Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, während der Haushaltsberatungen ab dem
13. September 2010 keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Afghanistan und die Konferenz von Kabul Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist offenkundig nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Am 20. Juli findet die internationale Afghanistan-Konferenz in Kabul statt. Es
hätte sicherlich einfachere Orte auf der Welt für diese
Konferenz gegeben. Die Tatsache, dass diese Außenministerkonferenz in Kabul stattfindet, ist ein Signal.
Der Ort Kabul ist Ausdruck unseres festen Willens,
die vollständige Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu übergeben. Der Ort Kabul ist ebenso
Ausdruck des festen Wunsches der Afghanen, die Geschicke ihres Landes wieder in die eigenen Hände zu
nehmen.
Die Kabul-Konferenz ist die erste internationale
Afghanistan-Konferenz, die in Afghanistan selbst stattfindet. Das ist mehr als Symbolik; es zeigt, dass wir in
dem Prozess der Übergabe von Verantwortung in Verantwortung an die Afghanen eine neue Etappe erreicht haben.
({0})
Deutschland engagiert sich gemeinsam mit über 40
anderen Nationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen in Afghanistan, damit das Land nicht wieder zum
Rückzugsort für den internationalen Terrorismus wird.
Der deutsche Afghanistan-Einsatz ist gewiss nicht populär, aber er ist unverändert notwendig und in unserem eigenen Interesse. Unsere Landsleute tun in Afghanistan
ihren Dienst, damit wir hier sicher leben können. Dafür
wollen wir ihnen auch danken.
({1})
Auf der Konferenz in London Anfang des Jahres haben die afghanische Regierung auf der einen und die internationale Staatengemeinschaft auf der anderen Seite
eine gegenseitige Verpflichtung geschlossen. Die afghanische Regierung hat sich auf die Ziele bessere Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Reduzierung des Drogenanbaus verpflichtet.
Im Gegenzug hat die internationale Gemeinschaft zugesagt, ihre Anstrengungen zu erhöhen, damit die Afghanen diese Ziele erreichen können.
Die internationale Gemeinschaft hat ihre Zusagen erfüllt. Die Bundesregierung hat ihr Afghanistan-Konzept
durch eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
vor diesem Hohen Hause im Januar vorgelegt und dessen Umsetzung auf den Weg gebracht. Ich danke dem
Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Dirk Niebel, dafür, dass es gelungen ist,
Deutschlands zivile Hilfe für die Menschen in Afghanistan beinahe zu verdoppeln.
Ebenso fast verdoppeln konnten wir seit Jahresbeginn
die Zahl unserer Polizeiausbilder vor Ort. Deswegen
Redetext
danke ich ausdrücklich dem Bundesinnenminister
Thomas de Maizière und den Bundesländern für diesen
wichtigen Beitrag.
({2})
Dem Bundesverteidigungsminister, Karl-Theodor zu
Guttenberg, danke ich für die kollegiale Zusammenarbeit
({3})
bei der Neufassung des deutschen ISAF-Mandates gemäß unseren internationalen Verabredungen. Gemeinsam haben wir den deutschen Schwerpunkt, nämlich die
Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, weiter verstärkt.
({4})
Neben Umschichtungen im Mandat können wir heute
500 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan entsenden,
um die Ausbildung der Sicherheitskräfte vor Ort zu verbessern und zu beschleunigen.
Das Kabinett hat in dieser Woche einen ehrgeizigen
Sparhaushalt beschlossen. An unserem Engagement in
Afghanistan wird aber nicht gespart, weil wir den Erfolg
wollen und unsere Verantwortung kennen. Deutschland
hält seine Zusagen.
({5})
Manches haben wir seit London erreicht. Wir haben
neue Trainingszentren für die Polizei gebaut und in diesem Jahr schon fast 2 000 afghanische Polizisten ausund fortgebildet. Wir haben in Kunduz und Dakar begonnen, die Provinzkrankenhäuser wieder aufzubauen.
Wir unterstützen mobile Gesundheitsteams im Norden,
die Gesundheitsversorgung zu den Menschen bringen
sollen. Etwa 2,6 Millionen Menschen wollen wir so mit
Gesundheitsversorgung erreichen. In der Provinz Balkh
haben wir Schulplätze für 3 000 Jungen und Mädchen
neu geschaffen. In unserem neuen Ausbildungszentrum
für Lehrkräfte in Masar-i-Scharif werden im Norden
Afghanistans mittlerweile mehr als 6 000 angehende
Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet.
Das alles wurde im vergangenen halben Jahr erreicht.
Ich denke, das ist eine gute, wenn auch noch nicht zureichende Zwischenbilanz.
({6})
Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört es nämlich auch, Rückschläge nicht zu übersehen und die Grenzen unserer Möglichkeiten zu erkennen. Wir wissen um
den Drogenanbau, der in Afghanistan weiter betrieben
wird. Wir wissen um die Korruption im Land und sind
beunruhigt über Berichte, nach denen Hilfsgelder außer
Landes geschafft werden.
({7})
Und wir wissen um die angespannte Sicherheitslage.
Es ist nicht alles gut in Afghanistan. Wer glaubt, wir
könnten am Hindukusch europäische Verhältnisse schaffen, der irrt aber. Unser Ziel muss ein Zustand in Afghanistan sein, der gut genug ist. Gut genug heißt, dass die
Afghanen selbst in der Lage sind, in ihrem Land für hinreichende Stabilität zu sorgen. Gut genug heißt, dass die
Fortschritte im Bereich der Menschenrechte, die wir seit
dem Fall der Taliban-Herrschaft erreicht haben, gesichert bleiben. Ohne Menschenrechte, ohne das Recht
von Frauen und Mädchen auf Bildung, auf Bewegungsfreiheit, auf Teilhabe am Leben kann es eine nachhaltige
Stabilisierung des Landes nicht geben.
({8})
Es gibt Licht und Schatten in Afghanistan. Viele von
Ihnen - aus allen Fraktionen - haben vor Ort Gespräche
geführt und sich persönlich ein Bild der Lage gemacht.
Sie wissen, wie gefährlich der Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan ist. Allein im Juni
sind in Afghanistan über 100 ISAF-Soldaten ums Leben
gekommen. Wir trauern um sieben deutsche Soldaten,
die im vergangenen halben Jahr bei Angriffen der Taliban ihr Leben verloren haben.
Wir denken an diejenigen, die im Einsatz Verletzungen erlitten haben, sichtbare und unsichtbare. Wir sind
bei den Familien, die um einen Angehörigen trauern
oder die sich um einen geliebten Menschen sorgen, weil
sie um die täglichen Gefahren dieses Einsatzes wissen.
Allen, die in Afghanistan in Uniform oder Zivil ihren
Dienst tun, allen, die in den PRTs, in der Botschaft oder
in einem der vielen Entwicklungsprojekte ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren, spreche ich unseren
größten Respekt und unseren tiefsten Dank aus. Wir
schätzen ihre Arbeit, wir brauchen ihren Einsatz, und wir
wollen ihren Erfolg.
({9})
Deutschland leistet viel in Afghanistan. In Diskussionen reduzieren manche unser Engagement auf die militärische Komponente, andere auf den zivilen Teil. Wir
werden Afghanistan nicht stabilisieren, indem wir allein
militärisch vorgehen. Wir werden Afghanistan auch
nicht allein dadurch stabilisieren, dass wir Schulen
bauen, Straßen teeren und Polizisten ausbilden. Beides
ist notwendig und Teil unseres Ansatzes der vernetzten
Sicherheit. Beides zusammengenommen reicht aber
noch nicht aus. Es muss ein drittes Element dazukommen. Eine dauerhafte, selbsttragende Stabilisierung
Afghanistans kann nur durch einen politischen Prozess
gelingen, der die Interessen der verschiedenen Ethnien
und gesellschaftlichen Gruppen in Afghanistan ausbalanciert.
Auch dazu haben wir mit unseren Verbündeten in
London Anfang des Jahres bereits den ersten Schritt getan, indem wir ein Reintegrationsprogramm für ausstiegswillige Mitläufer der Taliban beschlossen haben.
Ein zweiter Schritt war die Friedensjirga, die gerade
Anfang Juni in Kabul stattfand. Dort trafen sich
1 600 Delegierte; über 20 Prozent davon waren übrigens
Frauen. Es fanden dort sehr offene, teilweise emotional
geführte Diskussionen statt. Teilnehmer berichteten von
der Zusammenkunft, dass sich konservative Mullahs und
Frauenvertreterinnen gegenübergesessen und sich zunächst geweigert hätten, sich gegenseitig ins Gesicht zu
schauen. Tadschikische und paschtunische Vertreter hätten einen ganzen Tag lang gestritten, ob man Paschtu
oder Dari miteinander sprechen soll. Am dritten Tag
aber hat diese Friedensjirga ein Abschlussdokument veröffentlicht - ohne Gegenstimme. Einstimmig haben sich
die 1 600 Delegierten für den Einsatz der internationalen
Staatengemeinschaft in ihrem Land ausgesprochen. Sie
haben ihren Präsidenten aufgefordert, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Sie haben außerdem klargestellt,
dass Versöhnung nur mit denen möglich ist, die der Gewalt abschwören, die ihre Verbindung zum internationalen Terrorismus kappen und die die afghanische Verfassung und die damit eingegangenen Verpflichtungen zur
Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards respektieren. Das alles zeigt, dass Afghanistan eine afghanische Lösung braucht. Das sage ich auch mit Blick auf
die Parlamentswahlen am 18. September. Der politische Prozess muss ein afghanisch geführter Prozess sein,
damit er erfolgreich sein kann. Nur die afghanische Regierung selbst kann Frieden mit denen schließen, die sie
bekämpfen.
({10})
Unsere Aufgabe ist es, zum einen diesen Prozess zu
unterstützen, zum anderen ist es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, die Nachbarländer Afghanistans in diesen Prozess einzubinden. Ziel ist es, die Nachbarländer Afghanistans dazu zu bringen, den
innerafghanischen Friedensprozess zu unterstützen.
({11})
Die regionale Einbettung innerafghanischer Ergebnisse
wird helfen, Erreichtes auch zu sichern. Auch dazu wird
die Kabul-Konferenz einen Beitrag leisten.
Diese Kabul-Konferenz wird keine weitere Geberkonferenz, auf der die internationale Staatengemeinschaft neue Zusagen macht. In Kabul wird die afghanische Regierung ihrerseits Rechenschaft darüber ablegen,
wie es um die Erfüllung ihrer Verpflichtungen steht und
welche konkreten Schritte sie in den nächsten Wochen
und Monaten plant. Das ist zuallererst im Sinne der
Afghanen selbst, die von sich aus dieser Konferenz das
Leitmotiv der Wiederherstellung der vollen Souveränität
ihres Landes gegeben haben.
Ein zentrales Thema werden Reintegration und Versöhnung sein. Im Grundsatz haben wir in London ein
Programm beschlossen, mit dem Taliban-Kämpfer in die
Gesellschaft zurückgeholt werden sollen. Dieses Programm werden wir jetzt in Kabul genau beraten, und
dann werden wir eine Entscheidung über die Freigabe
der Mittel treffen, die Deutschland dafür in Aussicht gestellt hat.
Wir erwarten aber noch weitere Antworten der Afghanen auf der Konferenz. Die afghanische Regierung
wird konkrete Pläne vorstellen, wie ihre Regierungsfähigkeit verbessert und die Korruption eingedämmt werden sollen. Besonderes Augenmerk werden wir dabei
auf die Regierungsführung in den Provinzen, Distrikten und Dörfern legen. Hier trifft der afghanische Staatsbürger auf seinen Staat. Hier bildet er sich eine Meinung
über seine Regierung und auch deren Legitimität. Derzeit sind hier die Defizite aber noch größer als in der
Hauptstadt Kabul. Da muss mehr geschehen. Das ist die
Bedingung dafür, dass mehr Verantwortung auf afghanische Institutionen übergehen kann.
Wir werden in Kabul gemeinsam mit der NATO und
der afghanischen Regierung einen Plan verabschieden,
in dem wir konkrete Bedingungen dafür festlegen, in
welchen Provinzen im nächsten Jahr die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben werden kann. Wir wollen im Jahre 2011, also im
nächsten Jahr, drei, vielleicht sogar vier Provinzen die
Sicherheitsverantwortung übergeben. Es soll mindestens
eine dabei sein, die in unserem Verantwortungsbereich
im Norden liegt. Schon im November soll dazu auf dem
NATO-Gipfel in Lissabon eine Grundsatzentscheidung
getroffen werden.
Das heißt nicht, dass mit sofortiger Wirkung die Bundeswehrpräsenz dort ihre Bedeutung verliert und wir
dort keine Soldatinnen und Soldaten mehr bräuchten.
Auch unsere zivile Wiederaufbauhilfe ist langfristig angelegt. Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung
Wiederherstellung afghanischer Souveränität, und es ist
natürlich eine zentrale Bedingung für den Beginn eines
Truppenabzuges. Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode die Voraussetzung dafür schaffen, dass mit der
schrittweisen Rückführung unserer militärischen Präsenz in Afghanistan begonnen werden kann.
