Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Gu-
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir setzen, wie vereinbart, die Haushaltsberatungen
- Tagesordnungspunkt 1 - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2011 ({0})
- Drucksache 17/2500 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2010 bis 2014
- Drucksache 17/2501 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Gestern haben wir für die heutige Aussprache eine
Redezeit von insgesamt achteinhalb Stunden beschlossen. Sind dazu in der Zwischenzeit neue Wünsche oder
Einsichten entstanden? - Das ist nicht der Fall. Dann
bleibt es bei dieser Vereinbarung.
Wir beginnen die heutigen Haushaltsberatungen mit
dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes,
Einzelplan 04; das ist auch nicht gänzlich überraschend.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Sigmar Gabriel
für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, irgendwie ist es keine so richtig große intellektuelle Herausforderung, heute etwas zu Ihrem
Haushalt und zu Ihrer Regierungspolitik zu sagen.
({0})
- Herr Kauder, Sie haben recht; Sie unterfordern uns.
({1})
Man braucht doch nur die Zeitungsüberschriften vorzulesen; man braucht gar nicht als Sozialdemokrat etwas
zu sagen. „Etikettenschwindel“ titelt die Bild-Zeitung
über Ihren Haushalt. „Von Konzept keine Spur“, heißt es
in der Financial Times Deutschland. Und weiter: „eine
Ansammlung von Luftbuchungen, falschen Signalen
und beliebigen Einzelpunkten“. Die Karikatur eines zukunftsorientierten „Windbeutels“, das sagen nicht Oppositionspolitiker; das sagt die Süddeutsche Zeitung über
Ihren Bundeshaushalt.
({2})
- Es wird noch besser. - Man braucht in Wahrheit noch
nicht einmal die Zeitungen zu zitieren; es reicht, wenn
man Sie selber zitiert und Sie über Ihre eigene Arbeit urteilen lässt.
({3})
Da sagt der FDP-Gesundheitsminister, eigentlich sei das
gar keine Koalition, Frau Bundeskanzlerin, sondern eine
schlagende Verbindung.
({4})
Es ist schwierig, Sie zu toppen, wenn Sie erklären, Sie
seien „Wildsäue“ und eine „Gurkentruppe“.
({5})
Was soll man als Oppositionspolitiker mit einer durchschnittlichen mitteleuropäischen Erziehung darüber hinaus eigentlich noch sagen? Das ist schon bemerkenswert, wie Sie sich gegenseitig beschreiben. Es fällt
Redetext
wirklich schwer, zu glauben, dass Sie noch gemeinsam
eine Regierung bilden wollen.
({6})
Wie konnte es passieren, dass eine Regierung derart
heruntergekommen ist wie die Ihre? Was ist da eigentlich passiert in den letzten Monaten?
({7})
Der Grund für Ihre katastrophale Jahresbilanz ist ja
nicht nur, dass Sie handwerklich schlecht arbeiten. Der
eigentliche Grund ist, dass Ihnen, Frau Bundeskanzlerin,
und Ihrem Wunschkoalitionspartner von Anfang an jede
Vorstellung davon fehlte, was eigentlich Gemeinwohl in
Deutschland ist.
({8})
Dieses Wort kommt deshalb in Ihrem Ehevertrag auch
gar nicht vor. Warum auch? Wenn Sie regieren, bedienen
Sie im Wesentlichen Klientelinteressen.
({9})
Am Anfang haben wir Sie ja dafür kritisiert, dass Sie
gar nicht regieren; denn alle schwierigen Entscheidungen haben Sie bis auf die Zeit nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen vertagt. Als die Wahl in NRW vorbei
war, wussten wir allerdings, es wird noch schlimmer,
wenn Sie denn regieren. Was hatten Sie vorher nicht alles versprochen! Mehr Netto vom Brutto und eine Steuersenkung mit einem Umfang von 24 Milliarden Euro.
Das Gegenteil kommt heute heraus: höhere Kassenbeiträge, Zusatzbeiträge und höhere Gebühren, weil Sie die
Kommunen ausbluten, und neue Steuern wie die Luftverkehrsabgabe. Diese kritisieren wir zwar nicht, aber
Sie haben das Gegenteil im Wahlkampf versprochen und
im Koalitionsvertrag beschlossen.
({10})
Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Es gibt mehr
Netto vom Brutto als Dankeschön an Hoteliers, reiche
Erben und große Konzerne.
({11})
- Warum rufen Sie eigentlich dazwischen? Dieses Hoteliergesetz ist doch Ihrem Koalitionspartner, wenn ich die
Aussagen von Herrn Lindner richtig verstanden habe, inzwischen sogar selber peinlich. Sie selbst wollen das
doch wieder abschaffen, nachdem Sie die jetzige Situation erst herbeigeführt haben.
({12})
Sie persönlich, Herr Kauder, und Ihre Partei ganz besonders haben versprochen, mehr für Familien und
Alleinerziehende zu tun. Heute streichen Sie das Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger und geben den Gutverdienern 1 800 Euro im Monat. Mehr als 100 000 Familien,
fast 50 000 Alleinerziehende, bekommen deshalb nächstes Jahr 3 600 Euro weniger. Das ist die Wahrheit über
Ihre Familienpolitik. Sie entspricht nicht dem schönen
Bild, das Sie gerne öffentlich abgeben.
({13})
Als es zur bislang größten Krise des Euro kam, haben
Sie, Frau Bundeskanzlerin, erst die eiserne Kanzlerin gespielt, um dann über Nacht die Steuerzahler für das
Zocken der Spekulanten in Haft zu nehmen. Bis heute
zahlen die Finanzmärkte keinen Cent zur Beseitigung
der Schulden aufgrund der Finanzkrise. Auch das ist Bestandteil der Politik, die wir von Ihnen hier in Deutschland erleben.
({14})
Die einen leben in Saus und Braus und zocken am
Ende die ganze Welt in die Krise. Die anderen, die hart
arbeiten, bekommen immer weniger und sollen jetzt die
Zeche zahlen. Wenn wir über Politikverdrossenheit in
Deutschland und Europa reden, müssen wir festhalten,
dass Sie dazu wirklich einen überragenden Beitrag leisten. Die von Ihnen gestern vorgelegten Haushaltszahlen
sind nämlich die falschen für die Krise. Ausgerechnet in
einer Zeit, wo wir das Wachstum im Inland erhöhen
müssen, weil auf das Exportwachstum nicht dauerhaft
Verlass ist, legt diese Bundesregierung die Axt an die erfolgreichsten Mittelstandsprogramme, die wir je hatten,
nämlich das Programm zur energetischen Gebäudesanierung und die Städtebauförderung, ausgerechnet
mitten in der Krise.
({15})
Wie wenig muss man eigentlich, Frau Bundeskanzlerin, von Wirtschaft verstehen, wenn man das kürzt und
zusammenstreicht, was Tausende Jobs im Handwerk geschaffen hat, was durch geringeren Energieverbrauch
Kosten senkt und wovon die Umwelt profitiert? Wie wenig muss man eigentlich eine Vorstellung davon haben,
wie Politikfelder verbunden sind? Es zahlen die Kindergärten, die Schulen, die Volkshochschulen, die Vereine
in den Städten und Gemeinden; denn Sie nehmen den
Kommunen 2,8 Milliarden Euro durch Ihr unsinniges
Hoteliergesetz weg. Diese zahlen die Zeche für die Steuerpolitik, die Sie in Deutschland betreiben.
({16})
Wissen Sie, wie viele Kindergartenplätze man für das
Geld schaffen könnte, das Sie da verschleudern? Man
könnte 280 000 Kindergartenplätze oder 70 000 neue
Stellen für Lehrerinnen und Lehrer schaffen, statt den
falschen Leuten Steuergeschenke zu machen. Das ist der
Kompass, den Sie eigentlich brauchten. Aber der fehlt
Ihnen offensichtlich in Ihrer Regierung.
({17})
Sie sind sich auch nicht zu schade, die Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitslose zusammenzustreichen. Ich nehme an, es dauert nicht lange, bis Sie, Frau
Merkel, wieder zu einem Gipfel einladen und den Fachkräftemangel beklagen. Wir müssen vermutlich nicht
lange darauf warten.
Als wäre das nicht alles schon genug, Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie gleichzeitig auch noch an den falschen Stellen mehr Geld ausgeben.
({18})
Wie man angesichts der offensichtlichen Sprachprobleme und der anderen Schwierigkeiten bei der Integration in Deutschland auf die Idee kommen kann, in Zukunft 150 Euro pro Monat dafür zu zahlen, dass ein Kind
nicht in den Kindergarten geht, bleibt wirklich Ihr Geheimnis.
({19})
Das ZEW berechnet, dass Sie zwischen 1,4 und 1,9 Milliarden Euro dafür ausgeben wollen, dass Kinder in
Deutschland nicht gefördert werden. Wenn es ein Beispiel für den Wahnsinn Ihrer Regierungspolitik gibt,
dann ist es diese Herdprämie, die wir in Deutschland
kennengelernt haben.
({20})
70 000 Schülerinnen und Schüler machen keinen vernünftigen Schulabschluss. 20 Prozent eines Jahrgangs
erreichen keine Berufsreife. Unter ausländischen Jugendlichen sind es sogar 40 Prozent. Ich finde, dass wir
als Exportnation im Wettbewerb um Spitzenkräfte dabei
sein müssen. Aber wie wäre es denn, wenn wir uns erst
einmal um diejenigen kümmern, die schon hier sind?
({21})
Wir geben wieder einmal viel Geld aus, um ganz oben in
den Universitäten und in der Forschung mehr zu tun.
Warum ist es in Deutschland eigentlich so schwer, sich
einmal auf Hilfe für die ganz unten zu einigen?
({22})
Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie nicht begreifen, dass
man in der Breite etwas machen muss, damit am Ende
bei der Spitze mehr ankommt, dann haben Sie weder
vom Sport noch von Bildung etwas verstanden.
({23})
Frau Bundeskanzlerin, stoppen Sie die Geldverschwendung für Herdprämien und andere unsinnige Vorhaben und führen Sie ausnahmsweise in die richtige
Richtung! Lassen Sie uns doch die unsinnige Verfassungsänderung rückgängig machen, die wir gemeinsam
beschlossen haben und die jetzt verhindert, dass Bund
und Länder in der Bildungspolitik vernünftig zusammenarbeiten können!
({24})
Frau Kollegin Schavan, jetzt habe ich doch etwas gesagt, was auch Ihre Meinung ist. Ich verstehe daher gar
nicht, warum Sie hier vorne so unruhig werden.
({25})
- Herr Westerwelle, Sie dürfen von mir aus sogar klatschen. Sie müssen es nur beim Präsidenten beantragen.
({26})
Was unsere Kinder, Jugendlichen und Eltern wirklich
brauchen, ist doch etwas ganz anderes: Wir brauchen in
den sozialen Brennpunkten Kindertagesstätten, die Familienbildungsstätten sind. Wir brauchen Ganztagsschulen mit Lehrern, Erziehern, Sozialpädagogen und
Psychologen. Das kostet natürlich Geld. Aber dieses
Geld haben die Länder nicht. Wenn wir es nicht an anderer Stelle falsch ausgeben würden, könnten wir ihnen
dieses Geld geben.
Stattdessen tun Sie das Gegenteil. Sie rechtfertigen
die Einsparungen, die Sie vornehmen, mit Sprüchen,
dass „wir alle über unsere Verhältnisse gelebt“ hätten.
Ich weiß nicht, Frau Dr. Merkel, in welchem Land Sie
unterwegs sind. Aber in Deutschland haben nur ganz
wenige über ihre Verhältnisse gelebt, nämlich diejenigen, die zu dem obersten 1 Prozent der Vermögenden gehören
({27})
und deren Vermögen in den letzten zehn Jahren trotz Finanzkrise um 10 Prozent gewachsen sind. Auf der anderen Seite arbeiten 1,3 Millionen Menschen jeden Tag
hart und müssen trotzdem hinterher zum Sozialamt, weil
sie ihre Miete nicht bezahlen können. Nur jeder zweite
Jugendliche bekommt nach der Ausbildung einen anständigen Job. 70 Prozent der Gering- und Durchschnittsverdiener in Deutschland haben in den letzten
zehn Jahren Reallohnverluste und Vermögensverluste
von 7 Prozent hinnehmen müssen.
({28})
Das ist die Bilanz eines Landes, von dem Sie glauben,
dass es über seine Verhältnisse lebt.
Ich sage Ihnen offen: Auch für mich und für meine
Partei ist es nicht besonders erfreulich, dass auch elf
Jahre mit uns nicht dazu beigetragen haben, die Schere
zwischen Arm und Reich zu schließen. Sie allerdings
öffnen sie weiter, und das Gegenteil wäre richtig in
Deutschland.
({29})
Sie müssten einmal wieder dafür sorgen, dass Recht
und Ordnung auch auf den Arbeits- und den Finanzmärkten einkehren. Natürlich muss der, der arbeiten
geht, mehr verdienen als jemand, der nicht arbeitet, aber
doch nicht dadurch, dass man die Regelsätze für
Hartz IV kürzt, sondern indem man in Deutschland einen Mindestlohn einführt. Das ist der richtige Weg, um
das zu erreichen.
({30})
Ihr Außenminister hat das Gegenteil davon gefordert.
Dass er dabei nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Verfassung verstößt, interessiert ihn
vermutlich nicht besonders. Herr Westerwelle, was sagen Sie eigentlich dazu, wenn Frau von der Leyen jetzt
die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze vorschlägt, und
zwar nicht nur für Kinder? Ich nehme an, Sie warten ein
paar Monate ab, um irgendwann nach dem Motto „Das
wird man doch noch sagen dürfen“ wieder zu fordern,
die Regelsätze zu kürzen.
Weil wir gerade in mancherlei Hinsicht erleben, dass
unter der Überschrift „Das wird man ja wohl noch sagen
dürfen“ - er war ja der Erste, der das gemacht hat - das
Nutzen von Ressentiments wieder in Mode kommt, nur
so viel zu einer Debatte, die mir jedenfalls in der politischen Kultur in Deutschland ziemlich Sorgen macht:
({31})
- Es ist interessant, dass Sie da nervös werden.
({32})
Ja, es gibt eine wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und Politik. Ja, das hat auch viel mit Fehlern und
Versagen der Politik und der Parteien selbst zu tun. Viele
Menschen haben den Eindruck, dass wir nichts mehr
über ihren Alltag wissen und uns auch nicht dafür interessieren. Es gibt ein wachsendes Ohnmachtsgefühl: die
da oben, wir hier unten. Wahlenttäuschung, aber auch
Radikalisierung sind Folgen davon.
In der Integrationsdebatte, meine Damen und Herren, hat ein Teil von uns zu lange die Augen davor verschlossen, dass wir längst ein Einwanderungsland sind.
Die Wahlparolen gegen das Zuwanderungsgesetz, gegen
die doppelte Staatsbürgerschaft und gegen das kommunale Ausländerwahlrecht sind uns noch gut in Erinnerung.
({33})
Ein anderer Teil hat mit zu viel Naivität von der Multikultigesellschaft geträumt. Diese Naivität hatten allerdings offenbar nicht nur Sozialdemokraten und Grüne.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass auf einmal die
deutsche Fußballnationalmannschaft als Beispiel für die
bunte Republik Deutschland gepriesen wurde, auch vom
neu gewählten Bundespräsidenten.
({34})
Die Integrationsprobleme sind dadurch jedoch nicht
kleiner geworden. Es stimmt schon, was Johannes Rau
in seiner Rede am 12. Mai 2000 dazu gesagt hat: Weder
Fremdenfeindlichkeit noch Träumereien helfen uns.
Aber ich sage Ihnen auch in großem Ernst: Das alles darf
nicht darin münden, dass wir beginnen, mit Ressentiments Politik zu machen.
({35})
Ja, es stimmt, jeder Bürger darf in Deutschland alles sagen und denken, selbst wenn es sich um Vorurteile und
Ressentiments handelt. Aber diejenigen, die sich zur
politischen, wirtschaftlichen und medialen Führung dieses Landes zählen, meine Damen und Herren, dürfen das
eben nicht.
({36})
Harter politischer Streit und Zuspitzung sind nötig. Sie
sind aber etwas anderes, als Vorurteile und Ressentiments zu schüren. Die Meinungsfreiheit in Deutschland
ist kein Deckmäntelchen für verantwortungsloses Gerede von Spitzenpolitikern, egal ob sie im Bundestag
oder in der Bundesbank sitzen, meine Damen und Herren.
({37})
Das gilt für soziale Ressentiments ebenso wie für ethnische und kulturelle. Es gilt übrigens auch für historische
Ressentiments gegen unsere Nachbarn, die - wie die
Polen - unsagbares Leid durch den Angriffskrieg HitlerDeutschlands erlitten haben.
({38})
Wer aus dem Führungspersonal der Republik Ressentiments und Vorurteile in der politischen Auseinandersetzung von Demokraten salonfähig macht, der muss
sich nicht wundern, wenn sich die Falschen ermuntert
fühlen. Wir wissen doch genau, meine Damen und Herren, dass es in jeder Gesellschaft solche Ressentiments
gibt, natürlich auch bei uns hier im Saal und bei den
meisten von uns persönlich.
Umso wichtiger ist es doch, dass wir nicht dann aus
diesem schier unerschöpflichen Reservoir schöpfen,
wenn wir uns einmal unter Druck fühlen oder es opportun gegenüber der scheinbar kochenden Volkseele erscheint. Der Boulevard hat kein Gedächtnis. Er muss im
Zweifel nach der Auflage schreiben; wir dürfen das im
Zweifel nicht.
({39})
Da hat jeder sein Päckchen zu tragen, Sie, wir und andere auch. Das ist so.
({40})
- Ich finde das, ehrlich gesagt, nicht lustig.
({41})
Sie müssen überlegen, ob Sie bereit und in der Lage
sind, über so etwas ernsthaft zu reden, oder ob es Sie nur
davon ablenkt, wie Sie mit Ihrer Politik dazu beitragen,
dass die Menschen den Eindruck haben, wir geben uns
nicht genug Mühe. Denn eines muss ich schon sagen:
Den Eindruck, dass Sie sich darum kümmern, dass das
Volk wieder zusammengehalten wird, kann man beim
Lesen Ihres Haushalt wirklich nicht gewinnen.
({42})
Eigentlich müsste es jetzt in Deutschland um einen
Aufschwung für alle gehen. Es gibt einen Aufschwung;
wir freuen uns darüber. Aber Sie werden sicher verstehen, Frau Bundeskanzlerin, wenn wir es als Satire empfinden, dass sich ausgerechnet Ihr Bundeswirtschaftsminister damit brüstet, dazu einen Beitrag geleistet zu
haben.
({43})
Nur um die Erinnerung ein bisschen aufzufrischen: Sie,
Herr Brüderle, haben doch am 4. Dezember 2008 gegen
das Konjunkturpaket und am 28. Mai 2009 gegen die
Verlängerung der Abwrackprämie gestimmt. Sie und
Ihre FDP haben alles getan, um das zu verhindern, was
uns am Ende durch die Krise gebracht hat. Das ist, was
Sie eigentlich gemacht haben.
({44})
Herr Westerwelle hat es „Schrott“ und „Flickschusterei“ genannt. Herr Brüderle hat das Konjunkturpaket als
„harte Droge“ abgelehnt.
({45})
Herr Brüderle, wissen Sie, wer Sie eigentlich sind? Sie
sind der größte Abstauber, den wir in der Politik seit langem erlebt haben. Mehr sind Sie wirklich nicht.
({46})
Wir wollen einen Aufschwung für alle mit sicheren
Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen; denn die Arbeitnehmer haben doch verzichtet, um die Unternehmen
durch die Krise zu bekommen. Es ist doch fair, ihnen
jetzt davon etwas zurückzugeben.
Natürlich gehört zum Aufschwung für alle, die
nächste Krise zu verhindern; denn noch einmal werden
wir nicht Hunderte von Milliarden Euro zusammenbekommen. Die jetzt verabschiedeten Eigenkapitalvorschläge im Basel-III-Abkommen sind doch kein Ersatz
dafür, dass der Verbraucher die Finanzkrise endlich nicht
nur selbst bezahlen soll, sondern diejenigen, die die Verursacher dieser Finanzkrise sind. Die müssen Sie endlich
mit zur Kasse bitten.
({47})
Zu Hause große Reden halten über die Regulierung
der Finanzmärkte, aber wenn es ans Eingemachte geht,
dann führen Ihnen die Großbanken die Feder. Diesen
Eindruck haben nicht nur wir, sondern auch die Sparkassen und Volksbanken. Anders kann man sich Ihre Bankenabgabe in Deutschland übrigens nicht erklären. Am
Ende sollen Sparkassen und Volksbanken für die Kosten
der Krise zahlen.
({48})
Sie müssen sich einmal entscheiden, was Sie eigentlich
wollen: wirtschaftspolitisch mehr Kredite für den Mittelstand und höhere Eigenkapitalquoten oder eine Abgabe,
die genau das schwieriger macht. Sie, Herr Kauder, wollen das besteuern, was wir uns alle wünschen.
({49})
- Die Bilanzsumme ist die Grundlage dessen, was Sie
vorschlagen. Das sind Mittelstandskredite, Wohnungsbaukredite, Investitionskredite. Darauf wollen Sie eine
Abgabe erheben. Das ist doch das Gegenteil von vernünftiger Wirtschaftspolitik. Ich weiß gar nicht, wie Sie
auf die Idee kommen, so etwas vorzuschlagen.
({50})
Was wir wirklich brauchen, ist eine Steuer für die Zocker an den europäischen Finanzmärkten und keine Abgabe für Volksbanken und Sparkassen auf Mittelstandskredite. Das sollten Sie sich als Auftrag in die Bücher
schreiben, nicht den Unsinn, den Sie hier in den Haushalt hineinschreiben.
({51})
- Wenn es das alles nicht gibt, dann würde ich vorschlagen: Erklären Sie das einmal dem Sparkassen- und Giroverband und den Volksbanken!
({52})
Die kritisieren das nämlich an Ihrem Gesetzentwurf. Es
ist nicht so, dass nur ich das sage.
Am 7. Mai 2010 hat hier übrigens Herr Westerwelle
in einer großen Rede gesagt:
Es weiß jeder, dass wir diesen Spekulationen Einhalt gebieten müssen. … Wir müssen erkennen,
dass wir - auch für unser Land - eine Aufgabe zu
erfüllen haben.
({53})
Wohl wahr, Herr Westerwelle. Aber warum hören wir eigentlich nichts von Initiativen von Ihnen, um das voranzubringen? Was haben Sie nun eigentlich nach fast
einem Jahr in Ihrem Amt als Außenminister vorzuweisen? Ihr Kabinettskollege Norbert Röttgen hat im Stern
über Sie gesagt, Sie seien „irreparabel beschädigt“. Das
war sicher nicht nett von Herrn Röttgen; aber es ist natürlich wahr.
({54})
Seit Sie Ihre Partei schneidig an die Wand gefahren haben, ist von Ihnen im Lande nichts mehr zu hören. Sie
haben als Außenminister, Herr Westerwelle, im ersten
Amtsjahr keinen einzigen wahrnehmbaren Impuls ge6036
setzt. Deutschland hat sich unter Ihrer Führung als Akteur von der internationalen Bühne abgemeldet, und sogar die Beamten im Auswärtigen Amt sind inzwischen
verzweifelt über das, was Sie angerichtet haben.
({55})
Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht, wir verlieren
Gewicht in der Welt, und wir verspielen unser Ansehen,
jeden Tag. Sie, Herr Westerwelle, haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland weiter unter Wert und weit unter seiner internationalen Bedeutung regiert wird.
Frau Bundeskanzlerin, ob es um die Finanzmarktregulierung geht, die Bildung oder den Bundeshaushalt:
Die Financial Times Deutschland hat schon recht, wenn
sie Ihnen am 2. September attestiert:
Schwarz-Gelb probiert mal dies, mal jenes - und je
nachdem, wie stark die Gegenströmung ist, wechselt die Koalition die Richtung.
({56})
Den Beweis dafür haben Sie nirgends so drastisch erbracht wie in der Energiepolitik. Nun könnte man sich
darüber lustig machen, meine Damen und Herren, wie
das von Ihnen selbst so hochgepriesene Energiekonzept
gerade von Ihren eigenen Ministern in der Regierung
auseinandergenommen wird. Der Umweltminister hält
es für verfassungswidrig. Herr Schäuble hat gestern gesagt: Wir schaffen Anreize für mehr Energieeffizienz
und Energieeinsparung. Ich frage Sie, Herr Schäuble:
Reden Sie eigentlich gelegentlich mit Ihrem Kabinettskollegen Ramsauer? Der hat sich gerade in Bausch und
Bogen gegen alle Effizienzmaßnahmen ausgesprochen,
die in Ihrem angeblichen Konzept enthalten sind.
({57})
Ich weiß aus meiner Zeit als Umweltminister, Herr
Ramsauer ist wahrlich ein Filigrantechniker der Effizienz bei der Energiepolitik.
({58})
Ehrlich gesagt: Angesichts meiner Erinnerung daran,
wie Sie ihn dabei unterstützt haben, finde ich es einen
gelungenen Täter-Opfer-Ausgleich, dass Sie sich jetzt
mit ihm herumschlagen müssen. Das finde ich angenehm.
({59})
Wissen Sie, was ich richtig gut an Herrn Ramsauer
finde? Er ist auch noch stolz darauf. Das finde ich wirklich bemerkenswert.
({60})
Kommen wir einmal zum Eingemachten. In der Energiepolitik schustern Sie vier Konzernen 100 Milliarden
Euro zu. Herr Brüderle, Sie gerieren sich doch so gerne
als Freund des Wettbewerbs und als Mittelständler. Sie
predigen Wettbewerb, und in Wahrheit bedienen Sie die
Oligopole. Größeren Schaden für den Wettbewerb auf
dem Energiemarkt in Deutschland konnten Sie gar nicht
anrichten als mit diesem 100-Milliarden-Euro-Konzept.
({61})
Ich will mit Ihnen nicht über Sinn oder Unsinn der
Atomenergie streiten und auch nicht über die wirklich
widersinnige Politik gegen einen der wichtigsten Leitmärkte, die Deutschland aufzuweisen hat, nämlich den
der erneuerbaren Energien. Wir könnten in den nächsten
Jahren die derzeit vorhandenen 300 000 Arbeitsplätze
verdoppeln. Das haben Sie eben richtig ausgebremst.
Wenn Sie wirklich glauben, den vier Konzernen die Förderung der erneuerbaren Energien anzuvertrauen, also
der mittelständischen Wirtschaft,
({62})
dann glauben Sie bestimmt auch, Sie könnten Gänse
vom Sinn von Weihnachten überzeugen.
({63})
Hier hat sich nur ein Interesse durchgesetzt: mit alten,
abgeschriebenen Atomkraftwerken pro Tag 1 Million
Euro zu verdienen. Sie haben wieder einmal einer Wirtschaftslobby nachgegeben, mehr haben Sie nicht hinbekommen.
({64})
Frau Bundeskanzlerin, als wäre das, was Sie tun,
nicht schon schlimm genug, toppen Sie alles andere
noch dadurch, wie Sie es machen. Jedem anderen hätte
das übrigens die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Da
wird monatelang über eine Steuer nicht in der Regierung
und nicht im Parlament verhandelt, sondern hinter verschlossenen Türen mit der Atomlobby. Und nächtens
wird bei den Energieversorgern noch einmal nachgefragt, ob es denn auch genehm ist, was die Regierung da
beschlossen hat. Als reichte das nicht schon aus, um
klarzumachen, was Sie unter „Durchregieren“ verstehen,
treffen Sie auch noch in Geheimverträgen Nebenabsprachen, die nur deshalb öffentlich werden, weil sich einer der Manager verplappert hat.
({65})
Frau Kanzlerin, ist es das, was Sie auf Ihrer Energiereise
im Sommer gelernt haben? Wenn ja, dann habe ich eine
Bitte: Bleiben Sie im nächsten Sommer zu Hause.
({66})
Frau Dr. Merkel, in allem Ernst: Tun Sie mir und uns allen und Deutschland einen Gefallen: Benehmen Sie sich
in der Politik wie eine Kanzlerin und nicht wie eine Geheimrätin!
({67})
Sie reden ja immer von der Sicherheit der Menschen
in Deutschland, wenn Sie Verträge mit Atombetreibern
aushandeln. Wissen Sie, alles, was Sie über Sicherheitsfragen wissen müssen, steht im Atomgesetz. Darin steht
auch, wer die Sicherheitsstandards zu setzen hat, wer
ihre Einhaltung kontrolliert und wer die Kosten zu tragen hat. Deshalb hat man es als Umweltminister übrigens leicht, sich gegen die Unziemlichkeiten von Bundeswirtschaftsministerium und Kanzleramt durchzusetzen,
wenn man das wirklich will. Glauben Sie mir, ich weiß,
wovon ich rede.
({68})
- Das ist ganz einfach: Wenn Sie nicht wollen, dass ein
altes Atomkraftwerk länger läuft, dann weisen Sie als
Umweltminister auf die Sicherheitstechnik hin. Wenn
Ihnen das Kanzleramt, die Frau Merkel, einen Brief
schreibt und Sie auffordert, das Atomkraftwerk trotzdem
länger laufen zu lassen, dann sagen Sie einfach Nein.
Schon haben Sie die Verfassung auf Ihrer Seite. So müssen Sie das machen, wenn Sie das nicht wollen.
({69})
Ich kann Ihnen ja einmal vorlesen, was Ihre Kanzlerin
und Ihre Wirtschaftsminister gefordert haben. Biblis A
steht seit Jahren still, nicht weil wir es stilllegen wollten,
sondern weil die Sicherheitstechnik nicht ausreicht. Sie
wollen die Laufzeit dieses Dings um acht Jahre verlängern. Das haben wir Ihnen verweigert, solange wir die
Möglichkeit dazu hatten. Das könnte Herr Röttgen heute
auch noch, aber er traut sich das nicht, weil ihm sein
Wahlkampf in NRW mehr wert ist als der Widerstand
gegen den Unsinn, den Sie da produzieren.
({70})
Dass Sie am Umweltminister vorbei über die Reaktorsicherheit verhandeln, ist schon schlimm genug. Dass
Sie gegen die Verfassung verstoßen wollen, weil Sie den
Bundesrat aushebeln, das mag bei Ihren Kollegen ja
noch Beifall finden; ich habe aber gehört: Der Bundestagspräsident hat eine ganz andere Einschätzung dazu.
Aber, meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, was finden Sie eigentlich gut daran, dass Frau
Merkel die Regeln, die Sie im Parlament gesetzlich
schaffen müssten, jetzt außerhalb des Bundestages in einem Vertrag macht? Sie schaffen sich gerade selber ab.
Sie klatschen auch noch Beifall für diese Politik.
({71})
Das ist doch der Unterschied zum rot-grünen Ausstiegsvertrag mit der Atomindustrie.
({72})
Alles, was bei Fragen der Sicherheit zu regeln war, steht
im Gesetz und nicht in Verträgen. Dieser unterschiedliche Umgang mit dem Parlament unterscheidet uns von
dem, was Sie hier gerade vorführen.
({73})
Sie merken überhaupt nicht, was Sie in Deutschland
anrichten. Noch nie hat sich eine Regierung so sehr zum
Handlanger von Großkonzernen degradiert. Dem
Finanzminister machten Hoteliers und Großbanken
Steuervorschläge. Ihrem Gesundheitsminister führt die
Pharmaindustrie die Hand, wenn er Gesetzentwürfe
schreibt, und Sie machen im Bereich der Energiewirtschaft mit vier großen Konzernen Verträge gegen den
Rest der Republik. Ich sage Ihnen: Sie machen sich selber zur Kanzlerin der Konzerne. Das muss man Ihnen
gar nicht vorwerfen. Darauf scheinen Sie auch noch
stolz zu sein.
({74})
Sie eröffnen erneut einen gesellschaftlichen Großkonflikt, den SPD und Grüne endlich befriedet hatten. Deswegen verspreche ich Ihnen: Das hat keine lange Laufzeit. Wir werden dagegen demonstrieren. Wir werden
damit vor das Verfassungsgericht ziehen. Ich sage Ihnen:
Bei der nächsten Bundestagswahl endet die Laufzeit dieses Gesetzes ganz sicher.
({75})
- Nein, das ist keine „Hetzrede“.
({76})
Wenn Sie meinen, dass das so eine ist, dann fragen Sie
sich, ob es Hetzerei ist, wenn man Sie darum bittet, Gesetze im Bundestag und nicht außerhalb zu verhandeln.
({77})
Ihre Regierung, Frau Bundeskanzlerin, ist verantwortlich für zwölf Monate politische Lähmung. Seit einem Jahr sind Sie gemeinsam mit Ihren Kabinettskollegen auf einem Selbstfindungstrip. Gegen Ihre Regierung
und das, was Sie so über sich sagen, ist der Kinderladen
der 68er so diszipliniert wie eine preußische Kadettenanstalt.
({78})
Wie viele Neuanfänge möchten Sie der Republik eigentlich noch zumuten? In Wirklichkeit fangen Sie
nichts neu an, sondern verletzen fortwährend das Gefühl
für Fairness und Balance in unserem Land. Ihr Haushalt
trägt die Handschrift der Lobbyisten. Er zeigt, dass Sie
nicht bereit sind, alle in die Pflicht zu nehmen. Sogar der
Chef des CDU-Wirtschaftsrates, Herr Lauk, kritisiert
Sie.
({79})
Er sagt: Das Sparpaket hat eine soziale Schieflage. Und
wo er recht hat, hat er recht. Sie, Frau Bundeskanzlerin,
und Herr Westerwelle sind mit markigen Worten angetreten. Den Zusammenhalt, Frau Dr. Merkel, wollten Sie
stärken. Ihre angeblich bürgerliche Koalition wollte bürgerliche Werte stärken. Seit fast zwölf Monaten machen
Sie das genaue Gegenteil. Sie verstoßen gegen elementare Wertvorstellungen in unserem Land, auch gegen die
von liberalen und konservativen Wählern. Fairness,
Glaubwürdigkeit und Verantwortungsbewusstsein findet
man in Ihren zwölf Monaten Regierungsarbeit nicht.
({80})
Deshalb sind die bürgerlichen und liberalen Wähler fassungslos und wenden sich enttäuscht ab.
Tun Sie bitte nicht so, als sei Ihr Kurs alternativlos. Es
gibt durchaus Wege, die Schulden abzubauen und trotzdem Impulse für Bildung und Investitionen zu geben.
({81})
Nehmen Sie die Besserverdienenden im Land in ihre
patriotische Pflicht, wie Herr Lauk das gefordert hat.
({82})
Erinnern Sie mutig daran, dass im Grundgesetz steht:
„Eigentum verpflichtet.“ Nehmen Sie die unsinnigen
Steuergeschenke an Hoteliers zurück, und führen Sie die
Brennelementesteuer nicht als Ablasshandel für lange
Laufzeiten alter Atommeiler ein, sondern dafür, dass
nicht die Steuerzahler 10 Milliarden Euro aufbringen
müssen, um marode Atommüllendlager zu sanieren, die
die Atomwirtschaft hinterlassen hat. Dafür ist die Brennelementesteuer gut.
({83})
Stoppen Sie die absurden Ausgabenwünsche für
Herdprämien und andere Spielarten einer verfehlten Bildungspolitik. Kürzen Sie stattdessen die wirklich unsinnigen Subventionen im Umweltbereich, statt mit dem
Rasenmäher die Energiesteuern zu erhöhen und damit
wichtigen Exportindustrien das Leben schwer zu machen. Auf diesem Weg können wir die Schulden abbauen
und Fairness ins Land zurückkehren lassen. In Wahrheit
hat nämlich eine freiheitliche Wirtschaftsordnung keinen
dauerhaften Erfolg, wenn sie nicht auch mit sozialem
Ausgleich und sozialer Sicherheit verbunden wird.
CDU/CSU und FDP scheinen das auch nach der
Finanzkrise nicht verstanden zu haben. Sie machen das
Gegenteil: Wer sie unter Druck setzt, bekommt, was er
will, und wer keine Lobby hat, bleibt auf der Strecke.
Das ist das Markenzeichen Ihrer Regierung. Dieses
Stigma, Frau Bundeskanzlerin, werden Sie auch mit diesem Haushalt nicht los.
({84})
Das Wort hat die Frau Bundeskanzlerin, Frau
Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, dass ich zuerst jenseits der politischen Auseinandersetzung meine ganz herzlichen Genesungswünsche für unseren Kollegen Frank-Walter Steinmeier und
seine Frau überbringe und ihm alles, alles Gute wünsche
bei seiner Erholung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag
genau vor zwei Jahren war der Zusammenbruch des
Bankhauses Lehman Brothers, uns allen in Erinnerung
als Kulminationspunkt einer weltweiten tiefgreifenden
Wirtschafts- und Finanzkrise. Ich habe hier im Zeichen
dieser Krise im November 2008 gesagt: Wir, die Deutschen, wollen stärker aus der Krise herauskommen, als
wir hineingegangen sind. - Ich glaube, ich darf für uns
alle sagen: Diese weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise
hat unsere politische Arbeit in den letzten zwei Jahren
tief geprägt. Heute, zwei Jahre später, können wir festhalten: Wir haben ein großes Stück des Weges geschafft.
Wir haben Grund für Zuversicht. Die Wahrheit ist: Viele
haben uns das nicht zugetraut, aber wir haben gezeigt,
was in uns steckt.
({1})
- Sie können partiell mitklatschen; Sie sind nicht daran
gehindert. Damals waren Sie ja noch vernünftig.
({2})
Meine Damen und Herren, die Prognosen waren düster. Umso mehr freuen wir uns heute, glaube ich, alle
über den breiten Aufschwung. Nach der mit Abstand
schwersten Rezession der Nachkriegszeit ist Deutschland wieder auf Wachstumskurs. Die europäische
Prognose sagt uns für dieses Jahr sogar ein Wachstum
von über 3 Prozent voraus.
Das Allerwichtigste für uns und für mich ist aber,
dass sich der Arbeitsmarkt in der schwersten Krise der
Nachkriegszeit robust gezeigt hat und dass die Arbeitslosigkeit wieder auf ein Niveau vor der Krise gesunken ist.
Das bedeutet etwas für Millionen von Menschen. Wir
haben in den neuen Bundesländern seit 1991 zum ersten
Mal eine Arbeitslosigkeit unter 1 Million.
Meine Damen und Herren, da lohnt schon einmal ein
Blick zurück. Als ich vor knapp fünf Jahren Bundeskanzlerin wurde - nach sieben Jahren Rot-Grün -, lag
die Arbeitslosigkeit bei fast 5 Millionen. Heute sind es
knapp über 3 Millionen. Vielleicht unterschreiten wir
diese 3 Millionen noch. Das ist der Erfolg der Arbeit und
auch der Erfolg der Arbeit der christlich-liberalen Koalition.
({3})
- Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was es da zu lachen
gibt. Ob 2 Millionen Menschen weniger arbeitslos sind
oder nicht, das ist eine zentrale Frage der Gerechtigkeit
in unserem Land. Wenn Sie über Gerechtigkeit und Solidarität sprechen, dann ist Arbeit einer der entscheidenden Punkte, um die es geht.
({4})
Wir haben natürlich in den letzten zehn Monaten
wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wir haben
eine Kreditklemme verhindert. Wir haben Familien mehr
Kindergeld gegeben.
({5})
Vielleicht erinnern Sie sich auch einmal daran. Wir haben eine Rekordsumme von 12 Milliarden Euro in die
Verkehrsinfrastruktur gesteckt. Wir haben die Konjunkturprogramme vorangebracht. Wir haben die Lohnzusatzkosten stabilisiert, um Arbeit zu erhalten. Das alles
hat dazu geführt, dass wir heute die Wachstumslokomotive in Europa sind, meine Damen und Herren. Damit
wird Deutschland seiner Verantwortung gerecht.
({6})
Richtig ist aber auch, dass noch ein großes Stück Weg
vor uns liegt, bis wir wieder einen nachhaltigen weltweiten Aufschwung gesichert haben. Wir als christlich-liberale Koalition wissen, vor welchen Aufgaben wir in den
nächsten Jahren stehen: der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaft, der globale Wettbewerb, der zunimmt
- ich nenne China und Indien als Stichworte -, sowie die
Aufgaben, die sich aus den begrenzten Ressourcen und
den Aufgaben des Klimaschutzes ergeben.
Auf keine dieser Herausforderungen Sie sind eingegangen, Herr Gabriel, geschweige denn, dass Sie irgendeinen Lösungsvorschlag gemacht haben.
({7})
Deshalb beobachten wir mit Interesse, wie Sie Schritt für
Schritt eine Rolle rückwärts machen, statt in die Zukunft
zu blicken. Wir sagen: Dies ist der Herbst der Entscheidungen für wichtige Weichenstellungen in Deutschland
für das neue Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020. Das ist
unser Anspruch, und dem werden wir gerecht.
({8})
Meine Damen und Herren, dabei sind solide Finanzen einer der Kernbausteine. Warum? Weil das für die
Menschen bedeutet, dass sie keine Inflationsängste haben müssen, dass die, die wenig haben, nicht auch noch
durch die Inflation enteignet werden, und dass wir Spielräume für die kommenden Generationen schaffen. Wir
wollen und werden eine Stabilitätskultur in Deutschland
verankern, die im Übrigen auch beispielhaft für Europa
sein wird. Das drückt unser Haushalt aus.
Meine Damen und Herren, wir haben einen Haushalt,
bei dem immer noch jeder fünfte Euro durch Schulden
finanziert wird. Wir haben aber einen Weg eingeschlagen auf der Grundlage der Schuldenbremse, die genau
damit Schluss macht. Das ist damit gemeint, wenn es
heißt: Deutschland lebt über seine Verhältnisse. Nicht
der Einzelne lebt über seine Verhältnisse, sondern die
Politik hat in der Vergangenheit nicht die Kraft aufgebracht, für die Zukunft Vorsorge zu treffen. Genau das
ändern wir.
({9})
- Hören Sie doch einmal zu. Wenn 2 Millionen Menschen weniger arbeitslos sind, dann haben davon zunächst einmal Millionen von Familien profitiert. Vielleicht könnten Sie das einmal zur Kenntnis nehmen.
({10})
Eines ist doch klar: Wir brauchen Spielräume für Zukunftsinvestitionen. In dem Haushalt des Jahres 2010
sind ungefähr 72 Prozent fixe Ausgaben: für Soziales,
für Personal und für Zinsen. Nur 28 Prozent bleiben für
Investitionen und politische Zukunftsgestaltung übrig.
1991 waren das noch über 43 Prozent. Meine Damen
und Herren, da müssen wir wieder hin. Es ist nicht in
Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen höher sind als
die Ausgaben für Investitionen.
({11})
Es ist nicht in Ordnung, wenn die Ausgaben für Zinsen
doppelt so hoch sind wie die Ausgaben für Bildung und
Forschung.
({12})
Das werden wir ändern, weil wir an die Zukunft denken
und uns nicht in der Gegenwart aufhalten, meine Damen
und Herren.
({13})
Darauf habe ich gestern und heute keine einzige Antwort
von Ihnen gehört.
({14})
Wenn man sich manche Landeshaushalte ansieht, zum
Beispiel den von Nordrhein-Westfalen,
({15})
dann hat man den Eindruck: Das findet alles im luftleeren Raum statt und hat mit der realen Welt überhaupt
nichts mehr zu tun. Genau das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen, Herr Gabriel.
({16})
Wir nehmen einige Bereiche ganz bewusst aus. Wir
sparen nicht bei Bildung und Forschung,
({17})
weil wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt.
({18})
Wir sparen nicht bei der Kinderbetreuung, sondern setzen den Ausbau weiter fort, so wie wir begonnen haben.
Wir sparen nicht bei den Investitionen.
({19})
Was noch ganz wichtig ist: Wir setzen durch das, was
wir tun, neue Anreize, Arbeit aufzunehmen, weil Arbeit
Wohlstand für die Menschen bedeutet. Das ist unser
Ziel, meine Damen und Herren.
({20})
Meine Damen und Herren, natürlich hat die Finanzkrise tiefe Spuren hinterlassen. Wir haben uns im Frühjahr ganz wesentlich auch mit der Frage einer stabilen
Währung zu befassen gehabt.
({21})
Ich will daran erinnern: Hätten wir den Euro in dieser
Krise nicht gehabt, wäre gerade eine Exportnation wie
Deutschland von den Währungsturbulenzen in unserem
Hauptexportmarkt, nämlich in Europa, sehr stark beeinflusst worden. Das heißt, der Euro hat uns geholfen,
durch die Krise zu kommen.
({22})
Aber die Krise hat auch zutage gefördert, dass die Solidität der Haushalte und die Wachstumskräfte in der Europäischen Union nicht gleich verteilt sind, dass wir
große Ungleichgewichte haben und dass man an verschiedenen Stellen nicht entsprechend dem Stabilitätsund Wachstumspakt gearbeitet hat.
Ich will nur daran erinnern: Die Sozialdemokraten haben bezüglich des Euro zweimal historisch versagt.
({23})
Das erste Mal war, als Bundeskanzler Schröder 2004 den
Stabilitätspakt, im Übrigen gegen das Votum seines eigenen Finanzministers, aufgeweicht hat
({24})
und damit viel kraftloser gemacht hat; das war das erste
historische Versagen.
({25})
Das zweite Mal: Als infolgedessen der Euro in
Schwierigkeiten kam, haben Sie sich der Stimme enthalten, weil Sie nicht zu Ihrer Verantwortung stehen wollten. Das ist das, was übrig bleibt.
({26})
Wenn wir uns schon richtigerweise innenpolitisch
streiten - das gehört zwischen Opposition und Regierung
dazu -, dann hätte man wenigstens erwarten können, dass
Sie bei den Verhandlungen mit Griechenland und über
den Euro-Schutzschirm deutsche Interessen vertreten,
({27})
dass Sie sich dafür einsetzen, dass der IWF einbezogen
wird,
({28})
dass in Griechenland eine Haushaltskonsolidierung stattfindet, dass die Länder sparen und dass wir im Interesse
eines stabilen Euro unsere Stabilitätskultur auch in Europa verankern, meine Damen und Herren.
({29})
Das wäre Ihre Pflicht gewesen.
({30})
- Herr Poß, hören Sie auf zu schreien. Ja, ich habe zwei
Monate gebraucht, um Europa davon zu überzeugen,
({31})
dass erst einmal die Länder selbst sparen müssen
({32})
und dass erst dann die Solidarität der Gemeinschaft
kommt. Wenn Sie hier geholfen hätten, dann wäre es
vielleicht schneller gegangen, aber das haben Sie nicht
getan, und deshalb hat es so lange gedauert.
({33})
Was die Regulierung der Finanzmärkte und die
Lehren aus der Krise anbelangt, sind wir noch nicht am
Ende, aber wir haben einiges erreicht:
Es gibt jetzt eine europäische Finanzaufsicht, der
auch die Ratingagenturen unterstellt sind. Auch wenn
wir internationale Kritik bekommen haben: Es war richtig, dass wir mit dem Verbot von Leerverkäufen vorangegangen sind, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass
man nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten kann.
Wir haben einen Restrukturierungsfonds eingerichtet,
um die Bankeninsolvenzen zu bearbeiten, und wir haben
eine Bankenabgabe eingeführt.
Sie erzählen darüber, wer dadurch belastet wird und
wer nicht. Schauen Sie sich doch die Details an. Es ist
vollkommen klar: Je risikobehafteter das Kapital ist und
die Geschäfte sind, umso mehr Abgabe muss gezahlt
werden, damit in Zukunft nicht mehr der Steuerzahler
für solche Krisen eintreten muss, sondern die Banken
das selber tun müssen.
({34})
Wir werden auch weiter für die Besteuerung der Finanzmärkte arbeiten. Der Bundesfinanzminister tut dies
in vielen, vielen Gesprächen, und wir werden versuchen,
möglichst viele Länder davon zu überzeugen. Leider ist
die Welt nicht immer so, wie wir sie uns wünschen.
({35})
Auch das gehört zum Betrachten der Realität. Aber wir
geben nicht auf und bohren das dicke Brett. Es war auch
richtig, dass jetzt die Eigenkapitalvorschriften verbessert
werden.
({36})
Wir erwarten von der EU, dass sie die Derivatemärkte
ordentlich regelt. Wir als Staat müssen aus den krisenbedingten Beteiligungen in Deutschland Schritt für Schritt
aussteigen.
All das ist auf dem Weg, aber es bleibt noch viel Arbeit vor uns.
({37})
Wir bleiben bei dem Credo: Jedes Produkt, jeder Akteur
und jeder Finanzmarktteilnehmer muss reguliert sein,
damit wir einen Überblick darüber haben, was auf den
Finanzmärkten geschieht.
({38})
Das ist die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie in der
Realwirtschaft seit Jahrzehnten kennen, und das muss
auch für die Finanzwirtschaft in gleicher Weise gelten.
({39})
Zu den Zukunftsaufgaben gehört zweitens die Sicherung der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Hier
muss man einfach feststellen, dass die Veränderungen im
Altersaufbau von einigen in diesem Hause überhaupt
nicht zur Kenntnis genommen werden. Schauen wir uns
das einmal an: Auf 100 Erwerbstätige kommen heute
34 über 65-Jährige, 2020 39, 2030 53 und 2040 64 über
65-Jährige. Wer glaubt, er muss darauf nicht reagieren,
wer glaubt, er kann das ignorieren, wer glaubt, er kann
den Menschen ein X für ein U vormachen, genau der
wird Politikverdrossenheit und Enttäuschung über Politik ernten.
({40})
Wir werden das Gesetz Ihres früheren Bundesarbeitsministers Franz Müntefering,
({41})
der bitter über Ihren Kurs enttäuscht ist - das wird man
hier ja einmal festhalten dürfen -, umsetzen. Wir werden
natürlich einen Bericht über die Erwerbstätigkeit der Älteren erstellen, und wir stellen fest, dass sich diese in den
letzten Jahren verdoppelt hat. Das ist der Erfolg, auf dem
wir aufbauen. Denn es gibt keine Alternative dazu, jedenfalls keine vernünftige,
({42})
dass man sagt: „Wenn die Lebenserwartung steigt“ - in
zehn Jahren steigt sie um durchschnittlich zwei Jahre -,
„dann muss sich das auch im Erwerbsleben und in der
Rente niederschlagen“, wenn man möchte, dass die
Rente der Lohn für die Lebensleistung bleibt, und das
möchten wir im Gegensatz zu anderen, die die Realität
einfach nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
({43})
Ein mindestens ebenso sensibler Bereich ist die Zukunft des Gesundheitssystems. Wir wissen: Wenn wir
in einer alternden Gesellschaft leben, wenn wir mehr
medizinische Möglichkeiten haben, dann ist es wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe - wir erleben diese
Diskussion ja in allen Industrieländern -,
({44})
ein gerechtes, faires, bezahlbares und gutes Gesundheitssystem auf Dauer zu erhalten.
Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir den
Menschen sagen: Wenn wir keine Zweiklassenmedizin
wollen - ({45})
- Ich weiß nicht, ob Sie sie wollen; ich will sie nicht.
({46})
- Wir wollen sie nicht.
({47})
Für uns ist es Ausdruck der sozialen Marktwirtschaft
und unseres Bildes von Menschen, dass die Menschen in
Deutschland wissen: Sie haben eine sichere Gesund6042
heitsversorgung, und zwar für jeden, egal, ob arm oder
reich.
({48})
- Mir fällt auf, dass die FDP jetzt gleich mitklatscht,
weil sie das genauso will wie wir.
({49})
Die FDP hat eine Eigenschaft: Sie wartet immer, bis ich
zum Ende des Satzes komme, und klatscht nicht einfach
zwischendrin.
({50})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema ist zu
ernst.
({51})
Hier gibt es eine gewisse Neigung, über zentrale Themen nicht mehr mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu
sprechen.
({52})
Das Thema der Gesundheitsversorgung ist zu ernst, als
dass es hier in irgendwelchem Gebrüll untergehen sollte.
Ich sage noch einmal: Die Gesundheitskosten werden
steigen, auch die medizinischen Möglichkeiten. Daraus
ergibt sich die Frage: Wie können wir das solidarisch bezahlbar machen?
({53})
Ich sage Ihnen, dass es nicht möglich sein wird, wie wir
es Jahrzehnte gemacht haben, wie es sich bewährt hat
und wie wir es auch erhalten wollen, wie es heute ist,
dass wir die paritätische Finanzierung, das heißt die
Kopplung an die Arbeitskosten, voll aufrechterhalten.
({54})
Denn entweder geraten sonst Arbeitsplätze im internationalen Wettbewerb in Gefahr, oder aber die Finanzierung der Gesundheitskosten steht nicht in dem notwendigen Umfang zur Verfügung. Deshalb sagen wir - das ist
Solidarität -:
({55})
Wir entkoppeln für die aufwachsenden Kosten die Arbeitskosten und die Gesundheitskosten stärker. Wir sorgen dafür, dass niemand mit dem, was er zahlen muss,
überfordert wird, indem wir eine Grenze einlegen. Dann
machen wir den Solidarausgleich nicht mehr nur von den
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zur Beitragsbemessungsgrenze, sondern von allen Steuerzahlern. Das ist gelebte Solidarität, meine Damen und Herren.
({56})
Wenn Sie glauben, Sie können sich da noch ein, zwei,
drei Jahre durchmogeln, dann sage ich Ihnen: Wir stellen
die Weichen für die Zukunft. Vertrauen in Politik resultiert auch daraus, dass Menschen berechenbare Verhältnisse haben und wissen, was auf sie zukommt. Auch die
Fragen, was mir eine Krankenkasse bietet, welche Entscheidungsmöglichkeiten ich habe und wie ich präventiv
etwas für meine Gesundheit tun kann, gehören dazu. Die
Wahlmöglichkeiten für die Patienten müssen gestärkt
werden. Anders geht es in einer modernen Gesellschaft
nicht, meine Damen und Herren.
({57})
Drittens. Wir müssen etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit
({58})
und etwas für diejenigen Familien tun, deren Kinder in
einer schwierigen Situation sind.
({59})
Auf der einen Seite gibt es einen Fachkräftemangel - das
wird überall beklagt -, und auf der anderen Seite gibt es
über 2 Millionen Menschen, die erwerbsfähig sind und
keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Das sind vor
allen Dingen alleinerziehende Mütter, und das sind Menschen über 50 Jahre.
({60})
Ich finde mich nicht damit ab, dass wir einerseits Pflegekräfte von überall her holen müssen, und andererseits erklären müssen, dass über 2 Millionen Menschen, die
heute keine Erwerbsmöglichkeit haben, per se nicht dafür geeignet sind. Deshalb geht es darum, die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen, und zwar ganz entschieden.
Ursula von der Leyen als Bundesarbeitsministerin tut genau dies.
Herr Trittin, vielleicht darf ich Sie daran erinnern: Im
Jahr 2006, als wir fast 5 Millionen Arbeitslose hatten,
gab es weniger Eingliederungshilfen, als wir heute mit
knapp über 3 Millionen Arbeitslosen und nächstes Jahr
mit um die 3 Millionen Arbeitslosen haben.
({61})
Wer da von sozialem Kahlschlag spricht, der lügt - so
muss man es sagen -, der sagt einfach die Unwahrheit.
({62})
In der Großen Koalition war es immer auskömmlich. Bei
mehr Arbeitslosigkeit mussten wir weniger Geld pro Arbeitslosem ausgeben als heute. Wir werden dieses Geld
sogar noch effizienter einsetzen.
Wenn wir uns den Bundeshaushalt anschauen, dann
stellen wir fest, dass die 40 Milliarden Euro, die wir für
Langzeitarbeitslose und ihre Familien ausgeben müssen,
genau der Teil des Haushalts sind, aus dem wir Zukunft
formen können, indem wir Menschen wieder eine Arbeitschance geben und damit die Ausgaben in diesem
Bereich senken. Kein anderer Bereich des Bundeshaushalts eignet sich dafür. Deshalb ist unsere Hauptaufgabe,
die Langzeitarbeitslosigkeit anzugehen und Hartz-IVEmpfängern wieder bessere Vermittlungsmöglichkeiten
zu geben. Glücklicherweise haben wir in der Frage gut
zusammengearbeitet, als es um die Neuregelung der Jobcenter ging. Deshalb wird bei der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils Ursula von der Leyen vor
allen Dingen auch etwas für die Kinder aus diesen Familien tun. Dabei bitte ich um Ihre tätige Mithilfe, wenn
wir das bis zum Beginn des Jahres auf die Reihe bringen.
({63})
Wir sagen: Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe an
der Gesellschaft. Wie wir gestern aus der Shell-Studie
erfahren haben, gibt es 10 bis 15 Prozent Kinder, für die
diese Teilhabe noch nicht gilt und die frustriert sind.
({64})
- Ja, trotz elf Jahren sozialdemokratischer Regierung, in
denen Sie immer den Arbeitsminister gestellt haben, hat
es nicht geklappt.
({65})
Es gibt halt Probleme, an denen wir noch weiter arbeiten
müssen, und wir werden entschieden daran arbeiten.
Wir sagen zum ersten Mal: Wir wollen Sachleistungen, damit Bildung auch bei den Kindern ankommt. Auf
dieser Basis wird Ursula von der Leyen Vorschläge machen. Das ist richtig und gut.
({66})
Der vierte Punkt hat etwas damit zu tun, ob wir Industriestandort bleiben werden, ob wir uns als Industrieland
modernisieren werden oder nicht. Das ist die Energiepolitik.
({67})
Die Energiepolitik ist klar ein wesentliches Element der
Zukunft unseres Landes. Dabei muss man die Frage beantworten, wie wir den Wandel in diese Zukunft gestalten. Wir haben Ihnen dafür ein Energiekonzept vorgelegt. Dieses Energiekonzept beruht seit langer Zeit zum
ersten Mal auf klaren Analysen, wie sich die Entwicklung gestalten wird, soweit man dies für 10, 20 oder
30 Jahre vorhersagen kann.
({68})
Mit diesem Konzept machen wir deutlich, dass wir drei
Dinge zusammenbringen, die für einen modernen Industriestandort ganz wesentlich sind: Versorgungssicherheit,
Bezahlbarkeit des Stroms und Umweltverträglichkeit.
Ich glaube, wir alle verfahren richtig, wenn wir sagen,
es macht keinen Sinn, wenn wir auch im internationalen
Wettbewerb stehen, ideologiegetriebene Energiepolitik
zu machen, sondern es macht Sinn, eine rationale, vernünftige Energiepolitik mit einem klaren Ziel zu machen.
({69})
Dieses Ziel heißt für uns: Wir wollen das Zeitalter der
erneuerbaren Energien erreichen, aber so, dass Wirtschaft und Umwelt zusammenkommen, statt gegeneinander ausgespielt zu werden. Das ist unser Konzept.
({70})
Dieses Konzept werden wir am 28. September in der
Regierung verabschieden und in der nächsten Sitzungswoche hier debattieren. In diesem Energiekonzept gibt
es Brückentechnologien, ja.
({71})
Das ist die Kernenergie; das sind die Kohlekraftwerke.
Die brauchen wir, und wir tun den Menschen keinen Gefallen, wenn wir so tun, als ob wir das alles nicht mehr
brauchen, den Bau jedes modernen Kohlekraftwerks
verhindern und aus ideologischen Gründen die Kernkraftwerke abschalten.
({72})
Das ist nicht unser Zugang. Wir machen es wirtschaftlich vernünftig, weil das Arbeitsplätze für Deutschland
sichert.
({73})
Wir wollen bis 2050 80 Prozent erneuerbare Energien. Wir wollen die Energieeffizienz so verbessern,
dass wir bis 2050 den Energieverbrauch halbieren können. Wir wissen um unsere Aufgaben bei den Klimaschutzzielen, und wir brauchen eine neue Netzinfrastruktur, Mobilität und Energieforschung. All das hat die
Bundesregierung erarbeitet, oder sie wird es erarbeiten.
Was in der Diskussion auftaucht, ist zum Teil sehr
abenteuerlich.
({74})
Sie haben damals im Zusammenhang mit dem Ausstieg
mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen einen Vertrag geschlossen, in dem Sie den Stand der Sicherheit
manifestiert haben, während wir im Atomgesetz mehr
Sicherheit für Kernkraftwerke verankern wollen. Das
ist die Wahrheit.
({75})
Sie haben sich überhaupt nicht mehr um die Entsorgung
gekümmert.
({76})
- Herr Trittin, Sie haben nachher das Wort. Wir wollen
der Wahrheit die Ehre geben.
({77})
Für die schwach radioaktiven Abfälle haben Sie am
Schacht Konrad weitergearbeitet.
({78})
- Im eigenen Wahlkreis, ganz toll. - Damit haben wir inzwischen wenigstens für Röntgenbilder und Ähnliches
ein Lager in Deutschland. Für schwach radioaktive Abfälle haben wir das.
({79})
Aus Ihrem Schreien spricht doch nur Ihr schlechtes
Gewissen.
({80})
Sie haben damals ein drei- bis zehnjähriges Moratorium für Gorleben verhängt. Sie haben sich um die Entsorgung der stark radioaktiven Abfälle überhaupt nicht
mehr gekümmert und tun heute so, als wäre es unsere
Schuld, dass es so etwas noch nicht gibt. Wir heben das
Moratorium auf. Wir erkunden ergebnisoffen weiter,
weil wir verantwortlich handeln und nicht den Kopf in
den Sand stecken, wenn es um radioaktive Abfälle geht.
({81})
Es ist richtig - Ihre Zahlen kann ich aber nicht nachvollziehen -: Durch die Verlängerung der Laufzeiten von
Kernkraftwerken entstehen zusätzliche Gewinne. Weil
die Unternehmen damals einen Deal mit Ihnen gemacht
haben und sich darauf eingelassen haben, auf Gewinne
zu verzichten, fühlen wir uns heute legitimiert, zu sagen:
Von den zusätzlich entstehenden Gewinnen wollen wir
einen großen Teil haben,
({82})
um erneuerbare Energien zu fördern, und zwar nicht unter der Ägide der EVU, sondern durch einen Fonds, dessen Verwendung wir bestimmen.
({83})
Damit verbessern wir die Einführung erneuerbarer Energien in Deutschland. Es kann schneller gehen, weil wir
die Brückentechnologie vernünftig nutzen.
({84})
So wird es uns dann auch gelingen, die Technologieführerschaft Deutschlands - diese besteht in vielen Bereichen; daran haben viele mitgearbeitet - bei den erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln und weiter führend
auf dem Weltmarkt zu bleiben. Wenn wir heute große
Anteile am weltweiten Export bei der Windenergie haben, dann ist das gut für Deutschland. Dann ist das Modernisierung.
({85})
Das hat etwas mit Technologieführerschaft zu tun.
Ich möchte noch einen Moment bei der Technologieführerschaft bleiben.
({86})
Wenn man in Deutschland herumfährt, dann stellt man
fest, dass jeder für erneuerbare Energien ist. Wenn ich
aber nach Baden-Württemberg komme
({87})
und ein Laufwasserkraftwerk besichtige, dann stelle ich
fest, dass die Grünen oder jedenfalls ihre Sympathisanten als Erste dagegen sind, weil man natürlich keinen
Eingriff in die Natur will. Wenn ich in den Norden fahre,
dann stelle ich fest, dass es laufend Demonstrationen gegen 380-Kilovolt-Leitungen gibt. Jeder möchte zwar erneuerbare Energien, aber keine neue Leitung.
Es kann nicht sein, dass die ganze linke Seite dieses
Hauses nichts dazu beiträgt, dass der Technologiestandort Deutschland wirklich zum Leben erweckt wird, und
gegen alles und jedes ist.
({88})
- Herr Kelber, die ganzen schönen Offshore-Standorte
werden uns nichts nutzen, wenn der Strom anschließend
nicht dorthin kommt, wo er gebraucht wird. Da haben
Sie genauso wie alle anderen die Pflicht, dafür Sorge zu
tragen und den Menschen zu erklären, dass neue Infrastruktur gebaut werden muss, um neue Technologien
einzuführen.
({89})
Damit komme ich zu einem anderen Projekt, das auch
die Gemüter bewegt. Die Grünen sind immer für die
Stärkung der Schiene. Wenn es aber einmal um einen
neuen Bahnhof geht, sind sie natürlich dagegen.
({90})
Die SPD war jahrelang für Stuttgart 21.
({91})
Jetzt, wo man ein bisschen dafür kämpfen muss, fangen
Sie an, dagegen zu sein. Diese Art von Standhaftigkeit
ist genau das, was Deutschland nicht nach vorne bringt.
Wir wollen etwas anderes.
({92})
Bei völlig rechtmäßig getroffenen Entscheidungen
braucht man keine Bürgerbefragung in Stuttgart. Vielmehr wird genau die Landtagswahl im nächsten Jahr die
Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein,
({93})
die für die Zukunft dieses Landes wichtig sind. Das ist
unsere Aussage.
({94})
Wir werden eine große Debatte über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands führen. Einen Tunnel von Basel
nach Karlsruhe oder was weiß ich von wo nach wo
bauen zu wollen, aber nicht einmal aus einem Sackbahnhof einen Untergrundbahnhof, einen Bahnhof unter der
Erde zu machen, ist verlogen, Herr Trittin.
({95})
Als in Berlin ein Nord-Süd-Tunnel gebaut wurde, waren
Sie dafür. Wenn es jetzt Proteste gibt, dann sind Sie dagegen. So kann man Deutschlands Zukunft nicht gestalten, meine Damen und Herren.
({96})
Wir werden uns in der Koalition natürlich auch den
außen-, sicherheits- und innenpolitischen Aufgaben stellen.
({97})
- Wir haben schon eine ganze Reihe an Dingen auf den
Weg gebracht, und wir werden noch andere Dinge auf
den Weg bringen.
({98})
Ich sage Ihnen: Wenn wir im November die zweite
und die dritte Lesung des Haushaltes haben, wenn wir
als christlich-liberale Koalition ein Jahr im Amt sein
werden,
({99})
dann werden wir Ihnen an den Entscheidungen, die ich
Ihnen heute hier genannt habe - auf die Zukunft der
Bundeswehr gehe ich gleich ein -, zeigen können, dass
ein Jahr christlich-liberale Koalition dieses Land so verändern wird,
({100})
dass wir die Aufgaben für die Zukunft endlich ernst nehmen und nicht weiter von Tag zu Tag leben. Das ist das,
was die Menschen spüren.
({101})
Die Menschen in diesem Land spüren das ganz genau.
Herr Gabriel, ich bin bei Ihnen, dass Menschen im Land
oft sagen: Wissen die noch von unseren Sorgen? Kennen
die unser Problem? Wissen die, wie lange man vielleicht
auf einen Arzttermin wartet? Wissen die, wie das mit der
Gewalt und der Sicherheit auf der Straße ist? - Es nützt
aber nichts, die Rente mit 67 wieder rückgängig zu machen, weil ich dadurch bei meinen Versammlungen drei
Tage lang schönes Wetter kriege. Die Aufgabe heißt
doch vielmehr, eine verantwortliche Politik zu machen
und mit den Menschen darüber zu sprechen, was richtig
und wichtig für unsere Zukunft ist. Das machen wir.
({102})
Das machen wir in der Frage der Bundeswehr, indem
wir fragen, ob das, was uns allen - jedenfalls wenn ich
einmal für die Union sprechen kann - lieb ist, nämlich
die Wehrpflicht, die wir viele Jahrzehnte lang für richtig
befunden haben, noch notwendig und machbar ist. Wir
fragen: Werden wir den sicherheitspolitischen Verantwortungen gerecht, die in einer neuen und veränderten
Welt bestehen?
Wir machen das auch bei der Frage, wie viel individuelle Freiheit wir im Internet brauchen und wie viel
Schutz wir dafür brauchen. All das ist Neuland. Hier hat
keiner sofort die Lösungen parat. Darüber muss diskutiert werden. Wenn in diesem Land jede Diskussion und
jeder Meinungsaustausch ein Streit ist, dann muss es
eben Streit sein. Ohne solche Diskussionen, Diskurse
und Dispute werden wir nicht die richtigen Antworten
finden. Wir stehen dazu. Zum Schluss wird entschieden,
und es wird durch Mehrheit das gemacht, was wir insgesamt für richtig befinden.
({103})
Ich bin auch sehr dafür, das wir nicht mit Ressentiments arbeiten, aber ich sage auch: Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, aber wenn Sie eine
Leistung für Mütter in Familien, die ihre Kinder zu
Hause erziehen, einfach als Herdprämie diffamieren,
dann leisten Sie einen Beitrag zu Ressentiments, die wir
nicht wollen.
({104})
Auch das Thema der Integration ist ein Thema, bei
dem man mit Ressentiments nicht weiterkommt. Unsere
Gesellschaft verändert sich. Etwas weniger als 20 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Wenn wir diese Menschen integrieren wollen,
dann müssen wir auch sehen, dass sich dadurch unsere
Gesellschaft verändert. Wir können daraus etwas Gutes
machen. Im Übrigen gibt es viele gelungene Beispiele.
Es gibt 600 000 Selbstständige mit Migrationshintergrund und 2 Millionen Arbeitsplätze in diesem Bereich.
Das soll man nicht verschweigen.
Es gibt aber auch riesige Probleme. Hierzu sage ich
ganz einfach: Wir haben Fehler gemacht. Wir haben
vielleicht zu lange von Gastarbeitern gesprochen und
nicht zur Kenntnis genommen, dass sie in der zweiten,
der dritten oder der vierten Generation bei uns leben. Sie
aber haben von Multikulti geredet, ohne zu sagen: Integration ist Fordern und Fördern, und zwar ein Fordern in
gleicher Größenordnung. Das haben Sie viele Jahre lang
völlig vernachlässigt.
({105})
Ich habe die Integrationsbeauftragte ins Kanzleramt geholt.
({106})
Wir waren es, die Integrationskurse verpflichtend gemacht haben. Wir waren es, die gesagt haben: Wer zu
uns zieht, der muss auch unsere Sprache können, damit
er sich in dieser Gesellschaft bewegen kann. Wir haben
die Verpflichtung, an den Schulen deutsch zu sprechen,
und die Sprachtests eingeführt.
({107})
Nichts kam von dieser Seite des Hauses. Da hilft auch
das Schreien im Nachhinein nicht.
({108})
Deshalb werden wir als Bundesregierung am 3. November wieder einen Integrationsgipfel veranstalten.
({109})
Ich werde mit den Ministerpräsidenten bei dem jährlichen Treffen im Dezember über Fragen der Integration
sprechen. Ja, es ist richtig: Es gibt zu viele Vollzugsdefizite. Wer nicht zum Integrationskurs geht, obwohl er
dazu verpflichtet ist, dem kann heute, wenn er Arbeitslosengeld-II-Empfänger ist, die Leistung gekürzt werden,
({110})
und zwar um 30 Prozent, 60 Prozent bis hin zu Sachleistungen.
({111})
Wir werden überprüfen, ob das wirklich überall gemacht
wird, weil Strenge und striktes Fordern auch bei der Integration die notwendige Voraussetzung dafür sind, dass
Menschen hier ihre Chancen bekommen und an der Gesellschaft teilhaben. Ich will das, weil wir ansonsten
keine menschliche Gesellschaft sind.
({112})
Vor 20 Jahren hat eine christlich-liberale Koalition
unter der Führung von Helmut Kohl, Hans-Dietrich
Genscher und Theo Waigel die deutsche Einheit mit
mutigen Entscheidungen möglich gemacht.
({113})
Die Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hat ihren
Beitrag dazu geleistet, genauso wie die vielen Menschen
in den neuen Bundesländern, die die völlige Veränderung ihres Lebens durch erhebliche Kraftanstrengungen
gemeistert haben und heute riesige Erfolge verzeichnen
können. Ihren Beitrag haben auch Millionen Menschen
in der alten Bundesrepublik geleistet, die Solidarität für
unser Vaterland gezeigt haben. Ich glaube, dass wir in
diesem Land auf dieser Grundlage auch für die nächsten
zehn Jahre die Weichen richtig stellen können. Wenn wir
die Herausforderungen analysieren, wenn wir den Realitäten ins Auge sehen, wenn wir die Kraft haben, die
Menschen zu gemeinsamen Anstrengungen für dieses
Land zu motivieren, dann haben wir diese Chance.
Die christlich-liberale Koalition ist eine Koalition, die
den Menschen in diesem Lande etwas zutraut, die
glaubt, dass die Menschen ihren Beitrag für unser Gemeinwesen leisten wollen, die glaubt, dass, wenn wir die
Rahmenbedingungen setzen, sich Leistung in diesem
Lande lohnt, dass, wenn wir den Schwächeren helfen, etwas leisten zu können, Teilhabe für alle möglich ist. Ob
es Menschen im Ehrenamt sind, ob sie vielleicht in einem freiwilligen Wehrdienst sind oder ob im sozialen
Bereich Ältere freiwillig mit Jüngeren arbeiten - wir
werden alle brauchen, um diese Gesellschaft menschlich
zu gestalten. Wer den Eindruck erzeugt, dies könne allein der Staat tun, hat ein falsches Menschenbild. Nur
wer den Menschen etwas zutraut und sie motiviert, sich
nicht nur für ihre eigenen Interessen einzusetzen, sondern auch an die Gemeinschaft zu denken, wird es schaffen, dieses Land zu einem weiterhin wohlhabenden Land
zu machen. Das ist unser Ansatz. Das wollen wir. Das
wird die christlich-liberale Koalition auch schaffen.
Herzlichen Dank.
({114})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Bundestagspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich
muss Ihnen ja eines lassen: Sie haben heute hier ein beachtliches Kämpfertum gezeigt. Zu welchen Fähigkeiten
Frust und Verzweiflung doch so führen können!
({0})
Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen, Frau
Merkel, dass Sie einen Eid geleistet haben, und zwar
Schaden vom deutschen Volk zu wenden und Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben. Ich muss Ihnen sagen, dass Sie diesen Eid permanent verletzen. Sie sind
keine Kanzlerin der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Rentnerinnen und Rentner, der Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger
({1})
und auch nicht der kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie sind die Bundeskanzlerin der
Bankenlobbyisten, der Pharmalobbyisten, der Lobbyisten der privaten Krankenversicherung und nun in einem
kaum vorstellbaren Ausmaß auch der Atomlobbyisten.
({2})
Lobbyisten entscheiden in Deutschland inzwischen
darüber, was sie bekommen und was sie zu leisten bereit
sind. Wenn diese das nicht zugestehen, passiert das
Ganze auch nicht.
({3})
Herr Kollege Gysi, darf ich Sie einen kleinen Augenblick unterbrechen? - Ich appelliere an die Kolleginnen
und Kollegen, die noch nicht genau wissen, ob sie dem
weiteren Verlauf der Debatte folgen können oder wollen,
oder jedenfalls nicht wissen, von wo aus, Kollegen
Flosbach und Dautzenberg zum Beispiel! Hallo!
({0})
Herr Präsident, die Uhr läuft die ganze Zeit weiter.
Sie wissen doch, dass ich Ihnen gegenüber immer
eine besondere Großzügigkeit aufbringe, die am Ende
Ihrer Redezeit auch regelmäßig gebraucht wird.
Ich würde sagen: Wir verhandeln unter Lobbyisten:
eine Minute.
Gehen Sie einmal davon aus, dass das auch diesmal
wieder zugestanden wird.
Okay, wir haben uns auf eine Minute verständigt. Das
ist in Ordnung.
({0})
Darf ich weitermachen?
Selbstverständlich. Ich nehme die Verständigung zur
Kenntnis.
Ich bin übrigens sehr beruhigt, Herr Bundestagspräsident; die hören nicht nur mir nicht zu, sondern auch Ihnen nicht zu. Darüber sollten wir einmal länger nachdenken.
Ich komme zu meinem Punkt zurück. Frau Bundeskanzlerin, Sie verhandeln mit den Lobbyisten, und diese
legen genau fest, was sie machen müssen. Nur das, was
sie zugestehen, tun sie. Haben Sie einmal mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über deren Steuern
verhandelt? Haben Sie einmal mit der Innung der Friseurmeisterinnen und Friseurmeister darüber verhandelt,
was sie zu geben bereit sind? Haben Sie einmal vielleicht mit einer Vertretung von Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern darüber gesprochen, ob
sie wirklich bereit und interessiert sind, das Elterngeld
loszuwerden? Nein, mit diesen Leuten reden Sie nicht.
