem Fall weiter vorzugehen ist.
Ihre erste Nachfrage, Frau Kollegin Behm.
Vielen Dank für die Beantwortung dieser Frage, obwohl die Antwort aus meiner Sicht sehr wenig befriedigend ist. Ich muss deswegen nachfragen - das ist breit
durch die Presse gegangen -: Inwieweit sehen Sie in diesem Fall den Vertrauensschutz der Geschäftspartner verletzt, wenn man nun, nachdem mit der Stadt Potsdam bereits langwierige Verhandlungen und Gespräche geführt
worden sind und im Ergebnis dieser Verhandlungen ein
für beide Seiten akzeptiertes Kaufpreisgutachten erstellt
worden ist, sagt: „Äußert euch zu diesem höheren Angebot eines anderen Bieters!“?
Verehrte Frau Kollegin, ich selber habe als Wahlkreisabgeordneter eine Reihe vergleichbarer Fälle erlebt;
denn in meinem Wahlkreis ist eine Reihe von Liegenschaften sowohl der amerikanischen Streitkräfte als auch
der Bundeswehr aufgelassen worden. In einem solchen
Bieterverfahren ist es üblich, dass andere Bieter unabhängig von der Tatsache, dass die BImA Gespräche mit
kommunalen Körperschaften führt, die Möglichkeit haben, sich daran zu beteiligen. Ich darf auf meine vorangegangene Antwort verweisen, dass die BImA der Stadt
Potsdam die Möglichkeit gegeben hat, sich zu diesem
weiteren Angebot zu äußern. Erst wenn die Stellungnahme der Stadt Potsdam vorliegt, wird die BImA entscheiden, wie in dem konkreten Fall weiter verfahren
werden soll.
Ihre zweite Nachfrage, Frau Kollegin Behm.
Vielen Dank. - Das lässt nun vieles vermuten und
veranlasst mich zu einer grundsätzlichen Frage nach der
Verkaufspraxis der BImA; denn diese Praxis scheint von
dem abzuweichen, was zurzeit zum Beispiel bei der
BVVG im Gespräch ist. Dort will man von dem allein
geltenden Prinzip des Verkaufs an den Höchstbietenden
abgehen. Ich habe mich mit dieser Frage - auch im Hinblick auf die BImA - schon länger befasst. Meine Fraktion hat eine Kleine Anfrage zur Privatisierung von Wald
durch die BImA gestellt. In der Antwort der Bundesregierung heißt es unter anderem, dass Verkaufsobjekte
grundsätzlich öffentlich angeboten werden und dass
grundsätzlich an den höchstbietenden Erwerbsinteressierten veräußert wird. Ein Ausschlussgrund, also eine
Ausnahme, wurde genannt, nämlich wenn der potenzielle Käufer entweder rechtsextremistisch ist oder einer
verfassungswidrigen Vereinigung angehört. Können Sie
mir vielleicht - ich gebe mich auch mit einer schriftlichen Antwort zufrieden - die anderen Ausnahmen von
dem Prinzip „grundsätzlich öffentliches Angebot und
grundsätzlich Verkauf an den Höchstbietenden“ nennen?
Dann könnte man sich in Zukunft vielleicht anders darauf einstellen.
Ich will als Letztes noch anfügen, dass ich es nicht für
angemessen halte, Gemeingüter, und dazu gehören Felder, Wälder, Wiesen und auch Seen, grundsätzlich an
den Höchstbietenden zu verkaufen, weil dann das Gemeinwohlinteresse völlig außen vor bleibt. Wenn die
BVVG jetzt noch andere Grundsätze in ihre Verkaufspraxis einbezieht, dann sollte das auch die BImA tun.
Wenn Sie uns einen entsprechenden Ausnahmenkatalog
nennen können, findet sich vielleicht so etwas darunter.
Frau Kollegin, diesen Katalog der Kriterien, wann
vom Höchstgebot abgewichen werden kann, stelle ich
Ihnen gerne zur Verfügung. Ich darf Ihnen aber noch einmal von der Erfahrung in meinem Wahlkreis berichten:
Ich konnte selber solche Verfahren begleiten, bei denen
die BImA am Schluss nicht nach dem Höchstgebot entschieden hat, sondern zum Beispiel im Hinblick auf die
kommunale Planungshoheit, die auch in diesem Fall
nach meiner Kenntnis gegeben ist, gefragt hat, ob ein
Bieter, wenn er zum Zuge kommen würde, überhaupt ein
Projekt mit der Immobilie verfolgt, das auch mit der
kommunalen Planungshoheit, unter die die Liegenschaft
fällt, vereinbar ist. Da sehen Sie schon ein Kriterium.
Die BImA verkauft nicht freiweg nach dem Motto: Der
Höchstbietende bekommt das, und was mit dem Objekt
am Schluss geschieht, ist uns egal. - Gerade wenn es
sich um Objekte handelt, bei denen kommunale Planungshoheiten gegeben sind, geht die BImA sehr sensibel vor. Die Ausnahmetatbestände, die Sie erbeten haben, werden wir Ihnen gerne schriftlich zur Verfügung
stellen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim
Fuchtel zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 22 der Kollegin Brigitte Pothmer
auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Arbeit
und Soziales, Dr. Ralf Brauksiepe, auf der Plattform „Abgeordnetenwatch“, die Koalition der CDU/CSU und FDP habe
sich für die getrennte Trägerschaft im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, SGB II, entscheiden müssen, weil die SPD eine Verfassungsänderung in diesem Bereich nicht mittragen würde,
auch vor dem Hintergrund, dass die Fraktion der CDU/CSU
im Deutschen Bundestag am 18. März 2009 selbst erklärt
hatte, eine Verfassungsänderung nicht mittragen zu wollen,
und dadurch einen ausgehandelten Kompromiss in Sachen
Trägerschaft zum Scheitern brachte?
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, der Kollege
Dr. Brauksiepe wäre heute ganz gerne persönlich hierhergekommen, aber er nimmt an der Arbeits- und Sozialministerkonferenz in Berchtesgaden teil und ist deswegen unabkömmlich. Deswegen darf ich die Frage
heute gerne beantworten.
Zunächst einmal wurde uns vom Verfassungsgericht
eine sehr kurze Frist vorgegeben, die bis zum Ende des
Jahres 2010 reicht. Bitte haben Sie deswegen Verständnis, dass wir seitens der Bundesregierung die Diskussion
auf die Fragen konzentrieren werden, die den Zielsetzungen der Koalitionsvereinbarung entsprechen und die
Lösung der Aufgabe bis zu diesem Zeitpunkt sicherstellen. Ich befürchte, dass Sie damit leben müssen, dass wir
nicht in eine lange Diskussion über die Frage eintreten
können, ob und unter welchen Bedingungen wer eine bestimmte Lösung mittragen möchte. Ich darf den zarten
Hinweis geben, dass neben den hier im Hause vertretenen Fraktionen auch die Länder einer Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit zustimmen müssten. Aus
diesem Grund ist eine gründliche und schnelle Diskussion notwendig. Die Koalition hat deswegen bereits im
Koalitionsvertrag die Weichen gestellt, nämlich die Aufgabenwahrnehmung der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts und ohne Finanzverschiebungen durchzuführen
und neu zu ordnen. Durch die Fokussierung auf die Stärken der Leistungsträger, nämlich der Bundesagentur für
Arbeit und der Kommunen, schaffen wir für die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit klare Strukturen
und Verantwortlichkeiten im Rahmen der getrennten
Aufgabenwahrnehmung. Darüber hinaus entfristen wir
die Optionskommunen und schaffen eine Möglichkeit,
auf Gebietsreformen zu reagieren.
Vor diesem Hintergrund bezieht sich die zitierte Aussage auf die aktuelle Situation des Kollegen, in der ein
Zuwarten nicht verantwortbar wäre.
Nachfrage, Frau Kollegin Pothmer.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ich finde, Sie haben
meine Frage in keiner Weise beantwortet. Meine Frage
lautete, wie Sie zu der Aussage des Herrn Staatssekretär
Brauksiepe stehen, dass die CDU/CSU-Fraktion für eine
Verfassungsänderung wäre, die von der SPD aber leider
torpediert werde. Ich frage dies insbesondere vor dem
Hintergrund, dass sich die Länder in diesem Jahr bereit
erklärt haben, einer Verfassungsänderung zuzustimmen.
Erstens. Ich kann Ihnen Ihre Empfindungen nicht
nehmen, Frau Kollegin.
Zum Zweiten möchte ich darauf hinweisen, dass ich
hier für die Bundesregierung spreche und die vorliegenden Fragen zu beantworten habe.
Frau Pothmer, Sie haben das Wort zu einer weiteren
Nachfrage.
Hält die Bundesregierung eine Verfassungsänderung
zur Lösung der vom Verfassungsgericht aufgegebenen
Problematik für wünschenswert? Schließlich wären mit
einer Verfassungsänderung die Weiterführung der Jobcenter sowie die Ausweitung von Optionskommunen
und damit die Hilfe aus einer Hand möglich.
Ich kann hier nur wiederholen, was ich schon zuvor
gesagt habe: Die Bundesregierung sieht ihre Aufgabe
darin, den Koalitionsvertrag umzusetzen. Vorgesehen ist,
dies ohne Verfassungsänderung zu tun. Deswegen stellt
sich diese Frage für die Bundesregierung gar nicht.
Wir kommen zur Frage 23 der Abgeordneten
Pothmer:
Ist die Bundesregierung offen dafür, den Fortbestand der
Jobcenter und der Optionskommunen zu sichern, wenn neben
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch die Fraktion der
SPD ihre Bereitschaft erneuert, eine dafür notwendige Verfassungsänderung zu tragen, da die geplante getrennte Trägerschaft im SGB II nach Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Arbeit und Soziales,
Dr. Ralf Brauksiepe, wegen des zusätzlichen bürokratischen
Aufwands nicht die bevorzugte Lösung sei?
Die Bundesregierung beabsichtigt, die zukünftige
Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
in Form der eigenständigen, getrennten Aufgabenwahrnehmung der Träger, der Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit zu regeln. Daneben beabsichtigt sie,
die Optionskommunen dauerhaft rechtlich zu sichern.
Ich kann nur wiederholen: Angesichts dieser Vorgaben
stellt sich Frage 23 nicht.
Nachfrage, Frau Pothmer.
Weiß das eigentlich auch das Mitglied der Bundesregierung, Staatssekretär Brauksiepe?
Der Herr Staatssekretär weiß natürlich, wie der Koalitionsvertrag aussieht.
({0})
Er wird sich in all seiner Arbeit darauf konzentrieren,
diesen Vertrag einzuhalten.
Wie ich sehe, gibt es dazu keine Nachfrage mehr.
Dann kommen wir zur Frage 24 des Kollegen Markus
Kurth:
Welche neuen Anforderungen ergeben sich nach Auffassung der Bundesregierung aus dem Art. 6 - Frauen mit Behinderungen - der UN-Behindertenrechtskonvention für den „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter
Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ nach § 66
SGB IX, und wie erklärt die Bundesregierung die - im Vergleich zum „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ der
15. Wahlperiode - geringe und nicht durchgängige Berücksichtigung der Situation behinderter Frauen im aktuellen „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen
und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ der 16. Wahlperiode?
Herr Kollege Kurth, zunächst möchte ich Ihnen für
den sehr frühzeitigen Beginn der Diskussion über diesen
Bereich der Behindertenpolitik gleich am Anfang der
Legislaturperiode danken. Vor Ihnen steht derjenige
Staatssekretär, der im Ministerium für solche Fragen zuständig ist. Ich werde die Umsetzung der UN-Konvention mit großem Nachdruck vorantreiben. Dies möchte
ich diesem Hause vorab sagen.
Mit Art. 6 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention wird anerkannt, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzt
sind. Die Vorschrift verpflichtet dazu, die Aufmerksamkeit auf diese spezifischen Benachteiligungen zu richten
und ihnen durch entsprechende Maßnahmen entgegenzuwirken.
Die besondere Situation behinderter Frauen wird auch
im aktuellen Bericht der Bundesregierung, den ich Ihnen
gerne nachher noch übergeben kann - noch die vorherige Bundesregierung hat ihn vorgelegt -, dargestellt und
analysiert. Darüber hinaus wird die Bundesrepublik in
ihrem Staatenbericht zu den jeweiligen Themen Stellung
nehmen.
Nachfrage, Herr Kollege Kurth.
Vielen Dank. Jetzt weiß ich, an wen ich mich in der
17. Wahlperiode im Bundesarbeitsministerium wenden
kann, wenn ich weiterhin den Eindruck habe, dass möglicherweise ein wesentlicher Bereich, nämlich das
Thema „Frauen und Mädchen mit Behinderungen“,
nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Haben Sie denn, Herr Staatssekretär, eine Erklärung
dafür, warum im jüngst veröffentlichten Bericht über die
Lage von Menschen mit Behinderungen kaum etwas und
vor allen Dingen nicht durchgängig über die Lage von
Frauen und Mädchen mit Behinderungen steht, wo doch
noch im vorherigen Bericht der 15. Wahlperiode bei den
Themen „Besondere Hilfebedarfe“ über „Zugang zu Gesundheitsdiensten“ bis hin zur „Beruflichen Rehabilitation“ vielfältige Aspekte der geschlechtsspezifischen
Seite angesprochen wurde? Warum ist das diesmal nicht
der Fall?