({12})
Dieses Ziel verfolgen wir entschlossen und beharrlich
und in enger Abstimmung mit unseren Verbündeten. Gemeinsam mit seinen Verbündeten hat Deutschland in Afghanistan Verantwortung übernommen. Deutschland wird
sich dieser Verantwortung einseitig eben nicht entziehen.
Die Entscheidungen über das deutsche Engagement in
Afghanistan gehören - Sie wissen das alle, liebe Kolleginnen und Kollegen - zu den schwierigsten Entscheidungen, die dieses Parlament zu treffen hat.
Die Bundesregierung wird daher dafür sorgen, dass
Sie über alle Fraktionsgrenzen hinweg nicht nur über unser Engagement in Afghanistan kontinuierlich und transparent unterrichtet, sondern auch an dessen Gestaltung
beteiligt werden. So war es deshalb für mich eine parlamentarische Selbstverständlichkeit und auch ein persönliches Anliegen, Sie über die internationale AfghanistanKonferenz am 20. Juli in Kabul vorab zu informieren.
Ich glaube, dass wir dort eine entscheidende Wegmarke
setzen können, weil diese Afghanistan-Konferenz zum
ersten Mal in Afghanistan stattfindet. Wir wollen gemeinsam für den Erfolg unserer Mission arbeiten.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich das Wort dem Kollegen Dr. Gernot Erler von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, Sie haben versucht, hier eine positive Zwischenbilanz nach sechs Monaten der neuen Strategie vorzutragen, und uns Ihre hohen Erwartungen an
die bevorstehende Konferenz in Kabul geschildert. Ich
muss ehrlich sagen: Bei diesem Bericht habe ich mich
öfter fragen müssen, über welches Land und welche Situation Sie eigentlich reden.
({0})
Nach meiner Einschätzung werden Sie im Zuge der
Debatte hier erfahren, dass die Sorgen und die konkreten
Fragen, die die Mitglieder des Hauses haben, sich deutlich von den Darstellungen unterscheiden, die Sie hier
abgegeben haben.
Was ist denn die Lage vor Ort? Wir haben am 26. Februar 2010 im Deutschen Bundestag eine Fortsetzung des
deutschen Engagements in Afghanistan beschlossen, und
zwar auf der Grundlage einer neuen Strategie, die im Januar dieses Jahres in London beschlossen worden ist. Ich
will noch einmal daran erinnern, welche Punkte dabei die
entscheidenden waren.
Es war die Konzentration auf die Ausbildung von
Soldaten und Polizisten, damit sich Afghanistan so
schnell wie möglich selber gegen die Aufständischen
verteidigen kann.
Es war die Erstellung eines Stufenplans zum Abzug,
der im nächsten Jahr beginnen soll, das aufgreifend, was
Präsident Karzai selber gesagt hat, nämlich dass dieses
Land möglichst bis 2014 vollkommen in afghanische
Verantwortung übergehen soll.
Es war eine Verdopplung der zivilen Anstrengungen,
um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu
stärken.
Es war eine Verbesserung der Regierungsführung in
Kabul, damit die Zustimmung der Bevölkerung gegenüber der eigenen Gesellschaft wächst. Die Kabuler Konferenz, die jetzt bevorsteht, sollte dazu eigentlich schon
im April dieses Jahres konkrete Festlegungen, auch auf
Zwischenschritte, erreichen.
Es war schließlich die verstärkte Unterstützung des
Versöhnungs- und Integrationsprozesses, für den auch
erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Ursprünglich sollte schon im Mai dieses Jahres die Friedensjirga weitere Beiträge leisten.
Diese neue Strategie wurde bereits in großer Sorge
verabschiedet: in Sorge über die wachsende Zahl sogenannter sicherheitsrelevanter Vorfälle, über die zeitliche
Unabsehbarkeit des Afghanistan-Einsatzes, über das anhaltende Misstrauen der afghanischen Bevölkerung gegenüber der eigenen Regierung oder, anders ausgedrückt, über den mangelnden Erfolg der Bemühungen
von 44 Staaten, die in Afghanistan an dieser Mission
teilnehmen.
Herr Minister, heute, ein halbes Jahr später, müssen
wir feststellen, dass diese neue Strategie noch keine
nachhaltige Verbesserung der Lage gebracht hat.
({1})
Unsere Sorgen sind eher gewachsen, und unsere Geduld
wird wirklich auf eine harte Probe gestellt. Lassen Sie
mich dafür nur drei Anlässe aufzeigen.
Erster Anlass: Obwohl jetzt 150 000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft im Einsatz sind, hat sich die
Zahl der Anschläge weiter erhöht. Der Juni 2010 war
mit 102 gefallenen Soldaten der internationalen Streitkräfte der bisher blutigste und verlustreichste Monat in
der gesamten Geschichte des Afghanistan-Einsatzes.
Wichtige Verbündete - darauf sind Sie überhaupt nicht
eingegangen, Herr Außenminister - wie Kanada, die
Niederlande und Polen werden ihre Truppen komplett abziehen. Großbritannien hat angekündigt, die eigenen Soldaten aus einem besonders umkämpften Gebiet zurückzuziehen.
Zweiter Anlass: Die Aufstandsbekämpfung nach neuem
Muster begann mit der Operation „Muschtarak“ im Februar und führte zur Eroberung eines Ortes namens Mardscha. Danach sollte eine groß angelegte Offensive zur
Rückeroberung Kandahars stattfinden. Sie ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Dritter Anlass: Für das so wichtige Ziel, die Arbeit
der Kabuler Regierung qualitativ zu verbessern und so
das Vertrauen zwischen Bevölkerung und Regierung zu
stärken, sollten auf der Kabuler Konferenz konkrete
Ziele und Zwischenschritte vereinbart werden. Erst
sollte diese Konferenz im April 2010 durchgeführt werden. Die Regierungsbildung hat sich aber verzögert;
noch heute sind fünf Ministerien nicht besetzt. Jetzt soll
sie am 20. Juli dieses Jahres stattfinden.
Genau in diese Vorbereitungsphase fallen Berichte
in den Medien, nach denen kofferweise Geld aus Afghanistan nach Dubai geschafft wird, offenbar auch Geld
aus Hilfs- und Wiederaufbauprojekten. - Das ist der augenblickliche Stand der Vorbereitungen für die Kabuler
Konferenz.
Wir sind praktisch in der Mitte des laufenden Mandates. Hier wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, eine
kritische Zwischenbilanz zu ziehen.
Da taucht eine ganze Reihe von Fragen auf, Herr
Minister, zum Beispiel was die Kabuler Konferenz und
deren Vorbereitung angeht. Die Vorbereitung ist das Entscheidende, wenn man weiß, dass auf dieser Konferenz
eine ganze Reihe von Keynote Speakers auftreten wird
und 76 Delegationen gern zu Wort kommen wollen und das alles an einem Tag. Man muss feststellen, dass
die internationale Gemeinschaft verbindliche Benchmarks, also konkrete Zwischenziele, für diese Konferenz
will, dass die Afghanen aber ganz offensichtlich vor allem sogenannte Bankable Programs vorbereitet haben,
also finanzierungsreife Projekte, die sie den internationalen Partnern vorstellen wollen und für die sie gern Finanzierungszusagen haben wollen. Herr Minister, wie
wollen Sie diesen Widerspruch, diesen Gegensatz in den
Erwartungen eigentlich beantworten? Wie haben Sie
sich auf diese Situation vorbereitet?
Schließlich: Wie sieht es mit der Übergabe in Verantwortung aus? Sie haben vorhin gesagt: eine von neun
Provinzen. Die Frage ist: Wie viele von den 124 Distrikten im Norden sollen übergeben werden? Wenn jetzt
auf dieser Konferenz nicht klar wird, wie die Vorbereitungen dafür aussehen, wann sonst soll das dann eigentlich passieren?
Schließlich ist die Frage: Wie stehen Sie zu der Forderung der afghanischen Zivilgesellschaft, dass die Ergebnisse der Friedensjirga vom 2. bis 4. Juni Tagesordnungspunkt in Kabul werden sollen? Auch dazu
haben Sie überhaupt nichts gesagt. Wie soll das bei dem
vorbereiteten Ablauf dieser Konferenz eigentlich passieren?
All diese Fragen im Kontext der fälligen Zwischenbilanz zeigen, wie wichtig es ist, sich ständig und kritisch
mit der tatsächlichen Umsetzung der neuen Strategie zu
beschäftigen. SPD und Grüne haben hierzu am 9. Juni
einen detaillierten Antrag eingebracht. Wir halten es für
notwendig, in den Evaluierungsprozess von vornherein
die reichlich vorhandene wissenschaftliche Expertise zu
Afghanistan und auch die Erfahrungen von Nichtregierungsorganisationen, die uns außerordentlich wichtig
sind, einzubeziehen. Ziel ist dabei, belastbare Grundlagen für die Bewertung der neuen Strategie zu erreichen.
Das brauchen wir für die nächste Entscheidung, die gegen Ende des Jahres vorbereitet werden muss.
({2})
Aber wir brauchen die Evaluierung auch, weil wir die
Chance haben müssen, nachzusteuern und zu korrigieren. Wir können es uns nicht mehr erlauben, nach einem
Jahr erneut zu hören, warum vieles von dem, was beschlossen worden ist, wieder nicht geklappt hat. Es muss
möglich sein, dass wir hier vom Parlament aus auf der
Basis einer solchen Evaluierung vorher dazwischengehen.
({3})
Bei unseren Gesprächen in den vergangenen Tagen
haben wir gehofft, Herr Kollege Schockenhoff, dass wir
zu einer Verständigung kommen. Ich bin sehr traurig darüber, dass das bisher nicht gelungen ist. Es ist nicht gelungen, weil Sie nicht wollen, dass die Expertise bei dem
Prozess ständig beteiligt wird.
Wenn wir und wenn Sie daran interessiert sind, dass
das, was es an parteiübergreifendem Konsens in Sachen
Afghanistan gibt, auch in Zukunft noch eine Chance hat,
sollten wir in den nächsten Tagen noch einen Versuch
unternehmen - das schlage ich vor, und ich meine das
sehr ernst -, hier zu einer Verständigung zu kommen.
Für uns wird das nicht gehen ohne die ständige Beteiligung von Expertise, von unabhängiger wissenschaftlicher Kenntnis, an der Evaluierung.
({4})
Vielleicht ist es möglich, auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden einen weiteren Versuch zu unternehmen;
wir jedenfalls sind dazu bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Anfang des Jahres in London eingeleiteten Strategiewechsel für das Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan haben wir die Grundlagen für
eine Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und
Soldaten geschaffen. Die bevorstehende Konferenz in
Kabul ist der nächste wichtige Schritt auf dem Wege der
Übergabe in Verantwortung in Afghanistan.
Die internationale Gemeinschaft hatte sich in London
verpflichtet, die zivile Hilfe zu verstärken und den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu beschleunigen.
Deutschland verdoppelt fast seine Entwicklungshilfe in
Afghanistan und intensiviert die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte in unserem Verantwortungsbereich im Norden des Landes, um schon im nächsten Jahr
unsere militärische Präsenz zurückführen zu können. Die
CDU/CSU unterstützt diese Neuausrichtung unseres Gesamtansatzes für Afghanistan, weil damit die Voraussetzungen für eine Übergabe der Verantwortung in afghanische Hände geschaffen werden.
Eine nachhaltige Stabilisierung Afghanistans kann
nur gelingen, wenn es auch eine politische Lösung für
das Land gibt. Deshalb ist die afghanische Eigenverantwortung so wichtig. Unser verstärktes Engagement kann
nur erfolgreich sein, wenn wir in der afghanischen Regierung einen Partner bei der Umsetzung der Londoner
Strategie haben. Die Kabuler Konferenz ist für die
afghanische Regierung eine gute Gelegenheit, dies unter
Beweis zu stellen.
Worum geht es im Einzelnen? In Kabul soll das in
London entworfene Übergabekonzept der internationalen Gemeinschaft gemeinsam mit der afghanischen Regierung finalisiert und mit konkreten Zielen und Fristen
versehen werden. Konsequenter und nachhaltiger als
bisher muss eine verantwortungsvolle Regierungsführung umgesetzt werden. Nur so kann das Vertrauen der
afghanischen Bevölkerung in ihre Regierung gestärkt
werden. Es ist erfreulich, dass von der afghanischen Regierung hier ein ambitioniertes Programm aufgesetzt
wurde. Jetzt kommt es auf die Taten an. Eine gleichzeitige Umsetzung aller Maßnahmen nach der Konferenz
ist dabei gar nicht möglich. Vielmehr ist eine Priorisierung und Sequenzierung wichtig. Entscheidend aber ist:
Die Fortschritte müssen für die Menschen in Afghanistan sichtbar sein.
Mit Bezug auf aktuelle, beunruhigende Presseberichte
über die Veruntreuung internationaler Hilfsgelder gilt:
Insbesondere müssen bei der Korruptionsbekämpfung
spürbare Verbesserungen erzielt werden.