Sie verhandeln nur mit Lobbyisten, und das beschädigt
die Demokratie in einem kaum vorstellbaren Ausmaß.
({0})
Ich sage es ganz offen: Diese Bundesregierung hat
durch ihre Art der Politik die freiheitlich demokratische
Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Wenn dieses komische Bundesamt für Verfassungsschutz etwas taugte, dann würde es sich um die Regierung kümmern und nicht um die Linke;
({1})
denn die Linke ist eine Bereicherung für die freiheitlich
demokratische Grundordnung in Deutschland.
({2})
Aber es hat sich in unserer Gesellschaft etwas verändert. Was sich verändert hat, wird bei Stuttgart 21 deut6048
lich. Sie haben hier vom Tunnelbau erzählt. Sie wollen
Milliarden in einem sinnlosen Projekt versenken, obwohl
es viel günstigere Varianten gibt. Dazu stehen Sie bloß
nicht. Aber das Interessante ist etwas anderes. Alle Verträge sind geschlossen. Man sagt: Rechtlich ist gar nichts
mehr zu machen. - Früher führte so etwas dazu, dass die
Bürgerinnen und Bürger jeden Widerstand aufgaben und
sich sagten: Es hat ja keinen Sinn mehr. - Dann kamen
bloß noch hundert Leute; es wurde irgendwie langweilig.
Heute werden es täglich mehr. Die lassen sich das nicht
mehr bieten.
({3})
Es gibt einen rebellischen Geist in der Bevölkerung, und
das nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben nach Ihren Verhandlungen mit der Atomlobby von einer Energierevolution
gesprochen. In Wirklichkeit haben Sie natürlich nur gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen provoziert.
Dann haben Sie gesagt, Sie hätten endlich Langfristigkeit hineingebracht, nämlich bis zum Jahr 2050. Wie
kommen Sie denn darauf, noch im Jahr 2050 Kanzlerin
zu sein? Schon im Jahr 2013 wird sich das ändern, und
dann wird das ganze Gesetz wieder gekippt werden.
({4})
Ich sage nur zwei Dinge inhaltlich dazu:
Erstens. Die Frage des Endlagers ist bis heute nicht
gelöst. Über Gorleben braucht man an sich gar nicht zu
diskutieren, weil es eben indiskutabel ist.
Zweitens. Sie beherrschen die Atomkraftwerke im
Falle einer Katastrophe nicht. Bei jedem Flugzeugunglück kennen wir die Zahl der Toten - was schon
schlimm genug ist. Aber wenn uns jemals ein AKW um
die Ohren fliegt, können wir gar nicht einschätzen, was
passiert. Wir wissen nicht, ob man in diesem Land überhaupt noch leben kann oder über wie viele Generationen
man hier nicht mehr leben kann. Wenn man im Unglücksfall eine Technik nicht beherrscht, hat man sich
von ihr zu verabschieden, statt sie per Laufzeitverlängerung noch weiter einzusetzen.
({5})
An die Adresse von SPD und Grünen sage ich: Als
Sie damals den Atomkompromiss geschlossen haben,
haben wir gesagt, die Fristen sind viel zu lang. Eure
Mehrheit im Bundestag hält nicht so lange. Irgendwann
gibt es wieder eine Mehrheit von Union und FDP. Dann
wird der Atomkompromiss wieder rückgängig gemacht. Das haben Sie uns ja nicht geglaubt. Wenn Sie die Dinger damals dichtgemacht hätten, könnten heute ihre
Laufzeiten nicht verlängert werden. Dann wäre Schluss
gewesen.
({6})
Nun sagt ja die Bundesregierung, Atomenergie sei als
Brückentechnologie unverzichtbar. Deshalb müsse man
noch länger auf sie zurückgreifen. Diese Behauptung ist
falsch. Die Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen hat gerade nachgewiesen, dass wir im ersten Halbjahr 2010 einen Überschuss von 11 Milliarden Kilowattstunden produziert haben. Das ist genau so viel, wie die sieben
ältesten und marodesten Atomkraftwerke produzieren.
Das heißt, wenn wir sie schließen würden, müssten wir
nicht eine einzige Kilowattstunde Strom importieren.
Das verschweigen Sie.
({7})
Eben hat die Bundeskanzlerin erklärt, von den Gewinnen, die zweifellos bei den Energieriesen entstehen,
wolle man einen großen Teil abschöpfen. Sie sagten einmal, die Hälfte wollten Sie abschöpfen. Nun habe ich
mir das einmal angesehen:
Die Zusatzgewinne liegen mindestens bei 67 Milliarden Euro, aber nur unter der Bedingung, dass die Preise
gleich bleiben. Aber nicht einmal ein einziges CDU-Mitglied glaubt, dass die Preise gleich bleiben. Wenn man
die realen Schätzungen bezüglich Preissteigerungen
nimmt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Gewinne bei 127 Milliarden Euro liegen werden.
Welche Abgaben haben Sie nun beschlossen?
Da gibt es zum einen die Brennelementesteuer. Ursprünglich hatten Sie gesagt, Sie wollten für jedes Jahr
Laufzeitverlängerung 2,3 Milliarden Euro haben. Daraufhin hat die Atomlobby gesagt, das sei ihr erstens zu
viel und zweitens zu lange. Daraufhin haben Sie gesagt:
Na gut, wenn ihr das nicht wollt, nehmen wir eben nur
1,5 Milliarden Euro. - Mit diesem einen Punkt war die
Atomindustrie dann einverstanden, wollte aber nur sechs
Jahre lang zahlen. Nun haben Sie auch diese Frist von
sechs Jahren akzeptiert. Das heißt, der Staat nimmt
9 Milliarden Euro auf diese Art und Weise ein.
Zum anderen haben Sie gesagt, es müsse noch eine
Zusatzabgabe für die erneuerbaren Energien entrichtet werden. Diese Forderung basiert ja auf Ihrer fantastischen Idee, zu glauben, dass die Atomindustrie die erneuerbaren Energien fördert. Sie haben also gefordert, dass
die Atomindustrie hierfür 15 Milliarden Euro zahlen soll.
Nun habe ich mir all dies genauer angesehen und festgestellt: In Ihrem Geheimvertrag steht auch drin - das haben
Sie der Öffentlichkeit nur noch nicht gesagt -, dass bei jedem Atomkraftwerk Sicherheitsmaßnahmen in Höhe von
500 Millionen Euro durchzuführen sind, dass aber die Betreiber, wenn diese Sicherheitsmaßnahmen teurer werden, diese Mehrkosten von der Abgabe für erneuerbare
Energien abziehen dürfen. Der zuständige Bundesumweltminister selber schätzt aber die Kosten für Sicherheitsmaßnahmen pro AKW auf 1,2 Milliarden Euro. Das
heißt, von den 15 Milliarden Euro werden 700 Millionen
Euro pro AKW abgezogen. Dann bleiben von Ihren
15 Milliarden Euro gerade einmal 3 Milliarden Euro übrig.
9 Milliarden Euro plus 3 Milliarden Euro macht
12 Milliarden Euro. Die Hälfte von 127 Milliarden Euro
oder auch nur von 67 Milliarden Euro sieht jedoch gänzlich anders aus; das kann man durch einfachste Berechnungen herausfinden. Es sind also nur Peanuts, die die
Atomlobby zu bezahlen hat, während sie Gewinne in rieDr. Gregor Gysi
siger Höhe erwirtschaften kann. Das zeigt, wie Sie Politik betreiben.
({8})
Noch eine Kleinigkeit: Die Brennelementesteuer, über
die ich zuerst gesprochen habe, darf die Atomindustrie
zum großen Teil von der Körperschaft- und Gewerbesteuer absetzen. Der Atomindustrie ist es völlig wurscht,
wie sie das absetzt. Wenn sie diese Steuer nun von der Gewerbesteuer, die ja die Kommunen bekommen, absetzt,
wird das dazu führen, dass die Kommunen noch pleiter
werden, als sie ohnehin schon sind.
({9})
- Ja, wenn das ginge. - Dann kommt noch etwas hinzu:
Viele Stadtwerke sind von anderen Rahmenbedingungen
ausgegangen und haben Investitionen vorgenommen.
Diese Investitionen können sie jetzt zum Teil abschreiben; so entstehen weitere Verluste in Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Im Wettbewerb um die Stromerzeugung
haben die Stadtwerke nun gar keine Chancen mehr.
Herr Bundesminister Brüderle, Sie haben behauptet,
die Stromkosten würden um 8 Milliarden Euro niedriger liegen. Das wäre schön. Doch RWE hat gleich klargestellt, das komme gar nicht infrage, man sehe das ganz
anders. Herr Brüderle, ich muss es einfach einmal sagen:
Sie haben Unsinn erzählt. In Wahrheit ist es doch so,
dass sich die vier Energieriesen, die wir haben, einmal
kurz telefonisch verständigen und dabei entscheiden,
wie die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen
abgezockt werden sollen. Das ist die Realität, mit der wir
es zu tun haben.
({10})
Ihr Atomvertrag verstößt aus mindestens drei Gründen gegen die Verfassung:
Erstens haben Sie beim Geheimvertrag den Bundestag ausgeschlossen. Das steht im Widerspruch zum
Grundgesetz.
Zweitens haben Sie den Vertrauensschutz für Investitionen der Kommunen verletzt.
Drittens wollen Sie den Bundesrat ausschließen. Das
geht beim besten Willen nicht; denn es ist auch eine Angelegenheit der Länder und der Kommunen. Deshalb
wollen fünf SPD-geführte Landesregierungen - darunter
zwei, an denen wir beteiligt sind - logischerweise eine
Klage beim Bundesverfassungsgericht erheben. Ich
hoffe auch, dass die Unterschriften aus der Mitte des
Bundestages für ein Normenkontrollverfahren ausreichen. So geht es nicht! Wir dürfen dies den Bürgerinnen
und Bürgern nicht zumuten.
({11})
Aber dieser Stil Ihrer Politik ist nicht neu. Wie sah es
bei den Banken aus? Ich darf daran erinnern, dass wir innerhalb einer einzigen Woche über 480 Milliarden Euro
entschieden haben. Dagegen sind für die Beratung des
Bundeshaushalts, der 320 Milliarden Euro umfasst,
mehrere Monate nötig. Das ist aber noch nicht einmal
das Problem. Das Problem ist: Sie haben festgelegt, dass
eine Handvoll Leute, die alle nicht im Bundestag sitzen,
über die Verwendung des Geldes entscheiden. Es gibt einen Ausschuss des Bundestages, der geheim tagt. Er darf
aber nichts entscheiden, sondern nur Fragen stellen. Die
Antworten, die er bekommt, darf er uns noch nicht einmal mitteilen. Das ist eine Entmachtung des Bundestages, die der Bundestag selbst beschlossen hat. Genau das
ist grundgesetzwidrig.
({12})
Frau Kanzlerin, heute sprechen Sie doch allen Ernstes
von der Bankenabgabe. Ich bitte Sie! Sie wollen nur gut
1 Milliarde Euro haben. Außerdem ist das Konzept völlig falsch angelegt, weil die Sparkassen mit einbezahlen
sollen. Sie haben aber nichts mit dieser Krise zu tun, und
deshalb sind sie diesbezüglich auch nicht zahlungspflichtig. Das Geld in Höhe von 1 Milliarde Euro soll ja
nicht zum Schuldenabbau genutzt werden, sondern es
soll in einen Fonds gesteckt werden, damit bei der
nächsten Krise darauf zugegriffen werden kann. Sie wissen nämlich, dass Sie nichts unternommen haben, damit
es keine nächste Krise gibt. Angesichts von 480 Milliarden Euro brauchen wir etwa 480 Jahre, bis wir das Geld
zusammenhaben. Das ist wirklich eine sehr langfristige
Politik.
({13})
Jetzt erleben wir erneut einen Fehler im Zusammenhang mit der HRE. Wie sind Sie über uns hergefallen, als
wir damals gesagt haben: Sie können nicht nur eine
Bank verstaatlichen; wenn Sie verstaatlichen wollen,
dann müssen Sie, wie dies in Schweden geschehen ist,
alle großen Banken verstaatlichen! Darauf haben Sie gesagt: Das geht nicht. Ihre Logik ist zu einfach. Die HRE,
die uns allen gehört, ist hoch verschuldet. Zum Beispiel
fordert die Deutsche Bank von der HRE 20 Milliarden
Euro. Jetzt müssen alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland über die HRE 20 Milliarden Euro
an die Deutsche Bank zahlen. Von diesem Geld werden
riesige Gewinnausschüttungen an Großaktionäre und
Boni bezahlt. So geht es nicht! Wenn man die Schulden
übernimmt, dann muss man auch von den Einnahmen
profitieren. Weil Sie konservativ sind, hätten Sie, nachdem das Geld zurückgeflossen ist, meinetwegen - das
kann man auch anders sehen - reprivatisieren können.
Nichts zu tun, war ein schwerwiegender Fehler.
({14})
Jetzt wird an einem Wochenende entschieden, dass
weitere 40 Milliarden Euro an die HRE fließen müssen,
weil das Geld nicht gelangt hat. 40 Milliarden Euro - ich
bitte Sie! Das passiert mir nichts, dir nichts und ohne Zustimmung des Bundestages. Ich darf Sie erinnern: Noch
vor kurzem wurde erklärt, die HRE sei gesund. Jetzt
stellt sich heraus, sie ist doch noch schwerwiegend
krank. Das Ganze ist indiskutabel.
Nun komme ich zur Pharmaindustrie und zu den privaten Krankenkassen. Ich nenne zwei Beispiele:
Das erste Beispiel. Herr Rösler, Sie hatten vorgesehen, dass eine Kommission, die aus Vertreterinnen und
Vertretern der Krankenkassen sowie der Ärztinnen und
Ärzte besteht, über neue Arzneimittel entscheiden soll.
Dann meldeten sich die Pharmahersteller bei Ihnen in einem Brief, in dem stand: Nein, das wollen wir nicht; wir
wollen, dass Sie, Herr Rösler, darüber alleine entscheiden. Daraufhin sagten Sie: Ich bin frei von Sachkenntnis; also entscheide ich ab jetzt alleine darüber. Sie haben es genau so gemacht, wie es die Leute von der
Pharmaindustrie wollten; denn es geht Ihnen nicht um
Fortschritt in der medizinischen Versorgung, sondern um
Wirtschaftsinteressen. Das ist reinste Klientelpolitik.
Das zweite Beispiel. Sie haben einen Vertreter der privaten Krankenkassen in Ihre Grundsatzabteilung berufen. Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der an zwei
Stellen interessant ist. Gutverdienende Angestellte mussten bisher mindestens drei Jahre in der gesetzlichen
Krankenkasse sein, bevor sie zu einer privaten Krankenkasse wechseln durften. Nun kommen Sie mit dem Argument „Freiheit“ und sagen: Das geht nicht; diese Personen sollen darüber frei entscheiden und schon nach
einem Jahr wechseln können. Das ist Ihre Argumentation.
({15})
- Passen Sie auf!
Nun passiert Folgendes: Bis jetzt dürfen die gesetzlichen Krankenkassen gegen einen Zusatzbeitrag zum
Beispiel eine zusätzliche Zahnversorgung, eine Auslandsversicherung, eine Chefarztbehandlung sowie ein
Einbett- oder Zweibettzimmer im Krankenhaus anbieten. Da sagen Sie, die Freiheitsverfechter: Das sollen die
gesetzlichen Krankenkassen zukünftig nicht mehr anbieten dürfen, sondern nur die privaten. Da verletzen Sie die
ganze Logik. Sie wollen ausschließlich, dass die privaten
Krankenversicherungen besser verdienen und die gesetzlichen Krankenkassen geschwächt werden. Das ist alles,
was dabei herauskommt. Tolle Lobbyarbeit!
({16})
Wir hatten nach der Finanzkrise eine Staatsschuldenkrise. Im Jahre 2010 beträgt die Neuverschuldung
65 Milliarden Euro.
({17})
Bei Ihrem ganzen Sparpaket, das Sie vorgelegt haben,
beträgt der Anteil der Lasten für Arbeitslose und Geringverdienende 37 Prozent; 37 Prozent Ihres Entlastungsvorschlags übernehmen Arbeitslose und Geringverdienende. Was sagen Sie? Sie wollen die Bezugsdauer des
Elterngeldes von einem Jahr streichen. Die SPD wird
sich erinnern: Sie hat in der Großen Koalition zugestimmt, die Bezugsdauer des Elterngeldes von zwei Jahren auf ein Jahr zu reduzieren. Da sagt diese Regierung
natürlich: Dann streichen wir auch noch die Bezugsdauer für das verbliebene Jahr.
Aber davon einmal abgesehen: Das ist eine Maßnahme
gegen Kinder und gegen Eltern. Außerdem sagen Sie
- jetzt kommt Ihr wahnsinniges Argument -: Das soll
eine Lohnersatzleistung sein. Da Hartz-IV-Empfänger
vorher nicht gearbeitet haben, brauchen sie auch kein Elterngeld. - Dann erklären Sie doch einmal, weshalb die
nicht berufstätige Ehefrau eines Millionärs nach wie vor
Elterngeld bekommt, die Hartz-IV-Empfängerin hingegen nicht. Das können Sie nicht erklären. Das ist grob
unsozial und ungerecht.
({18})
Jetzt kommen Sie mit Ihren Bildungschipkarten,
auch die Bundeskanzlerin heute wieder. Wissen Sie, wie
viele Bescheide das für die Jobcenter bedeutet?
17 Millionen im Jahr; denn es gibt 1,7 Millionen Kinder.
Na, das wird ja lustig. Sie müssen die Anzahl der Beschäftigten in den Jobcentern verdoppeln, und dann
müssen wir ungefähr doppelt so viele Sozialrichterinnen
und Sozialrichter einstellen. Wahnsinn!
Dann wollen Sie das Übergangsgeld ALG I zu
Hartz IV, also zu ALG II, streichen. Was heißt das?
Nehmen wir eine Ingenieurin, die ganz gut verdient hat.
Wenn sie arbeitslos wird, bekommt sie ein Jahr lang Arbeitslosengeld, mit dem sie ihren Lebensstandard nicht
halten kann, aber so einigermaßen über die Runden
kommt. Wir alle haben gesagt: Es geht nicht, dass sie
dann gleich in Hartz IV fällt; da muss es doch wenigstens einen Übergang geben. Jetzt streichen Sie den Übergang und sagen: Einen Tag später soll sie arm sein, und
sie muss einfach sehen, wie sie hinkommt.
Dann streichen Sie die Rentenbeiträge für Hartz-IVEmpfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Das bedeutet nicht nur, dass die Betroffenen geringere Renten
beziehen, sondern das bedeutet auch, dass der gesetzlichen Rentenkasse jährlich 1,8 Milliarden Euro entzogen
werden. Wie wollen Sie das eigentlich erstatten?
Darüber hinaus entscheiden Sie, dass der Heizkostenzuschlag für Wohngeldempfänger gestrichen wird.
Außerdem beschließen Sie - dazu hat sich auch der Bundesfinanzminister geäußert -: Insgesamt müssen die
Ausgaben für aktive und passive Leistungen für Hartz-IVEmpfänger um 16 Milliarden Euro bis zum Jahre 2014
gekürzt werden. Wissen Sie, was das heißt, Frau Bundeskanzlerin? Das heißt, dass die Maßnahmen für Bildung, für Training etc. für Hartz-IV-Empfängerinnen
und Hartz-IV-Empfänger zusammengestrichen werden.
Sie haben eben gesagt: keine Kürzung bei Bildung. Dennoch beschließen Sie die größte Kürzung bei Bildung für
Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, das
heißt bei denjenigen, die sie am dringendsten benötigen.
({19})
Außerdem machen Sie den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor in Berlin und Brandenburg tot. Warum eigentlich? Was ist denn so schlimm daran, statt Arbeitslosigkeit eine vernünftige Tätigkeit zu bezahlen, mit
der die Leute zufrieden sind und wirklich einmal Geld
verdienen? Ich verstehe es nicht.
({20})
Nun sagen SPD und Grüne und auch Teile der Union,
das Ganze sei sozial nicht ausgewogen. Das stimmt. Aber,
lieber Herr Gabriel, das reicht doch nicht. Es geht nicht
darum, dass die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger etwas bezahlen und der Banker auch etwas bezahlt.
Es gilt das reine Verursacherprinzip. Diejenigen, die die
Krise verursacht haben und die Nutznießer der Krise
sind, sollen das bezahlen und keine Hartz-IV-Empfängerin, kein Geringverdienender, keine Arbeitnehmerin,
kein Arbeitnehmer. Das ist unser Standpunkt.
({21})
Oder Sie weisen mir nach - Herr Kauder, Sie werden
das ja können -, wie groß der Schuldanteil einer HartzIV-Empfängerin oder ihres Kindes oder eines Geringverdienenden an der Finanzkrise und damit an der Staatsverschuldung ist. Erklären Sie es mir. Der Schuldanteil
liegt bei null.
({22})
Ziehen Sie die heran, die das Ganze verursacht haben,
und nicht diejenigen, die damit nichts zu tun haben!
({23})
In derselben Zeit hat das Geldvermögen in Deutschland, das zunächst abgenommen hatte, wieder zugenommen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
- keine linke Einrichtung - hat festgestellt: Es gibt jetzt
51 000 Vermögensmillionäre mehr als vor einem Jahr.
Es sind jetzt insgesamt 861 000. Nicht einen einzigen
Cent müssen sie für die Krise bezahlen, obwohl sie reicher geworden sind; vielmehr sollen die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger das Ganze bezahlen. Das
können Sie nicht vermitteln, weder in Stuttgart noch in
Berlin.
({24})
Durch die Regierung von SPD und Grünen, durch die
Regierung von Union und SPD und durch die Regierung
von Union und FDP gehen dem Bund, den Ländern und
den Kommunen jährlich 30 Milliarden Euro Steuereinnahmen verloren. Deshalb sind die Kommunen so pleite.
Deshalb kann man dort nicht mehr regeln, wie das Krankenhaus, die Kindertagesstätte und vieles andere bezahlt
werden.
Wir brauchen Steuergerechtigkeit. Dafür brauchen
wir eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Dafür brauchen wir eine Millionärsteuer.
Die Einführung einer solchen Steuer wird inzwischen
sogar von Millionären vorgeschlagen - denen ist das
peinlich -; aber Sie verlangen sie natürlich nicht. Wir
brauchen eine Erhöhung der Erbschaftsteuer bei großen
Erbschaften, eine Erhöhung der Körperschaftsteuer sowie die Einführung einer Bankenabgabe - einer richtigen Bankenabgabe - und der Finanztransaktionsteuer.
Wenn Sie mir schon nicht glauben, dann glauben Sie
doch einmal Obama, nicht bei allen Fragen, aber wenigstens bei dieser. Dazu sagt er klar: Die Banken haben das
zu bezahlen. Den Mut dazu hat in diesem kleinen
Deutschland keiner der Regierenden. Das finde ich wirklich skandalös.
({25})
Nun gibt es eine weitere Zahl vom Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung, die ebenfalls interessant ist.
Dort sagt man: 22 Prozent der Deutschen leben mit einem Einkommen von unter 860 Euro monatlich, davon
übrigens 31 Prozent im Osten. Ich sage das nur deshalb,
weil keiner von uns, weder von den Linken noch von der
FDP, in der Lage ist, sich ein Leben mit 860 Euro Monatseinkommen vorzustellen. Das ist die Wahrheit. Hier
werden Dinge entschieden, bei denen wir alle selber niemals in der Lage wären, sie zu leisten.
({26})
Die Einkommensschere geht immer weiter auseinander.
Jetzt verdient die Industrie, jetzt verdient die Wirtschaft.
Deshalb sage ich: Wir brauchen nun endlich höhere
Löhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sodass die Binnenwirtschaft angekurbelt wird.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, Sie hätten die Arbeitslosigkeit von 5 Millionen auf 3 Millionen gesenkt.
Warum verschweigen Sie denn, dass wir nicht mehr,
sondern weniger Vollzeitbeschäftigte in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen haben? Zugenommen hat die Anzahl der 400-Euro-Jobs, der 1,50-EuroJobs und der statistischen Tricks. Das ist alles. Es gibt
aber keinen wirklichen Abbau der Arbeitslosigkeit. Es
gibt keinen Grund für Sie, darauf stolz zu sein.
({27})
Sie haben über 20 Jahre deutsche Einheit gesprochen. Es ist unbestritten, dass seitdem eines ausgeschlossen ist; das ist übrigens die größte Leistung, die am seltensten betont wird. Wir standen seit 1949 in der Gefahr,
dass es einen Krieg zwischen beiden deutschen Staaten
gibt, mit verursacht von den Weltmächten. Anschließend
hätte es das deutsche Volk gar nicht mehr gegeben. Seit
dem 3. Oktober 1990 ist dies ausgeschlossen. Das ist der
größte Gewinn für alle an dieser deutschen Einheit.
({28})
Ein Weiteres. Niemand wird bestreiten, dass die Menschen aus der früheren DDR nun mehr Freiheit und Demokratie haben.
({29})
Sie haben aber auch mehr soziale Unsicherheit. Ich
würde jetzt gerne über die Fehler bei der Währungsunion
und vor allen Dingen bei der Deindustrialisierung des
Ostens sprechen; aber der Herr Bundestagspräsident
wird sagen, dass meine Redezeit gleich zu Ende ist.
Jedenfalls schaffen Sie das nicht in der einen zusätzlichen Minute, auf die wir uns großzügigerweise verständigt haben.
Richtig. - Dann schaffe ich aber, Folgendes zu sagen:
Ein weiterer Fehler bestand darin, dass die Eliten nicht
vereinigt worden sind. Vor allem bestand ein Fehler darin, dass Sie sich den Osten nicht angesehen haben.
({0})
Wenn Sie zehn Strukturen aus dem Osten als weiterhin
geeignet empfunden und für ganz Deutschland eingeführt hätten, dann hätten die Frau in Passau,
({1})
der Mann in Frankfurt am Main und der Mann in Kiel
eine andere Erinnerung an die deutsche Einheit, nämlich
dass durch die deutsche Einheit auch ihre oder seine Lebensqualität in diesen zehn Punkten erhöht worden ist.
Das haben Sie keinem Westdeutschen gegönnt; außerdem haben Sie das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen
beschädigt. Das ist bis heute sehr traurig. Dadurch haben
wir nach wie vor große Probleme.
Jetzt sage ich Ihnen eines: Zur Einheit gehört endlich
die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung sowie
der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit und die gleiche
Arbeitszeit.
({2})
Wer das nicht will, will auch keine Einheit.
Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie kommen aus Ostdeutschland. Wenn ich mich frage, was Sie als Kanzlerin
für die Vertiefung der deutschen Einheit getan haben,
dann komme ich zu dem Ergebnis: gar nichts.
({3})
Sie behaupten das Gegenteil und glauben es mir nicht.
Herr Kollege.
Letzter Satz. - Nicht Sie, sondern meine Partei steht
für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und
- endlich - für eine wirkliche deutsche Einheit.
({0})
- Ich wollte, dass Sie sich einmal aufregen können. Jetzt
können Sie es.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Birgit Homburger für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man in diesen Tagen mit Freunden und Bekannten
im europäischen Ausland spricht, dann erfährt man, dass
sie sich über die negative Debatte, die in unserem Land
geführt wird, wundern; sie verstehen sie nicht. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Reallöhne
steigen, und die Entwicklung ist positiver als in den
meisten anderen europäischen Ländern. Deutschland hat
allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen.
({0})
Die wirtschaftliche Entwicklung kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie hat viele Ursachen: innovative Unternehmen, fleißige Arbeitnehmer, eine verantwortungsvolle Lohnpolitik.
({1})
Es gab gute Rahmenbedingungen, die die Politik
geschaffen hat. Durch die Entlastung der Familien zu
Beginn dieses Jahres, durch den Abbau von Wachstumsbremsen bei der Unternehmen- und Erbschaftsteuer,
durch eine Verlängerung der Kurzarbeiterregelung und
einen Zuschnitt auf den Mittelstand und durch die Rücknahme der Erhöhung der Steuern auf Biokraftstoffe haben wir für vernünftige Rahmenbedingungen gesorgt.
Wir haben mit kluger Politik dem Aufschwung den Weg
geebnet. Wir werden mit kluger Politik die Weichen für
die Zukunft stellen.
({2})
Wir wollen den Wohlstand sichern. Das bedeutet,
dass wir die Währung stabilisieren müssen. In diesem
Zusammenhang werden wir versuchen, mit viel Aufwand einen Fehler, den Rot-Grün unter der Regierung
Schröder/Fischer seinerzeit auf europäischer Ebene zu
verantworten hatte, zu korrigieren. Im Jahre 2004 wurde
von Deutschland aus kurzsichtigen parteipolitischen Interessen heraus der Stabilitätspakt aufgeweicht. Das war
ein Fehler, und dieser Fehler muss jetzt korrigiert werden.
({3})
Die Euro-Krise hat uns erneut bestätigt, dass es keine
Alternative zur Konsolidierung der Haushalte gibt.
Kein Spekulant der Welt hätte die Chance gehabt, dem
Euro etwas anzuhaben, wenn die Haushalte der EuroStaaten in Ordnung gewesen wären. Deshalb haben wir
der Haushaltssanierung oberste Priorität eingeräumt. Wir
kämpfen für einen stabilen Euro. Das bedeutet, dass wir
die Haushalte konsolidieren wollen. Das bedeutet, dass
wir aus Solidarität für drei Jahre eine Zweckgesellschaft
aufgebaut haben, um den Euro zu stützen. Diesen Zeitraum wollen wir nicht verlängern. Das Problem muss
durch solides Wirtschaften in allen Euro-Staaten gelöst
werden. Wir wollen keine Fortsetzung dieser Zweckgesellschaft. Wir wollen Haushaltskonsolidierung statt
Transferunion. Dafür werden wir uns einsetzen.
({4})
Wir beenden die Schuldenpolitik der letzten Jahrzehnte. Wir werden - im Vergleich zu der Planung von
Herrn Steinbrück - bis 2014 80 Milliarden Euro einsparen, um die Neuverschuldung abzubauen. Wir wollen,
dass der Staat sich so verhält wie jede Familie. Sie hat
ein Einkommen, und mit diesem Einkommen muss sie
auskommen. Deshalb gilt für uns: Der Staat muss mit
dem auskommen, was er hat, und genau so werden wir
den Haushalt gestalten.
({5})
Der vorliegende Haushalt ist Ausdruck von Handlungsfähigkeit und von Gestaltungswillen. Erstmals seit
Jahren wird bei den Ausgaben gespart und werden nicht
wieder großflächig Steuern erhöht. Das hätte es ohne die
FDP nicht gegeben.
({6})
Der Beginn der schwarz-gelben Regierung, der christlich-liberalen Koalition, markiert einen Politikwechsel
in Deutschland.
({7})
Wir haben zu Beginn dieses Jahres mit einer Entlastung
der Familien begonnen.
({8})
Sie haben in Ihrer Regierungszeit mit der Erhöhung der
Mehrwertsteuer und 20 weiterer Steuern begonnen. Sie
haben die Bürgerinnen und Bürger belastet, wir haben
sie entlastet. Das zeigt sich daran, dass in diesem Jahr
der sogenannte Steuerzahlertag, also der Tag, von dem
an die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr für den Staat,
sondern nur noch für sich selbst arbeiten, zehn Tage früher war als im letzten Jahr.
({9})
Dieser Haushalt zeugt von Gestaltungswillen. Herr
Gabriel, Sie haben hier vorhin Krokodilstränen über die
Bildungsausgaben vergossen. Elf Jahre haben Sie regiert. Elf Jahre hatten Sie Zeit, etwas zu tun. Elf Jahre
hat die Bildungspolitik bei Ihnen ein Schattendasein gefristet. Wir haben entschieden, dass wir in diesem Haushalt überall sparen, nur an einer Stelle nicht: Im Bereich
Bildung und Forschung werden wir die Ausgaben bis
2013 um 12 Milliarden Euro erhöhen. Das ist eine Tatsache, und das ist ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der
Politik, die Sie früher betrieben haben.
({10})
Wir sind der Meinung: Bildung ist die soziale Frage
unserer Zeit. Deshalb werden wir uns bei diesem Thema
mit aller Macht engagieren. Wir wollen, dass jedes Kind
in diesem Land unabhängig von seiner Herkunft eine
Chance auf sozialen Aufstieg hat. Der Schlüssel dazu ist
die Bildung. Deshalb wollen wir einen Teil des Geldes,
das wir zusätzlich investieren, für eine Exzellenzinitiative „frühkindliche Bildung“ einsetzen, um diejenigen,
die von zu Hause nicht die nötige Rückendeckung bekommen, möglichst früh zu unterstützen. Wir wollen
den Kindern die Möglichkeit bieten, in der Grundschule
mitzukommen und die Chancen unseres Bildungssystems für einen sozialen Aufstieg zu nutzen.
({11})
Wir werden bei der frühkindlichen Bildung Impulse
setzen, die mit denen zu vergleichen sind, die wir in einem anderen Bereich gesetzt haben - sie werden zum
Wintersemester dieses Jahres greifen -: Wir haben in
Deutschland endlich ein Stipendienprogramm eingeführt, das es ermöglicht, junge Menschen anhand ihrer
Leistung zu fördern. Damit schließen wir endlich zu den
internationalen Standards auf. Auch das ist eine Leistung
dieser Koalition.
({12})
Natürlich ist dieser Haushalt sozial ausgewogen. Das
Niveau der sozialen Sicherung liegt immer noch über
dem Niveau zur Zeit der rot-grünen Regierung. Das
kann man mit den Zahlen dieses Haushalts beweisen. Ich
will Ihnen das an qualitativen Merkmalen deutlich machen: Wir haben das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger verdreifacht, weil wir der Meinung waren, dass
diejenigen, die ihr Leben lang gearbeitet und gespart haben, aber am Ende ihres Berufslebens in eine schwierige
Situation kamen, nicht genauso behandelt werden dürfen
wie diejenigen, die nichts gespart haben.
({13})
Nach dem Grundsatz „Leistung muss sich lohnen“
haben wir zum Sommer dieses Jahres durchgesetzt, dass
Jugendliche aus Hartz-IV-Familien, die einen Ferienjob
machen, ihr Geld behalten dürfen und dass die Leistungen für die Eltern damit nicht verrechnet werden. Auch
das ist eine soziale Leistung, die wir erbracht haben.
({14})
Im Rahmen der Hartz-IV-Reform werden wir die
Leistungen für die Bildung von Kindern verbessern.
Zum ersten Mal überhaupt wird in einem Hartz-IV-Satz
die Bildung von Kindern als besonderes Bedürfnis der
Kinder ausgewiesen und finanziert werden. Auch das
bringt diese Koalition auf den Weg. Sie haben das verschlafen.
({15})
Diese Koalition steht für uneingeschränkte Solidarität mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wer Hilfe
braucht, kann sich auf die Solidarität dieser Gesellschaft
verlassen. Aber wir sagen auch: Wer diese Hilfe erwirtschaftet, muss sich auch auf die Solidarität der Gesellschaft und der Politik verlassen können.
({16})
Im Gegensatz dazu sieht die SPD die Mitte als Melkkuh der Nation. Sie schlägt Steuererhöhungen in großem
Umfang vor. Wir machen eine Politik für die Mitte der
Gesellschaft durch Steuersenkungen für die Familien,
({17})
aber auch dadurch, dass wir in der Wirtschaftspolitik
endlich neue Akzente gesetzt haben.
Das zeigt sich an einer Stelle.
({18})
Wir haben immer wieder gesagt: Es kann nicht sein, dass
zu den großen Unternehmen die Bundeskanzlerin
kommt und zu den kleinen Unternehmen der Insolvenzverwalter. Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir
bei Opel konsequent sind. Sie hätten einem liquiden
Konzern gern noch das Geld der Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler persönlich vorbeigebracht.
({19})
Wir haben es für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
gerettet und in den Haushalt zurückgeholt. Das ist die
Leistung dieser Koalition und des Wirtschaftsministers
Rainer Brüderle.
({20})
Diese Politik ist klar, verlässlich und erfolgreich für
die Menschen. Herr Gabriel hat hier erklärt, SchwarzGelb probiere mal dies, mal jenes. Das sagt der Richtige.
Es gibt kaum jemanden, der so der Beliebigkeit frönt wie
Sie, Herr Gabriel.
({21})
Sie wechseln Ihre Positionen wie ein Fähnchen im Wind.
Sie haben in Ihrer Regierungszeit den Spitzensteuersatz
geändert; jetzt wollen Sie ihn wieder erhöhen. Sie waren
zwar gegen eine Mehrwertsteuererhöhung, haben sie
aber dennoch beschlossen. Sie haben die Rente mit 67
auf den Weg gebracht; jetzt sind Sie plötzlich dagegen.
Zu dem wichtigen Infrastrukturprojekt „Stuttgart 21“ hat
die Kanzlerin schon das Nötige gesagt.
({22})
Sie verabschieden sich von allen Positionen, die Sie irgendwann einmal gehabt haben.
Von heute an sind es noch 100 Tage bis Weihnachten.
({23})
Allerdings funktioniert eine Politik für den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht nach dem Motto: Wünsch dir
was. Es geht nur nach dem Motto, dass man die Realität
anerkennt und entsprechend handelt. Das tut diese Koalition.
({24})
Wir haben vor, in diesem Haushalt die Nettokreditaufnahme deutlich abzusenken. Wir werden sie im Jahr
2010 um mindestens 25 Prozent senken. Jetzt schauen
wir uns einmal im Vergleich an, was in Nordrhein-Westfalen passiert, wo es jetzt eine rot-grüne Minderheitsregierung gibt. Sie wird unter denselben wirtschaftlichen
Bedingungen in demselben Zeitraum die Neuverschuldung Nordrhein-Westfalens um 35 Prozent erhöhen.
Das, was man dort tut, ist unverantwortlich und rücksichtslos. Eine solche Politik wird es jedenfalls mit uns
auf Bundesebene nicht geben.
({25})
Kommen wir einmal zum Energiekonzept, das Sie
hier so angegriffen haben.
({26})
Wir halten Wort und setzen das um, was wir im Wahlkampf gesagt haben.
({27})
Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit, das sind die Leitlinien unserer Energiepolitik.
({28})
Schauen wir noch einmal, welche Ziele wir uns gesetzt haben. Das Energiekonzept der Bundesregierung
hat das Ziel, bis zum Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen in Deutschland um 40 Prozent und bis zum Jahr
2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Was macht diese
großartige rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen?
({29})
- Ja, gerade Sie, Herr Kelber. ({30})
Die, die immer behaupten, sie hätten die Umweltpolitik
gepachtet, haben festgelegt, dass sie bis 2020 um
25 Prozent reduzieren wollen. Das ist deutlich weniger,
als wir auf Bundesebene machen. Die nordrhein-westfälische Landesregierung bleibt sogar hinter den Zielen der
alten Regierung zurück. Ich würde mich an Ihrer Stelle
schämen.
({31})
Frau Kollegin Homburger, darf der Kollege Kelber
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Wenn der Kollege Ihrer Fraktion, der gestern die gleiche Behauptung aufgestellt hat, Ihnen eine Zwischenmeldung gegeben hätte,
hätten Sie das hier nicht sagen können. Sie haben behauptet, die alte schwarz-gelbe Regierung im NRW habe
höhere Klimaschutzziele verfolgt als die neue rot-grüne
Regierung. Ist Ihnen bekannt, dass im Umweltbericht
dieser schwarz-gelben Regierung, veröffentlicht durch
die Landesregierung NRW, festgehalten wurde, dass unter der schwarz-gelben Landesregierung in NordrheinWestfalen der CO2-Ausstoß nicht gesunken, sondern von
280 Millionen auf 290 Millionen Tonnen CO2 im Jahr
angestiegen ist?
Herr Kollege Kelber, mir ist bekannt, dass es genügend Versuche gegeben hat.
({0})
Im Rahmen des Energiekonzepts gab es genügend Versuche, zukunftsweisende Wege einzuschlagen. Diese
sind immer wieder behindert worden. Das hat auch etwas mit Protest gegen Projekte zu tun, beispielsweise
gegen Kraftwerksneubau oder Netzausbau. Das hängt alles damit zusammen.
Ich sage Ihnen: Wir haben hier ein klares Konzept mit
deutlich höheren Zielen, als Sie sie anstreben. Wir werden den Beweis erbringen, dass wir diese Ziele auch erreichen werden.
({1})
Wir haben erstmals ein konsistentes Gesamtkonzept.
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Deshalb ist für uns die Kernenergie eine Brückentechnologie. Deshalb werden wir die zusätzlichen
Gewinne in erheblichem Maße abschöpfen, und zwar zu
58 Prozent. Weit über die Hälfte der zusätzlichen Gewinne werden abgeschöpft, unter anderem durch die
Brennelementesteuer.
Nun möchte ich auf Ihren glorreichen Tipp zu sprechen kommen, Herr Gabriel. Sie haben vorgeschlagen,
das Aufkommen der Brennelementesteuer für etwas
anderes zu verwenden. Ich stelle mir die Frage: Warum
haben Sie eigentlich in Ihrer Regierungszeit keine
Brennelementesteuer eingeführt? Ich kann Ihnen die
Antwort geben, Herr Gabriel: Sie haben keine Brennelementesteuer eingeführt, weil Herr Trittin den Energieversorgungsunternehmen in einem Vertrag schriftlich
garantiert hat, dass das nicht geschieht. Das ist die Wahrheit in diesem Land.
({2})
Wir wollen einen guten Teil dieses Steueraufkommens in einen Fonds investieren. Es wird einen Fonds
zur Förderung erneuerbarer Energien geben. Es ist nicht
so, wie Sie zuvor behauptet haben, dass die Energieversorgungsunternehmen die Förderung übernehmen sollen.
Nein, wir schöpfen Gewinne ab. Diese werden in einen
Fonds überführt. Selbstverständlich entscheidet die Politik darüber, was mit diesem Geld gemacht wird.
({3})
Wir haben vor, eines der größten Probleme, die wir
haben, anzugehen, nämlich die Frage der Speichertechnologie, die Frage der Netzintegration der erneuerbaren
Energien. Das ist die Herausforderung, vor der dieses
Land steht.
Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien
erreichen. Das erreichen wir nur, wenn wir erneuerbare
Energien letztlich grundlastfähig machen. Deshalb werden wir genau in diesen Bereich investieren und genau
das tun, was wir zuvor gesagt haben.
Herr Gabriel, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden
mit den Energieversorgern reden,
({4})
dann muss ich Ihnen sagen: Wir setzen das um, was wir
versprochen haben. Von uns hat niemand mit Herrn
Großmann Rotwein getrunken und Zigarre geraucht.
Das war Ihr Amtsvorgänger Schröder, aber niemand von
dieser Koalition.
({5})
Wir erhöhen jetzt die Sicherheitsanforderungen für
Kernkraftwerke. Auch das ist wahr. Kernkraftwerke in
diesem Land werden so sicher sein wie nie zuvor. Auch
hier gilt: Rot-Grün hat seinerzeit nichts dafür getan. Herr
Trittin, Sie waren damals Umweltminister. Sie haben
seinerzeit den Vertrag mit den Energieversorgern ausgehandelt. Sie waren es, der ausdrücklich auf höhere Sicherheitsstandards verzichtet hat. Um Ihre ideologischen
Ziele durchzusetzen, haben Sie damals bei den Sicherheitsstandards Zugeständnisse gemacht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Rot-Grün hat einen Sicherheitsrabatt gegeben. Das ist ein unanständiger Deal,
nicht das, was diese Koalition tut.
({6})
Sie werfen uns vor, dass wir in der Frage des Endlagers keine Antwort hätten. Auch das ist ganz bemerkenswert. Wir waren immer dafür, dass ein Endlager erkundet wird.
({7})
Das hatte einen langen Vorlauf, der dazu geführt hat,
({8})
dass man in Gorleben erkunden will. Sie sind doch diejenigen, die seinerzeit, in Ihrer Regierungszeit - natürlich
war es wieder Herr Trittin -, ein Moratorium verhängt
haben. Sie waren nicht bereit, sich der Verantwortung
und der unangenehmen Frage der Endlagerung zu stellen. Sie haben sich verweigert.
({9})
Sie haben ein Moratorium verhängt. Wir werden dieses
Moratorium aufheben und dieses Endlager verantwortungsvoll und ergebnisoffen zu Ende erkunden.
({10})
Wie bei der Haushaltssanierung und beim Energiekonzept werden wir auch in anderen Bereichen Handlungsfähigkeit beweisen. Durch die Gesundheitsreform
wollen wir mehr Wettbewerb und mehr Solidarität erreichen. Das werden wir auch bei Hartz IV tun. Hier gibt es
drei große Bereiche, in denen wir im Herbst dieses Jahres Entscheidungen treffen werden. Kinder aus HartzIV-Familien werden zum ersten Mal Bildungsleistungen
bekommen. Wir werden das so organisieren, dass diese
Bildungsleistungen treffsicher bei den Kindern ankommen und nicht etwa irgendwo anders landen. Auch das
ist ein Ziel, das wir haben.
({11})
Wir werden außerdem über die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene sprechen müssen. Herr Gabriel, hören Sie endlich auf mit diesem Ammenmärchen: Niemand aus unserer Koalition hat gefordert, die Hartz-Sätze zu kürzen.
({12})
- Nein. Wir haben das nicht gefordert. Das hat auch der
Vizekanzler nicht gefordert.
({13})
Das, was Sie sagen, ist völliger Unsinn.
({14})
Orientieren Sie sich bitte an der Realität. Es geht hier
nicht um eine Kürzung der Hartz-IV-Sätze, sondern es
geht darum, den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
zu erfüllen.
({15})
Es hat deutlich gemacht, dass die Regelsätze nicht evident unzureichend sind. Wir sind aber gehalten, transparent zu machen, was in sie hineingerechnet wird. Genau
diesem Auftrag werden wir nachkommen.
({16})
Wir werden die Hinzuverdienstgrenzen ändern. Wir
werden diese Regelung verbessern, weil wir Anreize
schaffen möchten, dass diejenigen, die derzeit Hartz IV
beziehen, aus eigener Anstrengung wieder in eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kommen. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Wir wissen, dass es
nicht einfach wird, dieses Ziel zu erreichen. Aber wir
stellen uns dieser Aufgabe, weil wir den Menschen in
diesem Land mehr Chancen eröffnen wollen. Daran werden wir arbeiten, gerade für diejenigen, die es in diesem
Land am nötigsten haben.
({17})
Als letzten großen Bereich möchte ich die Umstrukturierung der Bundeswehr ansprechen. Wir werden die
Bundeswehr auf der Grundlage unserer sicherheitspolitischen Interessen umstrukturieren. Wir werden sicherstellen, dass wir unseren Bündnisverpflichtungen nachkommen können. Der Umbau der Bundeswehr ist von
zentraler Bedeutung, weil sie zukunftsfähig gemacht
werden muss. Deshalb war es richtig, dass die Koalition
in diesem Jahr bereits beschlossen hat, die Wehrdienstzeit zu verkürzen. Dies hat dazu geführt, dass ein Nachdenkprozess eingesetzt hat.
({18})
Jetzt sind wir in der Situation, dass erstmalig über
eine tatsächliche Umstrukturierung diskutiert werden
kann, und zwar dahin gehend, dass wir die Bundeswehr
zu einer Freiwilligenarmee machen und die Wehrpflicht
aussetzen. Sie ist sicherheitspolitisch nicht mehr notwendig, und sie ist vor allen Dingen in keiner Weise gerecht gegenüber den jungen Männern, die derzeit davon
betroffen sind. Die FDP-Bundestagsfraktion freut sich,
dass es in dieser Frage bei unserem Koalitionspartner
Bewegung gibt und dass es erstmals in der Geschichte
unserer Republik die Chance gibt, diese Änderung vorzunehmen.
({19})
Als Koalition tragen wir Verantwortung für Deutschland. Mit dem Haushalt, der Finanzplanung und unserer
politischen Agenda werden wir dieser Verantwortung
gerecht. Wir wollen unseren Kindern keine Schuldenberge hinterlassen, sondern Freiräume für eigene Entscheidungen; denn auf Schuldenbergen können Kinder
nicht spielen. Das ist eine verantwortungsvolle Politik
für die nächsten Generationen.
Ich kann Sie nur auffordern: Beteiligen Sie sich daran! Machen Sie Vorschläge! Bringen Sie Vorschläge
ein, wie dieser Haushalt weiter saniert werden kann!
Wir sind offen für jeden Vorschlag, der von Ihnen
kommt. Beherzigen Sie dabei aber, was für Millionen
von Bürgern in diesem Land gilt: auskommen mit dem,
was man hat. Das ist der Grundsatz, den zu verwirklichen wir uns vorgenommen haben, und dadurch werden
wir mehr Chancen für mehr Menschen in diesem Land
erarbeiten. Mehr Chancen auf Arbeit, auf Teilhabe und
auf Bildung: Das ist das Ziel dieser Koalition. Das haben
wir versprochen, und jetzt wird geliefert.
Vielen Dank.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines,
Frau Homburger, werden wir Ihnen nie mehr durchgehen lassen,
({0})
nämlich dass Sie behaupten, Sie würden nicht an der Bildung sparen.
({1})
Wer Anfang dieses Jahres über das Gesetz für Hoteliers
den Ländern 2,8 Milliarden Euro weggenommen hat, der
hat bei der Bildung gekürzt; denn wo sollen die Länder
kürzen, wenn nicht in ihren Haushalten?
({2})
Frau Merkel, in Ihrem Urlaub waren Sie irgendwo in
den Dolomiten. Dort ist es schön. Wenn morgens etwas
kräht, dann ist es der Hahn und nicht Guido Westerwelle.
({3})
Trifft man auf schwerverständliche Einheimische, dann
heißen sie Reinhold Messner und nicht Horst Seehofer.
Statt Gurkentruppen und Wildsäuen gibt es Steinpilze
und Gämsen. Irgendwo dort zwischen Ortler und Latemar müssen Sie beschlossen haben,
({4})
endlich Ihrem Wählerauftrag nachkommen und - zwölf
Monate nach der letzten Bundestagswahl - regieren zu
wollen. Das haben Sie heute hier zum Ausdruck zu bringen versucht.
Ist das aber eigentlich auch in Ihrem Kabinett, in Ihrer
Mannschaft, angekommen und verstanden worden?
({5})
Was versteht diese Bundesregierung und was versteht
diese Koalition unter Regieren? Das ist doch die spannende Frage, wenn man festgestellt hat: Zwölf Monate
lang ist nicht regiert worden, und jetzt versucht man, zu
regieren.
({6})
- Dem Eindruck, dass Sie die Krisen aussitzen wollten,
wollen Sie heute auch entgegentreten. Bei der Griechenland-Krise musste Europa diese Kanzlerin aber zum Jagen tragen. Die Führungsrolle in Europa hat diese Kanzlerin verspielt.
({7})
Schauen wir uns die ersten Versuche an:
Der Klassenprimus im Kabinett Merkel, Herr zu
Guttenberg, meldet sich und sagt, er habe eine Feststellung gemacht. Diese liegt ungefähr auf der Ebene der
Feststellung des Kindes in Andersens Des Kaisers neue
Kleider. Es stellt nämlich fest: Der Kaiser ist nackt. Herrn Karl-Theodor zu Guttenberg hat nach 20 Jahren
deutscher Einheit die Erkenntnis ereilt: Deutschland ist
von Freunden umzingelt.
({8})
Wir brauchen diese Bundeswehr als Territorialverteidigungsarmee nicht mehr.
({9})
Jetzt ist die spannende Frage: Was folgt daraus? Daraus folgt genau das, was viele Menschen im Lande an
der Politik abstößt, nämlich dass man aus gewonnenen
Erkenntnissen keine Konsequenzen zieht. Statt die
Wehrpflicht abzuschaffen und die Bundeswehr konsequent umzubauen, wird die Wehrpflicht nur ausgesetzt,
weil diese Koalition nicht in der Lage ist, sich auf die
Realität zu einigen. Das verstehen Sie unter Regieren;
aber dadurch wird die Politikverdrossenheit erhöht.
({10})
Nehmen wir ein anderes Kabinettsmitglied. Das ist
ziemlich uncharmant.
({11})
- Der Herr Rösler.
({12})
Er hat die Kanzlerin mit einer Barbiepuppe verglichen.
Das gehört sich nicht.
Aber die Frage ist: Was versteht Herr Rösler unter Regieren? Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern:
Wir haben in Deutschland ein Problem, nämlich zu hohe
Arzneimittelpreise. Wir müssen 32,4 Milliarden Euro
ausgeben; das sind 5 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Nur in Deutschland, Dänemark und Malta kann die
Pharmaindustrie die Preise noch selbst festsetzen, was
dazu führt, dass Medikamente in Deutschland bis zu
500 Prozent teurer sind als im Rest Europas. Dem muss
und soll begegnet werden.
Was macht Herr Rösler? Als Erstes feuert er denjenigen, der für eine unabhängige Kontrolle des Zusatznutzens von Medikamenten verantwortlich ist.
({13})
Er war der Pharmaindustrie schon immer ein Dorn im
Auge.
({14})
Als Nächstes wird über die Frage gestritten: Wer entscheidet künftig über den Nutzen? Jetzt gucken wir uns
an, wie regiert wird. Da machen Sie etwas ganz Modernes:
({15})
Outsourcing. Sie lassen Ihren Gesetzentwurf vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller schreiben.
({16})
Dann beginnt das eigentliche Regieren: Mit der Maus
wird der Text markiert, ausgeschnitten und in das Gesetzblatt kopiert.
({17})
Dann kommt die geistige Eigenleistung des Ministers
dazu: Er fügt eine Apposition ein, die lautet: ohne Zustimmung des Bundesrates. - Das hatten die Pharmalobbyisten dummerweise vergessen.
({18})
Meine Damen und Herren, jeder Studierende, der bei
so etwas erwischt wird, fliegt durch die Prüfung. Aber
Sie versuchen uns zu erklären, das sei Regierungshandeln!
({19})
Frau Merkel, Sie haben gesagt, Sie wollten in Deutschland keine Zweiklassenmedizin. Die Wahrheit ist: Wir haben eine Zweiklassenmedizin. Fragen Sie doch einmal
die gesetzlich Versicherten, wann sie einen Termin bekommen,
({20})
und fragen Sie die FDP-Mitglieder, die zu Vorzugstarifen in der privaten Krankenkasse versichert sind, wann
sie ihre Termine bekommen. Das ist die Wirklichkeit in
diesem Lande.
({21})
Die gleiche FDP, die sich von der privaten Krankenversicherung spezielle Haustarife liefern lässt, schiebt
jetzt 1 Milliarde Euro in die privaten Krankenkassen.
Das ist bezahlte Lobbypolitik zum eigenen und teilweise
ganz persönlichen Vorteil. Das verstehen Sie unter Regieren, meine Damen und Herren.
({22})
Sie haben gesagt, der Haushalt sei auch ein Stück Gestaltung für die Zukunft. Ja, wo gestalten Sie in diesem
Haushalt Zukunft?
({23})
Sie sparen bei denjenigen, die sowieso nichts haben. Geringverdienern - nicht nur Hartz-IV-Empfängern, die arbeitslos sind, sondern auch denjenigen, die so wenig verdienen, dass wir ihnen helfen müssen - streichen Sie das
Elterngeld; so viel zum Thema Lohnersatzleistungen.
Sie sagen in dieser Frage nicht die Wahrheit. Sie nehmen
es von denjenigen, die am wenigsten haben, und lassen
diejenigen, die es im Überfluss haben, schön in Ruhe.
({24})
Sie kürzen beim Übergangsgeld. Sie kürzen die Rentenzuschüsse auf Kosten der Kommunen.
Frau Merkel, Sie haben gesagt, das mit den Eingliederungshilfen sei nicht so schlimm, weil wir weniger Arbeitslose hätten. Sie sollten sich das einmal genau ansehen: Die
Zahl der Langzeitarbeitslosen, die Zahl derjenigen, die
Arbeitslosengeld II beziehen, ist nicht gesunken.
({25})
Das sind aber diejenigen, die am dringendsten auf Eingliederungshilfe angewiesen sind.
({26})
Wenn Sie sich das nächste Mal aufschreiben lassen,
mehr Deutsche sollten in der Pflege beschäftigt werden,
liebe Frau Merkel, dann sollten Sie bedenken, dass Sie
es sind, die in diesem Jahr die dreijährige Ausbildung im
Bereich der Pflege für Langzeitarbeitslose auslaufen
lässt. Sie produzieren gerade den nächsten Pflegenotstand mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik. So sieht die Wirklichkeit aus.
({27})
Ganz anders ist es, wenn sich andere von Maßnahmen
Betroffene melden. Sie wollten Mitnahmeeffekte im Bereich der Ökosteuerausnahmen endlich abräumen. Es
gibt einen Brief von Herrn Hambrecht. Zudem gibt es
eine Entscheidung, die die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ihrer Klausur getroffen hat, nämlich die Rücknahme dieses Vorschlages des Finanzministers. Da reicht
ein Brief von Herrn Hambrecht an Herrn Fuchs aus, und
die CDU spurt. Genau das verstehen wir unter unserer
Feststellung, hier werde Klientelpolitik betrieben.
({28})
Sie haben ein Riesenfeld für Einsparungen. Ihr eigenes Umweltbundesamt hat Ihnen 48 Milliarden Euro
aufgelistet, die Sie an ökologisch schädlichen Subventionen einsparen könnten. Sie trauen sich nicht einmal,
Mitnahmeeffekte abzuräumen.
Hinzu kommen Buchungstricks zuhauf. Wo wollen
Sie eigentlich die Globale Minderausgabe in Höhe von
5,6 Milliarden Euro hernehmen? Vorgesehen ist auch ein
Schattenhaushalt: Künftig soll sich die Bundesagentur
für Arbeit verschulden dürfen. Was hat das mit Generationengerechtigkeit zu tun?
({29})
Nein, Sie huschen darüber hinweg und klopfen sich
wegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auf die
Schulter. Liebe Frau Merkel, genau in dem Moment, als
Sie das gesagt haben, brach über der Reichstagskuppel
die Sonne durch die Wolken. Ich habe mich gewundert,
dass Sie nicht auch noch das zu Ihrem eigenen Verdienst
erklärt haben. Denn wenn es ein Verdienst an der Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Auftragslage gibt,
dann schauen Sie bitte nach China. China hat mit seinem
Konjunkturprogramm und seiner massiven staatlich induzierten Nachfragesteigerung dafür gesorgt, dass in
Deutschland wieder Aufträge eingegangen sind.
({30})
Bei dieser Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist viel
Wen Jiabao und ganz wenig Merkel drin.
({31})
Stattdessen machen Sie selbst in den Bereichen
nichts, in denen Sie Einnahmen erzielen könnten: je
1 Milliarde Euro durch die Anhebung des Spitzensteuersatzes und die Streichung des Steuerprivilegs für dicke
Dienstwagen sowie eine halbe Milliarde Euro durch die
Rücknahme der Steuerermäßigung für Hotels.
({32})
Wenn Sie hier erklären, Sie seien für Integration, dann
sage ich Ihnen: Wer das Elterngeld für Geringverdienende kürzt, wer die Mittel für den Ausbau von Kindertagesstätten in Kommunen kürzt und wer bei der Integration von Langzeitarbeitslosen kürzt, der betreibt
keine Integration, sondern Desintegration. Er betreibt die
Spaltung dieser Gesellschaft.
({33})
Wenn wir über Integration reden, dann muss ich die
ehemalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU daran erinnern, dass es ihre Fraktion unter ihrer Führung war, die
dem Zuwanderungsgesetz mit den verbindlichen Sprachkursen, die wir auf den Weg gebracht haben, nicht zugestimmt und es in ein elendes Vermittlungsverfahren im
Bundesrat geschickt hat.
({34})
Das war Ihre Politik. Sie haben bei der Integration versagt. Zeigen Sie dabei nicht auf andere in diesem Hause!
({35})
Wir bräuchten eine Haushaltspolitik, die den Zukunftshorizont einer CO2-neutralen hochmodernen Wirtschaftsweise in reale Maßnahmen umsetzt. Aber statt
mehr in Wärmedämmung zu investieren, kürzen Sie
beim Marktanreizprogramm.
Zudem wird behauptet, Stuttgart 21 sei ein Beitrag
zum Schienenverkehr.
({36})
Das Geld, das Sie in Stuttgart im Bahnhof versenken,
fehlt uns künftig für den Ausbau des Regionalverkehrs
und den notwendigen Ausbau des Güterfernverkehrs.
Sie können einen Euro nur einmal ausgeben.
({37})
Es ist absurd, wie Herr Mappus das alte Erbe von Uli
Maurer, damals SPD-Vorsitzender in der Großen Koalition in Baden-Württemberg, auf Teufel komm raus verteidigt, und Frau Merkel steht nicht an, das Erbe von
Herrn Maurer sowie Herrn Mappus lautstark und falsch
zu verteidigen.
({38})
Die Frage muss erlaubt sein, wer in diesem Lande eigentlich regiert.
({39})
Das schlimmste Beispiel ist die Vereinbarung zur Energiepolitik. Sie haben, nachdem 40 Unsympathen - übrigens alle Männer - per Anzeige eine Laufzeitverlängerung gefordert haben, umgehend Gehorsam gezeigt und
Vollzug gemeldet. Sie haben die Laufzeiten mehr verlängert, als die Industrie selbst in den Verhandlungen zum
Konsens verlangt hat. Sie verdoppeln die Reststrommenge. Sie erhöhen die Menge des Atommülls. Wenn
Sie in dieser Situation hier sagen, dass Sie Verantwortung in der Endlagerfrage übernehmen wollen, dann
frage ich erstens: Was ist das für eine Verantwortung, die
das Problem vergrößert und nicht verkleinert?
({40})
Das Zweite ist - ganz persönlich -: Ich war in der
schlimmen Situation, Ihr Erbe aus Morsleben übernehmen zu müssen. Ich habe an den Salzhöhlen gestanden,
({41})
deren Gestein von oben auf die verrotteten Fässer herunterbröckelte. Das haben Sie zu verantworten. Da wollte
die Umweltministerin Merkel Atommüll aus Westdeutschland einlagern. Wir mussten das nicht nur stoppen, sondern auch aufwendig mit viel Geld sanieren.
Wenn Sie sagen, dass Sie Verantwortung übernehmen
wollen, und in dem Zusammenhang auf Gorleben verweisen, dann sage ich Ihnen: Wenn Ihre Morsleben-Politik die Perspektive für Gorleben ist, dann übernehmen
Sie keine Verantwortung. Dann empfindet die Mehrheit
der Bevölkerung dieses Landes dies als eine massive Bedrohung ihrer Sicherheit.
({42})
Ausweislich Ihrer eigenen Gutachten wollen Sie den
Ausbau erneuerbarer Energien jedes Jahr um 20 Prozent
reduzieren; das haben Sie selber aufschreiben lassen. Sie
machen mit Ihrer Laufzeitverlängerung Deutschland von
Stromimporten abhängig. Bis zu 31 Prozent des Stroms
sollen nach Ihren Energieszenarien künftig importiert
werden. Was hat das mit Energiesicherheit zu tun? Was
hat das mit Brückentechnologie zu tun? Das ist das Geschäftsmodell von RWE, das Sie uns hier verkaufen.
({43})
Wenn Sie das mit der Brückentechnologie ernst meinten,
dann müssten Sie angesichts der gewaltigen Exportüberschüsse, die wir mittlerweile dank der erneuerbaren
Energien in diesem Land erzielen, schneller aus der
Atomenergie aussteigen.
Wenn man die Frage ernsthaft stellt, wessen Regierung Sie sind, dann lautet die Antwort: Sie, Frau Merkel,
sind die Kanzlerin von RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Die Richtlinien der Energiepolitik werden von
Jürgen Großmann von RWE geschrieben, nicht mehr
von einem gewählten Kabinett.
({44})
Diese Unternehmen profitieren mit 100 Milliarden Euro.
Dennoch behaupten Sie, die 14 Milliarden Euro, die für
Energieeffizienz davon abgezweigt werden, würden das
ausgleichen. Nein, das ist etwas mehr als das, was Sie
den Stadtwerken in diesem Land wegnehmen. Sie reduzieren den Wettbewerb. Sie sorgen für höhere Preise.
Das ist Ihre Energiepolitik.
Das Schlimmste aber ist: Sie haben Sicherheit gegen
Geld verdealt, übrigens unter Ausschluss des Herrn Umweltministers. Er durfte nicht mit am Tisch sitzen, wie
wir heute Morgen erfahren haben. Der Umweltminister
kommt auch in einem anderen Bereich zu einem interessanten Ergebnis. Er hat ein Gutachten zur Frage der Zustimmungspflichtigkeit in Auftrag gegeben, ein Gutachten, das er Herrn Papier, den ehemaligen Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, schreiben ließ. Herr Papier
kommt zu dem Ergebnis, zu dem fast alle Verfassungsrechtler kommen:
({45})
Laufzeitverlängerungen sind zustimmungspflichtig. Der gleiche Herr Röttgen wird uns aber hier ein Gesetz
vorlegen, das ohne Zustimmung des Bundesrates verabschiedet werden kann; das hat er angekündigt. Lieber
Herr Röttgen, man kann sich irren, aber vorsätzlich ein
verfassungswidriges Gesetz einzubringen, gehört sich
nicht für einen Minister.
({46})
Ich füge noch einen weiteren Punkt hinzu. Man kann
auch gegen Herrn Brüderle verlieren. Aber nie darf ein
Umweltminister so tief sinken, dass er den Kakao auch
noch genüsslich schlabbert, durch den ihn Herr Brüderle
zieht. Das machen Sie gerade.
({47})
Nein, meine Damen und Herren, diese Regierung hat
ein neues Motto: Von planlos zu schamlos. Die Frage
bleibt aber, ob es nicht ein grundlegendes Missverständnis ist, wenn die Bundesregierung selbst erklärt: Exekutive heißt, die Befehle von anderen auszuführen. Von
planlos zu schamlos, das kann kein Motto für eine deutsche Bundesregierung sein. Damit werden Sie nicht bis
2013 kommen.
({48})
Liebe Frau Merkel, ich nehme gern auf, was Sie hier
gesagt haben. Sie haben erklärt, Sie wollen in BadenWürttemberg die Herausforderung mit uns suchen. Wir
nehmen diese an.
({49})
In Stuttgart demonstrieren die Menschen wöchentlich,
was sie von Stadtzerstörung und Geldverschwendung
halten. Am nächsten Samstag werden die Menschen hier
in Berlin zeigen, was sie von Ihrer Energiepolitik halten,
nämlich gar nichts.
Ich bin sicher: Das Ergebnis in Baden-Württemberg
und in Rheinland-Pfalz am 27. März wird kein anderes
sein. Deutschland möchte nämlich nicht von RWE und
BDI regiert werden. Vielen Dank.
({50})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Gabriel, heute Morgen wurde in diesem
Plenarsaal in aller Öffentlichkeit gezeigt, worin der Unterschied zwischen verantwortungslosem und perspektivlosem demagogischen Geschrei und einer Politik für
eine gute Zukunft in unserem Land besteht. Das ist heute
Morgen gezeigt worden.
({0})
Herr Trittin, Sie reden von Politikverdrossenheit. Ich
muss Ihnen eines sagen - ich hätte Ihnen das gern erspart, weil ich mich gern inhaltlich mit Ihnen auseinandersetzen würde -: Die Art Gekasper, mit der Sie Ihre
Rede begonnen haben, schürt Politikverdrossenheit. Ihnen fehlt die Ernsthaftigkeit in einer Zeit, in der es genau auf diesen Ernst ankommt.
({1})
Um es klar zu sagen: Die Herausforderungen sind groß
genug. Wir können uns nicht aufführen wie auf einem
grünen Abenteuerspielplatz. Ich erwarte mehr Ernsthaftigkeit, aber die ist offenbar bei Ihnen fehl am Platz.
({2})
Nun will ich sowohl Ihnen, Herr Gabriel, als auch Ihnen, Herr Trittin, sagen, warum ich kritisiere, was Sie
heute mit Ihren Beiträgen abgeliefert haben. Sie haben
vor knapp einem Jahr, als diese Regierungskoalition die
ersten Entwürfe zu den Wachstumsbeschleunigungsgesetzen vorgelegt hat, Aussagen über die Zukunft dieses
Landes gemacht. Wenn Sie sich diese heute noch einmal
anschauen, dann müssen Sie sich für das schämen, was
Sie im letzten Jahr gesagt haben, als wir mit unserer Arbeit begonnen haben.
({3})
Herr Gabriel, deshalb sind auch alle Aussagen, die
Sie zur Perspektive dieses Landes machen, überhaupt
nicht überzeugend. Einen Tag nachdem die Shell-Studie
veröffentlicht wurde, in der klar und deutlich gesagt
wird, dass eine junge Generation wieder Zuversicht und
Mut gefasst hat, dass eine junge Generation sich und diesem Land etwas zutraut, heute solche Reden zu halten,
ist unsäglich. Ich kann nur sagen, das ist unsäglich.
({4})
Wir müssen diesen jungen Menschen Mut machen,
aber Sie sind keine Mutmacher. Sie wollen zurück in die
Vergangenheit, Sie wollen nicht den Aufbruch in die Zukunft, der zwingend notwendig ist.
({5})
Mit Ihnen ist eine Weiterentwicklung dieses Landes, die
notwendig ist, gar nicht möglich.
Jetzt will ich ein Beispiel nennen: Wir brauchen Menschen in diesem Land, die einen Beitrag dazu leisten,
dass es vorangeht. Wir brauchen eine moderne Infrastruktur. Es ist wunderbar, wenn grüne Entwicklungspolitiker nach Asien, beispielsweise nach Indien, fahren
und sagen, da müsse unglaublich viel für die Infrastruktur getan werden. Es geht aber nicht, dass Sie dann bei
uns die notwendige Modernisierung der Infrastruktur
verhindern.
({6})
Das ist nicht glaubwürdig.
({7})
Die Grünen sagen, sie seien für den Ausbau der Schiene
und für eine moderne Infrastruktur. Hier in Berlin aber
haben die Grünen gegen den Tunnel demonstriert, durch
den sie heute mit großer Freude fahren. Das ist die reale
Politik von Rot und Grün: zunächst dagegen sein und
dann erkennen, dass es doch sinnvoll war.
({8})
Bei Stuttgart 21 handeln Sie verantwortungslos. Es geht
nämlich nicht allein um Stuttgart, sondern es geht um
eine große europäische Verkehrsentwicklung, von der
nicht nur die Zukunft unseres Landes, sondern auch die
Zukunft Europas abhängt. Sie sind gegen das Projekt,
obwohl Sie wissen, dass es eine Zukunftsperspektive für
Baden-Württemberg, für Deutschland und Europa bietet.
Das nenne ich verantwortungslos.
({9})
Herr Gabriel, man wird nicht richtig schlau, was Sie
eigentlich genau wollen. Das ist das eigentlich
Schlimme. Ihr Parteifreund Ivo Gönner aus Ulm hat gesagt: Eine Partei, die in schwieriger Situation, wenn es
ernst wird, nicht die Kraft hat, zu stehen, ist keine Regierungspartei mehr. - Das hat Ivo Gönner von der SPD gesagt, nicht wir. Genauso ist es. Wer Entscheidungen mitträgt und zigmal sagt, sie müssten sein, dann aber
umfällt, der hat kein Recht, in diesem Land zu regieren;
denn er bringt dieses Land nicht voran, sondern wirft es
zurück.
({10})
Wir diskutieren in dieser Zeit auch darüber, wie wir
diesem Land eine Zukunftsperspektive geben können,
damit alle mitgenommen werden und alle mitmachen.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben im
Jahr 2007 nach den Zeiten von Rot-Grün ein Integrationskonzept auf den Tisch gelegt. In diesem Integra6062
tionskonzept beschreiben wir minutiös, was passieren
soll. Ich kann nur sagen: Mit dem Eintritt der CDU/CSU
in die Regierung hat nach vielen Jahren Multikulti zum
ersten Mal überhaupt eine Integrationspolitik begonnen.
({11})
Sie müssen sich vorwerfen lassen, dass Sie geglaubt haben, durch Multikulti erfolge die Integration. Sie tragen
die Verantwortung dafür, dass ganze Jahrgänge keine gescheite Schulausbildung erhalten haben und damit keine
guten Chancen in unserem Land haben. Das verantworten Sie.
({12})
- Herr Beck, von Ihnen brauche ich schon gar keine Fragen, um das einmal deutlich zu machen.
({13})
Jetzt kommen wir zur Politik des Senats hier in Berlin. Daran kann man genau sehen, wie Integration erfolgt
ist. Herr Trittin, die Rede, die Sie gehalten haben, hätten
Sie an die Sozialdemokraten richten müssen.
({14})
- Seien Sie ruhig, Sie kommen gleich dran. - Sie haben
hier in Berlin die Mittel für die Integrationsklassen gekürzt, sodass über 10 000 Migrantenkinder keine richtige Ausbildung mehr bekommen haben.
({15})
Das war die Politik, die Sie gemacht haben.
({16})
Und dann machen Sie solche Sprüche. Ich kann nur sagen: Von Ihnen können wir, was Integration anbelangt,
nichts lernen. Wir machen Politik auf der Grundlage des
christlichen Menschenbilds. Wir versuchen, alle in dieser Gesellschaft mitzunehmen, damit sie Chancen und
Zukunftsperspektiven haben.
({17})
Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt. Das hat sich
erst in diesem Jahr hier im Deutschen Bundestag abgespielt, nämlich am 26. Februar 2010. Es gehört schon ein
besonderes Maß an Frechheit dazu, hier aufzutreten und
zu sagen: Wir brauchen Sprachkurse; wir wollen, dass
die Leute die Sprache lernen. - Wir haben doch immer
gesagt: In Deutschland wird deutsch gesprochen. In den
Schulen wird deutsch gesprochen, damit die jungen
Leute auch mitkommen.
({18})
- Warten Sie doch einmal ab!
Da hat doch die SPD am 26. Februar 2010 hier einen
Gesetzentwurf eingebracht. Sie hat vorgeschlagen, auf
die Sprachkurse zu verzichten, um die Einbürgerung zu
erleichtern. Einen größeren Quatsch habe ich in meinem
ganzen Leben noch nicht gehört!
({19})
Neben den jungen Menschen, den etwa 60 Prozent,
die eine gute Zukunftsperspektive sehen, die sich etwas
zutrauen und die der Überzeugung sind, dass sie in unserem Land den Beruf ergreifen werden, den sie wollen,
gibt es nach der Shell-Studie - darauf hat die Bundeskanzlerin mit Recht hingewiesen - die 15 Prozent der
jungen Leute - in dieser Größenordnung liegt das -, die
ihre Chance nicht sehen, die frustriert sind, die über ihre
Familie kein gutes Urteil abgeben können.
Im Übrigen ist bemerkenswert, dass die jungen Leute
durch die Bank - durch die Bank! - sagen, sie wünschten sich eine gut funktionierende Familie. Das von Ihnen
so attackierte Modell „Familie“ erlebt also eine Renaissance, und zwar nur deswegen, weil wir es immer hochgehalten haben.
({20})
Es gibt also 15 Prozent, die eine Perspektive brauchen. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass die Bundesagentur aus Mitteln, die wir zur Verfügung stellen,
eine Schulausbildung zu einem späteren Zeitpunkt finanzieren kann. Die Bundesagentur sagt: Jeder kann auch zu
einem späteren Zeitpunkt noch einen Schulabschluss
machen. - Wir kürzen die Mittel für die Bildung also
nicht, und es ist völlig richtig, dass wir mit den Ländern
gerade darüber reden, wie wir Geld aus unserem Bundeshaushalt den Ländern für diese Aufgabe zur Verfügung stellen können. Wir tun also alles, um genau diesen
jungen Menschen eine Perspektive zu geben.
Wenn es darum geht: „Was können wir tun, um dieses
Land voranzubringen?“, dann ist eine zentrale Frage, die
die Menschen stellen: Haben wir genügend Sicherheit?