Herr Kollege, dem ist nicht ganz so. Der Bericht ist
sehr umfassend. Deswegen war es Ihnen vielleicht nicht
möglich gewesen, das alles in der ganzen Tiefe zur
Kenntnis zu nehmen.
({0})
Ich habe deswegen als Service der Bundesregierung die
Stellen, an denen dazu Stellung genommen wird, schon
einmal markiert, damit Ihnen eine entsprechende Lesehilfe zuteil wird.
({1})
Weitere Nachfrage?
Offensichtlich haben wir da teilweise unterschiedliche Auffassungen. Ich bin jedenfalls der Auffassung,
dass im vorangegangenen Bericht, dem der 15. Wahlperiode, das Thema „Frauen und Mädchen mit Behinderungen“ systematischer und umfangreicher behandelt
worden ist.
Hat die Bundesregierung denn vor, im Bericht der
17. Wahlperiode, der in den nächsten Jahren anstehen
wird, dieses Thema im Sinne des Gender-Mainstreamings als Querschnittsthema zu berücksichtigen?
Es wird natürlich berücksichtigt werden. - Ich darf
noch darauf hinweisen, dass auch das Bundesfamilienministerium hierzu weitere Beiträge geleistet hat, die in
Kürze bekannt gegeben und mit in die weitere Arbeit
einfließen werden.
Es gibt eine weitere Frage des Kollegen Ilja Seifert.
Bitte schön.
Herr Kollege Fuchtel, die ursprüngliche Frage war,
welche neuen Anforderungen sich für die Bundesregierung aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben.
Die Antwort darauf kann ja nicht darin bestehen, dass
Sie jetzt im Bericht markieren, wo was im Bericht steht.
Vielmehr müssen Sie uns sagen, was Sie daraus schlussfolgern. Was also muss im richtigen Leben, nicht nur in
den Berichten, passieren, dass Frauen und Mädchen mit
Behinderungen wenigstens gleiche Chancen haben?
Genau das muss passieren, dass man darauf achtet,
dass in allen Lebensbereichen die Chancengleichheit
verbessert bzw. wirklich umgesetzt wird.
Wir kommen zur Frage 25 des Kollegen Markus
Kurth:
Beabsichtigt die Bundesregierung, darauf hinzuwirken,
die Zahl der schwerbehinderten Erwerbstätigen als eine wesentliche Kennzahl durch die Bundesagentur für Arbeit statistisch erfassen zu lassen, um somit eine monatliche geschlechtsspezifische Berichterstattung zu ermöglichen - die
auch die Datenbasis zur beruflichen Lage behinderter Frauen
im „Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter
Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ verbessern
könnte -, und wie erklärt die Bundesregierung den Umstand,
dass gewisse Themen wie die Elternassistenz oder das Projekt
„SELBST“ zum § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX in dem „Bericht
der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen
und die Entwicklung ihrer Teilhabe“ der 16. Wahlperiode
nicht vorkommen?
Es geht hier ja vor allem um die Frage der Datenbasis,
und es wird begehrt, dass noch mehr Berichterstattung
darüber erfolgt, und zwar im Rahmen einer monatlichen
Berichterstattung.
Die Bundesagentur hat weitreichende Daten vorliegen, die sehr spezifisch die Situation schwerbehinderter
Menschen in Arbeitslosigkeit und in Beschäftigung erfassen; diese sind geschlechtsspezifisch aufbereitet und
heben auch besonders auf die berufliche Lage ab. Diese
Daten bieten damit eine gute Informationsgrundlage für
Maßnahmen zur Verbesserung der Teilhabe schwerbehinderter Menschen.
Dem Wunsch nach einer neuen Informationspflicht
mit monatlicher Berichterstattung werden wir nicht
nachkommen können. Alle Welt spricht davon, dass Bürokratie abgebaut werden muss. Auch diese Regierung
ist angetreten, um Bürokratie abzubauen. Daher werden
wir nicht zulassen, dass durch weitere spezifische Befragungen von Unternehmen und Arbeitgebern noch mehr
Bürokratie aufgebaut wird.
Der aktuelle Bericht der Bundesregierung, der vorhin
schon einmal genannt wurde, zeigt ja auch, dass seit
2005 Fortschritte bei der Weiterentwicklung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen gemacht wurden. Ebenso macht er deutlich, welche Herausforderungen hier noch bestehen. Ich darf beispielsweise
nochmals auf das Projekt „SELBST - Selbstbewusstsein
für behinderte Mädchen und Frauen“ hinweisen. Der
Abschlussbericht hierzu ist seit Mai 2009 auf der Homepage des Bundesfamilienministeriums veröffentlicht.
Dort wird dieser Fragenkomplex ausführlich behandelt.
Ich ermuntere Sie, das auf dieser Homepage nachzulesen.
Nachfrage, Kollege Kurth?
Herr Staatssekretär, Sie sagen, dass die Bundesagentur für Arbeit sehr spezifische Daten erhebt. Sie erhebt
aber nicht - das war der Kern meiner Frage - gleichzeitig Daten zu den Merkmalen Geschlecht und Behinderung. Wir wissen also nicht, wie sich die Eingliederungserfolge oder möglicherweise auch -misserfolge der
Bundesagentur für Arbeit nach Geschlecht differenziert
darstellen. Ich weiß nicht, ob Sie noch andere Zahlen haben, die mir nicht zur Verfügung stehen. In meinen Gesprächen mit Verantwortlichen der Bundesagentur für
Arbeit ist mir bislang nicht zugesichert worden, die geschlechtsspezifische Erhebung in Bezug auf behinderte
Frauen und Mädchen vorzunehmen. Halten Sie es nicht
für notwendig, den möglichen Bürokratieaufwand - es
ginge nur um die Erfassung eines zusätzlichen Merkmals und die Effizienz der arbeitsmarktpolitischen Steuerung
gegeneinander abzuwägen?
Ich darf wiederholen, dass es schon sehr viele Daten
auf dem Markt gibt, dass es sowohl in diesem Hause als
auch in der Gesellschaft durchaus das Bewusstsein gibt,
dass diesem Fragenkomplex entsprechende Aufmerksamkeit zukommen muss, und dass es deswegen nicht
sinnvoll ist, noch tiefer ins Datenmaterial einzudringen.
Das beschäftigt Soziologen und sonstige Kommunikationskünstler, hilft aber im wahren Leben nicht. Denn
diese Erkenntnisse müssen, wie bereits gesagt, umgesetzt werden. Das kann man bereits jetzt tun; dazu bedarf
es keiner weiteren statistischen Erhebungen.
Ich mache aber darauf aufmerksam, dass die Bundesagentur für Arbeit eine sehr ausführliche Statistik herausgibt. Es ist quasi ein kleines Buch mit reichem Datenmaterial. Wer sich darin vertieft, wird sehr viele
Fragen beantwortet finden.
Mehr Statistiken werden uns in Deutschland in diesem Bereich nicht weiterhelfen. Weiterhelfen wird nur
ein gesellschaftliches Bewusstsein, das wir gemeinsam
schaffen müssen.
Weitere Nachfrage?
Ja. - Beabsichtigt die Bundesregierung, zukünftig
Gespräche mit Trägern der beruflichen Rehabilitation,
mit Integrationsfirmen, Integrationsämtern und Integrationsfachdiensten zu führen, um herauszufinden, dass
dieses Datenmaterial nicht nur Soziologen interessiert?
Die Bundesregierung ist mit Sicherheit bereits in der
Vergangenheit in diesen Bereichen aktiv gewesen. Ich
kann Ihnen für meine Person zusichern, dass ich das mit
Nachhaltigkeit tun werde.
Eine Nachfrage des Kollegen Ilja Seifert.
Herr Staatssekretär, wenn ich Ihre Antwort richtig
verstanden habe, dann betonen Sie ganz besonders, dass
es eine wichtige Aufgabe der Bundesregierung sei, Bürokratie abzubauen. Meinen Sie nicht, gerade als Staatssekretär, der sich besonders für Menschen mit Behinderungen zuständig fühlt, dass es viel wichtiger wäre, die
Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Frauen und
Mädchen abzubauen?
Das ist richtig. Genau das meinte ich: dass wir Beschäftigungsprogramme nicht in der Theorie machen,
sondern in der Praxis. Das werden wir tun. Wir werden
darauf hinwirken, dass, wenn planmäßig nach zwei Jahren der Staatenbericht erscheint, damit auch ein nationaler Bericht vorgelegt wird. Diese sollen im Laufe der
Zeit ein effektives Handbuch ergeben, dem man entnehmen kann, welche Ziele insgesamt bestehen. Dadurch
soll für alle Beteiligten eine gute Grundlage geschaffen
werden, die es in dieser Art bisher nicht gibt.
Dann werden wir auch besser mit den spezifischen
Problemen der Behinderten auf dem Arbeitsmarkt umgehen können und mit Sicherheit noch mehr erreichen. An
diesem Prozess werden sehr viele beteiligt werden müssen. Diese Aufgabe müssen wir angehen, denn die Behinderten haben ihren Platz mitten in der Gesellschaft.
Wir kommen damit zu Frage 26 der Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Hält die Bundesregierung mittelfristige jährliche Rentenerhöhungen von im Schnitt 1,6 Prozent, wie sie in dem bei der
Klausur in Meseberg gebilligten Entwurf des Rentenversicherungsberichtes vorausberechnet werden, für ausreichend, um
die realen Einkommensverluste der Rentnerinnen und Rentner
mit den beiden erwarteten Nullrunden in den Jahren 2010 und
2011 auszugleichen, und ist die Bundesregierung bereit, im
Interesse der Rentnerinnen und Rentner auf alle Berechnungsfaktoren, die den Anstieg der gesetzlichen Rente dämpfen sollen, künftig zu verzichten?
Diese Frage beantworte ich Ihnen sehr gerne. Denn
das eröffnet mir die Möglichkeit, eine Klarstellung vorzunehmen. Im Augenblick wird von einem Teil des Hauses versucht, die Diskussion in eine andere Richtung zu
lenken. Deswegen ist es wichtig, das Ganze hier einmal
grundsätzlich festzuhalten.
Die Renten folgen den Löhnen und nicht der Preisentwicklung. Das ist ein Fundamentalsatz. In der jetzigen
Diskussion wird versucht, daran etwas zu ändern. Das
kann aber nicht unsere Zustimmung finden. Ob und inwieweit Preissteigerungen rechnerisch zu realen Einkommensverlusten oder -gewinnen führen, ist eine
Frage, die sich für Rentner und für Beschäftige gleichermaßen stellt. Das muss auch künftig so sein, wenn wir
an dem bisherigen Rentenrecht weiter festhalten wollen,
was der Fall ist.
Wie sich die Inflationsrate in der Zukunft konkret entwickeln wird, kann nicht verlässlich vorausgesagt
werden, weder von der Bundesregierung noch von irgendeiner Fraktion dieses Hauses. Fakt ist: In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Verbraucherindex
kaum verändert. Langfristig gesehen sind die Renten seit
Einführung der dynamischen Rente im Jahre 1957 - das
wird keiner bestreiten können - stärker gestiegen als die
Preise. Daher ist es im Umkehrschluss richtig, in der aktuellen Situation nicht von diesem Grundsatz abzuweichen.
Die sogenannten Dämpfungsfaktoren stellen die
Lohnorientierung der Rente nicht infrage. Mit dem Faktor für die Veränderung des Altersvorsorgeanteils wird
sichergestellt, dass die steigenden Aufwendungen der
Jüngeren für ihre privaten zusätzlichen Vorsorgen bei
der Rentenanpassung berücksichtigt werden. Der Nachhaltigkeitsfaktor erfasst Veränderungen des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnern zu Beitragszahlern. Dies
ist wichtig, um eine generationengerechte Verteilung der
mit einer älter werdenden Gesellschaft verbundenen
Ausgaben zu gewährleisten. Klar ist: Eine Abschaffung
der Dämpfungsfaktoren würde die Beitragszahler zusätzlich belasten und die Lohnersatzkosten erhöhen. Das
kann nicht gewünscht sein.
Nachfrage, Frau Enkelmann?
Ja, eine Nachfrage. - Sie haben sehr richtig beschrieben, dass mit den Kürzungen mittels der Dämpfungsfaktoren der Grundsatz von der Angleichung an die Lohnentwicklung letztendlich fallen gelassen worden ist, und
zwar aus rein politischen Gründen. Wir wissen sehr
wohl, dass es immer mehr Rentnerinnen und Rentner geben wird, die künftig auf die Grundsicherung angewiesen sind, weil ihnen das, was sie aus der gesetzlichen
Rentenversicherung bekommen, nicht für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts reicht.
Deshalb meine Nachfrage: Welche Schlussfolgerung
zieht die Bundesregierung daraus für eine künftige Rentenreform, mit der zum Beispiel gesichert wird, dass
sämtliche Einkommen für die Rentenversicherung herangezogen werden? Es sollen also nicht mehr nur für
die Arbeitseinkommen, sondern auch für die Einnahmen
aus Pacht und Vermietung Rentenbeiträge fällig werden.