({0})
In diesem Zusammenhang ist es richtig, dass die Bundesregierung keine unkonditionierte Budgethilfe an die
afghanische Regierung zahlt, deren Verwendung kaum
kontrollierbar wäre. Es ist besser, konkrete Projekte mit
Kabul zu vereinbaren und deren Finanzierung dann sicherzustellen.
Es ist klar: Voraussetzung für Umsetzbarkeit und
Nachhaltigkeit der in Kabul zu konkretisierenden Entwicklungspläne der afghanischen Regierung für den
Wiederaufbau sind eine bessere Regierungsführung und
Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung. Für die CDU/
CSU steht fest: Die Verdoppelung unserer Entwicklungshilfe ist zwingend an messbare Erfolge in diesem
Bereich gekoppelt.
Die Kabuler Konferenz wird die Kernpunkte des
afghanischen Reintegrationsprogramms und die Ergebnisse der Friedensjirga vom Juni dieses Jahres, also Vorschläge von Vertretern aus ganz Afghanistan, aufgreifen.
Beim deutschen Anteil am Fonds für das Reintegrationsprogramm der afghanischen Regierung ist auf einen transparenten, wirksamen und nachhaltigen Einsatz
dieser Mittel zu achten. Es muss sichergestellt sein, dass
keine finanziellen Vorableistungen erbracht werden, sondern nur bezahlte Arbeit und bezahlte Ausbildung mit
den Geldern ermöglicht werden.
({1})
Schließlich soll zwischen der afghanischen Regierung, der ISAF und der internationalen Gemeinschaft ein
verbindliches Konzept zur Vorbereitung der Übergabe
der Verantwortung an die Afghanen abgestimmt werden.
Dabei ist es wichtig, dass Provinzen nicht nur im Bereich Sicherheit, sondern auch in Bezug auf Regierungsführung und zivile Entwicklung übergabereif sind.
Es wird deutlich: Die Konferenz von Kabul unterstreicht die Bedeutung des politischen Prozesses. Von
dem Treffen wird ein Signal für eine konkrete Verantwortungsübernahme durch die afghanische Regierung
ausgehen. Noch wichtiger aber ist, dass die Beschlüsse
in den kommenden Monaten auch entsprechend umgesetzt werden. Um hier schnelle und sichtbare Ergebnisse
zu erzielen, wären 100-Tage-Programme ein gutes und
in Afghanistan sichtbares Instrument.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Engagement
in Afghanistan ist mit dem Ziel einer schrittweisen Übergabe in Verantwortung in eine neue entscheidende Phase
gekommen. Für die CDU/CSU ist eine schrittweise Reduzierung der militärischen Präsenz ab 2011 zwingend
an Fortschritte beim zivilen Aufbau und den Aufwuchs
der afghanischen Sicherheitskräfte gekoppelt und nicht
an willkürliche Abzugsdaten. Es geht um Wegmarken,
bei deren Erreichen ein Reduzierungsschritt erfolgen
kann. Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir für die
Begleitung und Bewertung der Umsetzung der neuen
Strategie der Bundesregierung ressortübergreifende
Benchmarks entlang der von der Kabuler Konferenz definierten Zielvorgaben vorgelegt bekommen. Zudem
wollen wir, dass die Bundesregierung im Sommer 2011
- 18 Monate nach den Beschlüssen von London - eine
Evaluation des laufenden Mandats vorlegt. Dafür könnte
es sinnvoll sein, externe Expertise hinzuzuziehen.
Herr Schockenhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
({0})
Gerne.
Herr Ströbele, bitte.
Herr Kollege, ebenso wie der Außenminister sprechen Sie über dieses Thema, als ginge es um möglichst
effektive Hilfe für ein Entwicklungsland. Aber die deutsche Bevölkerung ist doch nicht wegen der Entwicklungsprojekte, die dort durchgeführt und einmal besser,
einmal schlechter gemanagt werden, gegen die Afghanistan-Politik der Bundesregierung und dieses Parlaments. Vielmehr ist die deutsche Bevölkerung gegen
diese Politik, weil Krieg geführt wird. Weder Sie noch
der Außenminister reden von Krieg.
Sagen Sie doch einmal: Welche Art von Krieg halten
Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten
Sie für richtig? Welche Einsätze der Bundeswehr halten
Sie für problematisch? Halten Sie es zum Beispiel für
problematisch, dass - wie die Bundesregierung jetzt zugegeben hat - auch Deutschland für die Liste von Zielpersonen, die bei der Festnahme umgebracht werden,
ist? Halten Sie es für problematisch, dass Deutschland
eine solche Art von Kriegsführung mitmacht? Halten Sie
es für richtig, dass Deutschland mit den USA und anderen NATO-Verbündeten Großoffensiven startet, bei
denen Hunderte von Menschen umkommen, nicht nur
Alliierte, sondern auch Afghanen, und zwar meist fünfoder zehnmal so viele Afghanen wie Alliierte?
Reden Sie endlich zum eigentlichen Thema! Das erwartet die deutsche Bevölkerung von Ihnen. Sie erwartet
nicht, dass Sie darüber reden, wie man Entwicklungshilfe besser machen kann.
({0})
Herr Kollege Ströbele, ich rede zu der Regierungserklärung unseres Außenministers, die der Ältestenrat
für heute auf die Tagesordnung des Hohen Hauses gesetzt hat. Darin geht es um eine Abzugsperspektive und
um eine Konkretisierung der Beschlüsse von London.
Die Aufbauschritte müssen festgelegt und messbare Daten entwickelt werden.
Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie
bei jeder Gelegenheit, egal was auf der Tagesordnung
steht, immer wieder die gleichen Sprüche ablassen.
({0})
Wir wollen Erfolge in Afghanistan haben, für die Sicherheit unserer Bevölkerung und für eine konkrete Abzugsperspektive. Ihre Sprüche werden dadurch, dass Sie sie
immer wiederholen, nicht besser, und sie dienen auch
nicht der Bevölkerung.
({1})
- Sie können sich setzen. Ich habe Ihre Frage beantwortet.
({2})
CDU/CSU und FDP haben den Oppositionsfraktionen ein gemeinsames Vorgehen hinsichtlich der parlamentarischen Begleitung des Afghanistan-Einsatzes angeboten.
({3})
Herr Erler, dabei ist meines Erachtens deutlich geworden, dass wir inhaltlich gleiche Vorstellungen haben. Wir
wollen gemeinsam die Umsetzung der neuen Strategie
auf Grundlage der von uns eingeforderten intensivierten
Berichterstattung und Unterrichtung durch die Bundesregierung einer kontinuierlichen parlamentarischen Bewertung unterwerfen. Uns unterscheidet aber, Herr Kollege Erler und Herr Kollege Schmidt, dass wir diese
Aufgabe nicht an externe, etwa wissenschaftliche Experten abgeben wollen.
({4})
Damit würden wir Abgeordnete - wir haben den Einsatz
in Afghanistan mandatiert - der Verpflichtung gegenüber unserer Bevölkerung und den Soldatinnen und Soldaten nicht entsprechen.
Wir müssen feststellen, dass SPD und Grüne diese
Auffassung nicht teilen und zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht bereit sind.
({5})
Ich wiederhole: Selbstverständlich wollen wir Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler und alle möglichen Experten anhören,
({6})
um uns eine Meinung bilden zu können. Entscheidend
für die CDU/CSU ist aber, dass wir Parlamentarier und
niemand sonst die politische Verantwortung für den Einsatz in Afghanistan haben
({7})
und dieser Verantwortung weiterhin gerecht werden
müssen. Auch hier müssen wir feststellen, dass SPD und
Grüne diese Auffassung nicht teilen und zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht bereit sind.
({8})
Diese Verantwortung wurde uns von den Wählerinnen und Wählern übertragen, und wir können sie nicht
abgeben. Deswegen werden wir als Parlamentarier diesen Einsatz begleiten. Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden.
({9})
Das Wort hat der Kollege Jan van Aken von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, ich bin richtig erschrocken darüber, was
Sie in nur neun Monaten aus dem Außenministerium gemacht haben.
({0})
Vorgestern haben Sie auch für Ihr Ministerium Kürzungen beschlossen. Natürlich haben Sie nicht querbeet
gleichmäßig gestrichen, sondern Sie haben ganz gezielt
die Axt angelegt. Das ist grundsätzlich in Ordnung; aber
wenn ich mir anschaue, wo Sie die Axt angelegt haben,
dann kommt mir das kalte Grausen. Sie haben genau da
gekürzt, wo es um Frieden und Völkerverständigung
geht, und das ganz kräftig. Ausgerechnet bei der Abrüstung wollen Sie 19 Millionen Euro einsparen. Sie haben
hier vor einem halben Jahr gesagt - ich zitiere -:
Nach dem Jahrzehnt der Aufrüstung brauchen wir
jetzt ein Jahrzehnt der Abrüstung …
({1})
Das sind Ihre Worte. Das Jahrzehnt der Abrüstung leiten
Sie damit ein, die Abrüstung kräftig, um 19 Millionen
Euro, zu kürzen. Das müssen Sie mir einmal erklären.
({2})
Es kommt aber noch dicker: 67 Millionen Euro sparen Sie bei der humanitären Hilfe und bei der Vorbeugung von Konflikten. Ich habe tatsächlich den Eindruck,
dass Sie bei der zivilen Konfliktbearbeitung sparen wollen, um die Konflikte hinterher militärisch zu lösen. Genau das machen Sie in Afghanistan. Dort setzen Sie völlig einseitig auf Waffen und Soldaten.
({3})
Aber ich sehe nichts, was Sie für eine Friedenslösung
tun. Sie haben hier von einer „Übergabe in Verantwortung“ gesprochen. Ich frage mich die ganze Zeit: Was
wollen Sie eigentlich übergeben? Einen Krieg oder einen
Frieden? Der einzige Schlüssel zum Frieden sind doch
Verhandlungen und nichts als Verhandlungen. Jeder
Krieg in der Geschichte ist entweder durch eine bedingungslose Kapitulation oder durch Verhandlungen beendet worden. Selbst die größten Träumer in Ihren Referaten können doch nicht ernsthaft glauben, dass die
Aufständischen in Afghanistan jetzt die Waffen niederlegen und kapitulieren. Das Gegenteil ist doch der Fall.
Die Sicherheitslage ist so desolat wie nie zuvor. Die Anzahl der Toten war im letzten Monat so hoch wie nie seit
Beginn des Einsatzes. Das Einzige, was uns bleibt, sind
Friedensverhandlungen.
({4})
Dafür muss man aber auch etwas tun. Sie haben hier
gerade die Friedensjirga erwähnt. Das Hochnotpeinliche an Ihrem Beitrag ist, dass Sie das entscheidende Ergebnis der Friedensjirga hier verschwiegen haben. Denn
die Friedensjirga hat ganz klare Forderungen an Sie,
Herr Westerwelle, und an alle internationalen Truppensteller formuliert, und zwar mit dem Ziel, die Friedensverhandlungen zu ermöglichen. Ich zähle die Forderungen einmal auf: Erstens fordert die Friedensjirga
von Ihnen, alle Gefangenen freizulassen, die ohne Anklage festgehalten werden. Zweitens fordert sie, endlich
die Namen von Aufständischen von der internationalen
schwarzen Liste zu streichen. Drittens fordert sie eine
Sicherheitsgarantie für all diejenigen, die an den Friedensverhandlungen teilnehmen wollen. Das macht auch
Sinn. Sie können doch nicht erwarten, dass irgendein
Warlord oder Taliban-Führer an Verhandlungen teilnimmt, wenn er befürchten muss, gleich erschossen zu
werden!
Das sind keine Forderungen der Linken, sondern sie
kommen direkt aus Afghanistan. Da wird es brenzlig.
Sind Sie jetzt als Unterstützer der afghanischen Regierung in Afghanistan oder nicht? Führen Sie eigentlich einen Krieg mit den Afghanen oder gegen die Afghanen?
Es ist völlig egal, was man von der Regierung Karzai
hält. Sie wissen, dass ich von der Korruption gar nichts
halte und die Beteiligung von Kriegsverbrechern an der
Karzai-Regierung unerträglich finde. Aber dieser Bundestag hat ein Mandat beschlossen, das zentral darauf
beruht, die afghanische Regierung zu unterstützen. Deshalb frage ich Sie jetzt, Herr Westerwelle - das sind
keine rhetorischen Fragen; ich will wirklich eine Antwort von Ihnen haben; ich höre auch früher auf, dann
können Sie etwas von meiner Zeit für Ihre Antwort nehmen -:
({5})
Sind Sie bereit, die Forderungen der afghanischen Regierung und der Friedensjirga zu erfüllen, ja oder nein?
Setzen Sie sich konkret dafür ein, dass die Namen von
Aufständischen von der UN-Liste gestrichen werden?
Was tun Sie dafür, dass es freies Geleit für Friedensverhandlungen gibt?
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte.