Gerade in einer Zeit der Globalisierung, wo besondere
Herausforderungen auf uns alle, auf die Politik, aber
auch auf jeden einzelnen Menschen, zukommen, wird
natürlich gefragt: Sind wir gegen die Dinge, die mit der
Globalisierung zusammenhängen, genügend gesichert?
Da ist eine Erkenntnis bemerkenswert, die viele von
uns täglich gewinnen und die die Bundeskanzlerin angesprochen hat: Die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger, sehen in den sozialen Sicherungssystemen - in der
Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung - ihre persönliche Sicherheit. Das ist ja auch in
Ordnung. Sie wissen ganz genau - ganz genau! -, dass
diese sozialen Sicherungssysteme vom wirtschaftlichen
Erfolg unseres Landes abhängen. Die Leute glauben Ihnen nicht, dass diese Dinge einfach so vom Himmel falVolker Kauder
len. Die Bürgerinnen und Bürger wissen: Soziale Sicherheit muss erwirtschaftet werden; sie wird einem von
niemandem geschenkt.
({21})
Deswegen sagen die jungen Leute - schauen Sie sich
die Shell-Studie einmal genau an! -, aber auch die ältere
Generation: Sicherheit haben wir dann, wenn die Wirtschaft läuft und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, jedenfalls nicht weiter steigt. - Das sind die Zusammenhänge,
die wir sehen. Deswegen geht es darum, auch in dieser
globalisierten Zeit die Wirtschaft voranzubringen. Wir
stehen in einem Wettbewerb, in dem uns nichts geschenkt wird. Besonders der Wettbewerb in einer globalisierten Welt kennt keine Pause.
Ich war in der Sommerpause ein paar Tage in Südostasien. Da bin ich in einem bevölkerungsreichen Land
- nicht in China oder Indien, sondern in Indonesien mit
240 Millionen Einwohnern - auf junge Menschen getroffen, die zu mir gesagt haben: Wir wollen vorankommen. Wir wollen genauso gut sein wie ihr in Europa. Wir
wollen genau den gleichen Lebensstandard. - Im Anschluss daran sagten sie: Und angesichts eurer Diskussionen in Europa - dagegen, dagegen, dagegen - entscheiden wir uns anders und werden dafür sein. Wir sind
uns deshalb sicher, dass dieses Jahrhundert uns, den jungen Leuten in Asien, gehören wird. - Ich sage: Ich will,
dass dieses Jahrhundert auch unser Jahrhundert ist und
das Jahrhundert unserer jungen Leute. Deswegen brauchen wir Forschung, Innovation und moderne Infrastruktur. Sonst wird uns das nicht gelingen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({22})
Der Verweigerungshaltung, die ich bei Rot und Grün
feststelle, werden wir deshalb durch einen Aufbruch begegnen. Wir stoßen jetzt auf eine junge Generation, die
dieses genauso sieht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kommt
somit darauf an, dass wir in dieser Gesellschaft den
Gemeinsinn wieder etwas mehr in den Vordergrund stellen. Dazu gehört, dass wir auch in diesem Parlament bei
einigen Dingen diesen Gemeinsinn nach draußen zeigen.
Bei allem Streit - das meine ich schon, Herr Trittin und
Herr Gabriel - müsste man den Bürgerinnen und Bürgern,
die jeden Tag neben ihrer Arbeit auch noch ehrenamtlich
tätig sind und sich in diese Gesellschaft einbringen, schon
einmal Dank sagen. Wir müssen denen dankbar sein, die
große Geldbeträge spenden, damit in dieser Gesellschaft
Dinge passieren können, die sonst nicht passieren würden.
({23})
Wir müssen deutlich sagen: Das gehört zu einem
Deutschland, wie wir es uns vorstellen. All das fördern
wir deshalb, und dazu ermuntern wir auch die Menschen
in unserem Land.
({24})
Jetzt werden Sie fragen: Was meint der denn konkret?
({25})
Ich kann es Ihnen sagen: Wir werden eine Reform der
Bundeswehr durchführen. Dies wird bedeuten, dass sich
auch beim Zivildienst, der ja ein Annex bzw. eine Folge
der Wehrpflicht war und ist, etwas ändern muss. In diesem Zusammenhang sollten wir meiner Meinung nach
den jungen Leuten gemeinsam sagen: Wir verpflichten
euch zwar nicht, aber wir bitten euch, unser Angebot eines Freiwilligendienstes anzunehmen und eine bestimmte
Zeit freiwillig diesem Land und den Menschen in diesem
Land zu dienen.
({26})
Wenn wir uns anschauen, was diese Koalition auf den
Weg gebracht hat, kann man, wie ich glaube, zu dem Ergebnis kommen, dass gute Perspektiven eröffnet wurden.
Von diesem Weg lassen wir uns auch nicht abbringen. So
wie Sie sich brutalst im letzten Jahr bezüglich Ihrer Einschätzung der Zukunftsperspektiven unseres Landes
geirrt haben, so täuschen Sie sich auch heute brutal über
die Kraft und die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Koalition. Wir wollen diesem Land eine gute Zukunft geben.
Wir werden dies in Geschlossenheit tun und den Menschen sagen: Ihr habt in diesem Land großartige Chancen. Ihr könnt alle miteinander stolz darauf sein - das war
nämlich eine große Gemeinschaftsleistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Arbeitgebern und einer klugen Politik -, wie wir die Krise bewältigt haben.
Man schaut auf uns und fragt: Wie habt ihr das gemacht? Die Antwort lautet:
({27})
Indem wir miteinander an einem Strang gezogen haben.
- Das werden wir auch in Zukunft tun. Die junge Generation hat - das belegt die Shell-Studie - das richtige Gespür, indem sie sich überzeugt zeigt: Unser Land ist ein
Land mit einer tollen Perspektive.
Herzlichen Dank.
({28})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Joachim Poß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Kauder, ich verstehe nicht, warum Sie gegen einen Volksentscheid sind, wenn - wie in Stuttgart - die
Dinge offenkundig so verfahren sind, wie sie es sind.
({0})
Ich verstehe auch nicht, dass sich Frau Merkel indirekt
gegen einen solchen Weg ausgesprochen hat. Ich glaube,
die Menschen in Stuttgart und in Baden-Württemberg
beurteilen das gänzlich anders als Sie.
({1})
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Barthle?
Gleich am Anfang? Im weiteren Verlauf - bitte.
Ja oder nein?
Im Moment nicht.
Herr Kauder, die ganze Welt bescheinigt uns, dass es
nicht allein diese neue Regierung war - Sie wollten mit
Ihrer Rede nur von Ihrer fragwürdigen Regierungsleistung ablenken -,
({0})
sondern dass es neben anderen Faktoren auch der Sozialstaat war, der aufgrund seiner Stabilität dazu beigetragen
hat, dass wir gut durch die Krise gekommen sind.
({1})
Er wird uns hoffentlich auch weiterhin helfen, diesen
Weg zu gehen.
Frau Merkel, aus jedem Ihrer Sätze - das gilt auch für
die Stellen Ihrer Rede, an denen Sie kämpferisch wurden sprach falscher Stolz auf die schwarz-gelbe Koalition.
Sie tragen damit zur Legendenbildung mit Blick auf die
letzten Jahre bei und verleugnen so die Leistungen der
Großen Koalition. Ich finde, das sollte man nicht tun.
Frau Merkel, Sie sollten die besten Jahre, die Sie wahrscheinlich in einem Regierungsamt verbracht haben,
nicht verleugnen.
({2})
Das wäre auch für Ihre Biografen nicht nachvollziehbar.
Es wird sich aller Voraussicht nach herausstellen, dass
die Zeit als Kanzlerin in der Großen Koalition Ihre beste
politische Zeit war. Denn was wir bisher von der neuen
Regierung erleben konnten, war einfach grottenschlecht.
Es ist Legendenbildung, das anders darzustellen.
Wenn Sie die SPD historischer Fehler zeihen und als
Beispiel dafür die Euro-Krise anführen, dann müssten
Sie mit vier Fingern auf sich selbst zeigen. Sie waren in
den Wochen der Krise doch überhaupt nicht handlungsfähig.
({3})
Sie waren über Wochen mit dem eigenen Finanzminister
und mit der FDP zerstritten. Sie selbst waren gegenüber
dem von uns gewünschten Instrument der Finanzmarkttransaktionsteuer durchaus aufgeschlossen. Aber das
galt nicht für die FDP und nicht für weite Teile Ihrer
Fraktion. In der Euro-Krise waren Sie ein zerstrittener
Hühnerhaufen. Das war die eigentliche Bedrohung unseres Landes.
({4})
Wenn man sich in Amerika oder auch auf europäischer Ebene umgehört hat, dann konnte man erfahren,
dass viele, die im Prinzip sehr viel Sympathie für Sie haben, tief erschrocken darüber waren, dass Sie mit Ihren
Griechenland-Äußerungen die Spekulanten eingeladen
haben.
({5})
Eventuell geht dies auch noch zulasten der Steuerzahler.
Wir wollen es nicht hoffen.
Wenn man sich genau anschaut, was Sie mit Ihrem
sogenannten Sparpaket machen, und wenn man es unter
wirtschaftlichen Aspekten sieht, dann muss man sagen,
dass Sie Investitionen behindern werden. Die Konjunkturpakete laufen jetzt aus. Gleichzeitig verhindern Sie
Investitionen in Milliardenhöhe in erneuerbare Energien.
Gleichzeitig streichen Sie Mittel für die Städtebauförderung. Damit verhindern Sie Investitionen in den Städten,
die dringend gebraucht werden und mit denen die Beschäftigung gesichert und auch oftmals die Umweltsituation verbessert werden kann. Das alles ist kontraproduktiv
für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Deswegen
muss man feststellen: Diese Regierung ist eher eine Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung unseres
Landes und kein Pluspunkt.
({6})
Sie versuchen, von Ihrer Klientel- und Spaltungspolitik abzulenken und sich hinter den derzeit günstigen Wirtschaftsdaten zu verstecken. Aber ich denke, das ist so
durchsichtig und simpel - das merken die Leute auch -,
dass Sie damit nicht erfolgreich sind. Bisher waren Sie es
jedenfalls nicht.
Sie sind doch aus der Sommerpause herausgekommen, wie Sie hineingegangen sind, wenn man sich die
Entscheidungsabläufe in Ihren Reihen anschaut. Sie haben im Kern und in der Substanz von Ihrer Absicht, dieses Land weiter zu spalten und Privilegien wirtschaftlich
Starker nicht anzutasten, nicht abgelassen. Sie haben
vielleicht Ihren Entscheidungsstil ein wenig verändert.
Aber richtige Lösungen haben Sie bisher nicht bringen
können. Das gilt für jedes Thema, das hier genannt werden kann.
Seit den Atombeschlüssen vom vorletzten Wochenende hat Deutschland faktisch keinen Umweltminister
mehr. Röttgens Hosen sind mittlerweile verdammt kurz
geworden. Jedenfalls kann er, wenn man sich das einmal
wörtlich vorstellt, bei offiziellen Treffen nicht in dieser
Bekleidung auftreten.
({7})
Man muss ja sagen, dass sowohl Sigmar Gabriel als
auch Jürgen Trittin als Umweltminister in den jeweiligen
Koalitionen eine ganz andere Rolle gespielt haben. Was
nützt die vermeintliche Entschlussfreude, die Frau
Merkel jetzt neu beweisen will, wenn es sich um falsche
Entscheidungen handelt, wie bei dem Atomdeal? Die
Atombeschlüsse - das wird Sie noch einholen - schaffen
weder eine verlässliche Grundlage für die Energiepolitik
in Deutschland noch schaffen sie verfassungsrechtliche
Klarheit.
({8})
Was Sie damit erreicht haben, ist erneuter jahrelanger
Streit, nachdem wir dachten, wir hätten mit dem, was in
den letzten Jahren verabredet wurde, endlich nach Jahrzehnten Frieden in der Atomfrage geschaffen.
({9})
Erheblicher Streit in Politik und Gesellschaft hat auch
wirtschaftliche Auswirkungen, und die werden nicht positiv sein.
Die Laufzeitverlängerung war für Frau Merkel eine
willkommene Gelegenheit, sich in den eigenen Reihen
etwas Luft zu verschaffen. Aber immer mehr Menschen
spüren - übrigens auch in den eigenen Parteien, der
CDU und CSU -, dass das alles etwas damit zu tun hat,
Frau Merkels Position und Machtbasis abzusichern.
Deswegen macht sie nicht das, was sachlich geboten ist,
sondern was die schwarz-gelbe Koalition möglichst
lange zusammenhält; womöglich verbleibt ihr nach den
Entscheidungen, die jetzt getroffen wurden, politisch
auch keine andere Option mehr.
({10})
Um es offen zu sagen: Schwarz-Grün ist nicht einfacher geworden für diejenigen, die das wollen. In den
Ländern mag das für manchen vielleicht noch vertretbar
sein. Aber ich glaube, in Zukunft wird es auch da nicht
einfacher.
Frau Merkel hat sich auch stärker in die Hände von
Westerwelle und Seehofer begeben. Ich glaube, dass Ihre
Strategiekonferenz vom Wochenende bei weitem nicht
die letzte sein wird.
Bei diesem kalkulierten Politikstil fragen die Menschen doch: Wo bleiben denn wir dabei? Sie finden das alles sehr kalt und machtzynisch. Ich glaube, dass die Menschen trotz aller Kritik an der Vorgängerregierung den
Eindruck hatten, dass diese in schwieriger Zeit Verantwortung für unser Land gezeigt hat. Wie gesagt, es waren
die Sozialdemokraten, die wirklich geholfen haben. Es
waren die Sozialdemokraten Steinmeier, Steinbrück, und
Scholz, die die richtigen Entscheidungen vorgeschlagen
haben, von denen wir auch heute noch profitieren. Das
war wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung und
für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Ich verstehe deswegen, dass es auch eine gewisse Nostalgie gibt.
Viele, die die SPD kritisch gesehen haben, sehnen sich
jetzt wieder nach der SPD in Regierungsverantwortung
zurück.
({11})
Ich höre das auch in meinen Gesprächen. Ich finde, die
Menschen haben recht, wenn sie sich danach zurücksehnen;
({12})
denn sie können vergleichen, was wir geleistet haben
und was diese Koalition zu leisten nicht in der Lage ist.
Das werden wir bei den nächsten Punkten, die noch anstehen, ja genauso sehen.
Wir werden in den nächsten Wochen mit dem Verfassungsgerichtsurteil zu den Hartz-IV-Regelsätzen zu tun
haben. Da gibt es bisher kein Konzept. Dafür gibt es
vielleicht auch Gründe. Wir brauchen ja auch Daten, die
wohl erst am 27. geliefert werden. Wir werden uns intensiv damit beschäftigen, und zwar konstruktiv, im Interesse der davon betroffenen Arbeitslosengeld-II-Empfänger und Sozialgeldempfänger. Das werden wir
machen. Wir werden aber auch aufpassen, dass es zu einer verfassungsfesten Lösung kommt.
({13})
Zu den Themen, die in anderen Feldern auf dem Tisch
sind - von der Bundeswehr, der Zukunft der Wehrpflicht, bis zur Gesundheitsreform -, wurde heute Morgen schon viel gesagt. Ich denke, die Themen werden
uns weiter bewegen. Wenn das nach der Sommerpause
ein Neustart hätte sein sollen, dann hätte man auch in Sachen Gesundheitsreform genau das Gegenteil Ihrer Politik machen müssen, nämlich einmal deutlich machen
müssen, dass man sich aus den Fängen der Lobby befreit
hat.
({14})
Genau das Gegenteil geschieht aber in der Praxis Ihrer
Regierungsarbeit.
Meine Damen und Herren, bei allem guten Willen,
den Sie jetzt offenbar aufbringen wollen, damit die
Dinge besser laufen: So wie die Dinge laufen, laufen sie
schlecht für unser Land. Ich hoffe, sie laufen nicht mehr
allzu lange so; spätestens 2013 müssen Konsequenzen
aus Ihrem Versagen gezogen werden.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lindner für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nachdem die Opposition vorgetragen hat, ist
jetzt Zeit und Gelegenheit für einen Vergleich der politischen Konzepte. Sie haben beklagt, dass wir beim Sozialen sparen würden, obwohl der Sozialbereich dabei weniger stark herangezogen wird, als es seinem Anteil am
Bundeshaushalt entspricht. Sie haben beklagt, dass bei
den sozial Schwachen gespart würde. Sie haben aber
nicht ein einziges Mal über konkrete Maßnahmen, Wirkungen und Ergebnisse von Sozialpolitik gesprochen.
Das ist Ihr alter sozialdemokratischer und grüner Gestus,
den wir hier in Berlin im Senat schon oft beobachten
konnten.
Es ist der gleiche Gestus, der dazu geführt hat, dass
der rot-rote Senat über Jahre eine Obdachloseninitiative
finanziert hat,
({0})
bei der später durch Zufall sichtbar wurde, dass der Geschäftsführer, ein ehemaliger SPD-Abgeordneter, das
Geld nicht für Obdachlose, sondern für den DienstMaserati aufgewendet hat.
({1})
Ihr sozialdemokratischer Gestus, soziale Gerechtigkeit
an sozialen Ausgaben zu messen, ist gescheitert.
Sie haben im Übrigen auch mit dem Makel zu leben,
dass das Verfassungsgericht Ihnen einen Bruch des Sozialstaatsgebots ins Stammbuch geschrieben hat. Sie haben als Rote und Grüne ein System von Hartz IV politisch zu verantworten,
({2})
bei dem Kinder aus benachteiligten Familien systematisch benachteiligt worden sind; ihnen sind Bildungschancen genommen worden. Das gehen wir in diesem Herbst konkret an. Da räumen wir das auf, was Sie
versäumt haben.
({3})
Mögen Sie sich weiter auf Etats fixieren! Wir kümmern uns im Herbst darum, dass Menschen Arbeitsmarkt- und Bildungschancen bekommen. Bleiben Sie fixiert auf die Ausgabenseite des Staats! Wir sorgen dafür,
dass es konkrete soziale Chancen im Alltag gibt. Denn
soziale Rhetorik zählt nichts; nur die sozialen Ergebnisse
zählen für die Menschen in diesem Land.
({4})
Jetzt ist auch Gelegenheit, die haushalts- und finanzpolitischen Konzepte zu vergleichen. Die SPD berät auf
ihrem nächsten Bundesparteitag über ein neues - so
nennt sie es - „Fortschrittsmodell“. Ich habe mir das
sehr genau angesehen. Im entsprechenden Leitantrag des
Parteivorstands finden sich nur einige dürre Zeilen zur
Haushaltskonsolidierung, aber Steuererhöhungen in einer Größenordnung von 15 Milliarden Euro für den wirtschaftlich tätigen Mittelstand; die Konzerne schonen Sie
nämlich. Was passiert mit dem Geld? Es wird verwendet
für neue Sozialprogramme, neue Subventionen und neue
Staatsbeteiligungen an Unternehmen. Dafür haben die
sozialdemokratischen Begriffsklempner sogar ein neues
Wort erfunden:
({5})
Public Equity. Früher hieß das, was Sie wollen, Volkseigentum.
({6})
Ich sage Ihnen eines: Wir sehen, dass jetzt Wachstum
und Beschäftigung florieren, weil wir genau das Gegenteil von dem tun, was Sie fordern. Dort, wo Sie belasten
wollen, erarbeiten wir uns Entlastung. Dort, wo Sie mehr
staatlichen Zugriff wollen, stärken wir die soziale
Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip - Beispiel Opel -,
weil wir wissen: Der Aufschwung kommt eben nicht
vom Staat, er wird von fleißigen Händen und klugen
Köpfen in der Mitte der Gesellschaft erwirtschaftet.
({7})
Herr Kollege Lindner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Nein, ich will einige Unterschiede exemplarisch deutlich machen und nicht noch weiter andere Aspekte gewichten.
Ich will über die Energiepolitik sprechen. Wir haben
eine Allianz aus verlängerter Laufzeit von Atomkraftwerken und dem größten Programm für erneuerbare
Energien und Energieeffizienz zustande bekommen, wie
sie dieses Land noch nicht gesehen hat.
({0})
Auch die Grünen haben auf ihrer letzten Klausur ein
Energiekonzept vorgelegt. Das habe ich mit Interesse zur
Kenntnis genommen. Sie lassen uns beispielsweise wissen, dass Sie zur Rettung des Weltklimas in Deutschland
ab dem Jahr 2015 Motorroller verbieten wollen. Respekt
vor Ihrem politischen Mut und vor der Detailliertheit Ihrer Forderungen! Aber ein paar Worte kommen mir in
Ihrem Konzept zu oft vor: „möglicherweise“, „vielleicht“, „streben an“, „es könnte gelingen“. Da heißt es
an zentraler Stelle: Möglicherweise könnte die Energieversorgung bis 2030 komplett auf erneuerbaren Energien
basieren.
({1})
Das ist zwar ein visionäres, schönes Ziel, aber ohne Fakten. Und: Was, wenn nicht? Zu welchen Kosten und auf
wessen Kosten? Die Energieversorgung einer Industrienation, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
darf man nicht auf Wunschdenken aufbauen, sondern sie
muss auf Rationalität basieren, und genau das leistet
diese Koalition.
({2})
Herr Trittin hat eben auch über Gesundheitspolitik
gesprochen. Auch dazu ein Wort. Rot-Grün hat immer
die Schwächung der privaten Krankenversicherung angestrebt. Sie haben die Beitrittsfrist auf drei Jahre verlängert, weil sie die privaten Versicherungen austrocknen wollten. Sie haben dafür gesorgt, dass die privaten
Krankenversicherungen nicht in gleicher Weise Rabatte
aushandeln konnten, wie die gesetzlichen das tun. Deshalb haben viele Versicherte in der PKV Beitragssatzsteigerungen zu verzeichnen gehabt. Das sind aber nicht
die Besserverdiener und Reichen, sondern in der PKV ist
auch der kleine Polizeibeamte an der Ecke versichert.
Das sind 10 Millionen Menschen, die endlich faire Wettbewerbsbedingungen brauchen. Für die setzen wir uns
ein.
({3})
Ein letzter Gedanke. Von der SPD wird fortwährend
über Klientelismus gesprochen. Das ist der große Vorwurf, der uns gemacht wird, und das ausgerechnet von
der SPD. Sie haben in den letzten Wochen beschlossen,
die Agenda 2010 rückabzuwickeln. Von der Rente mit
67 wollen Sie nichts mehr wissen. Sie fordern einen
Mindestlohn von 8,50 Euro. Trotz der Euro-Krise haben
Sie den Kreditgarantien nicht zugestimmt, sondern sich
enthalten. Sie machen Klientelpolitik.
({4})
Wissen Sie, wer Ihre Klientel ist? Sie sitzt auf der linken
Seite des Hauses. An sie wollen Sie sich heranrobben, so
wie in Nordrhein-Westfalen,
({5})
wo Sie die Neuverschuldung um 30 Prozent erhöhen, um
Sozialpopulismus zu betreiben, um die Stimmen der
Linkspartei im Landtag zu kaufen. Das ist die Politik,
die Sie betreiben.
({6})
Große Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Helmut
Schmidt und Gerhard Schröder haben stets das Notwendige getan und es danach populär gemacht. Unter Führung von Sigmar Gabriel verlegen Sie sich darauf, nur
das Populäre zu wollen und das Notwendige zu verleugnen.
({7})
Brandt, Schmidt und Schröder haben ihrem Land dienen
wollen.
({8})
Sigmar Gabriel hat gesagt: Der Grundsatz „Erst das
Land, dann die Partei“ habe für ihn keine Bedeutung
mehr. So verspielt Ihr Vorsitzender jede Legitimation für
politische Führung in diesem Land.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Das, was die Opposition bereits gestern,
aber auch heute, von Herrn Gabriel bis zu Herrn Trittin,
abgeliefert hat, war eine Mischung aus Polemik, unsachlichen Angriffen und Unwahrheiten.
({0})
Mit dieser Mischung richten Sie sich selbst. Wir werden
es nicht zulassen, dass von der Opposition die Stimmung
in diesem Land in einer Phase kaputtgeredet wird, in der
die ganze Welt Deutschland dafür bewundert, was es
leistet.
({1})
Wir haben allen Grund, selbstbewusst zu sein. Im
zweiten Quartal verzeichnen wir beim Bruttoinlandsprodukt eine Zunahme von 2,2 Prozent. Wir haben alle
Chancen, im Jahresdurchschnitt auf insgesamt 3,0 Prozent, vielleicht sogar auf mehr zu kommen. Ich glaube,
das ist eine großartige Leistung. Ich denke, dass das die
Wirtschaftsdynamik dieser Volkswirtschaft widerspiegelt.
Heute ist des Öfteren in Zwischenrufen gefragt worden: Kommt der Aufschwung bei den Menschen an?
({2})
Die Frau Bundeskanzlerin hat das heute dargestellt: Statt
5 Millionen Arbeitsloser, wie zu Zeiten von Rot-Grün,
haben wir nur noch 3,2 Millionen oder sogar weniger.
1,8 Millionen Menschen haben ihren Arbeitsplatz nicht
verloren. 280 000 Menschen fanden allein im letzten
Jahr einen neuen Arbeitsplatz aufgrund der Zunahme der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Diese Menschen profitieren. Bei denen kommt der
Aufschwung an. Hunderttausende von Kurzarbeitern,
die noch vor einem Jahr um ihren Arbeitsplatz gebangt
haben - jedenfalls gilt das für den einen oder anderen
von ihnen -, arbeiten jetzt wieder Vollzeit. Auch bei ihnen kommt der Aufschwung an. Er kommt auch bei den
vielen Millionen an, die jetzt oder eines Tages auf die sozialen Sicherungssysteme angewiesen sein werden. Sie
sind durch diesen Aufschwung wieder sicherer geworden, und auch sie profitieren insofern von diesem Aufschwung.
Nun ist die Frage: Wie kommt dieser großartige Aufschwung in Deutschland, anders als in anderen europäischen Ländern, anders als in anderen Industrieländern,
zustande?
({3})
Erstens. Die deutsche Volkswirtschaft - das können
wir voller Selbstbewusstsein sagen - hat eine großartige
Substanz. Wir haben qualifizierte, fleißige Arbeitnehmer
Dr. Hans-Peter Friedrich ({4})
und innovative, risikofreudige Unternehmer. Das ist ein
wichtiges Potenzial, das wir haben und brauchen.
({5})
Zweitens haben wir ein gutes Krisenmanagement
der Politik, angefangen bei einem Konjunkturpaket, das
die Einbrüche in der Krise auffangen sollte und aufgefangen hat. Lieber Herr Poß, es war doch immer klar,
dass dieses Konjunkturpaket nicht jedes Jahr wiederkommen kann, sondern man irgendwann den Ausstieg
finden muss, weil das alles finanziert werden muss. Darum geht es; schließlich muss das alles dauerhaft möglich gemacht werden. Wir haben die Familien dauerhaft
entlastet: Erhöhung des Kindergeldes, Entlastung der
Steuerzahler in diesem Land zu Beginn dieses Jahres in
zweistelliger Milliardenhöhe. Auch der Schutzschirm
für die Arbeitnehmer, der in der Kurzarbeiterregelung
und der Subventionierung der Krankenversicherungsbeiträge zum Ausdruck kam, darf nicht geringgeschätzt
werden. Aber er muss natürlich abfinanziert werden.
Was drittens ganz wesentlich dazu beigetragen hat, ist
die positive Grundstimmung in diesem Land, der Zukunftsoptimismus. Dieser Zukunftsoptimismus ist Voraussetzung dafür, dass ein Land überhaupt blühen kann.
({6})
Es gibt diesen Zukunftsoptimismus, weil diese christlich-liberale Koalition Ja sagt zu Leistung, Ja sagt zu Eigentum, Ja sagt zu moderner Technologie, Ja sagt zu
Versorgungssicherheit im Energiebereich, Ja sagt zu
mehr Innovation, zu mehr Forschung, zu mehr Bildung.
Deswegen ist die Grundstimmung positiv und zukunftsorientiert.
({7})
Sie hingegen, meine Damen und Herren im linken
Spektrum, von der Linken bis zu den Grünen, stehen für
das Gegenteil. Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen
zeigt, wohin die Reise mit den Linken, den Roten und
den Grünen in diesem Land geht - Christian Lindner hat
es soeben angesprochen -: Schamlos wird ein Schuldenhaushalt aufgestellt, der das Land über Jahre belasten
wird, den die Enkel und Urenkel bis ins dritte und vierte
Glied eines Tages doppelt und dreifach zurückzahlen
müssen.
({8})
Mehr noch: Diese Regierung in Düsseldorf, die offiziell nur von Rot und Grün getragen wird, wird von den
linken Genossen geduldet. Um diese Duldung ordentlich
zu machen, haben Sie dafür gesorgt, dass das Wahlprogramm der Linken in Ihrer Koalitionsvereinbarung in
Düsseldorf unterkommt. Die Linken versprechen ein
Recht auf Rausch. Was macht Rot-Grün in Düsseldorf?
Rot-Grün sagt: Die erlaubte Menge Rauschgift für den
Eigenbedarf muss erhöht werden. Die Linken sagen: weniger Freiheitsentzug. Rot-Grün schreibt im Koalitionsvertrag: Wir müssen den offenen Vollzug ausweiten.
Stück für Stück gehen Sie auf die Linken in Düsseldorf
zu. Denn die Wahrheit ist, dass Sie dort zwar die Minister stellen, aber die eigentliche politische Gestaltungskraft die Linken sind. Das führt das Land NordrheinWestfalen an den Abgrund. Andere Bundesländer sollten
sich gut anschauen, was in Düsseldorf passiert, um zu
wissen, was auf sie zukommen könnte.
({9})
Die Opposition steht für exakt das Gegenteil von Aufbruch, Zuversicht und Zukunftsoptimismus. Ihre Forderung nach Steuererhöhungen vernichtet die Basis für Investitionen. Ihre Forderung nach einer Vermögensteuer
bedeutet den Eingriff in das, was sich Menschen in mühsamer Arbeit ihr Leben lang geschaffen haben. Ihre Forderung nach höheren Energiepreisen vernichtet Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland. Ihre
Umverteilungsideologie zerstört die Leistungsbereitschaft.
Dafür steht Rot-Grün, und dafür steht die linke Seite dieses Hauses. Wir sind froh und glücklich und können in
Deutschland selbstbewusst nach vorne blicken; denn Sie
regieren hier in Berlin, im Bund, nicht.
({10})
Deutschland im Jahr 2010 - das bedeutet, dass unsere
Nachbarn und Freunde in der Welt uns beneiden. Wir
sind Vorbild für Europa.
({11})
Präsident Sarkozy hat vor kurzem in einer Fernsehrede
vom „Modell Deutschland“ gesprochen. Es ist kein geringerer als der frühere französische Premierminister
Balladur, der den Franzosen zugerufen hat: Lasst uns
dem Mut der Deutschen folgen! Dies war kürzlich in Le
Figaro nachzulesen.
({12})
Was bedeutet das, der Mut der Deutschen? Mut bedeutet, sich vor die Bürger zu stellen und ihnen zu sagen:
Weil wir alle länger leben wollen, müssen wir auch länger arbeiten; denn sonst können wir das Rentensystem
nicht finanzieren. Das ist Mut; denn es bedeutet Wahrheit.
({13})
Natürlich weiß ich auch, dass wir in einzelnen Fällen
sehr differenzierte Lösungen bei der Frage der Rente mit
67 finden müssen. Natürlich weiß ich auch, dass ein
Schwerstarbeiter, dass ein Dachdecker, der 66, 67 Jahre
alt ist, nicht mehr aufs Dach steigen kann. Aber wir werden gemeinsam mit den Tarifpartnern differenzierte Lösungen für diese Probleme finden. Was machen Sie? Sie
propagieren den Ausstieg aus dem, was Ihr ehemaliger
Vorsitzender Müntefering damals selber vorgeschlagen
hat. Deswegen, liebe Kollegen der Sozialdemokratie,
verlieren Sie an Glaubwürdigkeit. Sie verlieren an
Glaubwürdigkeit, weil Sie alle Positionen, die Sie in elf
Dr. Hans-Peter Friedrich ({14})
Jahren aufgebaut haben, jetzt, wo Sie in der Opposition
sind, räumen. So werden Sie das Vertrauen der Menschen nicht gewinnen.
Es bedeutet Mut, ein Sparpaket auf den Tisch zu legen. Es hat nichts mit Mut zu tun, jedem alles zu versprechen, und es hat nichts mit Mut zu tun, jedes Geschenk per Kredit zu finanzieren. Aber es ist mutig, zu
fragen: Wo kann ich einschneiden, vielleicht auch da, wo
es schwierig und durchaus umstritten ist? Deswegen ist
es mutig, ein Sparpaket vorzulegen, das, wenn auch moderat, den größten Ausgabenblock des Bundeshaushaltes, den Sozialbereich, reduziert.
({15})
Es ist mutig, was unsere Minister in ihren Ressorts im
Einzelnen leisten. Ich will nur einige herausgreifen.
Peter Ramsauer, der Bundesverkehrsminister, leistet großartige Arbeit, wenn es darum geht, die Substanz, die für
dieses Land wichtig ist, die Infrastruktur, aufrechtzuerhalten und auszubauen.
({16})
Wir sparen in der wichtigen Frage der Infrastruktur nicht
bei den Zukunftsinvestitionen; denn die Erschließung
des Raumes, die Entwicklung des Landes ist davon abhängig.
Ilse Aigner, die Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, setzt sich dafür ein und
kämpft dafür, dass der ländliche Raum mit seinem
Potenzial, mit seinen großartigen Möglichkeiten eine
Zukunft hat, sich einbringen kann in die Entwicklung
unseres Landes.
({17})
Schließlich: Klare Orientierung, Mut und Entschlossenheit kennt einen Namen in Deutschland: KarlTheodor zu Guttenberg.
({18})
Er analysiert Reformbedarf, schlägt Lösungen vor und
setzt sie durch. Das ist entschlossene und gestaltende
Politik. Darum geht es. Deswegen werden wir dieses
Land nach vorn bringen.
Lassen Sie mich nun noch einige Sätze zur Energiepolitik sagen, nachdem hier schon eine gewaltige Mischung aus Ignoranz und Unwahrheiten - leider ist Herr
Trittin nicht mehr da, aber vielleicht kann man ihm das
ausrichten - vorgeführt worden ist. Die Energieversorgung ist essenziell für unsere Wirtschaft. Es war das verarbeitende Gewerbe, das unser Land aus dieser Krise
wieder herausgezogen hat. Es stehen die Arbeitsplätze
im verarbeitenden Gewerbe auf dem Spiel, wenn wir
nicht für eine gute, verlässliche und preiswerte Energieversorgung sorgen.
Zur Wahrheit gehört: Wo immer Sie in die Wirtschaftsgeschichte schauen, stellen Sie fest: Der Wohlstandsgewinn für die breite Masse der Bevölkerung
hängt von der Verfügbarmachung von Energie ab.
({19})
Er hängt von der Möglichkeit ab, über Energie zu verfügen, um produzieren zu können. Lieber Herr Kollege,
werfen Sie einmal einen Blick zurück in die Geschichte,
zur Erfindung der Dampfmaschine. Gehen Sie einmal
nach Selb ins Porzellanmuseum. Dort können Sie sich
das anschauen. Die Erfindung der Dampfmaschine bedeutete einen Sprung für die Entwicklung des Wohlstands der Bevölkerung.
({20})
In diesen Zusammenhang gehört auch die friedliche
Nutzung der Kernenergie. Verehrte Kolleginnen und
Kollegen der Sozialdemokratie, Sie sollten einmal nachlesen, was Willy Brandt damals über die Kernenergie gesagt hat. Lesen Sie einmal nach, was er vorgeschlagen
hat, wie viele Kernkraftwerke man in Deutschland bauen
müsse. Sie werden sich wundern, was da alles steht.
Eines ist aber auch richtig: Unser gemeinsames Ziel
ist es, die erneuerbaren Energien in diesem Land voranzutreiben und mit aller Kraft ihren Anteil von Jahr zu
Jahr zu steigern. Wer das Ziel hat, bis zum Jahr 2020
18 Prozent oder 20 Prozent des gesamten Energiebedarfs
durch erneuerbare Energien zu decken, wer das große
Ziel hat, bis zum Jahr 2050 60 Prozent des Energiebedarfs durch erneuerbare Energien zu decken, der muss
auch die Frage beantworten, woher im Jahr 2020 die anderen 80 Prozent und woher im Jahr 2050 die anderen
40 Prozent kommen sollen.
Die Antwort kann nur sein: aus Kohle, aus Gas, aus
Öl, also aus fossilen Energieträgern, die CO2 produzieren - was Gas und Öl betrifft, so machen uns diese Energieträger zudem abhängig vom Ausland, von Ölscheichs,
vom Russengas -, und von der Kernenergie.
Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, dann müssen wir den Einsatz fossiler Energieträger und damit unsere Abhängigkeit von Russland und von den Ölscheichs
erhöhen. Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten und
diese Abhängigkeit nicht erhöhen wollen, dann müssen
wir Strom aus den Kernkraftwerken unserer Nachbarn
importieren. Es wird jetzt über eine Erweiterung des
Kraftwerks in Temelin, bei mir vor der Haustür, nachgedacht. Der damalige rot-grüne Ausstiegsbeschluss macht
diese alten Mühlen in unseren europäischen Nachbarländern erst rentabel, während wir unsere guten sicheren
Kernkraftwerke abschalten sollen. Sie haben sie doch
nicht alle, wenn Sie das wirklich vorschlagen wollen.
({21})
Wir haben eine Steuer beschlossen, weil wir wollen anders als Sie das damals gemacht haben -, dass die vier
großen Konzerne einen großen Teil ihres Gewinns abgeben,
({22})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({23})
sodass wir diese Mittel für die Allgemeinheit nutzbar
machen können durch die Einstellung in den Haushalt.
Wir haben - dazu werden wir einen Gesetzentwurf einbringen - ihnen zusätzliche Sicherheitsauflagen gemacht.
Rot-Grün hatte damals auf solche Auflagen verzichtet.
Spielen Sie sich jetzt also nicht so auf! Auch das wird
gesetzlich verankert.
Außerdem haben wir einen Vertrag geschlossen. In
diesem Vertrag steht eigentlich nur - deswegen ist Ihre
Aufregung gespielt und nicht nachzuvollziehen -, dass
die vier Konzerne auch Geld für erneuerbare Energien
herausrücken müssen.
({24})
Dafür sollten Sie uns loben. Sie sollten uns sogar preisen, weil wir eine so großartige Idee hatten, die Ihnen
damals, als Sie regiert haben, nicht eingefallen ist.
({25})
Das scheint das eigentliche Problem zu sein: Wir haben
einen Weg gefunden, dass sich die Kernenergie über die
Finanzierung der erneuerbaren Energien selbst abschafft.
Das ist so intelligent, dass Sie nicht darauf gekommen
sind.
({26})
Meine Damen und Herren, leider winkt mir die Frau
Präsidentin zu, dass ich an dieser Stelle nicht weiterreden darf.
({27})
Aber Sie haben heute ja schon in vielen Reden der Kollegen gehört: Diese christlich-liberale Regierung ist mutig und entschlossen,
({28})
das Land zu modernisieren und es in ein neues Jahrhundert zu führen,
({29})
das ein gutes Jahrhundert für unser Land sein wird.
Vielen Dank.
({30})
Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen
dieser Generaldebatte, in der bis gerade in der Tat generelle Themen behandelt wurden, steht auch der Etat des
Staatsministers für Kultur und Medien zur Debatte. Ich
als kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion möchte mich auf dieses engere Politikfeld konzentrieren.
Durchaus von genereller Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Aspekt der Geschichts- und Gedenkstättenpolitik im Hinblick auf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dies ist ein wichtiges Thema des
aufarbeitenden Gedenkens nach innen und außen, insbesondere gegenüber unseren europäischen Nachbarn.
Das, was uns vor der Sommerpause massiv beschäftigt hat, war schon starker Tobak. Es war unglaublich
mühsam, diese Institution personell auszustatten und sie
arbeitsfähig zu machen. Dann kamen vor wenigen Wochen zum Teil abstruse, kritikwürdige Äußerungen einiger Stiftungsratsmitglieder ans Tageslicht, die durch ein
Mitglied dieses Hauses noch verstärkt wurden. Ich
wünschte mir sehr, dass sich diese Debatte, was sich inzwischen deutlich abzeichnet, eher in den Reihen der
Union als Richtungsstreit niederschlägt und weniger die
Arbeit der Stiftung belasten würde. Wir haben nämlich
schon viel Zeit verloren.
Ich finde es außerordentlich gut, dass eine Expertenkommission, der ausgewiesene Historiker angehören,
jetzt gewissermaßen als Außenstehende erste inhaltliche
Konzepte erarbeitet hat. Aber ich wünschte mir sehr,
dass insbesondere der Staatsminister für Kultur und Medien seinen veredelnden Einfluss geltend macht, damit
endlich von der Institution selbst Konzepte vorgelegt
werden, die die künftige Ausrichtung der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ deutlich machen.
({0})
Zum Kulturetat im engeren Sinne. Etatpolitik ist Gestaltungspolitik. Die Frage ist, ob dieser Haushalt einem
kulturpolitischen Gestaltungsanspruch gerecht wird. Ich
spreche zwei Themenkomplexe an.
Erstens. Als zentrales Thema unter dem Obergriff
„Bildungspolitik“ ist immer und zwangsläufig die kulturelle Bildung mitzudenken. Herr Staatsminister, hier hat
die Regierungskoalition mit dem letzten Haushalt ein
markantes Zeichen gesetzt. Es wurden 2 Millionen Euro
bereitgestellt, um die Arbeit der kulturellen Bildung und
Vermittlung in den Kulturinstitutionen des Bundes zu
verstärken. Das will ich nicht kritisieren. Nein, im Gegenteil, ich finde das toll.
Jetzt stellen wir fest: Diese Etatposition wird deutlich
reduziert. Was wird daran für ein Gestaltungsanspruch
deutlich? Werden hier Felder geräumt? Haushaltskonsolidierung ist wichtig; aber man muss die richtigen Akzente setzen. Wenn wir im Kernbereich unserer eigenen
Verantwortung dieses Signal setzen, dann ist dies, wie
ich finde, mit Blick auf die kulturpolitische Bildung fatal.
Das zweite Thema ist der Denkmalschutz. Auch hier
erleben wir eine gewisse Dramatik. So gibt es das ProSiegmund Ehrmann
gramm „National wertvolle Kulturdenkmäler“. Die Mittel für dieses gute Programm, das auch Investitionen mobilisiert, werden um ein Drittel gekürzt.
({1})
Nehme ich noch hinzu, was im Hause Ramsauer diskutiert wird, dass nämlich die Mittel für den städtebaulichen Denkmalschutz erheblich gedeckelt werden, und
zwar um etwa 50 Prozent - so steht es im Raum -, dann
ist das in der Addition ein mehr als fatales kultur- und
städtebaupolitisches Signal. Es geht nicht nur um den
Aspekt Kulturpolitik. Das ist auch volkswirtschaftlich
Blödsinn. Insofern hoffe ich sehr, dass es da Korrekturen
gibt.
Zusammenfassend komme ich zu dem Ergebnis, dass
durch diesen Etat keine kulturpolitischen Gestaltungsansprüche, die nach vorne weisen, zu erkennen sind.
({2})
Möglicherweise bedürfen Sie auch hier wieder des
Drucks von außen.
Wir haben das am Beispiel der Digitalisierung der
Kinos erlebt. Ich habe Zweifel, dass wir in Kürze ein
Programm des Bundes freizugeben hätten, mit dem den
Programmkinos in der Fläche die Chance eröffnet wird,
die technische Umstellung zu realisieren,
({3})
wenn wir als Sozialdemokraten nicht initiativ tätig geworden wären und das nicht auf die Agenda der Kulturpolitik im Bund gesetzt hätten.
({4})
Fazit: Herr Staatsminister, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, Sie haben Gelegenheit,
die Punkte, die ich hier angesprochen habe, zu korrigieren. Der Staatsminister hat gleich die Chance, in seiner
Rede seine Sicht der Dinge darzulegen. Wir werden die
Debatte auf jeden Fall in diesem Sinne forcieren.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Bundesregierung hat Herr Staatsminister
Bernd Neumann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum
Schuldenabbau und zur Sanierung der Haushalte von
Bund, Ländern und Kommunen - das haben wir mehrfach gehört - gibt es keine Alternative. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Können wir uns eine so
umfangreiche, öffentlich finanzierte kulturelle Infrastruktur in Deutschland weiterhin leisten? Was bringt sie
uns?
({0})
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Der kulturelle
Reichtum unseres Landes und seine Attraktivität auch
im Ausland hängen nicht zuletzt mit unserer reichen,
vielfältigen und dichten Kulturlandschaft zusammen.
({1})
Das breite Angebot nicht nur in den Stadtzentren, sondern auch in den Regionen ist das Fundament unserer
Kulturnation. Hier wird vieles gerade auch durch hohen
bürgerschaftlichen Einsatz geleistet.
({2})
Die Verbindung von öffentlicher Förderung mit privater
Verantwortung für die Kultur in unserem Lande ist, so
meine Überzeugung, unabdingbar, auch wenn keine Krisenszenarien drohen.
Brauchen wir sie alle, die 150 Theater und die
130 Orchester, die die öffentliche Hand finanziert, die
Tausenden von Museen, Galerien und Ausstellungshallen, trotz der überbordenden Angebote in den elektronischen Medien, trotz der vielfältigen privaten Freizeitangebote oder der Offerten des Tourismus? Meine
Damen und Herren, meine Antwort ist: Ja, ja und nochmals ja.
({3})
Es ist die Kultur, die unser Wertefundament bildet. Es
sind die Künste, die uns zum Reflektieren und Besinnen
ermuntern. Es ist dieses gleichsam überflüssig Scheinende, das ganz wesentlich die Basis unseres Gemeinwesens bildet. Lassen Sie es mich plastisch sagen: Kunst
ist nicht das Sahnehäubchen, sondern die Hefe im Teig.
({4})
Die Kultur ist gerade in der Krise ein unentbehrliches,
wesentliches, integratives Element unserer Gesellschaft.
Identität, Zugehörigkeit, Zusammenhalt - all das stiftet
Kultur.
Natürlich gibt es bei der notwendigen Haushaltssanierung erst einmal keine Tabus. Alle Ausgaben müssen auf
den Prüfstand, und nicht jede Maßnahme und Förderung
auch im Bereich der Kultur hält einer kritischen Überprüfung stand. Aber eines steht auch fest: Mit Kürzungen bei der Kultur kann man keine Haushalte sanieren.
({5})
Der Anteil der Kulturausgaben in den Ländern und
Gemeinden in Deutschland liegt bei mageren 1,9 Prozent, was immer noch mehr ist als beim Bund, weil dort
die eigentliche Kompetenz liegt. Mit über 1,1 Milliarden
Euro, die mein Haushalt im Bund ausmacht, liegen wir
deutlich unter 1 Prozent. Selbst drastisches Sparen bei
den Kulturausgaben bringt keinen bemerkenswerten
Konsolidierungserfolg. Aber es zerschlägt so viele
kleine und auch große kulturelle Einrichtungen und Aktivitäten, die unsere Gesellschaft so bunt und lebenswert
machen.
({6})
Deshalb bin ich stolz, dass diese Bundesregierung trotz
drastischer und notwendiger Sparmaßnahmen die Kultur
geschont hat.
({7})
Damit will sie auch für die Haushalte von Ländern und
Kommunen ein Beispiel geben.
Nach meiner Übernahme des Amts als Kulturstaatsminister im Jahr 2005 gelang es, den Kulturhaushalt des
Bundes Jahr für Jahr zu erhöhen, insbesondere parteiübergreifend durch den Haushaltsausschuss. Für den
jetzt diskutierten Haushalt 2011 kann ich feststellen: Die
Förderung kultureller Aktivitäten und Projekte wird fortgesetzt; sie bleibt unbeeinträchtigt.
({8})
Es ist gelungen, den Kulturhaushalt 2011 trotz finanziell
schwieriger Zeiten stabil zu halten und neue Schwerpunkte zu setzen. Ich verweise beispielsweise auf unsere
Beteiligung bei der Vorbereitung des Jubiläums
„500 Jahre Reformation“ im Jahre 2017. Hierfür haben wir jährlich zusätzlich 5 Millionen Euro für die
nächsten Jahre eingestellt.
({9})
Ich verweise auf beträchtliche Summen in den nächsten
Jahren für die notwendige flächendeckende Digitalisierung der Kinos. Kollegin Krüger-Leißner und Kollege
Börnsen waren ja kürzlich dabei.
({10})
An uns liegt es nicht, dass wir da nicht zu Potte kommen. Im Gegenteil: Wir müssen diejenigen, um die es eigentlich geht, nämlich die Filmwirtschaft, noch treiben,
damit es zu Ergebnissen kommt.
Vielleicht sollte ich noch sagen, dass es auch gelungen ist, für die nächsten Jahre, von 2011 bis 2014, aus
dem Bereich der Forschungsmittel zusätzlich 41 Millionen Euro für den BKM zu bekommen.
({11})
Auch hier haben wir Möglichkeiten, Neues zu machen.
({12})
Lieber Kollege Ehrmann, die Zeit erlaubt es mir, sogar auf Ihre beiden Bemerkungen einzugehen. Sie fragten nach der kulturellen Bildung. Darum brauchen Sie
sich wirklich keine Sorgen zu machen. Inzwischen ist
anerkannt, dass wir, obwohl der Bund dort keine Kompetenzen hat, mit unserer Schwerpunktsetzung im Bereich der kulturellen Bildung wirklich alles vorzeigen
können. Im Prinzip brauchen wir für die Förderung besonderer Maßnahmen etwa 1 Million Euro. Im letzten
Jahr hat der Haushaltsausschuss noch einmal 1 Million
Euro draufgelegt. Die 1 Million Euro, die wir als Basis
haben, dient dazu, besondere Projekte, Pilotprojekte, die
in den Ländern und Kommunen stattfinden, zu fördern.
Darüber hinaus - auch das hat es noch nie gegeben habe ich im letzten Jahr erstmalig eine Preisverleihung
für kulturelle Bildung vorgenommen; wir haben sie inzwischen das zweite Mal absolviert. Sie können also ganz
sicher sein: Obwohl die Länder und Kommunen primär
dafür zuständig sind - wie für Bildung überhaupt -,
({13})
werden wir hier weiterhin einen Schwerpunkt setzen,
weil wir glauben, dass kulturelle Bildung auch aus nationaler Verantwortung heraus gemacht werden muss, und
weil wir das nicht allein den Ländern überlassen wollen.
({14})
Der zweite Punkt, den Sie ansprachen, betraf den
Denkmalschutz. Ja, es gibt ein großes Sparpaket. Ich
habe schon gesagt, dass ich erreichen konnte, dass mein
Bereich nicht entscheidend davon betroffen ist; andere
Bereiche hingegen sind schon betroffen. Auch der
Minister, der für Bau und Stadtentwicklung verantwortlich ist, der Kollege Ramsauer, stand vor der Aufgabe,
zur Sanierung des Haushalts beizutragen, und zwar auch
im Bereich Städtebausanierung. Auch mir wäre es lieber
gewesen, wir hätten bei den alten Summen bleiben können. Aber ich muss eines sagen: Das, was wir noch gemeinsam in der Großen Koalition im Hinblick auf den
Denkmalschutz mit Zusatzprogrammen gemacht haben
- neben der normalen Förderung gab es ein Extraprogramm mit 40 Millionen Euro seitens des Bundes; die
gleiche Summe kam von den Ländern hinzu -, kann sich
sehen lassen. Ich wäre dankbar dafür, wenn man das
wiederholen könnte. Ich bitte die Haushälter darum, sich
hier innovativ zu verhalten. Aber Sie haben recht: In
dem anderen Bereich ist reduziert worden. Ich hoffe, das
gilt nicht auf Dauer, damit wir unser kulturelles Erbe insgesamt erhalten können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Dass es der Bundesregierung trotz ihres
beachtlichen Haushaltskonsolidierungsprogramms - immerhin 80 Milliarden Euro bis 2014; dies sucht übrigens
in Europa seinesgleichen - gelungen ist, den Kulturbereich im Bundeshaushalt vor dramatischen Kürzungen
zu verschonen, ist im Vergleich mit anderen europäischen Regierungen einzigartig. In Frankreich wird der
Kulturhaushalt um 5 Prozent zurückgefahren. Noch dramatischere Einbrüche bei der Kultur finden Sie in Griechenland und Italien, wo die Wiege unserer abendländiStaatsminister Bernd Neumann
schen Kultur stand. Über Großbritannien war vorgestern
in den Schlagzeilen zu lesen: Der neue Kulturminister
schlägt der Filmförderung den Kopf ab. - Das ist ungefähr so, Frau Kollegin Roth, als würden wir die ganze
FFA und deren Zuschüsse abschaffen. In Großbritannien
zeichnen sich Streichungen im Kulturbereich von rund
25 Prozent ab, sodass von Kulturschaffenden in Großbritannien die Kampagne „Save the Arts“ ins Leben gerufen wurde. Das alles ist auf die jeweilige nationale Regierung bezogen.
Natürlich weiß ich, dass Länder und Kommunen in
Deutschland vor großen Herausforderungen stehen. Die
Arbeitsgruppe beim BMF wird voraussichtlich im
Herbst einen Vorschlag vorlegen, wie die Finanzverteilung zwischen Gemeinden, Ländern und Bund generell erfolgen soll. Ich hoffe, dass Länder und Kommunen
der Versuchung widerstehen, gerade den Kulturbereich
als besondere Sparbüchse zu betrachten. Dafür gibt es
gute und schlechte Beispiele.
({15})
Für die Bundesregierung allerdings darf ich feststellen:
Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf 2011 wird die
Aussage in der Koalitionsvereinbarung sowohl der Großen Koalition als auch der neuen christlich-liberalen Koalition, dass Ausgaben für Kultur keine Subvention, sondern Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft
sind, eindrucksvoll unterstrichen.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia
Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für das dreifache Ja
zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur unseres Landes.
Ich finde, Sie sind zu Recht stolz darauf, dass Ihr Haushalt 2011 stabil geblieben ist. Das ist angesichts der brutalen Kürzungen sonst nicht hoch genug einzuschätzen.
Gerade deshalb frage ich: Wofür wird das unter schwierigsten finanziellen Bedingungen erkämpfte Geld ausgegeben?
Für die skandalumwitterte Bundesstiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ zum Beispiel sind 2,5 Millionen Euro für 2010 und 2,5 Millionen Euro für 2011
eingestellt. Sind 5 Millionen Euro in diesen Zeiten der
kulturellen Not eigentlich viel oder wenig Geld? Ich
meine, das ist sehr viel Geld für ein Ausstellungs- und
Dokumentationszentrum des Bundes, das seinem Auftrag, der Versöhnung zu dienen, von Monat zu Monat,
von Woche zu Woche, von Tag zu Tag immer weniger
gerecht wird und unserem Ansehen als Kulturgesellschaft immer mehr schadet.
({0})
Nachdem vor Monaten renommierte internationale Wissenschaftler den Stiftungsrat verlassen haben, lässt nun
der Zentralrat der Juden in Deutschland seine Mitgliedschaft ruhen, ebenso der Vertreter der Sinti und Roma.
Ich frage Sie: Wie soll eine Bundesstiftung das Thema
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ohne jüdische Mitarbeit und ohne die Mitarbeit der Sinti und Roma erarbeiten? Wie soll das gehen?
({1})
Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrer eigenen Pressemitteilung erklärt, dass Sie die Äußerungen der Stiftungsratsmitglieder und Landesvorsitzenden des Bundes
der Vertriebenen Saenger und Tölg für inakzeptabel halten. Warum arbeiten Sie dann mit denen weiterhin
zusammen? Und ich frage: Wieso sollen wir Parlamentarier der Millionenförderung eines solchen Skandalprojekts der Erinnerungskultur zustimmen? Insgesamt
5 Millionen Euro in 2010 und 2011!
Was hat die Stiftung 2010 eigentlich geleistet, außer
den Abgang des internationalen Wissenschaftspersonals? Der Gründungsdirektor Kittel erhält seit einem
Jahr Gehalt. Ein Konzept der geplanten großen Ausstellung liegt bis heute nicht vor. Vor einer Woche hat in
Berlin der Geschichtswissenschaftler Martin Schulze
Wessel in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission
sowie der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission
ein Ausstellungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vorgelegt, ausgehend von den Orten
Wroclaw, Aussig und Vilnius. Dabei wurde an den Aufruf aus dem Jahr 2003 erinnert, mit dem unter anderem
Bundespräsident Rau und Staatspräsident Kwasniewski
die Idee eines europäischen Zentrums der Versöhnung formuliert haben. Wie weit ist heute das teure Bundesunternehmen davon entfernt! Und wie lange wollen
wir da noch zusehen und viel Geld in Zeiten bitterer Not
ausgeben?
({2})
Ein stabiler Haushalt allein ist nicht viel wert, wenn
Geld für unhaltbar gewordene Projekte ausgegeben
wird.
Im Dezember 2007 gab es einen viel beachteten Vorschlag des Willy-Brandt-Kreises. Anstelle der Stiftung
gegen Vertreibung solle ein Zentrum gegen Krieg in
Berlin eingerichtet werden. Zu den Initiatoren gehörten
Egon Bahr, Günter Grass, Friedrich Schorlemmer,
Daniela Dahn und Klaus Staeck. Über 1 000 Künstler,
Journalisten und Politiker haben diesen Vorschlag unterstützt. Das wäre eine Alternative: ein Museum, das den
Krieg ächtet und die Ächtung der Vertreibung einschließt. Dafür könnten 2,5 Millionen Euro gut umgewidmet werden.
({3})
Die Linksfraktion würde das gerne unterstützen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich danke Staatsminister Neumann
für die Vorstellung des Bundeskulturhaushaltes 2011.
Damit ist es der christlich-liberalen Koalition gelungen,
die Kulturausgaben des Bundes trotz der schweren
Finanz- und Wirtschaftskrise stabil zu halten. Zwar ist
uns in diesem Jahr kein Aufwuchs gelungen. Trotzdem
ist vorgesehen, auch neue Projekte zu fördern. Es ist
durchaus ein Erfolg, dass sich die Kulturförderung nur
geringfügig an den Einsparungen des Bundeshaushaltes
beteiligen muss, während der Gesamthaushalt des Bundes um 3,8 Prozent sinkt. Damit setzt die Koalition ein
deutliches Zeichen für die Kultur.
({0})
Denn bis auf wenige Ausnahmen werden die Einsparungen im Kulturhaushalt durch das Auslaufen von Einzelmaßnahmen erzielt. Dadurch können die vielen dauerhaft
geförderten Einrichtungen sowie Projekte erfolgreich
weitergeführt werden und sogar neue hinzukommen,
auch zur Förderung der Laienkultur.
Die aktuellen Wirtschaftsdaten hören sich gut an. Die
Arbeitslosigkeit sinkt. Die Wirtschaft wächst wieder,
und die Wachstumsrate überrascht die Ökonomen im Inund Ausland. Liest man die Presse, so erfährt man, dass
das Ausland mit Bewunderung auf das Krisenmanagement in unserem Land schaut. Deutschland scheint so
vom angeblich kranken Mann Europas zu dessen Lehrmeister zu werden. Für uns Liberale hat trotz dieser
positiven Entwicklung die Haushaltskonsolidierung
höchste Priorität. Die Schulden müssen eingedämmt
werden. Sonst rauben wir zukünftigen Generationen die
Luft zum Atmen. Auf Schuldenbergen wächst keine
Kultur.
({1})
Schuldenberge und die dann zwangsläufig notwendige
Rotstiftpolitik gefährden insbesondere die kulturelle Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen. Deswegen ist
jede sinnvolle - ich betone: sinnvolle - Sparanstrengung
zu begrüßen, auch wenn Sparen bei manchen sehr unpopulär zu sein scheint. Aber genau dadurch erhalten
und schaffen wir finanzpolitische Handlungsspielräume,
die zukünftig auch der Kulturförderung dienen werden.
Wie erwähnt, sieht der Haushaltsentwurf auch neue
Förderungen vor. Hervorzuheben sind insbesondere die
5 Millionen Euro, die laut Haushaltsentwurf für die
Luther-Dekade bereitgestellt werden. Damit fördert der
Bund zu Recht und frühzeitig einen kulturellen und kulturtouristischen Höhepunkt in unserem Land.
({2})
Die Luther-Dekade bietet gerade den Orten der Reformation wie Wittenberg und Eisenach die einzigartige
Chance, den Grundstein für einen nachhaltigen Kulturtourismus zu legen.
Ganz besonders liegt mir die weitere Aufarbeitung
des DDR-Unrechts am Herzen.
({3})
Hier erweitert der Bund seine Förderung zum Beispiel
mit zusätzlichen Mitteln für den Ausbau der Zeitzeugenbüros. Auch die weitere Umsetzung des Gedenkstättenkonzepts zur Erinnerung an das NS- und SED-Unrecht
wird durch den Zuwachs befördert. Zusammen mit den
Mitteln für den Bau des Freiheits- und Einheitsdenkmals
stellt der Bund dafür 22 Millionen Euro zur Verfügung.
({4})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir
sicher, dass sich - wie immer - auch über diesen Haushalt trefflich streiten lässt. Dennoch glaube ich, dass allen Kulturpolitikern dieses Hauses insgeheim oder offen
bewusst ist, dass ein solcher Haushaltsentwurf keine
Selbstverständlichkeit ist, sondern harter Arbeit bedarf.
Die christlich-liberale Koalition stellt damit sicher, dass
der Bund seiner Verantwortung für die Förderung und
Bewahrung der Kultur unter Beachtung der Kulturkompetenz der Länder und Kommunen gerecht wird.
In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von
Theodor Heuss schließen:
Mit Politik kann man keine Kultur machen, aber
vielleicht kann man mit Kultur Politik machen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun das
Wort die Kollegin Agnes Krumwiede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Das gilt für den Rückwärtsgang ins radioaktive
Atomzeitalter genauso wie für Entstehungsprozesse in
der Kunst. Um die richtigen Entscheidungen für Mensch
und Umwelt zu treffen, brauchen wir Herz und Verstand.
Wir verstehen unter einem Aufbruch, unter einem neuen
Denken, Erneuerung und nicht das Verharren im technokratischen Systemfehler.
({0})
Wir dürfen nicht zulassen, dass uns spätere Generationen
auf den Gattungsbegriff Homo oeconomicus reduzieren,
der sein Handeln allein an materieller Bereicherung ausgerichtet hat.
Die schwarz-gelbe Kulturpolitik ist bei der Haushaltsplanung 2011 symptomatisch für eine einseitige Förderung der repräsentativen Materie. Allein für die Vorbereitung des Reformationsjubiläums sind im Haushalt
5 Millionen Euro vorgesehen. Das ist fast doppelt so viel
wie für die Künstlerförderung. Das erlaubt die Frage,
was die Veranstaltung insgesamt kosten soll; denn das
Jubiläum findet erst 2017, also in sieben Jahren, statt.
Kulturförderung hat aber nicht nur mit der Verteilung
der Mittel zu tun, sondern auch mit Ideen. Herr
Neumann, wo bleiben Ihre Ideen und Konzepte zur Verbesserung der sozialen Lage von Kulturschaffenden,
um die Ausbeutung hochqualifizierter Musiker als Praktikanten und als Honorarlehrkräfte zu beenden?
({1})
Wo bleibt die Einführung einer Ausstellungsvergütung
für bildende Künstlerinnen und Künstler? Wir werden
Ihnen in nächster Zeit konkrete Vorschläge machen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Haushalts liegt auf der
Vergabe von Forschungsgeldern. Eine der zahlreichen
aktuellen Studien zur Lage der Kulturschaffenden in
Deutschland besagt: Zwei Drittel der Theaterschaffenden und Tänzer leben unterhalb der Armutsgrenze. Herr
Neumann, wir kennen die alarmierenden Statistiken und
Zahlen. Es ist absurd, dafür Forschungsgelder auszugeben und gleichzeitig bei der Förderung von Künstlern zu
sparen oder Stipendienprogramme - wie bei der deutschen Künstlerakademie in Istanbul - ganz zu streichen.
({2})
Was helfen Statistiken, wenn die Regierung aus den Erkenntnissen keine Konsequenzen zieht? Vonseiten der
Regierungsbank fehlt der Mut, in die Kulturlandschaft
von morgen zu investieren, in das, was Kunst ausmacht,
nämlich noch nicht sichtbar zu sein, der Mut, das Ideelle
zu fördern, die Entstehungsprozesse von neuem.
Wir haben die Aufgabe, Mittel so zu verteilen, dass
sie bei den Menschen ankommen, die durch ihre Kunst
unser Land und die Gesellschaft bereichern oder bereichern werden. Es ist von nationaler Bedeutung, junge
Menschen in ihrem eigenen künstlerischen Ausdruck zu
bestätigen. Wir fordern ein Konzept zur Stärkung der
Jugendkultur, das Jugendliche mit ihren Interessen in
den Mittelpunkt stellt, egal ob Hip-Hop, Klassik oder
Zirkus.
({3})
Denn Kultur hat einen unmittelbaren Einfluss auf unser Denken und Fühlen und somit auch auf unser Verhalten.
Wir müssen endlich anfangen, Kultur mit Bildung
und Kunst mit Lernen zu verknüpfen. Kulturpolitik ist
auch Integrationspolitik. Aber was ist der Regierung
Integration wert? Schwarz-Gelb kürzt die Mittel für den
Integrationsplan und damit ausgerechnet für die Integrationsförderung. Kultur muss beim Thema Integration
eine größere Rolle spielen. Gemeinsame kulturelle Aktivitäten geben Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich über alle Sprachgrenzen hinweg in einer gemeinsamen Sprache zu verständigen. Wir brauchen
Kultur, damit Ausgrenzung und Gewalt keine Chance
haben.
({4})
Noch einige Worte zu den Vorgängen um die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Jeder hat das
Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht das Recht
auf seine eigenen Fakten, auch nicht Frau Steinbach.
({5})
Wer durch sein Verhalten und unterschwellige Äußerungen ausländische Wissenschaftler, Sinti und Roma und
den Zentralrat der Juden aus der Stiftung vertreibt, dient
nicht dem Stiftungszweck der Versöhnung.
({6})
Wir fordern, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
die Herren Tölg und Saenger aus dem Stiftungsrat abberufen werden. Außerdem fordern wir ein Moratorium
und eine Haushaltssperre, bis geklärt ist, ob diese Stiftung in ihrer jetzigen Form überhaupt noch Sinn macht.
({7})
Ich wünsche mir, dass wieder mehr Kulturschaffende
Vertrauen in die Politik gewinnen; denn wir brauchen
dringend ihre kreativen Impulse, die Ideen der Querdenker, ihre Interpretationen unserer Gesellschaft in Klängen oder Bildern, damit wir das Wesentliche in dieser
Welt wieder erkennen können. Es ist nicht gesagt, dass
es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel wissen
meine Fraktion und ich: Es muss anders werden, wenn
es gut werden soll.
Vielen Dank.
({8})
Zu diesem Einzelplan liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts, Einzelplan 05.
Als erstem Redner erteile ich dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Erlauben Sie mir, dass ich aus aktuellem Anlass,
bevor ich in die Grundsätze der Außenpolitik einsteigen
möchte, nicht nur für die Bundesregierung, sondern für
das gesamte Hohe Haus erkläre, wie froh wir sind und
wie sehr wir begrüßen, dass aus den indirekten Gesprä6076
chen im Nahen Osten direkte Friedensgespräche geworden sind. Wir betrachten dies als einen Fortschritt. Es ist
im Augenblick noch nicht viel mehr als eine Chance.
Viele haben vor einigen Monaten nicht für möglich gehalten, dass es überhaupt noch direkte Friedensgespräche geben kann. Unser Appell von Deutschland aus ist,
dass alle Beteiligten des Friedensprozesses im Nahen
Osten alles unterlassen, was diesen Friedensprozess gefährden kann. Wir setzen auf eine Zweistaatenlösung.
Dazu zählt der vollständige Gewaltverzicht, dazu zählt
aber selbstverständlich auch das Einfrieren aller Siedlungsaktivitäten. Das ist die gemeinsame Haltung dieses
Parlaments.
({0})
Wir leisten unseren Beitrag im Nahen Osten. Wir leisten unseren Beitrag als Europäerinnen und Europäer
durch eine koordinierte Außenpolitik, wobei der Lissabon-Vertrag die Möglichkeit eröffnet, unsere Außenpolitik mehr und mehr abzustimmen. Wir alle werden in den
nächsten Jahren noch viel darüber reden, wie sich die nationale Außenpolitik vor dem Hintergrund des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der Möglichkeiten der
strukturierten Zusammenarbeit auf der Grundlage des
Lissabon-Vertrags verändert. Eines ist völlig klar: Wir
haben dann Chancen, in der Welt mit Autorität aufzutreten, wenn wir in Europa eine gemeinsame Sprache sprechen. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Lehren aus
unserer Geschichte beherzigen, gerade in den Tagen, in
denen sich der Zwei-plus-Vier-Vertrag jährt. Wir stehen
für das europäische Kooperationsmodell, das das Konfrontationsmodell überwunden hat. Wir können niemandem in der Welt vorschreiben, wie er zum Frieden findet.
Wir können aber eines tun: Wir können die europäische
Erfolgsgeschichte allen Konfliktregionen der Welt zur
Nachahmung empfehlen.
({1})
Wir wollen Kooperation statt Konfrontation. Das ist die
Lehre aus unserer Geschichte auf dem Kontinent.
Europa - das spüren wir alle - befindet sich in einer
Bewährungsprobe. Damit will ich, weil das in den ersten
Monaten die Kräfte dieser Regierung ganz überwiegend
gebunden hat, beginnen. Wir haben eine europäische
Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen gehabt.
Diese europäische Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, das war weit mehr als das Sichern unserer
Währung, das war weit mehr als das Sichern unserer
Wirtschafts- und Exportchancen. In Wahrheit ging es
auch darum, Europa als eine politische Union zu verteidigen. Es ist in diesen Zeiten nach der Wirtschafts- und
Finanzkrise in Europa natürlich leicht geworden, über
Europa auch gefällige schlechte Reden zu halten. Jedem
fällt irgendwo auch etwas ein. Aber man machte einen
großen Fehler, wenn man es nach den schwierigen Phasen, die wir in den letzten Monaten gehabt haben, zuließe, dass über die Wirtschafts- und Finanzkrise ein
Schaden am Projekt der Europäischen Union entsteht.
Die Zukunft Deutschlands, sie lag in Europa, sie liegt in
Europa, und sie ist auch in Zukunft fest in Europa eingebettet. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass
Europa keinen Schaden nimmt, auch nicht nach der
Wirtschafts- und Finanzkrise!
({2})
Es ist vor allen Dingen zuallererst auch ein großes
Friedensprojekt, das uns hier verbindet. Deswegen ist es
notwendig, dass derjenige, der Europa schützen will, bereit ist, die Regeln zu verändern. Ich habe mit Interesse
heute Morgen die Generalaussprache verfolgt und will
mir einen Punkt herausgreifen, bei dem ich doch recht
verwundert bin. Von der Opposition ist der Vorwurf an
die Bundeskanzlerin, an die ganze Regierung gerichtet
worden, man hätte bei der Rettung, der Stabilisierung
des Euro, der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise
zu spät gehandelt, sich zu lange Zeit gelassen. Ich halte
das für einen völlig unbegründeten Vorwurf, und zwar
aus einem ganz einfachen Grund.
Ich bin dabei gewesen, gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und dem Bundesfinanzminister, als die Gespräche stattgefunden haben. Am Anfang, als Griechenland in Schwierigkeiten kam, ist von uns sofort verlangt
worden: Legt ihr in Europa jetzt doch einmal einen
Scheck hin, stellt ihn aus, und dann ist die Krise vorbei;
das Problem ist gelöst. - Hätten wir das gemacht, hätten
wir gewissermaßen sofort den Blankoscheck auf den
Tisch in Brüssel gelegt, den Sie als Opposition gefordert
haben, dann hätten wir keinerlei strukturelle Veränderungen in den Nationalstaaten erlebt. Wir hätten nicht
erlebt, dass in Griechenland ein Sparhaushalt mit ernsthaften Bemühungen auch um Strukturreformen durchgesetzt wird. Wir hätten zwei Monate später schon den
nächsten Scheck ausstellen müssen und dann wieder den
nächsten Scheck ausstellen müssen. Wir hätten gutes
Geld in Wahrheit in ein Fass ohne Boden geworfen.
Deswegen war es richtig, dass die Bundesregierung
im Frühjahr bei der Lösung der Wirtschafts- und Finanzkrise gesagt hat: Wir sind bereit zur Solidarität, aber wir
erwarten auch, dass jeder seine Hausaufgaben macht.
Zum Nulltarif gibt es Solidarität nicht. Solidarität gibt es
nur, wenn es auch Selbstverpflichtung gibt.
({3})
Wir müssen jetzt die Debatte führen: Was folgt daraus
für uns in Europa? Wie müssen wir die Regeln ändern?
Dabei geht es einmal um das große Paket der Sanktionen: Was passiert, wenn eine Regierung zum Beispiel
über Jahre manipulierte Zahlen meldet oder sich über
Jahre außerhalb jeder Haushaltsdisziplin stellt oder über
Jahre entgegen dem Stabilitätspakt Schulden aufnimmt?
Die erste Sache ist: Das muss dann auch Konsequenzen
haben. Deswegen ist das, was im Hinblick auf 2004 und
2005 von der jetzigen Bundesregierung als damaliges
Fehlverhalten kritisiert wird, etwas, was uns heute noch
beschäftigt. Wir sagen in Europa heute: Ihr müsst bereit
sein, auch zu Hause stabile Staatsfinanzen zu organisieren, auch in Ländern, die eine andere Stabilitätskultur
haben als wir Deutsche. Dann bekommt man den Hinweis: Als es bei euch eng war, als ihr unter politischem
und ökonomischem Druck standet, habt ihr als großes
Land als Erstes den Stabilitäts- und Währungspakt
aufgeweicht. Es war ein historischer Fehler der Regierung von SPD und Grünen, dass sie im Jahr 2004 den
Stabilitätspakt aufgeweicht hat. Noch heute tragen wir
an den Folgen, die sich daraus ergeben.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist absolut berechtigt,
Sie dafür zu kritisieren, dass Sie in diesem Jahr erneut
nicht bereit waren, wenigstens an der Beseitigung der
Folgen dieser Politik mitzuwirken. Ich halte das für einen schweren Fehler; denn es ging natürlich nicht nur
um den Schutz der europäischen Währung, sondern auch
um den Schutz von Europa. Sich dafür einzusetzen, ist
eine wesentliche Grundlinie deutscher Außenpolitik.
Deutsche Außenpolitik ist eingebettet in die internationale Staatengemeinschaft und geschieht vor allen Dingen in Abstimmung mit der Europäischen Union.
Gerade weil wir Europa schützen wollen, arbeiten wir
jetzt daran, die Regeln zu verändern, wollen wir dafür
sorgen, dass es wirklich Konsequenzen hat, wenn ein
Land gegen die Stabilitätspflichten verstößt, zum Beispiel in der Form, dass sämtliche Infrastrukturmittel der
Europäischen Union gekürzt oder gar gestrichen werden.
Verstöße dürfen nicht folgenlos bleiben. Nachdem es
fast 40 Verstöße gegen die Stabilitätsregeln in Europa
gegeben hat, ohne dass es ein einziges Mal Konsequenzen für die entsprechenden Nationalstaaten gehabt hat,
dürfte doch jedem klar sein, dass der europäische Stabilitätspakt Zähne braucht. Wer Europa schützen will,
muss jetzt handeln.