Ich will noch einmal sagen, dass die Belange der
Rentnerinnen und Rentner in der aktuellen Rentenformel
mehrfach berücksichtigt sind. Die im Jahr 2004 eingeführte Schutzklausel stellt sicher, dass es durch die
Anwendung der Dämpfungsfaktoren nicht zu einer Kürzung der Bruttorente kommt. 2009 wurde diese Schutzklausel bekanntlich erweitert mit der Folge, dass auch
sinkende Löhne nicht zu einer Kürzung der Bruttorente
führen. Daher ist ganz klar, dass die Regierung gut beraten ist, wenn sie an dieser Rentenformel festhält.
Es gibt keine Nachfrage mehr.
Ich rufe dann die Frage 27 der Abgeordneten Sabine
Zimmermann auf:
Welche rechtlichen Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung daraus, dass das Unternehmen Schlecker versucht,
mit der Zeitarbeitsfirma Meniar einen mit der Gewerkschaft
Verdi geschlossenen Tarifvertrag über Lohn- und Arbeitsbedingungen im Unternehmen zu unterlaufen, und wie steht sie
zu dem Vorwurf, dass es sich dabei de facto um eine „rechtsmissbräuchliche Strohmann-Konstruktion“ handelt, vor dem
Hintergrund, dass laut Wirtschaftswoche vom 16. November
2009 der Geschäftsführer dieser Zeitarbeitsfirma jahrelang
Toppersonalmanager bei Schlecker war und ein Büro am
Konzernsitz unterhält?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, meine Antwort auf Ihre Frage wird
sehr kurz sein. - Die Bundesregierung hat keine eigenen
unmittelbaren Erkenntnisse in dieser Sache. Ohne genaue Kenntnis dieses Einzelfalls kann dieser nicht bewertet werden. Deshalb können daraus auch keine
rechtspolitischen Schlüsse gezogen werden.
Frau Kollegin Zimmermann, Nachfrage?
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
ich bin ein bisschen überrascht, dass Sie keine Kenntnisse darüber haben. Der Stammsitz der Zeitarbeitsfirma
der Schlecker GmbH - Meniar mit Namen - befindet
sich in Zwickau. Diese Firma ist bereits seit einem Jahr
tätig und hat die Zulassung zur Arbeitnehmerüberlassung. Wenn Sie bei der Bundesagentur für Arbeit nachgefragt hätten, dann hätten Sie diese Informationen dort
bekommen können.
Da Sie sagen, dass Sie keine Kenntnisse haben, muss
ich Ihnen die Praxis in diesem Bereich schildern:
Schlecker entlässt die eigenen Beschäftigten und stellt sie
über diese Leiharbeitsfirma wieder ein, aber nicht zu denselben Bedingungen, sondern zu einem wesentlich geringeren Einkommen. Es ist bis zu 50 Prozent geringer. Wie
beurteilen Sie die Praxis dieser Leiharbeitsfirma? Wie bewertet die Bundesregierung solche Praktiken? Das ist
kein Einzelfall; es gibt andere Unternehmen, die dies
schon praktizieren.
Zunächst ist festzustellen: Die Bundesregierung ist
kein Forschungsinstitut, dessen Aufgabe es wäre, solchen Einzelfällen nachzugehen. Hierfür sind andere Instanzen zuständig. Die zuständigen Gerichte müssen
sich mit diesen Fragen beschäftigen.
Weitere Nachfrage?
Ja, ich habe eine weitere Nachfrage. - Herr Staatssekretär, das befremdet mich schon; denn es geht hier
um 4 300 Menschen. Sie sind in diese Leiharbeitsfirma
gedrückt worden. Sie waren zuvor als Verkäuferinnen im
Einzelhandel bzw. bei Schlecker beschäftigt. Ich denke,
es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung hier tätig
wird.
Ich gebe Ihnen mit auf den Weg, dass Sie Recherchen
dazu anstellen und versuchen, zu klären, wie solche
Praktiken auf gesetzlichem Wege unterbunden werden
können. Dies ist im Interesse der Allgemeinheit; denn
die Folgekosten - es werden dadurch geringere Sozialversicherungsbeiträge gezahlt - trägt die Gesellschaft.
Dies kann nicht sein. Sind Sie der Meinung, dass es richtig ist, wenn die Kosten so verlagert werden?
Ich wiederhole mich zunächst einmal: Es geht hier
nicht um generelle Tendenzen, sondern wir haben es hier
mit einem Einzelfall zu tun. Die Gerichte werden klären,
was rechtens ist und was nicht.
Im Übrigen möchte ich ein Wort zum Thema der
Leiharbeit insgesamt sagen. Für die Bundesregierung ist
die Leiharbeit bzw. Zeitarbeit ein flexibles Instrument
der Arbeitsmarktpolitik. Sie hat ein hohes Beschäftigungspotenzial und bietet vielen Arbeitslosen die
Chance auf ein sozialversicherungsverträgliches Arbeitsverhältnis - und das bei grundsätzlich gleichen Arbeitnehmerschutzvorschriften. Diese müssen eingehalten werden; darum geht es. Dafür müssen wir sorgen.
Falls es Praktiken gibt, die dem nicht Rechnung tragen, ist es Sache der dafür zuständigen Instanzen, sich
damit zu befassen. Hier sind die Gerichte gefragt.
({0})
Damit kommen wir zur Frage 28 der Kollegin
Zimmermann:
Befürwortet die Bundesregierung eine Vermittlungspraxis
der Bundesagentur für Arbeit, wonach Arbeitslose unter Androhung von Sanktionen genötigt werden, Leiharbeitsplätze
anzunehmen, obwohl diese dazu genutzt werden, bisher gültige Tarifverträge in einem Unternehmen zu unterlaufen, und
werden damit wie im Fall Schlecker nicht sittenwidrige Löhne
unterstützt angesichts der Tatsache, dass die von der Leiharbeitsfirma Meniar gezahlten Löhne 40 Prozent unter dem
Entgeltniveau liegen, das über Tarifverträge der Gewerkschaft
Verdi im Einzelhandel vereinbart ist?
Das ist die letzte Frage, die ich zulasse; denn die für
die Fragestunde vorgesehene Zeit ist dann beendet.
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Zu Frage 28 kann ich nur ausführen, dass die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen ihres gesetzlichen
Auftrags der Arbeits- und Ausbildungsvermittlung zu
prüfen hat, ob das Stellenangebot gegen ein Gesetz oder
die guten Sitten verstößt. Wenn dem so ist, ist der Vermittlungsauftrag abzulehnen.
Nachfrage, Frau Zimmermann?
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, ich
stelle fest, dass sich die Bundesregierung mit solchen
Einzelfällen, wie Sie es bezeichnen, nicht beschäftigen
will. Ich muss aber trotzdem fragen: Ist sich die Bundesregierung darüber klar, dass der Staat und die Allgemeinheit den Niedriglohnsektor gerade im Einzelhandel
massiv subventionieren? In Deutschland sind allein im
Einzelhandel 160 000 Hartz-IV-Aufstocker beschäftigt.
Das heißt, jeder achte Aufstocker in Deutschland arbeitet im Einzelhandel. Will die Bundesregierung diesen
Niedriglohnsektor weiter subventionieren und ihn ausweiten?
Ich entnehme Ihrer Frage, dass Sie durch die Hintertür wieder auf das Thema Mindestlohn kommen möchten.
({0})
Das ist mit uns auf diese Weise nicht zu machen. Wir haben klare Vorgaben, in welchem Rahmen Mindestlöhne
gezahlt werden oder nicht; und diese werden eingehalten. Solange wir regieren, müssen sich alle nach unserer
Auffassung richten.
Ich darf weiterhin darauf hinweisen, dass für Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer von den Sozialpartnern ausgehandelte Tarifentgelte nahezu flächendeckend gelten. Es ist grundsätzlich nicht die Aufgabe der
Bundesregierung, die Arbeitsbedingungen einschließlich
des Arbeitsentgelts festzulegen. Das ist, mit Verlaub,
nach weit verbreiteter Auffassung in diesem Hause die
Aufgabe der Sozialpartner. Dass das funktioniert, zeigen
die über 50 Jahre hinweg erfolgreichen Sozialpartnerschaften in Deutschland.
({1})
Diese sollten wir weiterhin bestehen lassen und fördern.
Auf sie sollten wir uns stützen. Die Bundesregierung
würde es allerdings nicht hinnehmen, wenn es sich um
sittenwidrig niedrige Löhne handelt.
Frau Zimmermann, haben Sie eine Nachfrage?
Ja, ich habe eine Nachfrage. - Ich möchte Ihnen ein
paar Beispiele nennen. Bei Schlecker haben die Verkäuferinnen 12,80 Euro die Stunde erhalten. Nachdem ihnen
betriebsbedingt gekündigt wurde, wurden sie bei der
Leiharbeitsfirma Meniar eingestellt. Die Verkäuferinnen
erhalten nun 6,50 Euro pro Stunde. Das ist schon ein
großer Unterschied. Finden Sie es richtig, dass durch die
Subventionierung, die Sie über die Aufstockung betreiben, die Steuerzahler, also die Allgemeinheit, für diese
Kosten aufkommen müssen?
Ich kann nur sagen, dass auch der Staatssekretär Zeitung lesen kann.
({0})
Ich nehme deswegen aber noch lange nicht alles, was in
der Zeitung steht, eins zu eins hin. Es gibt vielleicht
noch Rückfragen. Ich verstehe gut, dass Sie als örtlich
betroffene Abgeordnete diesen Fragenkomplex ansprechen. Allerdings müssen Sie auch mich verstehen, dass
ich bereits gegebenen Antworten nichts hinzuzufügen
habe.
({1})
Ich beende die Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Versöhnen statt provozieren - Das deutschpolnische Verhältnis nicht beschädigen
Ich eröffne die Aktuelle Stunde und erteile als erster
Rednerin das Wort der Kollegin Angelica SchwallDüren von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Regierung führt wenige Wochen nach Abschluss der Koalitionsvereinbarung täglich ein Trauerspiel auf:
({0})
Streit um Steuerfragen, Streit um Gesundheitsversorgung, Streit um Kinderbetreuung, Streit auf dem Rücken
von Bürgern und Bürgerinnen, die darauf warten, dass
diese Regierung Lösungen für die wichtigen Fragen anbietet. Nun kommt auch noch ein Streit der Koalition
dazu, der zulasten unserer guten Beziehungen zu unserem größten östlichen Nachbarn geht.
Wie anders soll man es interpretieren, wenn die Bundeskanzlerin erklärt, dass sie nicht mehr bereit ist, sich
weiter um Kompromisse zu bemühen. Der Außenminister legt die aus unserer Sicht richtige Haltung an den
Tag. Er will verhindern, dass Frau Steinbach einen Platz
im Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einnimmt.
Es gab eine Zeit, da fand man in der CDU noch Europapolitiker, die um die deutsche Verantwortung im Umgang mit unseren Nachbarn wussten und eine entsprechende Sensibilität an den Tag legten. Wie verträgt es
sich aber, wenn die Bundeskanzlerin mit verständnisvollen Worten am 1. September in Danzig auftritt, wenn
von Herrn Gröhe gesagt wird, dass es für die CDU und
für die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Merkel
eine Herzensangelegenheit sei und Frau Steinbach das
uneingeschränkte Vertrauen genieße.
({1})
Wenn Frau Steinbach scheitere, sei dafür die FDP verantwortlich, so Herr Gröhe in der FAZ vom 24. November 2009.
Nicht die FDP bringt eine Opfergabe, sondern mein
Eindruck ist, dass Frau Merkel Frau Steinbach zum Opfer macht, indem sie ihr nicht rät, sich zurückzuziehen.
Die Bundeskanzlerin verursacht Schaden im doppelten
Sinne: Sie schadet nicht nur der berechtigten Angelegenheit der Erinnerungsstiftung, sondern sie schürt auch
Misstrauen bei unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa.
({2})
Worum geht es?
({3})
Es geht darum, dass wir alle unsere besondere historische Verantwortung gegenüber Polen anerkennen, gegenüber einem Land, das wie kein anderes unter den
Verbrechen des Nationalsozialismus gelitten hat, dessen
Bevölkerung mit einem Sklavenvolk auf eine Stufe gestellt werden sollte, dessen Elite ausgelöscht werden
sollte und das wie kein anderes Land Opfer zu bringen
hatte, nämlich 6 Millionen Tote.
Es geht nicht darum, das Leid, das Vertriebene erlebt
haben, zu leugnen oder ihnen das Recht streitig zu machen, inmitten unserer Gesellschaft an dieses Leid zu erinnern. Die meisten Vertriebenen und ihre Nachkommen
haben verstanden, dass sie Opfer des Naziunrechtsregimes geworden sind, so wie auch viele andere Menschen Eigentum, Leib und Leben im Bombenkrieg oder
an der Front verloren haben. Deshalb haben viele Vertriebene sehr früh Kontakt zu den Menschen aufgenommen, die heute in ihrer alten Heimat leben. Durch das Erzählen der gegenseitigen Geschichten haben sie viel für
die Versöhnung getan. Das waren Einzelne, aber auch
Vertriebenenverbände. Ich darf daran erinnern, dass dazu
auch die Seliger-Gemeinde, die Ackermann-Gemeinde
und die Danziger Katholiken gehören.