({6})
Zumindest bei den Rüstungsexporten ist Deutschland
schon die Nummer drei in der Welt. Selbst bei der Fußballweltmeisterschaft bin ich darüber gestolpert. Ich
habe mir mal angeschaut, wer von den WM-Teilnehmern Waffen in Deutschland gekauft hat. An jedem einzelnen Spieltag - bis ins Finale - finden sich Länder, in
die Deutschland Waffen exportiert hat. Am jetzigen
Sonntag spielen die Niederlande und Spanien: Sie haben
für 3,9 Milliarden Euro Waffen in Deutschland gekauft.
Ich finde das falsch. Ich finde, wir sollten keine Waffen
mehr exportieren.
({7})
Herr Westerwelle, ich habe noch anderthalb Minuten
Redezeit. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie die
Fragen ganz konkret beantworten könnten.
({8})
Beantworten Sie ganz präzise die Frage: Sind Sie bereit,
auf die Forderungen der Friedensjirga einzugehen, was
die Friedensverhandlungen angeht? Was ist mit der
Streichung der Namen von der schwarzen Liste?
({9})
Wenn Sie Ihre Rede beendet haben, nehmen Sie bitte
wieder Platz.
Herr Solms, mit Verlaub, aber ich finde, das ist falsch.
Wir machen hier kein Theater.
Der Sinn einer Debatte ist doch, dass man miteinander redet, offen Argumente austauscht und irgendwann
auch einmal Fragen stellt und Antworten gibt. Wenn hier
alle nur vorbereitete Reden vorlesen, kann ich die auch
zu Hause lesen.
({0})
Deswegen meine ich, dass man auch einmal auf eine
Frage antworten sollte. Aber wenn Sie nicht wollen,
dann müssen wir es lassen.
({1})
Die Regularien der Debatte sind in der Geschäftsordnung festgelegt. Sie werden nicht von Ihnen bestimmt.
Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Elke
Hoff von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es in hohem Maße bedauerlich, verehrter
Herr Kollege van Aken, dass Sie in diesem Hohen Hause
ein so wesentliches Thema wie den Einsatz in Afghanistan bzw. die Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan für Ihren politischen Klamauk benutzen.
({0})
Ich glaube, dass die Vorträge oder Wünsche der Friedensjirga in Kabul von der internationalen Gemeinschaft
sehr ernst genommen werden. Ich war vor 14 Tagen in
Kabul. Zeitgleich war dort auch eine Delegation der Vereinten Nationen, die genau über diese Themen gesprochen hat, die Sie heute so in den Raum stellen, als würde
sich die internationale Gemeinschaft vor diesen wichtigen Fragen drücken.
({1})
Das heißt, die internationale Gemeinschaft nimmt
das, was die afghanischen Vertreter der Politik sagen,
durchaus ernst.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Hans-Christian Ströbele ({2}): Haben Sie eine Meinung dazu?
- Selbstverständlich habe ich eine Meinung dazu. Die
werde ich Ihnen im Verlauf der Rede auch darlegen.
Herr Minister, Sie haben eine sehr wesentliche Aussage in Ihrer Rede getroffen, nämlich dass Deutschland
seine Zusagen einhält. Das ist ein Maßstab für alle
Diskussionen und Entscheidungen auch in der Vergangenheit, weil wir - das bezieht sich nicht nur auf die
christlich-liberale Koalition, sondern auch auf die Vorgängerregierungen - uns dazu verpflichtet haben, in
Afghanistan gemeinsam einen Prozess zu initiieren und
auf den Weg zu bringen, der zur Stabilisierung eines
durch 30 Jahre Bürgerkrieg zerrütteten und fragmentierten Landes beiträgt.
Lieber Kollege Erler, Sie haben mit Recht auf die Implementierung der neuen Strategie vor sechs Monaten
hingewiesen. Gleichzeitig monieren Sie, dass es nach
diesen sechs Monaten noch keine nachhaltigen Erfolge
gibt.
({3})
Nach meinem zeitlichen Verständnis ist es beim besten
Willen nicht möglich, zwischen dem Zeitraum von sechs
Monaten und Nachhaltigkeit eine Verbindung herzustellen.
Wir haben versucht, durch die Maßstäbe der neuen
Strategie die internationale Gemeinschaft und die Afghanen in die Lage zu versetzen, auf einer Grundlage,
die am Ende der Reise in einen politischen Prozess mündet, endlich neue Weichen zu stellen. Ich glaube, niemand von der Bundesregierung und auch von der internationalen Gemeinschaft hat bisher einen Zweifel daran
gelassen, dass eine militärische Lösung dieses Konflikts
allein nicht möglich ist. Darüber besteht, wie ich glaube,
ein breiter Konsens auch hier im Hause. Deswegen waren die Punkte, die der Minister vorgetragen hat, nämlich
Übergabe in die Verantwortung Afghanistans, eine verstärkte Dezentralisierung und Einmündung in einen - ich
möchte hier gerne noch etwas draufsetzen - dauerhaften
institutionalisierten politischen Prozess in Afghanistan,
der richtige Weg.
Aber wir müssen der internationalen Gemeinschaft
jetzt erst einmal die Zeit geben, diese Strategie umzusetzen. Natürlich gibt es Erfolge. Ich glaube, dass ein
wesentlicher Aspekt zur Übergabe in Sicherheitsverantwortung die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte ist. Die Bundesrepublik Deutschland wird
noch in diesem Jahr damit beginnen, auch hier einen wesentlichen Beitrag zu leisten. Sie können davon ausgehen, dass das die einzige Möglichkeit ist, die afghanischen Sicherheitskräfte auf den richtigen Weg zu
bringen.
Ich hatte vor wenigen Tagen die Möglichkeit, mir anzuschauen, was bereits im Süden und im Osten des Landes getan wird. Es gibt auch dort Erfolge. Es gibt Regionen, in denen die afghanischen Sicherheitskräfte die
Verantwortung für die Stabilisierung übernommen haben. Sie können und tun das. Deswegen ist die Ankündigung des Bundesaußenministers, dass wir es in diesem
Jahr schaffen werden, Regionen in Afghanistan in die
Verantwortung zu übergeben, keine Illusion; vielmehr
wird das Realität werden.
({4})
Viele Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort waren,
wissen, dass die afghanische Bevölkerung darauf hofft,
dass endlich Frieden einkehrt. Auch wir in der internationalen Gemeinschaft hoffen, dass in der Region endlich Frieden einkehrt. Deshalb ist es wichtig, die Bundesregierung und Außenminister Westerwelle dabei zu
unterstützen, genau diesen politischen Prozess jetzt mit
Nachdruck auf den Weg zu bringen.
Ich hoffe nicht, lieber Kollege Erler - Sie haben die
Konfliktlage in der Vergangenheit immer sehr konstruktiv und auch sehr sachlich analysiert -, dass das, was Sie
heute vorgetragen haben, sozusagen die erste Absetzbewegung von unserem gemeinsamen Engagement in
Afghanistan ist. Sie haben selbstverständlich recht, dass
wir immer wieder evaluieren müssen. Deswegen finde
ich es richtig und gut, dass die Bundesregierung heute,
vor der Afghanistan-Konferenz, vor dem Parlament und
der Öffentlichkeit noch einmal eine Einschätzung über
die Lage abgibt,
({5})
damit wir wissen, auf welcher Grundlage die zukünftigen politischen Aktivitäten erfolgen. Ich wünsche mir
sehr, lieber Herr Erler - das sage ich gerade in Richtung
der Sozialdemokraten -, dass wir den gemeinsamen
Konsens, dass wir die Lage in Afghanistan nicht sich
selbst überlassen können ({6})
wir haben uns gegenüber der afghanischen Bevölkerung
committed und wissen, dass es ein sehr schwieriger Prozess ist -, nicht aus innenpolitischen Erwägungen heraus
aufs Spiel setzen, sondern gemeinsam in diese Richtung
gehen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Wir sind auf einem Weg, der vernünftig ist. Wir
sind auf einem Weg, der machbar ist. Wir sind auf einem
Weg, der Geduld braucht, der Zeit braucht, der Engagement braucht.
({7})
Ich darf mit dem gleichen Satz noch einmal schließen:
Deutschland hat sich verpflichtet, und Deutschland hält
seine Zusagen.
({8})
- Lieber Kollege Ströbele, ich glaube, ich habe das eben
gesagt.
({9})
Ich habe gesagt, dass diese Ansinnen der Friedensjirga
ernst genommen werden, dass dies ein Prozess innerhalb
der internationalen Gemeinschaft ist, dass wir versuchen
müssen, herauszufinden, was sich in Konsequenz auf das
Eingehen auf diese Forderungen für uns alle ergibt.
Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass dies ein Weg
sein könnte, um die politische Lösung auf den Weg zu
bringen, werden wir uns in der internationalen Gemeinschaft abgestimmt auf die Forderungen der Friedensjirga
einlassen oder weiter darüber verhandeln.
({10})
Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Frithjof Schmidt von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, wir teilen mit Ihnen das Anliegen
der internationalen Gemeinschaft, eine politische Lösung für Afghanistan zu erreichen. Wir sind jetzt seit
neun Jahren in Afghanistan im internationalen Einsatz.
Die Dilemmata des Engagements sind größer als je zuvor. Deswegen sage ich: Umso wichtiger sind offene
Worte dazu.
Wir reden hier über eine politische Lösung, deren
Kern eine Machtteilung mit den wichtigsten bisherigen
Gegnern sein wird. Eine solche Lösung wird von Präsident Karzai angestrebt; er hat dafür die Rückendeckung
der von ihm organisierten Friedensjirga erhalten. Dabei
geht es um Verhandlungen mit nichtdemokratischen
Kräften. Wir wissen: Da werden auch Kompromisse vorbereitet, die in demokratischer und menschenrechtlicher
Hinsicht hochproblematisch sind.
({0})
Wir reden dabei über rote Linien. Zugleich wissen
wir, dass Herr Karzai unter diesen roten Linien offensichtlich etwas anderes versteht und verstehen wird als
vermutlich alle hier im Saal.
Vieles davon - ich sage das etwas gequält - wird bei
einer politischen Lösung wahrscheinlich unvermeidbar
sein. Aber Wahrhaftigkeit und Klarheit beim Ansprechen dieser Dilemmata sind unverzichtbar.
({1})
Ich sage Ihnen: Die Menschen in Deutschland und in
Afghanistan werden diese Politik nicht akzeptieren,
wenn wir ihnen nicht reinen Wein einschenken und nicht
offen über die hässlichen Seiten reden, die diese Kompromisse notwendigerweise haben werden. Herr Außenminister, bei allem Verständnis für die Zwänge Ihres
Amtes: An dieser Stelle haben Sie mich heute enttäuscht; da hätte ich mir klarere Worte gewünscht.
({2})
Ein weiteres Dilemma betrifft die internationalen
Rahmenbedingungen. Auch dazu muss man klare
Worte sagen. Wir alle wissen: Der internationale Militäreinsatz in Afghanistan wird in den nächsten Jahren enden. Einige unserer wichtigsten Partner haben bereits
entschieden: Die USA wollen 2011 mit einem Abzug beginnen; der neue britische Premierminister hat angekündigt, dass 2015 der letzte britische Soldat abgezogen sein
soll; unser westlicher Nachbar, die Niederländer, verlassen bereits dieses Jahr das Land; nächstes Jahr gehen die
Kanadier; für unseren östlichen Nachbar hat der neue
polnische Präsident erklärt, er wolle bis 2012 den Abzug
der 2 600 polnischen Soldaten aus dem Norden komplett
vollziehen. All das verändert auch die Lage der Bundeswehr und ihres Einsatzes; das muss einmal klar angesprochen und bilanziert werden.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist in den letzten
Monaten nicht besser geworden. Die jüngsten Veröffentlichungen der Vereinten Nationen attestieren eine massive Zunahme militärischer Gewalt. Seit 2009 hat sich
die Zahl der Straßenbomben fast verdoppelt; die Zahl
der Selbstmordattentate hat sich sogar verdreifacht. Die
Militäroperationen im Süden, die auch dagegen Abhilfe
schaffen sollten, liegen zudem im Zeitplan weit zurück.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ein abgestimmtes Konzept der Bundesregierung, wie man mit
dieser Situation und diesen Dilemmata - ich räume ausdrücklich ein, dass es sie gibt - umgehen will, ist nicht
wirklich erkennbar.
({3})
Da hören wir auf der einen Seite Sie, Herr Außenminister. Sie sprechen heute hier, aber auch in der Zeit von einer Abzugsperspektive, die in den nächsten drei Jahren
erarbeitet werden soll. Danach, 2014, soll die Übergabe
eigentlich schon in vollem Umfang abgeschlossen sein.
Dann ist da Herr zu Guttenberg, der kein konkretes Abzugsdatum nennen will. Stattdessen spekuliert er in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung darüber, dass
… einer der größeren oder der größte Bündnispartner aus welchen Gründen auch immer beschleunigt
Afghanistan verlässt …
Er schließt also nicht aus, dass die USA viel schneller
gehen als angekündigt. In dem Fall will er nicht derjenige sein, der - so wörtlich - „alleine und verlassen das
Licht ausmacht“. Dann spekuliert er über den Einsatz
von Geheimdiensten und Special Forces in Afghanistan
nach einem plötzlichen Abzug von ISAF. Das ist doch
keine seriöse Planungsdebatte in der Regierung.