({5})
Das bedeutet allerdings auch, dass wir nicht bereit
sind - das haben wir hier im Parlament auch in zwei großen Debatten besprochen -, einfach nur einen Krisenmechanismus zu verlängern. Statt gewissermaßen den
Hilfsmechanismus in Form der Garantiezusagen nationaler Parlamente bzw. von Nationalstaaten, also den Rettungsschirm, zu verlängern, fordern wir ganz klar, dass
in Europa eine strukturelle Veränderung stattfindet, bei
der natürlich auch die privaten Gläubiger einbezogen
werden müssen. Die Lehre aus der Krise, die wir nicht
anders hätten bestehen können als so, wie wir es getan
haben, muss sein, Bereitschaft dafür zu wecken und unseren Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Regeln ändern. Entsprechende Debatten führen wir derzeit. Es sind
schwierige Debatten, weil es viele Länder gibt, die anders vorgehen wollen.
Wir Deutschen stehen dabei übrigens nicht allein,
sondern es gibt auch sehr viele, die ganz genau wissen,
wie gefährlich es für Europa ist, wenn die Stabilitätskultur den Bach heruntergeht. Wir müssen hier unseren
deutschen Beitrag leisten. Ich glaube im Gegensatz zu
dem, was Sie hier vertreten, nicht, dass das Deutschland
isoliert. Ganz im Gegenteil: Wer jetzt dafür sorgt, dass
die Regeln in Europa verändert werden, der handelt
nicht nur im Interesse deutscher Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler, sondern er schützt und bewahrt in Wahrheit
auch den Kerngedanken der Europäischen Union. Neben
Sanktionen ist allerdings auch eine Beteiligung der privaten Gläubiger nötig, wenn es künftig noch einmal zu
solchen Krisen kommen sollte, auch wenn wir alle daran
arbeiten, dass sich dieser Fall nicht wiederholt.
({6})
- Ja, das ist genau der Punkt, warum ich das hier anführe. Statt das hier zu kritisieren - ({7})
Das, was ich gerade zusammengefasst habe, sollten meines Erachtens in dieser heißen Phase der Verhandlungen
- das sage ich vor dem Hintergrund der anstehenden Beratungen - nicht die Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen alleine verhandeln, sondern eigentlich sollte
jeder von Ihnen uns in seinen Kreisen und Parteifamilien
in Europa dabei unterstützen, damit wir Erfolg haben.
Das sollten Sie tun, anstatt hier alles immer nur zu kritisieren.
({8})
Meine Damen und Herren, wie attraktiv Europa ist,
das sehen wir derzeit auch an der Debatte, die wir auf
dem westlichen Balkan ausgelöst haben. Auch das muss
noch einmal erwähnt werden, weil wir in diesen Tagen
einen bemerkenswerten Erfolg europäischer Diplomatie
erlebt haben, und zwar bei der Frage der Lösung der
Konflikte zwischen Serbien und Kosovo. Diese Angelegenheit wird bei uns gerne etwas geringgeschätzt, aber
wer sich daran erinnert, dass es vor etwas mehr als einem Jahrzehnt noch einen Krieg in dieser Region gab,
und wer sich an die Konsequenzen erinnert, die das auch
für uns gehabt hat, der kann die Lösung der Probleme
auf dem westlichen Balkan nur mit voller Aufmerksamkeit betrachten.
({9})
Deshalb haben wir uns um die Lösung der Probleme
gekümmert. Dies hat nicht nur die Bundesregierung,
sondern haben auch viele Verbündete wie zum Beispiel
die Briten getan. Ich erwähne in diesem Zusammenhang
Catherine Ashton, über die oft schlecht geredet wird.
Aber das ist in meinen Augen sehr unfair, weil sie genau
in diesem Punkt dazu beigetragen hat, der europäischen
Diplomatie zu einem Erfolg zu verhelfen.
Es ist ein großer Erfolg. Die Serben haben ihre Resolution zurückgezogen. Sie haben sich auch auf unsere
Initiative hin der Haltung der 27 EU-Mitgliedstaaten angeschlossen. Sie haben erklärt: Wir sind jetzt auch zu direkten Gesprächen bereit. Deswegen sage ich: Dann sind
wir bereit, den Staaten des westlichen Balkans in Zukunft die europäische Perspektive anzubieten, die wir ihnen in den letzten Jahren immer angeboten haben. Sie
haben Wort gehalten, und wir sollten das bei unseren
Entscheidungen in Europa berücksichtigen.
({10})
Herr Kollege Westerwelle, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin zulassen?
Wer?
({0})
Herr Sarrazin.
Ist der jetzt auch Mitglied dieses Hauses?
Ja, schon seit einiger Zeit.
Herr Kollege, ich bitte um Entschuldigung.
Herr Kollege, ich bin nicht nur Mitglied dieses Hauses. Ich gehöre auch einer anderen Fraktion an und habe
andere Überzeugungen.
Wenn Sie jetzt noch ein Buch schreiben, bin ich platt.
({0})
Ich habe zwar überlegt, ob ich eine Partei gründe.
Aber ich bin in meiner Fraktion ganz gut aufgehoben.
Frau Roth, ich glaube, da haben Sie noch etwas zu
tun.
({0})
Entschuldigen Sie, dass ich jetzt an dieser Stelle, wo
Sie gerade über Serbien und den Westbalkan reden, eine
Frage zu dem vorherigen Punkt stelle. Uns wurde aus
dem AStV berichtet, dass Deutschland für eine Vertagung des Beschlusses von Schlussfolgerungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Van-RompuyTaskforce, der eigentlich für morgen vorgesehen war,
eingetreten ist, weil man vor Überraschungen gefeit sein
möchte.
Vor diesem Hintergrund frage ich: Glauben Sie nicht
auch, dass die Verhandlungsstrategie, in deutschen Medien davon zu sprechen, Stimmrechte auszusetzen und
Mitglieder auszuschließen, nicht ganz so passend war,
weil überall Vertragsänderungen notwendig sind? Letztendlich sind aus Deutschland keine konstruktiven Lösungsvorschläge gekommen, die durchsetzbar sind. Zum
Thema Stabilität, Stabilitätskultur und Verbindlichkeit
wird die Van-Rompuy-Gruppe keine Ergebnisse liefern,
obwohl Sie sich dort angeblich sehr engagiert haben.
Wie stehen Sie dazu?
Es ist zu einfach, wie Sie es schildern. Denn es ist
schon etwas schwieriger, mit 27 EU-Mitgliedstaaten mit
sehr unterschiedlichen Währungskulturen, Stabilitätsvorschriften und Haltungen zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Das sei einmal vorausgeschickt.
Dieses haben auch Regierungen vor uns erlebt, jedenfalls die, die das Thema Stabilität noch ernst genommen
haben. Ich denke insbesondere an die letzte Regierung
von Helmut Kohl.
({0})
- Ja, natürlich. Die gesamte Diskussion über die Europäische Zentralbank war nichts anderes als Ausdruck unserer Stabilitätskultur.
({1})
Es ist richtig, dass selbst Länder, mit denen wir eng
zusammenarbeiten, die Dinge anders bewerten. Wir haben gesagt: Entschieden wird erst, wenn es eine schriftliche Vorlage gibt; denn wir wollen Ihnen gegenüber verlässlich sein und das beachten, was diese Regierung dem
Hohen Hause zugesichert hat. Das können Sie als Parlamentarier auch erwarten. Sollen wir unverbindlich
mündlich etwas beschließen, was nachher von jedem
Land unterschiedlich interpretiert wird? Sie als Parlamentarier sollten eigentlich Wert darauf legen, dass Sie
bei der fundamentalen Frage „Was wird aus dem Euro
und der Stabilität Europas?“ etwas schwarz auf weiß auf
dem Tisch haben. An anderen Stellen beklagen Sie Geheimabreden, und jetzt schlagen Sie uns ein solches
Handeln vor. Das funktioniert nicht.
({2})
Zur europäischen Perspektive zählt in meinen Augen
vor allen Dingen auch ein Kernanliegen meiner persönlichen Arbeit im Auswärtigen Amt und in Europa, nämlich dass wir nicht nur mit den größeren Staaten in
Europa gut und solide zusammenarbeiten, sondern dass
wir mit der gleichen Aufmerksamkeit und Wertschätzung auch die kleineren und mittelgroßen Staaten in
Europa auf gleicher Augenhöhe behandeln. Das ist ein
Prinzip der ersten zehn, elf Monate meiner Amtszeit gewesen. Es ist wichtig, zu begreifen, dass das in unserem
eigenen Interesse liegt; denn nach dem Lissabon-Vertrag
werden diese kleineren und mittelgroßen Staaten in der
Findung der europäischen Entscheidungen für uns immer wichtiger und immer bedeutsamer.
Meine Damen und Herren, dazu zählt für mich auch,
dass wir Europa nicht nur als ein Europa begreifen, wie
es jedenfalls diejenigen in den letzten Jahren überwiegend wahrgenommen haben, die im Westen der Republik groß geworden sind, nämlich als ein Westeuropa.
Europa ist für uns nur komplett, wenn wir Europa umfassend verstehen. Dazu zählt ausdrücklich auch Osteuropa.
Ich habe nicht ohne Grund meinen ersten Antrittsbesuch in Warschau gemacht. Ich bin dafür auch kritisiert
worden. Ich kann Ihnen versichern, das hat zu keinerlei
Verwerfungen in Paris geführt. Viele von Ihnen wissen
auch, dass das stimmt. Aber es hat vor allem im Osten
ein wichtiges Signal gegeben. Die Freundschaft, die wir
zu unseren Nachbarn im Westen als selbstverständlich
erleben, ist - wie wir in den jüngsten Tagen gesehen haben - gegenüber unseren Nachbarländern im Osten überhaupt noch nicht selbstverständlich. Wir sind erst dann
zufrieden, wenn wir dieselbe enge Freundschaft zu allen
unseren Nachbarländern - West wie Ost - begründet haben.
({3})
Zu Geschichtsdebatten habe ich alles Notwendige gesagt.
Was das Thema der globaleren Politik angeht, so will
ich jetzt nicht auf alles eingehen. Man müsste viel zur
Türkei sagen. Sie wissen, meine Damen und Herren Kollegen, dass ich dazu nie ein öffentliches Wort gescheut
habe, auch wenn es gelegentlich nicht nur Zustimmung
bringt.
({4})
Was die globale Politik angeht, so will ich noch etwas
zur Abrüstungsagenda sagen. Ich nehme mit etwas Beunruhigung und sorgenvoll auf, wie bei uns in der öffentlichen Debatte zum Teil über Abrüstung gesprochen
wird, als ob Abrüstung ein Thema der 80er-Jahre sei.
Damit wir uns nicht missverstehen: Das richtet sich jetzt
nicht an die Opposition. Das richtet sich ausdrücklich an
niemanden in diesem Hause, sondern grundsätzlich an
({5})
- ich sage es Ihnen - to whom it may concern. - Jetzt
sind Sie überrascht, oder? Das war Englisch.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der entscheidende Punkt dabei ist, dass Abrüstung in meinen Augen, und zwar gerade im nächsten Jahrzehnt, eine ebenso
große Bedeutung für die Menschheit haben wird wie das
Thema Klimaschutz. Ich glaube, wir unterschätzen die
Gefahr, die zum Beispiel aus nuklearer Verbreitung für
den Frieden in der Welt und auch für die Bürgerinnen
und Bürger entsteht. Deshalb mag das zurzeit nicht
Thema auf den Titelseiten sein; ich muss das zur Kenntnis nehmen.
Dass ein solcher Durchbruch, den wir mit erarbeitet
haben, nämlich der Erfolg der New Yorker Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag, in den
öffentlichen Debatten nicht als eine zentrale Leistung
gewürdigt wird, enttäuscht mich und macht mich besorgt; denn wenn sich immer mehr Staaten atomar bewaffnen, dann wird die Gefahr, dass Terroristen Zugriff
auf solche Waffen nehmen, immer größer. Das ist eine
empfindliche Bedrohung der Menschheit, des Friedens,
der Bürgerinnen und Bürger auch in unserem Land. Deswegen bleibt es Überschrift und Markenzeichen der Außenpolitik dieser Bundesregierung: Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Deutsche Außenpolitik setzt
auf Abrüstung und nukleare Nichtverbreitung. Das mag
im Augenblick nicht die Titelseiten erreichen. Aber es ist
dringend notwendig.
Ich werde in der nächsten Woche gemeinsam mit Japan eine neue Gruppe von Staaten gründen, die sich besonders beim Thema „nukleare Nichtverbreitung und
Abrüstung“ engagieren wollen. Ich bitte um kräftige Unterstützung und Mithilfe bei diesem wichtigen gemeinsamen europäischen und nationalen Projekt.
({7})
Meine Damen und Herren, es gäbe noch eine Menge
über die strategischen Partnerschaften zu sagen. Ich
denke, Sie wissen, dass man nicht zu allem etwas sagen
kann. Wir müssten viel über die Werteorientierung reden.
({8})
- Dazu habe ich jetzt zweimal eine Regierungserklärung
abgegeben; das wissen Sie. Ich kann aber, wenn Sie es
möchten, gern noch etwas dazu sagen.
Was Afghanistan angeht, so will ich Ihnen ganz klar
sagen: Ich mache mir da überhaupt nichts vor. Wir stehen vor einem sehr schwierigen Wochenende. Wir sind
bereit, als internationale Staatengemeinschaft unseren
Beitrag dazu zu leisten, dass diese Wahlen auch wirklich
frei stattfinden können. Wir appellieren an die afghanische Regierung und erwarten von ihr, ihren Beitrag dazu
zu leisten, dass diese Wahlen wirklich frei stattfinden
können. Zugleich dürfen wir nicht die Illusion verbreiten, als seien dort Wahlen mit mitteleuropäischen Maßstäben zu erwarten. Auch da ist eine Portion Realismus
angebracht.
Wir werden weitere Rückschläge bei der Sicherheitslage erleben. Trotzdem bleiben wir bei dem Ziel, das wir
uns gemeinsam in London und Kabul gesteckt haben,
nämlich dass wir uns eine Abzugsperspektive erarbeiten
wollen und dass wir Präsident Karzai bei seinem Ziel unterstützen, dass er im Jahre 2014 die Sicherheitsverantwortung für sein Land übernimmt. Das heißt nicht, dass
wir uns dann aus der Verantwortung stehlen. Das heißt,
dass die Sicherheitsverantwortung übergeben wird. Das
erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht. Bei al6080
lem Respekt - Sie können alles kritisieren -: Diese Bundesregierung ist die erste Bundesregierung, die diesem
Hohen Hause ein umfassendes Afghanistan-Konzept zur
Beratung vorgelegt hat.
({9})
Wir müssten über die strategischen Partnerschaften
sprechen; sie wissen, dass wir im Augenblick in Europa
über China und Indien beraten. Wir müssten über Pakistan und vieles mehr reden. Da wir hier mehrfach darüber
beraten haben, habe ich mir erlaubt, die drei Schwerpunkte zu unterstreichen, die mir wichtig sind, in Europa
und, was das Thema Abrüstung angeht, international.
Ich möchte zum Schluss nur um eines bitten - ({10})
- Ich wollte eine Schlussbemerkung zu der Finanzverteilung machen. Herr Kollege, bisher war es immer üblich,
dass die Einbringung des Haushalts eine politische Einbringung ist und nicht das Vorlesen eines Zahlenwerkes.
Hätte ich die Zahlen vorgetragen, würden Sie mir übrigens vorwerfen, dass ich nichts zur Politik gesagt hätte.
Da kann man es Ihnen nie recht machen.
({11})
Ich möchte etwas zu dem sagen, was ich heute in der
Zeitung gelesen habe. Dort heißt es, das Auswärtige Amt
würde beim Haushalt ausgerechnet dort kürzen, wo die
Ausgaben so wichtig seien: bei der zivilen Krisenprävention, bei der humanitären Hilfe, bei der Pflege kultureller Beziehungen zum Ausland. Ich möchte dazu nur
einmal sagen: Für die zivile Krisenprävention hatten Sie
bei Rot-Grün zuletzt 16,5 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt; im Haushaltsansatz für das nächste Jahr
sind es jetzt 90,3 Millionen Euro.
({12})
Für humanitäre Hilfe hatten Sie im Schnitt 50,7 Millionen Euro im Haushalt; jetzt sind es 78,8 Millionen Euro.
Für die Pflege kultureller Beziehungen hatten Sie im
Jahre 2005, als Sie die Regierung abgegeben haben,
546 Millionen Euro im Haushalt; jetzt sind es
703 Millionen Euro. Ich sage Ihnen eines: Bei den Prioritäten für diesen Haushalt liegt diese Regierung richtiger, als Sie es jemals waren.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Bundesaußenminister, es ist, glaube ich,
nicht zu viel verlangt, dass Sie bei Ihrer Haushaltsrede,
die Sie hier über einen gewissen Zeitraum hinweg gehalten haben, zumindest zum Schluss eine halbe Minute
lang über das hätten reden sollen, was eigentlich auf der
Tagesordnung steht, nämlich über Ihren Einzelplan. Ich
glaube, Sie sind ganz bewusst über diese Frage hinweggegangen. Zum Schluss haben Sie sozusagen ein Zahlenspiel vorgelegt, das vollkommen an der Realität vorbeigeht.
({0})
Ich will in meinen Ausführungen auf diese Frage zurückkommen.
Ich will versuchen, die letzten zehn Monate Revue
passieren zu lassen. Ich will Ihnen überhaupt nicht Pathos und Demut absprechen; Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten oft genug Pathos und Demut
gezeigt. Sie haben sich auch hingestellt und gesagt: Es
ist eine Ehre, diesem Land zu dienen. Ja, das ist es in der
Tat. Ich glaube aber, man kann unserem Land und der
deutschen Außenpolitik nur dienen, wenn man Engagement, Initiative und Ideen in die Außenpolitik einbringt.
Genau das hat in den letzten zehn Monaten nicht stattgefunden. Ihre Rede hat das dokumentiert.
({1})
Ich habe selten einen Außenminister erlebt, der so fantasielos und gleichgültig mit seinem Amt umgegangen ist
wie Sie, Herr Bundesaußenminister.
({2})
Wenn man sich Ihren Einzelplan für 2011 anschaut,
ist es doch viel interessanter, zu schauen, was Sie jetzt
herausstreichen, anstatt ihn mit Zahlen zu vergleichen,
die vor fünf Jahren aktuell gewesen sind. Sie müssen
einmal die Zahlen zur Kenntnis nehmen, die Sie von Ihrem Amtsvorgänger übernommen haben.
({3})
Dann stellt sich das Zahlenwerk ganz anders dar - deswegen verstehe ich, dass Sie am Anfang gar nicht über
diesen Einzelplan gesprochen haben -: humanitäre
Hilfsmaßnahmen im Ausland: minus 20 Prozent, AfrikaHilfe: minus 22 Prozent, Krisenprävention: minus
30 Prozent, Abrüstung und Rüstungskontrolle - die Herausforderung, die Sie eben beschrieben haben -: minus
30 Prozent, Hilfe zur Demokratisierungshilfe und Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte - angeblich
ein Anliegen der liberalen Partei -: minus 50 Prozent.
Das ist ein Dokument der Handlungs- und Ideenlosigkeit. Das hätten Sie hier anders vertreten müssen.
({4})
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen, was für konkrete Auswirkungen das hat. Ich will zum einen auf die
humanitäre Hilfe zu sprechen kommen. Wir haben die
Flutkatastrophe in Pakistan erlebt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mich ein wenig dafür geschämt habe,
wie diese Bundesregierung mit der Hilfe für Pakistan
umgegangen ist, welches Geschachere am Anfang gemacht worden ist und wie wenig staatliche Mittel in die
Hand genommen wurden, um das Überleben in Pakistan
überhaupt möglich zu machen. Sie haben an die Deutschen appelliert, aber das hilft doch nichts, wenn der
Staat keine Sofortmaßnahmen ergreift. Ich vermisse es,
dass Sie in diesem Haushalt konkrete Ansätze für zukünftige Katastrophen bieten, um zum Beispiel einen
Aufbau in den betroffenen Ländern möglich zu machen.
Dafür ist deutsche Außenpolitik angetreten, und Sie setzen das auf das Spiel.
Der zweite Aspekt ist der Aufbau von Zivilgesellschaften. Auch in diesem Bereich kürzen Sie. Sie haben
eben über die Türkei gesprochen. Das ist sehr interessant. Ich bewundere die Menschen in der Türkei, die
eine Zivilgesellschaft aufbauen und offensichtlich mehr
Angst vor der Vergangenheit haben als vor einer AKPRegierung. Das sind insbesondere Künstler und Intellektuelle gewesen. Die müssen wir unterstützen. FrankWalter Steinmeier hat das getan, indem er damals die
deutsch-türkische Kulturakademie aufbauen wollte, indem er die deutsch-türkische Universität aufbauen
wollte und indem er die Ernst-Reuter-Initiative unterstützt hat. Darüber ist von Ihnen kein Wort zu hören. Sie
kürzen nur. Sie wollen sich aus diesen Initiativen verabschieden, und damit schaden Sie dem Aufbau der türkischen Gesellschaft, der dringender Unterstützung bedarf.
({5})
Es ist interessant, dass Sie erst nach einem Zwischenruf auf das Thema eingegangen sind, das Deutschland
und die deutsche Außenpolitik bewegt, nämlich Afghanistan. Sie reden sich heraus, indem Sie darauf hinweisen, dass Sie zwei Regierungserklärungen abgegeben
haben. Aber das Entscheidende ist doch: Wer beherrscht
die innenpolitische, die deutsche Debatte über Afghanistan? Das ist Ihr Kollege, der Verteidigungsminister. Er
führt eine Debatte über Afghanistan, die genau in die falsche Richtung geht. Er stellt die militärischen Initiativen
in den Vordergrund, wo wir doch wissen, dass wir politische Antworten auf die bestehenden Herausforderungen
brauchen. Dafür sind Sie zuständig, aber Sie sagen dazu
kein Wort.
({6})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Auch hier überholt Sie im Grunde genommen Ihr Kollege. Im Kabinett
sind Sie für die Herausforderungen der deutschen Sicherheitspolitik zuständig. Wo sind Sie bei den Diskussionen über die Aufgabe der Bundeswehr der Zukunft,
über die originären Fragen der sicherheitspolitischen Herausforderung?
({7})
Auch dazu hört man von Ihnen kein Wort. Ich muss
wirklich sagen: Da kommen Sie Ihrem Amt nicht nach,
werden Ihrem Amt nicht gerecht.
Sie beklagen in der Debatte zurecht - deswegen haben Sie vorhin gesagt, dass sich das nicht an die Opposition richtet - die mangelnde Aufmerksamkeit in Fragen
der Abrüstung. Sie sind mit etwas gestartet, das Sie letztendlich nicht eingelöst haben. Darüber sprechen Sie
nicht. Ich bedauere das; denn der Deutsche Bundestag
hat es unterstützt, dass alle taktischen Atomwaffen aus
Deutschland abgezogen werden sollen. Nun stehen wir
vor einer neuen Herausforderung. Man erwartet von einem deutschen Außenminister schon, dass er die Herausforderung annimmt.
Die amerikanische Regierung hat gesagt, dass sie mit
Russland über die taktischen Atomwaffen verhandelt.
Das ist gut. Wir sollten das mit sinnvollen Initiativen begleiten und unterstützen. Eine sinnvolle Initiative wäre
es, mit Russland einmal darüber zu sprechen, warum sie
die taktischen Atomwaffen noch haben. Russland hat
sie, weil es eine konventionelle Überrüstung im NATOGebiet befürchtet. Es wäre unsere Aufgabe, diese beiden
Aspekte zusammenzubringen. Sie beklagen etwas, aber
Sie bringen keine Initiativen ein. Ich erwarte von einem
Außenminister, dass er es schafft, in den nächsten drei
Jahren abrüstungspolitische Initiativen an der Realität zu
messen und nicht am Wünschbaren. Das ist die Aufgabe
einer klugen Abrüstungspolitik.
Hier sind wir wieder beim Thema. Ich habe vermisst,
dass Sie über die großen Herausforderungen mit Russland gesprochen haben.
({8})
Dazu gibt es keine Regierungserklärung. Sie beteiligen
sich an gar keiner Debatte. Die Abrüstung ist nur ein Aspekt, es geht insbesondere auch um die Menschenrechte
- ich habe eben auf den Haushalt hingewiesen - und die
Modernisierungspartnerschaft. Wir müssen versuchen,
das Land mit aufzubauen, auch um den wirtschaftlichen
Interessen in Deutschland gerecht zu werden. Auch das
muss man an dieser Stelle sagen. Natürlich wollen wir
auch Handel mit diesem Land betreiben. Kein Wort
dazu, weder in den letzten zehn Monaten noch heute.
An die Verhandlungspartner in Jerusalem gerichtet,
sagten Sie: Wir wünschen euch viel Glück! Verhandelt
gut! - Es ist im Grunde richtig - das stelle ich überhaupt
nicht in Abrede -, dass die USA es als einziges Land
schaffen, beide Parteien zueinanderzuführen. Aber deutsche und europäische Außenpolitik müssen das doch abfedern und letztlich unterstützen. Ich glaube, es wäre
gut, wenn wir die Realitäten in Palästina einfach einmal
ins Auge fassen würden.
Sie reden nicht über den Libanon. An die UNIFILDebatte will ich gar nicht erinnern. Sie waren in Syrien
beim Präsidenten. Ich frage mich: Was ist denn dabei
politisch herausgekommen? Im Nahen und Mittleren
Osten findet eine Entwicklung statt, die mir wirklich
große Sorgen bereitet. All das zeigt, dass Sie nicht auf
der Höhe der Zeit diskutieren. Sie reden zwar über Ab6082
rüstung, aber auf der anderen Seite hörten wir in den
letzten Tagen vom größten Rüstungsgeschäft, das die
USA mit Saudi-Arabien und anderen Ländern durchführen will: mehr als 60 Milliarden Dollar. Aufrüstung findet in dieser Region statt. Das ist doch aber nicht die Alternative zu einer klugen Diplomatie für den Persischen
Golf.
({9})
Sie müssen mithelfen, diese Länder davon zu überzeugen, ein regionales Sicherheitssystem zu bilden, in dem
nicht Rüstung, sondern Politik die entscheidende Rolle
spielt. Das ist es, was ich von einem deutschen Außenminister verlange.
({10})
Viele andere Dinge haben Sie ebenfalls nicht angesprochen. Auch ich habe eine begrenzte Redezeit,
möchte aber noch sagen: Ich glaube, Sie machen sich etwas vor, wenn Sie nur so über Europa diskutieren. Ich
befürchte, dass sich in Europa eine Gedankenwelt festsetzt, in der Deutschland zum ersten Mal nicht mehr an
der Fortentwicklung der europäischen Integration mitwirkt. Viele Länder in Europa denken das bereits. Ich
fürchte, Deutschland ist in den Schlusswagen, vielleicht
sogar ins Bremserhäuschen eingestiegen.
Ich glaube, die deutsche Außenpolitik hat eine andere
Aufgabe. Herr Außenminister, es reicht nicht, dienen zu
wollen. Nur durch Ideen, Arbeits- und Gestaltungswillen
verdient man sich Anerkennung und Unterstützung. Leider haben Sie in den letzten zwölf Monaten zu wenig getan. Sie haben weder Ihrem Haus noch der Außenpolitik
gedient.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege
Mißfelder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Mützenich, Ihre Schlussbemerkung fand ich so bemerkenswert, dass ich sie aufgreifen möchte.
Zunächst einmal möchte ich daher in der Debatte über
diesen Einzelplan dem Minister für die gute Kooperation in dieser Legislaturperiode danken. Ich glaube, dass
man abseits des Getöses von vorhin erstens herausheben
muss, wie gut das Miteinander im Kreis der Obleute und
im gesamten Ausschuss funktioniert, und zweitens sagen
muss, dass eine beispiellos gute Informationspolitik betrieben wird. Natürlich würden Obleute der die Regierung tragenden Fraktionen, also Herr Stinner und ich, es
gerne sehen, wenn der Außenminister uns jederzeit exklusiv für Informationsgespräche zur Verfügung stünde.
Diese Gespräche finden aber immer unter Beteiligung
der Opposition statt. So war es kein Zufall, dass die Obleute auch in dieser Woche Gelegenheit hatten, abends
ausführlich zu diskutieren. Gut, Sie waren an dem
Abend nicht da, Herr Mützenich.
({0})
- Frau Zapf war da, richtig. - In der Tat ist es aber so, dass
es keinerlei Defizite beim Miteinander und auch keinerlei
Informationsdefizite gibt. Vergleicht man das mit anderen
Ressorts oder mit der vergangenen Legislaturperiode, so
ist ein Dank an den Minister Dr. Westerwelle dafür angebracht, dass wir jederzeit Zugang zu allen wichtigen
Informationen, zu allen wichtigen Gesprächen und Hintergründen haben. Das möchte ich einmal lobend herausstellen.
({1})
Politisch kann man natürlich immer zu unterschiedlichen
Bewertungen kommen. Ich finde aber, dass der gute Stil
des Miteinanders durch Ihre Schlussbemerkung ausnahmsweise aufgebrochen wurde.
Wir planen, an vielen Stellen noch enger zu kooperieren, wenn es um die gemeinsamen Interessen der Außenpolitik geht. Dies ist aus meiner Sicht auch dringend notwendig, weil die Herausforderungen für unser Land und
die Außenpolitik unseres Landes sehr groß sind und wir
auch nicht vergessen dürfen, dass dies ein historisch besonders wichtiges Jubiläumsjahr ist. Vor dem Hintergrund 20 Jahre deutsche Einheit, vor dem Hintergrund
der großen Verträge, des Einigungsvertrages und des
Zwei-plus-Vier-Vertrages, ist es doch bemerkenswert,
mit welcher Ernsthaftigkeit heute außenpolitische, europapolitische Debatten geführt werden und welchen Stellenwert dies mittlerweile in den Diskussionen hier im
Deutschen Bundestag bekommen hat. Die Rolle des geteilten Deutschlands - ich kenne es ja nur aus den Geschichtsbüchern - war eine vollkommen andere als die
Rolle, die wir heute haben. So haben sich auch die Anforderungen an Außenminister, an Parlamentarier, aber
natürlich auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
des Auswärtigen Dienstes fundamental verändert.
Ich möchte - ich glaube, dass ich hier im Namen von
uns allen spreche - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes erneut danken - dies
tun wir mittlerweile in jeder Haushaltsdebatte -, aber
auch den vielen Angestellten, nicht nur dem diplomatischen Korps, sondern auch den Ortskräften, die auch in
schwierigen Situationen ihren Dienst für unser Land tun
und damit einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass
das Ansehen Deutschlands in der Welt in den letzten
20 Jahren gewachsen ist. Diesen Dank möchte ich besonders hervorheben.
({2})
Man muss schon sagen - es spielte in der Debatte bisher keine Rolle -, dass die Außenpolitik aktuell sehr
starke Akzente setzt. Denken Sie an die Balkan-Politik
der Bundesregierung. Herr Minister, ich finde, das, was
vergangene Woche in Bezug auf Serbien unter tätiger
Mithilfe von Ihnen und unter der Meinungsführerschaft,
die Sie dort für Deutschland errungen haben, erreicht
worden ist, bemerkenswert. Dies ist eine herausragende
Leistung, deren Bedeutung wir jetzt überhaupt noch
nicht absehen können.
({3})
Unsere Außenpolitik sollte an drei Maßstäben ausgerichtet sein - nicht nur an diesen dreien, aber auf diese
möchte ich mich jetzt konzentrieren -: Es geht um die
Wertegebundenheit, um eine interessengeleitete Außenpolitik und um Zielorientierung und Effizienzsteigerung.
Vor ein paar Tagen haben wir - Volker Kauder, unser
Fraktionsvorsitzender, Andreas Schockenhoff, der für
Außenpolitik zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende, und ich - unter dem Gesichtspunkt der Situation der Christen, aber auch anderer religiöser Minderheiten, Südostasien besucht. Gerade dort war es uns ein
besonderes Anliegen, auf die Religionsfreiheit als zentrales Thema der deutschen Außenpolitik hinzuweisen
und den Menschen Mut zu machen, in Ländern, wo sie
als Minderheit zum Teil unter Druck stehen, ihren Weg
weiterzugehen und sich engagiert zu ihrer Religion zu
bekennen.
Vor dem Hintergrund der deutschen Integrationsdebatte dürfen wir nicht vergessen, dass sich Christen in aller Welt in schwierigen Situationen befinden. Es sollte
ein Maßstab unserer konkreten Außenpolitik sein, sich
nicht nur dieser religiösen Minderheit in vielen Ländern,
sondern sich allen religiösen Minderheiten verpflichtet
zu fühlen. Deshalb rufe ich alle meine Kolleginnen und
Kollegen dazu auf, bei ihren Reisen darauf zu achten,
dass sie mit den Botschaften vor Ort, die an dieser Stelle
sehr hilfreich sind, aber auch mit vielen NGOs und weiteren Organisationen vor Ort diese Minderheiten in ihre
Besuchsprogramme integrieren. Wertegebundene Außenpolitik ist eben nicht nur das Besuchen von Repräsentanzen im Ausland, sondern vor allem auch der Dialog mit religiösen Minderheiten, um diesen den Rücken
zu stärken und als starke Nation deutlich zu machen,
dass wir hinter ihnen stehen.
({4})
Wir leiten diese wertegebundene Außenpolitik in viele
Handlungsfelder der Politik über. Die Bundesregierung
hat dies offensiv getan mit dem Afrika-Konzept, mit dem
Lateinamerika-Konzept, aber auch zum Beispiel in Form
unseres Antrags zur Religionsfreiheit. Wir können darauf
verweisen, dass dieses Thema für uns weiterhin wichtig
bleibt.
Nichtsdestotrotz treten auch immer mehr Wirtschaftsinteressen in den Blickpunkt unserer Außenpolitik. Auch
in diesem Bereich hat, glaube ich, ein Umdenken stattgefunden. Früher hat das Wort „deutsche Interessen“ zu
sehr vielen reflexartigen ideologieverzerrten Reaktionen
geführt.
({5})
- Nein, ich finde, das geschah nicht zu Recht. - Ich bin
der Meinung, dass die Menschen uns bezüglich der Außenpolitik - wir diskutieren heute über Steuermittel der
deutschen Bürger - zu Recht fragen dürfen: Wofür gebt
ihr eigentlich Geld im Ausland aus? Was machen die diplomatischen Vertretungen, was machen die Botschaften? Zu welchem Ziel führt das, und welchen Zweck erfüllt dies eigentlich?
({6})
Ich möchte für meine Fraktion besonders unterstreichen, dass wir uns der Themen Rohstoffsicherheit und
Energiesicherheit immer mehr annehmen. Wir haben
vor kurzem einen großen Kongress dazu mit der Fraktion durchgeführt und setzen dies mit vielen Fachgesprächen fort. Natürlich beißen sich an dieser Stelle - nicht
nur manchmal, sondern sehr häufig; denken Sie an
Afrika - die wertegebundenen Vorstellungen, die wir
einbringen wollen, und die Partikularinteressen einzelner Unternehmen.
Nichtsdestotrotz müssen wir versuchen, das miteinander in Einklang zu bringen, um offensiv den Wettbewerb,
in dem wir uns zum Beispiel mit China im Wettlauf um
Rohstoffsicherheit befinden, angehen und gewinnen zu
können. Wir werden ihn allerdings nur gewinnen können
- ich glaube, dass dort in den vergangenen Monaten sehr
gute Fortschritte erzielt worden sind -, wenn wir gemeinsam mit einer europäischen Außenpolitik stärker auftreten.
Dies ist beim Thema Rohstoffe besonders schwierig,
weil einige unserer Nachbarn der Meinung sind, sie
könnten dies allein tun. Ich will dafür werben, dass wir
gemeinsam weitaus mehr erreichen können. Wenn es um
Energiesicherheit, um Rohstoffsicherheit und um den
Wettbewerb mit China geht, müssen wir auf den Erfolg
der Etablierung des Europäischen Auswärtigen Dienstes
verweisen, um sagen zu können, dass wir nun auch ein
konkretes Handlungsinstrument im Ausland haben, um
europäische Außenpolitik kraftvoll zu personifizieren.
Ich stimme dem Minister zu, dass Lady Ashton an dieser
Stelle eine schwierige Aufgabe hatte, diese Aufgabe aber
- was den EAD angeht - auf einem sehr guten Weg ist.
Und wenn wir damit rechnen können, dass eventuell
eine starke deutsche Persönlichkeit diese wichtige Position in China einnehmen wird, dann halte ich auch das
für wichtig.
({7})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich einem
weiteren Thema, das Interessen der Menschen in Deutschland betrifft, widmen, und zwar der Frage von Sicherheit
und Frieden. Vorhin ist über Abrüstung geredet worden.
Ich glaube, dass wir nicht nur über Abrüstung diskutieren
müssen, sondern auch über die Bereiche, bei denen
Deutschland mit entschiedener Härte und mit ganz star6084
kem Engagement auftreten muss. Das betrifft aus meiner
Sicht den Iran.
Wenn wir in Deutschland über den Nahen Osten und
auch über die Sicherheitsinteressen Israels diskutieren,
dann hat man den Eindruck, als sei dies alles ziemlich
weit weg. Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, die Debatte unter diesen Vorzeichen zu führen.
Vielmehr glaube ich, dass wir von Anfang an klarmachen müssen: Wenn es um die Sicherheit und um das
Existenzrecht Israels geht, dann geht es dabei nicht nur
um Israels Sicherheitsinteressen, sondern um die Sicherheitsinteressen der gesamten westlichen Wertegemeinschaft. Das müssen wir mit voller Härte gegenüber dem
Iran deutlich machen. Wir müssen dort nicht nur rhetorisch, sondern mit allen zur Verfügung stehenden diplomatischen Mitteln stärker auftreten, als dies bisher der
Fall war.
({8})
Meine Damen und Herren, diese Debatte wird in Israel sehr genau verfolgt. Zu dem, was wir hier im Hause
diskutieren, bekommen wir sehr engagierte und zum Teil
auch sehr kritische Rückmeldungen. Vor diesem Hintergrund ist die gute Rolle, die Deutschland im Vermittlungsprozess im Nahen Osten spielt, besonders hervorzuheben. Die wahre Bewährungsprobe aber wird die
Auseinandersetzung mit dem Iran sein. Dabei müssen
wir uns mit voller Entschiedenheit auf die Seite Israels
stellen und alles daransetzen, dass deren und die Interessen unserer Freunde dort gewahrt bleiben und dass die
Sicherheitsinteressen der Menschen dort berücksichtigt
werden.
Ich glaube, dass sich die Außenpolitik - auch in einer
Haushaltsdebatte - den Zielen widmen muss, die wir haben. Jeden Cent, über den wir in den kommenden Wochen
beschließen wollen - insgesamt sind es etwa 3,2 Milliarden Euro -, müssen wir vor den Bürgerinnen und Bürgern
rechtfertigen können. Das heißt, wir müssen auf Effizienzsteigerungen setzen. Wir müssen Dinge auch infrage stellen. Deshalb ist klar, dass wir auch im Etat des
Auswärtigen Amtes Dinge auf den Prüfstand stellen müssen. Der Minister und unsere Haushaltspolitiker haben
schon an anderer Stelle deutlich gemacht, dass wir insgesamt eine Balance gefunden haben, mit der die Grundstruktur der auswärtigen Politik nicht infrage gestellt wird
und mit der wir die bisherige Schwerpunktsetzung beibehalten und in Afghanistan sogar massiv intensivieren
können.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, sich in den
kommenden Wochen engagiert an der Debatte über den
Haushalt zu beteiligen und einen Beitrag zu leisten, dass
die Arbeit für unser Ansehen in der Welt auch finanziell
gut ausgestattet wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Jan van Aken hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Mißfelder, Sie sind eine Gefahr für dieses Land.
({0})
Wenn Sie sich hier hinstellen und von „voller Härte“ gegenüber dem Iran sprechen, dann höre ich schon die
Panzer rollen. Daran sind Sie mit schuld. Bitte mäßigen
Sie sich, oder schweigen Sie stille, wenn es um „volle
Härte“ geht!
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle - ist er noch da? -, es gibt in Ihrem Etat ein
paar Ausgaben, die ich liebend gern einsparen würde,
zum Beispiel Rüstungslieferungen an ausländische Armeen. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie sind der
deutsche Außenminister, sozusagen unser oberster Diplomat, und Sie finanzieren Rüstungslieferungen. Aber
an diesen Etat gehen Sie gar nicht heran. Richtig radikal
kürzen Sie nur bei den wirklich wichtigen und guten Elementen der Außenpolitik:
({2})
bei der Abrüstung, bei der Flüchtlingshilfe, bei den Menschenrechten und bei der friedlichen Lösung von Konflikten.
({3})
Hier wird es meiner Meinung nach richtig gefährlich.
Denn Frieden fällt nicht einfach so vom Himmel. Man
muss etwas dafür tun. Konflikte gibt es immer und überall, im Großen wie im Kleinen. Aber manchmal führen
diese Konflikte direkt auf Gewalt und Krieg zu. Es muss
doch Ihr wichtigstes Ziel als Außenminister sein, solche
Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen, damit sie eben nicht in Gewalt und Krieg enden.
({4})
Dafür muss man gar nichts neu erfinden. Was die Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung angeht, gibt es
unendlich viele Beispiele aus der Geschichte. Weil Herr
Erler heute hier ist, möchte ich ein solches Beispiel nennen, wie das konkret funktionieren kann.
Vor drei Jahren drohte Kenia in einem Bürgerkrieg zu
versinken. Es fand eine Wahl statt, bei der sich zwei riJan van Aken
valisierende Parteien gegenüberstanden, diese Wahl ist
ganz knapp ausgegangen, es gab Unruhen und viele
Hundert Tote; Sie alle erinnern sich an die blutigen Bilder. Kofi Annan ist als Vermittler aufgetreten und hat
den damaligen Staatsminister Erler eingeladen, um den
beiden Parteien zu erklären, wie eigentlich eine Große
Koalition funktioniert, wie zwei Parteien, die sich eigentlich spinnefeind sind - das waren sich SPD und
CDU ja auch einmal, vor langer, langer Zeit -,
({5})
ein gemeinsames Programm entwickeln, eine gemeinsame Regierung bilden und vor allem - das ist ja das
Wichtigste - die Posten verteilen können. Der Einsatz
von Herrn Erler hat damals direkt dazu beigetragen, dass
die beiden Parteien in Kenia zusammen eine Regierung
gebildet haben und dass es nicht zu einem Bürgerkrieg
gekommen ist.
({6})
Es gibt noch viele andere Beispiele, wie Sie mit zivilen Mitteln Gewalt und Kriege rechtzeitig verhindern
können. Wie können Sie, Herr Westerwelle, es da
wagen, an genau diesem Punkt, bei der zivilen Konfliktbearbeitung, massive Einschnitte vorzunehmen? Im gesamten Haushalt wollen Sie hier 71 Millionen Euro einsparen. Ich sage Ihnen: Wer heute nicht versucht,
Konflikte friedlich zu lösen, der organisiert die Kriege
von morgen.
({7})
Das ist einfach nur eine falsche Politik. Wirklich
skandalös wird es allerdings da, wo Sie am Bundestag
vorbeiregieren und unsere Beschlüsse ignorieren. Sie
machen in der Außenpolitik nichts anderes als bei den
Geschenken an die Atomindustrie.
({8})
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Vor zwei Monaten,
am 1. Juli, hat der Bundestag Sie einstimmig dazu aufgefordert - ich zitiere -,
… Initiativen zur Verbesserung der humanitären
Lage in Gaza mit allem Nachdruck zu unterstützen …
„Einstimmig“ heißt, sogar Sie selbst, sogar die Kanzlerin
haben das mitbeschlossen. In Ihrem Haushalt machen
Sie aber genau das Gegenteil. Sie kürzen die Zahlungen
für die UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge um
1,7 Millionen Euro. Hier mit großartigen Gesten erst
Hilfe zu versprechen und zwei Monate später das Geld
dafür zusammenzustreichen, ist Betrug und Missachtung
unserer Beschlüsse hier im Parlament.
({9})
Genau das Gleiche machen Sie auch im Hinblick auf
den Sudan. Am 25. März dieses Jahres hat der Bundestag Sie - wiederum mit Ihren eigenen Stimmen - aufgefordert, sich für die Entsendung von mehr Menschenrechtsbeobachtern in den Sudan einzusetzen. Aber jetzt
kürzen Sie die Zahlungen für die Menschenrechtsbeobachter der UN um 1,6 Millionen Euro. Das, was
Sie, Herr Westerwelle, hier machen, ist eine Gefahr für
die Demokratie. Sie regieren Tag für Tag an Volk und
Parlament vorbei und führen sich dabei auf wie König
Guido der Viertelvorzwölfte. Damit machen Sie auf
Dauer die Demokratie in Deutschland kaputt.
({10})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Die Welt braucht
nicht mehr Waffen, sondern weniger Waffen.
({11})
Ihnen müsste eigentlich die Schamesröte ins Gesicht
steigen, wenn Sie sich, wie gerade geschehen, hier hinstellen und sagen - ich zitiere Sie -: Abrüstung hat
für uns eine ebenso große Bedeutung wie der Klimaschutz. - Dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, Klimaschutz! Denn die Mittel für Abrüstung streichen Sie radikal um 19 Millionen Euro zusammen. Meine Fraktion
und ich finden das einfach nur noch unverschämt.
({12})
Kerstin Müller hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, Sie
haben hier zwar einiges zur europäischen Finanzpolitik
und auch ein bisschen zu Europa gesagt, aber ich hätte
eigentlich erwartet, dass Sie auch etwas zu einem weiteren zentralen Thema Europas sagen, nämlich zur Türkei; denn ich meine, dass es richtig wäre, wenn der
Deutsche Bundestag das würdigen würde, was am Sonntag da passiert ist: ein wirklich beeindruckendes Referendum.
({0})
58 Prozent der Menschen in der Türkei haben sich für
zentrale Verfassungsänderungen ausgesprochen. Ich
finde die Botschaft wirklich klar: Sie wollen demokratischer, liberaler und weltoffener werden, und das Land
orientiert sich ganz klar nach Europa und nicht nach Teheran, wie es in der Debatte gesagt wird. Sie sagen Ja
zur Modernisierung. - Ich glaube, dass das seit Jahrzehnten der wirklich ernsthafteste Schritt der Türkei in
Richtung Beitrittsfähigkeit und Reformen ist. Dennoch
können sich die EU und allen voran Deutschland nicht
entscheiden, ob sie die Tür zuschlagen oder aufstoßen
Kerstin Müller ({1})
wollen. Ich muss sagen: Eine solche Reaktion finde ich
kontraproduktiv und völlig unangemessen.
({2})
Sie haben im Koalitionsvertrag eine Formel, nach der
der EU-Beitritt ein Prozess mit offenem Ende sei. Ich
glaube, dass sie offensichtlich nichts mehr wert ist; denn
einerseits haben Sie, Herr Außenminister, das Referendum ja zumindest begrüßt - ich meine, in dem Fall zu
Recht -, andererseits wurden Sie sofort von der CSU zurückgepfiffen, und zwar zum Beispiel mit der Ansage
des Vizechefs der EVP - ich zitiere -: „Westerwelle soll
der Türkei reinen Wein einschenken, der EU-Beitritt
wird sowieso nicht kommen.“
Mich würde interessieren, was Herr Polenz dazu
meint. Er hat nämlich ein gutes Buch geschrieben: Besser für beide: Die Türkei gehört in die EU.
({3})
Leider ist das nicht Regierungslinie. Man fragt sich, was
Regierungslinie in diesem Punkt ist. Ich meine, wenn
das Recht in Europa noch etwas gelten soll, dann muss
es dabei bleiben: Der Beitritt der Türkei entscheidet sich
einzig und alleine daran, ob die Türkei die Beitrittskriterien erfüllt, und nicht nach politischer Opportunität.
Ich bin der festen Überzeugung: Eine modernisierte
Türkei in der EU wäre eine zentrale Brücke in den Nahen Osten, in die islamische Welt, und würde weit mehr
zur Stabilisierung dieser krisengeschüttelten Region beitragen als irgendetwas anderes, und deshalb müssen wir
die Türkei ermutigen, auf diesem Weg weiter voranzugehen.
({4})
Herr Westerwelle, irgendwie kann ich mich allerdings
des Eindrucks nicht erwehren: Egal was Sie machen, Sie
schaffen es nicht, Tritt zu fassen und damit der deutschen Außenpolitik genügend Gewicht zu verleihen.
Entweder werden Sie vom Koalitionspartner sofort zurückgepfiffen, wenn Sie einmal etwas machen, was gut
und richtig ist - zum Beispiel bei der Türkei; allerdings
war er da heute ganz leise -, oder Sie schweigen gleich
ganz zu zentralen Feldern der deutschen Außenpolitik.
({5})
Mit nur einem Satz haben Sie heute zum Beispiel etwas zum Nahen Osten gesagt. Das ist meiner Meinung
nach ein zentrales Feld der deutschen Außenpolitik. Es
wurde zwar der deutsch-palästinensische Lenkungsausschuss eingerichtet - das ist eine gute Geschichte -, aber
({6})
- ich habe das nie anders bewertet - in den gerade wieder aufgenommenen direkten Verhandlungen spielt
Deutschland nach allem, was ich weiß, keine Rolle.
Dabei versucht die Obama-Administration unter weitaus schwierigeren Rahmenbedingungen als seinerzeit
Clinton in Camp David, einen Frieden zu vermitteln;
denn die Konfliktlinien liegen nicht nur zwischen Abbas
und Netanjahu, sondern inzwischen auch außerhalb der
Verhandlungspartner.
Da ist zum Beispiel die Hamas, die für die Spaltung
des palästinensischen Lagers und für die Fragen steht,
wie weit eigentlich Abbas’ Mandat reicht und ob eine
Zweistaatenlösung ohne Gaza vorstellbar ist. Daneben
ist das Erstarken des Iran als Regionalmacht und potenziellem Spoiler der Verhandlungen zu nennen, der mit
der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon bereits
zwei Speerspitzen in Stellung gebracht hat und je nach
Teherans Gusto den Konflikt durch Anschläge eben anheizen kann.
Es geht inzwischen also sogar um viel mehr als um
diese alten Linien im Nahostkonflikt. Es geht um die
Neuordnung einer zentralen Region im Weltgefüge. Deshalb verstehe ich die Schweigsamkeit der deutschen Diplomatie nicht. Wo ist der deutsche Außenminister in
diesem Konflikt, an dessen Regelung wir ein ganz starkes Interesse haben? Sie können noch so oft sagen: Wir
haben ein tolles Lateinamerika-Konzept gemacht. Auch
das ist natürlich schön. Aber gerade hier, unmittelbar vor
unserer Haustür, ist meines Erachtens die deutsche Diplomatie gefragt.
Ich war gerade in der Region. Bereits am 26. September - das ist schon sehr bald - könnten die Verhandlungen zu Ende sein, wenn es, wie von Netanjahu angekündigt, nicht zu einem Siedlungsstopp kommt und Abbas
dann den Verhandlungstisch verlässt. Anders als früher
gibt es aus der israelischen Gesellschaft keinen Druck
auf Netanjahu, das Moratorium zu verlängern oder zu
Ergebnissen zu kommen.
Deutschland gilt als wichtigster Verbündeter Israels in
Europa, direkt nach den USA; dies hat eine neue Umfrage ergeben. Ich meine, gerade der Gaza-Antrag, den
wir hier alle beschlossen haben, hat gezeigt: Israel ist es
nicht egal, wie gute Freunde reagieren. Das Kabinett hat
auf internationalen Druck letztlich eingelenkt und seine
Gaza-Politik revidiert. Ich meine, wir können jetzt nicht
dasitzen und auf die USA wie das Kaninchen auf die
Schlange starren, sondern wir müssen dem guten Freund
Israel auch einmal sagen: Bis hierher und nicht weiter.
Ein Haupthindernis für den Frieden sind die Siedlungen. Israel muss bereit sein, die Besatzung zu beenden.
Ein erster Schritt wäre eine Verlängerung des Siedlungsstopps. Zumindest für die Dauer der Verhandlungen,
meine Damen und Herren, sollte Israel dazu bereit sein.
({7})
Hier sind klare Worte und Initiativen des deutschen
Außenministers und auch der Bundeskanzlerin gefragt.
Sie ist eine Freundin Israels. Das ist gut, aber jetzt wäre
es notwendig, hinzufahren und zu reden. Man muss das
gar nicht als Lautsprecher machen, sollte aber zumindest
intervenieren, um die amerikanischen Bemühungen zu
Kerstin Müller ({8})
unterstützen. Die Amerikaner fragen uns nämlich in Gesprächen: Wo sind eigentlich die Europäer? Wo sind die
Deutschen, die uns an einer solchen Stelle einmal unterstützen könnten? An dieser Stelle kommt wenig bis gar
nichts.
Bei anderen zentralen Themen ist es ähnlich, zum
Beispiel bei der Bundeswehrreform. Auch dazu haben
wir nichts von Ihnen gehört. Sie überlassen die Debatte
vollständig dem Verteidigungsminister, obwohl ich
finde, dass ein Wort des Außenministers nötig wäre, damit das Militärische in der deutschen Außenpolitik in
Zukunft nicht eine noch stärkere Rolle erhält. Das droht
nämlich, wenn sich das Konzept von Herrn zu
Guttenberg durchsetzt. Darin ist von einem „ganzheitlichen Ansatz“ die Rede, habe ich in diesem Vorkonzept
gelesen. Aber was ist das für ein ganzheitlicher Ansatz,
wenn nur das Militärische ausbuchstabiert wird und das
Zivile zu kurz kommt? Ich glaube, die deutsche Außenpolitik muss hier dafür sorgen, dass es in die richtige Balance kommt. Zivile Instrumente sind erste Wahl, militärische Mittel ganz klar letzte Wahl.
Stattdessen - Kollege Mützenich hat es angesprochen wird dann genau in diesem Bereich gekürzt: der Etat für
zivile Krisenprävention um ein Drittel, die Demokratisierungshilfe um die Hälfte. Der Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention“ wird sowieso links liegen gelassen,
obwohl ich finde, dass er durchaus helfen könnte, das zivile Profil der deutschen Außenpolitik zu stärken. Kurz:
Beim Thema zivile Krisenprävention sind Sie mutlos
und ohne Visionen. Ich glaube, damit schadet man den
zentralen Anliegen deutscher Außenpolitik, für die die
Verhütung von Konflikten und der Einsatz ziviler Mittel
Vorrang hat.
Meine Damen und Herren, Schweigen ist meiner
Meinung nach nicht die höchste Form der Diplomatie.
Wir erwarten vom deutschen Außenminister, dass er sich
zumindest in denjenigen Krisengebieten Gehör verschafft und als ernsthafter Makler auftritt, wo Deutschland Einfluss nehmen kann und muss: zum Beispiel im
Nahen Osten und in Afghanistan. So, wie es jetzt läuft
- im Höchstfall mit den anderen mitlaufen -, verlieren
wir an Einfluss. Herr Westerwelle, Sie müssen das ändern. Sie müssen politische Initiativen ergreifen. Ansonsten gehen Sie vielleicht als Don Quichotte, als „Ritter der traurigen Gestalt“, in die Geschichte ein, der
gegen Windmühlen kämpfte und doch nichts bewegte.
Ich glaube, das wäre nicht so nett, oder? Für das Land
wäre das nicht gut.
({9})
Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Verlauf der Debatte von heute
Morgen vergegenwärtige, dann habe ich das Gefühl,
dass wir hier im falschen Film sind.
({0})
Wenn ich mir die Einlassungen des Oppositionsführers
bzw. des Parteivorsitzenden der SPD von heute Morgen
zur Außenpolitik vergegenwärtige, dann kann ich Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, nur empfehlen: Den Probevertrag des Praktikanten, der diese Rede
geschrieben hat, würde ich nicht verlängern.
({1})
Dies zeigt ein weiteres Mal, dass in Ihrer Partei Außenpolitik bei der Parteiführung nicht die geringste Rolle
spielt. Herr Gabriel hat heute Morgen seine unsägliche
Eröffnungsrede zu Außenpolitik und Afghanistan von
Anfang dieses Jahres fortgesetzt. Das ist keine ernstzunehmende Opposition für uns.
({2})
Die Redner der Opposition, die sich hier abgearbeitet
haben, haben sich an dem Parteipolitiker Westerwelle
und bedauerlicherweise zum Teil auch an dem Menschen Westerwelle abgearbeitet. Ihre Einlassung zum
Schluss, Herr Mützenich - Sie wissen, dass ich Sie
schätze -, war durchaus grenzwertig. Ich möchte jetzt
wieder zu außenpolitischen Themen zurückkehren.
({3})
Dieser Haushalt ist der erste Haushalt unter den
Bedingungen der Schuldenbremse, dem die Regierung
Rechnung tragen musste. Das hat sie getan, und zwar
verantwortungsvoll und mit der entsprechenden Schwerpunktsetzung. Wir haben das Vermächtnis der alten Regierung übernommen, und die jetzige Regierung geht
verantwortungsvoll damit um.
Es sind einige Kritikpunkte genannt worden. Herr van
Aken, Sie sind offensichtlich nicht bereit, sich den Haushalt etwas genauer anzuschauen. Wie kommt es denn,
dass sich bei einigen Positionen Veränderungen ergeben
haben? Das liegt zum Beispiel daran, dass sich das Abwracken russischer Atom-U-Boote langsam dem Ende
nähert. Deshalb werden dafür keine Mittel mehr bereitgestellt. Das ist richtig und wichtig, und es ist gut so. So
werden wir auch weiter vorgehen. Wir werden keine
Mittel für russische Atom-U-Boote bereitstellen, die es
gar nicht mehr gibt. So wird diese Regierung nicht arbeiten.
({4})
Der Grundvorwurf ist, dass Minister Westerwelle und
diese Regierung nichts erreicht haben.
({5})
Das ist völlig falsch. Ich kann nur einige Punkte ansprechen. Was Afghanistan angeht, wissen wir alle, dass die
Situation schwierig ist. Kein Mensch - weder der Minis6088
ter noch wir - sagen, dass die Situation rosig ist. Aber
vergleichen Sie die Situation der deutschen Politik heute
mit der vor zehn Monaten! Dann werden Sie sehen, dass
in der Zwischenzeit die Konferenz in London stattgefunden hat, angestoßen von Deutschland und organisiert
von diesem Außenminister. Das Ergebnis der Konferenz
in London ist, Herr Mützenich - das haben Sie in Ihrer
Amtszeit nicht geschafft -, dass wir erstmals in der
NATO ein einheitliches Gesamtkonzept haben.
Sie haben von vernetzter Sicherheitspolitik geredet.
Wir tun etwas. Die Zusammenarbeit zwischen Auswärtigem Amt und BMZ ist beispielhaft. Kann sich jemand
von Ihnen vorstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass Herr Steinmeier und Frau Wieczorek-Zeul in einem
Flugzeug gereist wären? Das kann ich mir beim besten
Willen nicht vorstellen.
({6})
Die beiden Minister sind gemeinsam nach Afrika gereist und haben dort die wichtige Botschaft übermittelt,
dass in Deutschland tatsächlich erstmals - darin sind wir
besser als vor einem Jahr; das können Sie sich hinter die
Ohren schreiben - eine Vernetzung in aktueller Politik
zwischen den einzelnen Ressorts erfolgt.
({7})
Das Thema Balkan ist angesprochen worden. Ich
sage es sehr knapp: Was wir erlebt haben, ist mit drei
Namen verbunden, die ich in der Reihenfolge nenne, wie
ich sie sehe: Westerwelle, Hague und Ashton. So einfach
ist die Welt. Ohne das energische und zupackende Eingreifen von Westerwelle in Serbien wäre es nicht so weit
gekommen. Das ist auch ein Erfolg deutscher Außenpolitik. Damit stehen wir besser da als vor einem Jahr.
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({8})
Das nächste Thema ist der Nahe Osten. Frau Müller,
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir bei diesen
Verhandlungen eine wesentliche, eigenständige deutsche
Verhandlungsrolle spielen können. Das wollen Sie uns
sicherlich nicht vormachen. Das meinen Sie doch selber
nicht. Ich kenne Sie doch, Frau Müller.
Außenminister Westerwelle hat dazu beigetragen,
dass das Quartett, das im Tiefschlaf lag - ich habe einige
Kameraden persönlich besucht und kann Ihnen sagen,
dass der Schlaf sehr tief war -, aufgeweckt wurde. Jetzt
gibt es eine neue Initiative des Quartetts. Auch damit
stehen wir besser da als vor einem Jahr, Herr Mützenich.
({9})
Thema Auslandseinsätze: Afghanistan habe ich
schon erwähnt. Ich weise nur kurz darauf hin, dass wir
bei UNIFIL eine Umorientierung auf das Wichtige und
Richtige vorgenommen haben, nämlich die Ausbildung
der libanesischen Armee. In diesem Punkt sind wir besser als vor einem Jahr. Wir verkleinern die Auslandseinsätze dort, wo es möglich ist.
({10})
Im Kosovo haben wir die KFOR-Truppenstärke von
15 000 auf 10 000 und dann auf 5 000 Soldatinnen und
Soldaten gesenkt. Darin sind wir besser als vor einem
Jahr, Herr Ströbele.
Wir haben lange gefordert, dass das Auswärtige Amt
endlich Regionalkonzepte vorlegt. Wir haben ein Regionalkonzept vorgelegt, das erfolgreich implementiert
worden ist. Damit sind wir besser als vor einem Jahr,
Herr Mützenich. Das hat Ihre Regierung nicht zustande
gebracht, obwohl Sie es eigentlich auch wollten.
Wir sind in einem weiteren Punkt besser, in dem wir das gestehe ich zu - sicherlich nicht einer Meinung sind:
Der Außenminister sieht seine Aufgabe auch ganz klar
darin, die deutschen wirtschaftlichen Interessen im
Ausland zu vertreten. Ich weiß, das ist ideologisch kontrovers. Sie wollen das nicht. Aber ich biete Ihnen an,
liebe Kollegen von der SPD: Falls es in Ihrem Wählerstamm noch Arbeiter gibt, besuche ich jeden Arbeiterstammtisch und diskutiere darüber, ob es auch Aufgabe
des Außenministers ist, Außenwirtschaftspolitik zu betreiben. Ich glaube, dass ich recht bekomme und nicht
Sie. Bei den Grünen ist das kein Thema. Sie haben keine
Arbeiter in den eigenen Reihen. Die Lehrerinnen und
Lehrer bei Ihnen sind so abgesichert, dass das kein
Thema ist.
({11})
Dass die Welt nicht in Ordnung ist, ist völlig klar; das
wissen wir. Aber ich konnte an diesen wenigen Beispielen darlegen, dass der Anwurf und der Angriff, dass
diese Bundesregierung außenpolitisch nichts zustande
gebracht hat, völlig falsch sind und herbeigeredet sind.
Aber das wird nicht verfangen. Ich bin gerne bereit, das
noch zu vertiefen, wenn Sie mir längere Redezeiten geben, und zwar jederzeit und jeden Tag.
Herzlichen Dank.
({12})
Der Kollege Klaus Brandner spricht jetzt für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Minister Westerwelle hat in
seinen Reden die Marke „made in Germany“ zum
Kennzeichen seiner Außenpolitik erklärt. „Made in Germany“ ist - darin stimme ich Ihnen zu, Herr Minister ein Markenzeichen bei Produkten und Dienstleistungen.
Das ist auch ein Markenzeichen deutscher Außenpolitik,
wenn Qualität, Kontinuität und Verlässlichkeit dahinterstehen.
Qualität, Kontinuität und Verlässlichkeit, das ist, was
viele Menschen mit dem Angebot unserer auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik verbinden. Deshalb freue
ich mich, dass auch in diesem Jahr wieder fast ein Viertel des Etats in diesen wichtigen Bereich der deutschen
Außenpolitik investiert wird. Das ist ein Zeichen der
Kontinuität, das gerade wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten zu schätzen wissen.
Im Gegensatz zu dem, was der Minister gerade vorgetragen hat, lässt sich anhand der Zahlen aber deutlich
machen, wer tatsächlich dafür steht. Im Jahr 2005 wurden in diesem Etatbereich 546 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Dann wurde dieses Themenfeld unter dem
damaligen Bundesaußenminister Steinmeier kontinuierlich ausgebaut. 2009 stiegen die Mittel auf 726 Millionen Euro. Schon 2010 wurden die Mittel von der schwarzgelben Bundesregierung um 3 Millionen Euro gesenkt.
In diesem Jahr sollen sie auf 703 Millionen Euro gesenkt
werden. Daran kann man sehr schnell sehen, wer für
Kontinuität steht, wer der deutschen Außen-, Kulturund Bildungspolitik höchste Bedeutung beigemessen hat
und beimisst und wer nicht.
({0})
Es ist gut zu wissen, dass auch in diesem Jahr die
politischen Stiftungen, die Auslandsschulen, der DAAD
und viele Akteure im Bildungsbereich in der deutschen
Außenpolitik durch stabile Mittelansätze Wertschätzung
für ihre Arbeit erfahren. Es wird aber deutlich, dass die
Bundesregierung und insbesondere der Bundesminister
einen sehr gespaltenen Haushaltsentwurf vorgelegt haben; denn allein die Beispiele, die ich gerade genannt
habe, reichen für eine verlässliche und qualitativ hochwertige Politik „made in Germany“ nicht aus.
Noch zu Jahresbeginn haben Sie, Herr Minister, hier
an gleicher Stelle neben der auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik weitere Schwerpunkte Ihrer Außenpolitik vorgestellt, zum Beispiel die Friedens- und Abrüstungspolitik. Wo finden wir nun diese Schwerpunkte im
Haushaltsplan wieder? Die Mittel für die Unterstützung
von internationalen Maßnahmen auf den Gebieten der
Krisenprävention, der Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung sollen um rund 30 Prozent gekürzt werden,
und das, obwohl der Bedarf an solchen Maßnahmen
nicht geringer, sondern eher größer geworden ist.
({1})
Kontinuität und Verlässlichkeit als Markenzeichen deutscher Außenpolitik sehen aus meiner Sicht anders aus.
Bei den Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit sind
es sogar rund 32 Prozent, um die die Mittel gekürzt werden sollen. Ich erkenne nicht, dass die Bedarfe entfallen
sind. Sie haben in Ihrer Rede gerade vor wenigen Minuten noch deutlich gemacht, welche große Bedeutung Sie
diesem Themenfeld beimessen und welche Aufgabenstellungen Sie für sich und Ihr Haus sehen. Aber Ihre
Mittelkürzungen in diesem Etat stehen in fundamentalem Widerspruch zu dem, was Sie gerade vorgetragen
haben.
({2})
Sehr geehrter Herr Minister, noch zu Jahresbeginn haben
Sie die deutsche Friedenspolitik und die Maßnahmen zur
Abrüstung und Nichtverbreitungszusammenarbeit als
das Wertvollste bezeichnet, das Deutschland an politischem Inventar zu bieten hat. Nur acht Monate später
sollen die Ansätze um beinahe ein Drittel gekürzt werden. Ich sage es deutlich: Das entspricht nicht meinem
Bild von Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.
Herr Minister, Sie betonen, dass deutsche Außenpolitik wertegeleitet ist und bleiben muss. Ja, ich glaube, wir
alle hier im Hause stimmen dem uneingeschränkt zu;
doch ich frage mich, welche Werte gemeint sein könnten, wenn zum Beispiel der Mittelansatz für die humanitären Hilfsmaßnahmen, über die wir gerade gesprochen
haben, um 20 Prozent gekürzt wird, und das angesichts
der furchtbaren Katastrophen, die wir im letzten Jahr in
Haiti, in Chile oder jetzt in Pakistan zu beklagen haben.
Am Schluss Ihrer achtzehnminütigen Rede haben Sie
zwei Minuten gebraucht, um zu sagen, wer die Vorgänger waren, was diese gemacht haben und was Sie gemacht haben. Dazu will ich Ihnen eines sagen: Wir sind
2005 mit 53 Millionen Euro für humanitäre Hilfe gestartet, aber es wurden 71 Millionen Euro ausgegeben. Die
damalige Große Koalition hat daraus die Lehren gezogen und den Titel erheblich aufgebaut. 2009 waren es
102 Millionen Euro. Im letzten Haushalt, den Sie zu verantworten haben, ging man schon auf 96 Millionen Euro
herunter. Auch darüber wurde gestritten. Jetzt haben Sie
nur noch 76 Millionen Euro in diesem Haushalt vorgesehen. Von einem Ausbau Ihres Haushalts in Ihren politischen Kernfeldern kann wahrlich keine Rede sein.
({3})
Ich will gar nicht sagen, dass ich - wie viele andere
Bürger in diesem Land - darüber beschämt war, mit welchen Kleinstbeträgen ein ökonomisch so starkes Land
wie Deutschland den Menschen in Pakistan angesichts
der Katastrophe zu Hilfe gekommen ist. Ich frage mich
bei diesem Punkt auch, von welchen Werten die deutsche Außenpolitik geleitet wird, wenn der Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur
Förderung der Menschenrechte“ um über 50 Prozent gekürzt werden soll. Ich finde, hier wäre der richtige Ort,
um Deutschland zu präsentieren, indem wir dank der anerkannten Arbeit der Hilfsorganisationen zur Stelle sind,
wenn Hilfe dringend gebraucht wird. Das wäre eine Außenpolitik „made in Germany“, wie ich sie mir vorstelle.
({4})
Meine Damen und Herren, wir können hier nicht über
den Etat des Auswärtigen Amtes sprechen, ohne Afghanistan zu erwähnen. Um es gleich vorwegzunehmen:
Die zivilen Wiederaufbauhilfen sind nötig und richtig,
doch dieser besondere Bedarf braucht aus meiner Sicht
auch eine schlüssige und besondere Finanzierung. Noch
vor wenigen Monaten hat meine Fraktion der Verdoppelung der Mittel für die Afghanistan-Hilfen zugestimmt,
weil sie zusätzlich, also on top, zum Einzelplan 05 veranschlagt wurden und somit nicht die Handlungsfähigkeit des Auswärtigen Amtes in anderen Regionen der
Welt gefährdeten.
Heute finden wir einen Haushaltsentwurf vor, bei dem
ein Drittel der Mittel für die politischen Kernaufgaben
ausschließlich in eine Region, nämlich nach Afghanistan, fließen soll. Das ist eine Entwicklung, die wir so
nicht unterstützen können. Ich sage es deutlich: Das
Auswärtige Amt muss überall in der Welt politisch handlungsfähig bleiben und darf nicht ein Regionalbüro für
Afghanistan werden.
Herr Minister, viele haben mir gesagt, dass Sie mit Ihrer Zustimmung zu den tiefen Einschnitten nur Ihren
solidarischen Beitrag zu den Kürzungsmaßnahmen der
Bundesregierung leisten wollten. Ich begrüße es, wenn
Menschen mit anderen solidarisch sein wollen. In diesem Fall kann ich diesen Begriff von Solidarität aber
nicht nachvollziehen. Für mich ist Solidarität ein Prinzip, das die Verantwortung der Stärkeren gegenüber den
Schwächeren betont. Ich verstehe deshalb nicht, dass die
Leistungen für die Ärmsten und Armen in Katastrophenund Krisengebieten zum Beispiel nur gekürzt werden,
um die Steuergeschenke an Hoteliers und reiche Erben
nicht rückgängig machen zu müssen.
({5})
Herr Kollege, meinen Sie, Sie könnten zum Ende
kommen?
Das verstehe ich jedenfalls nicht unter Solidarität
oder unter einer wertegeleiteten Politik „made in Germany“. Ich baue darauf, dass im Rahmen der Haushaltsberatungen gemeinsam für diese Werte gestritten wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kaum ein Thema hat Europa und die ganze Welt
in diesem Frühjahr mehr in Atem gehalten als die Krise
des Euro. Seither sind viele gute Vorsätze gefasst worden, aber man hat den Eindruck, dass der Reformeifer
schon merklich erlahmt ist.
Deswegen werden wir sehr genau beobachten müssen, was Van Rompuy mit seiner Arbeitsgruppe morgen
im Rahmen des Sondergipfels der Staats- und Regierungschefs vorlegt. Es ist bislang durchgesickert, dass
der einzige Vorschlag, der auf Konsens stoßen könnte,
darin besteht, ein europäisches Semester einzuführen.
Ich begrüße zwar diese Zielrichtung und begrüße auch,
dass dabei das Budgetrecht der nationalen Parlamente
nicht angetastet wird, aber das wird zu wenig sein. Wir
können nicht mit lauen Kompromissen auf eine solche
gewaltige Krise reagieren. Wir haben bei den Turbulenzen auf den Finanzmärkten festgestellt, dass die Akteure
auf diesen Finanzmärkten geradezu unerbittlich kompromisslos reagieren. Deswegen wird man Vertrauen auf
diesen Märkten nicht dadurch schaffen, dass man Kompromisspakete schnürt und politische Rabatte gewährt.
Vielmehr besteht das einzige Mittel, um Vertrauen zu
schaffen, darin, dass man klare Regeln schafft und darauf achtet, dass diese Regeln strikt eingehalten werden.
Deswegen stehen wir vor schwierigen Verhandlungen.
Sie müssen das Ziel haben, dass Haushaltssünder Konsequenzen spüren. Sonst werden wir solche Krisen nicht
dauerhaft beilegen können.
Ich habe einige Sympathie dafür, dass wir automatische Sanktionen einführen. Dazu - das ist uns bekannt müssten die Stimmenverhältnisse geändert werden, was
eine Vertragsänderung erfordert. Ich habe noch viel
mehr Sympathie für eine Schuldenbremse. Auch dafür
müsste man die Verträge ändern. Aber wir spüren doch
gerade bei uns, dass bei aller Schwierigkeit, einer solchen Schuldenbremse gerecht zu werden, dieses Instrument eine heilsame Wirkung auf die Haushaltsberatungen bei uns im Deutschen Bundestag hat. Deswegen
sollten wir uns nicht von dem Argument beeindrucken
lassen, Vertragsänderungen seien zu schwierig und nicht
zu erreichen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen ohnehin Vertragsänderungen vornehmen, weil wir Irland
im Zuge der Ratifikation des Lissabon-Vertrages Zugeständnisse gemacht haben, die durch Vertragsänderungen eingelöst werden müssen. Wir werden in absehbarer
Zeit die voraussichtlichen Beitritte von Kroatien und Island zu beraten haben. Auch in diesem Zusammenhang
sind Vertragsänderungen unumgänglich. Ich plädiere
übrigens nicht für eine Paketlösung, aber man kann in einem zeitlichen - nicht sachlichen - Zusammenhang Vertragsänderungen durchführen, um den Euro zu stabilisieren.
({0})
Der deutsche Vorschlag, ein geordnetes Insolvenzregime einzuführen, greift die Lücke auf, die in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union besteht
und die eine Ursache für die Turbulenzen gewesen ist.
Wir können in der Wirtschafts- und Währungsunion niemanden ausschließen, auch wenn er noch so oft und
stark die Regeln bricht. Wir dürfen aber nach den Verträgen auch nicht einfach für die Haushaltssünden unserer
Partner in der Europäischen Union einstehen. Deswegen
ist es notwendig, diese Lücke dadurch zu schließen, dass
wir ein geordnetes Insolvenzregime errichten. Wenn das
in der Europäischen Union nicht durchsetzbar sein
sollte, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, ein solches Regime auf internationaler Ebene zu etablieren;
denn diese Währungsturbulenzen sind keineswegs eine
Besonderheit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, sondern das Merkmal dieser Vorkommnisse
waren gerade die weltweiten Auswirkungen. Ich hätte
ohnehin mehr Verständnis dafür, wenn wir eine internationale Konvention unter dem Dach des Internationalen
Währungsfonds etablieren könnten. Diejenigen, die
diese Konvention nicht ratifizieren wollten, würden sie
spätestens dann ratifizieren müssen, wenn sie Hilfe, die
durch die Konvention möglich wäre, in Anspruch nehmen wollten. Daher sollten wir dieses Thema auf einer
höheren Ebene weiterverfolgen und uns einen internationalen Insolvenzmechanismus überlegen.