Frau Steinbach jedenfalls kann nicht den Anspruch
erheben, für alle Vertriebenen zu sprechen.
({4})
Sie hat - leider - durch viele Äußerungen im Zusammenhang mit dem anstehenden EU-Beitritt Polens und
durch ihre Ablehnung der Anerkennung der Oder-NeißeGrenze nicht dazu beigetragen, dass sie wirklich ernsthaft für Versöhnung stehen kann.
Ich bin erstaunt, dass die Bundesregierung hier und
heute nicht Position bezieht. Wir müssen uns fragen, auf
welches Niveau sich die Bundesregierung begibt,
({5})
wenn wir lesen, dass nun über mögliche Kompensationsgeschäfte verhandelt werden soll. Wir müssen uns fragen, ob die Bundeskanzlerin mit dem historischen Gedenken umgehen darf, als würde sie mit Bananen
handeln. Die Bundesregierung kann in diesem Fall nicht
erwarten, von Polen in Sachen Geschichtspolitik als aufrichtig wahrgenommen zu werden.
({6})
Polen ist unser größter und wichtigster Nachbar im
Osten Europas. Diesem Land gegenüber haben wir aufgrund der eindeutigen Kriegsschuld eine große Verantwortung. Frau Merkel sollte das, was sie am 1. September in Danzig formuliert hat, ernst nehmen und nicht die
Erwartungen der Polen enttäuschen. Sie sollte sich darum bemühen und erreichen, dass sich Frau Steinbach
zurückzieht; denn sonst wird Deutschland als EU-Partner für Polen unglaubwürdig.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit Wochen erleben wir in Deutschland eine
hitzige öffentliche Debatte über das deutsch-polnische
Verhältnis, in deren Zentrum die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ steht. Dabei geht es lediglich um
einen von drei Sitzen im 13-köpfigen Stiftungsrat, für
die der Bund der Vertriebenen Mitglieder benennen darf.
Wir lesen in der Bild-Zeitung über eine Frau, die Deutsche und Polen angeblich spaltet, im Spiegel von unmoralischen Angeboten oder in der Frankfurter Rundschau
vom Vertagen der Eskalation.
Neu angefacht wurde diese Debatte erst durch den
Besuch unseres Außenministers Anfang November in
Warschau. Auf einer Pressekonferenz fragten Journalisten nach dem Stiftungsrat. Der polnische Außenminister
wehrte interessanterweise mit den Worten ab: Erbarmen
Sie sich unser! - Sein deutscher Kollege ließ es sich
nicht nehmen, zu der Vertriebenenstiftung Stellung zu
nehmen. Er sagte:
Wir wollen, dass das ein Projekt ist, das unsere Länder zueinander bringt, ein Beitrag zur Versöhnung
ist. Wir werden alles unterlassen, was diesem Gedanken entgegensteht.
({0})
Mit der abschließenden Bemerkung, eine Bewerbung
um diesen Sitz sei bei ihm noch nicht gelandet, setzte der
Vertreter Deutschlands ohne Not noch einen drauf.
Meine Damen und Herren, für die deutsch-polnischen
Beziehungen wäre es besser gewesen, unser Außenminister hätte es mit dem Sprichwort gehalten: Reden ist
Silber, Schweigen ist Gold.
({1})
Gerade die deutschen Heimatvertriebenen sind durch
zahlreiche Kontakte, Besuche oder Projekte zwischen
Deutschland und Polen sehr wertvolle Brückenbauer.
Man sollte sie nicht mit im Ausland gemachten Aussagen grundlos brüskieren.
Als neuer Vorsitzender der Gruppe der Vertriebenen,
Flüchtlinge und Aussiedler der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich zu einer Versachlichung der Diskussion gerne beitragen,
({2})
die bemerkenswerterweise in Polen derzeit fast geräuschlos abläuft.
Unzweifelhaft war Nazideutschland der Aggressor im
Zweiten Weltkrieg. Wir Deutsche haben unseren Nachbarn überfallen und unterjocht. Dennoch darf man darauf hinweisen, dass auch Deutsche in diesem Krieg
Opfer geworden sind, ohne gegenseitiges Unrecht aufrechnen zu wollen. Nicht umsonst findet die Erinnerung
an Flucht und Vertreibung der Deutschen vor mehr als
60 Jahren in jüngster Zeit eine neue Aufmerksamkeit.
Man denke nur an Filme wie „Die Gustloff“ und „Die
Flucht“ mit jeweils Millionen Zuschauern.
Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die weltweit größte demografische Umwälzung des 20. Jahrhunderts und eine der größten in der
Geschichte. Deshalb ist es unser politischer Auftrag,
auch an das Leiden der Deutschen zu erinnern, wie es
unser Auftrag ist, aller Opfergruppen zu gedenken. Aus
diesem Grundverständnis heraus hat die Union seit nunmehr acht Jahren für die Errichtung eines Vertriebenenzentrums gerungen, das auf eine Initiative meiner
geschätzten Kollegin Erika Steinbach und des SPD-Politikers Peter Glotz zurückgeht. Der Deutsche Bundestag
hat im Dezember 2008 die Errichtung der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mit breiter Mehrheit
beschlossen.
Auf einem Fachkongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Anfang dieses Jahres betonte die Bundeskanzlerin in ihrer Rede - ich zitiere -:
Flucht und Vertreibung sind keineswegs vergessen.
Ganz im Gegenteil … Die Schicksale der von
Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen berühren uns stets aufs Neue … Auch die Kinder und
Enkel von Vertriebenen haben das Bedürfnis nach
Klärung und vor allen Dingen nach Wahrheit.
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund der
zunehmenden Spurensuche von Kriegskindern und
nachfolgenden Generationen gilt es heute mehr denn je,
den aktuellen Bezug des Themas zur gesellschaftlichen
und politischen Lage in Deutschland herzustellen. Daher
ist die neue Bundesstiftung in Berlin eines der wichtigsten Projekte unserer nationalen Identität in Europa.
Eines ist an dieser Stelle ganz klar festzuhalten: Eine
solche Dokumentations- und Gedenkstätte ohne angemessene Beteiligung der größten Organisation deutscher
Heimatvertriebener darf und wird es nicht geben.
({3})
Sie sind die Opfer, und sie entscheiden, wen sie in das
Gremium entsenden. Dafür wird sich die Gruppe der
Vertriebenen weiterhin einsetzen. Wir werden uns ebenfalls weiterhin dafür einsetzen, dass die Flucht und Vertreibung von über 12 Millionen Deutschen als nationale
Katastrophe begriffen und das Schicksal der Betroffenen
endlich gesellschaftlich anerkannt wird.
Zudem wird in den kritischen Berichten über die Vertriebenenverbände sowohl in Deutschland als auch in
Polen dreierlei völlig ausgeblendet: dass es erstens die
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen war, die den
BdV mit Beharrlichkeit wieder in die Mitte der Gesellschaft geholt hat,
({4})
dass zweitens Erika Steinbach als erste BdV-Präsidentin
die Nulllösung propagiert und sich eindeutig gegen die
Forderung der Preußischen Treuhand gestellt hat und
dass drittens sie es war, die 60 Jahre nach dem Warschauer Aufstand in einer großen Veranstaltung in Berlin
das bei uns immer noch fast unbekannte Schicksal der
Polen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft thematisiert hat.
Sie sagte 2004 in der Französischen Friedrichstadtkirche:
Empathie ist der Weg zum Miteinander. Wir wollen
selbst mitfühlen und wir sehnen uns nach dem Mitgefühl anderer.
Es würde dem deutsch-polnischen Verhältnis sehr nützen, wenn diese Leistungen von Erika Steinbach endlich
zur Kenntnis genommen würden.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jede öffentliche Diskussion über die Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ ist zu begrüßen, erst recht
jede Debatte hier im Parlament. Erinnern Sie sich noch,
wie diese Stiftung vor knapp einem Jahr, am 4. Dezember 2008, von diesem Hohen Haus gesetzlich errichtet
wurde? Herr Kollege, Sie haben von einer großen Mehrheit gesprochen; tatsächlich wurde das Gesetz nachts um
2.30 Uhr klammheimlich verabschiedet, ohne jegliche
Aussprache in der zweiten und dritten Lesung. Die FDP
war gar nicht anwesend. Im Protokoll ist vermerkt:
Der Gesetzentwurf ist … mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Nach der Schlussabstimmung ist vermerkt:
({0})
Die Linke war stets gegen die Errichtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen: wegen ihrer Konzeption, ihres Standortes und der Zusammensetzung des
Stiftungsrates. Wir haben nie verstanden, wieso der
Bund der Vertriebenen in einem 13-köpfigen Gremium
mit drei Sitzen, das Parlament hingegen mit zwei Entsandten vertreten sein soll.
Wir haben immer wieder die Frage gestellt: Wie kann
eine solche Institution der Erinnerung eigentlich der Versöhnung dienen, wenn sie ausgerechnet in Berlin ihren
Sitz hat, dem Ort, von dem all das mörderische Verbrechen ausgegangen ist, das zum Elend von Flucht und
Vertreibung geführt hat?
({1})
Welche Chancen wurden vertan? Polens Ministerpräsident Tusk hat Deutschland eingeladen, sich am großen
polnischen Antikriegsmuseum in Danzig zu beteiligen:
kein Interesse. Die Städte Görlitz und Zgorzelec haben
sich um eine Doppelausstellung beworben: kein Interesse. Es gab Vorschläge, Ausstellungen und Dokumentationen im Dreiländereck Deutschland - Polen - Tschechische Republik zu präsentieren: kein Interesse.
Seit Jahren - nicht erst heute - ist dieses Projekt der
Erinnerung an Flucht und Vertreibung eine schwere Belastung für das deutsch-polnische Verhältnis. Das gilt
insbesondere für das Jahr 2008; damals war aber von
„Versöhnen statt Provozieren“ nicht die Rede. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie haben in
der Großen Koalition alles mitgetragen und allem zugestimmt. Insofern mutet Ihr heutiger Appell etwas sonderbar an, auch wenn er in der Sache vollkommen richtig ist
und vielleicht bewirkt, dass grundsätzlich umgedacht
wird.
Im Dezember 2007, also vor zwei Jahren, gab es einen vielbeachteten Vorschlag des Willy-Brandt-Kreises:
Anstelle der Stiftung gegen Vertreibung solle ein Zentrum gegen Krieg in Berlin eingerichtet werden. Zu den
Initiatoren gehörten unter anderem Egon Bahr, Günter
Grass, Friedrich Schorlemmer, Daniela Dahn und Klaus
Staeck. Über 1 000 Künstler, Journalisten und Politiker
haben diesen Vorschlag unterstützt.
({2})
Das wäre doch eine Alternative im Sinne von „Versöhnen statt Provozieren“: ein Museum, das den Krieg ächtet, was die Ächtung der Vertreibung einschließt. Vor allem aber wäre es eine weitergehende Initiative, die nicht
bei den Folgen von Kriegen verharrt, sondern auf deren
Ursachen zielt.
Wenn wir wirklich versöhnen wollen, statt zu provozieren, sollten wir im Zusammenhang mit der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ hier im Parlament
nicht über eine Personalie streiten. Die Kardinalfehler
dieses Projektes der Erinnerungskultur müssen korrigiert
werden.
Der erste Kardinalfehler besteht darin, auf die
schrecklichen Folgen des Krieges zu fokussieren, nicht
auf seinen mörderischen Anfang.
Der zweite Kardinalfehler hat mit der Legende zu tun,
dass in der Nachkriegszeit das Schicksal der Vertriebenen verschwiegen und aus der Erinnerungskultur ausgeklammert worden sei.
({3})
Daran ist nämlich nichts wahr: Die alte Bundesrepublik
hat sich in der Nachkriegszeit kontinuierlich mit dem
Schicksal von Flucht und Vertreibung befasst.
({4})
Der Bund der Vertriebenen hat dabei eine dominierende
Rolle gespielt, im Übrigen gegen jeden Versöhnungsgedanken. Man denke nur an die jährlichen Pfingsttreffen,
welche Reden da gehalten wurden und wer da alles aufgetreten ist.
Dieser Legende muss eine auf Europa und Versöhnung setzende Politik entgegenwirken. Das halte ich für
ganz wichtig. Deshalb muss das Konzept der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ grundsätzlich neu
überdacht werden. Vielleicht ist diese heutige Diskussion ein Anfang dafür.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Michael Link von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der etwas
provokante Titel der heutigen Aktuellen Stunde
({0})
„Versöhnen statt provozieren“ deutet in die Richtung,
das deutsch-polnische Verhältnis sei schlecht. Ich stelle
fest: Der deutsch-polnische Motor läuft. Das sind nicht
meine Worte, das sind die Worte von Außenminister
Sikorski am Tag des Antrittsbesuchs von Bundesaußenminister Westerwelle in Warschau.