({4})
Ich kann Sie nur fragen: Ist Ihnen eigentlich klar, wie
viel Unsicherheit Sie mit solch einem Regierungsgerede
bei den zivilen und militärischen Einsatzkräften vor Ort
stiften? Es ist nicht in Ordnung, dass Sie die Planungsdebatte - dann auch noch in der Öffentlichkeit - so zelebrieren.
({5})
Meine Herren Minister, legen Sie endlich unter Ihnen
abgestimmte und konkrete Schritte zu einem Abzugsplan vor, die Orientierung geben, oder schweigen Sie lieber!
Auch bei unseren zivilen Anstrengungen stehen wir
vor großen Problemen. Wir alle sind uns einig, dass wir
den zivilen Aufbau beschleunigen müssen und die Aufgaben eigentlich mehr Mittel erfordern. Das wurde auf
der Londoner Konferenz auch beschlossen. Bis zu
50 Prozent der Mittel sollen danach in Zukunft direkt an
die afghanische Regierung ausgehändigt werden. Jetzt
haben wir aber erfahren müssen, dass viele der bisher
gezahlten Gelder nicht ausgehändigt, sondern ausgeflogen werden. Über 4 Milliarden Dollar in bar sollen in
den letzten drei Jahren kistenweise von korrupten Eliten
aus dem Land geschafft worden sein. Deswegen sage
ich: Die 50-Prozent-Vereinbarung von London darf so
nicht umgesetzt werden.
({6})
Auch dies sollten Sie in Kabul klarmachen.
Studien haben deutlich gemacht: In unsicheren Provinzen bringt die Entwicklungszusammenarbeit keine nachhaltigen Erfolge. Sie führt auch nicht zu einer positiveren
Einstellung der Bevölkerung gegenüber den ausländischen Truppen. Deshalb sollte der zivile Wiederaufbau
vor allem in den friedlichen Provinzen konzentriert vorangetrieben werden.
Herr Außenminister, ich hätte mir eine Regierungserklärung gewünscht, die diese Dilemmata offen benennt
und eine nicht ganz angenehme Wahrheit klar ausspricht: Auf der Kabuler Konferenz geht es nicht mehr in
erster Linie darum, was eigentlich notwendig wäre, sondern es geht politisch um die Frage, was wir angesichts
der komplizierten Lage und der kurzen verbleibenden
Zeit noch erreichen können.
Nur wenn man dieser Wahrheit ins Auge schaut - bei
Ihnen ist nicht klar geworden, ob Sie das so sehen -,
kann man einen realistischen Weg zur Übergabe in Verantwortung und auch zum Abzug in Verantwortung beschreiben. Ich wünsche Ihnen hier zukünftig mehr Mut
zum offenen Wort, Herr Westerwelle.
({7})
Meine Damen und Herren, wir erwarten von der Kabuler Konferenz, dass man dort auf diese teilweise unerfreulichen Realitäten eingeht. Sie muss die Leerstellen
der Londoner Konferenz füllen und einen Aufbauplan mit
klaren Zwischenzielen vorlegen. Ja, wir wollen ein klares
Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zu einer
politischen Lösung. Dabei müssen auch die Ergebnisse
der Friedensjirga in Afghanistan einbezogen werden.
Aber ich sage auch: Die internationale Gemeinschaft
muss auf die Einhaltung roter Linien bei Menschen- und
Frauenrechten achten
({8})
und bei diesem Thema gegebenenfalls auch den Konflikt
mit der Regierung Karzai suchen.
({9})
Sie muss auch eigene militärische Aktivitäten, die das
Erreichen einer politischen Lösung schwieriger machen,
überdenken. Gezielte Tötungen von Aufständischen, die
auf einer Art schwarzer Liste stehen, gehören mit Sicherheit dazu. Sie sind inakzeptabel und kontraproduktiv.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss
wollte ich eigentlich sagen, dass ich über die Signale aus
den Koalitionsfraktionen, bei der Evaluierung gemeinsam vorzugehen, positiv überrascht war. Wir haben auch
schon Gespräche darüber geführt. Jetzt war ich allerdings
etwas negativ überrascht, dass Sie, Herr Schockenhoff, es
so dargestellt haben, als hätten wir überhaupt keine Einigung über Zwischenschritte erzielt.
({11})
Wir waren uns eigentlich einig, was zu tun ist. Es gab
zwei Modelle, wie man, gegebenenfalls im Rahmen eines Parlamentsgremiums, vorgehen kann. Diese zwei
Modelle wollten wir prüfen. Heute haben Sie es allerdings so dargestellt, als wollten wir uns nicht mit Ihnen
einigen.
({12})
Da kann ich Ihnen nur sagen: Nein. Wir würden mit Ihnen gerne noch einmal über die Modelle, die auf dem
Tisch lagen und die wir noch vorgestern gemeinsam prüfen wollten, sprechen. Das, was wir in der Debatte vor
zwei Wochen erlebt haben, wollen wir Ihnen nicht
durchgehen lassen. Da haben Sie nämlich gesagt: Die
Evaluierung ist gut und wichtig, aber wir fangen damit
erst in einem Jahr an. - Erst in einem Jahr damit anzufangen, wäre viel zu spät. Das darf nicht sein.
({13})
Die Lehren aus dem bisherigen Einsatz müssen gezogen werden. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür,
dass ein Abzug in Verantwortung - ich glaube, das ist
unser gemeinsames Anliegen - überhaupt gelingen kann.
Deswegen sage ich: Lassen Sie uns noch einmal über dieses Thema sprechen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern
an das anschließen, was der Kollege Schmidt gesagt hat.
Erstens. Ich glaube, durch den Beitrag des Kollegen
Schockenhoff ist deutlich geworden, dass wir uns einer
Evaluation des Einsatzes - diese erachten wir für notwendig - nicht verschließen. Es muss aber ganz klar
sein, was Beratung und was Entscheidung ist. Die Entscheidung wird am Ende - da hilft ein Blick in das Gesetz - hier gefällt.
({0})
In keiner Sekunde darf der Eindruck in der Öffentlichkeit entstehen, als würden wir die Entscheidung an irgendwelche Außenstehende - und seien sie noch so gut
und erfahren - abgeben. Deswegen muss hier eine ganz
klare Linie gezogen werden.
({1})
Zweitens. Ich möchte auf das Gesamtbild des deutschen Einsatzes und das, was Herr Westerwelle und der
Bundesverteidigungsminister gesagt haben, zu sprechen
kommen. Ich habe das, was der Bundesverteidigungsminister veröffentlicht hat, so verstanden, dass er darüber
nachgedacht hat, was eventuell andere, was Verbündete
machen könnten. Das ist legitim und aus meiner Sicht
extrem notwendig; denn wenn ein anderer Staat, der zusammen mit uns dort militärisch handelt, seine Truppen
früher abziehen sollte, als er das bisher öffentlich verlautbart hat, dann hätte das Konsequenzen für unser
Handeln.
({2})
Deswegen finde ich es richtig, sich rechtzeitig darüber
Gedanken zu machen.
Drittens. Herr Kollege Schmidt, Sie haben darauf rekurriert, was möglicherweise im Süden passieren wird.
Sie haben es vielleicht nicht gehört, aber die Kollegin
Hoff hat zu Recht dazwischengerufen: Im Süden ist die
Bundeswehr nicht tätig. - Wir können zwar unseren
Partnern Vorschläge machen, wie sie vorgehen sollen.
Aber wir werden die Strategie dort nicht bestimmen können. Deshalb sollten wir die Debatte über unseren deutschen Einsatz führen.
Ich möchte klarmachen - auch weil sehr viele Zuschauer auf der Tribüne sitzen -, dass es sehr viel
Schwarz-Weiß-Malerei in der öffentlichen Debatte über
dieses Thema gibt. Ich möchte Ihnen - mit Zustimmung
des Präsidenten - aus der Berliner Zeitung vom 3. Juli
2010 zitieren. Dort schreibt Steffen Hebestreit:
„In Deutschland gibt es ein völlig verzerrtes Bild
von Afghanistan.“ Bei einer Reise durch Afghanistan kann man diesen Satz vielfach hören - vom
deutschen Botschafter in Kabul, von Polizeiausbildern aus Erkrath, Bundeswehr-Obersten aus Hadamar, Entwicklungshelfern aus Österreich, afghanischen Ministern und von vielen einfachen Soldaten.
Immer wieder. „Afghanistan“, beschwert sich einer,
„ist in den Medien immer nur Bürgerkrieg, Zerstörung, Korruption und Verzweiflung.“
Auch daran müssen wir denken, wenn wir hier diskutieren. Afghanistan ist nicht heile Welt, aber auch nicht die
Katastrophe, zu der es immer gemacht wird. Deswegen
ist es wichtig - in dem Punkt hat der Kollege Schmidt
recht -, dass die Konferenz in Kabul, wie Sie das genannt haben, die Leerstellen füllt, die in London übrig
geblieben sind. Ich habe, ehrlich gesagt, diese Konferenz
auch nie anders verstanden. Es geht darum, zu operationalisieren und aus den Grundlagen, die in London gelegt
wurden, ein vernünftiges Gesamtkonzept zu machen und
dieses mit Leben zu füllen. Dabei ist es wichtig, dass wir
den afghanischen Staat in militärischer, justizieller und
rechtsstaatlicher, aber auch in wirtschaftlicher Hinsicht
dazu befähigen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehört der Aufbau entsprechender Strukturen. Das wird schwierig genug.
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um ein kleines Warnzeichen zu setzen. Die Bundesregierung und
das Parlament haben - aus meiner Sicht: zu Recht - die
Mittel für den Wiederaufbau in Afghanistan nahezu
verdoppelt. Ich halte das für das richtige Zeichen, weil
wir in dieser schwierigen Zeit diese Mittel brauchen
werden. Aber es gibt drei Punkte, bei denen wir aufpassen müssen. Der erste Punkt ist das Thema Veruntreuung; darüber wurde schon gesprochen. Dem muss nachgegangen werden. Das muss mit aller Härte verfolgt
werden. Der zweite Punkt ist die Korruption. Seit 2007
hat sich die Korruption in Afghanistan verdoppelt. Der
Umfang der Korruption lag im Jahr 2009 bei etwa
1 Milliarde Dollar. Der dritte Punkt ist die Entwicklungszusammenarbeit, auf der sehr viele Teile des Konzepts fußen. Entwicklungszusammenarbeit ist langfristig
angelegt und kann kurzfristig keine Erfolge zeitigen und
erst recht nicht Dinge wiedergutmachen, die in der Vergangenheit nicht so gut gelaufen sind.
Insofern warne ich davor, der Entwicklungszusammenarbeit all das aufzubürden, was in den vergangenen
Jahren schiefgelaufen ist, und die Erwartungshaltung zu
haben, mit mehr Geld werde man innerhalb von einem
Jahr oder zwei Jahren die Dinge so radikal verändern,
dass es vorangeht. Die Entwicklungszusammenarbeit
wird es in Afghanistan aber auch nach Beendigung der
internationalen Militärpräsenz noch lange geben.
Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem AfghanistanKonzept auch die Schwerpunkte unserer künftigen Arbeit
vorgelegt haben. Das sind: der Aufbau einer vernünftigen
Struktur in ländlichen Regionen, der Aufbau von Infrastruktur, der Aufbau von Verwaltung, der Aufbau von
wirtschaftlichen Strukturen und - last, but not least - der
Polizeiaufbau, unsere Kernaufgabe, wo noch viel zu tun
ist, wie wir alle wissen. Das alles muss gemacht werden,
und dafür bedarf es auf der afghanischen Seite aber auch
Strukturen, innerhalb derer das alles kompensiert und aufgenommen werden kann. Hier scheint es mir sehr wichtig
zu sein, dass wir eine vernünftige Balance finden zwischen dem, was auf der gesamtstaatlichen Ebene, und
dem, was auf regionaler und lokaler Ebene gemacht werden kann.
Der Kollege Schmidt hat gerade gesagt, die Übereinkunft von London, nach der 50 Prozent der Gelder durch
die staatlichen Strukturen in Kabul und 50 Prozent in anderer Weise verausgabt werden sollen, dürfe auf keinen
Fall eingehalten werden. Ich stimme Ihnen hier durchaus
zu, aber ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das vorher
gesagt. Ich frage mich die ganze Zeit, was passiert wäre,
wenn sich einer von uns hier hingestellt und vor dieser
Debatte so etwas verkündet hätte.
Es gibt hier sicherlich eine durchaus berechtigte Reservation, aber es gibt natürlich auch ein Problem: Wenn
wir das nicht so machen, dann delegitimieren wir zumindest in den Augen der afghanischen Bevölkerung deren
eigene Machthaber. Da Sie schon über Dilemmata reden:
Das ist ein Dilemma, über das man an dieser Stelle eben
auch reden muss. Das ist nicht ganz so einfach zu lösen.
Ich glaube, darüber müssen wir alle uns im Klaren sein.