({1})
Ich glaube, dass wir schon heute sehr deutlich sagen
können: Bei jeder künftigen Unterstützung und Stabilisierung unserer Währung müssen zwingend die Gläubiger in Haftung genommen werden. Ich halte es für ein
Menetekel, dass es uns mit unseren bisherigen Rettungsschirmen nicht gelungen ist, die Gläubiger mit ins Boot
zu nehmen. Wir können nicht auf der einen Seite den
Gläubigern die hohen Zinsen lassen, die sie als Risikoprämie erhalten, dann aber, wenn das Risiko eintritt, die
Konsequenzen allein dem Steuerzahler aufbürden. Hier
müssen wir zwingend dazu kommen, dass die Gläubiger
mit in die Haftung genommen werden.
({2})
Wenn die Kommission nun vorschlägt, den Rettungsschirm, den wir im Frühjahr beschlossen haben, zu entfristen, also nicht nur bis 2013 bestehen zu lassen, dann
müssen wir dem strikt entgegenhalten: Die Befristung
war eine Geschäftsgrundlage für unsere Zustimmung zu
dem Rettungsschirm. Wir haben ausdrücklich gesagt,
dass wir nicht zu einer Transferunion kommen wollen
und auch keinen dauerhaften Hilfsmechanismus etablieren wollen.
({3})
Von daher bedanke ich mich beim Außenminister und
auch beim Herrn Staatsminister Hoyer dafür, dass sie
hier klar gegen eine Entfristung des Hilfsfonds Stellung
genommen haben. Das zeigt, dass wir innerhalb der Koalition in diesen Finanzfragen, die ja von größter Bedeutung sind, bestes Einvernehmen haben. Ich füge hinzu:
Namentlich zwischen CSU und FDP gibt es in diesen
Fragen ein hohes Maß an Einvernehmen.
({4})
Zusammenfassend sei gesagt: Wir brauchen substanzielle Reformen zur Stabilisierung der Euro-Zone, nicht
nur deshalb, weil wir der größte Garantiegeber sind, sondern auch deshalb, weil der Euro eine identitätsstiftende
Wirkung in der Europäischen Union hat. Wir sollten
ernsthaft überlegen, das Mandat der Van-RompuyGruppe noch etwas zu verlängern, wenn die Ergebnisse
so dünn ausfallen sollten, wie wir das zum jetzigen Zeitpunkt befürchten müssen. Aber wir müssen aufpassen,
dass wir das nicht aufs Spiel setzen: Der Euro hat eine
große identitätsstiftende Wirkung in der Europäischen
Union. Wir müssen die Stabilitätskultur erneuern. Ich
bin fest davon überzeugt: Das wird die Europäische
Union weiter stärken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Michael Leutert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, Sie haben Anfang dieser Woche der
Stuttgarter Zeitung ein Interview gegeben und darin verkündet, deutsche Außenpolitik müsse wertorientiert und
interessengeleitet sein. Welche Interessen Sie damit meinen, haben Sie auch noch gleich gesagt, nämlich die der
deutschen Unternehmen im Ausland. Die Frage ist nur,
wie das umgesetzt wird.
Anfang August haben Sie als Vizekanzler eine Kabinettssitzung geleitet. Darin wurde das LateinamerikaKonzept - das ist heute schon einmal angesprochen worden - beschlossen. Dieses Papier zeigt meines Erachtens
exemplarisch, was unter wertorientierter und interessengeleiteter Außenpolitik ganz konkret verstanden
wird. Dabei geht es, kurz gesagt, darum, den deutschen
Einfluss im ehemaligen Hinterhof der USA wesentlich
zu verstärken.
Wenn man sich einmal den Weg der Entstehung dieses Konzepts anschaut, dann muss man sagen: Es gibt in
der Regierung sehr wohl eine Kontinuität; denn ob
Stichwort „Steuergeschenk an die Hoteliers“, ob Stichwort „Laufzeitverlängerung für die AKWs“, ob Stichwort „Pharmalobby und Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz“: Immer ist es derselbe Weg; Schwarz-Gelb
ist Erfüllungsgehilfe für die Großkonzerne und Lobbyisten.
({0})
In diesem Fall ist es wieder so. Ich möchte das auch kurz
skizzieren.
Anfang dieses Jahres, im März, hat die sogenannte
Lateinamerika-Initiative der deutschen Wirtschaft
Empfehlungen zu den deutsch-lateinamerikanischen
Wirtschaftsbeziehungen an die Bundesregierung gesandt. Darin ist von der zunehmenden Bedeutung des
Wirtschaftsstandorts Lateinamerika, von dessen Reichtum an Bodenschätzen und Energieressourcen die Rede.
Von der Industrie wird gefordert, dass die deutsche Politik endlich ihre wirtschaftlichen Interessen vertreten soll.
Ganz konkret heißt das, die Bundesregierung solle sich
doch bitte dafür einsetzen, dass die lateinamerikanischen
Bankenmärkte geöffnet werden und auf Schutzzölle und
andere Maßnahmen für die dort ansässige Wirtschaft
verzichtet wird.
Lediglich fünf Monate später ist die besagte Kabinettssitzung. Das Konzept wird beschlossen. Sie wiederholen fast wortwörtlich Formulierungen der Industrie
und sichern zu, dass die Bundesregierung mit aller Entschiedenheit gegen Marktbeschränkungen kämpfen
werde.
Letzte Woche, lediglich einen Monat später, fand hier
in Berlin der Wirtschaftstag statt, zu dem die über
200 Leiter der Auslandsvertretungen und über 1 000 Unternehmer und Wirtschaftsfunktionäre geladen gewesen
sind.
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage von Frau
Schuster zulassen?
Sofort. - Das nenne ich effektives Arbeiten.
({0})
Komisch an dieser ganzen Angelegenheit ist lediglich,
dass das immer nur dann funktioniert, wenn die Interessen von Großkonzernen, egal ob es Energiekonzerne,
Pharmakonzerne oder Hotelkonzerne sind, bedient werden. In anderen Punkten klappt so ein effektives und
schnelles Arbeiten der Regierung nicht.
({1})
Frau Kollegin, bitte.
Herr Kollege, sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Ihre Schilderung der Chronologie hier
komplett falsch ist? Wir haben als Allererstes in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass wir ein neues, ressortübergreifendes Lateinamerika-Konzept auf den Weg
bringen wollen. Das bisherige Lateinamerika-Konzept
stammte aus dem Jahr 1995 und ist der veränderten
Weltlage nicht mehr gerecht geworden. Ich bitte Sie sehr
darum, Ihre Ausführungen in diesem Punkt zu korrigieren.
In unserem Konzept geht es ja beileibe nicht nur um
Wirtschaftsinteressen, sondern auch um Umweltschutz,
erneuerbare Energien und Biodiversität sowie Menschenrechte.
({0})
Der Erstellung des Konzeptes ging ja auch eine Reise
voraus; dabei wurden unter anderem mit der GTZ Gespräche in Brasilien über die Zertifizierung von Tropenhölzern und über Biodiversität geführt. Was Sie hier dargestellt haben, entbehrt jeder Grundlage.
({1})
Liebe Kollegin, ich nehme das sehr wohl zur Kenntnis. Traurig ist allerdings, dass Sie nicht in der Lage waren, ein eigenes Konzept vorzulegen,
({0})
sondern dass Sie tatsächlich die Hilfe eines Industrieverbandes benötigt haben, um etwas auf die Reihe zu bringen. Das ist die Wahrheit.
({1})
Wie sieht es denn im vorliegenden Haushalt mit der
Werteorientierung aus? Das Bild, das sich mir da bietet, ist ein Bild des Grauens. Darüber bin ich wirklich erschüttert. Entsprechende Zahlen sind ja hier schon genannt worden; ich möchte aber trotzdem noch einmal
einige nennen. Seitdem Sie das Amt des Außenministers
übernommen haben, seit Oktober 2009, wurden die freiwilligen Leistungen an die Vereinten Nationen um
21 Prozent heruntergefahren. Das trifft insbesondere die
Zahlungen an das Hochkommissariat für Menschenrechte mit einem Minus von 32 Prozent. Der Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen
zur Förderung der Menschenrechte“ wurde um 51 Prozent heruntergefahren. Darin enthalten sind 6 Millionen
Euro für Ausstattungshilfe, was quasi ein militärischer
Posten ist. Der Titel „Unterstützung von internationalen
Maßnahmen auf den Gebieten Krisenprävention, Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung durch das Auswärtige Amt“ wurde gegenüber 2009 um 9 Prozent
heruntergefahren. Der Titel „Für Humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland“ wurde um 25 Prozent heruntergefahren. Der Titel „Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitungszusammenarbeit“
wurde um 35 Prozent heruntergefahren. Man könnte
diese Liste noch um Stipendien, Goethe-Institute und anderes beliebig erweitern. All das betrifft die zivile
Außenpolitik.
Eine Zahl, die heute hier noch nicht genannt wurde,
die ich aber auch für wichtig halte, ist, dass Sie im Gegensatz zu 2009 70 Millionen Euro mehr im Haushalt
haben. Es ist überhaupt nicht so, dass Sie mit weniger
Geld auskommen müssten; Sie haben 70 Millionen Euro
mehr. Wenn jetzt gesagt wird, dieses Geld fließe in den
Stabilitätspakt Afghanistan, der auf 180 Millionen
Euro aufgebauscht wurde, möchte ich dem gerne einmal
das gegenüberstellen, was in einem Schreiben aus Ihrem
Hause steht, in dem es um die Kultur- und Bildungsprojekte des Auswärtigen Amtes in Afghanistan geht. Im
Vergleich zu 2009 sind demzufolge für Schulförderung
1 Million Euro weniger vorgesehen; das Projekt
„Deutsch als Fremdsprache“ wurde auf null gefahren; die
Umfeldstabilisierung - das heißt berufliche Bildung wurde um 2,4 Millionen Euro gekürzt und damit auch
auf null gefahren; für den Kulturerhalt gibt es
800 000 Euro weniger. Angesichts dessen frage ich
mich, wohin denn die Gelder für den Stabilitätspakt Afghanistan fließen.
({2})
All das ist die Schattenseite Ihrer wertegeleiteten Außenpolitik. Im Gegensatz zu den Interessen der Wirtschaft, wofür die Mittel hochgepowert wurden, wurden
die Ansätze für die Umsetzung von Werten wie Menschenrechte, Demokratisierung, Krisenprävention, Friedenserhalt in diesem Haushalt geschleift. Ich bin der
festen Überzeugung: Wenn dieser Haushalt so, wie er
vorliegt, beschlossen wird, hinterlassen Sie ein Trümmerfeld ziviler Außenpolitik.
({3})
Eines muss man Ihnen sicherlich lassen: Sie haben,
wie gesagt, vor nicht einmal einem Jahr, nämlich vor
zehn Monaten, das Amt übernommen. In dieser kurzen
Zeit haben Sie die Außenpolitik gründlich umgepflügt:
Wirtschaftsinteressen hoch - Kultur, Bildung, humanitäre Hilfe, Friedenserhaltung runter.
Es bleibt für uns alle eigentlich nur ein Trost: Sie haben nicht nur an den Zahlen des Einzelplans gearbeitet,
sondern Sie haben auch an den Zahlen Ihrer eigenen Partei gearbeitet: Innerhalb von zehn Monaten von 15 Prozent auf 5 Prozent bei den Umfragewerten - macht
1 Prozent weniger pro Monat.
({4})
Ich hoffe für uns alle und im Interesse der deutschen Außenpolitik, dass Sie zumindest bei den Prozentzahlen Ihrer Partei Kurs halten. Dann wäre das nächste Wahlergebnis von Ihnen einfach, niedrig und gerecht.
({5})
Jetzt hat unser Kollege Sven-Christian Kindler das
Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als ich den Einzelplan 05 für das Auswärtige
Amt durchgesehen habe, hat mir ein Titel besonders gut
gefallen. Diesen möchte ich noch einmal extra hervorheben. Es handelt sich um die erste 6-Millionen-EuroZahlung für die polnische Stiftung „Gedenkstätte
Auschwitz-Birkenau“. Insgesamt werden ja der Bund
und die Länder jeweils 30 Millionen Euro, also insgesamt 60 Millionen Euro, an die polnische Stiftung für die
Gedenkstätte zur Erinnerung an das Vernichtungslager in
Auschwitz-Birkenau beisteuern. Ich finde es extrem
wichtig, dass die Erinnerung an diese grausamen Verbrechen der deutschen Nazis wachgehalten wird;
({0})
denn es geht nicht nur um das Gedenken, sondern auch
um die Erinnerung, die wichtig ist, um aus diesen Ereignissen für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen.
In unserer Gesellschaft gibt es immer noch zu viele Nazis, zu viel Rassismus, zu viel Antisemitismus, zu viel
Nationalismus. Ich finde, es sollte uns allen im Parlament über alle Fraktionsgrenzen hinweg eine Herzensangelegenheit sein, dafür zu kämpfen, dass so etwas wie in
Auschwitz nie wieder passiert.
({1})
Das weitere Durcharbeiten dieses Einzelplans fand
ich deutlich weniger erfreulich, insbesondere was die
Kürzungen anbetrifft. Herr Minister Westerwelle, bei der
Vorstellung des Sparpakets Anfang Juni wurden Sie gefragt, wieso Sie zuerst Segnungen wie den halben Mehrwertsteuersatz für Hoteliers mit dem Füllhorn ausschütten, aber dann mit dem Sparpaket die Machete zücken.
Der Ausdruck „Machete“ war Ihnen damals zu martialisch, aber der Ausdruck „Sparen mit der Nagelschere“
war Ihnen auch nicht ausreichend. Egal ob Nagelschere
oder Machete, egal ob Heckenschneider oder Rasenmäher: Der falsche Einsatz von Schnittwerkzeugen kann
immer zu schweren Blessuren führen. Das sieht man
deutlich an diesem Haushalt. Ihren Konsolidierungsbeitrag erbringen Sie vor allen Dingen bei der humanitären
Hilfe, bei der Krisenprävention, bei der Friedenserhaltung und bei der Rüstungskontrolle. Zusammengefasst:
Sie sparen hier und kürzen damit bei der Menschlichkeit.
In diesem Bereich wird um 90 Millionen Euro, fast
ein Fünftel der Mittel in dieser Titelgruppe - diese Zahl
wurde schon genannt -, gekürzt. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Rot-Grün damals die zivile Krisenprävention eingeführt, aber weniger Mittel dafür
aufgebracht hat. Die rot-grüne Idee war, die zivile Krisenprävention als Bestandteil der Außenpolitik einzuführen. Man musste zunächst die entsprechenden Strukturen schaffen und ist natürlich mit einem geringeren
Budget gestartet. Die Mittel sind aber auch unter RotGrün stetig gewachsen. Ich finde es gut, dass unter Außenminister Steinmeier die Mittel weiterhin geflossen
sind. Ein großes Lob an Frank-Walter Steinmeier für
das, was er in diesem Bereich getan hat. So erklären sich
die Zahlen.
({2})
Vor diesem Hintergrund muss man das beurteilen,
was Sie jetzt mit diesem Einzelplan machen. Sie sagen,
ein Schwerpunkt deutscher Außenpolitik solle Friedenspolitik und Abrüstungspolitik sein. Das passt aber
überhaupt nicht mit der Tatsache zusammen, dass Sie bei
Abrüstung, Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung 20 Millionen Euro sparen. Das ist ein klarer Widerspruch zu Ihren Aussagen, die Sie eben getroffen haben.
({3})
Wir wissen, dass die Not weiter wachsen wird. Die
verheerende Flutkatastrophe in Pakistan ist nur eines von
vielen Beispielen. In den letzten 30 Jahren hat sich die
Anzahl der Menschen, die von klima- und wetterbedingten Naturkatastrophen betroffen sind, versechsfacht,
nämlich von 250 Millionen auf heute 1,5 Milliarden
Menschen. Naturkatastrophen treffen besonders die armen Menschen im Süden. Das ist doppelt ungerecht.
Man sollte sich klarmachen: Der Hauptverursacher des
Klimawandels sind die Bewohnerinnen und Bewohner
in den Industriestaaten des reichen Nordens. Die armen
Menschen im globalen Süden müssen die Folgen, für die
sie nicht verantwortlich sind, ausbaden, wenn etwa ihr
Zuhause überschwemmt wird. Ich finde es skandalös,
dass die Regierung in diesem und in anderen Einzelplänen besonders in diesem Bereich spart.
({4})
Die Regierung verabschiedet sich vom Ziel der globalen Armutsbekämpfung. Das sieht man daran, dass
die ODA-Quote mit diesem Etat sinken wird, weil entsprechende Mittel des Auswärtigen Amtes gestrichen
werden und weil die Regierung die Kopenhagener Versprechen komplett bricht. Das ist ein Skandal für die
deutsche Außen- und Entwicklungspolitik und zeigt, wie
kaltherzig Schwarz-Gelb auch international agiert.
Besser jedoch, als humanitäre Hilfe zu leisten, ist es,
einzugreifen, bevor Konflikte entstehen. Das heißt, die
zivile Krisenprävention müsste man eigentlich ausbauen, weil dadurch Krisen entschärft werden oder gar
nicht erst entstehen. Ihre Politik trägt aber nicht zu einer
friedlichen Welt bei und zeugt nicht von einer wertegeleiteten Außenpolitik.
Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir Maßnahmen
zur zivilen Krisenprävention finanzieren. Es gibt mehrere Etats, in denen man Kürzungen vornehmen könnte.
Das ist zum Beispiel im Wehretat möglich. Da kann man
bei unsinnigen und teuren Rüstungsprojekten sparen.
({5})
Aber, Herr Westerwelle, Sie können sich auch einmal für
mehr Einnahmen einsetzen. Sie sind, soweit ich weiß,
auch Europaminister und damit für die Europapolitik zuständig. Die Bundesregierung ist für die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionsteuer. Da frage
ich mich schon, warum Sie in der Europäischen Union
nicht von Land zu Land tingeln und in der Euro-Zone
dafür werben, eine europaweite Finanztransaktionsteuer
einzuführen.
({6})
- Ja, aber der Europaminister kann das doch unterstützen. Ich fände es schon gut, wenn Herr Westerwelle für
mehr Einnahmen aus den Finanzmärkten werben würde,
um globale Gerechtigkeit zu finanzieren, Spekulation
einzudämmen und nicht weiter die Finanzlobby zu beschützen. Deswegen, Herr Westerwelle, fordere ich Sie
auf: Setzen Sie sich endlich für eine europaweite Finanztransaktionsteuer ein.
({7})
Herr Kindler, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin zulassen?
Gerne.
Kollege Kindler, wir werden nachher auch über den
Verteidigungsetat sprechen. Sie haben den Vorschlag gemacht, bei Rüstungsprojekten zu kürzen und mit den frei
werdenden Mitteln andere Dinge zu machen. Das ist,
finde ich, eine sehr gute Anregung. Ich hätte dazu von Ihnen gern konkrete Vorschläge; denn die großen Rüstungsprojekte, die Sie wahrscheinlich im Blick haben - MEADS,
bestimmte Transportflugzeuge oder anderes -, sind alle in
der Zeit der rot-grünen Koalition beschlossen worden.
({0})
Insoweit wäre ich sehr daran interessiert, zu erfahren, wo
wir kürzen könnten und ob Ihre damaligen Bestellungen,
die uns schon jetzt Milliarden gekostet haben, falsch waren.
Erstens. Ich war, wie Sie wissen, Herr Koppelin, nicht
Mitglied der rot-grünen Koalition.
({0})
- Na ja, das stimmt; das muss man ehrlicherweise zugeben.
Zweitens. Wir haben MEADS damals abgelehnt; aber
wir haben uns gegen die Sozialdemokraten leider nicht
durchsetzen können.
({1})
- Das gehört doch zur Wahrheit, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Wir wollen bei Rüstungsprojekten deutlich sparen.
Wir wollen da kürzen, weil das zu einer friedlicheren
Welt beiträgt.
({2})
Grüne Außenpolitik ist vor allem Friedenspolitik. Sie
steht für eine Kürzung bei Rüstungsprojekten; das ist
völlig klar.
({3})
Der Einzelplan 05, Auswärtiges Amt, zeigt ganz klar:
Man kürzt radikal bei ziviler Krisenprävention, bei Friedenserhaltung. Damit pfeift diese Bundesregierung auf
unsere globale Verantwortung und lässt die Ärmsten der
Welt im Regen stehen. Hier zeigt sich eindeutig:
Schwarz-Gelb kürzt nicht nur im Inland unsozial, sondern auch im Ausland.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Gunther Krichbaum hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Letzte Woche hat eine Meldung leider keine
Schlagzeilen gemacht, die dies verdient gehabt hätte,
nämlich die Resolution in der UN-Vollversammlung,
mit der Bewegung in den Kosovo-Streit gekommen ist.
Und in diesem Zusammenhang ist es insbesondere Ihnen, Herr Außenminister Westerwelle, zu verdanken,
dass Serbien dazu bewegt werden konnte, eine moderatere Rolle, eine moderatere Position einzunehmen. Ich
glaube, das war ganz wichtig; denn hier ist es im Zusammenwirken mit der Europäischen Union und unter Ihrer
Meinungsführerschaft gelungen, Bewegung in einen
Streit zu bringen, von dem wir eigentlich gedacht hatten,
dass er uns noch über Jahre hinweg beschäftigen wird.
Er wird es auch tun. Es ist jetzt aber Bewegung in die
Sache gekommen, weil die Tür für einen konstruktiven
Dialog zwischen Kosovo einerseits und Serbien andererseits geöffnet wurde.
Es ist folgerichtig, dass wir jetzt das Ansinnen der
Außenminister unterstützen, das Beitrittsgesuch Serbiens an die Europäische Kommission mit der Bitte
um eine Stellungnahme und um Erteilung eines Avis
weiterzuleiten - letztlich muss sich diese Kooperation an
dieser Stelle auch für Serbien auszahlen -; denn wir sind
sicherlich alle daran interessiert, dass es zu mehr Stabilität in der Region kommt.
({0})
Mein Dank gilt an dieser Stelle ausdrücklich dem Präsidenten der Republik Serbien, Herrn Boris Tadic. Er beweist in dieser Frage einen enormen Mut. Gerade wir als
Deutsche müssen dies nachvollziehen können; denn das,
was wir in der deutschen Geschichte durch die Aufgabe
der Ostgebiete erlebt haben - dies ist dort gewissermaßen in einem Zeitraffer abgelaufen -, kann vielleicht einen Eindruck davon vermitteln, welchem persönlichen
Risiko er sich aussetzt, und zwar nicht nur politisch; man
denke an seinen Amtsvorvorgänger. Ich wiederhole:
Mein Dank gilt Herrn Tadic und allen, die diesen europäischen Weg unterstützen.
({1})
Es hat bei einer weiteren Frage Bewegung gegeben
- es ist bereits bei einigen Vorrednern angeklungen -,
und zwar durch das Referendum in der Türkei. Ja, es
ist ein wichtiger und richtiger Schritt: 58 Prozent haben
dafür gestimmt. Man könnte jetzt mit der Lupe hinschauen und sicherlich das eine oder andere finden, was
wir uns anders vorstellen. Es war aber ein Schritt in die
richtige Richtung; denn er ebnet den Weg zu Reformen,
die die Menschen in der Türkei, aber auch wir brauchen.
Ich möchte hier kein Wasser in den Wein gießen, egal ob
man die Verhandlungen als ergebnisoffen bezeichnet
oder ob man dafür ist, dass die Türkei gleich die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen
Union erhält.
Wir stehen bei einer anderen Frage in Europa zunehmend vor einem Dilemma. Damit meine ich, dass die
Verhandlungen über viele Kapitel im Augenblick nicht
multilateral - durch die Europäische Union selbst -, sondern bilateral blockiert sind.
({2})
Um überhaupt davon sprechen zu können, dass eine Verhandlung ergebnisoffen geführt werden kann, ist es erforderlich, dass überhaupt Verhandlungen stattfinden.
Deswegen ist es wichtig, dass wir hier einen Mechanismus finden - insofern hat sich der europäische Geist in
der Europäischen Union ein Stück weit verändert -,
durch den in einem Mehrheitsentscheid in der Europäischen Union darüber entschieden wird, ob sich Streitigkeiten auf der Ebene der Europäischen Union befinden
und dorthin gehören oder ob sie bilateralen Charakter
haben. Wenn sie aber bilateralen Charakter haben, dann
muss sich ein Schiedsgerichtsverfahren anschließen, bei
dem beide Seiten im Vorfeld anerkennen, dass sie den
Schiedsspruch umsetzen werden.
Wir erlebten und erleben das bei Zypern und der Türkei. Wir erleben es im Hinblick auf den Konflikt zwischen Griechenland und Mazedonien. Wir haben es zuletzt - ich kann die Liste gar nicht abschließen - im
Hinblick auf die Vorgänge zwischen Großbritannien, den
Niederlanden und Island, aber auch zwischen Kroatien
und Slowenien erlebt. Wir müssen hier voranschreiten
und dem Rechnung tragen. Eines Tages wird nämlich sicherlich auch Kroatien Mitglied der Europäischen Union
sein und Serbien an deren Tür klopfen.
Wir müssen insgesamt Gewähr dafür tragen, dass ein
Mitgliedstaat der Europäischen Union keine nationalen
Forderungen zum Faustpfand gegenüber einem Staat erheben kann - ich unterstelle dies nicht unseren kroatischen Freunden -, der der Europäischen Union erst noch
beitreten möchte.
({3})
Das ist sicherlich nicht in unser aller Sinn.
Herr Außenminister, Sie hatten den Vertrag von Lissabon angesprochen. Beim Europäischen Auswärtigen
Dienst, aber auch an anderer Stelle festigen sich die
Strukturen. Wir kommen zunehmend weg von der Nabelschau der Europäischen Union und gelangen stärker hin
zu anderen Themen. Das ist gut so. Dies betrifft - Kollege Silberhorn hat es angesprochen - die Finanzbeziehungen. Allerdings sei hier in einer Randbemerkung erwähnt, dass es hier im Haus sicherlich keine Mehrheit
dafür geben würde, Euro-Bonds aufzulegen - Präsident
Barroso hat das kürzlich vorgeschlagen - oder eine
EU-Steuer einzuführen. Ich glaube, dass dies im Ergebnis kontraproduktiv wäre: Es würde bei unseren Bürgerinnen und Bürgern mehrheitlich auf Ablehnung stoßen.
Ich glaube, eine solche Steuer wäre nicht vermittelbar.
Unsere Ablehnung kann ordnungspolitisch ganz klar damit begründet werden, dass die Europäische Union ein
Staatenbund ist und kein Bundesstaat. Deswegen wird es
mit uns sicherlich kein eigenes Steuerrecht für die Europäische Union geben.
Ein letzter Gedanke zu den Strukturen sei genannt. Hier
geht es um einen Vorschlag von Herrn Pöttering, dem vormaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, aber
auch von Ihnen, Herr Außenminister Westerwelle. Dieser
Vorschlag betrifft die Einführung einer europäischen
Armee. Ich glaube, dass wir gerade durch den Vertrag von
Lissabon die große Chance haben, in diesem Politikfeld
zu einer zusätzlichen Vertiefung zu gelangen, so wie wir
es auf anderen Feldern mit dem Schengen-Abkommen
und der Einführung des Euro schon geschafft haben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Ende. - Erlauben Sie mir den letzten
Satz. Eine große Chance steckt darin, dass wir beispielsweise gemeinsam mit Franzosen, mit Polen, vielleicht
sogar im Format des Weimarer Dreiecks Strukturen finden, die in die Zukunft weisen.
Herr Kollege.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die Kollegin Edelgard Bulmahn hat nun das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ohne eine konsequente Abrüstungs- und
Friedenspolitik, ohne wirtschaftliche Aufbauhilfe,
ohne die Sicherung der Menschenrechte und ohne die
Sicherung der Demokratie würden wir heute nicht in einem friedlichen Europa und werden wir auch nicht in einer friedlichen Welt leben.
({0})
Sehr geehrter Herr Außenminister, deshalb teile ich die
Aussage, die Sie vor wenigen Minuten an dieser Stelle
gemacht haben, dass Abrüstung in Zukunft von ebenso
großer Bedeutung sein wird wie der Klimawandel. Das
ist ein richtiger Satz; aber der gleiche Außenminister betreibt eine falsche Politik, wenn er die finanziellen Mittel
für Abrüstung und Rüstungskontrolle um ein Drittel
streicht.
({1})
Gute Politik braucht nicht nur Worte, sondern sie braucht
auch Taten.
An anderer Stelle, Herr Außenminister, führten Sie
aus - ich zitiere -:
Werteorientierung und Interessenleitung gehören
beide zum Kompass einer guten deutschen Außenpolitik.
Das ist richtig, Herr Außenminister. Aber ich frage Sie:
Von welchen Werten und von welchen Interessen lassen
Sie sich leiten, wenn Sie die Mittel zur Förderung der
Menschenrechte und der Demokratisierung um die
Hälfte - liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben richtig gehört: um die Hälfte - streichen? Offensichtlich
fehlt dem Außenminister der Kompass für eine stringente Außenpolitik im deutschen Interesse. Oder wie ist
es zu erklären, dass Sie, Herr Westerwelle, ausgerechnet
dort kürzen und streichen, wo es um die zentralen Aufgabenfelder der deutschen Außenpolitik, wie die Sicherung der Menschenrechte, die Krisenprävention oder die
auswärtige Kulturpolitik, geht?
Deutsche Außenpolitik sollte engagierte Friedenspolitik sein, eine Friedenspolitik, die auf Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie
setzt.
({2})
Eine solche Außenpolitik gründet auf Vertrauen. Soziale,
wirtschaftliche, kulturelle und nachhaltige Entwicklung
ist die Basis für eine erfolgreiche Außenpolitik. Gerade
mit den Konzepten der zivilen Krisenprävention, der
Konfliktbearbeitung und der Friedenskonsolidierung
leistete Deutschland bisher einen international hochanerkannten und hochrespektierten Beitrag zur Friedenssicherung. Die Beispiele, die in der Debatte genannt
wurden, haben das sehr deutlich unterstrichen. Statt
diese Kompetenzen zu nutzen und auszubauen, streicht
die schwarz-gelbe Koalition ausgerechnet diese Mittel
gnadenlos zusammen. Verstehe das, wer wolle!
({3})
Das ist unverständlich. Es ist eine falsche Politik. Eine
solche Politik ist nicht nur kurzsichtig, sondern sie ist
auch gefährlich.
Insgesamt sollen im kommenden Jahr 88 Millionen
Euro weniger für Maßnahmen und Leistungen zur
Sicherung von Frieden und Stabilität sowie für humanitäre Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Allein
im Bereich der Krisenprävention sollen 30 Prozent diesen skandalösen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen, obgleich die Bundesregierung in ihrem Umsetzungsbericht
zum Aktionsplan Zivile Krisenprävention - im Übrigen
zu Recht - von wachsenden Anforderungen an Krisenprävention und Konfliktbewältigung spricht.
Ziel ziviler Krisenprävention ist es, gewaltsame
Auseinandersetzungen im Vorfeld zu verhindern. Weltweit haben wir sehr viele Krisenregionen, als Beispiel
nenne ich den Sudan. Wir wissen nicht, ob es dort im
Zuge des Referendums eventuell zu einem Bürgerkrieg
kommt. Dort ist sofortiges Handeln notwendig. Dafür
braucht man eine angemessene Finanzierung und Menschen, die in dieser Krisenregion tätig sind. Genau das
Gegenteil wird angestrebt. Das ist nicht nur bedrückend,
das schadet unserem Land und auch den Menschen im
Sudan, die auf unsere Hilfe und unsere Unterstützung
setzen.
({4})
Alle Maßnahmen haben nur Erfolg, wenn sie auf
Dauer angelegt sind. Kontinuität, Verlässlichkeit und
Planungssicherheit sind ganz entscheidend, weil sie eine
wichtige Voraussetzung dafür sind, dass Vertrauen entsteht. Gerade deutsche Nichtregierungsorganisationen
leisten seit Jahren eine ungeheuer wertvolle Arbeit, die
nun massiv gefährdet ist. Wie mir Frau Pieper noch in
der vergangenen Woche geantwortet hat, sind die deutschen Nichtregierungsorganisationen über die Kürzungspläne informiert. Ein Szenario, wie es nun weitergehen
soll, wurde vom Auswärtigen Amt bisher jedoch nicht
entwickelt. Als ich diese Antwort gelesen habe, habe ich
mich gefragt, wie sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen fühlen müssen,
wenn sie so etwas lesen.
({5})
Welche Wertschätzung erleben sie eigentlich, wenn sie
sich mit großem Engagement und manchmal sogar unter
Einsatz ihres Lebens für Frieden und Menschenrechte
engagieren? Der Sparbeitrag zum Haushalt ist im Übrigen vergleichsweise gering; aber die Signalwirkung ist
verheerend.
({6})
Dass ausgerechnet Deutschland beim Aufbau demokratischer Strukturen, bei der gesellschaftlichen Wiedereingliederung von Kindersoldaten, bei der friedlichen
Lösung des Darfur-Konfliktes, bei den Opfern von
Streumunition, bei Minenopfern in Kolumbien oder bei
der humanitären Hilfe kürzt, schadet dem Ansehen unseres Landes. Damit wird nicht nur ein hoffnungsvoller
Ansatz zivilgesellschaftlichen Engagements zerstört,
sondern auch das Vertrauen in die Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik, und das ist wirklich nicht zu verantworten.
Ein ähnliches Bild bietet sich in der auswärtigen
Kulturpolitik, die von Willy Brandt einst als dritte
Säule der Außenpolitik bezeichnet wurde und unter
Frank-Walter Steinmeier stark, sogar gewaltig ausgebaut
wurde. Auch hier stehen die Signale auf Halt. Mein Kollege Brandner hat bereits darauf hingewiesen, dass in
unserer globalisierten Welt Kultur- und Bildungsarbeit
das Fundament einer erfolgreichen Außenpolitik sind.
Davon bin ich zutiefst überzeugt.
({7})
Sie muss deshalb ein zentraler Bestandteil jeglicher außenpolitischer Strategie sein.
Allerdings ist das Interesse des Außenministers daran
offenkundig nicht allzu groß. So werden allein die Zuwendungen an das Goethe-Institut um 8 Millionen Euro
gekürzt. Die Verwaltungsausgaben werden darüber hinaus bis 2014 eingefroren.
Frau Kollegin!
Damit wird die erfolgreiche Reform der Goethe-Institute, die seit 2005 flexibler und handlungsfähiger geworden sind, nachhaltig gefährdet.
Ein weiteres Beispiel kann ich jetzt nur noch nennen.
Eigentlich auch das nicht mehr.
Das ist Tarabya. Hier wird ein Kulturgut infrage gestellt und aufgegeben, das eine ganz wichtige Rolle für
die deutsch-türkische Zusammenarbeit spielt.
({0})
Ich fürchte, dass die Bundesregierung mit einer solchen Amtsführung Gefahr läuft, als verlässlicher Partner
nicht mehr ernst genommen zu werden.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Ruprecht Polenz hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Solange die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition
keinen einzigen konkreten Vorschlag zum Sparen im Bereich des Auswärtigen Amtes vortragen, ist ihre Kritik
vergleichsweise billig.
({0})
- Er hat nicht zum Auswärtigen Amt vorgetragen.
({1})
- Doch.
Solange Sie nicht anerkennen, dass bei einer Verschuldungssituation, in der sich Deutschland aufgrund
der Wirtschafts- und Finanzkrise gegenwärtig befindet,
jeder Etat eine Einsparleistung erbringen muss, werden
Sie der Verantwortung für zukünftige Generationen nicht
gerecht. Das muss man als generelle Bemerkung vor
diese Etatdebatte stellen. Sonst könnten wir alle natürlich kritisieren, dass da oder dort jetzt weniger Geld aufgewandt wird; denn jede Position, bei der gekürzt wurde,
hat einen Sinn.
Eine zweite Vorbemerkung. Frau Kollegin Bulmahn,
wenn es dadurch, dass wir ein paar Millionen Euro mehr
für den Sudan in unseren Bundeshaushalt einstellen, in
Darfur übermorgen besser wird, dann werden wir uns
schnell einig.
({2})
Sie haben mit Ihrer Kritik den Eindruck erweckt, dass
die Lösung im Sudan vor allen Dingen davon abhängig
ist, welche Mittel im deutschen Bundeshaushalt stehen.
Das ist leider nun einmal so nicht der Fall.
({3})
Herr Kollege Polenz, es gibt den Wunsch nach einer
Zwischenfrage von Herrn Brandner. Möchten Sie diese
zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege Polenz, stimmen Sie mir zu, dass das
Kanzleramt bei der Aufstellung des Bundeshaushalts als
politische Wertorientierung vorgegeben hat, dass der Bereich Kultur und auch der Bereich Bildung von den
Sparmaßnahmen ausgenommen werden sollten? So
wurde es zumindest heute in der Debatte dargestellt.
Wenn das so ist, frage ich mich, warum es in diesem
kleinen Außenetat, im Einzelplan 05, keine Sondermittel
gibt, um die riesige Summe für Afghanistan an anderer
Stelle im Haushalt auszugleichen? Es ist für niemanden
verständlich, dass man diese starken Kürzungen in allen
Bereichen des Außenhaushalts hinnehmen muss, Kürzungen in Bereichen, die von uns allen hier als besonders wichtig dargestellt worden sind. Stimmen Sie mir
zu, dass Sondermittel der Bundesregierung notwendig
gewesen wären, um einen Haushalt vorzulegen, der den
Zielsetzungen des Bundesaußenministers und anscheinend dem Willen des ganzen Hauses entspricht?
Außerdem muss ich Ihnen sagen, dass es Sparvorschläge von mehreren Rednern in dieser Debatte gab
- das ist auch aus der FDP-Fraktion mitgeteilt worden -,
zum Beispiel die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers
zurückzunehmen oder zumindest zu reduzieren.
({0})
Hier geht es um eine Größenordnung von etwa
90 Millionen Euro. Das ist, insgesamt gesehen, eine
denkbar kleine Summe. Ich würde Sie bitten, zu erklären, warum Sie sagen, dass es überhaupt keine konstruktiven Vorschläge für einen anderweitigen Ausgleich gab.
Herr Kollege Brandner, ich habe von Vorschlägen bezüglich des Haushaltes des Auswärtigen Amtes gesprochen. Ich teile Ihre Sorge, dass der Anteil des Haushalts
des Auswärtigen Amtes am gesamten Bundeshaushalt,
der nach wie vor bei 1 Prozent liegt, nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der Bedeutung der äußeren Sicherheit und der Außenpolitik steht und sich auf einem
Stand befindet, der niedriger als beispielsweise der der
Franzosen oder der Briten ist. Das zu klären, bedeutet
eine Diskussion darüber zu führen, welche Priorität wir
der Außenpolitik und damit auch der äußeren Sicherheit
geben und wie viel wir dafür im Verhältnis zu unseren
Staatsaufgaben insgesamt aufwenden. Über diese Frage
müssten wir sicherlich auch sprechen. Der damit verbundene Prozess hat spätestens nach 1990 eingesetzt und
wurde seither von allen Regierungen fortgesetzt. Das
Ganze würde ich als Außenpolitiker natürlich immer mit
einem großen Fragezeichen versehen.
({0})
Herr Kollege Polenz, es gibt noch das Angebot einer
Zwischenfrage des Kollegen Leutert. Möchten Sie auch
diese zulassen?
Ja, bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege Polenz, ich habe zwei Fragen:
Erstens. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass
der Etat des Außenministers im Vergleich zu 2009 über
70 Millionen Euro mehr umfasst und dass es deshalb
sehr fraglich ist, warum genau in diesen Bereichen, auswärtige Kulturpolitik und Bildung, gespart wird?
Zweitens. Sie haben davon gesprochen, dass, wenn
man sparen muss, alle Bundesministerien betroffen sind
und jeder eine Bringschuld hat. Meine Frage ist: Warum
ist das Verteidigungsministerium von dieser Bringschuld
ausgenommen?
Wir werden gleich über den Etat des Verteidigungsministers debattieren. Auch dort gibt es Einsparungen.
Der Etat des Auswärtigen Amts wird im Vergleich zum
Vorjahr um etwa 3 Prozent gekürzt.
Natürlich kann man über die Prioritäten reden. Bei
den Punkten, bei denen wir in der Zukunft einmal gemeinsam darüber sprechen können, ob sich Einsparungen erzielen lassen, sind solche Änderungen allerdings
nicht von heute auf morgen möglich. Ich will Ihnen zwei
dieser Punkte nennen.
Erster Punkt. Ich sehe im Augenblick noch nicht, dass
wir aus der immer dichteren politischen Zusammenarbeit in der Europäischen Union, die mehrfach im Jahr
Treffen der Staats- und Regierungschefs und der Ressortminister vorsieht, Konsequenzen für die Besetzung
und die Stellenkegel in unseren EU-Botschaften ziehen.
Wenn wir da etwas verändern würden, würde das nicht
sofort haushaltswirksam werden, hätte in der Perspektive aber möglicherweise eine Bedeutung. Dabei geht es
nicht darum, etwas zu kürzen, sondern darum, es anderweitig zu verwenden.
Zweiter Punkt. Mit einem Schengen-Visum können
Sie sich in allen Schengen-Staaten frei bewegen. Trotzdem werden die Schengen-Visa in den Konsularabteilungen der jeweiligen Botschaften der Schengen-Länder
ausgestellt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass man sich
unter den Schengen-Ländern einmal darüber unterhält,
ob man nicht zu gemeinsamen Visastellen kommen
kann. Möglicherweise gibt der Aufbau des Europäischen
Auswärtigen Dienstes einen zusätzlichen Impuls, wie
man das lösen könnte. Auch das wäre eine strukturelle
Einsparung, die allerdings nicht sofort in dem Umfang
kassenwirksam wird, wie man es für dieses Jahr braucht.
({0})
Nun zurück zur Debatte, in der zu Recht ein Nachdenken über Europa im Mittelpunkt gestanden hat. Diesen
Eindruck gewinne ich zumindest aufgrund einiger Beiträge. Ich möchte hervorheben, dass Deutschland - ich
glaube, dass es notwendig ist, das wieder ins Bewusstsein zu rücken - wie kein anderes Land von Europa und
auch von den bisherigen Erweiterungen profitiert. Das
bezieht sich auf den Binnenmarkt, auf unsere Exportwirtschaft, auf unsere Arbeitsplätze und natürlich auch
auf die Möglichkeiten unserer Bürger, sich in einem immer größeren Raum praktisch frei von Grenzkontrollen
bewegen zu können.
Es ist auch wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass die
EU-27 heute um ein Vielfaches einflussreicher in der
Welt sind, als es die sechs Partnerländer der Römischen
Verträge waren oder heute wären, wenn kein Land dazugekommen wäre. Weil das so ist - und das ist der Grund,
weshalb ich das anspreche -, hat mich die Begleitmusik
der Griechenland-Debatte in Deutschland außerordentlich besorgt gemacht.
({1})
Wenn wir auch bei uns die Europa-Idee auf die Nettozahlungsströme reduzieren, machen wir Europa zu einem
Nullsummenspiel, bei dem der eine nur so viel gewinnen
kann, wie einem anderen weggenommen wird.
({2})
Das war ein Teil dieser Diskussion.
Wenn wir Gefahr laufen, eine Transferunion zu organisieren - das muss man denen vorhalten, die der Bundesregierung vorgeworfen haben, zu hart auf der EuroStabilität zu bestehen -, dann sprengen wir die Europäische Union von der anderen Seite. Insofern war es richtig, dass die Bundesregierung solidarisch zum Euro und
zur Euro-Stabilität gestanden hat; denn der Euro ist die
Klammer für die Europäische Union.
Es hat sich gezeigt, dass die Hilfen für Griechenland
- von den Griechen bisher erfreulicherweise sehr konstruktiv umgesetzt - greifen und wirksam sind. Die Begleitmusik „Schmeißt sie doch raus!“ aber war unerträglich. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal gesagt
haben.
({3})
Meine Vorredner - ich bin Herrn Krichbaum sehr
dankbar für die Vorschläge hinsichtlich der Verhandlungsprozesse - haben zu Recht den Erfolg des Außenministers, der auch ein persönlicher Erfolg von Ihnen,
Herr Westerwelle, war, bei der Serbien-Frage herausgestellt. Mich wundert nicht, dass die Fraktion der Linken
da nicht geklatscht hat. Sie sind mittlerweile die Einzigen, die weiterhin von der Völkerrechtswidrigkeit der
Kosovo-Anerkennung ausgehen, obwohl der Internationale Gerichtshof inzwischen anders entschieden hat
und obwohl inzwischen auch die Serben merken, dass
der Weg über Europa der beste Weg ist, um die Verbindung zum Kosovo weiter aufrechtzuerhalten. Sie sind
nun auch bereit, mit der Europäischen Union und auch
mit dem Kosovo konstruktiv zusammenzuarbeiten. Ich
warte darauf, dass Sie ebenfalls zu dieser Einsicht kom6100
men, dass sozusagen Ihr Godesberg in dieser Frage verkündet wird.
({4})
Lieber Herr Kollege Mützenich, Sie haben darauf ver-
wiesen, wie bedeutsam die Abrüstungsfragen sind, und
haben dem Minister die taktischen Nuklearwaffen der
Amerikaner auf deutschem Territorium vorgehalten und
gesagt, da sei noch nichts geschehen. Wir beide wissen
sehr wohl, dass bei der Frage, ob wir auf dem Weg zu
Global Zero vorankommen, das Iran-Problem viel be-
deutsamer ist als das, was möglicherweise in Rheinland-
Pfalz noch in irgendwelchen Bunkern liegt.
Gerade bei dieser Frage war die Europäische Union in
den weiteren Schritten a) geschlossen und b) mit dem
verschärften Sanktionsrahmen insofern erfolgreich, als
er das klare Signal an den Iran gesendet hat, dass eine
Politik, die nicht vernünftig mit der Internationalen
Atomenergie-Organisation kooperiert und auch nicht auf
die Angebote eingeht, die die Europäische Union und
auch die Amerikaner zur wirtschaftlichen, kulturellen
und wissenschaftlichen Zusammenarbeit gemacht haben, mit immer höheren Kosten verbunden ist.
Sie haben die von den Amerikanern geplanten großen
Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und an die Golfstaaten kritisiert. Das sehe auch ich mit gemischten
Gefühlen. Aber auch das gehört natürlich in diesen Kontext. Ich glaube, in dem Moment, in dem das
Nuklearproblem im Iran diplomatisch vom Tisch wäre
- weil alle Welt und auch die Nachbarn sicher sein könnten, dass der Iran nur ein friedliches Nuklearprogramm
verfolgt -, wäre auch eine Abrüstungsinitiative oder zumindest ein Ende des Rüstungswettlaufes im Nahen Osten möglich. Insofern ist eher dies die Schlüsselfrage als
der Punkt, den Sie, so wichtig auch er sicherlich sein
mag, so emphatisch in den Mittelpunkt Ihrer Rede gestellt haben.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Groth für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Für die Bundesregierung ist das Eintreten für Menschenrechte Grundkonstante ihrer Außenpolitik. Wie sieht
aber die Realität aus, verehrter Herr Kollege? An Flüchtlingen, Menschen ohne Aufenthaltsrecht und Opfern von
Menschenhandel wird die menschenrechtsfeindliche Praxis der deutschen Regierung besonders deutlich. Sogenannte Illegale leben in ständiger Angst vor Abschiebung.
Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sind sie gezwungen, unter sklavenähnlichen Bedingungen zu arbeiten.
Nach Waffen- und Drogenhandel ist Menschenhandel
die drittgrößte Einnahmequelle weltweit. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation beträgt der Gewinn aus
dem internationalen Menschenhandel mehr als 32 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Menschenhandel ist ein schwerwiegender Verstoß gegen die Menschenrechte. Die Opfer sind vorwiegend
Frauen. Ein menschenrechtszentrierter Ansatz bei der
Bekämpfung des Menschenhandels bedeutet, die Rechte
der Frauen zu stärken und die Täter zu bestrafen. Bei uns
hingegen werden die Opfer bestraft; denn ihnen droht
nach vier Wochen die Abschiebung.
Leider hat der Bundestag noch immer nicht die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifiziert, die den Opfern von Menschenhandel und
Zwangsprostitution einen unbefristeten Aufenthaltstitel
ermöglichen könnte.
Auch das Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wartet auf Ratifizierung. In diesem Protokoll sind neben
dem Recht auf Nahrung und Wasser auch das Recht auf
Bildung und das Recht auf angemessenes Wohnen verankert. Die von Ihnen geplanten Kürzungen im Sozialbereich wie überhaupt die Hartz-Gesetze verletzen diese
international verankerten Rechte.
({0})
Menschenrechte sind unteilbar und müssen auch in
Deutschland durchgesetzt werden. Die Streichorgien im
Sozialbereich treten die Menschenrechte mit Füßen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hunger und Umweltkatastrophen nehmen immer verheerendere Ausmaße an. Derzeit steht ein Fünftel Pakistans unter Wasser, 20 Millionen Menschen sind obdachlos, ganze Dörfer sind verschwunden. Um eine wirkungsvolle Soforthilfe zu gewährleisten, werden mindestens 460 Millionen US-Dollar benötigt; nur ein Drittel davon steht bisher zur Verfügung. Die Soforthilfe in Höhe von 15 Millionen Euro, die die Bundesregierung bisher zugesichert
hat, ist nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Pakistan braucht eine langfristige Unterstützung, um die
Folgen der Flutkatastrophe zu überwinden. Statt Hunderte Millionen Euro für den Krieg in Afghanistan auszugeben, sollte dieses Geld für humanitäre Katastrophenhilfe eingesetzt werden.
({1})
Wir fordern in der Haushaltspolitik eine klare Prioritätenverschiebung, sodass Menschen in Not sofort geholfen werden kann. Ausgerechnet dieser Posten wird
im Haushaltsentwurf für 2011 um 20 Prozent reduziert.
Trotz Klimawandels und absehbarer Naturkatastrophen
kürzt die Regierung nicht nur die Nothilfe, sondern auch
Gelder für internationale Klimaschutzprojekte - für mich
ein Skandal.
({2})
Überflutungen in China und Pakistan sowie die
Brände in Russland haben große Ernteausfälle zur Folge.
Konzerne verlangen jetzt höhere Preise, die NahrungsAnnette Groth
mittelspekulation blüht. Die Spekulation mit Nahrungsmitteln führt zu steigenden Preisen und ist damit für
zunehmenden Hunger verantwortlich. Sie ist ein Verbrechen und gehört verboten.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, der einzige Titel im
Haushalt, in dem die Menschenrechte ausdrücklich erwähnt werden, heißt: „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe, Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte“. Ich frage Sie: Was haben die Menschenrechte
mit Ausstattungshilfe zu tun?
11 Millionen Euro wurden 2009 für die Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte ausgegeben. Lediglich
3 Millionen Euro standen für die Menschenrechte zur
Verfügung. Nun soll der Etat für Menschenrechte - wir
haben es schon gehört - 2011 noch einmal um 50 Prozent gekürzt werden.
Kurzum: Menschenrechte sind für die Regierungsparteien Rhetorik, Geld gibt es dafür nicht.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Erika Steinbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Krichbaum hat Serbien vorhin - ich
bin überzeugt: zu Recht - dafür gelobt, dass es für die
Bewältigung der schwierigen Situation in dieser Region
einen Weg mit aufzeigt und mithilft, dass Lösungen gefunden werden.
Ich kann diesem Lob ein anderes Lob anschließen.
Bereits vor einem Jahr hat die serbische Regierung ein
Gesetz auf den Weg gebracht, gemäß dem alle geheimen
Gräber, in denen die von Tito Ermordeten verscharrt
wurden, aufgenommen werden. Die Bevölkerung wurde
aufgerufen, dazu beizutragen, diese geheimen Gräber zu
finden, damit die Menschen heute eine würdige Bestattung bekommen. Das ist ein deutliches Zeichen dafür,
dass man das Unrecht aus jener Zeit heute nicht mehr
mittragen, sondern offenlegen und die Menschen auch
versöhnen will.
({0})
Ein anderer aktueller Vorgang hat mich sehr gefreut.
Ich begrüße es, dass die Türkei als Mitschuldige für die
Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant
Dink verurteilt wurde, den sie vor seiner Ermordung ja
wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt hatte, wodurch sie zu einem Klima des Hasses gegen diesen armenischstämmigen Mann mit beigetragen hat. Dieses Urteil
des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist
ein wichtiges Zeichen der Mahnung in Richtung Türkei,
was den Bereich der Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit anbelangt, und es war nötig.
({1})
Menschenrechtspolitik ist eine Aufgabe, die in vielfältigen Politikbereichen verankert ist. In ihrer außenpolitischen Dimension bezieht sie die Förderung und den
Schutz der Menschenrechte weltweit ein. In vielen Bereichen unseres Globus prallen heute nach wie vor religiöse, ethnische oder ideologische Vorstellungen aggressiv aufeinander. Diesbezüglich dürfen wir uns keinen
Sand in die Augen streuen. Die Menschenrechtsverletzungen von heute können leicht - das ist der Geschichte
zu entnehmen - zu kriegerischen Auseinandersetzungen
von morgen werden, und durch die Kriege der Vergangenheit werden wir mit Menschenrechtsverletzungen
konfrontiert, deren Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist - auch nicht bei uns in Deutschland.
({2})
Diese Bundesregierung tut außerordentlich viel für
die Menschenrechte, mehr als alle Bundesregierungen
zuvor. Das sei einmal deutlich angemerkt, und ich begrüße das.
({3})
Für die Politik der CDU/CSU, die sich am christlichen Menschenbild orientiert, haben Menschenrechte
eine grundlegende Bedeutung. Außenpolitik ist für uns
mit Menschenrechten verbunden. Daher sind der Schutz
und die Förderung von Menschenrechten auch ein
Schwerpunkt christlich-liberaler Außenpolitik.
Tiefe Sorge bereitet uns - das wurde auch von dem
Kollegen Mißfelder schon angesprochen - die Lage im
Iran. Über 4 000 Verhaftungen wurden seit den Wahlen
im vorigen Jahr bereits gezählt, und reformorientierte,
regierungskritische Personen wurden systematisch in
Gefängnisse gesteckt, in Schauprozessen angeklagt und
zum Teil zum Tode verurteilt, oder sie wurden schon zuvor, noch ehe sie verurteilt werden konnten, so gefoltert,
dass sie gestorben sind.
Die abstoßende Methode der Steinigung droht Frauen
im Iran als Bestrafung des Ehebruchs. Der aktuelle Fall
der Sakine Mohammadi Aschtiani entsetzt die Menschen
weltweit. Das Bild dieser Frau ist um den Globus gegangen. Wir wissen, dass es diese Art der Todesstrafe auch
in Nigeria, in Pakistan und im Sudan gibt. Dort ist Steinigung an der Tagesordnung.
Aber eines sage ich auch: Steinigung ist nur eine Methode der Todesstrafe. Die Todesstrafe muss weltweit
abgeschafft werden,
({4})
natürlich auch in unserem befreundeten Land, in den
Vereinigten Staaten. Ob Steinigung, elektrischer Stuhl,
Strang oder Giftspritze - sie gehört ganz einfach weg.
({5})
Förderprogramme zur Durchsetzung von Demokratie
und Menschenrechten sind wichtig; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Solche finanziellen Förderprogramme können aber nur dann Wirkung entfalten, wenn das
Bekenntnis zu den Menschenrechten auch in den Ländern, in denen wir Hilfestellung geben und in denen Defizite vorhanden sind, von oberster Ebene mitgetragen
und immer wieder eingefordert wird.
Ich sage: Geld alleine genügt nicht und hilft nicht
nachhaltig. Man kann Menschenrechte leider nicht mit
Geld kaufen. Es muss in den Köpfen implementiert sein.
Dazu müssen wir durch Mahnen, durch Überzeugung
und am Ende durch Miteinander beitragen.
Ich bedanke mich.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Nein, danke schön.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Beck.
Geschätzte Frau Kollegin Steinbach, es ist schön,
wenn wir hier wortreiche Appelle zur Abschaffung der
Todesstrafe hören. Im Menschenrechtsausschuss gab es
den Versuch, zu einer fraktionsübergreifenden gemeinsamen Entschließung zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe zu kommen. Wir haben uns, auch in den Berichterstattergesprächen, auf Forderungen an diejenigen
Staaten verständigt, die die Todesstrafe noch praktizieren. An den Iran sollte der Appell gerichtet werden, sich
an die Zivilpaktstandards zu halten und die Todesstrafe
entsprechend auszusetzen. Das sollte verbunden werden
mit Appellen zur Rettung ganz konkreter Menschen, die
von der Todesstrafe bedroht sind. Eine solche gemeinsame Entschließung ist maßgeblich an Ihnen gescheitert,
obwohl SPD und Grüne alle Vorschläge aus der Union
aufgenommen haben.
({0})
Sie haben gerade zu Recht gesagt, es brauche nicht
nur Geld. Vielmehr ist bei fundamentalen Menschenrechtsfragen auch ein gemeinsames parlamentarisches
Eintreten über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg
erforderlich. In der Vergangenheit war das Tradition des
Hohen Hauses und auch Tradition des Menschenrechtsausschusses. Es ist maßgeblich Ihrem Verhalten zu verdanken, dass wir hier nicht mit einer Stimme sprechen.
Der Antrag liegt noch im Ausschuss. Ich appelliere an
die Unionsfraktion, das zu heilen. In der vorvergangenen
Wahlperiode gab es unter Rot-Grün eine gemeinsame
Entschließung des Hauses dazu. Das sollte wieder gelingen.
Bei der Menschenrechtspolitik geht es immer um
zwei Dinge: zum einen um den Kampf für internationale
rechtliche Prinzipien und ihre Einhaltung, zum anderen
um den Schutz ganz konkreter Menschen, die Opfer von
Menschenrechtsverletzungen sind, oder von Menschenrechtsverteidigern, deren Leben und Freiheit unmittelbar
bedroht ist.
Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag wieder dahin
kommt, nicht nur Sonntagsreden zu hören, sondern in
gemeinsamen Entschließungen nach außen, an andere
Länder gerichtet, eine klare Sprache und ein klares Engagement zu finden. In der Tat ist es manchmal wichtiger als Geld, dass wir Demokraten gemeinsam für diese
Prinzipien und für die Menschen eintreten.
({1})
Frau Kollegin Steinbach, bitte.
Herr Kollege Beck, an der klaren Sprache mangelt es
bei mir in aller Regel nicht; das kann ich Ihnen sagen.
({0})
Ich kann Ihnen eines zusagen: Wir sind immer bereit,
mit Ihnen zu sprechen. Aber der Berichterstatter unserer
Fraktion, der auch über einen gemeinsamen Antrag verhandelt hat, hat festgestellt: Ihnen geht es primär um
ganz bestimmte Einzelopfer.
({1})
Wir sind für den Einsatz für alle Opfer, die von Todesstrafe bedroht sind. Indem wir Einzelne in einem Grundsatzantrag herausgreifen,
({2})
lassen wir alle anderen in der Anonymität und schaffen
eine Hierarchisierung. Wenn man den Iran anspricht,
kann das letzte Bild der Frau, die gesteinigt werden soll,
in der Tat als plastisches Beispiel dienen. Aber wenn ein
Antrag formuliert werden soll, dann sind wir grundsätzlich an der Seite aller, die zum Tode verurteilt sind. Jeder
Verurteilte ist einer zu viel.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen keinen Wettstreit darüber durch, welche Bundesregierung sich am meisten für die Menschenrechte
eingesetzt hat, vor allen Dingen dann nicht, wenn wir
alle gemeinsam gegen die Todesstrafe sind. Aber eines
muss an dieser Stelle erwähnt werden, wenn man auf die
Axel Schäfer ({0})
Bundesregierungen der Vergangenheit zurückschaut:
Derjenige, der wie kein anderer für Menschenrechte und
Frieden steht, hat als letzter Deutscher den Friedensnobelpreis bekommen: Willy Brandt. Er war Außenminister
und später Bundeskanzler. Die Menschenrechtspolitik ist
eine Tradition, in der die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und, hoffe ich, auch das ganze Haus stehen.
({1})
Der Bundesaußenminister hat Europa in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. Das war vom Ansatz her richtig. Er hat nichts dazu gesagt, wie zerstritten die eigene
Koalition in dieser Frage ist. Das ist für Deutschland insgesamt falsch.
Ich will das an drei Punkten deutlich machen. Erstens.
Es gibt heute wie nie zuvor Kompetenzstreitigkeiten
zwischen dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen
Amt zulasten der Handlungsfähigkeit deutscher Europapolitik.
({2})
Ich führe das nicht im Detail auf. Sie alle wissen, was
täglich auf den Fluren diskutiert wird.
({3})
Das schadet unserer Position innerhalb der Europäischen
Union.
Zweitens. Man kann in der Debatte über den EuroRettungsschirm für Griechenland nicht die Fakten umdrehen. Weil Schwarz-Gelb sich nicht einig war, eine
Resolution zu verfassen, in der konkrete Fragen wie die
Finanztransaktionsteuer angesprochen werden, hat sich
die SPD zu Recht enthalten; denn es gab nicht einmal
die Möglichkeit, das zu unterschreiben, was Wolfgang
Schäuble vorher im Europaausschuss zugesagt hatte.
Das war der konkrete Grund. Alles anderes ist Geschichtsklitterung.
({4})
Drittens. Herr Außenminister, Sie haben gesagt, dass
wir das Thema in den europäischen Parteizusammenhängen und -familien diskutieren sollten. Dazu muss ich Ihnen allerdings sagen: Was wir dazu an Debatten seitens
der christdemokratischen Parteifamilie und an Regierungshandeln in Europa haben, liegt zum Teil in der Verantwortung Ihres größeren Koalitionspartners. Wir haben die Situation, dass wir ständig, ohne dass darüber
geredet wird, an die Grenzen des Rechtsstaates stoßen,
zum Beispiel mit einer italienischen Regierung, deren
wichtigster Repräsentant Christdemokrat ist. In Frankreich ist es gerade unter einem christdemokratisch-konservativen Regierungschef zu einem klaren Bruch europäischen Rechts im Bereich der Menschenrechte
gekommen, Stichwort Sinti und Roma. In den Niederlanden will man seitens unserer christdemokratischen
Kollegen mit Rechtspopulisten koalieren. Gott sei Dank
halte ich das in Deutschland nicht für möglich. Das alles
wird verschwiegen. Wir haben in der Slowakei die Situation, dass bei klarem Bruch der gemeinsamen europäischen Politik die Solidarität im Zusammenhang mit dem
Rettungsschirm für Griechenland von einer christdemokratischen Regierungschefin aufgekündigt wird.
Das ist die europäische Realität, die wir zurzeit erleben. Wir erleben sie, wenn die Bundeskanzlerin als Parteivorsitzende auf der einen Seite sagt: „Wir sind die
stärkste Kraft, und wir beanspruchen alles: den Ratspräsidenten, den Kommissionspräsidenten und möglichst
die ganze Macht“, man auf der anderen Seite aber, wenn
konkret nachgefragt wird, wer denn diese Herren sind
und was sie für eine Politik machen - aktuell gibt es mit
Herrn Orban, Vizepräsident der EVP, eine besonders
schlimme Ausprägung -, mit all dem Antieuropäischen,
das dort geschieht, nichts zu tun haben will. Diese Form
von doppelter Moral lassen wir Ihnen in der Europapolitik nicht durchgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen
und verehrte Regierung.
({5})
Kollege Krichbaum hat in einem Punkt recht - das
haben andere gelobt, und ich kann mich dem anschließen -: Er hat den Mut von Herrn Tadic gelobt und auch
Ihre Rolle dabei unterstrichen. Das unterstütze ich, Herr
Außenminister. Wir müssen uns aber die Situation vor
Ort genau anschauen, wenn wir über Europa reden: Herr
Tadic ist mutig; denn Ministerpräsident Djindjic hat seinen Mut, für Verständigung einzutreten, mit dem Leben
bezahlt. Slowenien hat unter Ministerpräsident Pahor
Kompromisse mit Kroatien gefunden, sodass der Erweiterungsprozess fortgesetzt werden kann. In Kroatien
setzt sich Staatspräsident Josipovic für die Korruptionsbekämpfung ein, damit das Land nicht nur europafähig,
sondern auch befriedet wird. Alle drei sind sozialdemokratische Staats- und Regierungschefs, die sozialdemokratische Politik in Europa betreiben. Wir brauchen
mehr sozialdemokratische Politik in Europa. Dafür steht
die SPD-Bundestagsfraktion.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Kruse für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Schäfer, nachdem Sie einen langen Exkurs in die Vergangenheit unternommen haben, um ein
sozialdemokratisches Idol auszugraben, haben Sie zum
Schluss an die Grenzen Europas gehen müssen, um Vorbilder der heutigen Sozialdemokratie zu finden. Da Sie
„christdemokratisch“ immer so schön betont haben,
möchte ich auf Folgendes hinweisen: Keine einzige Re6104
gierung hat so viel für Europa getan wie die christdemokratisch geführte deutsche Regierung.
({0})
Wir haben Einsatz für ein stabiles Europa, ein Europa
der Solidarität und ein Europa gezeigt, das einen krisenfesten Neuanfang nimmt.
Da wir nun die Haushaltsdebatte führen, schadet es
vielleicht nicht, wieder ein bisschen herunterzukommen
und auf ein paar Zahlen zu schauen. Wir haben das
Thema Kultur schon gestreift. Es ist Tradition, dass wir
über den Kulturetat zweimal diskutieren, unter anderem
bei den Beratungen über den Etat des Auswärtigen Amtes. Kultur ist schließlich ein bedeutendes Thema. Von
der Summe her - Frau Krumwiede hat mit ihrem Hinweis, dass gewisse Kulturvorgänge fast unsichtbar sind,
recht - scheint das nicht der Fall zu sein. Der Etat sackt
diesmal um 2,7 Prozent ab. Nichtsdestotrotz haben wir
die Mittel in wichtigen Kernbereichen im Prinzip verstetigt. Zum Beispiel wurden die Mittel für die deutschen
Schulen im Ausland, aber auch für die Projektarbeit, die
sehr empfindlich auf Schwankungen reagiert, nur um
0,8 Prozent gesenkt. Es ist richtig, dass sich die Schuldenbremse auch hier auswirkt. Wir haben die Mittel für
die institutionelle Förderung gesenkt, weil wir glauben,
dass dies für einen gewissen Zeitraum vertretbar ist. Die
betroffenen Institutionen haben einen wesentlich längeren Atem als kleinere Projekte. Im Endergebnis geht es
um 20 Millionen Euro. Bernd Neumann hat recht: Mit
Kürzungen im Kulturbereich kann man einen Haushalt
nicht sanieren. Aber natürlich sind alle Bereiche gefordert, einen Beitrag zu leisten.
Ich möchte eine Sache aufgreifen, die von der Summe
her überhaupt nicht bedeutend ist, die aber ein gewisses
Licht auf die ständige Konfliktlinie zwischen Parlament,
Regierung und Verwaltung wirft. Ich empfehle der
Staatssekretärin Pieper, einmal ins Internet zu gehen und
sich ein, zwei Folgen der alten britischen Fernsehserie
Yes Minister anzuschauen. Dann wird sie sehen, wie es
sein kann, wenn Politik etwas will, was Verwaltung
scheinbar nicht will. Was meine ich? Ich meine die Villa
Tarabya. Das ist vom Etat her kein großes Projekt. Aber
das Parlament hat sich für dieses Projekt eingesetzt. Ab
einer gewissen Willensstärke des Parlaments kann auch
Verwaltung so etwas nicht ignorieren. Das heißt, sie
muss handeln. Manchmal wird dann zu guter Letzt gesagt: Jetzt machen wir, kurz bevor es so weit ist, ein
neues Konzept. - Zufälligerweise sind die Haushaltsberatungen auf einen Termin gefallen, zu dem das Konzept
noch nicht fertig ist. Das finden wir natürlich schade.
Vielleicht kann man noch einmal insistieren; denn wenn
das Parlament einen solchen Akzent setzt, erwarten wir,
dass dem gefolgt wird. Wenn es Bedürfnisse gibt, das zu
ergänzen oder zu verändern, dann kann ich nur sagen:
Herzlich gerne, aber bitte nicht so, dass wir nicht mehr
darüber beraten können. Das wäre ein Wunsch.
Uns ist dieses diplomatisch-kulturelle Projekt wichtig, weil Kultur identitätsstiftend ist, wie es Bernd
Neumann vorhin formuliert hat. Im Ausland ist unsere
Kultur unsere Visitenkarte. Sie ist quasi ein Bild, das wir
von unserem Land abgeben. Wir haben es vorhin gehört:
Gerade in Krisenzeiten, wenn andere Länder verstärkt
bei der Kultur einschneiden, ist es immer gut, antizyklisch zu investieren. Ich glaube, wir sind gut beraten,
wenn wir im Ausland in das Bild Deutschlands investieren. Dazu gehört: Wer mit seiner Identität werben will,
der muss sich seiner Identität sicher sein. Deshalb haben
wir immer eine ablehnende Haltung gegenüber einem
Multikulti-Mischmasch eingenommen. Wir haben gesagt: Wie soll sich zum Beispiel jemand in eine Nation
integrieren, wenn diese Nation selbst gar nicht weiß, was
ihr eigenes Bild ist? Kulturelles Bewusstsein ist von daher eine wichtige Grundlage.
({1})
Ich glaube, dass wir mit unseren Beiträgen zur Kulturpolitik im Ausland auch ein sehr gutes Aushängeschild haben; denn eines ist klar: Deutsche Premiumprodukte werden nicht nur gekauft, weil sie technisch so gut
sind. Ein Argument ist auch immer: Wer im Ausland
deutsche Produkte nutzt, der nimmt auch ein Stück dieser Kultur auf, weil sie ihm gefällt.
Ich glaube, dass es in einer globalisierten Welt wichtig ist, um Menschen zu werben, die sagen: Ich verbringe
eine Zeit meines Berufslebens in Deutschland. Das sind
diejenigen Menschen, die wir haben wollen. Sie müssen
natürlich auch ein attraktives Bild dieses Landes sehen,
sie müssen im positiven Sinn angeworben werden. Das
gilt genauso für die Menschen, die schon hier sind. Auch
diese müssen von uns überzeugt werden. Das ist die
Aufgabe der Kulturpolitik im Ausland und natürlich
auch im Inland. Deshalb werden wir in diesem Bereich
auch zukünftig einen stabilen Kurs fahren, und wir werden im Haushalt immer darauf achten, dass die Kultur
immer ein Stück besser fährt als andere Bereiche.
Danke schön.
({2})
Zu diesem Einzelplan liegen nun keine weiteren
Wortmeldungen vor.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14.
Als erstem Redner erteile ich das Wort Herrn Bundesminister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr steht vor einer der größten gestalterischen Herausforderungen seit ihrer Gründung im Jahr 1955. Wir stehen vor einer Reform, über die in einigen Teilen auch
noch politisch zu entscheiden sein wird, und mit der wir
uns in diesem Jahr auch bei den Haushaltsberatungen sicher noch entsprechend befassen werden. Ich darf an
dieser Stelle sagen, dass es sich um eine Reform handeln
wird, die logisch auf mutigen Vorarbeiten und auf mutigen Schritten meiner Vorgänger aufbaut. Ich umfasse
hierbei sowohl meinen Amtsvorgänger Franz Josef Jung
als auch die Kollegen Struck, Scharping und Rühe.
({0})
Ich möchte hierfür danken, weil große und mutige
Schritte gegangen wurden. Wir bedürfen jetzt allerdings
noch einmal eines entsprechend mutigen Schrittes. Dank
auch an meine Amtsvorgänger für das, was geleistet
wurde.
({1})
Diese Herausforderungen und diese Reform haben
- und das ist entscheidend - zunächst einmal eine
sicherheitspolitische Analyse zur Grundlage. Es ist
eine Analyse darüber, wie sich die sicherheitspolitischen
Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft darstellen werden. Aufbauend auf diese Analyse gibt es
letztlich auch ein formuliertes Aufgabenspektrum. All
das hat in den letzten Wochen der Generalinspekteur der
Bundeswehr zu Papier gebracht, und ich glaube, er hat
eine sehr breite, eine sehr tiefgehende und eine letztlich
sehr plausible Analyse vorgelegt, die die Grundlage für
die kommenden Schritte darstellen und bieten soll. Herr
Generalinspekteur, Sie sind heute hier. Ihnen, Ihrer
Mannschaft und jenen, die mitgewirkt haben, sage ich
auch von meiner Seite aus Danke für diese intensiven
und guten Arbeiten.
({2})
Neben dieser Analyse, neben dem Aufgabenspektrum, das daraus erwächst, gab es in diesem Jahr eine
von mir angewiesene Defizitanalyse, die deutlich gemacht hat, wo wir mit Blick auf unsere Strukturen noch
Nachbesserungs- und Verbesserungsbedarf haben. All
das bildet die Grundlage dessen, weshalb Entscheidungsbedarf gegeben ist. Ich habe schon oft betont, dass
wir dringenden Entscheidungsbedarf haben. Ich würde
mich freuen, wenn wir diese nächsten Schritte auch in
einem parteiübergreifenden und gemeinsamen Vorgehen
gestalten könnten, weil ich den Eindruck habe, dass wir
- bis auf die eine oder andere Ausnahme - mit unseren
Grundüberlegungen nicht so weit auseinanderliegen.
({3})
- Herr Gehrcke, Ihre Position ist klar. Sie bilden die
Ausnahme, die ich jetzt betonen durfte.
({4})
Ich glaube aber, dass wir bei vielen Punkten sehr nahe
beieinanderliegen und eine gute Basis dafür haben, zu
einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Dieser Punkt
wäre in meinen Augen sehr erfreulich. Das wäre die
Grundlage dafür, dass nicht nur unserer Truppe mit
Blick auf ihre künftigen Einsätze, sondern auch unseren
zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ebenso
wie die Soldaten in den letzten Jahren unglaublich flexibel und mit hoher Motivation und Professionalität auf
Strukturdefizite reagieren mussten, eine Perspektive gegeben wird, die von einer breiten Mehrheit des Bundestages getragen wird. Das sollten wir alle anstreben, weil
die Truppe, der ich für das, was in den letzten Jahren geleistet wurde, danken will, diesen Rückhalt verdient hat.
({5})
Ich begrüße einige Soldatinnen und Soldaten, die heute
auf der Tribüne sind und mit großer Spannung und Interesse dieser Debatte folgen.
Wir wollen die anstehende Neuausrichtung nutzen,
um die Bundeswehr als ein leistungsfähiges Instrument
unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu stärken. Es
geht darum, Strukturen und Prozesse konsequent und
umfassend auf die Erfordernisse des Einsatzes auszurichten, auf Erfordernisse des Einsatzes im Inland wie
im Ausland in dem verfassungsrechtlich gegebenen Rahmen. Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leistungsstark und flexibel sind und das Maß an Professionalität mitbringen, das wir von ihnen erwarten, und die
auf die gegenwärtigen und künftigen Situationen, die
von einem hohen Maß an Unberechenbarkeit geprägt
sein werden, verlässlich reagieren können. Ein Konzept
für solche Streitkräfte ist vom Generalinspekteur erarbeitet worden und bietet letztlich die Grundlage für die
Arbeit.
Es geht um Strukturen und um eine verbesserte Leistungsfähigkeit. Wir müssen uns verbessern. Ich habe
immer wieder darauf hingewiesen, dass wir bei einer
derzeitigen Stärke von 252 000 Soldatinnen und Soldaten gerade einmal 7 000 in den Einsatz schicken können.
Dass wir dann schon über Kante genäht sind, steht uns
im internationalen Vergleich nicht gut zu Gesicht. Es
geht aber auch um die einsatzgerechte Ausrüstung und
Ausstattung. Der Wehrbeauftragte weist immer wieder
darauf hin, wie wichtig es ist, auch diesen Aspekt zu berücksichtigen. Es geht um einen beschleunigten Entscheidungsprozess, es geht aber auch um beschleunigte
Beschaffungsprozesse. Das ist ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt. Da müssen wir Dinge verbessern und neben
den Perspektiven für die Soldatinnen und Soldaten noch
weitere Perspektiven eröffnen. Es geht auch um eine angemessene Ausgestaltung des Dienstes und nicht zuletzt
um die Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr.