({1})
Darüber hinaus hat Außenminister Sikorski ausdrücklich
zu Protokoll gegeben: Noch nie zuvor waren die
deutsch-polnischen Beziehungen so gut. - Das ist ein
Faktum, das wir festhalten können; das haben wir in der
Vergangenheit selten so gehört. Deshalb ist der Takt, den
wir in den deutsch-polnischen Beziehungen weiter vorgeben wollen, der Takt einer extrem engen europapolitischen und bilateralen Abstimmung im Geist der Versöhnung mit Polen.
({2})
Das war die Leitlinie dessen, was wir uns für die
nächsten vier Jahre in der Bundesregierung vorgenommen haben. Im Koalitionsvertrag steht an prominenter
Stelle, dass wir ein klares Bekenntnis zu dieser engen
Freundschaft mit Polen abgeben. Stabile Partnerschaft
und dauerhafte Aussöhnung mit Polen sind die Grundpfeiler deutscher Außen- und Europapolitik, genauso
wie die Freundschaft mit Frankreich.
Deshalb war es für uns extrem wichtig, in diesem
Punkt den Kurs der alten Bundesregierung fortzusetzen.
Nachdem Ministerpräsident Tusk nach der KaczynskiZeit mit Amtsantritt Ende 2007 einen konstruktiven
Neuanfang in der Deutschlandpolitik gewagt hat, ist die
alte Bundesregierung darauf ebenso konstruktiv eingeMichael Link ({3})
gangen. Wir haben das sehr begrüßt, und der neue Bundesaußenminister setzt genau diesen Kurs fort.
Jeder, der die Situation in Polen kennt, weiß, wie umstritten Herrn Tusks Linie in Polen ist. Sie wird von
manchen Kräften kritisch beobachtet. Uns wäre es nicht
recht - ich sage dies mit allem Verlaub vor den polnischen Wählern -, wenn diese Kräfte die deutsch-polnischen Beziehungen wieder bestimmen könnten. Den anderen Kräften, den anderen Lagern ist die Versöhnung,
auch das Hineinfühlen in das Unrecht, was Vertreibung
bedeutet hat, bei weitem nicht so wichtig wie Ministerpräsident Tusk. Deshalb sollten wir bei all unseren
Schritten genau bedenken, wie sie beim polnischen Partner ankommen. Genau das ist die Linie des Bundesaußenministers, die die FDP-Fraktion ausdrücklich begrüßt.
({4})
Es ist allgemein bekannt, dass sich die Große Koalition damals auf der Ebene der Regierungschefs konkret
um die Entschärfung der Fragen um die in Rede stehende Stiftung bemüht hat. Auch wir haben sehr begrüßt, dass man es versucht hat. Dass man damit nicht zu
Ende gekommen ist, dass diese Fragen buchstäblich an
die neue Bundesregierung vererbt worden sind, haben
wir nicht zu vertreten. Die Konzeption der Stiftung als
solche ist gemeinsam anerkannt und gemeinsam erarbeitet worden. Wir haben sie mitgetragen. Gerade wurde
gesagt, sie sei in Abwesenheit der FDP beschlossen worden. Ich kann nur sagen: Wir haben in der Fraktion darüber geredet. Wir tragen diese Stiftung mit, und wir stehen zu den Zielen dieser Stiftung.
({5})
Wir stehen auch dazu - das gerät oft in Vergessenheit -, dass der Bund der Vertriebenen, den auch wir für
eine sehr wichtige Organisation und einen wichtigen
Partner halten, drei Vertreter im Stiftungsrat hat. Der
Bundestag hat übrigens nur zwei. Auch das drückt deutlich aus - dazu stehen wir -, dass das ein gemeinsames
Projekt ist, das von der alten Bundesregierung genau wie
von der neuen - und besonders vom Bundesaußenminister - konsequent fortgesetzt wird.
Der entscheidende Punkt ist, zu vermeiden, dass jetzt
das aufs Spiel gesetzt wird, was wir bisher erreicht haben. Ich wiederhole noch einmal: Was wir erreicht haben, ist in Polen eine in der Gesellschaft, bei Historikern,
bei Politikern und selbst in den Medien, die gern einmal
auf Provokationen anspringen, wachsende Bereitschaft,
sich hineinzufühlen in das, was tatsächlich im Rahmen
von Flucht und Vertreibung stattgefunden hat. Wir müssen alle unsere Schritte daraufhin prüfen, ob wir das, was
sich jetzt in der Gesellschaft in Polen erfreulicherweise
entwickelt, durch Personalentscheidungen auf der deutschen Seite riskieren wollen. Das ist etwas, worüber wir
in der Tat immer wieder diskutieren müssen.
({6})
Der Bundesaußenminister hat auch in dieser Frage nur
die Linie der alten Regierung fortgesetzt.
({7})
Wir sind der Meinung, dass all diejenigen, die hier
gerne in einer vermeintlichen Wunde bohren wollen
- die es zwischen den Regierungsfraktionen aber nicht
gibt -, sehr schnell auf die eigenen Wunden stoßen werden; denn das ist in der Tat ein vererbtes Problem.
Während meine letzten Worte an diejenigen gerichtet
waren, die gerade einige Zwischenrufe gemacht haben
- ich glaube allerdings, dass Sie meine Ausführungen
trotzdem registriert haben -, sei jetzt vor allem an die
Adresse der Fraktion, die die heutige Aktuelle Stunde
beantragt hat, eines gesagt: Keine andere Regierung hat
gerade im deutsch-polnischen Verhältnis de facto mehr
Probleme geschaffen - nicht bewusst; das sage ich überhaupt nicht - als die damalige rot-grüne Regierung: erstens durch die Art und Weise, wie sie im Gefolge des
EU-Beitritts Polens in die EU umgegangen ist,
({8})
zweitens durch die Art und Weise, wie sie mit dem
Thema Ostseepipeline umgegangen ist, und drittens dadurch, dass sie im Rahmen der privilegierten Beziehungen zu Russland immer wieder über den Kopf des polnischen Partners hinweg oder hinter seinem Rücken
Politik gemacht hat, wodurch sie den Polen gezeigt hat,
dass sie in der Europäischen Union offensichtlich neu
und noch nicht voll angekommen sind. Das ist eine
Denkweise, mit der wir brechen. Deshalb haben wir als
Fraktion ganz bewusst begrüßt, dass sein erster Antrittsbesuch den neuen Bundesaußenminister nach Warschau
geführt hat.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf
mit einem Satz von Frau Steinbach beginnen: „Man
muss kein Wal sein, um sich für Wale einzusetzen.“
Lassen Sie mich dennoch ein Wort zu meiner eigenen
Familiengeschichte verlieren. Meine Großeltern wurden
am Ende des Ersten Weltkrieges aus Slowenien vertrieben; mein Großvater, ein österreichischer Offizier, war
dort stationiert. Am Ende des Krieges mussten sie ihr Eigentum, ihren Hausstand hinter sich lassen und sind zu
den Eltern meiner Großmutter nach Reichenberg ins Su356
Volker Beck ({0})
detenland zurückgekehrt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges mussten sie ihre Heimat erneut verlassen. Sie
sind dann, wie viele Sudetendeutsche, nach Bayern übergesiedelt.
Dieses Gefühl hinterlässt in jeder Familie Spuren:
dass ein Teil der Familie entwurzelt ist, dass man die
Heimat der Großeltern nicht kennt, dass man auch kein
natürliches Verhältnis zu dieser Heimat hat wie Leute,
die einmal umgezogen sind, sondern dass damit eine Geschichte von Unrecht, eine Geschichte von großer Angst
und eine Geschichte von totalem Verlust der eigenen
bürgerlichen Existenz einhergeht. Deshalb ist es mir persönlich wichtig, dass wir auch die Menschenrechtsverletzungen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges an Vertriebenen begangen wurden, aufarbeiten und dass wir
dieses Unrecht und die Auseinandersetzung damit in unser Geschichtsbild integrieren, um diesem Thema insgesamt gerecht zu werden.
({1})
Wenn man dies tut, muss man meines Erachtens nicht
jede Position von Frau Steinbach und des Bundes der
Vertriebenen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, übernehmen.
({2})
Ich muss sagen: Ich verstehe, dass die Personalie
Steinbach in Polen nicht als Versöhnungsgeste ankommt.
({3})
Ich verstehe es, wenn ich mir anschaue, wie sich Frau
Steinbach in Sachen deutsch-polnisches Verhältnis als
Abgeordnete des Deutschen Bundestages ganz konkret
verhalten hat. Als es damals um die Anerkennung der
Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Staatsgrenze
ging, hat sie, übrigens zusammen mit Herrn Ramsauer
und anderen, dagegengestimmt.
({4})
Sie hat eine Erklärung abgegeben, in der sie dieses
Verhalten damit begründete, dass sie sich im Vorfeld des
Vertrages gegen eine isolierte deutsch-polnische Grenzregelung gewandt und sich für eine in die Zukunft gerichtete Lösung aller offenen deutsch-polnischen Fragen
eingesetzt habe. Welche deutsch-polnischen Fragen waren denn, bitte schön, 1991 noch offen, und welche sind
es womöglich noch heute? Das sind die Fragen, die sich
mit der Personalie Steinbach verbinden.
({5})
Jenseits der diplomatisch verfassten persönlichen Erklärung, aus der ich zitiert habe, hat sie sich auch deutlicher eingelassen. Sie hat ihre Ablehnung des deutschpolnischen Grenzvertrages so begründet: „Man kann
nicht für einen Vertrag stimmen, der einen Teil unserer
Heimat abtrennt.“ Dieser Satz bedeutet, dass man sich
letztendlich nicht mit den Ergebnissen des Zweiten
Weltkrieges auseinandergesetzt und sie akzeptiert hat.
So schmerzlich sie für die Menschen sind, die dadurch
ihre Heimat verloren haben: Wir müssen an diesem
Punkt anerkennen, was die historischen Fakten sind und
welche Verantwortung unser Volk gerade gegenüber den
osteuropäischen Völkern auf sich geladen hat.
Wir müssen gegenüber unseren Freunden in Osteuropa deutlich machen: An diesen Fragen wollen wir
fachlich wie sachlich wie juristisch nicht mehr drehen,
sondern wir wollen unsere gemeinsame Geschichte aufarbeiten. Wie wir das im deutsch-französischen Verhältnis gemacht haben, wollen wir auch gegenüber Polen,
gegenüber der Tschechischen Republik und auch gegenüber Russland und den baltischen Staaten klarmachen,
dass Frieden, Freundschaft und Kooperation auf der
Grundlage der Menschenrechte unser Ziel sind und
nichts anderes mehr auf der Agenda steht.
({6})
Die Unionsfraktion und der Bund der Vertriebenen
tun so, als ob es Anmaßung wäre, wenn der Bundesaußenminister infrage stellt, dass die Bundesregierung
Frau Steinbach - wenn der Bund der Vertriebenen sie
denn einmal benennen wird; man hat sie ja noch nicht
benannt - in den Stiftungsrat bestellt. Das ist aber keine
Anmaßung, das ist schlicht Rechtslage, und diese hat einen guten Grund.
({7})
In § 19 des Gesetzes zur Errichtung der Stiftung steht,
dass die entsendenden Stellen die Mitglieder benennen
und die Bundesregierung dann bestellt - oder auch nicht.
Das machen wir bei Stiftungsgesetzen sonst nie so. Das
haben wir bei diesem Stiftungsgesetz so gemacht, weil
die Bestellung eine außenpolitische Bedeutung haben
kann und die Regierung verantwortlich handeln muss,
wenn eine benennende Stelle ihre Verantwortung letztendlich nicht wahrnimmt.
({8})
Meine Damen und Herren, diese Verantwortung muss
die Regierung wahrnehmen.
Ich habe es bemerkt: Sie wollen eigentlich einen anderen Außenminister, Herr Brähmig! Es wäre in der Tat
so: Wenn der Außenminister der Bundesrepublik
Deutschland sein Wort, das er in Warschau gegeben hat,
nicht halten kann, dann steht er nackt im Hemd da, dann
ist er außenpolitisch ein Fliegengewicht,
Volker Beck ({9})
({10})
weil sein Wort selbst bei einer solch kleinen Personalie
nichts gilt.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Diese ganze Debatte ist eine unehrliche Debatte.
({11})
In Wirklichkeit wissen CSU und FDP, dass sie wunderbar ihr Klientel bedienen können: Die CDU/CSU kann
die Vertriebenen hätscheln, wohlwissend, dass die FDP
bzw. der Außenminister am Ende dafür sorgt, dass es außenpolitisch nicht zu einer Katastrophe kommt,
({12})
und Sie können sich in dieser Debatte dann als die institutionalisierte außenpolitische Vernunft gerieren.
({13})
Am Ende ist es aber eine Belastung, dass wir innenpolitisch eine Diskussion über eine Lappalie haben, die
uns außenpolitisch unklar dastehen lässt. Dies addiert
sich zu den Streitereien, die diese Koalition über die Finanzpolitik, über das Betreuungsgeld usw. austrägt.
Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deshalb fordere ich die Regierung auf: Ziehen Sie
diese Debatte nicht länger hin, sondern sagen Sie deutlich: Eine Bestellung Frau Steinbachs in den Stiftungsrat
wird nicht stattfinden; die Debatte ist beendet; der Bund
der Vertriebenen darf jemand anderen benennen.
Herr Beck, bitte.
Oder - das wäre mein Vorschlag zur Güte - er gibt
den Sitz im Stiftungsrat an die Gesellschaft für bedrohte
Völker ab; dann könnte man über das Thema „Flucht
und Vertreibung“ zukunftsgerichtet in einem umfassenden Sinne reden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Dem Titel der heutigen Aktuellen Stunde: „Versöhnen statt provozieren Das deutsch-polnische Verhältnis nicht beschädigen“
kann man nur zustimmen.
Aber ich befürchte, meine lieben Kollegen von der
SPD, damit hat es sich auch schon mit der Übereinstimmung; denn eines ist klar: Versöhnung setzt Verständigung voraus. Wahrhafte Verständigung zwischen Völkern kann nur auf gleicher Augenhöhe erfolgen. Um zu
erreichen, dass man auf gleicher Augenhöhe miteinander
spricht, bedarf es einer einheitlichen Auslegung der historischen Fakten, der geschichtlichen Grundlage.
Hier muss man einfach einmal feststellen: Es gab
furchtbar dunkle, schreckliche Jahre im deutsch-polnischen Verhältnis. Durch Nazideutschland ist schreckliches Unheil über Millionen von Polen hereingebrochen
und sind barbarische Schreckenstaten an Millionen von
Polen verübt worden. Genauso gilt es aber auch, der historischen Wahrheit wegen festzustellen, dass am Ende
des Zweiten Weltkrieges und nach dem Zweiten Weltkrieg knapp 15 Millionen Deutsche zwangsvertrieben
wurden und flüchten mussten, wobei knapp 3 Millionen
Deutsche auf der Flucht auf schreckliche Art und Weise
ums Leben kamen. - Dies sind die Fakten.
Eines muss ebenfalls klar sein: Das eine Unrecht
rechtfertigt das andere nicht.
({0})
Ebenso wenig wird ein Unrecht getilgt, indem man
neues Unrecht schafft. Ich halte es hier mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Rosegger, der gesagt hat:
„Unrecht, durch Unrecht bekämpft, wird noch mächtiger“.
Wir sind jetzt dabei, neues Unrecht zu schaffen, indem wir es der Organisation, die für die Betroffenen
spricht, also dem Bund der Vertriebenen, verweigern,
selbst darüber zu bestimmen, welche drei Vertreter sie in
den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ entsendet.
({1})
Im Detail geht es dabei natürlich um die Präsidentin des
BdV, um Erika Steinbach, die im Jahre 2000 gemeinsam
mit dem leider viel zu früh verstorbenen SPD-Politiker
Peter Glotz Mitinitiatorin der Stiftung „Zentrum gegen
Vertreibungen“ war.
Eines muss ebenfalls deutlich herausgestellt werden:
Dieses Dokumentations- und Begegnungszentrum, das
jetzt im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof in Berlin
entsteht, geht nur auf die Initiative von Erika Steinbach
und Peter Glotz zurück. Dieses Zentrum ist letztendlich
das geistige Kind von Erika Steinbach. Ich halte es deshalb auch für das Selbstverständlichste von der Welt,
dass die Person, deren geistiges Kind hier in Berlin letzten Endes Wirklichkeit wird, in dem 13-köpfigen Stiftungsrat mitarbeiten darf.
({2})
Der Wahrheit halber möchte ich ferner darauf hinweisen, dass es insbesondere Erika Steinbach in den mittler358
Stephan Mayer ({3})
weile elf Jahren ihrer Präsidentschaft im BdV war und
ist, die für Versöhnung und Verständigung steht. Ich
möchte daran erinnern, dass es der BdV war, der als einzige Betroffenenorganisation eine Veranstaltung zum
60. Gedenktag des Warschauer Aufstandes am 19. Juli
2004 durchgeführt hat.
Die Vertriebenen und - das sage ich auch ganz offen ihre Nachkommen, vor allem auch die Bekenntnisgeneration, dienen als Brückenbauer in einem immer mehr
zusammenwachsenden Europa. Es gibt zwischen
Deutschland und Polen viele menschliche Begegnungen,
grenzüberschreitende Kulturarbeit, Wiederaufbau- und
Renovierungshilfen und mittlerweile auch sehr viele
prosperierende Städtepartnerschaften.
Seit 1993 - in der Regierungszeit von Bundeskanzler
Helmut Kohl ins Leben gerufen - gibt es das hervorragende Deutsch-Polnische Jugendwerk, das jedes Jahr
über 4 000 Maßnahmen durchführt, an denen zwischen
130 000 und 165 000 Jugendliche sowohl aus Polen als
auch aus Deutschland teilnehmen. Das bedeutet: Das
deutsch-polnische Verhältnis ist gut, es ist freundschaftlich, es kann aber natürlich auch noch weiter verbessert
werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
ich möchte Ihnen ganz deutlich sagen: Was Sie hier betreiben, ist Heuchelei.
({4})
Die geistigen Brandstifter, die dazu beigetragen haben,
dass sich das deutsch-polnische Verhältnis möglicherweise verschlechtert, sitzen nicht im BdV und auch nicht
auf polnischer Seite, sondern die sitzen woanders in
Deutschland.
({5})
- Die sitzen da - auch das sage ich ganz offen -, wo immer wieder versucht wird, zu provozieren.
({6})
Um auch dies noch einmal klarzumachen: Erika
Steinbach ist vom BdV für den Stiftungsrat benannt worden. Es gilt jetzt, sich in den nächsten Tagen und Wochen intensiv, gedeihlich und auch konstruktiv darum zu
bemühen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
der BdV das ihm zustehende autonome, selbstständige
Benennungsrecht auch umsetzen kann.
({7})
Um auch dies noch einmal klar zu sagen, weil Kritik
daran geübt wurde, dass der BdV drei Sitze im Stiftungsrat hat: Der BdV ist die Betroffenenorganisation, und es
ist deshalb nur recht und billig, dass er mit drei Vertretern im Stiftungsrat vertreten ist.
Ich darf aus einer Botschaft des polnischen Episkopats aus dem Jahre 1965 zitieren: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Das war meines Erachtens sowohl
in christlicher als auch in politischer Hinsicht eine wegweisende Markierung für die Zukunft. Ich persönlich
würde mich darüber freuen, wenn sich, auch wenn diese
Botschaft schon über 40 Jahre alt ist, alle daran halten,
daran orientieren und daran ausrichten. Dann, glaube
ich, sind die Weichen für eine gedeihliche und freundschaftliche Entwicklung des deutsch-polnischen Verhältnisses hervorragend gestellt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben
Sie auch mir eine persönlich-biografische Einleitung.
Das Leid der Vertriebenen kenne ich im Gegensatz zu
manchen anderen aus eigener Anschauung und eigener
Erfahrung: Ich bin in Breslau geboren. Meine gesamte
Familie - mütterlicherseits wie väterlicherseits - hat in
Schlesien gelebt und ist vertrieben worden. Der größere
Teil meiner Familie fand sich im Westen Deutschlands
wieder; der kleinere blieb im Osten Deutschlands hängen.
Ich bin mit der trauernden Erinnerung an die verlorene Heimat aufgewachsen. Diese trauernde Erinnerung
fand aber nur einen Platz im engsten Kreis der Familie
oder in der Kirchengemeinde. Offiziell gab es uns Vertriebene in der DDR gar nicht. Stattdessen war euphemistisch von „Umsiedlern“ und schon ab 1950 von „ehemaligen Umsiedlern“ oder „Neubürgern“ die Rede.
Dabei machten die Vertriebenen bei Gründung der DDR
mit 4 Millionen Menschen noch mehr als ein Fünftel der
Bevölkerung aus. Aber die hatten zu schweigen, Frau
Kollegin Jochimsen.
Ich weiß also, was es heißt, wenn vom Leid der Vertriebenen die Rede ist - dem doppelten Leid der bitteren
Vertreibungserfahrung und des schmerzvollen Verlusts
der Heimat einerseits und dem Leid des Schweigenmüssens, der Unterdrückung und Verdrängung, das krank
machen kann, andererseits.
Deshalb habe ich aus voller Überzeugung bei den
schwarz-roten Koalitionsverhandlungen 2005 gemeinsam mit Norbert Lammert das Projekt des Sichtbaren
Zeichens vereinbart, das an das Unrecht der Vertreibungen erinnern soll. Deshalb habe ich das von Kulturstaatsminister Bernd Neumann vorgelegte Konzept und das
Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ ausdrücklich unterstützt.
Kern dieses Projekts war aber immer der Gedanke der
Versöhnung. Das Netzwerk „Erinnerung und Solidarität“
soll in die Ausstellungskonzeption einbezogen werden,
weil dieses Vorhaben, dieses Versöhnungsprojekt, nicht
gegen unsere Nachbarn, vor allem nicht gegen Polen,
verwirklicht werden kann und darf.
({0})
Unser Erinnerungsprojekt soll gerade nicht zu neuem
Zwist, neuer Spaltung führen. Versöhnung ist nicht möglich, jedenfalls nicht glaubwürdig, ohne Rücksichtnahme
auf die Partner. Das zu begreifen, heißt eben nicht, sich
einem anderen zu unterwerfen. Deswegen verbietet sich
der Vorwurf der Einmischung. Wenn man etwas mit einem anderen zusammen tun will, dann lädt man ihn ein,
sich einzumischen. Was denn sonst?
({1})
Ich sage es noch einmal: Unser Projekt - ich hoffe,
dabei bleiben wir - kann nur gelingen, wenn es nicht nur
ein nationales, sondern ein nachbarschaftlich-europäisches Projekt wird. Es darf - gerade auch in Polen - kein
neues Misstrauen wecken.
({2})
Deshalb ist der zähe, klebrige Streit um die Besetzung
des Stiftungsratspostens durch Frau Steinbach so entsetzlich schädlich. „Nur mit dem Gütesiegel Steinbach
hat die Stiftung einen Zweck“, behauptet der CSU-Europaabgeordnete Bernd Posselt. Das wirft die Frage auf,
die nun schleunigst beantwortet werden muss: Was ist
Ihnen wichtiger, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU: das Versöhnungsprojekt der Stiftung oder
die Person der BdV-Präsidentin?
({3})
Frau Steinbach und der BdV schaden dem sehr unterstützungswürdigen Anliegen, einen Ort zu schaffen, wo
an Opfer und Leiden und Ursachen und Folgen von
Flucht und Vertreibung angemessen und würdig erinnert
werden kann. Deshalb ist nun die Bundeskanzlerin aufgefordert, dieser Hängepartie endlich und endgültig ein
Ende zu setzen.
({4})
Diese Hängepartie schadet dem Anliegen der versöhnenden Erinnerung. Mit dieser peinigenden Vorstellung, die
ohne Not seit einem Jahr gespielt wird, muss Schluss
sein.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
nutzen die Gelegenheit dieser Aktuellen Stunde sehr
gerne, zu Beginn dieser Legislaturperiode über die überragende Bedeutung des deutsch-polnischen Verhältnisses gemeinsam nachzudenken und zu diskutieren. Ich
gehe davon aus, dass alle hier im Hause dasselbe wollen:
Wir wollen eine dauerhafte Aussöhnung und eine konstruktive Zusammenarbeit in der Zukunft. Wir wissen
aber auch, dass dabei immer die Erinnerung an die Vergangenheit eine Rolle spielen wird, die Erinnerung an
den von Deutschland ausgegangenen furchtbaren Zweiten Weltkrieg, aber auch die Erinnerung an die darauf
folgende unmenschliche Vertreibung von Millionen
Deutschen. Das alles müssen und wollen wir beachten.
({0})
Gerade weil wir diese Erinnerung wachhalten wollen,
sind wir so stolz auf das, was wir erreicht haben. Wer
hätte sich vor 40 Jahren, als die Regierung Brandt/
Scheel mit der neuen Ostpolitik begonnen hat, vorstellen
können, dass heute, im Jahr 2009, das wichtigste Problemfeld zwischen Polen und Deutschen die Besetzung
eines Sitzes in einem 13-köpfigen Gremium ist? Ich
glaube, wenn wir so weit gekommen sind, sind wir einen
sehr weiten Weg gegangen, und das ist gut so.
({1})
Wir alle wissen um die Bedeutung der polnischen Solidarnosc für den Prozess, der zur deutschen Einheit geführt hat. Zu Recht hat Lech Walesa am 9. November
dieses Jahres den symbolischen Anstoß zum Fall der
Mauer gegeben. Das war eine bedeutende Symbolik.
Wir sind dem polnischen Volk sehr dankbar.