Letztendlich - auch darauf will ich noch hinweisen haben wir bei aller Freude über mehr Geld gesehen, dass
der Mittelabfluss - dabei geht es nicht um die Bereitstellung von Mitteln, sondern um die Strukturen, innerhalb derer sie aufgenommen werden - durchaus nicht
immer dem entsprochen hat, was wir uns eigentlich gewünscht haben. Es gibt Untersuchungen darüber - das
habe ich hier auch schon einmal gesagt -, dass bei afghanischen Ministerien 13 bis 70 Prozent der internationalen Gelder abfließen. Der Durchschnitt liegt bei
40 Prozent. Das bedeutet mit anderen Worten: Allein mit
mehr Geld - damit komme ich wieder auf den Aufbau
von Strukturen zurück - wird man das Problem am Ende
nicht lösen können.
Es geht letztendlich eben auch darum, dass Afghanistan nicht nur politisch, militärisch und justiziell, sondern
auch wirtschaftlich in die Lage versetzt wird, die Lösung
seiner Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen. Wir alle
wissen zum Beispiel, dass sich China seit langer Zeit
dort betätigt und sehr stark im Kupferabbau tätig ist. Es
geht aber natürlich darum - das ist ja in allen Entwicklungsländern wichtig, aber aufgrund der Verhältnisse in
diesem Fall noch viel wichtiger -, dass Wertschöpfung
in dem Land stattfindet, in dem auch die Rohstoffe vorhanden sind.
Deswegen ist es eine unserer Aufgaben, sich speziell
darum zu kümmern, es ist aber auch wichtig, dass wir der
afghanischen Seite klarmachen, dass das nach vernünftigen Standards zu geschehen hat. Deshalb bin ich sehr
froh, dass sich Afghanistan jetzt bemüht, die Standards
der Extractive Industries Transparency Initiative - EITI 5848
zu implementieren; denn das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wirtschaftliches Handeln unter rechtsstaatlichen Bedingungen stattfindet.
Es ist wichtig, dass von dieser Konferenz nicht nur
ein Signal dafür ausgeht, dass die internationale Gemeinschaft bereit ist, die Realitäten in dem Land anzuerkennen, und dass wir bereit sind, alles zu tun, was notwendig ist, um in Afghanistan voranzukommen, sondern
es ist eben auch wichtig, dass die afghanische Seite
zeigt, dass sie bereit ist, ihren Teil dazu beizutragen, einen vernünftigen Wiederaufbau in Afghanistan zu erreichen.
Danke sehr.
({3})
Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Pflug
von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, als ich Sie heute Morgen im
Deutschlandradio und im ARD-Morgenmagazin gehört
habe, hatte ich gleich die Befürchtung, dass das eintreten
würde, was wir hier auch tatsächlich erlebt haben, nämlich eine Regierungserklärung nach dem Motto: Business as usual - alles wird gut in Afghanistan.
({0})
Ich muss Ihnen sagen, verehrte Frau Kollegin Hoff
und verehrte Kollegen von den Koalitionsfraktionen:
Der Tenor Ihrer Reden ging in dieselbe Richtung. Deshalb möchte ich gerne versuchen, Ihnen zu erklären, dass
die Situation etwas anders ist, als es in dieser Regierungserklärung zum Ausdruck kam. Der Kollege
Schmidt hat das aufgegriffen.
Ende 2009 haben die Japaner ihre logistische Unterstützung für die amerikanischen Schiffe eingestellt. Ende
dieses Jahres werden die Niederländer ihren Truppeneinsatz in Afghanistan beenden; daran ist die niederländische Regierung zerbrochen. Die Polen haben angekündigt, dass sie 2012 ihre Truppen aus Afghanistan
zurückziehen wollen. Das einzige konkrete Ergebnis
vom G-20-Gipfel ist die Ankündigung von Herrn
Cameron gewesen, dass die Briten bis 2015 ihre Truppen
zurückziehen werden.
({1})
Von den Amerikanern wissen wir, dass sie 2011 mit
dem Truppenabzug beginnen wollen. Wenn ich mich
richtig erinnere, ist das auch unsere Beschlusslage. Denn
sicherlich glaubt auch niemand von Ihnen, dass wir noch
in Afghanistan sein werden, wenn die Amerikaner das
Land verlassen haben. Nun kann man darüber spekulieren: Werden sie wirklich gehen? In welcher Größenordnung werden sie gehen? Nur, wenn wir das nicht wissen,
dann ist es Aufgabe der Regierung, die Amerikaner zu
fragen: Was habt ihr in Afghanistan eigentlich vor?
Wann wollt ihr mit dem Abzug beginnen? Welche Strategie habt ihr? Welche Rolle habt ihr für uns vorgesehen?
Aber man kann nicht so tun, als könnte man unabhängig von den Amerikanern dort weiter dieselbe Politik betreiben wie in der Vergangenheit - business as usual. Ich
will einige Daten nennen. Am 1. Dezember hat Barack
Obama in seiner Rede in West Point angekündigt, dass
er nun die Strategie in Afghanistan ändern wolle und
dass er nach einer vorübergehenden Erhöhung der amerikanischen Truppenstärke im Jahr 2011 mit dem Abzug
beginnen wolle.
Dann haben wir alle auf die Konferenz in London am
28. Januar gewartet. Wir waren uns darin einig, dass von
dieser Konferenz ein wichtiges Signal ausgehen müsse,
weil in den nächsten beiden Jahren unter Berücksichtigung des angekündigten Truppenabzugs der Amerikaner
in Afghanistan Entscheidendes passieren müsse.
Dann hat die Konferenz in London stattgefunden, und
es sollte eine Follow-up-Konferenz geben, nämlich die
Kabuler Konferenz, über die wir gerade reden. Die Kabuler Konferenz ist von Herrn Präsidenten Karzai zweimal verschoben worden. Sie sollte erst im April und
dann im Mai stattfinden. Nun soll sie am 20. Juli stattfinden. Karzai überlegt noch, sie vielleicht auf den 27. Juli
zu verschieben.
In der Zwischenzeit hat zwar die sogenannte Friedensjirga stattgefunden, die Sie angesprochen haben; Insider sagen aber: Das ist eine Showveranstaltung für
Karzai gewesen. Etwas Operationales ist aber bei dieser
Konferenz nicht herausgekommen.
Herr Kollege Pflug, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hoff?
Bitte sehr.
Bitte schön, Frau Hoff.
Sehr geehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der amerikanische Präsident in seiner Rede
im Dezember gesagt hat, man wolle mit einem Abzug
von Truppen in 2011 beginnen, wenn es denn die Situation in der Region und auf dem Boden zulässt?
Frau Kollegin Hoff, daran habe ich doch keinen
Zweifel.
({0})
Aber glauben Sie, dass der amerikanische Präsident
2012 in den Vereinigten Staaten den Präsidentschaftswahlkampf führen möchte, wenn seine Truppen in
Afghanistan in die heftigsten Kämpfe verwickelt sind?
Er hat doch genügend innenpolitische Probleme. Gehen
Sie davon aus: Der meint das ernst.
Er wird sicherlich versuchen, bis 2011 die Sicherheitslage in Afghanistan zu verbessern, und zwar durch
entsprechende Offensiven, die auch angekündigt waren,
aber verschoben worden sind. Es hat eine Offensive in
Helmand stattgefunden. Die für Kandahar und Helmand
Valley angekündigten Offensiven sind bisher verschoben
worden. Der amerikanische Präsident wird 2011 den
Eindruck vermitteln, dass sich die Sicherheitslage mittlerweile entsprechend verbessert hat, und dann wird er
uns und die anderen bitten, sich entsprechend zu beteiligen.
Glauben Sie bloß nicht, dass Sie darauf verweisen
können: Der Deutsche Bundestag hat verschiedene Beschlüsse gefasst mit dem Inhalt: Wir sind nicht dabei. Man wird von uns einen Beitrag erwarten. Herr Minister,
deshalb müssen Sie fragen: Was haben die Amerikaner
vor? Wie wird die bisherige Strategie beurteilt? Was hat
Petraeus in Afghanistan vor? Welche Rolle sollen die
deutschen Truppen spielen? Es geht doch nicht an, dass
man einfach so tut, als könnten wir weiter vor uns hin
wursteln.
Frau Kollegin Hoff, Sie haben gefragt: Sind das, was
von Herrn Erler kam, vorsichtige Absetzbewegungen
gewesen? Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Nein! Wir stehen in der Kontinuität und werden auch weiterhin in dieser Kontinuität stehen, aber nur dann, wenn wir den Eindruck haben, dass Ihre Augen offen sind und Sie die
Lage mit uns auch realistisch beurteilen. Sonst hat das
keinen Sinn. Sonst müssen wir von uns aus die Konsequenzen ziehen und versuchen, von unserer Seite aus
eine entsprechende Strategie zu entwickeln.
Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist gegen
den Afghanistan-Einsatz. Und wenn Sie ehrlich in Ihre
Fraktion und in die anderen Fraktionen hineinfragen,
dann werden Sie feststellen, dass insbesondere bei den
neueren Kolleginnen und Kollegen eine große Skepsis
besteht und sie große Zweifel haben.
({1})
Bisher haben wir die Kontinuität durchhalten können,
weil unsere Politik erklärbar war. Erklärbar ist sie dann,
wenn sie politisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Die
moralische Rechtfertigung endet aber spätestens dann,
wenn mit dem Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten nur noch der Status quo gehalten werden kann oder
die Sicherheitslage sich sogar permanent verschlechtert.
Genau das schildern unsere Geheimdienste in den Lageberichten. Es werden Kisten mit Geld außer Landes gebracht, aber wir sollen weiter finanzieren. Das kann doch
alles nicht wahr sein!
Deshalb, verehrter Herr Minister Westerwelle - das
richtet sich an die ganze Regierung -, kann ich Ihnen nur
raten: Greifen Sie den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD auf - darin haben wir Vorschläge zur Evaluierung der Afghanistan-Politik gemacht -, aber bitte
in dem Sinne, dass die realpolitische Situation zeitlich,
quantitativ und qualitativ evaluiert wird und dass das
kein Beschäftigungsprogramm für künftige Wissenschaftlergenerationen wird.
Wir haben auf ein Zeichen von Ihnen gewartet. Das
ist ausgeblieben, obwohl Sie es vorher signalisiert haben. Aber das ist die einzige Chance, um in den nächsten
zwei Jahren vielleicht doch noch zu einem halbwegs vernünftigen Ende zu kommen.
Schönen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kabuler Konferenz ist der nächste wichtige Schritt auf dem
Weg Afghanistans zur Übergabe in Verantwortung. Es
ist die erste internationale Konferenz über Afghanistan,
die auch tatsächlich in Afghanistan stattfindet. Und das
ist auch gut so. Es ist ein bedeutendes, positives Signal,
dass die Probleme Afghanistans auch nur in Afghanistan
gelöst werden können.
Auf dieser Konferenz werden - das ist vorhin schon
mehrmals gesagt worden - die Themen Sicherheit, gute
Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes und das
Thema Reintegration eine zentrale Rolle spielen.
Ich möchte eines bereits an dieser Stelle ganz deutlich
machen - gerade weil Kollegen in diesem Haus so fleißig
Entschließungsanträge zu diesem Thema schreiben -: Es
ist natürlich wichtig, was auf der Konferenz passiert. Es
ist aber noch wichtiger, wie wir - und vor allem die
Afghanen selbst - mit den Ergebnissen dieser Konferenz
später umgehen werden. Es ist wichtig, dass nach der
Konferenz eine rasche und konkrete Umsetzung der Ergebnisse stattfindet.
Wir alle wussten und wissen, dass der Weg zur Übergabe in Verantwortung hart und steinig sein wird. Verletzungen der Menschenrechte, die Zerstörung der Infrastruktur, Drogenökonomie und Korruption erschweren
immer wieder die angestrebten Veränderungen in Afghanistan.
In diesem Zusammenhang muss mit Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft weiter an starken, verlässlichen Regierungsinstitutionen und funktionierenden öffentlichen Verwaltungen auf allen Ebenen gearbeitet werden. Ebenfalls muss nach wie vor über den
richtigen Weg der Versöhnung in Afghanistan gespro5850
chen werden. Das ist die wohl größte Herausforderung,
vor der wir alle zusammen stehen.
Meiner Meinung nach kann die Lösung dieses Problems in dieser Phase nur Reintegration heißen. Das ist
auch ein Punkt, der in der aktuellen internationalen Strategie aufgeführt ist. Reintegration kann nur erfolgen,
wenn alle Akteure eng zusammenarbeiten - die afghanische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft.
Afghanistan muss auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene gestärkt werden. Nur so werden wir
dort Vertrauen und Zuversicht vermitteln können.
({0})
Reintegration ist eine große Chance für die Stabilisierung von innen heraus. Das ist ein wichtiges Moment der
gesamten Strategie. Darüber müssen wir uns alle im Klaren sein.
Wenn man über die Kabuler Konferenz diskutieren
will, so muss man ebenfalls über die Londoner Konferenz und die damit verbundenen Ergebnisse diskutieren.