Es ist wichtig, genau diesen Punkt zu betonen; denn
wir befinden uns bereits heute im Wettbewerb mit der
freien Wirtschaft um die besten Köpfe. Das gilt für den
zivilen wie für den militärischen Bereich. Deswegen ist
dem Aspekt der Attraktivität auch so viel Raum beizumessen. Ich freue mich über viele Hinweise, die in dieser
Hinsicht gekommen sind. Viele haben dazu beigetragen,
dass das auf der Agenda sehr weit oben steht. Zur Attraktivität des Dienstes gehört natürlich der Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, und
dazu gehört, dass sich der Arbeitsplatz mit anderen messen kann. Darauf wollen wir viel Kraft verwenden.
Eine Grundlage für diese Neuausrichtung, die wir
jetzt vornehmen wollen, ist vor dem Hintergrund, flexibler und besser zu werden, die Erkenntnis, dass eine Reduzierung des Gesamtumfangs der Bundeswehr unumgänglich ist. Diese Reduzierung findet allerdings ihre
Grenzen, wenn das Aufgabenspektrum, das formuliert
wurde, nicht mehr erfüllt werden kann. Das Aufgabenspektrum umfasst die Notwendigkeit, weiterhin voll
bündnisfähig zu sein und weiterhin sowohl innerhalb der
NATO als auch innerhalb der Europäischen Union eine
führende Rolle wahrnehmen zu können. Es umfasst auch
die Notwendigkeit - ganz wichtig - des Schutzes unserer
Heimat dort, wo es verlangt ist, und dort, wo wir darauf
zurückgreifen wollen. Es umfasst aber auch das breite
Szenario dessen, was heute in Auslandseinsätzen gefordert ist und dort künftig gefordert sein kann. Es sind sehr
viele sehr unterschiedliche Szenarien, die hier abgefordert werden können. Gerade auch in dieser Hinsicht
müssen wir planen.
Auf der Grundlage dieses Ansatzes kamen wir zu unterschiedlichen Modellen und haben nunmehr auch aus
Sicht des Ministeriums eine Empfehlung für ein Modell
abgegeben, das von einer Zielgröße von mindestens
163 500 Soldatinnen und Soldaten ausgeht.
({6})
Dieser Ansatz bietet gerade noch ein geeignetes Fähigkeitsprofil und wird den heutigen wie den künftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen durch eine höhere Einsatzfähigkeit besser gerecht.
Das ist der absolute Mindestumfang. Er darf nicht
geringer und er kann durchaus höher ausfallen, wenn ich
das so sagen darf. Das wird im Einzelnen noch festzulegen sein. Das ist natürlich auch Gegenstand der parlamentarischen Beratungen und der Abstimmungen. Ich
bin alles andere als undankbar für die vielen Hinweise,
die ich in dieser Richtung schon bekommen habe. Es
gibt viele, die sich entsprechend eingebracht haben.
Danke auch für die Begleitung in den letzten Wochen
und Monaten durch die Fachpolitiker, durch die Fraktionsvorsitzenden und auch durch die Berichterstatter im
Haushaltsausschuss, die mit Blick auf die künftigen Gestaltungen sicher vor keiner einfachen Aufgabe stehen.
Mit der Reduzierung, aber nicht nur deswegen, stellt
sich auch die Frage nach der Wehrform. Das ist eine der
Fragen, über die wir derzeit am intensivsten debattieren,
wobei es eine logische Folgefrage aus den Strukturüberlegungen ist, die wir gerade angehen. Manchmal hat man
das Gefühl, dass es in der Diskussion eher schon umgekehrt ist. Aber es ist so, dass die Wehrform in untrennbarem Zusammenhang mit dem Auftrag, mit dem Umfang
und mit den Strukturen steht. Genau um diesen Zusammenhang geht es. Es ist bereits heute so, dass wir nach
unserem politischen Konsens keine Wehrpflichtigen
mehr in die Einsatzszenarien schicken, die sich heute
bieten. Das ist ein Konsens, der gebildet wurde.
Es lohnt sich gelegentlich ein Blick zurück. Obwohl
wir in den beiden letzten Jahrzehnten die Streitkräfte
- ausgehend von annähernd einmal 500 000 Soldaten nahezu halbiert haben, ist die Anzahl der Berufs- und
Zeitsoldaten nahezu gleich geblieben. Heute leisten allerdings weniger als 17 Prozent eines Jahrgangs ihren
Grundwehrdienst ab. Vor zehn Jahren waren es noch
40 Prozent. In den frühen 80er-Jahren waren es fast
60 Prozent. Man vergisst gelegentlich, was das bereits
für eine Entwicklung war. Die Reduzierungen erfolgten
schon bisher in erster Linie durch die Verkürzung der
Grundwehrdienstdauer - als Folge eines veränderten
Anforderungsprofils.
Sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, ist für einen Teil dieses Hauses außerordentlich schwierig. Ich
sage Ihnen, dass das auch für mich gilt. Das war für
mich ein Schritt, der mir auch emotional sehr viel bedeutet hat; aber dieser Schritt basiert auf der Auseinandersetzung mit den Realitäten, denen wir heute schlicht ins
Auge sehen müssen.
Eine Realität ist die Zahl jener, die wir heute noch als
Wehrpflichtige, als Wehrdienende haben. Natürlich
spielt auch der Umstand eine Rolle: Wenn ein junger
Mann heute nicht mehr zur Bundeswehr will, dann geht
er faktisch schon nicht mehr dorthin. Wir müssen uns
auch die Frage stellen: Was bieten wir jenen, die zu uns
kommen und zu uns kommen wollen und die für diesen
unglaublich wichtigen Aspekt der Bindung zwischen
Gesellschaft und Bundeswehr stehen? Ihnen haben wir
einmal 18 Monate geboten. Mittlerweile haben wir uns
auf ein Sechs-Monats-Angebot geeinigt. Aber bereits bei
neun Monaten war es schwierig, neben der gesellschaftspolitischen Begründung, die mir unglaublich viel bedeutet,
({7})
eine sicherheitspolitische Begründung zu geben. Die
Frage ist ja: Ist für den einzelnen Wehrpflichtigen oder
Wehrdienenden auch sicherheitspolitisch der Maßstab,
den die Verfassung uns letztlich abverlangt, erfüllt?
Diese Begründung können wir bereits heute nicht mehr
in dem Maße geben.
Deswegen und auch vor dem Hintergrund dessen,
dass das Regenerationsargument heute nicht mehr so
trägt, wie es einmal getragen hat, ist es in unserer Verantwortung, zu sagen: Wir wollen uns nicht in eine Mängelverwaltung hineinbegeben, sondern wir sehen den Auftrag, zu gestalten - im Sinne der jungen Menschen, aber
auch im Sinne der Bundeswehr. Diesen Gestaltungsauftrag sollten wir annehmen.
({8})
Das heißt aber auch, dass wir uns bei einigen wichtigen Fragen, die auch im Kontext mit der Wehrpflicht zu
sehen sind, nicht einfach bequem zu Hause auf die
Couch legen können. Das gilt etwa für unvorhersehbare
Ereignisse wie zum Beispiel Naturkatastrophen und für
alles, was mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit in
Zusammenhang steht. Hier müssen wir kluge Vorschläge
machen. Das wird geschehen; denn diese werden wir gemeinsam mit vielen anderen ausarbeiten.
Wir brauchen einen zeitgemäß organisierten Heimatschutz. Das bleibt ungemein wichtig. Das verlangt aber
auch professionell aufgestellte Streitkräfte und mehr denn
je gut ausgebildete und motivierte Reservisten. Auch darauf möchte ich hinweisen. Deswegen ist es wichtig, diese
entsprechend ihrer wachsenden Verantwortung in ein
neues Konzept einzubinden. Ich glaube sogar, dass das
ein wesentlicher Bestandteil der Neuausrichtung sein
muss. Die Größenordnung jährlich ausscheidender Zeitsoldaten und ein kluges Reservistenkonzept sichern zudem auch die hinreichende Aufwuchsfähigkeit, die wir
letztlich brauchen.
({9})
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. - All das, verbunden mit einer gewissen Attraktivität, muss Bestandteil
der Neuausrichtung sein. Zugleich muss es natürlich im
realistischen Einklang mit den Erfordernissen des Haushaltes stehen. Die wichtige und entscheidende Frage für
uns ist aber in jedem Fall, was uns künftig die Sicherheit
unseres Landes wert ist. Es darf also nicht allein um die
Frage gehen, was wir uns noch leisten können. Die sicherheitspolitische Grundlage ist das Maßgebliche. Darauf
aufbauend wollen wir in die Diskussionen und Debatten
dieses Herbstes gehen. Ich würde mich freuen, wenn wir
parteiübergreifend zu Lösungen kommen würden.
Ich bedanke mich für die Unterstützung in den letzten
Wochen. Ich glaube, wir werden im Sinne unserer
Truppe und im Sinne unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein erstklassiges Ergebnis finden.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer
Arnold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, Sie haben am Anfang Ihrer heutigen Rede
einen neuen Aspekt gebracht: Sie haben anerkannt, dass
Ihre Vorgänger auch schon wichtige Reformen gemacht
haben. Bisher haben Sie je nach Publikum immer eher so
geredet, als ob Sie derjenige wären, der das Rad erfunden hat.
({0})
Ich darf Ihnen vielleicht noch sagen: Jeder Fachpolitiker wusste, dass nach Erreichen der Zielstruktur des Jahres 2010 im Jahr 2011 selbstverständlich weitere Transformationsschritte anstehen.
({1})
Es gibt aber diesbezüglich einen Unterschied zu Ihren
Vorgängern, Herr Minister. Alle Ihre Vorgänger haben in
der Vergangenheit vor notwendigen Reformschritten sorgfältige sicherheitspolitische Analysen durchgeführt.
Sie haben daraus den Auftrag für die Bundeswehr definiert und daraus die notwendige Struktur abgeleitet. Und
wenn Ihre Vorgänger eine Kommission eingesetzt haben,
haben sie abgewartet, bis die Kommission ihr Ergebnis
vorlegte. Das war ein ganz normaler Vorgang. Sie machen etwas anderes. Sie preschen stets vor, sorgen für
neue Überschriften und dadurch für eine erhebliche Verunsicherung in der Truppe.
Im Übrigen gäbe es auch im Hinblick auf die in den
nächsten Wochen zu erwartende neue NATO-Strategie
Grund genug, sich ein bisschen Zeit für den Prozess zu
nehmen.
({2})
Ich habe manchmal die Sorge, dass Ihnen mediale Inszenierungen das Wichtigste sind. Unser Rat lautet: Sorgfalt
statt Eile.
Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass bei Ihnen sicherheitspolitische Entscheidungen tagespolitischer Opportunität geschuldet sind. Wir wissen aber,
Strukturentscheidungen bei der Bundeswehr beeinflussen die internationale Handlungsfähigkeit jeder Bundesregierung, zum Beispiel auch die der nächsten Bundesregierung, die sich in diesem Haus vielleicht schon
auf eine andere Mehrheit stützen wird. Entsprechende
Entscheidungen in der Sicherheitspolitik sind auch nicht
ohne Weiteres korrigierbar. Deshalb müssen wir den notwendigen Diskurs führen, ohne den Grundkonsens, den
wir als Sozialdemokraten immer mit der Union hatten,
zu gefährden.
Ich höre Ihre Ankündigung immer wieder gerne, dass
Sie diesen Konsens suchen. Ich glaube daran aber erst
dann, wenn ein Format gefunden ist, in dem auch wir
unsere Ideen und Anregungen über zukünftige Strukturen einbringen können und diese nicht ausschließlich
medial austauschen müssen. Finden Sie das Format und
Sie sind in diesem Bereich glaubwürdig.
({3})
Dies gilt in allerhöchstem Maß für die zukünftige Ausgestaltung der Wehrpflicht. Noch vor wenigen Monaten
haben auch Sie, Herr Minister, die Wehrpflicht für unverzichtbar gehalten und haben sich für diese These den Applaus bei vielen Soldaten abgeholt. Dann haben Sie selbst
eine Verkürzung des Grundwehrdienstes auf sechs Monate unterschrieben. Damit haben Sie die Wehrpflicht
ohne eine sehr grundsätzliche und notwendige Debatte im
Grunde genommen schon damals zur Abschaffung freigegeben. Denn auch die Gutwilligen, die die Wehrpflicht
für richtig halten, können keine sechsmonatige Grundwehrdienstzeit unterstützen, die mehr Kosten verursacht
und mehr Aufwand für die Soldaten bedeutet und doch
am Ende keinen Nutzen mehr mit sich bringt.
({4})
Jetzt wollen Sie die Wehrpflicht aussetzen. Niemand
von uns ist bisher auf die Idee gekommen - vielleicht
mit Ausnahme der Linken -, die Verfassung diesbezüglich zu verändern. Das ist also auch keine stichhaltige
Argumentation.
Was ist in den letzten Wochen passiert, dass Sie plötzlich zu einer anderen Einschätzung kommen? Herr
Minister, die sicherheitspolitische Bewertung verändert
sich doch nicht zwischen Frühjahr 2010 und Herbst
2011. Es gibt nur eine Veränderung, nämlich den Spardruck in den Haushaltsberatungen. Es ist ganz klar: Die
Wehrpflicht in der bisherigen Form steht einer, wie auch
wir meinen, möglichen und auch notwendigen Verkleinerung der Bundeswehr schlicht im Wege. Deshalb ist
es auch nicht Ihr Verdienst, dass es diese Debatte gibt.
Es ist auch nicht Ihr Verdienst, dass Herr Seehofer am
Ende - das kennen wir von ihm - seine Meinung geändert hat. All die Damen und Herren haben gemerkt, es ist
die Macht des Faktischen, dass man bei der Wehrpflicht
nicht einfach so weitermachen kann wie in der Vergangenheit. Sozialdemokraten sagen dies seit drei Jahren.
Wir haben diese Entwicklung unaufhaltsam auf uns zukommen sehen. Deshalb haben wir schon damals die
Idee entwickelt, dass wir, wenn es die Wehrpflicht nicht
mehr gibt, junge Menschen bei der Truppe brauchen, die
freiwillig ihren Grundwehrdienst leisten. Das hat nichts
mit dem alten Argument zu tun, die Bundeswehr bedürfe
dieser Kontrolle.
Mich hat sehr beeindruckt, was die französische Verteidigungsministerin bei uns im Verteidigungsausschuss
geantwortet hat, als wir sie gefragt haben, welche Wirkung die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich gehabt hat. Sie sagte sinngemäß, dass sich seither nicht die
französische Armee von der Gesellschaft entfernt hat,
dass sie aber beobachtet, dass sich die Gesellschaft von
der Armee entfernt.
Wir alle wissen, dass die Bundesrepublik eine andere
Kultur im Umgang mit dem Militärischen hat. Das ist
ein sehr wichtiges Argument. Deswegen ist die Idee der
Freiwilligkeit gut. Sie nähern sich jetzt in Trippelschritten unserer Idee an. Das begrüßen wir. Aber was notwendig wäre, fehlt. Sie schaffen zwar verzagt mit dem
Rechenstift 7 500 Plätze für Freiwillige und begründen
dies damit, dass man soundso viele Soldaten zur Nachwuchsgewinnung braucht. Trotzdem fehlt bei Ihnen der
entscheidende Schritt: Es ist nicht nur ein Projekt für die
Bundeswehr mit 7 500 Freiwilligen. Hinter unserer Idee
steckt ein breites gesellschaftspolitisches Konzept der
Stärkung und des Attraktivermachens der Freiwilligendienste für junge Menschen, sowohl materiell als auch
ideell und in der gesamten gesellschaftlichen Breite.
Hierzu gibt es viele Ideen. Unser Angebot, Herr
Minister, bleibt: Wir sind bereit, uns bei diesem gesellschaftlichen Projekt, um das es im Kern geht, mit unseren Ideen auch in Zukunft einzubringen. Ich weiß auch,
dass wir das eine oder andere Detail, über das wir vor
drei Jahren in der Sozialdemokratie diskutiert haben,
heute selbstverständlich an der einen oder anderen Stelle
nachjustieren müssen.
Herr Minister, wir erwarten von Ihnen mit Blick auf
die Bundeswehrstruktur - das ist der nächste Punkt -,
dass Sie die Sicherheitsinteressen unseres Landes ernst
nehmen und dass Sie der Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag ein schlüssiges Modell präsentieren,
das der Verantwortung Deutschlands und den wohlverstandenen deutschen Interessen in der Welt gerecht wird.
Sie liefern fünf Modelle und sagen, vier davon seien
überhaupt nicht brauchbar. Aber das fünfte Modell ist
ebenfalls geschönt: Weder die Flugbereitschaft noch die
Sportförderung, noch die Soldaten im Ministerium sind
zunächst einmal mit einbezogen.
Sie sagen: Wir haben ein Modell, das zwar knapp und
auf Kante genäht ist, das aber funktionieren wird. Ich
prophezeie Ihnen heute: Wenn dieses Modell in der Detailplanung vorliegt, wird die staunende Öffentlichkeit
sehr schnell feststellen, welche wichtigen Fähigkeiten
bei den Streitkräften nach diesem Modell nicht mehr
vorhanden sind.
Herr Minister, Sie reden gerne so über sich, als ob Sie
ständig Klartext redeten. Das hier wäre eine Chance,
wirklich Klartext zu reden. Gehen Sie zum Finanzminister und sagen Sie ihm, die Vorgabe, 40 000 Zeit- und Berufssoldaten und 8,3 Milliarden Euro einzusparen, ist
nicht erfüllbar; denn auch das von Ihnen präferierte Modell erfüllt diese Vorgabe überhaupt nicht. Klartext heißt:
nicht erfüllbar. Ich könnte als Minister mein Amt nicht
verantwortungsvoll ausfüllen, wenn ich zu solch einem
Modell aus fiskalischer Sicht gezwungen würde.
Aber Sie machen etwas ganz anderes. Sie sagen - so
wie die oberfränkische Metzgersfrau - dem Parlament:
„Es darf ja vielleicht ein bisschen mehr sein“, und in
Wirklichkeit verstecken Sie sich hinter dem Parlament
und dem Finanzminister, anstatt Ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
({5})
Ich finde es schon interessant: Sie sind der populärste
Politiker in Deutschland.
({6})
Natürlich würde es Spaß machen, der Frage nachzugehen,
woher das kommt. Kommt es von politisch qualifiziertem
Handeln, oder ist es eher der medialen Inszenierung, bei
der die Truppe bei Ihnen manchmal auch Staffage und Dekoration ist, geschuldet? Ich will dieser Frage nicht nachgehen. Aber eine andere Frage möchte ich Ihnen doch
stellen: Was macht ein Minister, der so populär ist, eigentlich mit seiner Popularität? Wo bringt er das Gewicht,
das ihm seine Popularität verschafft, auch tatsächlich zum
Nutzen der Soldaten ein?
({7})
Sie sind Klassenprimus, was das Sparen angeht, beim
Finanzminister. Der erste Sündenfall war W6. Der zweite
Sündenfall war, dass Sie, ohne einen Piep zu sagen, der
Nacht-und-Nebel-Streichaktion Ihrer Haushälter zugestimmt haben, die Ihnen 456 Millionen Euro aus dem
Haushalt genommen haben mit der Folge, dass sich die
Soldaten jetzt wundern, dass das Geld bei den Betriebsmitteln so knapp ist.
Sie haben den dritten Sündenfall begangen, Herr
Minister, indem Sie bei Ihrer so bedeutenden Hamburger
Rede gesagt haben: Der höchste Parameter für die strategische Ausrichtung der Bundeswehr ist die SchuldenRainer Arnold
bremse, und der Finanzrahmen wird den strukturellen
Rahmen und den eigenen Anspruch vorgeben. Das waren Ihre Worte in Hamburg. Heute reden Sie wieder ganz
anders. Ich weiß nicht, was stimmt. Aber eines weiß ich:
Wer dem Finanzminister - egal was für ein Parteibuch er
hat - einen solchen Ball zuspielt, der darf sich nicht
wundern, dass der Finanzminister diesen Ball sehr dankbar annimmt.
({8})
Damit mich niemand falsch versteht: Auch Sozialdemokraten wissen, dass man auch bei der Bundeswehr
sparen muss, dass es dort Effizienzreserven gibt, dass es
Doppelungen gibt, dass es Schwächen in der Führungsstruktur gibt. Wir sind auch bereit, darüber mit Ihnen zu
reden. Wir werden aber bei den Debatten in den nächsten
Wochen auf ein paar Punkte in besonderer Weise achten.
Auf dem Weg zu dieser neuen Struktur werden wir
darauf drängen, dass die Zusagen, die Deutschland den
internationalen Organisationen gegeben hat, stringent
eingehalten werden. Es reicht nicht, dass Frau Merkel
und Herr Westerwelle nach New York fahren, wenn die
Bundeswehr nicht mehr in der Lage ist, die Zusage,
1 000 Mann für besondere Aufgaben der Vereinten Nationen zur Verfügung zu stellen, einzuhalten.
Wir werden einfordern, dass es nicht nur eine Debatte
über die Bundeswehrstruktur und diesen vernetzten Ansatz in Sonntagsreden gibt, sondern dass wir auch einmal
darüber reden, was wir eigentlich tun, nachdem wir wissen, dass internationale Krisenbewältigung nicht nur Soldaten, sondern auch viele zivile Fähigkeiten braucht. Was
tut die Bundesrepublik eigentlich im Bereich der Zurverfügungstellung von Polizeifähigkeiten für internationale
Krisen? All dies fehlt.
Wir werden darauf achten, dass es nicht nur eine Einsatzarmee ist, sondern dass es weiterhin glaubhafte Bausteine zur Bündnisfähigkeit gibt; denn wir haben eine
europäische Vision von Streitkräften. Diese europäische
Vision wird nur erreicht werden, wenn das größte und
wirtschaftsstärkste Land in Europa Vertrauen bei den
kleinen Partnern, vor allen Dingen in Osteuropa, findet.
Nur dann, wenn die Osteuropäer wissen, die Deutschen
sind bereit, mit ihrem Gewicht und ihren Möglichkeiten
für die gemeinsame Sicherheit einzutreten, werden wir
tatsächlich eine Chance haben, weitere Schritte hin zur
Vision einer europäischen Armee zu gehen. Im Übrigen
werden wir nur so die Chance erhalten, in Europa zu
weiteren Abrüstungsschritten zu kommen; denn dies hat
auch etwas mit Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu tun.
Zum Ende möchte ich sagen, was bei der Bundeswehr
besonders wichtig ist - eigentlich hätte ich es an den Anfang meiner Rede stellen sollen -: der Mensch. Wichtig
sind nicht Technik, nicht Waffen; wichtig ist, was die
Menschen leisten, ihre Motivation, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Moral, ihr Verständnis vom Staatsbürger in Uniform, das Leben der Prinzipien der Inneren
Führung. Dazu gehört auch: Wir werden alles verhindern, was dazu führt, dass die deutschen Soldaten strukturell bedingt länger als vier Monate in den Auslandseinsatz müssen. Dies würde sie aus ihrem sozialen
Gefüge herausreißen, und zwar in einer Art und Weise,
die dazu führen würde, dass wir am Ende eine andere
Armee haben.
Herr Minister, Sie haben kürzlich gesagt: Schaut doch
mal nach Großbritannien und Frankreich! Wir tun das
seit langem. Sie haben recht: Auch diese Länder reduzieren die Streitkräfte; aber ihnen ist die Frage, wie lange
Soldaten im Einsatz sind, relativ egal. Es handelt sich
um Regierungsarmeen, nicht um Parlamentsarmeen; die
Soldaten werden einfach weggeschickt. Da würden wir
Sozialdemokraten nicht mitmachen.
Herr Minister, es bleibt wichtig - Sie selbst haben es
formuliert -: Für die Soldaten ist es entscheidend, dass
sie der Politik vertrauen können. Meine Sorge ist: So wie
die Deutschen insgesamt das Vertrauen in die Bundesregierung verloren haben, so haben auch Sie, Herr Minister, durch das Hin und Her in den letzten Wochen und
Monaten Ihren Beitrag dazu geleistet, dass das Vertrauen
der Soldaten in die Politik und in die Regierung schwindet.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Koppelin
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, Sie haben von der großen Herausforderung gesprochen, vor der wir jetzt stehen. Das ist richtig.
Sie haben vom Mut auch Ihrer Vorgänger gesprochen. Es
gab jemanden, der besonders viel Mut hatte: Das war die
Freie Demokratische Partei. Wir haben nämlich seit vielen Jahren gefordert, dass aus unserer Bundeswehr eine
Freiwilligenarmee wird.
({0})
Wir haben uns das nicht leicht gemacht; wir haben sogar
einen Sonderparteitag veranstaltet und unter den Mitgliedern darüber abgestimmt. Das war ein schwieriger
Weg.
Herr Minister, insofern habe ich Verständnis dafür,
wenn es bei Ihnen in der Fraktion, bei CDU und CSU,
Stimmen gibt, die sich für die Beibehaltung der Wehrpflicht aussprechen. Man muss natürlich sagen: Wer für
die Wehrpflicht ist, müsste sich für eine Wehrpflicht aussprechen, die nicht 6 oder 9 Monate dauert, sondern
18 Monate oder länger; denn dann macht sie Sinn. Das
will aber keiner mehr. Respekt, dass Sie die Mitglieder
der Fraktion der CDU/CSU überzeugt haben! Vielleicht
können Sie mir bei Gelegenheit sagen, wie Sie es geschafft haben, Herrn Seehofer zu überzeugen.
({1})
Aber alle Achtung: Sie haben es geschafft! Dafür Respekt und Anerkennung!
({2})
Nun kommt der Kollege Arnold und beklagt sich.
Dazu muss ich sagen: Ich hätte gerne gehört - die Öffentlichkeit wäre sehr interessiert gewesen -, wie die Alternative der Sozialdemokraten aussieht. Sie kommen
dann und sagen - da wird es nebelig -: Wir Sozialdemokraten haben vor drei Jahren etwas beschlossen. Warum
haben Sie es nicht früher umgesetzt?
({3})
Sie haben doch regiert.
({4})
- Nein, nein. Sie waren doch vorher in einer Koalition
mit den Grünen. Die Grünen waren zumindest für die
Aussetzung der Wehrpflicht oder gar für ihre Abschaffung. Da haben Sie sich doch stur geweigert.
({5})
Nun kommen Sie und werfen uns vor, es gäbe noch
keine Ergebnisse von irgendeiner Kommission. Sie sitzen schon seit ein paar Jahren im Verteidigungsausschuss. Ich habe auch im Verteidigungsausschuss angefangen.
({6})
Da müssten Sie eigentlich die Ergebnisse der Unabhängigen Kommission kennen, die auf Wunsch der Freien
Demokraten eingesetzt wurde. Das Ergebnis war damals:
Sollte jedoch die Reduzierung der Streitkräfte auf
unter 370 000 erforderlich werden, stellt sich die
Frage der Wehrform neu. Die Option Freiwilligenarmee sollte dann ernsthaft geprüft werden.
({7})
Das kannten Sie doch. Sie waren in der Regierung und
hätten es machen können.
({8})
Ich könnte weitere Zitate anbringen. Sie haben nichts getan und sich stur geweigert. Sie waren zu Reformen
nicht bereit.
Ich sage das, weil etwas Ähnliches vorhin bei der Diskussion über den Bereich des Auswärtigen eine Rolle
spielte. Der Kollege Kindler hat gesagt: Wir als Grüne
haben uns nicht durchsetzen können.
({9})
Rot-Grün ist ja eine tolle Alternative, wenn sich die
Grünen nicht durchsetzen können. Sie haben sich bei der
Freiwilligenarmee nicht durchsetzen können; Sie haben
sich auch bei anderen Punkten nicht durchsetzen können.
({10})
- Dazu kann ich Ihnen gerne etwas bei der Abschlussrunde am Freitag sagen.
({11})
Zu einem anderen Punkt. Wenn Sie mich schon ansprechen: Was habe ich denn von den Grünen in diesen
Tagen gelesen? Die großen Beschaffungsmaßnahmen
müssten auf den Prüfstand.
({12})
Das finde ich wunderbar. Wissen Sie, was wir abarbeiten? Wir arbeiten die großen Beschaffungsmaßnahmen
ab, die uns Rot und Grün eingebrockt haben und die Milliarden kosten. MEADS wurde von Ihnen beschlossen.
({13})
- Herr Kollege Bonde, ich lege Ihnen gerne die Anträge
vor: Der Deutsche Bundestag hat mit den Stimmen von
SPD und Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP die Bestellung von 90 Transportflugzeugen A400M
beschlossen.
({14})
Herr Struck hat die Zahl auf 60 gesenkt. Wir mussten sogar vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, weil Sie
das am Parlament vorbei machen wollten. Wir haben gegen den damaligen Verteidigungsminister obsiegt. Der
Bundesrechnungshof hat damals schon gesagt: 40 reichen. - Was ist mit den anderen? Was ist mit Herkules?
Das war ein Milliardengrab. Das Ergebnis war null. Wer
hat das damals beschlossen? Wir haben es nicht beschlossen. Sie haben es beschlossen, Rot und Grün. Sie
haben Milliarden in den Sand gesetzt, die der Bundeswehr gefehlt haben.
({15})
Kollege Arnold, Sie sprechen davon, dass wir bei den
letzten Haushaltsberatungen Streichungen vorgenommen
haben. Wissen Sie, wann die größte Streichorgie stattgefunden hat? Das war, als der sozialdemokratische Finanzminister entgegen dem Wahlversprechen die Mehrwertsteuer angehoben hat. Das hat die Bundeswehr 700 Millionen
gekostet.
({16})
Das war die größte Streichaktion.
Ich finde, Herr Kollege Arnold, Sie haben die Chance
verpasst. Es gibt nämlich bei der Bundeswehr große Probleme, die wir lösen müssen. Ich greife eines heraus: das
Sanitätswesen. Das bereitet mir große Sorgen. Nachdem
ich Anfragen an das Verteidigungsministerium gestellt
habe, muss ich feststellen, dass uns eine Vielzahl, mehrere Hundert, Sanitätsoffiziere fehlen, die in kürzester
Zeit den Dienst quittiert haben. Mitarbeiter der vier Bundeswehrkrankenhäuser haben 40 000 Überstunden angesammelt. Ich könnte diese Liste fortsetzen. Wir müssen
uns in den Haushaltsberatungen dieser Sache annehmen.
Das kann so nicht mehr weitergehen. Wir sind es unseren
Soldaten schuldig, dass wir uns darum kümmern.
({17})
- Herr Kollege Kahrs darf das, weil er heute Geburtstag
hat und ich ihm herzlich gratuliere.
Herr Kahrs, bitte sehr.
Ich danke für das erteilte Wort. - Wenn das alles so
tragisch ist, dann frage ich mich, warum du alleine, auch
gegen die CDU/CSU, die Kürzung in Höhe von 450 Millionen Euro beim diesjährigen Etat der Bundeswehr
durchgesetzt hast; denn das Geld fehlt doch jetzt.
Das will ich gerne beantworten. Wir haben in den Bereichen Kürzungen vorgenommen, in denen wir festgestellt
haben, dass im Etat zuvor die Mittel nicht abgeflossen sind.
Ich bin für Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit; das
heißt, wenn das Verteidigungsministerium meint, dass
die Mittel knapp sind, dann muss man mit uns darüber
reden. Ich könnte viele Beispiele nennen, das erlaubt mir
die Zeit aber nicht; denn die Uhr läuft.
Ich weiß.
Aber ich erkläre dir das gerne. Du bist ja Experte im
Bereich des Haushalts des Verteidigungsministeriums,
wie man allgemein weiß und auch in der Zeitung lesen
kann.
({0})
Wenn die Mittel nicht abfließen und ich als Haushälter
weiß, dass sie auch in diesem Jahr nicht abfließen werden, dann kann ich die Kosten reduzieren. Wir haben
auch Steigerungen vorgenommen. Ich zeige es dir gern.
Ich weiß, dass du auch in den letzten Haushaltsberatungen diese Frage immer gestellt hast. Sie wird dadurch
aber nicht besser.
({1})
Deine Antwort auch nicht.
({0})
Es gibt einen weiteren Bereich, den uns auch RotGrün eingebrockt hat. Herr Arnold, dabei handelt es sich
um das Gesetz, das Sie beschlossen haben, nämlich zum
Liegenschaftsmanagement. Man stelle sich einmal vor
- es muss umgesetzt werden, weil das Gesetz seit 2005
gültig ist -: Die BImA bekommt plötzlich die Verantwortung für sämtliche Gebäude des Verteidigungsministeriums; das sind Kasernen usw. Dort hat man gar nicht
das Personal für eine solche Aufgabe. Wir müssen versuchen, das zu lösen. Es wird eine riesige Menge Geld kosten, ohne dass es Sinn macht. Auch das hat uns Rot und
Grün eingebrockt. Das arbeiten wir jetzt alles ab. Wir
müssen sehen, wie wir das hinbekommen. Sie können
sich im Verteidigungsausschuss gerne damit beschäftigen.
Es ist klar - ich wiederhole: auch wir sind dabei -:
Die großen Beschaffungsmaßnahmen kommen auf den
Prüfstand. MEADS muss beendet werden.
({0})
Große Sorgen machen uns auch andere Themen wie
NH-90. Herr Minister, was Transportflugzeuge angeht:
Ich mahne an, dass wir endlich ein Ergebnis vorgelegt
bekommen. Es war für Mitte des Jahres angekündigt
worden, es wird also langsam Zeit. Es liegt nicht an Ihnen allein. Sie haben Partner; aber ich denke, wir sollten
endlich wissen, wohin die Reise gehen soll.
Zum Abschluss. Ich habe in diesen Tagen das Buch
einer Soldatin gelesen, das sie über ihren Einsatz im
Ausland geschrieben hat. Das hat mich sehr bewegt. Ich
möchte daraus zitieren. Sie schreibt:
Viele Menschen denken nicht darüber nach, dass
diese jungen Kameraden ihr Leben für die Bundesrepublik Deutschland riskieren. Die Mehrheit denkt,
die Soldaten gingen für das viele Geld in den Einsatz. Den Soldaten fehlt einfach eine Lobby.
Ich sage hiermit zu - ich glaube, das für den gesamten
Deutschen Bundestag tun zu können; bei den Linken
weiß ich das nicht genau -: Wir werden ihre Lobbyisten
sein. Wir werden uns um die Soldatinnen und Soldaten
kümmern. Das muss ein Schwerpunkt unserer Politik
sein. Wenn das Parlament Soldaten zum Einsatz ins Ausland schickt, dann müssen wir - schließlich ist es eine
Parlamentsarmee - die Lobbyisten sein.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
folgerichtig, dass wir hier nicht über einzelne Etatposten
im Einzelplan reden, sondern über die geplante Reform
der Streitkräfte, also über die Zukunft der Bundeswehr nicht mehr und nicht weniger.
Fragt man die Leute, so sagen 82 Prozent, bei der
Rüstung könnte und sollte angesichts der Haushaltsschwierigkeiten gespart werden. Eine seit langem stabile
Mehrheit von deutlich über 60 Prozent erklärt, dass die
Bundeswehr schnellstens aus Afghanistan abgezogen
werden müsste. Ja, so klug sind die Leute.
({0})
Ich finde es auch interessant, dass die neueste ShellJugendstudie herausgefunden hat, dass die Mehrheit der
Jugendlichen, die befragt worden sind - das ist ein großer Unterschied zu früher -, gegen die Auslandseinsätze
ist. Auch hier hat sich etwas verändert.
({1})
Dass die Mehrheit der Bevölkerung bei den Rüstungsausgaben kürzen will, zeigt, dass sich diese Mehrheit nicht mehr einer akuten Gefahr ausgesetzt sieht. Anders kann man das nicht erklären. Das deckt sich auch
mit Ihrer sicherheitspolitischen Aussage: Deutschland ist
auf absehbare Zeit nicht militärisch bedroht.
Unter dieser Voraussetzung sagt die überwältigende
Mehrheit, dass wir uns einen Wehretat von mehr als
34 Milliarden Euro nach NATO-Kriterien nicht länger
leisten können und wir das Geld an anderer Stelle dringender benötigen. Auch das sagen die Leute deutlich.
Für mehr Kita-Plätze, für eine vernünftige soziale
Grundsicherung und den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs soll das Geld ausgegeben werden, sagt
die Mehrheit der Bevölkerung, und das ist vernünftig.
({2})
Die Mehrheit für den Abzug aus Afghanistan ist damit zu erklären, dass die Leute sehen, dass dort etwas
grundsätzlich schiefgelaufen ist. Sie wollen nicht, dass
wir und nicht zuletzt unsere Soldatinnen und Soldaten
immer tiefer in den Morast eines Krieges gezogen werden, der nicht zu gewinnen ist.
Ich finde, beides sind vernünftige Positionen. Das ist
eine Messlatte für die Bundeswehrplanung, für die Reform der Streitkräfte. Rüsten Sie kräftig ab, oder tun Sie
es nicht? Beenden Sie diese militärischen Abenteuer
oder nicht? Das sind die Grundfragen.
({3})
Für uns geht es in dieser Debatte tatsächlich darum:
Soll nur das Bestehende effektiviert und optimiert werden, oder soll eine neue Grundrichtung eingeschlagen
werden? Die Linke will, dass es eine andere Sicherheitspolitik gibt, die darauf setzt, dass wir uns an keinen Kriegen in der Welt beteiligen, dass wir uns NATO-Militärinterventionen verweigern, dass wir Ernst machen mit
Konzepten ziviler Krisenvorbeugung und wir durch Abrüstung viel Geld für zivile Krisenvorbeugung und -bewältigung umschichten können.
Wir sind der Meinung, dass die drängenden sicherheitspolitischen Fragen, mit denen wir zu tun haben, ob es
sich um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen oder die Hilfe für sogenannte auseinanderfallende
Staaten oder um die postfossile Energieversorgung oder
den Terrorismus handelt, mit zivilen, friedlichen Mitteln
bearbeitet werden müssen. Das leiten wir daraus ab.
({4})
Und wir sagen: Deutschland soll eine bestimmte Rolle
spielen. Bei Abrüstung, gerechter Entwicklungszusammenarbeit, Energiewende, mehr humanitärer Hilfe, die
jetzt zum Beispiel in Pakistan dringend notwendig ist,
oder rechtsstaatlicher Kooperation kann sich Deutschland hervortun, aber nicht mit Spezialkräften, Einsatzbataillonen und Kampfhubschraubern.
({5})
Das ist unsere Grundposition.
Sie sagen wiederholt selbst: Eigentlich ist die dringende Aufgabe der Zukunft die Prävention, die Vorbeugung, also die Gewaltvermeidung. - Nur tun Sie das Gegenteil. Sie stellen sich mit Ihrer Bundeswehrreform auf
das Gegenteil ein. Sie wollen die Bundeswehr als globales Expeditionskorps effektivieren und optimieren. Sie
sagen: Es geht nicht um ein Expeditionskorps. - Im Kern
geht es aber darum. Die Truppen sollen schneller an jeden beliebigen Ort verlegt werden können, dort länger
durchhalten und schlagkräftiger werden, wobei ich mir
jetzt die Bemerkung schenke, was „schlagkräftiger“ in
diesem Zusammenhang bedeutet. Wenn dann bei diesem
Umfeld noch hinzugefügt wird, man müsse das Militär
künftig auch mehr für die Durchsetzung wirtschaftlicher
Interessen einsetzen, dann wird es brandgefährlich.
({6})
Ob Sie dann noch - wenn das Ihre Richtung ist - zum
rigorosen Sparen bereit sind - ob Sie es durchsetzen
können, steht auf einem anderen Blatt -, weiß ich nicht.
Ich weiß: Sie wollen durch Personalabbau und die Aussetzung der Wehrpflicht in der Tat Kosten reduzieren.
Vielleicht schaffen Sie es sogar, die Gesamtsumme des
Rüstungshaushaltes vorübergehend etwas zu drücken;
ich komme am Schluss meiner Rede noch einmal darauf.
Aber wenn Sie 10 000 statt wie bisher 7 000 Soldaten für
Dauereinsätze einplanen, dann ist das mehr als eine theoretische Möglichkeit oder eine rein abstrakte Planungsvorgabe. Das kann morgen Realität werden. Wenn Sie an
diesem Kurs „Interventionsarmee weltweit“ mit einem
möglichst breiten Fähigkeitsspektrum und breit angelegten Einsatzoptionen festhalten, dann reden wir in naher
Zukunft nicht über Abspecken oder Gesundschrumpfen,
sondern leider wieder über neue Aufrüstung, neue Rüstungslasten. Dafür muss man, glaube ich, kein Prophet
sein.
Leider marschiert nicht nur die Bundesregierung in
die falsche Richtung, auch die vormaligen Regierungsparteien bewegen sich in diesem Mainstream, und wenn
es darauf ankommt, schleichen sie lieber um den heißen
Paul Schäfer ({7})
Brei herum. Die Grünen haben Afghanistan fest im
Blick und wollen vom Einsatz her denken. Da bleibt
nicht mehr viel Kritik. Die SPD wirft der Regierung vor,
diese verordne der Truppe ein Spardiktat, das in diesem
Maße nicht gerechtfertigt sei. Nach dem Motto - Sie, lieber Kollege Arnold, haben es an anderer Adresse erwähnt - „Darf’s ein bisschen mehr sein?“ wollen Sie
beim Personalumfang und bei den Rüstungsausgaben
den Minister Guttenberg noch toppen und ihn dazu bringen, wieder etwas draufzupacken. An der Musterung
wollen Sie sogar festhalten. Ich sehe mich in einer verkehrten Welt. Wo aber wollen Sie eigentlich hin?
({8})
Ich finde, es wird Zeit, dass sich die Parteien, die uns
den Militärinterventionismus mit dem Sündenfall
Kosovo eingebrockt haben, neu besinnen und auf eine
Beendigung der NATO-Militäreinsätze drängen.
({9})
Für die Linke besteht kein Zweifel: Deutschland
braucht eine andere, eine friedlichere Außen- und Sicherheitspolitik. Wir schlagen dazu Folgendes vor.
Erstens. Keine deutsche Beteiligung an Auslandskriegseinsätzen. Gerade Afghanistan hat gezeigt, wie
schwer oder unmöglich es ist, wenn man erst einmal in
der Gewaltspirale ist, dort wieder herauszukommen.
Wenn man sich auf so etwas einstellen will, heißt das: Es
werden enorme Ressourcen verschlungen, für U-Boote,
Fregatten oder Langstreckenflugzeuge, die wir uns sparen sollten.
Zweitens. Tiefgreifende Abrüstung ohne Sicherheitseinbußen ist möglich. Das muss jetzt energisch vorangebracht werden. Die Bundeswehrführung hat es
gerade noch einmal bestätigt: Eine unmittelbare Bedrohungslage existiert nicht. Daher ist eine erhebliche Verkleinerung der Bundeswehr, ist der Verzicht auf eine
Reihe von Waffensystemen ohne Sicherheitseinbußen
möglich. Dadurch werden sogar Mittel frei für eine Außen- und Sicherheitspolitik mit friedlichen und zivilen
Instrumenten, die eine tragfähige Entwicklung in anderen Regionen der Welt ermöglichen und damit unter dem
Strich unsere Sicherheit erhöhen.
({10})
Die atomare Abrüstung - das sagen alle - steht mehr
denn je auf der Tagesordnung. Leisten wir doch unseren
Beitrag zu Global Zero, indem wir mit der Null hier in
Deutschland anfangen und die nukleare Teilhabe endlich
auf den Müllhaufen der Geschichte werfen! Das wäre
nötig.
({11})
Dann kann man auch das Luftgeschwader der Bundeswehr, das diese Terrorwaffen ans Ziel bringen soll, auflösen.
Drittens. Das Grundgesetz stellt fest, dass der Bund
Streitkräfte zum Zweck der Verteidigung aufstellt. Wir
wollen, dass man sich auf die Landesverteidigung im
Bündnis konzentriert. Wenn wir Verteidigung sagen,
dann meinen wir das auch so. Deutschland benötigt
demzufolge keine Führungskommandos für schnelle
Eingreiftruppen, genauso wenig wie geheime KSK-Operationen im Ausland. Meine Meinung zumindest ist, dass
Multinationalität der Streitkräfte gut ist, aber nicht, wenn
diese Einheiten für Interventionen in anderen Staaten
konzipiert sind. NATO-Response-Force und EU-BattleGroups können unseres Erachtens aufgelöst werden. Wir
sollten uns nicht länger daran beteiligen.
({12})
Viertens. Aufhebung der Wehrpflicht. Das erklärt
sich von selbst. Die Zahlen, die der Herr Minister so beeindruckend vorgetragen hat, sind hier schon dutzendmal erwähnt worden. Es ist darauf gedrängt worden,
endlich mit diesem Anachronismus Schluss zu machen.
Aber Sie hatten sich hier verhakt. Dieser Zwangsdienst
muss ein Ende haben, und zwar nicht irgendwann, sondern sofort.
({13})
Fünftens. Wir möchten alles, nur keine reine Berufsarmee, sondern eine Bundeswehr, die im Kern eine Freiwilligenarmee ist. Die Soldaten auf Zeit, die dann in das
bürgerlich-zivile Leben übergehen und schon in ihrer
Militärdienstzeit darauf vorbereitet werden, sollten das
Rückgrat der Truppe bilden.
Ansonsten ist alles, was Zivilität in den Streitkräften
bewahrt und weiterentwickelt, zu verteidigen und auszubauen. Das beginnt bei der zivilen Wehrverwaltung,
reicht über zivile Anteile bei der Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten und endet bei der Revitalisierung
des Prinzips des Staatsbürgers in Uniform.
Sechstens. Wir wollen einen sozial verträglichen Umbau und Konversionsprogramme, mit denen dieser Umbau organisiert wird; denn diese Umstellung ist nicht
zum Nulltarif zu haben. Das wissen wir auch. Personalkürzungen, Standortschließungen und die Beendigung
von Rüstungsprogrammen müssen gut vorbereitet werden. Deshalb brauchen wir jetzt Überlegungen für Konversionsprogramme.
Meine Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir
eine Schlussbemerkung. Ihre Absichten, bei den großen
und überdimensionierten Beschaffungsprogrammen jetzt
auf die Bremse zu treten, Herr Minister, sind wenig
glaubhaft. Es erscheint mir sehr kühn, dass ausgerechnet
Sie, genauer gesagt: dass ausgerechnet die Hauptlobbyparteien, die derzeit die Regierung bilden, jetzt die Rüstungswirtschaft in die Schranken weisen. Das ist in
meinen Augen Fantasy pur. Ich traue Ihnen einiges, ja
sogar vieles zu, lieber Herr zu Guttenberg, aber das traue
ich Ihnen nicht zu.
({14})
Wenn Sie über Priorisierung reden, sollten wir festhalten, dass allein für drei Waffensysteme - A400M,
Puma und Eurofighter - in den nächsten vier Jahren
mehr als 8 Milliarden Euro verplant sind. Daher kann es
nach unserer Auffassung nicht darum gehen, Vorhaben
zu strecken, zu modifizieren oder zu schieben. Vielmehr
Paul Schäfer ({15})
brauchen wir bei diesen Großprojekten einen hundertprozentigen Ausgabenstopp. Die Zeit der Alimentierung
der deutschen Rüstungsindustrie muss endlich vorbei
sein.
Vielen Dank.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Alexander Bonde.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vergangenen Auseinandersetzungen über den Bundeswehretat haben wir noch gut in Erinnerung. Sie fanden zu Beginn dieses Jahres statt. Schon damals habe ich
darauf hingewiesen, dass es eine Verschwendung ist,
knappe Ressourcen fortdauernd in sicherheitspolitisch
nicht mehr zu begründende Strukturen zu stecken. Außerdem haben wir Grüne darauf hingewiesen, dass der
Erhalt des Grundwehrdienstes zu einem erheblichen
finanziellen Mehrbedarf führt, der nicht mit einem sicherheitspolitischen Mehrwert verbunden ist.
Das Neue an dieser Debatte ist, dass diese zwei Sätze
nicht mehr von mir stammen, sondern vom Generalinspekteur, und keine wütenden Proteste der Union und
der FDP mehr hervorrufen, sondern Teil dessen sind,
was Sie uns heute als neue Erkenntnisse vorgestellt haben.
Die spannende Frage ist, woraus diese Wende resultiert. Das werden wir heute nicht erörtern. Wir können
Ihnen aber sagen: Wir sind froh, dass Sie sich endlich
aus der Verweigerungshaltung herausbegeben und erkannt haben, dass sich auch die Bundeswehr der Frage
eines effizienten Mitteleinsatzes stellt und stellen muss.
Wir sind dabei an einem spannenden Punkt, weil Sie
über die Ankündigung bisher noch nicht hinaus sind. Sie
haben heute ein Modell vorgestellt - mit 163 500 Soldaten - und sind gleich wieder zurückgerudert mit der Ansage: Es dürfen auch gerne noch mehr werden. - Im Verteidigungsausschuss haben wir einen Wettbewerb von
CDU und SPD erlebt hinsichtlich der Frage, wie viel
mehr es noch werden dürfen. Ich bin gespannt, ob Sie in
diesem Wettbewerb der Volksparteien zum Schluss
wirklich noch etwas reduzieren, wenn es Ihnen darum zu
gehen scheint: Wer bietet eigentlich mehr Soldatinnen
und Soldaten?
({0})
Sie wissen auch, dass Sie bei der Effizienz noch nicht
da angekommen sind, wo Sie anzukommen versprochen
haben. Sie haben den Verteidigungsetat jetzt der Sparfrage unterworfen. Sie haben angekündigt - das bringt
der Finanzplan zum Ausdruck, den wir heute mit beraten -,
dass Sie bis 2014 in der Lage sein werden, dem Finanzminister 4,7 Milliarden Euro an Einsparungen im Jahr zu
liefern.
Ihr Sparbeitrag für dieses Jahr ist, dass Sie laut Haushalt 1 Milliarde Euro mehr brauchen. Selbst Ihr optimistischstes Modell lässt im Jahr 2014 eine Lücke von
2,7 Milliarden Euro. Das lässt einen aufhorchen, wenn
gleichzeitig ein Überbietungswettbewerb stattfindet.
Insofern ist die Nagelprobe für den Heeresreformer
zu Guttenberg nicht das Ankündigen, sondern das Umsetzen. Wenn es in die richtige Richtung läuft, haben Sie
uns kritisch an Ihrer Seite. Wir passen aber auf, weil die
Reform bisher ein Papiertiger ist, dessen Sprungweite
noch zu definieren ist.
({1})
Wir wollen wissen, wie weit Sie gehen. Es gibt in dieser Debatte ja bizarre Situationen. Sie haben endlich eingesehen: Bei der Wehrpflicht muss etwas passieren.
Nach langem Festhalten am Musterungsprozess haben
Sie jetzt sogar verstanden, dass auch die Musterung fallen muss, weil es keinen Sinn macht, 5 000 Leute in
Kreiswehrersatzämtern vorzuhalten, die keine Funktion
mehr haben.
In dieser Frage ist übrigens die Haltung der SPD interessant. Ich habe heute Morgen gelesen, dass der Kollege
Bartels gesagt hat, auch bei Aussetzung der Wehrpflicht
brauche man die Musterung, um Kontakt zu potenziell
Freiwilligen zu haben.
({2})
Ich weiß nicht, welchen Kontakt Sie bei der Musterung
hatten. Ich kann nur sagen: Das Kommando „Hinter die
Wand und jetzt bitte husten!“ hat die Bundeswehr für
mich nicht attraktiver gemacht, Kollege Bartels.
({3})
Aber geschenkt.
Die entscheidende Frage ist: Kommt die Reform jetzt
tatsächlich auf den Weg? Sie haben sicherheitspolitisch
einen weiten Weg zurückgelegt, den Sie strukturell noch
nicht unterfüttert haben. Eine Nagelprobe wird sein, wie
Sie mit den Rüstungsbeschaffungen umgehen, die
schon heute nicht mehr in die Finanzlinie zu bekommen
sind.
Vor der großen Kehrtwende - bevor Sie die Blockadehaltung Ihres Vorgängers beendet haben, der in Sachen
Wehrreform überhaupt nichts zustande gebracht hat bzw.
zustande bringen wollte - haben Sie Ihre Unterschrift
noch unter richtig große Kostenblöcke gesetzt: dritte
Tranche Eurofighter und A400M. Massive Kostensteigerungen haben Sie einfach in Kauf genommen, auf die
Strafzahlungen der Industrie verzichtet und die Chance
nicht genutzt, in Neuverhandlungen zumindest eine massive Reduzierung, wenn nicht die Einstellung dieses Projekts, von dem keiner weiß, ob es jemals funktioniert, zu
erreichen. Die Strategie „Erst bei den Kosten auf das
Gaspedal treten, um hinterher die Bremse anzukündigen“ ruft schon die eine oder andere Frage nach Ihrem
sicherheitspolitischen Führerschein hervor, Herr Minister.
Sie haben jetzt Zeit, diese Fragen zu beantworten. Wir
verstehen, dass Ihr Konzept einige Parteitage durchlaufen muss. Wir verstehen nicht, dass Sie uns heute nicht
sagen, wo Sie die globale Minderausgabe in Höhe von
800 Millionen Euro in Ihrem Haushalt aufbringen wollen. Aber das werden Sie uns bestimmt noch verraten.
Ab sofort gilt: Gemessen werden Sie nicht an einem
„Top Gun“-Bild auf Seite eins der Bild-Zeitung, sondern
daran, welche konkrete sicherheitspolitische Veränderung Sie am Ende liefern.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Ernst-Reinhard Beck
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Arnold hat etwas sehr
Richtiges und Wichtiges gesagt. Er hat gesagt: Im Mittelpunkt steht bei all unseren Überlegungen der Mensch. Insofern gilt mein erster Dank denen, die in der Bundeswehr treu ihren Dienst leisten, den Soldaten in den Einsatzgebieten und zu Hause und auch den zivilen Beschäftigten.
Herr Kollege Arnold, wenn dies Ihr Maßstab ist, kann
ich nicht verstehen - das hat mir weniger gefallen, als
ich es in den Zeitungen gelesen habe -, dass Sie mit
Blick auf Oberst Klein und nach all dem, was geschehen
ist, noch nachtreten und ihn in einer Art und Weise behandeln, die er nicht verdient hat. Das muss ich Ihnen an
dieser Stelle sagen.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Haushaltsberatung zeigt, dass wir eine wichtige Weichenstellung vornehmen. Dem großen Umformungs- und Strukturveränderungsprozess unserer Streitkräfte müssen wir
den notwendigen finanziellen Rückhalt geben.
Herr Kollege Arnold, Sie haben gesagt, dass jetzt verschiedene Modelle vorgestellt werden, und dem Minister
vorgeworfen, es ginge ständig hin und her. Das ist nicht
ganz schlüssig. Denn der Minister hat im Grunde eine
sehr stringente sicherheitspolitische Analyse vorgenommen und sich daraufhin gefragt - das ist die entscheidende Frage -: Was ist im Hinblick auf die Abwehr von
Gefahr für unser Land notwendig, und welches sind die
Fähigkeiten, die unsere Streitkräfte vorhalten müssen?
Damit ist die Reihenfolge klar: Es geht um den Schutz
des eigenen Landes, Deutschlands und seiner Bürger, die
Bündnisverteidigung und die internationalen Verpflichtungen, die wir in NATO, EU und UN übernommen haben. Damit haben wir ein breites Spektrum an Fähigkeiten vorzuhalten. Deshalb ist es völlig legitim und auch
notwendig, einmal nachzufragen: Können wir mit der
vorhandenen Struktur all diese Aufgaben so erfüllen,
wie es notwendig ist?
Ich fand das Vorgehen richtig, eine Defizitanalyse
durchzuführen und zu sagen, wo bestimmte Veränderungen notwendig sind. Es ist doch jedem einsichtig, dass
bei 250 000 Soldaten Truppenstärke eine Zahl von 7 500
oder vielleicht auch 9 000 Soldaten - so viele hatten wir
ja schon einmal im Einsatz -, wenn man die Einsatzorientierung sicherstellen will
({1})
- 11 000 auch, Herr Kollege Arnold -, im Hinblick auf
die Effizienz zu gering ist. Ich glaube, darüber besteht
Einigkeit in diesem Haus.
Wenn man dann in einem weiteren Schritt fragt, welche Strukturen notwendig sind und was man dafür
braucht, um die Sicherheit auch auf mittlere und längere
Sicht zu garantieren, dann kommt die Sprache auf die
Wehrform. Ich sage ganz ehrlich, dass ich hier mit einer
gewissen Wehmut stehe. Durch die Wehrpflicht wurde
die Sicherheit unseres Landes über viele Jahrzehnte hinweg, in der gesamten Zeit des Kalten Krieges, garantiert.
Im Grunde wurden durch sie auch Leistungen erbracht,
die für die Integration der Streitkräfte in demokratische
Strukturen unschätzbar sind. In der heutigen Zeit hört
man manchmal, vor allem vonseiten der Linken, die
Wehrpflicht sei im Grunde ein Instrument der Militarisierung. Nein, die Wehrpflicht war in der Geschichte der
Bundesrepublik ein wichtiges Instrument zur Einbettung
des Militärs in demokratische Strukturen, und dafür sollten wir dankbar sein. Dank verdienen auch all die, die
der Wehrpflicht nachgekommen sind und als Reservisten
über die ganze Zeit ihren Dienst geleistet haben.
({2})
- Lieber Kollege Kahrs, das enthebt uns ja nicht der
Überprüfung, ob die Wehrpflicht angesichts der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen noch die richtige Wehrform ist.
Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass man
bestimmte Elemente übernimmt. Wenn man die sicherheitspolitische Analyse, die die Bundesregierung durchführt, aber ernst nimmt, dann sieht man, dass die sicherheitspolitische Begründung dafür nicht mehr gegeben
ist. Die Panzerarmeen des Warschauer Paktes haben sich
Gott sei Dank aufgelöst. Wir brauchen keine entsprechende Anzahl Soldaten mehr, um die Wehrgerechtigkeit annähernd zu erreichen. Das ist aber auch das Problem, das es zu lösen gilt. Wenn die sicherheitspolitische
Begründung nicht mehr vorhanden ist, dann stellt sich
die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit - Stichwort:
Wehrgerechtigkeit. Dass diese Situation nicht neu ist, ist
jedem hier klar. Im Grunde hätte bereits der Schritt von
375 000 auf 250 000 Soldaten, der eine drastische Reduzierung der Anzahl der eingezogenen Wehrpflichtigen
bedeutet hat, zu solchen Überlegungen führen müssen;
aber ich glaube, der Blick sollte nach vorne gerichtet
sein.
Ernst-Reinhard Beck ({3})
Der Blick ist richtig nach vorne gerichtet, wenn ich
sage: Die staatspolitische Begründung der Wehrpflicht
kann natürlich auch über die „Pflicht“ hinaus Wirkung
entfalten. In dem Augenblick, in dem gesagt wird: „Tu
etwas für die Gemeinschaft, leiste etwas für dein Land“
und man diesen Impetus durch die Neugestaltung der
Freiwilligendienste erreicht - Herr Kollege Arnold, Sie
haben ja zu Recht ausgeführt, dass wir nicht nur für den
Wehrdienst, sondern auch für die anderen Dienste in dieser Gesellschaft zu einer Freiwilligkeit finden müssen -,
sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg.
({4})
Ich sage ganz eindeutig: Der Staatsbürger in Uniform war sicher ein wichtiges und notwendiges Element. Ein Stück weit nehmen wir davon Abschied; der
Staatsbürger als Soldat ist mit diesem Einschnitt im
Grunde Vergangenheit. Das heißt aber nicht, dass die
Soldaten nicht weiter Staatsbürger sind und ihre staatsbürgerlichen Rechte nicht in Anspruch nehmen. Was wir
alle gemeinsam verfolgen sollten, ist, dass das Prinzip
der Inneren Führung, das unsere Armee im Vergleich zu
vielen anderen Armeen dieser Welt auszeichnet, innerhalb der neuen Struktur neu definiert wird. Es kann uns
nicht gleichgültig sein, wer den Nachwuchs stellt und
welcher Geist in dieser neuen Bundeswehr herrscht. Ich
habe überhaupt keine Bedenken, dass dies ein guter
Geist sein wird, getragen von der Inneren Führung und
vom Leitbild des Staatsbürgers in Uniform.
Herr Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kahrs?
Aber gerne.
Herr Kahrs, bitte.
Herr Kollege Beck, ich habe in den letzten Jahren gemeinsam mit Ihnen für die Wehrpflicht gestritten. Das
haben wir gut hinbekommen, egal ob Rot-Grün oder die
Große Koalition in diesem Land regiert hat.
Wie man das, was Sie machen, bewertet - geschenkt.
Die Probleme, die Sie deswegen in Ihrer Partei und mit
Ihren Wählern haben, müssen Sie selber aushalten. Aber
wenn Sie sagen, dass der Staatsbürger in Uniform mit
der Abschaffung der Wehrpflicht nicht mehr Realität sei,
dann frage ich mich allen Ernstes, wo die Union gelandet ist. Staatsbürger in Uniform sind auch der Zeitsoldat
und der Berufssoldat. Deswegen können Sie sich doch
nicht hier hinstellen und sagen - bei aller Freundschaft
und aller Sympathie -, wenn die Wehrpflicht weg sei,
seien die Zeit- und Berufssoldaten nicht mehr Staatsbürger in Uniform. Dann weiß ich überhaupt nicht mehr,
wohin die Union will.
({0})
Lieber Kollege Kahrs, ich habe nicht behauptet und
werde nicht sagen, dass wir uns vom Bild des Staatsbürgers in Uniform verabschiedet haben. Natürlich sind unsere Zeit- und Berufssoldaten - und sie waren es immer Staatsbürger in Uniform und Teil unserer Parlamentsarmee. Aber Sie müssen mir doch zugestehen, dass ich
sage, dass wir, wenn man von der Pflicht zur Freiwilligkeit übergeht, von dem Leitbild, dass jeder Bürger dieses
Landes ein geborener Verteidiger desselben ist - das ist
ein Zitat von Scharnhorst -, ein Stück weit Abschied
nehmen. Deshalb habe ich betont: Umso wichtiger ist es,
dass wir das Prinzip des Staatsbürgers in Uniform und
die Innere Führung in den Streitkräften mit der entsprechenden Orientierung auf Auslandseinsätze weiterhin
stark betonen. Nichts anderes wollte ich damit gesagt haben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, eine Frage,
die für mich beinahe noch entscheidender und wichtiger
ist als die Frage der Wehrform, ist die Frage des Umfangs und der Fähigkeiten der Streitkräfte, die wir jetzt
neu definieren. Ich sage ganz offen: 163 500 Zeit- und
Berufssoldaten, von denen der Minister spricht, plus
7 500 Freiwillige sind für mich persönlich die Untergrenze dessen, was ich für vertretbar halte.
({0})
Deutschland ist eine Landmacht in der Mitte Europas.
Wir haben entsprechende Verpflichtungen gegenüber
den Bündnispartnern, vor allem im Osten, wo noch bestimmte Ängste vorhanden sind und wo man schon von
der schieren Zahl her bestimmte militärische Optionen
und Fähigkeiten verkörpert, auch gegenüber der NATO.
Ich meine, das müsste noch einmal überprüft werden,
auch in finanzieller Hinsicht. Man sollte, Herr Kollege
Bonde, nicht in einen Wettbewerb von Zahlen verfallen,
sondern in einen Wettbewerb um Fähigkeiten eintreten
und - möglicherweise in Absprache mit den europäischen
Bündnispartnern - schauen, was angesichts einer Sicherheitsvorsorge notwendig ist.
Ich persönlich wünsche mir ein funktionsfähiges, führungsfähiges Landheer. Wir sind eine Landmacht, die
Landstreitkräfte braucht. Im ozeanischen Zeitalter brauchen wir eine Marine, die unsere Interessen entsprechend vertreten kann. Herr Kollege Koppelin, Sie haben
auf die Sanität hingewiesen, etwa ein Attraktivitätsprogramm für den medizinischen Bereich. Auch das scheint
mir unbedingt notwendig zu sein. Es wird Sie nicht wundern, dass ich sage: Wir brauchen auch bei Freiwilligenstreitkräften eine gut strukturierte, engagierte und qualifizierte Reserve. Hierfür brauchen wir eine neue Reservistenkonzeption, die Nachhaltigkeit und Aufwuchsfähigkeit garantiert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die „größte gestalterische Herausforderung“ hat der Minister diesen Prozess genannt. Es
geht nicht nur um Umfang und Struktur, sondern auch
um den entsprechenden Aufbau des Ministeriums. Es
geht um eine Neuformulierung von Ablauforganisationen,
von Materialbeschaffung und Materialerhaltung. Dies ist
ein wichtiges, ein großes und ein mutiges Projekt. Ich
Ernst-Reinhard Beck ({1})
meine, dass der Minister dafür die Unterstützung des
Hauses verdient. Die Unterstützung meiner Fraktion hat
er auf jeden Fall.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Brinkmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Koppelin, nicht nur, weil Sie gestern einen besonders
schönen Geburtstag gefeiert haben, sondern weil es auch
völlig richtig ist, was Sie zu den Problemen bei der Sanität gesagt haben, will ich zu Beginn meiner Ausführungen deutlich darauf hinweisen, dass dies auch die volle
Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion finden wird.
({0})
Allerdings ist das Problem nicht erst seit gestern bekannt, sondern schon etwas länger. Hier besteht dringender Handlungsbedarf wie in vielen anderen Bereichen
auch, auf die ich im Laufe meiner Ausführungen noch
zurückkommen werde.
Wer ernsthaft behauptet, mit der Globalen Minderausgabe und den Kürzungen, die Sie, die CDU/CSU und die
FDP, zu verantworten haben, könnte die Truppe gut leben, der redet zu einem Prozentsatz jenseits der
90 Prozent an den Realitäten vorbei.
({1})
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen.
Der Minister hat eine Sommerreise gemacht. Viele
Kolleginnen und Kollegen waren ebenfalls in der Sommerpause unterwegs. Ich habe mir das auch in dieser
Zeit zu eigen gemacht und mich vor Ort informiert. Herr
Minister zu Guttenberg, wenn wir Attraktivitätssteigerung gemeinsam wollen, ist es nach meiner festen Überzeugung unerträglich, dass Soldatinnen und Soldaten,
die nach Berlin reisen, um sich weiterzubilden und an
Plenardebatten teilzunehmen, ihre Fahrtkosten selber zu
zahlen haben, weil dafür kein Geld mehr zur Verfügung
steht. Das ist ein Skandal. Dies müsste relativ schnell in
Ihrem Haus, Herr Minister zu Guttenberg, im Interesse
und zugunsten der Soldatinnen und Soldaten pragmatisch gelöst werden.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der sich
wie ein roter Faden durch die Haushaltsberatungen ziehen wird. Die Größenordnung des Einsparvolumens
ist mehr als nebulös. Zunächst wurde eine Summe von
8,3 Milliarden Euro angekündigt. Dann ist aufgrund der
absehbaren Faktoren berechnet worden, wo man denn
landen könnte. Es gibt Berechnungen des Finanzministeriums und des Bundeskanzleramtes, die auf 1,5 Milliarden Euro kommen. Das ist von 8,3 Milliarden Euro weit
entfernt. Kurz vor der Sommerpause hat die Bundeskanzlerin dazu in der Financial Times Deutschland zum Ausdruck gebracht, dass darüber noch nicht das letzte Wort
gesprochen worden sei; wegen 2 Milliarden Euro würde
sie die deutsche Sicherheit niemals infrage stellen, geschweige denn gefährden. Was gilt denn nun? 8,3 Milliarden minus 2 Milliarden sind 6,3 Milliarden. Sind es
5 Milliarden oder 1,5 Milliarden Euro? Das ist das Ergebnis einer Struktur, aus der nicht erkennbar ist, wohin die
Reise gehen soll. Ein Blick in die Finanzplanung zeigt,
dass Sie auch im Hinblick auf die beiden letzten Jahre
einen hohen Milliardenbetrag in die nächste Legislaturperiode verschieben. Das hat mit Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit nichts zu tun.
({2})
Was die Ausgabenblöcke im Verteidigungshaushalt
angeht, wird deutlich, dass ein hoher Prozentsatz, nämlich ungefähr 53 Prozent, für Personalkosten und Pensionslasten vorgesehen ist. Auch wenn man die Bundeswehr verkleinert - um welche Größenordnung auch
immer; darüber kann man sich austauschen oder auch
darum ringen; ich will auch ausdrücklich aufgreifen, was
Sie gesagt haben, Herr Minister, nämlich dass es dazu einen breitestmöglichen Konsens geben sollte - und die
Zahl der Zeit- und Berufssoldaten um eine Größenordnung X reduziert, werden diese Ausgaben nicht in voller
Höhe eingespart; denn wer nicht mehr dient, hat Anspruch auf Pension. Insofern fordere ich Sie auf bzw.
bitte ich Sie herzlich: Legen Sie im Laufe der Haushaltsberatungen die Berechnungen vor, welche Einsparung
unter dem Strich netto erzielt wird, damit wir Haushälter
genau wissen, worauf wir uns in diesem Bereich einzurichten haben.
Ich bin dem Kollegen Beck dankbar, dass er sich bei
den Soldatinnen und Soldaten bedankt hat, die hier im
Land und darüber hinaus in Auslandseinsätzen - das
gilt auch für die zivilen Beschäftigten und viele andere ihren Dienst leisten. Er ist nicht einfach und teilweise
auch gefährlich. Ich zolle ausdrücklich allen Soldatinnen
und Soldaten sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr höchste Anerkennung und spreche
ihnen großen Dank aus. Ich gehe davon aus, dass das
- ausschließlich der linken Seite dieses Hauses - einen
gemeinsamen Beifall finden kann.
({3})
Wenn man die Diskussion über das Thema Wehrpflicht verfolgt, dann stellt man beeindruckt fest, wie
sich innerhalb weniger Monate festgefügte Meinungen
verändern. Ich war 1970 bei der Bundeswehr, und zwar
- damals war dort eine stationiert - bei einer Panzergrenadierbrigade in Hildesheim. Schon damals haben wir
über dieses Thema diskutiert. Natürlich ging es um ganz
andere Prozentsätze bei der Einberufungsquote. Aber eines steht fest: Nachdem Sie den Grundwehrdienst auf
sechs Monate reduziert hatten, war der nächste Schritt
nicht mehr zu verhindern. Wir werden im Laufe der
nächsten Zeit erleben - wenn es nach der FDP geht, wird
es etwas schneller gehen -, dass wir uns Schritt für
Schritt auf eine Berufsarmee zubewegen. Wenn das denn
gewollt ist
Bernhard Brinkmann ({4})
({5})
- Frau Hoff, ich mache ja einen Vorbehalt -, sollten wir
bereit sein, sehr offen darüber zu diskutieren, wie viel
eine Berufsarmee letztendlich kostet und welche Belastungen sie für künftige Bundeshaushalte bringt.
Die Sicherheit Deutschlands und die Bewältigung
der damit verbundenen Herausforderungen für unsere
Streitkräfte müssen auch künftig durch die erforderlichen Finanzmittel gewährleistet sein. Daher muss die
Bundesregierung schnell und klar eine Antwort auf die
Frage finden, welche Bundeswehr wir uns künftig noch
leisten wollen. Einige Zeit ist darüber gesprochen worden, welche wir uns noch leisten können. Das war aber
eine falsche Vorgehensweise.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausschussberatungen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein etwas störender Aspekt in dieser Debatte ist die
Begriffsverwirrung. Deswegen nehme ich Ihre Äußerungen zum Anlass, lieber Herr Kollege Brinkmann, um die
Position meiner Fraktion noch einmal klarzumachen.
Wir sind für eine Freiwilligenarmee. Wir sind für die
Aussetzung der Wehrpflicht. Wir sind für einen vernünftigen Anteil an Kurzzeitdienenden. Hier haben wir eine
etwas andere Auffassung als der Minister; darüber werden wir diskutieren müssen. Wir sind in keinem Fall für
eine Berufsarmee. Wir sind weiterhin glühende Anhänger einer Parlamentsarmee.
({0})
Ich muss an dieser Stelle auf Paul Schäfer eingehen.
Der Versuch, den Eindruck zu erwecken, dass ein globales Expeditionskorps oder eine Interventionsarmee durch
den geplanten vernünftigen Umbau der Bundeswehr aufgebaut werden soll, läuft schon alleine deswegen völlig
fehl, weil dieses Haus an dieser Stelle über jeden Einsatz
der Bundeswehr entscheiden wird und nicht die Bundesregierung oder der Bundesminister der Verteidigung.
Das ist für uns alle ein hohes Gut.
({1})
Eben wurde kritisiert, der Minister habe mehrere Modelle vorgelegt und habe sich nicht klar und deutlich für
eines ausgesprochen. Art. 87 a des Grundgesetzes sagt
eindeutig, dass sich Umfang und Struktur der Streitkräfte
aus dem Haushaltsplan ergeben. Ergo entscheidet das
Parlament darüber. Herr Minister, ich begrüße, dass Sie
Respekt vor dem Hause gezeigt und die Szenarien und
ihre Konsequenzen aufgezeigt haben, wenn wir uns so
oder so entscheiden, und zwar auch vor dem Hintergrund der finanziellen Situation. Ich bin sehr froh, dass
zum ersten Mal ein Minister gesagt hat: Es gibt - auch
im Haus selbst - keine Denkverbote. Sie haben damit einen Prozess im Haus in Gang gesetzt, der schon lange
überfällig war. Wir haben in den vergangenen Jahren
auch in diesem Haus immer wieder beklagt, dass die
Bundeswehr unter verkrusteten Strukturen und unter
Zwängen leidet, die nicht nur den Einsatz, sondern auch
die Motivation der Soldatinnen und Soldaten nachhaltig
beeinträchtigen. Es ist Ihnen und unserer Koalition zu
verdanken, dass wir diese mutigen Schritte nach vorn
machen. An dieser Stelle möchte ich meinen persönlichen Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU zum Ausdruck bringen. Ich weiß, dass
das für Sie schwer war. Sie haben aber bewiesen, dass
Sie aufgrund der Faktenlage in der Lage sind, anhand
von Sachargumenten Ihre Positionen zu überdenken.
Hier hat auch der Generalinspekteur eine hervorragende
Rolle gespielt. Das möchte ich an dieser Stelle ganz klar
zum Ausdruck bringen.
({2})
Herr General Wieker, Sie haben uns Parlamentariern
durch Ihre nüchterne, sachbezogene und sehr klare Vorlage von Informationen die Möglichkeit eröffnet, diese
schwierigen Schritte zu vollziehen. Ich bin überhaupt
nicht bange, dass sich unsere Soldatinnen und Soldaten
nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft befinden. Es ist
übrigens ein Nebenaspekt, den man nicht hoch genug
einschätzen kann und den ich sehr begrüße, dass über
eine Reform des Wehrdienstes junge Frauen endlich die
Möglichkeit haben, von Anfang an gleichwertig mit ihren männlichen Kollegen Zugang zu den Streitkräften zu
finden, und zwar auch im Sinne eines freiwilligen Engagements für unsere Gesellschaft.
({3})
Wir werden die qualifizierten jungen Frauen in Zukunft
mehr denn je brauchen, nicht nur, weil sie in vielen Bereichen qualifizierter sind, sondern auch, weil uns die
demografische Entwicklung dazu bringen und auch
zwingen wird, die Bundeswehr für alle gesellschaftlichen Gruppen zu öffnen. Insofern ist es wichtig, dass wir
eine vernünftige Nachwuchsgewinnungsstruktur auf den
Weg bringen, die flächendeckend ist, und dass die Bundeswehr attraktiver wird.