Deutschland hingegen war - das wissen die Polen die treibende Kraft bei der Integration Polens in die Europäische Union. Wir Deutsche haben Polen in die EU
gebracht. Ich glaube, das wird in Polen entsprechend gewürdigt und anerkannt. Wir sind sehr daran interessiert,
dass die konstruktive Zusammenarbeit weiter ausgebaut
wird. Deshalb bitte ich Sie alle, über das Thema vom
Ende her zu diskutieren, nicht von den Dingen her, die
zwischendurch gelaufen sind, und nicht, ob gut oder
schlecht. Was kommt dabei heraus? Welche Entscheidung wird gefällt? Welche Konsequenzen hat dann diese
Entscheidung für das von uns gemeinsam getragene
Ziel? Darum geht es.
Ich bitte Sie alle, über Folgendes nachzudenken: Wie
sollen die Beziehungen zu Polen in Zukunft aussehen?
Was befördert eine positive Entwicklung der Beziehungen zu Polen? Was behindert eine solche Entwicklung?
Was beschädigt diese Beziehungen? Was dient dem
Geist der Versöhnung? Was schadet ihm? Also vom
Ende her denken! Was bedeutet die Benennung in den
Beirat für die deutsch-polnischen Beziehungen? Wenn
ich vom Ende her denke, weiß ich, dass manche in unserem Land das als ungerecht empfinden. Das mag so sein.
Aber wir haben meines Erachtens einen höheren Wert,
nämlich den Wert der überragenden deutsch-polnischen
Beziehungen, zu bewahren. Deshalb müssen wir ge360
meinsam überlegen, welche Konsequenzen eine umstrittene Benennung hätte.
Die Regeln des Stiftungsbeirates sind eindeutig.
Wenn ich mich richtig erinnere, sind sie durch die Große
Koalition aus CDU/CSU und SPD geschaffen worden.
In den Regeln steht ausdrücklich, dass die beteiligten
Organisationen - zu ihnen gehört völlig zu Recht der
Bund der Vertriebenen - nominieren können. Das Regelwerk besagt aber auch eindeutig - Sie haben das sicherlich nicht aus Jux und Tollerei gemacht, sondern sich etwas dabei gedacht; davon gehe ich jedenfalls aus -, dass
die Bundesregierung letztendlich die Entscheidung fällt.
Deshalb nehme ich an, dass die Bundesregierung genau das tun wird. Sie wird das, wie die vorherigen Bundesregierungen auch, im Einvernehmen festlegen. Dabei
- das sage ich sehr deutlich - ist jede Form von persönlichen Angriffen von uns strikt abzulehnen. Ich möchte
das ausdrücklich auch in Bezug auf Frau Steinbach betonen. Ich halte die Verunglimpfungen, die Frau Steinbach
erleiden musste und muss, für völlig unsäglich. Das hat
sie nicht verdient;
({2})
denn sie hat sich als Vorsitzende dieses wichtigen Verbandes von Millionen von Vertriebenen, die ein berechtigtes Anliegen haben, in der Vergangenheit den Respekt
von uns verdient. Wenn wir auch nicht mit allen Themen
einverstanden sind, so hat sie sich doch insgesamt den
Respekt für ihre jahrelange Tätigkeit verdient. Aber im
Zusammenhang mit der möglichen persönlichen Verunglimpfung bitte ich auch sehr herzlich darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass man Mitgliedern der
Bundesregierung nicht falsche Motive für ihre Positionierung in diesem Falle unterstellt. Auch das gehört
dazu. Wir sollten von einem fairen Verhältnis untereinander ausgehen. Wir alle wollen, dass die Stiftung erfolgreich arbeiten kann, wir alle wollen das Verhältnis zu
unserem Nachbarn Polen weiter festigen, vertiefen und
ausbauen. Das eint uns. Dazu dient auch die Arbeit der
Stiftung. Daher muss sie so besetzt werden, dass die von
uns allen angestrebten Ziele erreicht werden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietmar Nietan von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, möchte ich
dem Kollegen Link sagen: Legenden werden nicht dadurch wahrer, dass man sie wiederholt. Es waren
Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer,
die in Nizza für die Rechte von Polen, für Mehrheitsverhältnisse und für die finanzielle Ausstattung beim Beitritt Polens wie kaum ein anderes Regierungsduo in der
damaligen EU gekämpft haben.
({0})
Deshalb ist es einfach falsch, pauschal zu sagen, dass sie
diejenigen seien, die für die Trübung des deutsch-polnischen Verhältnisses verantwortlich waren. Das stimmt so
einfach nicht.
({1})
Es waren auch, im Gegensatz zu den Aussagen von Kolleginnen und Kollegen hier im Hause aus ganz unterschiedlichen Fraktionen, Fischer und Schröder, die damals klar gesagt haben: Für die Bundesrepublik
Deutschland gibt es keine Erweiterung mit Polen.
({2})
Da hätten sich einige in der Zeit deutlicher bekennen
können. Das haben wohl einige von Ihnen heute vergessen.
({3})
Ich will Folgendes noch einmal in Erinnerung rufen:
Am 28. April 1985 hat der damalige Außenminister und
heutige Staatssekretär der Republik Polen Wladyslaw
Bartoszewski in einer, wie ich finde, tief bewegenden,
großartigen Rede, die in seinem Heimatland sicherlich
unvergessen bleiben wird, in Bezug auf das Leid der
Deutschen bei der Vertreibung sehr klar Stellung bezogen. Ich würde mich freuen, wenn sich manch einer von
denjenigen, die heute die Causa Steinbach zu einer angeblichen Einmischung der polnischen Regierung in die
inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland hochstilisieren, noch an diese Rede erinnern würde.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Mich erinnert das Gerede
von einigen von Ihnen über innere Einmischung irgendwie an die empörten Reaktionen, die man von kommunistischen Machthabern kannte, wenn man sie früher
darauf hingewiesen hat, dass sie die Schlussakte von
Helsinki nicht eingehalten haben.
({4})
Es scheint so zu sein, dass die Redewendung von der
Nichteinmischung für einen bestimmten Typus von Politiker auch heute noch zählt und zeitlos ist. Ich kann Ihnen allerdings sagen, dass diese Redewendung eine von
gestern ist. Sie passt nämlich nicht mehr in eine Zeit, in
der Deutsche und Polen - Gott sei Dank, sage ich - gemeinsame Bürger in einem vereinigten Europa sind. Da
ist - das hat Wolfgang Thierse gesagt - Einmischung erwünscht, weil wir gemeinsame Bürger in diesem Europa
sind.
({5})
Die Rede, von der ich zu Beginn sprach, hat
Wladyslaw Bartoszewski vor nunmehr 14 Jahren anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus
vor dem Deutschen Bundestag gehalten. Damals führte
er den großen Polen und Sozialdemokraten Jan Jozef
Lipski an, der 1981, also vor der Wende, mit großem
Mut zur Vertreibung der Deutschen in Polen sagte - ich
zitiere -:
Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen
ihrer Heimat zu berauben … Das uns angetane
Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung
und darf auch keine sein für das Böse, das wir
selbst anderen zugefügt haben …
Außenminister Bartoszewski betonte damals in seiner
Rede ausdrücklich - ich zitiere wieder -:
Ich identifiziere mich vollkommen mit den Thesen
meines verstorbenen Freundes Jan Jozef Lipski …
Welch eine große Geste von Wladyslaw Bartoszewski,
einem Mann, der Auschwitz überlebt hat und anschließend auch noch Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft
wurde! Viele von denen, die hier sitzen und Zwischenrufe gemacht haben, sollten sich an dieser Art, mit Versöhnung und Vergangenheit umzugehen, wirklich ein
Beispiel nehmen.
({6})
Ich frage mich: Wie müssen sich große Europäer wie
Tadeusz Mazowiecki oder eben Wladyslaw Bartoszewski
fühlen, wenn sie nun auf das Gezerre blicken, das wir
jetzt um den Sitz im Stiftungsrat der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ erleben? Ich sage Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Ich schäme mich für dieses
Trauerspiel, in dem ich alles Mögliche erkenne, aber
nicht den Geist der Versöhnung.
({7})
Wolfgang Thierse hat gesagt, dass es für die Bundeskanzlerin nun an der Zeit ist, zu handeln. Ich sage Ihnen
sehr deutlich: Ich glaube, dass dieser Ruf, so richtig er
ist, ungehört bleibt. Frau Kollegin Steinbach muss das
Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. Es mag
Sie jetzt vielleicht verwundern, wenn ich an dieser Stelle
ausdrücklich sage, dass Frau Kollegin Steinbach als Präsidentin des BdV viel für die Vertriebenen erreicht hat
({8})
und dass wir diese Stiftung, über deren Stiftungsrat sich
jetzt so viele streiten, ohne ihre persönliche Beharrlichkeit möglicherweise nicht hätten.
({9})
Harry Nutt hat recht, wenn er in der Frankfurter
Rundschau schreibt:
Angesichts der kulturellen und gesellschaftlichen
Anerkennung, die die Vertriebenenfrage in den letzten Jahren erfahren hat, muss es verwundern, wie
wenig es Erika Steinbach und dem BdV gelingen
will, die Früchte ihres Erfolges auch zu ernten.
Deshalb sage ich an dieser Stelle, an Frau Steinbach gerichtet: Sie können die Früchte dieses Erfolges ernten,
wenn Sie jetzt ein Zeichen der Versöhnung setzen und
öffentlich erklären, dass Sie auf einen Sitz im Stiftungsrat dieser Stiftung verzichten.
({10})
Das wäre ein wirklicher Beitrag zur deutsch-polnischen
Versöhnung.
({11})
Ich sage ebenfalls sehr deutlich: Es wäre ein Beitrag,
der mithelfen würde, etwas zu beenden, was ich als zutiefst verantwortungslos empfinde, nämlich dass die
Bundeskanzlerin parteipolitische Kalküle vor die Staatsräson stellt. Sie hat in das Wahlprogramm der CDU bewusst den Satz einfügen lassen, dass die Verbände der
deutschen Heimatvertriebenen über ihre Vertretung im
Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
selbstverständlich selbst entscheiden können, obwohl sie
schon damals wusste, dass diesen Sitz niemals Frau
Steinbach erhalten wird.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Nietan.
({0})
Ich komme gerne zum Schluss. - Das sagt sie nur
nicht selber, und das ist der eigentliche Skandal. Sie versteckt sich, so wie sie es früher bei Frank-Walter
Steinmeier getan hat, hinter dessen Nachfolger. Das ist
verantwortungslos.
Frau Kollegin Steinbach, Sie können dieses würdelose Schauspiel beenden. Erklären Sie, dass Sie dem
Stiftungsrat nicht angehören wollen. Dann würden Sie
mehr Staatsräson zeigen als Ihre Bundeskanzlerin. Dann
würden Sie sich um das deutsch-polnische Verhältnis
verdient machen. Das wäre ein Erfolg, den Ihnen niemand, auch nicht die Frau Bundeskanzlerin, nehmen
kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines möchte ich
vorweg klarstellen, Herr Kollege Nietan: Uns in die
Nähe von Menschen mit diktatorischen Überzeugungen
zu rücken, indem Sie uns eine Sprache angedeihen lassen, die dieser Debatte nun wirklich nicht würdig ist, ist
völlig daneben. Ich weise das auch im Namen meiner
Fraktion deutlich zurück;
({0})
denn es wird der Sache nicht gerecht.
Ich bin froh, dass wir diese Debatte heute führen können; sie bietet Gelegenheit, das eine oder andere zurechtzurücken. Die Integration von so vielen Millionen Vertriebenen in Deutschland ist in den vielen Jahren nach
dem Krieg eine Erfolgsgeschichte ohne Parallele gewesen. Die Heimatvertriebenen haben an dem Wiederaufbau Deutschlands, an dem sogenannten Wirtschaftswunder, das keines war, weil es mit der Hände Arbeit
geschaffen worden ist, einen unheimlich hohen Anteil.
Die Frage ist: Ist die Zeit gekommen, auch ihre Geschichte zu erzählen? Da ist die Antwort unserer Fraktion ganz klar: Ja, es ist die Zeit gekommen, ihre Geschichte zu erzählen. Deswegen ist es richtig, dass wir
diese Debatte führen. Deswegen ist es auch richtig, dass
der BdV als die Organisation, die nun einmal die Vertriebenen vertritt, auch die Möglichkeit erhält, die Personen
zu benennen, die er für richtig hält.
({1})
Wenn man sich jetzt einmal mit den Argumenten, die
heute genannt worden sind, auseinandersetzt, dann stellt
man fest, dass diese zum Teil nicht einer gewissen Doppelbödigkeit entbehren.
Da gibt es einmal das Argument, dass es ein berechtigtes Anliegen der Vertriebenen gebe - das sagte eine
Vertreterin der SPD; von Herrn Thierse haben wir es
leicht anders gehört -, sich in diesen Stiftungsbeirat einzubringen, weil sie einen großen Anteil an der Versöhnung haben. Ich glaube, dass das vollkommen richtig ist.
Wenn dem aber so ist, kann man nicht zugleich sagen,
die Person, die benannt worden ist,
({2})
die Person, die für all das gesorgt hat, die Person, die sozusagen der Spiritus Rector der ganzen Geschichte gewesen ist, darf am Ende des Tages nicht mitbestimmen,
wie ihr Kind aussehen soll. Ich finde, dass das falsch ist.