Mit der Londoner Konferenz ist ein Strategiewechsel
eingeleitet worden. Dabei wurde der zivile Aufbau noch
stärker forciert, der Schutz der afghanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt und die Ausbildung der
Sicherheitskräfte verstärkt. Im Nachgang der Londoner
Konferenz hat die Bundesregierung entschieden, die
Haushaltsmittel für Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Die Erfolge sind in Afghanistan sichtbar. Ob es
die Übergabe von Schulen ist, die Einweihung eines
Ausbildungszentrums oder einer Polizeiwache, ob es
Programme für Infrastrukturverbesserung oder zum Bau
von Krankenhäusern sind - eines wird deutlich: Wir
wollen und werden den zivilen Aufbau in Afghanistan
weiter intensiv unterstützen.
({1})
Dafür brauchen wir weiterhin die Bundeswehr dort.
Sie macht diese positive zivile Entwicklung überhaupt
erst möglich. Eine stabile Sicherheitslage ist und bleibt
die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg ziviler Projekte.
({2})
- Fahren Sie einmal nach Afghanistan, schauen Sie sich
das an! Nehmen Sie diese Mühe auf sich, und informieren Sie sich vor Ort! Das ist in der Tat so. - Unsere Soldatinnen und Soldaten können stolz darauf sein, dass
aufgrund ihres Einsatzes die positive Entwicklung in
Afghanistan erst möglich wird.
({3})
Für ihren schweren und gefährlichen Einsatz in Afghanistan habe ich die höchste Wertschätzung und Anerkennung. Das muss an dieser Stelle an so einem Tag auch
gesagt werden.
({4})
Wir dürfen uns nichts vormachen - auch das gehört
zu einer solchen Debatte -: Eine Strategie, die die Präsenz in der Fläche verlangt, bei der die afghanischen
Soldaten in der Praxis direkt von den internationalen
Truppen lernen sollen, ist mit Risiken für die Soldatinnen und Soldaten verbunden. Die Taliban sollen durch
die größere Sichtbarkeit, durch die stärkere Präsenz in
der Fläche zurückgedrängt werden. Die Einheiten sind
unterwegs nicht so gut geschützt wie in den Feldlagern.
Sie sind also verwundbarer. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Darauf müssen wir die Öffentlichkeit im eigenen Land ebenfalls ehrlich vorbereiten.
({5})
Es wäre allerdings ein Fehler, wenn wir uns jetzt festlegen und einen Termin des Abzuges bestimmen würden.
Wir haben mit der internationalen Gemeinschaft einen
Ansatz erarbeitet. Diesen Ansatz müssen wir durch unser Afghanistan-Mandat umsetzen. Unser Ziel muss es
sein, schrittweise die Rückgabe in Verantwortung zu gestalten. Wir werden uns aber auch Gedanken machen
müssen, was nach einem Abzug der internationalen
Truppen kommen wird.
Nachsorgelemente werden notwendig sein. Sie müssen von langer Hand und sorgfältig geplant werden, um
zu einem abschließenden Teil unserer Übergabe in Verantwortung zu werden. Eines muss klar sein: Wir dürfen
dieses Land nie wieder Terroristen und Verbrechern
überlassen, sonst würden wir einen Flächenbrand in der
gesamten Region riskieren. Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung. Wir können auch nicht erst nach
Verantwortung rufen, dann aber die Afghaninnen und
Afghanen allein ihrem Schicksal überlassen. Das wäre
ebenfalls ein sehr schlimmer Fehler.
({6})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
mich gefragt: Warum führen wir eigentlich jetzt, so kurz
vor der Sommerpause, diese Debatte hier?
({0})
Denn wirklich Neues ist nicht gesagt worden.
({1})
Wenn darauf hingewiesen wurde, dass eigentlich nichts
Neues gesagt wurde, hat man entgegnet: Es ist noch viel
Paul Schäfer ({2})
zu früh, um etwas Neues zu sagen. - Ich habe jetzt verstanden, worum es geht.
({3})
Es geht darum, noch einmal vor der langen Sommerpause der Bevölkerung das Mantra vorzutragen: Okay,
wir sind in Afghanistan zwar in Schwierigkeiten, aber
alles wird gut in Afghanistan. - Das ist das Mantra, die
Beschwörungsformel. Dies scheint bitter nötig zu sein,
weil gleichzeitig die Ankündigung erfolgt: Es wird in
Afghanistan für unsere Soldatinnen und Soldaten einen
harten, bitteren Sommer geben. Es geht hier also offensichtlich darum, für den Fall, dass uns solche Meldungen
in den nächsten Wochen ereilen werden, die Lage in der
Heimat zu stabilisieren.
Aber das Mantra wirkt nicht mehr. Nach neun Jahren
NATO-Intervention in Afghanistan hat sich bei den
meisten Menschen - nicht nur in Deutschland, sondern
auf allen Kontinenten - die Erkenntnis durchgesetzt,
dass Frieden in Afghanistan mit NATO-Truppen nicht
erreicht werden kann.
({4})
Nach einer kürzlich vorgelegten aktuellen Umfrage in
22 Staaten auf allen Kontinenten - darunter USA,
Deutschland, Frankreich, China und Indien - haben sich
nur in einem Staat mehr als 50 Prozent der befragten
Personen für den Verbleib der NATO-Truppen in Afghanistan ausgesprochen: in Kenia.
Ich bin angesichts dieser Debatte allerdings skeptisch,
ob sich diese Erkenntnis, die in der Bevölkerung schon
gereift ist, auch im Bundestag durchsetzen wird. Sie sind
immer noch sehr darauf fixiert, dass nicht sein kann, was
nicht sein darf. Ihre Devise lautet daher: Die NATO darf
nicht scheitern. Es geht aber nicht um die NATO, die als
Militärbündnis ihre Zukunft schon längst hinter sich hat.
Es geht um eine Friedenslösung für Afghanistan.
({5})
Was SPD und Grüne anbetrifft, so ist zu sagen, beide
Parteien kommen offensichtlich einfach nicht davon
weg, dass sie den Afghanistan-Einsatz beschlossen haben. Deshalb müssen die Grünen die ISAF-Militärintervention in ihrem Entschließungsantrag immer noch als
Teil einer politischen Lösung darstellen. Diese Militärintervention ist kein Teil der Lösung, sondern ein gravierender Teil des Problems!
({6})
Der neue ISAF-Kommandeur Petraeus hat zuletzt
sehr markig verkündet: „Wir sind hier, um zu siegen.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann einem wirklich angst und bange werden, weil es zeigt, dass das
Denken in den militärischen Kategorien von Sieg und
Niederlage ungebrochen ist. Der Herr meint tatsächlich,
dass man das Blatt militärisch wenden kann. Man wird
und kann es nicht militärisch wenden!
({7})
Die jüngste Entwicklung zeigt deutlich: Die NATO ist
gescheitert, und auch mit ihrer sogenannten neuen Strategie wird sie scheitern. Die Zahlen sind genannt
worden, sie liegen auf dem Tisch: Trotz weit über
120 000 Soldaten hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. In diesem Jahr gab es 11 000 Angriffe, Gefechte und Anschläge. Pro Woche gibt es also mehr als
800 Vorfälle dieser Art. Das ist ein Rekordniveau.
Vor diesem Hintergrund finden wir es schlimm, dass
nun auch die Bundeswehr im Norden aufrüstet. Weitere
Schützenpanzer und Artillerie werden in Afghanistan
stationiert. Die Luftkampffähigkeit wird intensiviert. Ich
frage Sie ernsthaft: Wohin soll das führen?
({8})
Wenn man schon in der Klemme ist, scheut man sich
auch nicht, sich mit fragwürdigen Alliierten zusammenzutun, etwa mit den lokalen Milizen, die jetzt in allen Regionen als Partner aufgewertet werden, obwohl sie
das staatliche Gewaltmonopol untergraben.
Die schönen Pläne eines sauberen Krieges, der die Zivilbevölkerung schützt - Sie haben dieses Bild hier immer wieder transportiert - zerschellen einfach an der
Realität. Allein in den letzten drei Monaten sind erneut
mehr als 340 zivile Opfer zu beklagen. Wir trauern um
diese Opfer. Wir trauern um die toten deutschen Soldaten, und wir trauern um die Opfer von Kunduz.
({9})
Was die Praxis der Aufstandsbekämpfung angeht,
kann man nur sagen: Das steht einfach in diametralem
Gegensatz zur Förderung von Reintegration und Aussöhnung. Wir hören von Menschenjagd, von verdeckten
Kommandooperationen und von nächtlichen Hausdurchsuchungen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass
das Bundesministerium der Verteidigung vier Monate
nach der Londoner Konferenz gerade einmal von sechs
Taliban berichten kann, die im Norden ihre Waffen niedergelegt haben, während gleichzeitig allein bei einer
US-Offensive im Norden mehr als 150 Aufständische
getötet worden sind. Das fördert die Verhandlungsbereitschaft nicht.
({10})
Was die Korruptionsbekämpfung angeht, ist ebenfalls das Nötige gesagt worden. Ich erinnere an die Geldkoffer, die nach Dubai wandern.
Nur wer diese Realitäten ungeschminkt ins Visier
nimmt, kann die richtige Antwort finden. Die richtige
Antwort heißt unseres Erachtens, erstens, sofortiger Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan,
({11})
zweitens, alles daransetzen, ein Friedens- und Waffenstillstandsabkommen zu schließen. Statt Afghanisierung
des Krieges ist Afghanisierung des Friedens angesagt.
Danke.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Hahn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Die Schreckensmeldungen über Kämpfe,
Anschläge und Korruption in Afghanistan werden nicht
weniger. Das haben wir heute schon einige Male festgestellt.
Diejenigen, die behaupten, das liege am Einsatz der
internationalen Gemeinschaft, sind meines Erachtens auf
der falschen Fährte. Vielmehr scheint es doch so zu sein,
dass die neue Strategie wirkt und die Taliban sich entsprechend dagegen wehren. Beispielsweise haben die
Taliban mit den Verhaftungen von Führern in Karatschi, Quetta und Peschawar Ende Januar und Anfang Februar dieses Jahres einen herben Schlag erlitten.
Die Operation „Hamkari Baraye Kandahar“ trifft
die Taliban-Stadtguerilla sehr hart. Vorher hatte sie sich
bereits in den meisten Vierteln der Stadt Kandahar als
De-facto-Regierung etabliert. Das konnten wir auflösen.
Die Taliban reagieren jetzt mit Mordversuchen, um sich
so gegen ihre schwindende Macht zu wehren. Hier dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.
({0})
Für unsere Truppen, für unsere Soldaten ist dies nicht
ungefährlich.
Gerade auch vor diesem Hintergrund müssen wir uns
noch einmal vor Augen führen, warum wir unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan tagtäglich der
Gefahr für Leib und Leben aussetzen. Afghanistan
darf nicht wieder eine Organisationsplattform für den internationalen Terror werden, der dann auch Deutschland
treffen könnte. Diese Gefährdung wäre um vieles größer,
wenn die internationale Gemeinschaft das Land plötzlich
und überhastet verlassen würde. Ja, der Einsatz ist gefährlich; er ist aber auch notwendig.
Die Rückschläge, die wir immer wieder hinnehmen
müssen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir
seit 2001 den Grundstein für einen neuen Staat
Afghanistan und für viele gute Entwicklungen gelegt
haben.
In einem so jungen Staat, in dem knapp die Hälfte der
Bevölkerung jünger als 15 Jahre ist und rund zwei Drittel nicht älter als 24 Jahre sind, haben wir zu Recht viel
Geld in die Bildung investiert. Allein in den letzten fünf
Jahren konnten wir die Einschulungsquote von 37 auf
54 Prozent steigern. Die Alphabetisierungsrate der Jugendlichen hat im selben Zeitraum um 8 Prozentpunkte
zugenommen. Das ist eine beachtliche Leistung - auch
in Bezug auf das Ziel 2 der Millenniumserklärung, das
da lautet, allen Kindern eine Grundschulausbildung zu
ermöglichen. Hier dürfen wir ebenfalls nicht nachlassen.
Bildung ist der Grundstein für Demokratie. Nur so ist es
möglich, wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen und fanatischen Predigern die Stirn zu bieten.
Der Wahlkampf für die bevorstehenden Wahlen im
September ist aktuell in vollem Gange. In Kabul hängen
überall Plakate, und in vielen Städten haben die Kandidaten Wahlbüros eingerichtet. Es freut mich, zu sehen,
dass das Interesse der Afghanen an den Wahlen hoch ist.
Ich habe den Eindruck, dass eine große Anzahl der jungen Menschen ihre Vertreter im Parlament mitbestimmen will. Auf meiner Reise nach Afghanistan im März
dieses Jahres habe ich einen jungen Afghanen kennengelernt, der in Hamburg aufgewachsen ist und wieder in
sein Heimatland zurückgekehrt ist. Bei den bevorstehenden Wahlen kandidiert er in Masar-i-Scharif. Es gibt also
die Möglichkeit, dass sich die Bevölkerung hinter junge,
unbelastete Kandidaten stellen kann.