Die entscheidenden Momente sind nicht, wenn wir im
Parlament entscheiden. Die Arbeit fängt danach an. Es
muss uns gelingen, die Lebenswirklichkeit junger Männer und Frauen auch in den Streitkräften abzubilden. Die
Vereinbarkeit von Dienst und Familie wird ein ganz
wesentliches Moment für die Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr sein.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinzu kommt:
Wenn wir so viel Wert darauf legen, dass die BundesElke Hoff
wehr in der Mitte der Gesellschaft ist, dann müssen wir
- stärker, als wir es in der Vergangenheit bewirkt haben endlich zu Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz kommen, die an Seele und Körper
verwundet aus dem Einsatz zurückkommen. Es ist heute
mit Recht sehr häufig den Soldatinnen und Soldaten und
den zivilen Mitarbeitern gedankt worden. Ich finde, wir
müssen an dieser Stelle auch den Familienangehörigen,
den Freunden und den Bekannten von den Soldatinnen
und Soldaten danken, die damit leben müssen, dass das
Leben ihrer Partner, wenn sie aus einem Einsatz zurückkommen, in den wir sie geschickt haben, aus den Fugen
geraten ist und nichts mehr so ist, wie es vor dem Einsatz
war. Hier fängt unsere Verantwortung an. Ich glaube,
dass wir an dieser Stelle - wenn wir uns um genau diese
Soldatinnen und Soldaten mehr als bisher kümmern wirklich beweisen können, dass die Bundeswehr in der
Mitte der Gesellschaft ist. Ich wäre sehr dankbar, wenn
wir das gemeinsam schaffen würden.
({5})
Es wurde eben auch über das Thema Einsparungen
geredet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube,
wenn wir alle der Meinung sind, dass Sicherheitspolitik
nicht nach Kassenlage erfolgen soll, dann werden wir einen attraktiven Arbeitgeber Bundeswehr finden und uns
durchaus mit dem Gedanken anfreunden, dass wir Einsparziele erreichen wollen - wenn auch vielleicht nicht
so schnell wie geplant - und dass das eine gemeinsame
Anstrengung ist. Ich glaube, dass wir als Parlamentarier
von unserem Recht Gebrauch machen, über Struktur und
Umfang der Streitkräfte so zu entscheiden, wie es die Sicherheitsbedürfnisse und die Sicherheitslage unseres
Landes und unsere Bündnisverpflichtungen erfordern.
Ganz kurz an dieser Stelle, bevor ich fertig bin: Kollege Schäfer, gerade der Balkan, gerade der Kosovo, hat
deutlich gemacht, dass eine militärische Intervention in
politischen Situationen dazu führen kann, dass Menschen und Nationen am Ende der Reise in Frieden und
Freiheit leben können. Das Kind hier mit dem Bade auszuschütten und zu sagen: „Wir brauchen die Streitkräfte
für solche Dinge nicht“, halte ich an dieser Stelle für
politisch verfehlt.
({6})
Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken und wünsche dem Minister und uns allen viel
Erfolg bei der Umsetzung dieser sehr ehrgeizigen Reform. Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Omid Nouripour ist nun der nächste
Redner aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! KarlTheodor zu Guttenberg vor sechs Monaten - Zitat -: Die
verkürzte Wehrpflicht W 6, das sind sechs bestens genutzte Monate für junge Menschen. - Derselbe vor zwei
Monaten: Es wäre fatal, die Wehrpflicht abzuschaffen. Derselbe Minister vor zwei Tagen, überraschenderweise
in einer Talkshow und nicht im Parlament - ich zitiere -:
({0})
Die Musterung ist ebenso schwer zu rechtfertigen wie
die Wehrpflicht als solche. - In einem anderen Zusammenhang hat er erklärt, W 6 sei ein entbehrlicher
Schnupperkurs. Herr Minister, ich weiß nicht, welches
Getränk der Erleuchtung Sie in den letzten zwei Monaten getrunken haben. Es wäre schön, dieses in den eigenen Reihen weiterzureichen. Ich kann nur sagen: Die
Hoffnung, zu verstehen, was Sie eigentlich wollen, habe
ich längst aufgegeben. Mein Eindruck ist: Sie wissen
selber nicht, was Sie wollen, und Sie wollen es auch
nicht wissen. Wenn das anders wäre, hätten Sie wenigstens den Übergangsmurks - wir haben derzeit eine
Wehrpflicht von sechs Monaten -, den Sie wider besseres Wissen vor wenigen Wochen verabschiedet haben, in
den Haushalt geschrieben. Nicht einmal das steht im
Haushalt. Das heißt, wir beraten heute über einen Einzelplan, der Makulatur ist.
({1})
Es gibt aber noch mehr Probleme. Sie haben es geschafft, in den letzten Monaten zu jeder erdenklichen
Frage jede erdenkliche Position einzunehmen,
({2})
was dazu führt, dass Sie, völlig gleichgültig, was herauskommt, sagen können: Das habe ich doch gesagt. - Das
ist beliebig. Beeindruckend dabei ist, dass Sie es schaffen, diese Beliebigkeit in Zahlen zu gießen. Das nennt
sich dann Wehretat 2011. Wer so beliebig ist, muss sich
natürlich Sorgen machen, ob das Auditorium tatsächlich
wach ist. Das ist eine berechtigte Frage. Da diese Angelegenheit aber sehr ernst ist, kann ich Ihnen versprechen,
dass wir sehr wachsam sind und zuschauen, was Sie eigentlich treiben.
Ich komme zu den fünf Modellen. Sie scheinen in Ihrem Haus eine unglaubliche Überkapazität zu haben. Im
Übrigen: Herr Generalinspekteur, vielen Dank für Ihre
seriöse und detaillierte Arbeit. Herr Minister, Sie lassen
in Ihrem Haus fünf Modelle erarbeiten und sagen von
vornherein, vier von diesen seien überhaupt nicht machbar.
({3})
Frau Kollegin Hoff, diese fünf Modelle sind keine echten Modelle, wenn der Minister so nebenbei sagt, das
eine sei nicht finanzierbar und mit dem anderen sei die
Bündnisfähigkeit nicht gewährleistet. Das ist nicht ernst
gemeint.
({4})
Er scheint es nur mit einem einzigen Modell ernst zu
meinen. Herr Kollege Arnold hat gesagt, was daran unredlich ist. Es fehlen dort einige Elemente. Ich weiß
nicht, ob ich ihn ernst nehmen soll, wenn der Minister
sagt, das einzige Modell, das einen Sinn ergebe, sei das
Modell mit 163 500 Soldaten, aber die Zahl sei gar nicht
so wichtig und könne nach oben korrigiert werden, das
sei relativ egal. Das zeugt nach meiner Ansicht von Beliebigkeit.
({5})
Dabei braucht die Bundeswehr jetzt Führung, Überblick
und Voraussicht. Das alles ist nicht sichtbar.
({6})
Ein Problem habe ich: Ich muss Sie jetzt eigentlich
loben - das ist nicht mein Job als Oppositionspolitiker -,
weil Sie Realitätssinn gezeigt haben, indem Sie sich endlich an die Wehrpflicht herangewagt haben. Das hat
keine große Tradition in Ihren Reihen. In diesem Zusammenhang muss ich ein Wort zur Sozialdemokratie loswerden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
sieben Jahre lang gemeinsam regiert. Hätten Sie damals
die Blockade, die ich bis heute nicht verstehe, aufgegeben und gemeinsam mit uns die Wehrpflicht abgeschafft,
was wir damals gefordert haben - das war damals genauso sinnvoll wie heute -, dann könnte der Minister
heute nicht den harten Macher spielen und die Bundeswehr hätte sich in den zehn Jahren strukturell weiterentwickelt. Es ist sehr bedauerlich, dass dies damals nicht
gelungen ist.
({7})
Die Bundeswehr braucht Führung, weil die beabsichtigten Einschnitte immens sind. Zur Führung gehört aber
auch, dass man die Ziele benennt und sagt, was man eigentlich vorhat. Sie wollen Strukturen schaffen, alles auf
den Kopf stellen und verändern und am Ende ein neues
Weißbuch herausgeben. Das ist komplett falsch. Sie
müssen erst die Aufgabenkritik machen und formulieren, was die Bundeswehr können muss. Sie müssen zuerst beschreiben, welche Fähigkeiten wir brauchen, und
dann können Sie die Strukturen verändern. Sie dürfen
aber nicht Fakten schaffen und die Debatte komplett auf
den Kopf stellen. So ergibt das überhaupt keinen Sinn.
Ich nenne als Beispiel die vernetzte Sicherheit. Alle
wissen - das ist Konsens in diesem Hohen Hause -, dass
die komplexe Sicherheitsrealität des 21. Jahrhunderts
nur ein Instrument kennt, mit dem man arbeiten kann,
und das ist die vernetzte Sicherheit. Ich finde das bei Ihnen bisher nicht. Ich weiß nicht, wo das vorkommen
soll, wo sich das in den Strukturen findet. Im Übrigen
fehlt auch ein Bekenntnis zum Primat des Zivilen. Das
werden wir möglicherweise in zwei Jahren in einem
Weißbuch lesen, wenn die Debatte um die Reform der
Bundeswehr vorbei ist.
Der Kahn „Bundeswehr“ ist in schwierigen Gewässern; das wissen wir alle. Auch den Reformbedarf kennen wir alle. Es wäre jetzt Ihre Aufgabe als Verteidigungsminister, die Bundeswehr vor parteipolitischen
Spielchen zu schützen; stattdessen tragen Sie das Chaos
in den eigenen Reihen, allen voran in der CSU, in die
Bundeswehr hinein. Sie machen nicht Sicherheitspolitik
nach Kassenlage, Sie machen Sicherheitspolitik nach
Parteitagsterminen, und das ist nicht das, was die Soldatinnen und Soldaten, die einen knochenharten Job machen, verdienen.
({8})
Niemand weiß, wohin die Reise geht. Die Generalität
weiß es nicht. Die einzelnen Soldatinnen und Soldaten
wissen es nicht und ihre Familien auch nicht. Sie müssten jetzt Kapitän sein. Stattdessen sind Sie ein Verkäufer
von Last-Minute-Reisen. Sie sagen uns: Da, wohin wir
gehen, wird es ganz schön, aber was genau das Ziel ist,
erkläre ich euch dann, wenn wir angekommen sind. Das ist nicht das, was die Bundeswehr braucht. Das ist
nicht verlässlich. So führt man diese Armee nicht in einen sicheren Hafen.
({9})
Das Wort hat nun Kollegin Karin Strenz für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei aller Pflicht zum Sparen ist klar: Wir kürzen nicht auf Kosten der Sicherheit unserer Soldaten.
Wer Soldaten in den Einsatz schickt, muss nicht nur für
die bestmögliche Ausbildung und Ausrüstung sorgen,
sondern auch für die bestmögliche Betreuung. Das gilt
für die Zeit im Einsatz genauso wie danach. Ich bin der
Kollegin Elke Hoff für ihre Einlassungen zu seelischen
Verwundungen sehr dankbar; darauf möchte ich mich
konzentrieren.
Mehr als 460 Kameraden ließen sich im vergangenen
Jahr wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen
behandeln - doppelt so viele wie im Jahr 2008. In diesem Jahr werden es wahrscheinlich 600 traumatisierte
Frauen und Männer sein. In Wahrheit aber sind es sehr
viel mehr; denn die Dunkelziffer ist sehr hoch. Es ist unsere Pflicht, die seelischen Wunden genauso ernst zu
nehmen wie die körperlichen. Soldaten erleben im Einsatz Grausamkeiten, die sie manchmal nicht ohne professionelle Hilfe verarbeiten können. Oft dauert es viereinhalb Jahre - viereinhalb Jahre! -, bis ein Soldat eine
einsatzbedingte Traumatisierung überhaupt erkennt und
zugibt. Deshalb reicht es nicht, nur die Vorgesetzten zu
sensibilisieren. Wir alle müssen diese besondere Krankheit aus dem Schatten holen.
Da die seelisch Verwundeten doch im Dienst für unseren Frieden und für unsere Sicherheit ihr Leben riskiert haben, ist es selbstverständlich unsere Pflicht, ihnen zu helfen, gesund ins Leben zurückzufinden.
({0})
Eine seelische Wunde darf kein Stigma sein. Wer sich zu
seiner Schwäche bekennt, ist kein Schwächling.
Gerade vorgestern saß in meinem Büro ein Soldat aus
meiner Heimat; nachgewiesen PTBS. Auf dem Tisch
zwischen ihm und mir: ein Aktenberg. Er musste einen
langen Weg durch viele Instanzen gehen, um sich in einem Wirrwarr von Zuständigkeiten und Gesetzen zurechtzufinden. Er hat nicht die optimale Für- und Nachsorge erfahren. Auch das ist noch Realität, aber das wird
sich ändern. Nicht nur dieser Mann braucht Hilfe, nicht
nur er wird die Bilder aus dem Einsatz nicht los, liegt
nachts wach, schreckt auf, wenn draußen eine Autotür
zuknallt, und war fast dabei, sich aus dem Leben zu verabschieden.
Wir haben die Soldaten in den Einsatz geschickt. Wir
müssen ihnen auch die Rückkehr garantieren. Damit
meine ich: teilnehmen am Leben, die Kinder zur Schule
bringen, dem Partner zur Seite stehen können und den
Alltag meistern. Das gilt auch für ihre Familien; denn in
gewisser Weise ziehen sie selbst mit in den Einsatz.
Auch sie müssen mit ihren Sorgen kämpfen.
Was sie allerdings sehr beruhigt - das als ein Beispiel -,
ist das Krankenhaus in Masar-i-Scharif - ich war dort -,
welches mit modernster Technik und großem Know-how
ausgestattet ist und um das uns andere Nationen beneiden. Es gibt Sicherheit, ein Höchstmaß an Qualität und
schnellstmögliche Hilfe.
Das Berliner Psychotrauma-Zentrum im Bundeswehrkrankenhaus stellt sich den enormen Herausforderungen, etwa bei der lückenlosen Erfassung und Behandlung von PTBS-Patienten, aber auch bei der Vernetzung
von nationalem und internationalem Fachwissen. Dort,
wo wir Expertise haben, muss man das Rad nicht neu erfinden. Es hilft bei der Schulung des Personals von Familienbetreuungszentren zur Betreuung der Patienten
oder Soldaten und deren ebenfalls belasteten Familien.
Es steht für stärkere Vernetzung regionaler Betreuungseinrichtungen und Selbsthilfegruppen. Es geht auch um
die Organisation einer professionellen Begleitung bei
Versorgungsansprüchen.
Das ist ein Fortschritt, aber auch eine große und
schnell zu leistende Aufgabe. In diesem Fall heißt es
nämlich nicht „Zeit ist Geld“, sondern „Zeit ist Leben“.
({1})
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf aber nicht
nur für die aktiven Soldaten gelten, sondern auch für die
betroffenen Militärpfarrer und die Reservisten. Das ist
eine Frage der Gerechtigkeit und des politischen Anstands.
Es ist kein Geheimnis, dass wir im Sanitätsdienst einen akuten Personalmangel haben. Es fehlen Pfleger
und Ärzte. So hat die Bundeswehr beispielsweise nur 23
Psychiater bei doppelt so vielen Planstellen.
({2})
Es ist nicht leicht, Fachleute zu finden. Sie sind Mangelware. Vorerst können nur Psychologen diese Lücke
schließen, und eine Dauerlösung ist das nicht. Es fehlen
auch Ärzte, die bereit sind, in den Auslandseinsatz zu
gehen. Es stellt sich die Frage: Wie kann man das lösen?
Erstens vielleicht mit Planungssicherheit. Auch ein
Bundeswehrarzt will wissen, wo er die nächsten fünf
Jahre arbeiten und mit seiner Familie leben wird. Das
kostet nichts.
Zweitens vielleicht mit Bemühen um Konkurrenzfähigkeit und Bürokratieabbau. Die Bundeswehr steht im
Kampf um Bewerber zivilen Kliniken gegenüber. Hier
spielt Geld sicher eine Rolle, aber nicht nur. An der angemessenen Vergütung von Bereitschaftsdiensten und
Rufbereitschaften arbeitet der Minister bereits. Aber unklare Kompetenzen sind für Bewerber ein Ärgernis. Es
dauert oft drei bis vier Monate, mitunter sogar ein halbes
Jahr, bis ein Arzt eingestellt wird. Ich frage Sie: Wer hat
so viel Geduld? Dies zu ändern, kostet nichts.
Drittens vielleicht durch höhere Anerkennung des Berufsbildes. Wir müssen den Ärzten die Angst vor dem
Einsatz nehmen. Schon in der Ausbildung muss eine
Einsatzrealität präsent sein. Dieser Job ist eben anders
als der der Kollegen im Kreiskrankenhaus nebenan. Sie
werden vielleicht selbst in Gefahr sein, sie werden Leben retten müssen, im Gefecht.
Es wäre, meine Damen und Herren, sehr viel einfacher, wenn manch einer hier in sich kehren würde und
Soldaten, ob Feldjägern oder Medizinern, den gleichen
Respekt entgegenbringen würde wie dem Feuerwehrmann, dem Polizisten und den Einsatzkräften des THW
in der Heimat; denn sie alle riskieren ihr Leben für uns.
({3})
In der Attraktivitätsagenda 2011 des BundeswehrVerbandes gibt es einige Vorschläge, die wir umsetzen
könnten und auch sollten, zum Beispiel bei Vereinbarkeit von Beruf und Familie, bei der Regelung der Einsatzdauer und beim Laufbahnrecht. Ich denke, Herr
Minister, Sie selbst werden einige weitere Vorschläge
berücksichtigen wollen.
Dass es eine attraktivere Bundeswehr nicht zum Nulltarif geben kann, ist klar. Aber manches kostet eben den
Mut, den Fehler im System, von dem so viele reden,
nicht nur erkennen zu wollen, sondern ihn einfach abzustellen. Erst dann werden wir behaupten können, alles
für das körperliche und auch für das seelische Wohl unserer Soldaten und ihrer Familien getan zu haben. Das ist
unsere moralische Pflicht.
Herzlichen Dank.
({4})
Frau Kollegin Strenz, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation und
alle guten Wünsche für die weitere Zusammenarbeit!
({0})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Das Wort hat nun Klaus-Peter Willsch für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin der Kollegin Strenz dankbar für den Beitrag, den sie geleistet hat, weil sie eine sehr menschliche
Seite der Bundeswehr aufgezeigt hat. Diese Seite machen wir uns nicht immer bewusst, wenn wir über Einsätze reden, die Soldaten in Einsätze fern der Heimat
schicken, in diese ständige Bedrohung mit Gefahr für
Leib und Leben. Auch die Tatsache, dass, wenn der Einsatz vorbei ist, nicht alles andere auch vorbei ist, sondern
manche Erlebnisse in den Menschen weiterarbeiten,
müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir hier
über die Bundeswehr reden.
Der Verteidigungsminister hat gesagt: Strukturen und
Prozesse sollen konsequent an den Erfordernissen des
Einsatzes ausgerichtet werden. Ich glaube schon, Kollege Nouripour, dass diese Abfolge - Sie haben sie angesprochen; das ist das Henne-Ei-Problem - das richtige
Herangehen ist. Während meiner Zeit bei der Bundeswehr in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre
({0})
war die Lage natürlich völlig anders: Die Landesverteidigung stand im Vordergrund. Warschauer Pakt und
NATO standen sich waffenstarrend in der Mitte unseres
Vaterlandes gegenüber. Wir mussten stark genug und so
disloziert sein, dass der Gegner, bei dem eine aggressive
Ideologie vorherrschte, abgeschreckt wurde, sich nicht
traute, Einschüchterungsversuche zu unternehmen oder
uns gar militärisch anzugreifen.
Vor 20 Jahren ist im Zuge der deutschen Einheit die
Integration der unbelasteten Teile der Nationalen Volksarmee hervorragend gelungen. Seitdem ist Schritt für
Schritt der Übergang zu einer Armee im Einsatz erfolgt.
Es ist sicherlich richtig, dass wir uns, ausgehend von der
Frage, was die Bundeswehr leisten soll, zunächst mit
dem Umfang der Streitkräfte beschäftigen. Genau das
hat der Verteidigungsminister mit seinen Überlegungen,
die auf den Arbeiten des Generalinspekteurs fußen und
für die ich ihm auch noch einmal ganz herzlich danken
möchte, getan. In diesen Überlegungen ist die Aussetzung der Wehrpflicht enthalten.
Ich finde es ein bisschen unfair, Herr Kollege
Nouripour, dass Sie uns dafür loben, dass wir uns diesem
Thema nähern,
({1})
und dass Sie zugleich unterstellen, hier würde Verteidigungspolitik nach Parteitagsterminen gemacht. Natürlich gibt es hier demokratische Entscheidungserfordernisse, die Sie als ausgewiesene Basisdemokraten ohne
Mühe nachvollziehen können müssten. Das behindert in
diesem Jahr unsere Haushaltsberatungen ein wenig, da
wir letzte Gewissheit erst nach Beschlüssen von demokratisch legitimierten Delegiertenversammlungen wie
Parteitagen bekommen. Aber dieses Vorgehen in eine
solche Kiste zu packen, wie Sie es getan haben, finde ich
ein bisschen unfair.
Herr Arnold, Sie beklagen, dass es Auswahlmöglichkeiten gibt. Ich finde es intellektuell redlich, dass man
nicht davon spricht, es gebe keine Alternativen, sondern
dass man verschiedene Möglichkeiten präsentiert, wie
man vorgehen kann. Der Minister bleibt nichts schuldig,
wenn es um die Frage geht, welche Variante er für die
geeignete und richtige hält.
({2})
Es ist gegenüber dem Parlament ein völlig fairer Ansatz,
wenn man verschiedene Möglichkeiten durchrechnet
und eine bestimmte Variante hervorhebt.
Es wird noch im Herbst die Beschlüsse von Parteitagen und die Ergebnisse der Weise-Kommission geben.
Dann sind wir mit der Festlegung des Umfangs der
Streitkräfte durch. Danach schließt sich natürlich die
Frage an, wie es um die Standorte steht. Die klare Ansage ist: Nicht vor Mitte des nächsten Jahres werden wir
darüber Aufschluss in Form von Vorschlägen des Ministers bekommen.
Die Festlegung von Ausrüstung und Ausstattung ist
der nächste Schritt, der folgen muss. Die Frage nach dem
„level of ambition“, also danach - ich will hier im Parlament deutsch reden -, was die Bundeswehr leisten soll,
hat erheblichen Einfluss auf Ausrüstung, Ausbildung
und Gerät. Dieser Punkt beschäftigt den Haushaltsausschuss natürlich ganz besonders.
Ich habe in diesem Jahr zur Entscheidungsvorbereitung mehrere Wehrübungen gemacht und mehrmals die
Truppe besucht. Ich will ausdrücklich sagen, dass der
Einsatz der Reservisten an den Heimatstandorten, von
denen aus Kontingente in den Einsatz gehen, sehr wichtig ist. Permanent sind ungefähr 500 Reservisten im
Auslandseinsatz. Diese Tatsache können wir nicht hoch
genug würdigen. Auch in Zukunft soll ein sinnvoller
Einsatz der Reservisten möglich sein.
({3})
Beschaffungsvorhaben haben uns in den letzten Jahren im Haushaltsausschuss schon häufig beschäftigt. Die
Vorwürfe lauteten: zu teuer, zu spät und nicht alle Eigenschaften abdeckend, die gefordert sind. Solche Vorhaben
werden wir uns eines nach dem anderen anschauen müssen. Aber ich will dazu noch eines sagen: Als wir in
zweiter und dritter Lesung den Haushalt 2010 behandelt
haben, habe ich gesagt, dass wir den Einzelplan 14 aufgrund seiner Enge, mit der er gestrickt ist, nicht mehr dafür nutzen dürfen, um Strukturpolitik oder Sektorpolitik
zu betreiben. Wir sehen, dass wir im Bereich der Rüstungsindustrie hervorragende Güter produzieren, mit denen wir technologisch an der Spitze liegen. Die Bundesregierung soll helfen - die entsprechende Aufforderung
ist aus meiner Sicht richtig -, den Markt zu erweitern,
um die Exportmöglichkeiten auszubauen. Die Bundesregierung kann für unsere Industrie in diesem Bereich
Türen öffnen und ihr beim Exportgeschäft helfen. So
können wir die Technologieführerschaft in diesen Bereichen erhalten oder vielleicht sogar noch ausbauen.
Die Probleme bei der Budgetplanung will ich ausdrücklich belegen. Ich habe schon etwas zu den Abläufen gesagt, bei denen sich natürlich Veränderungen ergeben können. Ich erlebe auch, dass aus dem
parlamentarischen Raum verschiedene Zahlen genannt
werden, die von dem abweichen, was der Minister als
seine Empfehlung vorlegt.
Ich bin weit davon entfernt zu sagen, wir machen Sicherheitspolitik nach Kassenlage. Man muss aber zur
Kenntnis nehmen, dass Haushalte, über die man spricht,
und Zahlen, die man aufschreibt, auf irgendeiner Grundlage basieren.
({4})
Jeder muss wissen, dass das, was an Zahlengerüst
vorliegt, auf Zahlen vom Jahresbeginn basiert, das heißt
auf 156 000 plus 7 500, also 163 500 Soldaten, und dass
für Attraktivierungsprogramme, die wir uns im Einzelnen noch gar nicht ausgedacht haben, nur eine Grundausstattung vorgesehen ist. Jeder, der mehr will, also
nicht Verteidigungspolitik nach Kassenlage machen will,
muss bereit sein, mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
Allein mit der ausgebrachten globalen Minderausgabe in
der Größenordnung von 838 Millionen Euro liegt noch
ein sehr schwerer Weg vor uns, den wir in den Detailberatungen im Haushaltsausschuss bewältigen müssen.
Herr Präsident, ich sehe, meine Redezeit ist abgelaufen; daher komme ich zum Schluss. Ich bin - wie der
Kollege Koppelin - der Meinung, dass wir uns das
Thema BImA noch einmal ganz genau daraufhin ansehen müssen, ob das, was durch das BImA-Errichtungsgesetz auf den Weg gebracht worden ist, wirklich schon
Veranschlagungsreife hat. Vielleicht kann das ein wichtiger Ansatz für die Auskleidung der globalen Minderausgabe sein.
Zum Schluss will ich der Hoffnung Ausdruck geben,
dass Martin Walser recht hat. Wir sind auf einem Weg,
bei dem wir noch nicht wissen, wie alles genau werden
wird. Aber ich glaube, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen und dass wir damit den Erfordernissen der
Truppe im Einsatz gerecht werden können. Martin Walser sagt: Den Gehenden schiebt sich der Weg unter die
Füße. - Wir wollen hart daran arbeiten, dass das so geschieht.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({5})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir kommen damit zum letzten Tagesordnungspunkt
für heute, dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23.
Ich erteile dem Bundesminister Dirk Niebel das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über einen Rekordhaushalt im Bereich der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung, einen Haushalt, der, obwohl die Schuldenbremse schon
gilt, als einziger neben dem Bildungshaushalt nicht nur
nicht gekürzt wird, sondern einen - wenn auch kleinen Aufwuchs hat. Allein die Tatsache, dass hier nicht gekürzt wird, ist schon ein Bekenntnis.
Ich weiß, dass in der folgenden Debatte von anderen
bestimmt gleich wieder der Ruf nach noch mehr Geld
kommen wird; denn das ist in jeder Haushaltsdebatte zu
diesem Etat so. Für alle diejenigen, die das fordern,
möchte ich das Forschungsinstitut für soziale Entwicklung der Vereinten Nationen zitieren, das da schreibt:
Die bisherige Armutsbekämpfung geht von falschen Annahmen aus. Sie hat sich jahrzehntelang
auf die Dinge konzentriert, die fehlen, wie Unterkunft, Lebensmittel und Gesundheitsvorsorge. Es
geht aber darum, die Ursachen, warum sie fehlen,
anzugehen.
Genau das werden wir auch in diesem Haushalt noch
einmal beschreiben. Es geht uns darum, die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit so zu erhöhen,
dass wir die Ursachen der Probleme in unseren Partnerländern beheben helfen können, damit unsere Partnerländer im Idealfall irgendwann einmal auch ohne unsere
Hilfe ihre Geschicke selbst lenken können.
({0})
Wir sprechen über den Haushalt 2011. Im Jahr 2011
wird das BMZ 50 Jahre alt. Der erste Bundesentwicklungsminister war Walter Scheel. Im Jubiläumsjahr ist
mit mir als Amtschef die Federführung für dieses Ressort wieder bei den Liberalen gelandet. Wir müssen die
Frage beantworten: Was war eigentlich dazwischen?
Was war eigentlich in den Jahren nach Walter Scheels
Amtszeit und vor Beginn meiner Amtszeit? Da müssen
wir zur Kenntnis nehmen, dass es Länder auf dieser Welt
gibt, die seit 40 Jahren Entwicklungshilfe bekommen
und immer noch auf Platz 155 der Liste der ärmsten
Länder der Welt stehen, dass es manche Donor-Darlings
gibt, die sage und schreibe 60 Prozent ihres gesamten
Staatshaushalts durch Geber der internationalen Gebergemeinschaft finanzieren.
Das zu hinterfragen, ist eine zwingende Voraussetzung, um gerade in schwierigen finanziellen Situationen
bei den Bürgerinnen und Bürger in Deutschland die Legitimität dieses Etats immer wieder zu erwerben. Wir
brauchen die Legitimität durch eine höhere Wirksamkeit
unserer Entwicklungszusammenarbeit. Sonst wollen die
Bürgerinnen und Bürger als Steuerzahler womöglich irgendwann einmal das Geld nicht mehr für diese wichtige
Aufgabe zur Verfügung stellen. Ich glaube, das wäre ein
enormer Fehler. Wirtschaftliche Zusammenarbeit ist
nicht nur aus unseren Werten heraus zwingend notwendig, sondern auch aus unseren eigenen Interessen heraus.
Beides müssen wir miteinander verbinden.
({1})
Ich bin nach wie vor der Überzeugung: Nicht die
Summe des ausgegebenen Geldes ist das Entscheidende,
sondern die Wirkung, die man damit erzielen kann. Die
ODA-Quote ist zur heiligen Kuh geworden. Bevor der
Saal auf der linken Seite beginnt, sich zu empören,
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich damit nur
Willy Brandt zitiert habe, den großen Nord-Süd-Politiker, SPD-Bundeskanzler und Nobelpreisträger: Wenn es
nach ihm ginge, sollte man von „heiligen Kühen“ und
„willkürlichen Messlatten“ ablassen. Hier stehe ich zu
Brandt.
Ich stehe aber auch zu unseren internationalen Verpflichtungen und stelle zugleich selbstbewusst fest, dass
sich die Bundesrepublik Deutschland als drittgrößter Geber in der Entwicklungszusammenarbeit weltweit nicht
verstecken muss. Wir haben uns nicht vorzuwerfen, dass
wir uns zu wenig um die Partnergesellschaften in der
Welt kümmern würden. Weil das so ist, werden Sie bei
Betrachtung dieses Haushalts, der - wenn es der Haushaltsgesetzgeber mitträgt - einen kleinen Aufwuchs haben wird, feststellen, dass das, was wir im letzten Jahr
geschafft haben - eine deutliche Erhöhung der Mittel für
die Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Wirtschaft um 51 Millionen Euro -, hier fortgeschrieben
wird. Wir wollen weiterhin die Zivilgesellschaft stärken,
bei uns, vor allem aber in den Partnerländern; denn dann
werden die Zivilgesellschaften dort zu Kontrolleuren der
Partnerregierungen.
Wir stärken weiterhin die Zusammenarbeit mit der
deutschen Wirtschaft, weil wir der festen Überzeugung
sind - so steht es auch im Entwurf des Abschlussdokuments des MDG-Gipfels in New York -, dass inklusives
Wirtschaftswachstum in unseren Partnerländern - eigene
Wertschöpfungsketten, die mit eigenen Arbeitsplätzen
und eigenen Einkünften zur Armutsbekämpfung beitragen - der beste Weg ist, um hier zum Ziel zu kommen.
({2})
Wir haben uns vorgenommen, die Arbeitsteilung zu
verbessern, die Kohärenz zu erhöhen. Das geht sogar so
weit, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Ministeriums eine deutsche Landwirtschaftsministerin den Entwicklungsminister besucht hat und wir beide gemeinsam
gewaltfrei eine Erklärung abgegeben haben, dass wir uns
für das Auslaufen der EU-Agrarexportsubventionen einsetzen, etwas, das Rot-Grün und Schwarz-Rot in der
Vergangenheit nicht geschafft haben.
({3})
Wir haben in Deutschland mit unseren Hausaufgaben
begonnen; denn wenn wir von unseren Partnern mehr
Wirksamkeit verlangen, dann müssen wir das auch von
uns selbst verlangen. Deswegen reformieren wir die Entwicklungsorganisationen im staatlichen Bereich der
technischen Durchführung; hier sind wir auf einem guten Weg. Wir werden Doppelstrukturen abbauen und die
Fähigkeit des Ministeriums zur politischen Steuerung
zurückgewinnen, damit sich die Durchführungsorganisationen um das kümmern können, wofür ihr Name steht:
Maßnahmen durchzuführen, die im Ministerium politisch beschlossen worden sind.
({4})
Wir fördern, wo immer das möglich ist, Multi-Purpose-Projekte. Das sind Projekte, bei denen man mit
dem gleichen Euro mehrere Ziele erreicht. Die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit fördert den Bau des ersten
und einzigen Zementwerks in Namibia. Es handelt sich
um die Direktinvestition eines deutschen Familienunternehmens, die nur mit Krediten unterstützt wird. Dieses
Projekt führt dazu, dass Namibia vom Zementimporteur
zum -exporteur wird. Darum herum passieren viele andere gute Dinge, die in der Region eine wirkliche Entwicklungsdynamik auslösen.
Wir werden noch in diesem Monat ein Folgeprojekt
auf den Weg bringen, das dieses Projekt im biologischen
Bereich zusätzlich aufwertet: ein Debushing-Projekt, bei
dem eine Buschart, die dort ausgewildert ist, aber dort
biologisch nicht hingehört, genutzt wird, um das Zementwerk zu befeuern. Wir werden dafür sorgen, dass
diese Büsche mit einem Mähdrescher abgeerntet, geschreddert und verfeuert werden. Wir werden mit einem
Euro, den wir dafür ausgeben - es geht um Kredite in
Höhe von insgesamt nur 12,3 Millionen Euro, also um
kleines Geld -, sechs Ziele erreichen: Wir werden Subsahara-Afrika stärken, nachhaltiges Wirtschaftswachstum schaffen, die ländliche Entwicklung fördern, die
Biodiversität schützen, die Armut bekämpfen und die
CO2-Emissionen dramatisch - um 130 Tonnen pro Jahr senken.
Wenn man solche Multi-Purpose-Projekte in der Zukunft intensiver pflegt, werden wir mit dem gleichen
Euro bei höherer Wirksamkeit viel mehr für unsere Partner erreichen können, als es in der Vergangenheit der
Fall war. Dieser Haushalt ist ein guter Einstieg, dass wir
es schaffen werden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Minister, das war eine sportliche und
spannende Rede. Ich finde es interessant, dass Sie in Ihrer Rede die Frage der Kohärenz der Politik angesprochen haben: Wie ist das zwischen den Ministerien abgestimmt?
Ich habe mir heute die Mühe gemacht, die Debatte
über die verschiedenen Einzelpläne, die die internationalen Beziehungen betreffen, zu verfolgen. Eines hat sich
durch alle Debatten durchgezogen: In allen Einzelplänen, die mit der internationalen Zusammenarbeit zu tun
haben, versagt diese Regierung. Sie hält ihre internationalen Zusagen nicht ein.
({0})
- Das ist auch kohärentes Handeln, sehr richtig.
Schauen wir uns den vorliegenden Haushalt, den Sie
als Rekordhaushalt bezeichnen, näher an. An den vorgesehenen 6,1 Milliarden Euro sieht man, dass es sich um
einen stagnierenden Haushalt handelt. Im Vergleich zum
letzten Haushalt sieht man, dass sich nichts geändert hat.
Sie haben außerdem vergessen, ein paar Punkte anzufügen, nämlich Ihre mittelfristige Finanzplanung, die
mittlerweile netterweise vorliegt. Wenn man sich die näher betrachtet, stellt man fest, dass der Etat sinkt. Es ist
vorgesehen, die Ausgaben bis zum Jahr 2014 auf
5,6 Milliarden Euro zu senken. Ich hoffe, dass Sie 2014
nicht mehr an der Regierung sind. Mit dem, was Sie
durch Ihr Tun vorprogrammieren, hinterlassen Sie denjenigen, die nach Ihnen vernünftige Entwicklungszusammenarbeit gestalten wollen, eine schwere Hypothek.
({1})
Herr Minister, ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie
uns anhand der mittelfristigen Finanzplanung begründen, wie Sie Ihre internationalen Zusagen erfüllen
wollen. Sie haben eben gesagt, Sie werden es tun, aber
ich frage Sie: Wie erfüllen Sie die ODA-Quote? Wie erfüllen Sie die internationalen Zusagen mit dieser von Ihnen und Ihrem Haus vorgelegten mittelfristigen Finanzplanung? Das möchte ich von Ihnen, aber auch von der
Kanzlerin wissen, weil sie offensichtlich, im Gegensatz
zu dem, was Herr Niebel vorgetragen hat, auf zahlreichen internationalen Konferenzen Mittel zugesagt hat,
die sich im vorliegenden Haushalt nicht widerfinden.
({2})
Ich kritisiere die Kanzlerin nicht dafür, dass sie diese
Mittel zugesagt hat. Wir als Sozialdemokraten halten die
Bereitstellung von Mitteln für die Ernährungssicherheit,
die HIV-Bekämpfung, für Bildung, Müttergesundheit
und die Bekämpfung der Kindersterblichkeit für wichtige und richtige Zusagen der Kanzlerin. Nur: Wo finden
sie sich in diesem Haushalt wieder? Nirgends! Sie strafen mit diesem Haushaltsentwurf die Kanzlerin Lügen.
({3})
Ich kann das anhand zahlreicher Beispiele belegen.
Rechnen wir einmal zusammen und fangen mit dem Beispiel Heiligendamm an. Damals hat sich die Kanzlerin
als „Afrika-Kanzlerin“ feiern lassen. Bis 2011 wurden
Mittel in Höhe von 3 Milliarden Euro zugesagt. Wo findet man in diesem Haushalt die Mittel für Afrika? Sie
haben selber gesagt, dass man Subsahara-Afrika mit
demselben Euro stärken muss. Ich habe meine Zweifel
an demselben Euro; denn wenn man die Planung für
Subsahara-Afrika und auch für Afrika insgesamt für das
nächste Jahr betrachtet - dies kann man an den Verpflichtungsermächtigungen ablesen -, stellt man ein Minus von 42 Prozent fest. Das ist nicht derselbe Euro, den
Sie eben noch angekündigt haben.
({4})
Zur HIV-Bekämpfung. In Heiligendamm wurden
4 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2008 bis 2015
zugesagt. Das sind in jedem Jahr Pi mal Daumen
500 Millionen Euro. Heute lese ich in der Presse zum
Thema Globaler Fonds:
Bislang konnte die Bundesregierung lediglich für
das Haushaltsjahr 2011 ihre Unterstützung zusagen.
Darüber hinaus ist Deutschlands Beitrag unsicher.
Der zuständige Beauftragte des Globalen Fonds, Herr
Benn, fordert die Bundesregierung auf, ihre Position zu
überprüfen und auch im nächsten Haushalt die Mittel für
den Globalen Fonds einzustellen. Ich kann mich dieser
Forderung nur anschließen.
({5})
Wenn es darum geht, Effektivität in der Entwicklungszusammenarbeit einzufordern, dann wäre das ein Beispiel
für effektive Entwicklungszusammenarbeit. Ich nenne
einige Schlagworte: 2,5 Millionen Menschen haben Unterstützung bei der HIV-Behandlung erhalten, präventiv
wurden 104 Millionen Moskitonetze verteilt, seit 2002
wurden Hunderttausende von Menschen als Gesundheitsfachkräfte aus- und weitergebildet, es gab Aufklärungskampagnen in Schulen zum Thema Malaria, es
wurden Mittel für Malariaschnelltests zur Verfügung gestellt usw. Das ist effektive Entwicklungszusammenarbeit, die Sie, Herr Minister, stoppen wollen. Damit führen Sie die Zusagen der Kanzlerin ad absurdum.
({6})
Lassen Sie mich weitere Beispiele nennen: L’Aquila,
Ernährungssicherheit. Sie selbst haben auf eine Kleine
Anfrage, die wir als SPD-Fraktion gestellt haben, geantwortet: Sie werden in den Haushalten für die Jahre 2010
bis 2012 3 Milliarden US-Dollar einstellen. Wo finden
sich die in Ihrem Haushalt?
Zu Kopenhagen kann ich nur sagen: alter Wein in
neuen Schläuchen. Das ist das einzige, was Sie hier verkaufen. Die Kanzlerin hat 1,26 Milliarden Euro zugesagt, 420 Millionen Euro neues Geld pro Haushaltsjahr.
Jetzt findet man im Bereich Biodiversität Mittel, die zu
Recht ausgegeben werden, die aber bereits 2008 auf einer anderen Konferenz zugesagt wurden.
({7})
Man findet auch zinsverbilligte Darlehen, obwohl es um
zusätzliche, frische Mittel, um zusätzliche Kredite ging.
Alter Wein in neuen Schläuchen. Internationale Zusagen
werden nicht eingehalten. Auch dies ist ein Beispiel für
das Versagen der Kanzlerin und Ihres Hauses.
({8})
Weiteres Beispiel: Mütter- und Kindersterblichkeit. Das ist ein MDG-Ziel, bei dem wir alle in diesem
Haus uns einig sind, dass auf diesem Gebiet wesentlich
mehr getan werden muss. Ich erinnere Sie: Eine halbe
Million Frauen stirbt jährlich aufgrund von Komplika6126
tionen während der Schwangerschaft, bei der Entbindung oder kurz nach der Geburt. 9 Millionen Kinder
sterben jährlich an behandelbaren Krankheiten. Wir alle
sind uns einig, dass wir mehr tun müssen, auch mehr
Mittel zur Verfügung stellen müssen; denn ohne einen finanziellen Einsatz kommt man hier nicht voran.
Die Kanzlerin hat 400 Millionen Euro zugesagt. Das
ist richtig. Nur, wo findet man das im Haushalt? Für die
Haushalte 2011 bis 2015 müssten das 80 Millionen Euro
pro Jahr sein. Wo ist das Geld dafür in diesem Haushalt
zu finden? Nirgends.
({9})
Auch wenn ich Unterlagen aus Ihrem Haus immer so
spät bekomme, dass es schwerfällt, sie in Debattenbeiträge einzubauen, habe ich mir die Mühe gemacht, mir
die Erläuterungen anzusehen. Ich zitiere aus dem, was
Sie hier eingestellt haben. Bei der Finanziellen Zusammenarbeit gibt es einen kleinen Bereich, bei dem es eine
Erhöhung um 100 Millionen Euro gibt. Es ist völlig
okay, dass man hier erhöht; ich möchte nicht missverstanden werden. Aber was steht hier? Der angehobene
Ausgabenansatz wird benötigt, um die inhaltlichen
Schwerpunkte in internationalen Verpflichtungen der
Bundesregierung in den Bereichen Klima- und Umweltschutz einschließlich Biodiversität, Grundbildung, Gesundheit, inklusive HIV-/Aidsbekämpfung, Mütter- und
Kindergesundheit umzusetzen. Regionaler Schwerpunkt
der FZ soll weiterhin Afrika sein. - Das wollen Sie mit
einer Erhöhung um 100 Millionen Euro machen? Ich
habe gerade vorgetragen, was auf internationaler Ebene
alles zugesagt wurde. Wie soll das gehen, vor allem,
wenn Sie im nächsten Jahr die Planungen für die Verpflichtungsermächtigungen für das nächste Jahr schon
wieder um 330 Millionen Euro zurückfahren? Das, was
Sie hier tun, ist Mumpitz.
({10})
Das und die Tatsache, dass internationale Zusagen
nicht eingehalten werden, gefährdet die Glaubwürdigkeit Deutschlands. Das, was Sie betreiben - das haben
Sie auch in dieser Rede getan -, ist mehr als schäbig. Sie
stellen sich hier hin und tun so, als könnte man Wirksamkeit der EZ und finanzielle Ausgestaltung gegeneinander ausspielen.
({11})
Sie benutzen diese Argumentation nicht, um eine wirksamere und effektivere EZ zu gestalten. Sie benutzen sie
nur, um Ihr Versagen hinsichtlich Ihrer finanziellen Verpflichtungen und das finanzielle Desaster dieses Haushaltes schönreden zu können.
({12})
Die Arbeitsgruppe unserer Fraktion fordert Sie auf:
Korrigieren Sie den Haushaltsentwurf. Legen Sie einen
Entwurf vor, der den internationalen Zusagen, die die
Kanzlerin gemacht hat, entspricht. Legen Sie einen Plan
vor, wie die finanziellen Zusagen Deutschlands erfüllt
werden können. Zeigen Sie endlich Engagement für Ihr
Ressort und damit bei der Bekämpfung von Armut weltweit.
Danke.
({13})
Das Wort hat nun Christian Ruck für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich immer, wenn ich nach der Kollegin Kofler
sprechen kann;
({0})
denn dann können wir wieder über die Grundzüge der
Entwicklungspolitik und nicht nur über ein Feuerwerk
von Taschenspielertricks reden.
({1})
Wir stehen in diesem Herbst vor drei wichtigen internationalen Konferenzen, die für die Zukunft von
Mensch und Natur auf der ganzen Welt von großer Bedeutung sind - sie sind auch für unseren Haushalt von
großer Bedeutung; denn an dieser Herausforderung muss
er sich messen lassen -, dem Gipfel der Vereinten Nationen in New York zur Überprüfung der Millenniumsziele,
der Vertragsstaatenkonferenz zur Artenvielfalt in Nagoya und der Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz des
Klimas in Cancún. Auf diesen Konferenzen besprechen
Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer, wie globale Missstände eingedämmt werden können - über die
sind wir uns ja einig -: über Armut und unzureichende
Bildung, über eigentlich vermeidbare Krankheiten, über
Unterversorgung mit Trinkwasser - dies alles sind Themen, die in den Millenniumszielen behandelt werden -,
über den kaum gebremsten Verlust von Artenvielfalt und
Ökosystemen und schließlich über den Klimawandel mit
seinen desaströsen Folgen für Entwicklungs- und
Schwellenländer.
Ich sage Ihnen und dir, Bärbel, noch einmal ganz klar:
Deutschland hat in der Tat für alle Bereiche zu Recht
Finanzzusagen ausgesprochen, und die wollen und werden wir einhalten.
({2})
- Jetzt seien Sie doch nicht so kleinmütig.
({3})
Auch der Haushalt 2011 muss und wird dazu einen
gewichtigen Beitrag leisten.
({4})
Wir werden die Zusagen einhalten. Ich werde Ihnen auch
sagen, wie wir das machen wollen. Trotz der einmaligen
Sparzwänge wächst, wie Minister Niebel schon ausgeführt hat, der Einzelplan 23 erneut gegen den allgemeinen Trend. Dies unterstreicht die große Bedeutung, die
die Bundesregierung diesen globalen Zukunftsfragen
beimisst. Wir haben 2010 eine ODA-Quote von 0,4 Prozent erreicht; das ist der höchste Wert seit 20 Jahren. Natürlich sind wir von der ODA-Quote in Höhe von
0,7 Prozent im Jahr 2015 noch ein gutes Stück entfernt.
Aber es ist auch nötig, dass wir dieses Ziel mit Realismus angehen. Wir brauchen bis 2015 10 Milliarden Euro
an zusätzlichen ODA-Mitteln, um das gesteckte Ziel zu
erreichen. Dafür brauchen wir einen realistischen Entwicklungspfad.
({5})
Dieser realistische Entwicklungspfad, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Sozialdemokratie, liebe ehemaligen Koalitionäre, unterscheidet sich in nichts von dem,
was wir damals - das haben Sie offensichtlich
vergessen - zusammen ausgemacht haben.
({6})
Es nützt niemandem, vor allem nicht den Entwicklungsländern und der Entwicklungszusammenarbeit,
wenn wir einen schwachen Euro haben
({7})
und wenn die Kraft der europäischen Zusammenarbeit
aufgrund einer Destabilisierungspolitik absinkt. Deswegen halte ich es für vollkommen richtig, wenn auch die
Entwicklungspolitik auf eine stabile Finanzgrundlage
gestellt wird.
Wenn du, Bärbel, von der mittelfristigen Finanzplanung ausgehst,
({8})
dann schau dir einfach einmal die mittelfristige Finanzplanung unter Steinbrück an. Wenn wir das alles hätten
einhalten müssen, dann wären wir damals auf keinen
grünen Zweig gekommen.
({9})
Deswegen lassen Sie uns doch darüber nachdenken,
wie wir über das normale Haushaltsverfahren hinaus in
der Lage sind, zum Beispiel durch innovative Finanzierungsinstrumente, die wir damals zusammen erkämpft
haben, die ODA-Quote von 0,7 Prozent im Jahr 2015
noch besser zu erreichen. Da möchte ich auf einen Punkt
hinweisen, der in der Diskussion über die Verlängerung
der Laufzeiten von Kernkraftwerken untergegangen ist:
Wir können durch die Einnahmeseite der CO2-Emissionszertifikate auch für den internationalen Bereich ein
Energieprogramm erhalten. Im Koalitionsvertrag standen noch 50 Prozent. Jetzt haben wir die Zusage erkämpft, dass es ab 2013 100 Prozent sind. Das ist aus
meiner Sicht auch für die klima- und umweltpolitische
Finanzierung in der Entwicklungspolitik ein ganz großer
Durchbruch.
({10})
Das ist etwas, das auch Sie zur Kenntnis nehmen sollten.
Ich bin auch der Meinung, dass wir die sehr klugen
Ideen, die die KfW und GTZ hinsichtlich einer Mischung von Zuschüssen mit Haushaltsmitteln entwickelt
haben, berücksichtigen sollten.
({11})
- Nein, Sascha, auch das haben wir alles gemeinsam entworfen; auch da hast du offensichtlich ein ziemlich
schwaches Gedächtnis. - Damit könnten wir eine vernünftige zusätzliche Finanzierung vor allem auch für
Klimaschutzmaßnahmen erreichen. Das sollten wir zusammen angehen.
Schließlich wollen wir versuchen - das war immer etwas, was wir gemeinsam haben erzielen wollen; aber
auch dabei habt ihr euch komplett verabschiedet -, die
Finanztransaktionsteuer doch noch in Europa oder im
nationalen Kontext auf die Beine zu stellen.
({12})
Auch dabei wollen wir einen Anteil für die Entwicklungspolitik haben.
({13})
Bei all diesen Vorschlägen wäre es gut, wenn die Opposition in Anbetracht der zurückliegenden erfolgreichen gemeinsamen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Kanzlerin und Minister Niebel den Rücken
stärken würde,
({14})
anstatt hier mit Schaum vor dem Mund immer wieder
die gleichen Taschenspielertricks vorzuführen.
({15})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Der Sascha Raabe hat immer Schaum vor dem Mund,
wenn es um den Haushalt geht.
Herr Kollege Ruck, nur eine ganz kurze Zwischenfrage. Sie sagten gerade, die SPD-Bundestagsfraktion
solle doch bitte der Kanzlerin und Minister Niebel den
Rücken stärken bei der Frage der Einführung einer Finanztransaktionsteuer, damit wir über die entsprechenden Mittel verfügen. Herr Kollege Dr. Ruck, ist Ihnen
bekannt, dass Herr Minister Niebel mehrmals öffentlich
und auch im Ausschuss gesagt hat, dass ihn nicht interessiert, was die Kanzlerin sagt, er sei gegen eine Finanztransaktionsteuer? Wie passt das Ihrer Meinung
nach zusammen?
({0})
Erstens hat Herr Minister Niebel das in einem anderen Zusammenhang und mit anderen Worten gesagt.
Zweitens sind wir uns inzwischen auch über dieses Detail der Entwicklungspolitik einig geworden und nähergekommen.
({0})
Ich kann nur sagen: Auch die Sozialdemokratie
könnte sich den Ideen der Union und der Kanzlerin anschließen. Da fällt Ihnen kein Zacken aus der Krone.
({1})
Ich möchte noch einmal auf den Vorwurf eingehen,
wir würden in puncto Biodiversität oder Klimaschutz
unser Wort nicht halten. Auch das ist falsch. Ich halte es
für eine gute Idee der neuen BMZ-Führung, die Biodiversitätsmittel in einer Sonderfazilität zusammenzufassen, die allein im Jahr 2011 300 Millionen Euro umfasst. Können Sie sich noch erinnern, worum wir uns
damals bei der Vorgängerministerin bemüht haben? Das
war eine Steigerung von 20 Millionen Euro auf 170 Millionen Euro in drei Jahren. Ich finde, dabei haben wir einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht.
Wir werden auch die Verpflichtungen für Cancún erfüllen. Auch diese Mittel sind in den Haushalt eingestellt. Sie müssen aber auch die bilateralen Beiträge zusammenrechnen. Dabei lasse ich mich gern auf jede
Diskussion bei den parlamentarischen Beratungen ein.
Am Schluss wirst du sehen, dass wir auch die Ziele für
Cancún voll und ganz erfüllen werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Koczy von den Grünen?
Frau Koczy.
Danke, Herr Kollege. - Ist Ihnen zum Thema Biodiversität bekannt, dass das Ministerium nicht mehr bereit ist, den Yasuní-Nationalpark im bisherigen Ausmaß
zu unterstützen, der unseres Wissens ein großer Schatz
ist? Hierbei handelt es sich um ein Regenwaldgebiet, um
ein ITT-Gebiet. Der gesamte Deutsche Bundestag hat
dem Staat Ecuador angeboten, eventuell Unterstützung
zu leisten. Wie stehen Sie dazu, die Frage der Biodiversität in diesem Fall nachrangig zu behandeln und dieses
Regenwaldgebiet nicht zu unterstützen?
Das sind zwei Paar Stiefel, Frau Koczy. Erstens habe
ich gerade ausgeführt, dass wir im Bereich der Biodiversität im Vergleich zu der jämmerlichen Performance unter rot-grüner Regierung einen Aufwuchs haben, den es
noch nie zuvor gegeben hat. Das bitte ich anzuerkennen.
({0})
Zweitens kennen Sie meine Meinung zum YasuníNationalpark. Wir haben als Union den Antrag der Grünen grundsätzlich unterstützt. Das können Sie hier auch
ruhig einmal ganz deutlich sagen. Das ist auch nicht alltäglich. Es gab bei diesem Antrag und bei diesem Vorgang insgesamt Tausende von Schwierigkeiten und Problemen, die gelöst werden mussten. Wir haben ihn aber
immer unterstützt. Deswegen habe ich überhaupt keine
Probleme, zu sagen, dass wir auch weiterhin versuchen,
an diesem Projekt dranzubleiben. Wir müssen uns natürlich konkret fragen, aus welchem Topf bzw. aus welchen
Quellen dieses Vorhaben finanziert werden kann. Aber
ich habe Ihnen ja schon bilateral zugesagt, dass wir überhaupt keine Probleme haben, weiterhin gemeinsam zu
versuchen, dieses Modellprojekt auf den Weg zu bringen.
({1})
- Bitte schön. - Klar ist aber - jetzt sage ich es auch einmal öffentlich, Frau Koczy -: Das ist nicht meine Meinung, sondern das war immer die Meinung unserer Arbeitsgruppe; das wissen Sie.
Für mich ist ganz wichtig, dass das hohe Niveau der
Unterstützung für den NGO-Bereich, für die Kirchen
und Stiftungen, in diesem Haushalt beibehalten wird.
Auch hier, Herr Niebel, stärken wir dem Fonds den Rücken. Für uns ist diese Zusammenarbeit gerade im Hinblick auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft sehr
wichtig.
Ich bin der Meinung, dass die Unterstützung durch
die Politik die Unabhängigkeit der NGOs nicht einschränken darf. Ich bin aber auch der Meinung, dass jede
Organisation, die vom Staat Geld bekommt, auch aus
entwicklungspolitischen Töpfen, zumindest zu einem
Minimum an Koordination und Kooperation bereit sein
muss; das hat nicht nur mit Afghanistan zu tun, sondern
ist eine allgemeine Anmerkung. Dies muss dazu führen,
dass wir unsere gemeinsamen Anstrengungen noch stärker bündeln können.
Herr Niebel, auch was die laufende Vorfeldreform anbelangt, haben Sie uns an Ihrer Seite. Ich halte es für
wirklich wichtig, dass wir dieses Reformwerk, das wir
schon unter der Vorgängerregierung durchzusetzen versucht haben, jetzt zügig und erfolgreich abschließen. Das
ist für mich auch ein Quantensprung in Sachen Koordination und Effizienz. Auch über diese Aspekte müssen
wir natürlich, wie über die finanzielle Ausstattung, immer diskutieren. Es geht nämlich auch darum: Wie bekommen wir mehr politische Effizienz in die Entwicklungszusammenarbeit?
Ich darf daran erinnern: Es ist ganz wichtig, auch in
New York auf die Tagesordnung zu setzen, dass es nicht
nur um Geld und Technik gehen darf. Wir müssen nicht
nur von uns selbst, sondern auch von den Entwicklungsländern mehr politische Effizienz einfordern. Wir haben
den Entwicklungsländern damals versprochen, dass wir
unsere finanziellen Anstrengungen erhöhen, und die
Entwicklungsländer haben uns versprochen, dass sie für
Good Governance sorgen. Good Governance, gute Regierungsführung, ist gerade in Afrika die Grundvoraussetzung dafür, dass wir mit unseren Finanzen überhaupt
etwas bewegen können.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Jawohl.
So sehr ich dafür bin, dass wir in den parlamentarischen Beratungen noch einmal über die Verpflichtungsermächtigungen für Afrika und andere Teile der Welt
diskutieren, so sehr mahne ich uns, von den Afrikanern
auch Konzeptionen einzufordern - Konzeptionen, die
nicht bei uns entstehen dürfen, sondern in Afrika entstehen müssen -, wie der Reichtum in Afrika besser verwaltet werden kann und wie zu verhindern ist, dass
Afrika aufgrund der Korruption untergeht. Außerdem
sollten wir über Sicherheit und Entwicklungspolitik
nachdenken.
Herr Kollege!
Wir sollten uns bei der Beratung des Einzelplans 23
nicht nur über die Finanzen streiten, sondern uns auch
überlegen, wie wir konzeptionell neue Wege gehen können, damit wir mit dem Geld, das wir zur Verfügung haben, am Schluss den optimalen Erfolg erzielen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Bundeskanzlerin hat in der gesamten heutigen Debatte
keinen einzigen Satz zur Entwicklungspolitik gesagt.
Keinen einzigen Satz! Angesichts der großen Herausforderungen, dass fast 1 Milliarde Menschen hungert und
dass aufgrund der Wirtschaftskrise noch mehr Menschen
in Armut gefallen sind, zeigt dies die Prioritätensetzung
dieser Regierung. Es zeigt auch, dass diese Bundesregierung nicht nur in Deutschland, sondern auch in der internationalen Politik ein Totalausfall ist.
({0})
Herr Niebel, Sie stellen sich hier ja gern nassforsch
hin und erzählen viel. Aber Fakt ist, dass die Entwicklungspolitik auch mit Ihnen auf verlorenem Posten steht.
Das sieht man ganz klar an diesem Haushalt. Sie haben
eben nicht für einen deutlicheren Aufwuchs gekämpft.
Das wäre ja durchaus möglich gewesen. Sie hätten sich
vielleicht einmal mehr anstrengen müssen. Sie haben
nicht dafür gekämpft, und mittlerweile fehlen mehr als
1,5 Milliarden Euro, um die ODA-Quote mittelfristig zu
erreichen. Wir sind überhaupt nicht im Zeitplan, und das
liegt natürlich auch an Ihnen. Von daher wäre ich an Ihrer Stelle einmal ein bisschen bescheidener in meinen
Reden.
({1})
Ganz zu schweigen ist an dieser Stelle von den sonstigen Versprechungen der Kanzlerin. Das wurde hier
auch schon erwähnt. Ich will gar nicht mehr ausführen,
auf wie vielen Regierungs- und Klimagipfeln Geld versprochen wurde, das sich in diesem Haushalt für das
nächste Jahr nicht finden wird. Ich habe heute den ganzen Tag in den Debatten etwas von einer verantwortungsvollen Politik und davon gehört, dass Sie Ihre internationale Verantwortung tragen. Dazu kann ich nur
sagen: Dieser Haushalt ist Ausdruck einer verantwortungslosen Politik.
({2})
Ich bin einmal gespannt. In New York reisen Sie
wahrscheinlich mit einer großen Delegation an. Dort
wird dann viel über die Millenniumsziele geredet, aber
diese Politik haben die Leute satt. Heute und nicht erst
auf irgendwelchen Gipfeln hätte die Kanzlerin über die
Millenniumsziele und über die Entwicklung reden müssen.
({3})
Es gab in diesem Jahr die großen Katastrophen in
Haiti und Pakistan, und es ist beschämend gewesen zu
sehen - das finde ich tragisch -, wie wenig Geld die
Bundesregierung zur Verfügung gestellt hat. Es war jedes Mal weit unter dem, was die Bevölkerung gespendet
hat. Wenn wir uns die entsprechende Position anschauen, dann sehen wir, dass auch diese Mittel weiter
gekürzt werden sollen. Obwohl wir wissen, dass es aufgrund des Klimawandels mehr Naturkatastrophen geben
wird, will die Bundesregierung die Mittel für die Not6130
hilfe und für die Flüchtlingspolitik noch weiter kürzen.
Das ist ein Skandal.
({4})
Das betrifft auch die Anpassungsmaßnahmen aufgrund des Klimawandels, die überhaupt nicht ausreichend sind. Das betrifft leider auch - Frau Koczy hat es
angesprochen - gute, zukunftsweisende Projekte wie in
Ecuador. Herr Ruck, ich finde es ein Unding, dass
Deutschland jetzt nichts geben wird, nachdem so viele
Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt wurden und sich
so viele Leute bemüht haben, dass endlich ein Fonds entsteht, in den von der internationalen Gemeinschaft Geld
für Ecuador eingezahlt werden soll, damit das Land auf
die Erdölförderung verzichten kann. Das ist ein Unding.
Für was machen wir die ganze Arbeit hier?
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schuster?
Ich möchte jetzt keine zulassen; am Ende kann sie etwas sagen. Ich möchte jetzt weiter ausführen. - Danke
schön.
Am Ende ist es ja keine Zwischenfrage mehr.
({0})
Der Freiwilligendienst „weltwärts“ ist auch ein
wichtiges Zukunftsinstrument. Viele Organisationen
sind darauf angewiesen, und sie brauchen vor allem Planungssicherheit. Auch in meinem Wahlkreis gibt es etliche Jugendliche, die aufgrund dieses Dienstes jetzt ein
Jahr im Ausland verbringen können. Sie brauchen diese
Unterstützung, und sie brauchen das Geld und rechtzeitig eine Zusage, um planen zu können. So wie Sie damit
umgehen - es gibt keinen Aufwuchs, die Höhe der Mittel stagniert also, und die Aussagen sind unsicher -, werden viele kleinen Organisationen das nicht mehr machen
können.
({0})
Auch das ist ein Unding. So können Sie damit nicht umgehen.
Herr Niebel, Sie sprechen von jungen Menschen, die
Sie unterstützen wollen, und haben eine Werbebroschüre
herausgebracht. Es freut Sie, wenn immer mehr Menschen das machen können; aber es gibt nicht genügend
Geld, um Planungssicherheit zu erreichen. Es zeugt für
mich von entwicklungspolitischer Dummheit, wenn man
in diesem Bereich spart.
({1})
Das betrifft auch den Zivilen Friedensdienst. Auch
hier wird gespart. Das ist ein wichtiges Instrument in
vielen Konfliktregionen. Auch hier könnte man viel
mehr machen. Stattdessen geben Sie lieber noch mehr
Geld nach Afghanistan, weil dort ja die Bundeswehr stationiert ist, die Erfolge aufweisen soll. Dort wird sehr
viel Geld gebunden,
({2})
und Sie zwingen Entwicklungsorganisationen, mit der
Bundeswehr zusammenzuarbeiten. Herr Niebel, das ist
keine Aufbauhilfe, das ist Kriegsunterstützung.
({3})
Jetzt möchte ich noch einige Sätze sagen: Die Institutionenreform wird ja viel diskutiert. Ihre Hauptreform,
die Sie vorhaben, ist eine ganz andere. Das Bundesentwicklungsministerium soll zur Durchführungsorganisation für die deutsche Wirtschaft werden.
({4})
Das ist der Kern Ihrer Politik, und das werden wir bekämpfen. Ich frage mich nämlich: Wo ist denn die deutsche Wirtschaft, wenn es um billigere Medikamente in
den Ländern des Südens geht? Wo ist denn die Pharmaindustrie, wenn sie für heilbare Krankheiten in Entwicklungsländern forschen soll? Wir laden in den Entwicklungsausschuss dazu ein, aber es kommt kein einziger
Vertreter. Wenn es um Rohstoffpolitik und Marktzugang
geht, dann kommt der BDI mit 20 Vertretern in unseren
Ausschuss. Das zeigt doch, in welche Richtung es hier
geht. Das ist in meinen Augen eine fatale Entwicklung,
die die Linke konsequent bekämpfen wird.
({5})
Es geht nämlich um eine ganz andere Entwicklung.
Sie sagen immer, mehr Wachstum bringe mehr Entwicklung. Schauen wir uns das einmal konkret am Beispiel Lateinamerika an, wo es große Infrastrukturprojekte gibt, zum Beispiel von ThyssenKrupp, das ein
Stahlwerk baut. Dort verlieren über 10 000 Kleinfischer
ihre Existenz. So sieht es konkret aus. Sie brauchen nicht
diese Form von Investitionen. Wir müssen endlich die
Ausbeutung in diesen Ländern stoppen. Das ist ein Beitrag zur Armutsbekämpfung.
({6})
Die großen Infrastrukturprojekte sind kein Beitrag zur
Entwicklung. Auch hier, in Stuttgart, erkennen das die
Menschen. Darüber wurde heute schon mehrmals diskutiert. Auch Stuttgart 21 ist ein sinnloses Projekt.
({7})
Menschen sowohl in den Ländern des Südens als auch
hier gehen gegen solche Projekte auf die Straße. Das
halte ich für sehr wichtig. Die Linke unterstützt diese
Proteste.
({8})
Bitte, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. Auch Herr Ruck hat sich
hier sehr lange ausgebreitet.
({0})
Herr Niebel, bei unserem Wirtschaftssystem geht es
nicht um Solidarität und Entwicklung, sondern da geht
es um Profit um jeden Preis, auch wenn es Menschenleben kostet. Deswegen werden wir den Ausverkauf der
Entwicklungspolitik, wie Sie es vorhaben, verhindern.
({1})
Das Wort hat nun Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
rede jetzt zum Haushalt.
({0})
Es ist schon viel Richtiges, aber auch sehr viel Verwirrendes gesagt worden. Ich befürchte, dass wir im weiteren Verlauf der Haushaltsdebatte seitens der Regierung
noch viel Jonglieren mit Zahlen und auch viel Schönrechnerei erleben werden. Das erinnert mich manchmal
an die Sendung, die man unmittelbar nach Wahlen erleben muss, wenn selbst die Wahlverlierer sagen: Aber im
Vergleich zur Kommunalwahl 1949 haben wir um
0,5 Prozent zugelegt. - Lassen wir diese Rechentricks
einmal beiseite.
Wir haben heute schon das Stichwort „Rekordhaushalt“ gehört. Wir haben immer wieder gehört, Deutschland bleibe drittgrößter Geber. Kein Weg führt daran
vorbei, die Fakten einfach anzuschauen und zur Kenntnis zu nehmen: In dem Haushalt 2011, den wir heute diskutieren, klaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit
4 Milliarden Euro.
({1})
- Das muss man eigentlich nicht beklatschen. - Es sind
nicht nur 1,5, sondern 4 Milliarden Euro. 4 Milliarden
Euro mehr wären nötig, um auf dem Pfad zu bleiben, der
zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels führt. Stattdessen
wird der Entwicklungsetat eingefroren. Bei der humanitären Hilfe, zumindest im Bereich des Auswärtigen Amtes, wird sogar noch gekürzt.
({2})
- Dazu komme ich noch, Herr Fischer. Das ist der Einwand, der jedes Mal vorgebracht wird. Ich werde immer
das Gleiche darauf sagen.
({3})
Aus den vorgelegten Haushaltszahlen ist klar erkennbar, dass die ODA-Quote 2011 sinken wird. Für diejenigen unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich
fragen, wer ODA ist: Das ist die Abkürzung für Official
Development Assistance. Damit meint man die Summe
aller Finanzmittel, die ein Staat für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe ausgibt. Schon seit
mehr als 30 Jahren wird auf internationalen Konferenzen
immer wieder versprochen, mindestens 0,7 Prozent des
Bruttonationalprodukts für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe auszugeben und mit den
Ärmsten der Armen zu teilen. Auf der Millenniumskonferenz im Jahr 2000 ist dann versprochen worden - viele
Nationen haben es versprochen -, diese Zielmarke bis
2015 endlich zu erreichen.
Der Minister hat diese Zielmarke als „heilige Kuh“
bezeichnet, aber nicht klargemacht, ob er diese heilige
Kuh schlachten will, ob er sich dann von diesem Ziel
verabschiedet. Mit dem Haushalt, mit den Zahlen, die
vorgelegt werden, können wir dieses Ziel so nicht erreichen.
Wenn der Haushaltsentwurf der Bundesregierung im
parlamentarischen Verfahren nicht noch sensationell und
substanziell nachgebessert wird, dann wird Deutschland
die international gemachten Zusagen definitiv nicht erfüllen. Jetzt versuchen Sie bitte nicht, die Stagnation
auch noch als Erfolg zu verkaufen. Wir haben das heute
schon in der ersten Rede nach dem Motto gehört: Haushaltszwänge sind da. Wir mussten überall kürzen, und
wir haben überall gekürzt. Aber dieser Bereich ist uns so
wichtig, dass er vor weiteren Kürzungen bewahrt wurde.
Bitte verkaufen Sie die Bürgerinnen und Bürger und
erst recht nicht diejenigen für dumm, die in den Kirchen,
Initiativen und NGOs und in unseren Durchführungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit alles
Mögliche tun, um extreme Armut und Hunger zu überwinden. Diese Menschen kennen die Zahlen, und sie
kennen auch die Haushaltszahlen, die heute vorgelegt
wurden.
Kommen Sie auch bitte nicht mit dem Argument, es
sei völlig unrealistisch, die ODA-Zusagen einzuhalten.
Man hat sich doch bei der Steuerschätzung verrechnet.
Jetzt ist gerade die gute Nachricht gekommen, dass die
Steuereinnahmen höher sind als zunächst angenommen.
Allein mit diesen Mehreinnahmen, die man vor kurzem
noch gar nicht im Blick hatte, kann die Lücke gefüllt
werden.
({4})
Es wäre doch für Frau Merkel und Herrn Niebel viel
schöner und besser, nicht mit leeren Händen nach New
York zu fahren, sondern mitteilen zu können, dass wir
noch einmal die Kurve gekriegt haben und Deutschland
den ODA-Stufenplan erfüllt.
Nein, die Überwindung von extremer Armut und
Hunger, die Bekämpfung von Malaria, Tuberkulose und
Aids nehmen Sie zwar ernst - das wollen wir nicht in
Abrede stellen - und Sie tun auch etwas, aber sie haben
in der Bundesregierung nicht die Priorität, die sie eigentlich haben müssten.
Sie tun nicht das, was Sie tun könnten. Sie geben
nicht das, was sie geben müssten.
({5})
Diesen Vorwurf können und werden wir Ihnen nicht ersparen. Gleichzeitig sage ich zum wiederholten Male,
Herr Fischer: Dieser Vorwurf trifft auch leider auf beide
Vorgängerregierungen zu. Seit der Millenniumserklärung im Jahr 2000 hat keine Bundesregierung das, was
sie auf internationaler Ebene versprochen hat, mit konkreten Haushaltszahlen unterlegt.
({6})
Zu kritisieren ist dabei die Mannschaftsleistung. Die
Entwicklungspolitiker haben sich jedes Mal ins Zeug geworfen und versucht, die Einhaltung der Zusagen zu erreichen, aber die Mannschaftsleistung war mangelhaft.
Sie konnten sich nicht durchsetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer?
Ja.
Herr Kollege Hoppe, können Sie mir bestätigen, dass
in der Zeit der rot-grünen Koalition die Beträge im
Haushalt praktisch stabil waren - sie sind sogar leicht
gesunken - und dass es in den vergangenen vier Jahren
einen Aufwuchs um rund 500 Millionen Euro jährlich
gab?
Herr Kollege Fischer, jetzt geschieht genau das, was
ich am Anfang beschrieben habe. Es ist wie in den Wahlsendungen: Jeder bemüht jetzt irgendwelche Statistiken
und Steigerungsraten.
({0})
Ich kann das bestätigen, ich kann aber auch wieder andere Zahlen anführen, nämlich dass es 1998 im Vergleich zur Kohl-Regierung einen Aufwuchs gegeben hat
und dass die Zahlen unter der Kohl-Regierung erst gestiegen und dann im Zuge der deutschen Einheit wieder
gesunken sind. Das bringt alles nichts.
Bleiben wir doch dabei: Keine Regierung hat bisher
geliefert. Bisher hat keine Regierung die Zusagen mit
konkreten Haushaltszahlen unterlegt.
({1})
Jetzt werbe ich dafür, dass das nicht für alle Ewigkeit
so bleibt, sondern dass wir uns jetzt durch alle Fraktionen einen Ruck geben und uns im Endspurt in Richtung
New York ins Zeug legen. Wir können nicht immer Versprechungen machen, die wir nicht erfüllen. Wir müssen
jetzt im Haushaltsverfahren kräftig nachbessern. Sonst
produzieren wir nur schöne Worte, statt das zu liefern,
was wir liefern müssen, um die Ärmsten der Armen aus
der Armut zu befreien.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
der Haushalt, den wir verabschieden, ein Gesetzentwurf
ist, wünsche ich mir, dass sich jeder Abgeordnete, egal
für welchen Bereich er zuständig ist, mit dem Haushaltsplan insgesamt beschäftigt. Ich bewundere das Engagement, das jeder in seinem Fachbereich aufbringt, zum
Beispiel Frau Kollegin Hänsel. Aber ich vermute, dass
Sie die Frage, wie viele Zinsen die Bundesrepublik
Deutschland für die Schulden zahlen muss, die im Laufe
der Jahre angehäuft worden sind, nicht beantworten können. Ich rate Ihnen deshalb dringend, einen Blick in den
Bundeshaushalt zu werfen.
Insofern habe ich alle Achtung davor, dass es Minister Niebel gelungen ist, den Haushalt so aufzustellen,
wie er vorgelegt worden ist. Denn angesichts der Einsparungen, die wir vornehmen müssen, ist das eine großartige Leistung. Wir haben in den Koalitionsfraktionen erlebt, wie er für seinen Haushalt gekämpft hat. Das ist mir
wichtig, und dem gelten meine Anerkennung und mein
Respekt.
({0})
Es gibt bestimmte Dinge, die bisher nicht erwähnt
wurden, die man aber auch ansprechen muss. Es geht
schließlich nicht allein um Geld. Man muss sich auch
fragen, was mit dem Geld geschieht. Insofern hätte ich
selbst von der Opposition eine Bemerkung zu dem erwartet, was zum Beispiel gerade im Kongo geschehen
ist, wo die Konten der GTZ gesperrt und Gegenstände
beschlagnahmt wurden. Man müsste auch über die Budgethilfe und andere Fragen sprechen.
Die Probleme sind vielfältig. Aber Sie wollen nur pauschal darlegen, dass diese Regierung nicht genügend
Geld zur Verfügung stellt, und berücksichtigen nicht, dass
wir Probleme auch in unserem Land haben. Die Schulden
sind im Laufe der Jahre so hoch geworden, dass ich immer sage: Auf Schuldenbergen können unsere Kinder
nicht spielen. Daran müssen wir denken. Ich könnte es
mir ganz einfach machen. Nachdem hier beispielsweise
die Hotelsteuer mehrfach angesprochen wurde - darüber
kann man streiten -, sage ich an die Adresse der Sozialdemokraten: Wenn wir noch die 11 Milliarden hätten, die
Sie durch die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der IKB in den Sand gesetzt haben, könnten wir
die ODA-Quote erreichen und noch vieles andere finanzieren. Sie haben über 11 Milliarden Euro in den Sand gesetzt! Das ist eine einzige Schande für diese Republik.