Ich finde auch deshalb, dass das falsch ist, weil wir an
dieser Stelle wieder ein Stück der Geschichte nicht richtig erzählen.
({3})
Natürlich ist es auch deshalb richtig, dass wir diese
Debatte hier heute führen, weil auch sehr viel über die
außenpolitische Komponente gesprochen wird. Jawohl,
die gibt es. Das ist zweifelsohne richtig. Diese Debatte
hat eine starke außenpolitische Komponente. Ich frage
mich aber manchmal, warum zum Beispiel so wenig aus
der Tschechischen Republik zu hören ist, dagegen sehr
viel aus Polen. Offensichtlich gibt es ganz unterschiedliche Perzeptionen, ganz unterschiedliche Annahmen bei
dieser Sache.
Im Übrigen scheint es mir auch so zu sein, dass hier
von interessierten Kreisen an der einen oder anderen
Stelle versucht wird, die Frage des deutsch-polnischen
Verhältnisses auf einen Punkt zu reduzieren, nämlich auf
die Frage, wie der Stiftungsbeirat zusammengesetzt
wird. Das, meine Damen und Herren, ist historisch nun
wirklich absolut falsch. Versöhnung ist immer ein Prozess. Versöhnung ist eine Sache, die sich über Jahre und
Jahrzehnte hinwegzieht. Versöhnung ist nie ein punktuelles Ereignis. Deshalb werden sich an der Frage, wer
diesem Stiftungsbeirat am Ende des Tages beitritt, nicht
die deutsch-polnischen Beziehungen entscheiden. Diese
entscheiden sich daran, ob wir langfristig in guter Art
und Weise zusammenarbeiten. Es ist ja auch schon genügend hingewiesen worden: Deutschland hat an der Integration Polens in Europa einen ganz großen Anteil gehabt. Dieser wird auch nicht geschmälert, wenn Frau
Steinbach in den Stiftungsbeirat eintritt.
({4})
Weiter ist eingewandt worden, dass die Themen
Flucht und Vertreibung ganz spezielle Themen sind und
ein besonderes Fingerspitzengefühl erfordern. Auch das
ist richtig und zweifelsohne wahr. Aber es ist auch so,
dass dieses Thema auf der einen Seite von der Innenpolitik her und auf der anderen Seite von der Außenpolitik
her zu betrachten ist. Für uns ist klar, dass der BdV die
Person benennen kann, die er benennen will.
Aber - damit komme ich zum Ende meiner Rede
noch einmal ganz kurz auf die außenpolitische Komponente zu sprechen - Außenpolitik erfordert Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme.
({5})
Wenn man aber in der Außenpolitik seine eigenen Interessen - es geht nicht um Einmischung, sondern um
Interessen ({6})
bewusst hintanstellt, dann wird man ein unglaubwürdiger Vertragspartner und wird sicherlich auch in Zukunft
nicht außenpolitisch glaubwürdig handeln können.
Danke sehr.
({7})
Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Haibach, das Thema hat vor allem eine auSiegmund Ehrmann
ßenpolitische Dimension, die nicht nachrangig ist. Es hat
zwar auch starke innenpolitische Implikationen, aber die
Debatte ist insbesondere deshalb so schwierig, weil das
Verhältnis zu Polen berührt wird. Die Frage, wieso das in
Polen so starke Irritationen auslöst, dürfte sich nicht nur
mit dem beantworten lassen, was der Zweite Weltkrieg,
ausgehend von unserem Volk, über Polen gebracht hat.
Die Geschichte Polens zeigt, dass dieses Land schon oft
vollkommen von der Landkarte verschwunden ist.
Insofern war es gut, dass die Große Koalition verabredet hat, ein sichtbares Zeichen zu setzen, indem ein
neues Kapitel der Geschichtspolitik in den europäischen
Kontext eingebunden wird. Ich erinnere daran, dass wir
uns kurz vor der Bundestagswahl an dieser Stelle mit einem Antrag der Union befasst haben, der dazu dienen
sollte, die nationale Geschichtspolitik mit dem Zentrum
gegen Vertreibungen aufzuwerten. Wir haben uns damals dagegengestellt, weil wir der Meinung waren, dass
dieses Thema nur in einer sorgfältigen gemeinsamen Erörterung mit den europäischen Nachbarn sensibel und
umsichtig angegangen werden kann. Das war unser Ansatz. Ein weiterer Ansatz war, dass dies in die Topografie
unserer Museumslandschaft eingebettet werden soll und
muss.
Es sollte gewährleistet sein, dass nicht einmal im Ansatz der Verdacht aufkommt, dass Geschichte umgedeutet wird und Ursache und Wirkung vertauscht werden.
Vor diesem Hintergrund ist der Standort Berlin ein guter
Standort, Frau Dr. Jochimsen. Natürlich sind von hier
fürchterliche Dinge ausgegangen. Aber in dieser Stadt
sind auch große Wunder mit initiiert worden. Die Brüche
unserer Geschichte im europäischen Kontext hier angemessen zu präsentieren, halte ich für einen guten Ansatz,
der auch im Stiftungsgesetz so verankert ist.
({0})
Warum befinden wir uns heute in einer extrem
schwierigen Situation? Man kann natürlich das Ganze
bemänteln und sagen, die ganze Diskussion sei völlig
losgelöst von Frau Steinbach zu sehen. Das zielt daneben. Zur Vita Steinbach gehört - das ist vorhin bereits
angesprochen worden - die ausdrückliche Ablehnung
der Oder-Neiße-Grenze.
({1})
Ebenso gehört zur Vita Steinbach die Interpretation, dass
Hitler für die Polen ein günstiger Vorwand gewesen sei,
Deutsche zu vertreiben. Weiterhin gehört zur Vita
Steinbach ihr vehementer Widerstand gegen den Beitritt
Polens zur EU.
({2})
Diese Positionen dienen nicht dem Dialog oder der Versöhnung. Das sind Punkte, die in den 90er-Jahren in
Etappen, auch in der polnischen Öffentlichkeit, immer
wieder sehr stark als Provokation empfunden und diskutiert worden sind.
Letztendlich ist zu bedenken, dass der politische Resonanzboden in Polen sehr empfindsam ist; das hat auch
Herr Link vorhin angesprochen. Es ist sehr dünnes Eis,
auf dem wir uns in unserem Verhältnis zu Polen bewegen. Deshalb ist es wichtig, dass wir in einer guten Art
und Weise diejenigen stärken, die auch in Polen an einer
aufklärerischen Geschichtspolitik im europäischen Kontext interessiert sind.
({3})
Insofern geht es mir hier nicht um kleines Karo. Es
kommt im Wesentlichen darauf an, dass wir jetzt einen
vernünftigen Schritt nach vorne gehen und dass insbesondere die Union ihre Position deutlich formuliert. Das
geht nur, indem die Kanzlerin hier endlich Farbe bekennt.
Entscheidend ist auch, dass die FDP ihre Haltung beibehält, damit wir in dieser schwierigen Gemengelage
deutlich nach vorne kommen und diese schwierige Debatte endgültig beenden können, um den Nachbarn, insbesondere den polnischen Partnern, deutlich zu machen,
dass wir zuverlässige Partner sind, die in einer sehr verantwortungsvollen und umsichtigen Art und Weise Geschichtspolitik im europäischen Kontext erfahrbar machen.
Herzlichen Dank.
({4})
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile
ich dem Kollegen Dr. Günter Krings von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass die Fraktion der Linken mit der Stiftung
und dem Zentrum gegen Vertreibungen ihre Schwierigkeiten hat, ist heute wieder deutlich geworden. Dass sie
mit den Vertriebenen insgesamt Schwierigkeiten hat, erklärt sich aus der Geschichte der DDR und der damaligen Behandlung von Vertriebenen
({0})
und dadurch, dass dies eine Partei ist, die sich als Staatspartei an ihren Bürgern versündigt hat, indem sie Menschenrechte mit Füßen getreten hat.
({1})
Bei allem Verständnis für diese Aktuelle Stunde - es
ist natürlich das Recht jeder Oppositionsfraktion,
aktuelle Themen auf die Tagesordnung zu setzen - halte
ich es für problematischer, dass die SPD, auch wenn sie
es gar nicht will, mit dieser Diskussion heute die historische Leistung der Vertriebenen wieder in ein schlechtes
Licht rückt.
({2})
Das wird auch der Geschichte der SPD nicht gerecht.
Peter Glotz, ein großer Sozialdemokrat - er ist vorhin erwähnt worden -, hat sich sehr für diese Initiative eingesetzt. Die SPD war einmal eine Partei, die sich für die
Belange der Vertriebenen eingesetzt hat. Sie war einmal
eine solche Partei. Leider hat sie sich in dieser Hinsicht
deutlich verändert.
Wer Menschenrechtspolitik ernst nimmt, kann Vertreibung als eines der schlimmsten Phänomene im
Europa des 20. Jahrhunderts nicht totschweigen.
({3})
Die CDU/CSU hat sich daher von Anfang an vehement
für die Stiftung gegen Vertreibungen eingesetzt. Es war
uns ein Herzensanliegen. Im Koalitionsvertrag 2005
- auch das gehört zur Wahrheit - mussten wir der SPD
dieses „sichtbare Zeichen“ erst abringen.
Ohne den Bund der Vertriebenen hätte es die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gegeben. Der
Titel mit diesem Dreiklang, ausklingend auf Versöhnung, zeigt schon, was ein ganz wesentlicher Punkt dieser Stiftung von Anfang an war, nämlich Versöhnung als
Ziel. Versöhnung kann eben nicht unter Ausschluss der
Betroffenen funktionieren.
({4})
Ohne den BdV hätte es diese Stiftung nicht gegeben.
Der BdV hat schon seit vielen Jahren viel für die Versöhnung, gerade mit Polen, getan. Er hat, was die kulturelle
Arbeit betrifft, viel geleistet. Er hat Begegnungen zwischen den Menschen organisiert. Die Vertriebenen sind
in Sachen menschlicher Begegnung, Versöhnung und
Aussöhnung sehr viel weiter als manche Teile der Politik, jedenfalls weiter als die SPD.
({5})
Diese konsequente Ausrichtung des BdV auf Aussöhnung und Versöhnung ist untrennbar mit seiner Präsidentin Erika Steinbach verbunden. Ich freue mich sehr, sie
in meiner Fraktion als Fraktionskollegin zu haben. Frau
Steinbach hat unter anderem die Geschichte des BdV
kritisch aufarbeiten lassen. Sie hat sich von der Preußischen Treuhand distanziert und hat keinerlei revisionistische Äußerungen in ihrem Verband akzeptiert. Sie hat
sich in ihrem Verband auch für den EU-Beitritt Polens
eingesetzt.
Deswegen war es von Anfang an die logische Entscheidung des BdV - sie hat uns alle nicht ernsthaft
überrascht -, als eine von drei Vertretern des BdV im
Stiftungsrat Frau Steinbach vorzusehen. Jeder, der vor
einem Jahr diesem Stiftungsgesetz hier zugestimmt hat,
müsste heute als blauäugig gelten, wenn er sagt, dass ihn
das überrascht hätte. Noch einmal: Versöhnung kann
nicht unter Ausschluss der Betroffenen stattfinden. Versöhnung muss immer mit den Betroffenen stattfinden.
Deshalb akzeptieren wir die Position des BdV.
({6})
Genau aus diesem Grund bin ich persönlich entsetzt
über die diffamierenden Äußerungen, die in den letzten
Wochen und Monaten immer wieder gegen Frau
Steinbach ohne jede faktische Grundlage gefallen sind.
Es waren leider eben auch Mitglieder der SPD, die sich
- vielleicht unbewusst - hier als Stichwortgeber betätigt
haben,
({7})
deren Stellungnahmen dann in Polen und auch hier von
einigen aufgegriffen worden sind und zu polemischen
Äußerungen geführt haben. Das ist sehr bedauerlich und
wird der Verantwortung einer großen deutschen Partei
nicht gerecht.
({8})
Genau aus dem Grund halte ich die eben unter anderem vom Kollegen Nietan hier vergossenen Krokodilstränen für scheinheilig. Sie haben selbst mitgezündelt
und beschweren sich jetzt, dass es brennt. Seit - auch
diese Erkenntnis kann ich Ihnen nicht ersparen - dem
Auftritt des Altbundeskanzlers Schröder auf dem Marktplatz von Goslar versuchen Sie immer wieder, Themen
der Außenpolitik für Ihre innenpolitische Profilierung zu
instrumentalisieren. Das ist der SPD - das besagen auch
die Umfragewerte von dieser Woche - nachweislich
nicht gelungen. Aber es fügt dem Ansehen Deutschlands
Schaden zu.
({9})
Ich komme zum Abschluss gerne auf den Titel der
heutigen Aktuellen Stunde zurück. Darin heißt es „Versöhnen statt provozieren“. Ich glaube, in den heutigen
Debattenbeiträgen ist deutlich geworden: Dem BdV wie
der CDU/CSU ist Versöhnung ein Herzensanliegen.
({10})
Die Provokation findet auf der linken Seite dieses Hauses statt.
Danke schön.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 26. November
2009, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.