({1})
Herr Minister Niebel, ich bin sehr dankbar, dass Sie
etwas aufgegriffen und gemacht haben, woran schon andere sich versucht haben und teilweise gescheitert sind.
Sie haben endlich die richtigen Schritte zur Zusammenführung der deutschen Entwicklungshilfe unternommen, um sie zu konzentrierter, wirksamer und zielgenauer zu machen. Das ist eine große Leistung. Wir sind
auf einem guten Weg. Über das eine oder andere kann
man noch sprechen. Über die Feinheiten kann noch im
Fachausschuss und im Haushaltsausschuss diskutiert
werden. Aber eines steht fest: Doppelstrukturen werden
abgebaut. Die Entwicklungshilfe wird wirksamer und
zielgenauer. Das ist wichtig.
Noch etwas anderes ist wichtig: Sie haben endlich
dieses Ministerium zu einem vollwertigen Ministerium
gemacht. Es ist nicht mehr ein Marionettenministerium,
wie es zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode der
Fall war. Dazu kann ich nur sagen: Alle Achtung!
({2})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der mir ebenfalls wichtig ist. Das sind die Freiwilligendienste. Ich
nehme sehr ernst, was Rupert Neudeck und andere zum
Programm „weltwärts“ gesagt haben. Ich bin für Freiwilligendienste, keine Frage. Aber man darf wohl hinterfragen, was mit dem Geld geschieht, ob diese Dienste
sinnvoll sind und wie die Einsätze aussehen. Nach einer
Statistik handelt es sich bei den Teilnehmern zu über
90 Prozent um Abiturienten. Schauen Sie sich das alles
ganz genau an! Lassen Sie uns doch die Freiwilligendienste für die jungen Menschen effektiv und sinnvoll
machen! Es darf sich dabei nicht um eine Art Reiseunternehmen handeln. Herr Neudeck hat das zu Recht kritisiert. Ich finde es nicht gut, in welcher Form der Geschäftsführer des Deutschen Entwicklungsdienstes die
Äußerungen von Herrn Neudeck kritisiert hat. Ich sage
als Parlamentarier in aller Deutlichkeit: Kritik an Rupert
Neudeck in dieser Form steht dem Geschäftsführer des
DED nicht zu. Das ist meine Auffassung.
({3})
Herr Minister, ich finde das, was Sie zur ODA-Quote
gesagt haben, sehr gut. Wir sollten die Scheuklappen ablegen und vernünftig darüber diskutieren, ob die ODAQuote in der jetzigen Form langfristig Sinn macht. Anders gefragt: Gibt es nicht viele Dinge in unserer Republik, die nicht eingerechnet werden, obwohl sie etwas
mit Entwicklungshilfe zu tun haben? Die Situation ist eigentlich viel besser, als die Zahlen, die auf dem Papier
stehen, es vermuten lassen. Deutschland ist bei der Entwicklungshilfe wirklich spitze. Herr Minister Niebel und
die Kollegin Gudrun Kopp haben richtig Schwung in die
Entwicklungshilfe gebracht. Herzlichen Dank dafür!
({4})
Das Wort hat nun Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Niebel hat etwas über Maßstäbe gesagt. Wer die Schrumpfung zum
Maßstab wählt, für den ist Stagnation schon ein Erfolg.
({0})
Wer die Schrumpfung als alleinigen Maßstab wählt, für
den ist sogar eine ein wenig geringere Schrumpfung
schon ein Erfolg. Wir nehmen einen anderen Maßstab,
und zwar die Versprechen des Ministers und der Kanzlerin. Gemessen an diesem Maßstab ist der Haushalt ein
absolutes Desaster.
({1})
Ich will trotzdem konzedieren, dass Minister Niebel
für seinen Etat gekämpft hat. Der Gesamthaushalt steht
aber unter starkem Druck. Aber warum ist das so? Warum schrumpft er? Das liegt daran, dass man bestimmte
Dinge getan hat: das schreckliche Klientelwachstumsgesetz, die Maßnahmen zur Schwächung der Binnennachfrage, die Belastung der Schwachen und die Stärkung der
Reichen. Das alles stellt ein großes Problem für den Gesamthaushalt dar. Ich erinnere daran, wie sehr die Entwicklungsländer unter der Finanz- und Wirtschaftskrise leiden, und greife die Frage von Herrn Koppelin
auf: Was ist eigentlich mit den Banken? Wir haben bestimmt Fehler gemacht. Aber warum werden die Banken,
die den Bundeshaushalt belasten, als Verursacher der
Krise nicht stärker finanziell beteiligt? Das wäre verdientermaßen eine Einnahmequelle, die helfen könnte. Aber
was machen Sie? Sie machen nichts.
({2})
Es gäbe auch andere Möglichkeiten. Man könnte beispielsweise über ein Abzinsungsgebot bei den Risikorückstellungen für Atomkraftwerke nachdenken. Das
wäre eine gigantische Einnahmequelle. Darüber lohnte
Lothar Binding ({3})
es sich nachzudenken. Aber Sie wollen mit den Atomkraftwerken etwas anderes machen.
Ihre gravierenden Fehlentscheidungen bei der Außensteuer in Form von Konzerngeschenken - ich nenne nur
Funktionsverlagerung und Mantelkauf - sind ein Desaster für diesen Haushalt. Ich nenne auch die fehlende
Finanztransaktionsteuer. Ich wüsste jetzt gern, ob Dirk
Niebel für oder gegen die Finanztransaktionsteuer ist,
aber das klärt ihr besser unter euch. Zusätzlich bringen
noch die Frage der CO2-Zertifikate-Verwendung und natürlich die gravierende Fehlentscheidung im Zusammenhang mit der Umsatzsteuer für Hotels diesen Gesamthaushalt unter Druck. Gemessen an diesem Druck, dem
Desaster und der Schrumpfung ist dieser Haushalt - stagnierend - ein Lob für den Minister, das kann man sicher
sagen.
Was sollen wir nun eigentlich tun, um die Versprechen einzulösen, denn das Ziel haben wir doch alle? Wir bräuchten 4 Milliarden Euro, das hat der Kollege
Hoppe schon vorgetragen. Das wird ein ganz schönes
Problem in diesem Haushalt werden. Wir werden uns sicher nicht trauen, unsere Vorschläge für 4 Milliarden
Euro vorzutragen, denn wir wissen, dass die Maßnahmen, die man für die Gegenfinanzierung bräuchte, in der
Koalition keine Mehrheit haben. Hätten diese Maßnahmen eine Mehrheit, dann hätten wir auch die 4 Milliarden Euro. Diesen Widerspruch müsst ihr unter euch ausmachen.
Wie funktioniert dieser Haushalt überhaupt? Verglichen mit dem Haushalt 2010 ist er stabil. Aber zu welchem Preis? Rechnen wir einmal die Einsparungen bezogen auf den Finanzplan 2011 heraus, die sich durch
disponible und flexibilisierbare Mittel ausgleichen lassen, dann wird die Lücke von 250 Millionen Euro dadurch geschlossen, dass man sich verspricht, dies in den
Folgejahren als Kürzung hinzunehmen und in diesem
Haushalt schon heute eine Schrumpfung der Mittel bis
zum Jahr 2014 eingeplant hat. Jetzt kommt der Kardinalfehler: Man verspricht auch heute noch, bis zum Jahr
2015 auf eine ODA-Quote von 0,7 Prozent zu kommen.
Gleichzeitig sieht die Finanzplanung aber sinkende
Haushaltsmittel vor. Wie dieser Widerspruch halbwegs
seriös aufgelöst werden soll, müsste die Koalition uns
noch einmal erklären.
Wie fragil dieses gesamte Gebilde überhaupt ist, merkt
man an Bemerkungen, die plötzlich aus einer ganz anderen - aber keiner unwichtigen - Ecke des politischen Umfeldes kommen, nämlich aus der Ecke der FDP im Europäischen Parlament. Der Kollege Chatzimarkakis hat
gesagt, man solle das Ministerium mit dem Auswärtigen
Amt verschmelzen. Wenn wir wissen, welche Leistungskraft dort gegenwärtig ist, dann wissen wir auch, was er
damit tatsächlich gemeint hat.
({4})
Noch vor sechs Jahren hat Dirk Niebel gesagt, er setze
sich dafür ein, dass die Staatengemeinschaft hinsichtlich
des Millenniumsgipfels bekräftige, die Ziele bis 2015
gemeinsam erreichen zu wollen. Ich bin zu 100 Prozent
d’accord, frage aber: Wo ist der Aktionsplan? - Ich erinnere mich an Heidemarie Wieczorek-Zeul, die damals in
einer ganz ähnlichen Lage war. Sie hat in einer nicht ganz
einfachen Operation mit Schröder diesen Aktionsplan
entwickelt.
({5})
Da wir damals alles falsch gemacht haben, jetzt aber alles sauber laufen soll, vermisse ich diesen Aktionsplan
heute, wenn der Minister diese Erfolge für sich in Anspruch nehmen will.
({6})
Es gibt da noch einen zweiten Satz in diesem Interview: Wir müssen festlegen, was wir bis 2015 unternehmen wollen. Ich hätte mir gewünscht, das stünde schon
im Haushalt, anstatt zu sagen: „Wir müssen das einmal
festlegen.“ - Nein, wo sind die Verpflichtungsermächtigungen, die das unterlegen? Wo ist der Gesamthaushalt,
der das hergibt? Wo ist die mittelfristige Finanzplanung,
die das begründet?
Wir stellen fest: Das Versprechen geht in die eine
Richtung, die Haushaltsrealität geht in die andere Richtung. Diesen Widerspruch müsste uns die Koalition noch
erklären. Im Detail gesprochen: Der Finanzplan schrumpft
bei einer ODA-Quote, die eigentlich steigen müsste, um
300 bis 400 Millionen Euro. Das kann man eigentlich
nur dann schaffen, wenn das Bruttoinlandsprodukt dramatisch sinken würde, weil die ODA-Quote dann automatisch steigt. Ich glaube aber, das ist nicht das, was Sie
wollen.
Kommen wir zu einem wichtigen Thema, bei dem ich
glaube, dass der Minister relativ ordentlich gearbeitet hat,
jedenfalls über eine lange Zeit, nämlich die Zusammenlegung der drei Förderinstitutionen InWEnt, DED
und GTZ, die jetzt zu einem integrierten Gesamtsystem
werden sollen. Das finden wir gut. Im Ausland einen Ansprechpartner zu haben, ist gut. Es war auch gut, die drei
Institutionen zu fragen, wie sie sich das vorstellen. Man
muss aber sagen: Gegenwärtig schweben die Arbeitnehmer in einer gewissen Unsicherheit. Es gibt keinen Überleitungsvertrag. Wir kennen noch keinen Gesellschaftsvertrag. Wir kennen den Gesellschaftszweck noch nicht.
Die tarifrechtlichen Fragen sind noch ebenso offen wie
Fragen der Alterssicherung. Ich finde es ganz schlecht,
dass der Integrationsprozess fehlt. Im Moment tut man so,
als ob es bis zum 31. Dezember keine Zukunft gibt, um ab
dem 1. Januar so zu tun, als hätte es nie eine Vergangenheit gegeben.
Das ist bei einer Fusion ein schwerer Fehler, wie wir
aus Erfahrungen in der Industrie lernen konnten. Da
muss sehr viel passieren. Wir haben zu Recht eine außerordentliche Aufsichtsratssitzung beantragt, um einen genaueren Einblick zu bekommen, was dort eigentlich passiert, was beabsichtigt ist, welche Ziele definiert sind
und insbesondere wie die politische Steuerung funktioniert.
({7})
Lothar Binding ({8})
Oft wird politische Steuerung falsch verstanden, und es
wird so getan, als ob es ausreiche, wie in einer Abteilung, sich kleinkariert in das operative Geschäft einzumischen. Es ist doch interessant, zu wissen, wie die Zieldefinition des Ministeriums in eine bisherige Auftragsverwaltung übertragen wird.
({9})
Man merkt, dass der Haushalt an einer Stelle falsch unterlegt ist. Hier kommen drei Strukturen zusammen. Für
die eine gab es Verpflichtungsermächtigungen, für die
beiden anderen nicht. Jetzt wird fusioniert, aber die Verpflichtungsermächtigungen betreffen nur die eine Institution. Was ist eigentlich mit den anderen? Wie ist die
Zukunft der GIZ, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, überhaupt zu sehen? Da bleibt ein großes
Aufgabengebiet. Wir erkennen, dass ein entwicklungspolitisches Leitbild fehlt. Eine letzte Bemerkung: Das ist
ein guter Schritt, aber es ist auch wichtig - auch wenn
manche Bankvorstände das nicht so sehen würden -,
künftig die finanzielle Zusammenarbeit in diesen Komplex zu integrieren. Erst dann hat man eine einheitliche
Institution in der Entwicklungszusammenarbeit geschaffen, die Planungssicherheit für die Zukunft gibt.
Ich möchte noch eine Frage stellen, die möglicherweise später beantwortet wird. Es fällt bei all diesen Lücken hinsichtlich der Verpflichtungsermächtigungen auf,
dass die Weltbank die höchsten VE bekommen hat, die
es bisher in der Geschichte gab. Jetzt fragt man sich, wie
das eigentlich kommt. Hat das etwas mit dem angestrebten Sitz im Sicherheitsrat zu tun? Würde möglicherweise, wenn dieses Ziel erreicht ist, diesbezüglich etwas
ganz anderes geschehen? Wir wissen, dass es immer
noch ein Dogma gibt, über das wir nachdenken müssen:
Das Verhältnis von bilateraler zu multilateraler Hilfe soll
zwei zu eins sein. Dabei wird nicht realisiert, dass sich
inzwischen die Arbeitsweise vieler Institutionen in der
Welt nicht mehr in dieses Schema pressen lässt. Der
Global Fund oder GAVI arbeiten ganz anders, nämlich
in Dreiecksverhältnissen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Man könnte in der Zukunft eine völlig neue Politik
gestalten. Vielleicht könnte man sogar eine eigene Haushaltsstelle für GAVI schaffen und GAVI aus dem UN-Titel für die UN herausnehmen. Damit würde der Unterschied zwischen bilateral, multilateral und einem dritten
Weg deutlicher.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Dieser Unterschied wird zunehmend verwischt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Holger Haibach für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer
wieder erstaunt, wie sich die Haushaltsdebatten zu diesem Ressort jedes Jahr ähneln. Frau Kofler erklärt uns,
wie schlimm die Welt ist und was wir alles falsch machen. Ich will Sie auf Folgendes hinweisen: Das ist jetzt
der erste vollständige Haushalt, der in Verantwortung
dieser Koalition aufgestellt wird. Wenn Sie schlecht über
das, was wir machen, reden, dann reden Sie auch über
das schlecht, was Sie gemacht haben, als Sie in Regierungsverantwortung waren. Das sollte Ihnen bewusst
sein.
({0})
Wenn Sie mit dem Finger auf jemanden zeigen, dann
zeigen drei Finger auf Sie selbst. Das ist nicht hilfreich.
Es ist auch nicht hilfreich, wenn man wie die Kollegin
Hänsel das Bild von einem kriegsbesessenen Deutschland mit einer noch kriegsbesesseneren Bundesregierung
malt, der nichts Schöneres passieren kann, als in ein
Land, in dem die Bundeswehr im Einsatz ist, Geld zu
stecken. Ich frage mich, wo Sie gewesen sind, als die
Londoner Konferenz und die Kabuler Konferenz stattgefunden haben. Was hätten Sie denn gesagt, wenn wir uns
als Einzige in der internationalen Staatengemeinschaft
geweigert hätten, unseren Beitrag zum Wiederaufbau in
Afghanistan zu leisten? Es ist doch hanebüchen, was Sie
hier erzählen.
({1})
- Darüber, dass Sie die Bundeswehr in Afghanistan
nicht haben wollen und Sie die Bundeswehr eigentlich
nirgendwo haben wollen,
({2})
können wir lange diskutieren. Aber wir kommen nicht
zu einem vernünftigen Ergebnis. - Ich will aber eines sagen: Das BMZ hat - das war unter der Leitung von Frau
Wieczorek-Zeul, damit keine Legenden gestrickt werden - bei der Freien Universität Berlin eine Studie über
Afghanistan in Auftrag gegeben. Eines der Ergebnisse
der Studie war, dass es einen Zusammenhang zwischen
Sicherheit und Entwicklung gibt und die internationale
Gemeinschaft dann den größten Erfolg hat, wenn militärisches und ziviles Handeln Hand in Hand gehen. Wenn
Sie es uns nicht glauben: Der EU können Sie es am Ende
des Tages glauben.
({3})
Insofern muss man den Einzelplan, wie er heute vorliegt, in den Kontext der gegenwärtigen Haushaltssituation stellen. Das ist genau das, was Herr Binding für
mich überraschenderweise getan hat. Es gibt ein Problem, aber dieses Problem - das hat Herr Hoppe das
letzte Mal sehr schön gesagt - ist nicht das Problem unserer Koalition; das war schon das Problem aller Koalitionen vorher. Natürlich haben wir eine massive Schwierigkeit, und die heißt: Verpflichtungsermächtigungen.
Die Verpflichtungsermächtigungen sind ein Problem für
uns - das wissen auch alle Beteiligten -, aber sie waren
es schon unter Herrn Eichel und auch unter Herrn
Steinbrück. Deswegen ist das nichts, was Sie speziell
dieser Bundesregierung oder diesem Minister anlasten
können.
({4})
Nichtsdestoweniger finde ich: Wenn wir eine Aufgabe im Haushaltsverfahren haben, dann ist es die, genau an der Stelle etwas zu machen.
({5})
Wir sind uns auch durchaus einig darüber, dass wir das
machen wollen.
Ich möchte die Diskussion über Effizienz und über
die Frage: „Haben wir einen vernünftigen, effizienten
und guten Mitteleinsatz?“ nicht als Ersatzdebatte sehen
nach dem Motto: Jetzt haben die nicht genügend Geld
oder wollen nicht genügend Geld bereitstellen, und deswegen reden die mal kurz über Effizienz.
({6})
- Nein. Die Reform des entwicklungspolitischen Vorfelds zur Effizienzsteigerung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit war überfällig.
({7})
Wir haben es in einem Jahr hinbekommen, ein Konzept
dazu vorzulegen. Sie haben das nicht geschafft. - Das ist
der eine Punkt.
({8})
Der zweite Punkt. Man muss immer einmal fragen:
Warum macht man das eigentlich? Es gibt mehrere
Ziele, die erreicht werden sollen, etwa die Effizienzsteigerung. Ziel ist aber auch, dass Politik, dass dieses
Ministerium gegenüber den Durchführungsorganisationen tatsächlich steuerungsfähig ist. Es ist vollkommen
klar, dass ein Ministerium, das mit genauso vielen Mitarbeitern wie vor vier oder fünf Jahren anderthalb mal so
viele Mittel verausgaben kann, das Problem haben wird,
Steuerungsfähigkeit in irgendeiner Form vernünftig herzustellen. Auch das ist etwas, was wir mit der Vorfeldreform erreichen wollen. All die Fragen, die Herr Binding
angesprochen hat, sind auch wichtig, müssen auch gelöst
werden, aber das weiß doch auch jeder von uns.
Das Vorhandensein eines Handelsregistereintrags am
1. Januar hat nichts mit der Frage zu tun: Funktioniert
die Organisation? Diese Frage wird danach entschieden.
Die Fragen „Hat man einen gemeinsamen Geist in einer
Organisation? Hat man eine gemeinsame Idee davon,
wie man das machen will? Hat man vernünftig arbeitende Strukturen?“ werden in der Zukunft entschieden.
Deswegen glaube ich, dass es richtig war, zu sagen:
Wir machen in dieser Legislaturperiode die Reform der
drei Durchführungsorganisationen, versuchen aber
nicht das große Modell; denn das ist noch einmal eine
ganz andere Baustelle. Ich finde, dass es richtig ist, sich
da nicht zu beschränken. Es gilt aber, das richtig und gut
zu machen. Zu sagen: „Wir reformieren das und legen
das zusammen“, wäre einfach gewesen. Man hätte entscheiden können: Wir machen eine Holding. Dann sind
die drei Organisationen zusammen, und alles ist prima. Nur hätten wir damit nicht den Effekt erreicht, den wir
damit eigentlich erreichen wollen. Wir wollen wirkliche
Synergien, wirkliche Steuerungsfähigkeit. Dieses Konzept ist die Grundlage und bietet Gewähr dafür, dass es
funktionieren kann.
({9})
Ich würde gern noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, das aber auch mit Kohärenz und Effizienz zu tun hat. Sie wissen, dass die ODA-fähigen Mittel in Deutschland weit über den 6,07 Milliarden Euro
des Einzelplans 23 liegen. Es sind etwa 9,5 Milliarden Euro, wenn ich es richtig im Kopf habe, die von
mehr als zehn Ministerien verausgabt werden. Das geht
vom Kanzleramt über das Forschungsministerium, das
Auswärtige Amt, das Verteidigungsministerium bis zum
Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz usw. usf. Das bedeutet einen Vorteil insofern, als die Entwicklungszusammenarbeit bzw. die
Entwicklungspolitik einen breiteren Ansatz bekommt.
Aber der Nachteil ist: Es gibt einen hohen Koordinationsaufwand, und auch den gibt es schon seit Jahren.
Das Konzept besagt nun deutlich: Wir wollen, dass in
der Bundesregierung ein Koordinationskreis tätig wird.
Wir würden uns natürlich wünschen: unter Federführung
des BMZ. Damit soll Koordination tatsächlich geleistet
werden. Das ist eine neue Qualität. Das halte ich für
wichtig; denn wenn wir uns mit einem vernünftigen gemeinsamen Auftritt nach außen präsentieren wollen,
dann kann uns das nur gelingen, wenn wir unsere Arbeit
intern so reibungslos wie möglich gestalten. - Das ist der
zweite Punkt. Mit meinem dritten Punkt begebe ich mich
nun auf die internationale Ebene. Ich bin, ehrlich gesagt, immer wieder überrascht, mit welcher ideologischen Verbissenheit darüber gestritten wird, ob etwas international, bilateral oder multilateral gemacht wird.
Dabei geht es am Ende des Tages ausschließlich um die
Frage: Was ist eigentlich erfolgreich? Was ist an welcher
Stelle richtig? Das können internationale oder multilaterale Maßnahmen genauso gut wie bilaterale sein.
({10})
Viel wichtiger ist, dass unser Handeln konsistent ist.
Ich weise immer wieder darauf hin: Deutschland gibt
nach sehr strengen Kriterien neun Ländern Budgethilfe.
Gleichzeitig finanzieren wir den Europäischen Entwicklungsfonds, der nach viel lascheren Bedingungen wesentlich mehr Ländern Budgethilfe gibt. Warum ist das
so? Weil der Europäische Entwicklungsfonds offensichtlich ein Mittelabflussproblem hat. Insofern ist es richtig,
sich das einmal genauer anzuschauen. Es kann doch nur
eins von beiden richtig sein. Selbst wenn man ein großer
Fan von multilateralen Maßnahmen ist, sollte man ein
Interesse daran haben, dass das einmal überprüft wird.
({11})
In dem Zusammenhang möchte ich noch auf ein Weiteres zu sprechen kommen: Die ursprüngliche Idee für
europäische Entwicklungshilfe war, abgestimmt vorzugehen. Europäische Entwicklungspolitik sollte da eingreifen, wo nationalstaatliche Entwicklungspolitik aus
welchen Gründen auch immer keinen Platz hat. Dieses
Verhältnis hat sich inzwischen fast umgedreht. Man
muss inzwischen geradezu aufpassen, dass nationalstaatliche Entwicklungspolitik in irgendeiner Form überhaupt
noch stattfindet.
Vielleicht liegt darin aber auch die Lösung für ein
Problem. Christian Ruck hat darauf hingewiesen, dass
die großen Aufwüchse - das ist auch meine persönliche
Überzeugung -, wenn sie denn kommen, nur durch
nichtoriginäre Haushaltsmittel finanziert werden. Er hat
den Emissionshandel und viele andere Möglichkeiten
genannt. Wenn das so kommen sollte, dann gibt es zwar
eine Schnittmenge zwischen Klimaschutz und Armutsbekämpfung, aber beides wäre trotzdem nicht zu
100 Prozent deckungsgleich. Armutsbekämpfung muss
aber in vollem Umfang geleistet werden; denn wir sind
uns ja einig, dass diese eine der konstitutiven Elemente
von Entwicklungspolitik ist. Hier stellt sich nun die
Frage, ob man nicht in Kooperation mit der europäischen Ebene zu vernünftigen Lösungen kommen kann,
damit am Ende des Tages wirklich eine vernünftige und
konsistente Entwicklungspolitik gemacht wird.
Es ist also notwendig, alles miteinander zu verzahnen.
Ein nüchterner Blick auf die Dinge hilft dabei. Deswegen habe ich mich ein bisschen über die Bemerkungen
zum Thema „weltwärts“ geärgert. Jeder, der die Debatte
zum Thema „weltwärts“ in den letzten Wochen und Monaten verfolgt hat, weiß, dass die Probleme dadurch entstanden sind, dass einige Entsendeorganisationen nicht
gewartet haben, bis der Haushalt verabschiedet wurde,
({12})
sondern auf Basis eines Ansatzes, der aber nicht mit dem
des beschlossenen Haushaltes identisch war, Anmeldungen bestätigt haben.
({13})
So kann man nicht verfahren, weil keiner weiß, was
dann am Ende wirklich kommt. Es ist dem Ministerium
zu verdanken, dass trotzdem am Ende alle, die eine Zusage bekommen haben, auch einen Platz erhalten haben.
Nun zur Frage, ob die vorgesehenen Mittel jetzt reichen. Wir haben in diesem Jahr 30 Millionen Euro im
Haushalt angesetzt. Das sind 3 Millionen Euro mehr, als
im Jahr 2009 abgeflossen sind. Kreieren Sie also bitte
kein Problem, wo keines ist. Das können wir Ihnen an
dieser Stelle auf keinen Fall durchgehen lassen.
({14})
Lebendige Entwicklungspolitik wird in Zukunft, wie
ich glaube, noch mehr davon abhängen, dass koordiniert
vorgegangen wird. Wir brauchen ausreichend Mittel,
aber wir brauchen auch entsprechende Strukturen. Dass
diese entstehen, dabei können wir alle mithelfen.
Danke sehr.
({15})
Das Wort hat nun Niema Movassat von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ist
es blanker Zynismus oder eine Tragikomödie? Das habe
ich mich gefragt, als ich mir den Haushalt des Entwicklungsministeriums angeschaut habe. Ich muss wohl
kaum daran erinnern, dass sich Deutschland 1970 durch
Annahme einer UN-Resolution verpflichtet hat, 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungshilfe aufzuwenden. Trotzdem besaß
Minister Niebel Anfang des Jahres, also ganze 40 Jahre
später, die Frechheit, dieses Ziel als „sportlich“ zu bezeichnen.
({0})
Gleichzeitig betonte er, die Regierung halte an dem Ziel
fest. Der vorliegende Haushaltsentwurf jedoch beweist,
dass Sie dieses Ziel bereits aufgegeben haben. Sie haben
das EU-weit vereinbarte Zwischenziel für 2010 von
0,51 Prozent nicht erreicht und wollen auch 2011 das
Budget nicht erhöhen.
Das Finanzministerium rechnet sogar damit, dass die
Ausgaben für die Entwicklungshilfe bis 2014 um
400 Millionen Euro sinken werden. Zahlreiche europäische Staaten haben ihre Verpflichtungen trotz Wirtschaftskrise bereits heute erfüllt. Die Fraktion Die Linke
hat hier beantragt, das 0,7-Prozent-Ziel gesetzlich zu
verankern. Geben Sie doch wenigstens zu, dass Sie gar
nicht mehr den Willen zur Zielerreichung haben.
({1})
Auch die Ankündigung des Entwicklungsministers,
nach 2011 die Zahlungen an den Globalen Fonds zur
Bekämpfung von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria einzustellen, ist zynisch. Der Ausstieg steht auch in
einem krassen Widerspruch zu dem Versprechen der
Bundeskanzlerin. Diese tingelt von Gipfel zu Gipfel und
macht fromme Ankündigungen.
Herr Kollege Movassat, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haibach?
Nein. Er kann gerne nach meiner Rede eine Kurzintervention machen.
Noch beim letzten G-8-Treffen vor drei Monaten hat
die Bundeskanzlerin versprochen, sich für den Erfolg
der anstehenden Geberkonferenz für den Globalen
Fonds einzusetzen. Keinen Pfifferling sind die Zusagen
der Kanzlerin wert.
({0})
Der Globale Fonds hat seit 2002 fast 6 Millionen
Menschen das Leben gerettet. Trotzdem sterben noch
heute jährlich 2 Millionen Menschen allein an HIV/
AIDS. Ich bin deshalb der Ansicht, die Finanzierung des
Globalen Fonds sollte durch einen völkerrechtlichen
Vertrag abgesichert und deutlich erhöht werden. Dieser
Fonds ist die beste derzeit vorhandene Maßnahme zur
Bekämpfung der Krankheiten, die die Menschheit am
meisten betreffen. Eine Einstellung der Zahlung an den
Globalen Fonds ist deshalb wider jede menschliche Logik und bedeutet für die Ärmsten dieser Welt eine unterlassene Hilfeleistung.
({1})
Nächste Woche findet in New York die UN-Konferenz zur Erreichung der Millenniumentwicklungsziele
statt. Es geht um den Kampf gegen die Tatsache, dass
fast 1 Milliarde Menschen hungern und dass Armut und
Krankheiten große Teile der Weltbevölkerung in Geiselhaft halten. Angesichts Ihrer aktuellen Haushaltsplanung
appelliere ich an Sie, Herr Niebel und Frau Merkel: Fahren Sie nicht, wie angekündigt, zum UN-Gipfel nach
New York! Blamieren Sie Deutschland nicht vor der internationalen Gemeinschaft mit weiteren Lippenbekenntnissen zu den Millenniumentwicklungszielen.
({2})
Dass die Versprechen der reichen Staaten an die ärmsten
Staaten oft Schall und Rauch sind, ist leider nichts
Neues. Ihre Unzuverlässigkeit aber bringt das Fass endgültig zum Überlaufen. „Weltmeister im Brechen von
Versprechen“ ist der Titel, den Sie sich zu Recht einhandeln werden.
({3})
Die eingesparten Mittel steckt Herr Niebel übrigens
nicht etwa in einen anderen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Er leitet die Gelder stattdessen direkt
weiter an die deutsche Privatwirtschaft. Jetzt will er zum
Beispiel der Papenburger Meyer Werft Unterstützung in
Höhe von 50 Millionen Euro für den Bau einer entwicklungspolitisch offensichtlich unnützen Fähre für Indonesien leisten. Das Entwicklungsministerium fördert mittlerweile über 3 000 öffentlich-private Partnerschaften.
Es soll noch mehr Geld in diesen Bereich fließen. Längst
ist jedoch bewiesen: Den größten Nutzen aus diesen Modellen ziehen nicht die Menschen in den Partnerländern,
sondern die Privatunternehmen. Sie betreiben daher
keine Entwicklungspolitik, sondern Außenwirtschaftspolitik. Das lehnen wir ganz eindeutig ab.
({4})
Statt einem Menschen in Afrika den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten zu verschaffen, ermöglichen
Sie lieber dem einen oder anderen deutschen Unternehmer eine satte Gewinnzulage.
({5})
Diese Wirtschafts- und Wettbewerbsfixierung setzt
sich im Übrigen auch in der Institutionsreform fort. Sie
wollen die Entwicklungsorganisationen der technischen
Zusammenarbeit fusionieren.
({6})
Dabei soll die Unterstützung der deutschen ConsultingWirtschaft eine erhebliche Rolle spielen. Zum anderen
wollen Sie den Wettbewerb der öffentlichen Entwicklungsorganisationen mit der Privatwirtschaft um die
Aufträge des Ministeriums stärken. Das ist wieder eine
Maßnahme vor allem zugunsten der deutschen Unternehmen und nicht primär zugunsten der Entwicklungsländer. Eine solche Fusion lehnen wir ab.
({7})
Für die Linke ist ganz klar: Die koloniale Vergangenheit und unser heutiges Wirtschaftssystem sind Ursache
für endloses Leid und Elend in der Welt. Entwicklungspolitik ist deshalb eine Verpflichtung gegenüber den
ärmsten Ländern und darf auf keinen Fall mit eigenen
wirtschaftlichen Interessen verknüpft werden. Die Entwicklungspolitik dieser Regierung ist deshalb eine Katastrophe.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Holger Haibach.
Herr Präsident, ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir
die Chance geben, noch etwas zu dem wichtigen Thema
„Gesundheitsförderung in Entwicklungsländern“ zu sagen. - Herr Movassat, es tut mir wahnsinnig leid, dass
ich sagen muss: Einige Ihrer Aussagen stimmen einfach
nicht. Das liegt vielleicht daran, dass Sie noch nicht allzu
lange im Parlament sind.
Erstens. Im Haushaltsentwurf sind 200 Millionen
Euro für den GFATM vorgesehen. Ich bitte darum, das
zur Kenntnis zu nehmen und nichts anders zu behaupten.
Zweitens. Die Zusage der Bundesregierung, der
Kanzlerin, der vorhergehenden Bundesregierung bezieht
sich auf Gelder in dieser Höhe für Maßnahmen in diesem Bereich und nicht ausdrücklich auf den GFATM.
Der GFATM ist ein mögliches Mittel; aber es können genauso gut andere mögliche Mittel genutzt werden. Es
können natürlich genauso gut bilaterale Maßnahmen genutzt werden, um diese Zusage einzuhalten und damit
auch ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen.
Die öffentliche Diskussion, wie sie jetzt in Deutschland abläuft, geht an dieser Stelle leider an der Wahrheit
vorbei. Auch Sie haben diesen Fehler gemacht. Unsere
Politik steht - selbst wenn es irgendwann zu einer Absenkung kommen sollte - nicht in krassem Widerspruch
zu dem, was Zusage deutscher Regierungen gewesen ist,
und dabei bleibt es auch.
({0})
Herr Kollege, wollen Sie darauf erwidern? - Bitte
schön.
Sehr geehrter Herr Kollege Haibach, die Kanzlerin
hat vor drei Monaten einen Erfolg bei der Wiederauffüllungskonferenz versprochen. Der Globale Fonds ist ein
Erfolgsmittel in diesem Bereich. Deshalb sind die Aussagen der Bundesregierung, die alle darauf abzielen
- Sie haben es mit Ihrem Wortbeitrag gerade im Prinzip
bestätigt -, diesem Fonds mit der Zeit die Mittel zu entziehen und sie in bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zu investieren, der falsche Weg. Woher wissen wir
denn, dass die Modelle für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, die entwickelt werden, wirklich besser
sind als der Globale Fonds? Dieser hat Erfolg gehabt.
Ich finde, man sollte eine erfolgreiche Mittelvergabe
fortsetzen und unterstützen. Deshalb ist es richtig und
wichtig, den Globalen Fonds wieder aufzufüllen.
Dieser Fonds braucht noch eine deutliche Mittelerhöhung. Insofern sollte Deutschland hier vorbildhaft vorangehen und sich für eine Erhöhung der Mittel einsetzen, und zwar auch im vorliegenden Haushaltsentwurf,
statt perspektivisch eine Senkung und damit eine Abschaffung der Beiträge in Erwägung zu ziehen.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Priska Hinz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Ruck, es geht in dieser Debatte nicht um Kleinmut, sondern schlicht und einfach um Fakten, die vielleicht auch
Sie zur Kenntnis nehmen sollten. Der Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit stagniert im Jahre 2011. Nach der Finanzplanung wird er
im Jahr 2012 um 5 Prozent und im Jahre 2013 um weitere 1,5 Prozent reduziert. Das bedeutet ein Minus von
400 Millionen Euro im Jahre 2013.
Nichts gegen Wirksamkeit, was den Einsatz von Mitteln angeht, Herr Niebel. Aber wenn immer weniger
Geld vorhanden ist, dann wird eigentlich nur eines wirksam, nämlich die alte Forderung der FDP, dieses Ministerium abzuschaffen. Denn wenn keine Entwicklungszusammenarbeit zu finanzieren ist, dann brauchen wir es
irgendwann nicht mehr.
({0})
Auch nach Ihren eigenen Aussagen, Herr Niebel,
wird Deutschland im Jahre 2010 statt einer ODA-Quote
von 0,51 Prozent eine ODA-Quote von nur 0,4 Prozent
erfüllen. Insofern ist es schon ein sportliches Ziel,
0,7 Prozent bis 2015 zu erreichen. Bis dahin müssten eigentlich 10 Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt
werden, aber nicht einfach so, damit man Geld ausgibt
- so wurde es hier suggeriert -, sondern zum Beispiel,
um Grundbildung in den Entwicklungsländern zu finanzieren, damit die Menschen dort ihre Existenz gründen
können, damit gute Verwaltungsstrukturen aufgebaut
werden können, damit diese Länder also aus sich selbst
heraus leben und wirtschaften können. Ich verweise in
diesem Zusammenhang auf Maßnahmen zur Anpassung
an den Klimawandel.
Auch hier versagen Sie. In Kopenhagen hat Frau
Merkel höchstpersönlich zugesagt, jährlich 420 Millionen Euro für Klimaschutzmaßnahmen bereitzustellen.
Im letzten Jahr haben Sie nach heftigem Ringen mit der
Opposition 70 Millionen Euro eingestellt, davon 35 Millionen Euro im BMZ-Haushalt. Im Entwurf des Haushalts für das Jahr 2011 steht dafür kein einziger Euro zur
Verfügung. Wir haben gerade in Pakistan gesehen, welche Auswirkungen es hat, wenn der Klimawandel voranschreitet. Es macht doch keinen Sinn, immer wieder
Nothilfe zu leisten. Nein, wir müssen Gelder präventiv
einsetzen, gerade für die Entwicklungszusammenarbeit,
damit der Klimawandel eingedämmt werden kann.
({1})
Wer hindert Sie eigentlich daran, das, was in der Kabinettsvorlage steht, umzusetzen, nämlich die Einführung neuer, innovativer Finanzierungsinstrumente?
Das steht darin; das brauchen Sie, um die ODA-Quote
zu erreichen. Was ist mit der Finanztransaktionsteuer?
Wie steht es darum, das Mehrwertsteuerprivileg bei Flügen aufzuheben? Sie regieren doch; zumindest sollten
Sie regieren. Führen Sie bitte solche innovativen Finanzierungsinstrumente ein! Wir unterstützen Sie, damit die
Haushaltsentwürfe ab 2011 besser aussehen.
({2})
Priska Hinz ({3})
Wenn man sich die Verpflichtungsermächtigungen im
Bereich der technischen Zusammenarbeit im Haushaltsentwurf ansieht, dann erkennt man, wie ernst Sie die Erfüllung Ihrer internationalen Verpflichtungen nehmen:
Hier ist ein Minus von 130 Millionen Euro vorgesehen.
Bei der finanziellen Zusammenarbeit ist ein Minus von
311 Millionen Euro veranschlagt. Das bedeutet, dass Sie
die von Ihnen selbst in Angriff genommene Fusion der
Vorfeldorganisationen behindern; denn sie brauchen
VEs, damit sie Projekte planen können, damit die Umstellung auf das Auftragsverfahren vollzogen und der
Bestandsschutz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
- Sie haben ihn versprochen - gewährleistet werden
können.
Wir Grünen werden Ihnen bei den Haushaltsberatungen zeigen, wie wir bei Einhaltung der Schuldenbremse
das 0,7-Prozent-Ziel erreichen können. Wir erwarten
mehr Einsatz vom Minister. Unseren Einsatz werden wir
bringen.
Danke schön.
({4})
Frau Kollegin, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage zulassen. Jetzt sind Sie schon davongestürzt. Ich konnte Ihren Redefluss nicht eher unterbrechen. Sie haben nicht einmal Luft geholt.
({0})
- Ja, dann bitte sofort.
Verehrte Frau Kollegin, wenn ich es richtig sehe, sind
wir beide sowohl im Haushaltsausschuss als auch im
Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages.
({0})
Da ich weiß, dass Sie eine der belesensten Kolleginnen
sind und genau wissen, was in den einzelnen Bereichen
läuft, unterstelle ich einmal, dass Sie davon Kenntnis haben, dass der Bundesrechnungshof den Bundeshaushalt
überprüft. Der Rechnungshof hat sich einmal mit den
Verpflichtungsermächtigungen in den Bundeshaushalten der Vergangenheit auseinandergesetzt: Er hat warnend festgestellt, dass wir viel zu viele Verpflichtungsermächtigungen ausbringen und dass ihre Anzahl
drastisch verringert werden muss.
Wenn sich jetzt die Bundesregierung an das hält, was
der Rechnungshof vorgegeben hat und was wir im Haushaltsausschuss zustimmend zur Kenntnis genommen haben, dann können Sie nicht hingehen und die Bundesregierung hier für ihr richtiges Verhalten kritisieren.
Würde man Ihrer Kritik folgen, hätte dies zur Konsequenz, dass an der einen oder anderen Stelle mehr Verpflichtungsermächtigungen ausgebracht werden müssen.
Ich sage Ihnen bei allem Respekt unter uns Haushältern
bzw. unter uns Vertretern des Rechnungsprüfungsausschusses - wir sind schließlich die Elite dieses Parlaments -: Wir sollten uns an die Vorgaben des Rechnungshofes halten.
({1})
- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist gar nicht
lächerlich.
Ich sage ernsthaft: Jeder weiß, dass die Mitgliedschaft
im Haushaltsausschuss das Höchste ist, was man im
Deutschen Bundestag erreichen kann, es sei denn, man
wird Präsident dieses Parlaments. Ich bitte um Nachsicht.
Lieber Kollege, es ist gut, dass Sie gerade noch die
Kurve gekriegt haben.
({0})
Bitte schön, Kollegin Hinz, zur Erwiderung.
Herr Kollege, da ich so belesen bin, lese ich nicht nur
Rechnungsprüfungsberichte und Haushalte, sondern
kümmere mich auch darum, wie die Fusion von GTZ,
InWEnt und DED funktionieren soll. Ich weiß deshalb,
dass diese Fusion und die Umstellung auf das Auftragsverfahren nur funktionieren, wenn Verpflichtungsermächtigungen nicht nur für die GTZ zur Verfügung stehen, sondern eben auch für die neue, größere Organisation; denn
DED und InWEnt müssen das ganze Haushaltsverfahren
umstellen. Deswegen ist es in diesem speziellen Fall tatsächlich notwendig - das sollten wir als Haushälter eben
auch zur Kenntnis nehmen -, Umfang und Anzahl der
Verpflichtungsermächtigungen zu erhöhen.
Lieber Herr Kollege, ich finde, wir sollten, wenn wir
schon zur Elite gehören, über den Tellerrand hinausschauen und uns neue Erkenntnisse zu Gemüte führen,
um zu guten Ergebnissen im Sinne der Entwicklungszusammenarbeit und der Effizienz bei der Ausgabe von
Mitteln zu kommen.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Klimke für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Danke sehr. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen von
der Elite zur Normalität zurück. Vielleicht erinnern Sie
sich gemeinsam mit mir an die letzte Haushaltsdebatte,
die wir vor sechs Monaten geführt haben. Dort ging es
ähnlich aufgeregt zu. Man hat damals Minister Niebel
vorgeworfen, er könne es nicht, das von ihm protegierte
Team in seinem Ministerium würde es ebenfalls nicht
packen. Es gab Personal- und Umstrukturierungsdiskussionen. Im Übrigen wurde behauptet, mit der Entwicklungszusammenarbeit und der Entwicklungspolitik gehe
es steil bergab. Aber das Gegenteil ist der Fall. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen - ich wiederhole es -:
Der Bundeshaushalt geht insgesamt um 3,8 Prozent zurück. In unserem Einzelplan ist immerhin ein Aufwuchs
von 3 Millionen Euro vorgesehen. Das muss man festhalten. Lassen wir doch einmal die Kirche im Dorf.
({0})
Ich möchte auch auf etwas anderes hinweisen. Die taz
und Der Spiegel kommen in diesen Tagen an einem Lob
für Minister Niebel nicht vorbei. Die Lobeshymnen der
Zeitungen aus dem linken Spektrum sind nicht nur eine
Bestätigung, nein, sie stellen zusätzlich eine Prognose
für seine weitere Amtszeit dar. Seine Arbeit wird kurz
und bündig als positiv und konstruktiv beschrieben. Ich
freue mich darüber, dass die meisten anderen Medien die
Richtigkeit dieses Urteils inzwischen eingesehen und die
Kritik an Minister Niebel eingestellt haben.
Nun muss sich die Opposition fragen, ob sie den einen oder anderen Satz der Anerkennung oder der persönlichen Wertschätzung des Ministers - zwei, drei Ansätze
dazu hat es gegeben - artikulieren könnte. Man hat angesichts der Oppositionsarbeit in den letzten Monaten
manchmal das Gefühl, dass die Ideen und die Vorstellungen der Opposition regressiv sind und dass programmatisch eher von mangelnder Kreativität gesprochen werden sollte.
Die Opposition will zum Beispiel mehr Budgethilfe
für Länder, die nachweislich korrupt sind. Das ist nicht
kreativ. Die Opposition verneint, dass der Aufbau wirtschaftlicher Leistungskraft auf regionalen Märkten mithilfe
des Know-hows der deutschen Wirtschaft zukunftsweisend ist. Die Opposition stellt sich gegen den entwicklungspolitischen Nutzen von Infrastrukturprojekten; das
haben wir hier mehrfach gehört. Sie ist gegen die Förderung innovativer Agrarforschung, mit der in den nächsten
Jahren die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden
kann. Einige von denen, die jetzt in der Opposition sind,
haben in Regierungsverantwortung ein Jahrzehnt lang die
Mittel für zukunftsweisende Sektoren, zum Beispiel für
den Bereich Bildung, zurückgefahren. Im Gegensatz dazu
haben wir, die Entwicklungspolitiker von Union und
FDP, konstruktive Vorstellungen, die wir gemeinsam in
der Koalition umsetzen. Man merkt, dass nicht mehr gebremst wird, wie von der SPD zu Zeiten der Großen Koalition.
Lassen Sie mich auch auf die Fusion der technischen Zusammenarbeit hinweisen; wir haben das
mehrfach angesprochen. Zum 1. Januar 2010 geht es los.
Das möchte ich festhalten.
Außerdem ist es wichtig - ich betone das immer wieder gerne, weil es deutliche Defizite in den letzten Jahren gegeben hat -, die Kooperation mit der Wirtschaft
zu stärken. Der vorliegende Haushalt belegt diese programmatische Neuausrichtung. Das ist eine Grundausrichtung, wie die SPD sie immer verhindert hat. Jetzt
werden die Vorhaben endlich umgesetzt.
({1})
Nichts ist sinnvoller und notwendiger als beispielsweise ein verstärktes Engagement des deutschen Mittelstandes in den Entwicklungsländern. Das wird dort
auch erwartet. Gerade der deutsche Mittelstand hat einen
besonders guten Ruf, in folgenden Bereichen über ausreichend Know-how zu verfügen: beim Klimaschutz, im
Wasserbereich, im Energiesektor, im Rohstoffbereich
und bei den Wertschöpfungsketten im Gesundheitsbereich. Das sind Bereiche, in die sich der deutsche Mittelstand bei der Entwicklungszusammenarbeit einbringen
kann.
Wir wollen, dass deutsche Unternehmen sozial und
umweltfreundlich investieren. Dazu hat das BMZ eine
Servicestelle „Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft“ eingerichtet, die mittelständische Unternehmen
berät. Das ist gut so. Darüber hinaus haben wir zusätzlich
10 Millionen Euro für Programme zur Förderung der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft in den Haushalt eingestellt, und wir haben sogenannte Entwicklungsscouts als
Verbindungsreferenten in die großen Wirtschaftsverbände geschickt. Diese Scouts sollen vor allen Dingen
Direktinvestitionen der deutschen mittelständischen Unternehmen in den Partnerländern unterstützen und neue
Konzepte bei der Mikrofinanzierung und der Mikroversicherung als zusätzliches Angebot in die Entwicklungsländer mitnehmen. Das ist etwas sehr Gutes.
({2})
Ein letzter Punkt zu diesem Bereich. Die PPP-Programme sind ausgebaut worden. „DeveloPPP“ ist ein
neues Programm. Es ist klar, liebe Opposition, dass guter
Wille die Probleme in unseren Partnerländern nur bedingt löst. Wir verfügen auch über die nötigen Konzepte.
({3})
Das ist das Wesentliche.
({4})
Konzepte für Finanzierungsinstrumente im Rahmen
des Einzeletats 23 hat der Kollege Ruck vorhin vorgestellt. Das sind Konzepte kreativer Art; das ist das Entscheidende. Was haben Sie unter Ihrem Kanzler Schröder
gemacht? Sie haben unter dem Eindruck der damaligen
Wirtschaftskrise einfach bei den Geldern für die Armen
in der Welt gespart. Das ist aus meiner Sicht Doppelmoral. Wir sind da kreativer und versuchen, neue Finanzierungsinstrumente zu schaffen.
({5})
Kreativität ist auch an einem anderen Punkt entscheidend. Ich bin besonders stolz darauf, dass meine Partei
zusammen mit der CSU dadurch ihre Fähigkeit zu programmatischer Entwicklung unter Beweis stellt, dass sie
die Bundeswehr zu einer effizienten und den aktuellen
Problemen angemessenen Armee im Einsatz umbauen
will, zu einer Armee, die sich der vernetzten Sicherheit
verpflichtet fühlt - das zeigt das Beispiel Afghanistan -,
zu einer Armee, die neben dem sicherheitspolitischen
Aspekt auch einen humanitären
({6})
und einen entwicklungspolitischen Ansatz verfolgt, Frau
Hänsel, und diesen Ansatz mehr und mehr in ihre Arbeit
aufnimmt. Gerade diese Reform beweist die Regierungsfähigkeit der Union und macht deutlich, dass wir in der
Lage sind, Bewährtes neuen Strukturen anzupassen.
Ein weiterer Punkt ist die Durchsetzung der Menschenrechte in der Entwicklungs- und Außenpolitik.
Auch das ist zur Zeit der Großen Koalition nicht immer
leicht gewesen. In unseren Partnerländern, in denen die
Menschenrechte mit Füßen getreten werden, machen wir
deutlich, dass wir dies nicht länger dulden wollen. Das
Gleiche gilt für Korruption. Die Lage der Homosexuellen in Uganda, die Rolle der GTZ im Kongo,
({7})
aber auch der Druck von uns und von der EU auf die Regierung in Mosambik machen deutlich, dass wir es einfach nicht mehr hinnehmen, wenn wesentliche Elemente
unserer Grundauffassung von unserer Politik, wie die
Einhaltung der Menschenrechte, mit Füßen getreten werden. Dann wird eingegriffen.
({8})
Auf einen weiteren Punkt, die Millenniumsentwicklungsgrundsätze, die wir in vollem Umfang realisieren
wollen, hat der Kollege Haibach hingewiesen. Es ist
wichtig, zu sagen, dass wir zu den Geldern des Global
Fund stehen und verstärkt bilateral investieren wollen.
Ziel ist die Bekämpfung der Krankheiten mit vielen Instrumenten, nicht nur global, sondern auch bilateral.
In der nächsten Woche stehen die Millenniumsentwicklungsziele auf der Tagesordnung des Gipfels in New
York. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir dort folgende
Schwerpunkte setzen: Wir müssen die Eigenverantwortung unserer Partnerländer stärken, die Zivilgesellschaft
in den jeweiligen Ländern stärker fördern, nachhaltiges
Wirtschaftswachstum dort begünstigen und die Fähigkeiten der Menschen vor Ort unterstützen, damit sie in der
Lage sind, sich selbst zu helfen und voranzukommen.
Wenn es uns gelingt, die anderen Gebernationen von diesen Grundsätzen zu überzeugen, dann kann dieser Gipfel
ein großer Erfolg werden. Wir sollten uns das gemeinsam
wünschen, auch im Interesse der Entwicklungsländer.
Danke sehr.
({9})
Das Wort hat nun Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In der nächsten Woche findet eine wichtige Konferenz in New York statt. Auch einige aus diesem Haus werden hinfahren, etwa Herr Minister Niebel
und die Kanzlerin. Die Abschlussresolution dieser Konferenz, der Konferenz zur Überprüfung der Millenniumsentwicklungsziele, liegt uns schon vor. Darin
werden das 0,7-Prozent-Ziel und das Ziel, schon in diesem Jahr 0,51 Prozent zur Verfügung zu stellen, noch
einmal ausdrücklich angemahnt.
Ich zitiere aus einer Hausmitteilung des BMZ: Dirk
Niebel fährt nicht mit leeren Händen nach New York
zum MDG-Gipfel. Gemeinsam mit der Kanzlerin bringt
er wichtige Vorschläge in die Verhandlungen ein. Unsere
wichtige Botschaft ist, dass wir unser Versprechen halten.
Ich meine, wer heute die Debatte verfolgt hat, den
Haushaltsentwurf liest und rechnen kann, Herr Minister,
der sieht ganz klar, dass Sie hier das Gegenteil tun. Sie
brechen das Versprechen. Sie sollten nicht auch noch die
Öffentlichkeit auf den Arm nehmen und so tun, als würden Sie das Versprechen halten. Sie fahren mit leeren
Händen nach New York. Das ist beschämend für die
ärmsten Menschen der Welt. Das müssen wir hier heute
ganz klar feststellen.
({0})
Sie müssen sich schon entscheiden. Sie sagen immer,
das Geld sei nicht entscheidend, sondern die Effizienz.
({1})
Dann müssen Sie jetzt erst einmal einräumen, dass Sie
das erforderliche Geld nicht zur Verfügung stellen. Ich
bin gerne bereit, mit Ihnen die Effizienzdebatte zu führen. Einige Vorredner haben immer so getan, als wäre
das, was Sie da verbessern, schon in Ordnung. Aber was
machen Sie in dem Bereich? Sie treten die Instrumente,
auf die sich die internationale Gemeinschaft geeinigt hat,
um wirksamer zu werden, doch mit Füßen. Statt sich in
eine multilaterale, international abgestimmte Politik einzuordnen, wollen Sie weiterhin überall deutsche Flaggen
auf die Projekte setzen und in die Steinzeit der Projektitis zurückfallen. All diese Dinge werden Ihnen zu Recht
vorgeworfen.
Da der Kollege Klimke behauptet hat, die linke Presse
habe Herrn Niebel gelobt, zitiere ich einmal aus dem Artikel „Am Hofe Niebel“ aus dem Spiegel vom 23. August 2010.
({2})
Dort steht, dass der Globale Fonds entgegen den Ratschlägen der Experten nicht fortgeführt werden soll.
Weiter heißt es:
Aus Niebels Sicht hat der Fonds einen Makel: Es ist
eine multilaterale Organisation, die nicht vor ihren
Projekten die deutsche Fahne hochzieht - mit
Folgen. …
Niebel wird in der Branche nicht als erster Anwalt
seiner Sache wahrgenommen. So muss er sich vorhalten lassen … bei den Etatverhandlungen fast leer
ausgegangen zu sein.
An einer anderen Stelle heißt es:
Nichtregierungsorganisationen, die bislang eng mit
dem Ressort kooperierten, gehen auf Distanz. Wer
Kritik übt, bekommt Niebels Zorn zu spüren.
Im Spiegel steht auch, was das Personal im BMZ sagt:
… die Urteile sind vernichtend: „Die FDP hat sich
unser Ministerium zur Beute gemacht“, „Wir wissen nicht, was Niebel inhaltlich will, es kommen
nur Phrasen“. Die Stimmung ist miserabel.
Dem kann ich mich nur anschließen, Herr Minister. Sie
haben es in einem Jahr geschafft, die gute deutsche Entwicklungszusammenarbeit so zu beschädigen, dass Ihnen das zu Recht von Nichtregierungsorganisationen
und auch der freien Presse vorgehalten wird.
({3})
Das müssen Sie sich auch von uns vorhalten lassen,
Herr Minister. Wenn Sie in andere Länder gehen und
gute Regierungsführung einfordern, dann muss man
hier einmal schauen, wie diese Bundesregierung dieses
Land mittlerweile zur Beute von Atomlobbyisten und
Hotellobbyisten gemacht hat.
({4})
Überall dort wäre Geld zu holen. Meine lieben Haushälter, die Sie sich hier selbst als Elite des Parlaments bezeichnen, wenn Sie bei der Besteuerung der Energiewirtschaft einmal auf den Gedanken gekommen wären,
denen jetzt nicht unter dem Strich 80 oder 90 Milliarden
Euro zu schenken, sondern dort ein bisschen kräftiger
zuzuschlagen,
({5})
dann hätten Sie auch das nötige Geld, um die Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit entsprechend internationalen Zusagen zu steigern. Wir sollten, wenn wir von
guter Regierungsführung sprechen, hier in diesem Hause
damit anfangen, Herr Minister. Da gäbe es sehr viel zu
tun.
({6})
In der Tat, wo sollen die Mittel herkommen? Die Einnahmen aus der Flugticketabgabe gehen jetzt in den
Haushalt und werden nicht für die Entwicklungszusammenarbeit verwendet, wie es einmal gedacht war. Die Finanztransaktionsteuer lehnt der Herr Minister ab. Es ist
schon interessant, dass man sich dafür rechtfertigt, dass
man die Mittel nicht erhöht, indem man darauf hinweist,
dass es in vielen Entwicklungsländern Korruption gibt
und man deswegen kein Geld dorthin geben muss. Wenn
Herr Koppelin in seiner Rede sagt, wir Entwicklungspolitiker wollten immer nur mehr Geld für die EZ, es gebe
doch genug Probleme in Deutschland, dann liegt das genau auf der Linie, die auch Frau Steinbach neulich verfolgt hat: dass die Wohlstandsdeutschen Mitgefühl mit
Afrikanern hätten, dass aber das, was hier im Lande geschehe, auf der Strecke bleibe.
({7})
Herr Koppelin hat schon im letzten Jahr dafür gesorgt, dass ein erfolgreiches Programm wie „weltwärts“,
das jungen Menschen die Möglichkeit gibt, eigene wertvolle Erfahrungen zu sammeln - sie leisten dabei in Entwicklungsländern wertvolle Aufbauarbeit -, diskreditiert
wird. Herr Niebels Etat wurde an dieser Stelle gekürzt.
Man hat sich von Herrn Koppelin schon mehrfach am
Nasenring herumführen lassen.
({8})
Es ist nicht zu erwarten, dass in diesen Verhandlungen
für „weltwärts“ noch etwas herausgeholt wird.
Ihre Redezeit ist bereits vorüber.
Ich will -
Nein, Ihre Redezeit ist vorüber.
Dann ist es auch ganz gut, dass der Koppelin jetzt
nichts mehr sagt.
({0})
Ich kann zu Herrn Kollegen Koppelin, der die jungen
Menschen hier diskreditiert, nur sagen, dass ich
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie müssen
zum Schluss kommen.
- zum Schluss - auf Auslandsreisen in Entwicklungsländern immer wieder die Erfahrung gemacht habe, dass
diese jungen Leute ganz schwere Arbeit machen, dass
sie etwas Gutes für die Ärmsten der Armen tun und dass
sie in Kindergärten und Schulen helfen. Wenn ein Abiturient dort Englisch unterrichtet, ist dieser - leider - oftmals besser ausgebildet als der eine oder andere Lehrer.
Herr Kollege!
Ich habe großen Respekt vor der Aufgabe der Menschen dort. Deswegen, Herr Kollege Koppelin, sollten
Sie Ihre Kritik an „weltwärts“ zurücknehmen.
Danke.
({0})
Nun hat Kollege Koppelin eine Kurzintervention von
zwei Sätzen erbeten. Mal sehen!
Satz Nummer eins lautet: Ich hätte auch keine Zwischenfrage mehr gestellt, weil ein allgemeines Aufatmen
zu vernehmen war, als es hieß, die Rede sei zu Ende.
Satz zwei: Ich kann nicht ernst nehmen, was der Kollege vorhin vorgetragen hat, wie ich auch vieles andere
nicht ernst nehmen kann. Ich erinnere an die letzte Debatte. Damals habe ich zum Beispiel gesagt, die ODAQuote habe im Jahr 2009 bei 0,36 Prozent gelegen. Damals hat er mich als Lügner und als sonst etwas bezichtigt. Insofern nehme ich auch diese Bemerkung jetzt
nicht so ernst. Meistens haben Sie danebengelegen, Herr
Kollege.
({0})
Können auch Sie sich auf zwei Sätze beschränken?
Jetzt führen Sie alte Debatten an, in denen ich zu
Recht darauf hingewiesen habe, dass Sie zu dem Zeitpunkt die ODA-Quote noch nicht kennen konnten, weil
der Entwicklungsausschuss der OECD die Zahlen noch
nicht überprüft hatte. Damals konnten wir nicht wissen,
dass der Herr Minister in den vergangenen Monaten die
vorgesehenen Mittel nicht hat abfließen lassen, um seine
ODA-Zahlen für das Jahr 2009 zu schönen. Das ist belegbar.
({0})
Deshalb weise ich die Unterstellung der Lüge aufs
Schärfste zurück, Herr Kollege Koppelin.
Sie haben die ODA-Zahlen für 2009 frisiert, um hier
besser dazustehen. Ich möchte Sie bitten, nicht auf eine
Wortwahl zurückzugreifen, die in der Sache nicht richtig
ist.
Nun hat Kollege Volkmar Klein von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, die gerade geführte Diskussion brauchen wir nicht besonders ernst zu nehmen. Bei dem gesamten Beitrag des Kollegen Raabe hatte man den Eindruck, dass bei ihm die Textbausteine irgendwie ein
bisschen durcheinandergeraten sind.
({0})
Meine Damen und Herren, besser ist immer möglich,
und das Bessere ist der Feind des Guten. Das wissen wir
alle. Dass mehr Geld auch mehr Freude in jedem Haushalt auslöst, ist ebenfalls klar. Insofern hat der Kollege
Hoppe mit seiner durchaus sehr selbstkritischen Anmerkung im Prinzip recht. Am Ende der Diskussion will ich
jedoch vermeiden, dass ein komplett falscher Eindruck
vom Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entsteht.
Natürlich reden wir über einen Sparhaushalt der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011. Dieser Sparhaushalt beinhaltet, dass wir die Ausgaben im nächsten
Jahr um 3 Prozent kürzen müssen. Aufgrund unserer
Verantwortung für kommende Generationen ist das auch
richtig so. Ich glaube, wir müssen uns daran gewöhnen,
dass es nicht nur moralisch gut ist, Geld für schöne Zwecke auszugeben, sondern dass es auch moralisch gut ist,
kein Geld auszugeben und unseren Nachfolgern weniger
Schulden zu hinterlassen.
Deswegen ist es richtig, das Haushaltsvolumen um
3 Prozent herunterzufahren. Wenn vor diesem Hintergrund der Einzelplan, über den wir hier reden, sogar um
3 Millionen Euro aufwächst, dann bedeutet das doch
nichts anderes, als dass das Gewicht der internationalen
Verantwortung innerhalb unseres Gesamthaushalts größer wird. Das kann man hin und her rechnen, aber es ist
nun einmal eine Tatsache.
({1})
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir uns in den
Wahlkreisen genau dafür verantworten und begründen,
warum wir so viel Geld für diesen Bereich ausgeben.
({2})
Natürlich gibt es kritische Fragen angesichts der Gesamtverschuldung und angesichts der anderen Aufgaben, um die wir uns auch kümmern müssen. Wir müssen
aber dazu stehen und sagen, dass es richtig ist, für die internationale Verantwortung so viel auszugeben. Unsere
Verantwortung endet eben nicht an unseren Grenzen.
Das sind wir unserem christlichen Menschenbild schuldig.
Das ist nicht nur altruistisch, sondern auch in unserem
eigenen, deutschen Interesse. Denn wenn wir anderen
Ländern helfen, aus der Armut herauszukommen, dann
wird die Welt stabiler, dann werden die Chancen auch
für unsere Wirtschaft größer, und dann wird es seltener
der Fall sein, dass Menschen aus Armutsgründen in unsere Länder migrieren. Es ist also richtig, so viel Geld,
mehr Geld als im vergangenen Jahr, für diesen Bereich
auszugeben.
Trotzdem müssen wir uns fragen: Ist die Effizienz
ausreichend? Ich glaube, dass es richtig ist, die Schwerpunkte ein bisschen zu verändern und effizienter zu werden.
Erster Punkt: die Fusion im Rahmen der Vorfeldreform. Ich will dazu inhaltlich gar nichts mehr sagen, sondern nur Frau Hinz den Hinweis geben: Die gesamte Fusion ist im Haushalt überhaupt noch nicht abgebildet,
weil wir alle noch darauf warten, dass die entsprechenVolkmar Klein
den Wirtschaftlichkeitsberechnungen vorgelegt werden;
auch ich hätte sie gerne schon früher gehabt. Erst wenn
diese vorliegen, können wir sie inklusive der Verpflichtungsermächtigungen für die bisherigen Zuwendungsempfänger InWEnt und DED, nach denen zu Recht gefragt worden ist, im Haushalt für das nächste Jahr
aufgreifen. Dann müssen wir als Parlament die notwendigen Änderungen in den Haushalt einbringen, damit das
Verfahren wirklich zum 1. Januar des nächsten Jahres
beginnen kann.
({3})
Zweitens ist es richtig, die Schwerpunkte unserer Entwicklungszusammenarbeit ein bisschen zu verschieben,
in Form von Mikrokrediten und Folgefinanzierungen
mehr Private einzubinden und für mehr Unternehmen,
für mehr Arbeitgeber in den Entwicklungsländern zu
sorgen. Das ist ein Erfolg, den wir anstreben müssen, der
aber wenig mit der Menge des dafür ausgegebenen Geldes zu tun hat.
({4})
Der Abbau von Handelshemmnissen bringt zwar keine
Erhöhung der ODA-Quote, auf die Sie geradezu fetischartig blicken, mit sich; aber er hilft. Er hilft sogar viel
mehr als manche ODA-Mittel oder Almosen.
Meine Damen und Herren, jüngst hat uns eine Afrikanerin, die sambische Wirtschaftswissenschaftlerin Dambisa Moyo, in ihrem eindrucksvollen Buch die Botschaft
präsentiert, dass wir die eine oder andere Selbstverständlichkeit unserer bisherigen Entwicklungshilfe durchaus
einmal hinterfragen sollten. Wir müssen helfen, wirtschaftliche Chancen zu eröffnen, die in den Entwicklungsländern für Arbeit sorgen. Das ist nicht nur für
deutsche Unternehmen gut, die dort vielleicht über Direktinvestitionen Arbeitsplätze schaffen; vielmehr ist es
auch gut für Afrika, denn diejenigen in Afrika, die Geld
haben, investieren es bisher leider noch viel zu wenig
dort.
Die UNCTAD, die United Nations Conference on
Trade and Development, hat für ihren Bericht im
Jahre 2007 die Kapitalflucht aus Afrika analysiert und
ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in den Jahren 1970
bis 2005 rund 400 Milliarden Euro aus Afrika abgeflossen sind. Andere Wirtschaftswissenschaftler haben ermittelt, dass das von Privatleuten in einigen Ländern
Afrikas gehaltene Auslandsvermögen - ich könnte Ihnen
jetzt die einzelnen Zahlen nennen - deutlich größer als
die Gesamtverschuldung des jeweiligen Landes ist.
Meine Damen und Herren, wir müssen darauf hinweisen
dürfen, wie wichtig es ist, dass die Menschen in Afrika
Vertrauen in ihr eigenes Land haben und auch ihr eigenes Geld für dessen Entwicklung einsetzen.
({5})
Gestern Abend fand hier in Berlin eine eindrucksvolle
Veranstaltung mit John Kufuor, dem Ex-Präsidenten
Ghanas und der Afrikanischen Union, statt. Diese Veranstaltung war unter anderem deswegen eindrucksvoll,
weil der Kollege Fischer dort einen hervorragenden Beitrag geleistet hat,
({6})
vor allen Dingen aber, weil wir gemeinsam ein Gespräch
über die Frage geführt haben: Wie müssen wir soziale
Marktwirtschaft im internationalen Kontext heute neu
definieren? John Kufuor hat seine Erkenntnisse in folgendem Satz zusammengefasst: Afrika braucht Competence for Competition. - Ich finde das toll: Afrika
braucht Wettbewerbsfähigkeit, die es ermöglicht, aus der
Armut herauszukommen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das wäre dann auch nachhaltig.
John Kufuor hat beklagt, dass der innerafrikanische
Handel bisher leider nur 10 Prozent des Gesamthandels
der afrikanischen Länder ausmacht. Das ist ein Armutszeugnis, und das gilt es zu ändern.
Ich denke, wir sollten uns weniger mit dem kleinkarierten Aufrechnen irgendwelcher Zahlen beschäftigen,
wie es von der linken Seite dieses Hauses heute ständig
getan wurde.
Lasst uns gemeinsam helfen und gemeinsam dafür sorgen, dass John Kufuors Vision von Afrika Wirklichkeit
wird!
Danke sehr.
({7})
Bundesminister Niebel hat noch einmal ums Wort gebeten, wohl wissend, dass er damit die Debatte neu eröffnet.
({0})
Herr Präsident! Ihre Anmerkung ist vollkommen richtig. Da ich in meiner Funktion als Abgeordneter nicht zu
einer Kurzintervention zugelassen wurde, kann ich in
meiner Funktion als Bundesminister hier einige Unklarheiten ausräumen.
Der Abgeordnete Raabe hat Jürgen Koppelin, der leider wegen einer Veranstaltung eher gehen musste, in der
von ihm angesprochenen Debatte wissentlich der Lüge
bezichtigt, weil Jürgen Koppelin hier behauptet habe,
dass die ODA-Quote der Vorgängerregierung im letzten
Jahr 0,36 Prozent des Bruttonationaleinkommens betragen habe. Er hat das damit begründet, dass die Zahlen
noch nicht haben vorliegen können, weil der DAC Peer
Review noch nicht abschließend durchgeführt worden
sei.
Er weiß aus seiner Zeit als Mitglied einer Regierungspartei natürlich, dass man diese Daten im Wesentlichen
schon im Vorhinein, bevor sie offiziell abgestimmt sind,
hat. Er weiß darüber hinaus auch - deswegen hatte ich
mich zu der Kurzintervention gemeldet -, dass die neue
Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt irgendwelche
Mittel willentlich nicht hat abfließen lassen, um irgendwelche Quoten zu verändern, sondern dass eine Entschuldungsverhandlung - ich meine, es sei mit Liberia
gewesen; das lässt sich aber nachprüfen -, die nicht vom
Ministerium, sondern von der KfW Entwicklungsbank
geführt wurde, nicht abschlussfähig gewesen ist.
Er wollte mit dem Vorwurf, dass die Bundesregierung
willentlich Gelder nicht habe abfließen lassen, um sich
statistisch besser darzustellen, nichts anderes tun, als
vom Versagen der Vorgängerregierung abzulenken, die
eine ODA-Quote von 0,35 Prozent, also deutlich unter
allen vereinbarten Stufenplänen, die man hier immer wie
eine Monstranz vor sich herträgt, erreicht hat. Zudem
wollte er davon ablenken, dass die Quote der neuen Bundesregierung im Jahre 2010 aller Voraussicht nach zwar
auch unterhalb des Stufenplans, mit 0,4 Prozent aber immerhin deutlich höher sein würde.
Ich glaube, das macht in bezeichnender Art und
Weise deutlich, wie unsinnig es ist, sich über den Abfluss von irgendwelchen Summen zu unterhalten, und
wie richtig es ist, dass sich diese Bundesregierung auf
Effizienz, Wirksamkeit und wirkliche Hilfeleistung konzentriert.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Niebel, ich darf Sie an Ihre Zeit als Abgeordneter erinnern: Erstens ist es unüblich, dass ein
Präsident kritisiert wird. Zweitens ist es unüblich, dass
eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention zugelassen wird. Mit Kurzinterventionen soll auf Reden reagiert werden. Das ist unsere Praxis.
({0})
- Ja, aber er wollte auf die Kurzintervention des Kollegen - ({1})
- Moment! Ob zu Recht oder nicht, ist eine inhaltliche
Frage, die ich nicht zu bewerten habe. Wir haben Formalien und Regularien, an die ich mich halten muss.
Jetzt können wir die Sache vielleicht so verkürzen,
dass Kollege Raabe noch einmal möglichst kurz - zwei,
drei Minuten - darauf reagiert und wir dann zum Schluss
der heutigen Debatte kommen.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist natürlich immer ungünstig, wenn ein Kollege einem etwas
aus einer vorangegangenen Debatte vorwirft, der Kollege nicht mehr da ist und dann der Minister hier dazu
Stellung nimmt. Ich kann das alles aber noch sehr gut rekapitulieren. Ich habe damals in der Debatte gesagt
- und dabei bleibe ich -, dass Herr Koppelin zum damaligen Zeitpunkt noch nicht die Ergebnisse des Entwicklungsausschusses der OECD zu den ODA-Zahlen haben
konnte.
Herr Minister, Sie haben recht: Ich war Mitglied der
Regierungspartei, und wir sind fest davon ausgegangen,
dass die ODA-Quote im Jahre 2009 bei fast 0,4 Prozent
liegen würde, weil wir die Mittel im Gegensatz zu Ihnen
im Jahre 2009 noch einmal um 679 Millionen Euro, also
um 13,2 Prozent, gesteigert hatten. Wir hatten im Jahr
2009 eine Steigerung von 13,2 Prozent, fast 700 Millionen Euro mehr. Deswegen haben wir - zu Recht - gedacht, dass sich das auch in der ODA-Quote niederschlägt, Herr Minister. Dann aber haben Sie nach
Übernahme des Amtes im September in zwei wichtigen
Feldern die Verträge nicht mehr unterschrieben und die
Mittel, die dafür vorgesehen waren, nicht abfließen lassen. Das war zum einen der Klimaschutzfonds der Weltbank, zum anderen waren es die Infrastrukturfazilität der
Weltbank und auch einige Schuldenerlasse.
Herr Niebel, ich würde Ihnen gar nicht bei allen diesen Punkten Boshaftigkeit unterstellen oder dass Sie aus
reiner Absicht nicht mehr alles auf den Weg gebracht haben. Mich stört aber, dass Sie, obwohl wir die Mittel zur
Verfügung gestellt haben, um auf eine hohe ODA-Quote
zu kommen - Sie können es im Haushalt nachlesen; das
waren 680 Millionen Euro mehr -, und die Mittel dann
durch den Regierungswechsel nicht mehr abgeflossen
sind, uns vorwerfen, dass wir wenig Geld zur Verfügung
gestellt hätten und deshalb die ODA-Quote gesunken
sei.
({0})
Dann ist es nur richtig, darauf hinzuweisen, dass die Mittel, die wir 2009 eingestellt hatten und die Sie 2010 verausgabt haben, obwohl sie schon ein Jahr früher hätten
verausgabt werden sollen, natürlich die ODA-Quote für
2010 nach oben treiben.
({1})
Ich sage einmal: Dem einen oder anderen Mitglied im
Parlament nehme ich es nicht übel, wenn er diese zugegebenermaßen komplizierte Berechnung nicht versteht.
Aber der Kollege Koppelin weiß, wie es geht. Wenn ein
langjähriger Haushälter wie Herr Koppelin dann behauptet, wir hätten so wenig Geld zur Verfügung gestellt, dass
die ODA-Quote auf einmal auf 0,35 Prozent gesunken
sei - wie soll das gehen, wenn man den Haushalt um
680 Millionen Euro aufwachsen lässt? -,
({2})
dann muss ich der Klarheit halber ganz einfach sagen,
dass meine Aussagen und meine Kritik an Herrn
Koppelin richtig waren.
Ich halte fest: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir 2008
und 2009 den Haushalt immer um 13 oder 14 Prozent
gesteigert. Bei Ihnen wird er um 0 Prozent gesteigert.
Das macht nach Adam Riese: Wir haben mehr Geld für
Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben als Sie. Dabei
bleibt es.
({3})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen
nicht vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 16. September
2010, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
freundlichen Abend.