Von der afghanischen Regierung erwarte ich an dieser
Stelle allerdings, dass sie die Kontrollmechanismen
der internationalen Gemeinschaft bei Wahlen uneingeschränkt zulässt. Ausgeglichene Startbedingungen
sind zwar für uns eine Selbstverständlichkeit; in Afghanistan scheinen wir die Regierung allerdings noch einmal daran erinnern zu müssen.
Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. In
Afghanistan können wir nicht die westlichen Maßstäbe
von Demokratie und unseren Freiheitsbegriff zugrunde
legen. Dennoch muss es unser Ziel sein, dem so nahe
wie möglich zu kommen. Im Januar dieses Jahres haben
wir hierfür in London eine neue Strategie festgelegt eine Strategie, die von unserer Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet wurde. Durch den vernetzten Ansatz
von zivilen, militärischen und politischen Mitteln wollen
wir den Weg für ein friedliches und selbstbestimmtes
Afghanistan bereiten.
Meine Damen und Herren, wir stehen an der Seite des
afghanischen Volkes. Wir haben unsere Bereitschaft erklärt, zu helfen. Dazu stehen wir auch.
({1})
Von der afghanischen Regierung erwarte ich dafür eine
verantwortungsvollere Regierungsführung, die konsequente Bekämpfung der Korruption und die Einhaltung
der Entwicklungspläne.
({2})
Die Kernpunkte auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung haben wir in der Konferenz in London festgelegt. Nun müssen diese weiter konkretisiert und mit
Fristen versehen werden. Die vier Kernpunkte des Londoner Schlussdokuments - wirtschaftliche und soziale
Entwicklung, gute Regierungsführung, Frieden und Sicherheit sowie regionale Kooperation - müssen in Kabul
mit klaren und messbaren Meilensteinen versehen werden.
Die Ergebnisse der Friedensjirga vom Juni dieses
Jahres müssen ebenfalls Eingang in die Konferenz finden. Das dort beschlossene Friedens- und Reintegrationsprogramm, mit dem „entfremdete Brüder“ in Staat
und Gesellschaft zurückgeholt werden sollen, wird die
Konferenz ebenfalls übernehmen. Es soll Kämpfern und
Aufständischen unter bestimmten Bedingungen Straffreiheit zusichern. Hier finden sich zentrale deutsche
Anliegen wieder: Angebote vor allem in Form von Arbeit und Ausbildung, keine Benachteiligung von Nichtkämpfern, Einbeziehung der gesamten Bevölkerung sowie eine landesweite Umsetzung.
Ein herausfordernder Punkt ist die regionale Kooperation. Wir alle können uns gut vorstellen, welche Interessen die umliegenden Staaten in Afghanistan verfolgen. Wir müssen daher unbedingt ein strategisches
Umdenken bei einigen Nachbarstaaten einfordern.
Wir erwarten von der Konferenz die Konkretisierung
der afghanischen Entwicklungsagenda hinsichtlich Infrastruktur, Landwirtschaft, Bildung und Ausbildung sowie eine Regierungsführung, die die Korruptionsbekämpfung mit einschließt. Auch hier muss es unser Ziel
sein, eine mit Fristen und erreichbaren Meilensteinen
versehene Agenda in allen vier Bereichen zu erarbeiten.
Dabei müssen wir das Gleichgewicht zwischen Anreizen
und afghanischer Selbstverpflichtung unbedingt wahren.
Meine Damen und Herren, der Einsatz ist gefährlich,
und leider müssen wir weiterhin mit Verlusten rechnen.
Wir wissen aus der Vergangenheit: Im Vorfeld von Wahlen verschlechtert sich die Sicherheitslage noch einmal.
Wir müssen mit einer verstärkten Aktivität der Taliban
rechnen; denn sie versuchen, die Demokratisierung des
Landes mit allen Mitteln zu unterbinden. Daher danke
ich unseren Soldatinnen und Soldaten, die tagtäglich für
unsere Sicherheit in Afghanistan kämpfen und zusammen mit zivilen Aufbauhelfern, Polizisten und Diplomaten für die Entwicklung dieses Landes arbeiten.
({3})
Für ihren Einsatz wünsche ich ihnen auf diesem Wege
Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Westerwelle, ich hätte mir eigentlich gewünscht,
dass Sie sich in Ihrer Regierungserklärung nicht in erster
Linie bei dem Herrn Innenminister bedanken, sondern
bei den Polizistinnen und Polizisten, die aufopferungsvoll ihren Dienst in Afghanistan leisten.
({0})
Lieber Herr Westerwelle, ich hätte mir noch etwas gewünscht. Sie haben - lesen Sie nach, wie Sie das gesagt
haben! - auch dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gedankt.
({1})
Sie hätten diesen Dank auch an die vielen zivilen Aufbauhelfer im Einsatzgebiet weitergeben müssen.
({2})
- Lesen Sie es nach! Er hat das nicht getan.
({3})
Was die Frage der Soldatinnen und Soldaten anbelangt: Ihnen hat der Kollege Hahn hier schon Dank gesagt.
Aus Umfragen in Afghanistan wissen wir, dass der
Wunsch nach Sicherheit und Frieden bei den Menschen
in einem sehr hohen Maße ausgeprägt ist, und das ist
auch kein Wunder in einem solch geschundenen Land.
Ich finde, all das, was wir tun, müssen wir daran orientieren, inwieweit es für die Verbesserung des Lebensschicksals der Menschen in Afghanistan notwendig ist.
({4})
Da ist die Frage: Wie kann man ihrem Wunsch nach
mehr Sicherheit nachkommen?
({5})
In der Bundesregierung wird im Moment gerne von
Priorisierung gesprochen. Ich habe den Eindruck: Das ist
das neue Wort für Kürzen, Reduzieren und Einsparen.
Aber in Afghanistan geht es doch um die Frage, wie wir
selbsttragende Sicherheitsstrukturen fördern können.
Lieber Herr Westerwelle, da liegen Anspruch und Wirklichkeit sehr weit auseinander. Ich finde nämlich, eine
Regierungserklärung zu Afghanistan sollte nicht nur von
Wünschenswertem und Nebulösem geprägt sein, sondern auch von einem gewissen Realitätssinn getragen
werden.
({6})
Es gibt einen Fakt, der heute hier allerdings noch
keine Rolle gespielt hat. Man muss wissen, dass in den
Jahren 2008 und 2009 jeweils doppelt so viele Polizisten
ermordet bzw. getötet worden sind wie beispielsweise
Soldaten. Das zeigt, vor welchem Problem wir stehen.
Wenn wir jetzt die Strukturen verbessern wollen, dann
müssen wir - das ist ganz wichtig - Anspruch und Wirklichkeit in Einklang bringen. Die Polizeimaßnahmen und
Polizeivorhaben im Rahmen von EUPOL leiden seit
Jahren jedoch an einer Unterfinanzierung. Sie müssen
wissen: Wir geben für Afghanistan, was den EUPOLBereich anbelangt, insgesamt 55 Millionen Euro aus. Im
Vergleich zu dem, was wir in anderen Bereichen tun, ist
das nicht ausreichend.
({7})
Herr Westerwelle, es ist wichtig, dass Sie auf der Kabul-Konferenz das Thema Polizeiausbildung ansprechen. Es kann nämlich nicht sein, dass Polizeiausbildung
einzig und allein auf Quantität ausgerichtet ist und die
Qualitätsgesichtspunkte dabei vernachlässigt werden.
({8})
Es gibt zwar eine Zielgröße für die Ausbildung, aber es
ist beispielsweise auch so, dass die Ausbildungszeit auf
sechs Wochen verkürzt wird. Ich glaube nicht, dass nach
dieser Zeit vollwertig ausgebildete Polizisten für Einsätze zur Verfügung stehen. Alle Erfahrungen zeigen,
dass dies nicht möglich ist. In Anbetracht der hohen
Quote von Morden an Polizisten müssen wir das Thema
Qualität bei der Polizeiausbildung berücksichtigen. Ich
bitte Sie ganz ausdrücklich, sich in diesem Sinne einzusetzen.
({9})
Ich komme nun zur Frage der wirksamen Bekämpfung von Korruption. Dass wir diesen Kraken bekämpfen müssen, ist ganz klar. Ich will in diesem Zusammenhang einen konkreten Vorschlag machen: Es ist wichtig,
Herr Westerwelle, dass wir uns auch für eine angemessene Bezahlung im Polizeibereich einsetzen. Damit bewahren wir die Polizisten davor, für Korruption anfällig
zu werden. Ich glaube, das wäre ein erster wichtiger und
pragmatischer Schritt, Korruption zu bekämpfen.
Wir sollten uns auf dieser Afghanistan-Konferenz mit
solchen praktischen und konkreten Vorschlägen einbringen. Ich hoffe, dass Sie das tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich
das Wort dem Kollegen Roderich Kiesewetter von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Körper, zu Ihrer Zeit als Staatssekretär lag
die Verantwortung für den Aufbau der Polizei in Afghanistan noch in unseren Händen. Es ist schon interessant,
dass gerade Sie heute hier den EUPOL-Einsatz kritisieren.
({0})
Wir wollen uns nicht zulasten einer Gruppe, seien es
nun Soldaten oder Polizisten, profilieren. Entscheidend
ist doch - gerade im Falle von EUPOL ist das wichtig -,
dass wir wirklichkeitsnah handeln: So müssen wir teilweise Analphabeten ausbilden. Diese Vorhaben sind
auch nicht unterfinanziert. Es kommt vielmehr darauf
an, dass die europäischen Staaten Polizeiausbilder in
ausreichender Anzahl zur Verfügung stellen. Dafür trugen Sie einst Verantwortung, Herr Kollege.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere heutige Debatte hat gezeigt, dass wir ernsthafter, wirklichkeitsnäher und mit mehr Augenmaß an das Thema herangehen.
Unsere Debatte hat auch gezeigt - der Herr Außenminister und auch die Frau Kollegin Hoff haben es angesprochen -, dass es sehr stark auf den regionalen Kontext ankommt. Wenn wir auf die Region schauen, stellen
wir fest, dass es eine ganze Reihe von Spielern gibt, die
auf der Wartebank sitzen. Worum geht es? Zwischen Pakistan und Indien gibt es einen latenten Konflikt, und Pakistan ist relativ instabil. Die zentralasiatischen Staaten
stehen der Gefahr eines wachsenden Islamismus gegenüber, das haben die Entwicklungen in Kirgistan unlängst
gezeigt.
Wir müssen weiterhin im Blick behalten, was die
UNO vor Ort leistet. Der UNHCR Guterres hat Entscheidendes im Rahmen des trilateralen Dialoges zwischen Afghanistan, Pakistan und - man höre und staune dem Iran zuwege gebracht, bei dem es um Flüchtlingsrückkehr und um Flüchtlingszusammenarbeit geht.
Nun muss es darum gehen, zu berücksichtigen, welche Interessen unsere Mitspieler in der Region haben
und wie wir diese Interessen in unsere Politik einbinden
können. Es gibt viele Bereiche - von der Regierungsbank ist es bereits zur Sprache gebracht worden -: Gesundheitspolitik, Landwirtschaft und die zivile Infrastruktur, bei denen wir vorankommen müssen.
Es geht somit um die richtige Strategie. Von der Opposition wurde angemahnt, dass die Strategie noch nicht
greift. Dabei ist doch zu berücksichtigen, dass es, wenn
man eine Neuausrichtung verfolgt, in der Regel mindestens ein halbes Jahr dauert, bis die Ausbildung umgestellt und der Personalkörper verändert ist. Die Bundeswehr geht deshalb jetzt auch ein halbes Jahr später mit
einem neuen Kontingent in die Einsätze; bei den zivilen
Organisationen ist es genauso. Wir wollen mit einem regionalen Ansatz den politischen Islamismus eindämmen,
gegen die Drogenökonomie vorgehen und organisierte
Kriminalität und Korruption im Auge behalten. Das geht
nur in enger Abstimmung vor Ort.
Ich freue mich, dass die Regierung an einem Strang
zieht. Es ist somit ganz wichtig, dass wir wieder einen Afghanistan-Beauftragten der Bundesregierung, den Botschafter Steiner haben, der hier auch anwesend ist.
({2})
Eines ist klar: Es gibt keine Regionalmacht vor Ort.
Es gibt auch keine Aussicht auf ein regionales Bündnis,
das in den nächsten Jahren die Sicherheit vor Ort gewährleisten kann. Das heißt, es kommt weiterhin auf die
UNO und den internationalen Einsatz an, an dem wir in
großem Umfang beteiligt sind. Es kommt auf uns an.
Wenn wir die Probleme nicht lösen, wer dann? Wir dürfen nicht hoffen, dass das andere Kräfte vor Ort übernehmen, sondern wir müssen die Afghanen dazu befähigen,
dass sie die Führung von uns übernehmen. Dazwischen
wird es keinen Schritt geben. Das ist ein Mannschaftsspiel.
({3})
Lassen Sie mich einen weiteren Gedanken anfügen.
Unser Verteidigungsminister hat das letzte Woche - ich
habe den Artikel anders gelesen - deutlich gemacht: Wir
müssen mit unserer Bevölkerung, mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, sehr offen und ehrlich umgehen.
Wir dürfen nicht idealistisch an das Thema herangehen.
Das war in den letzten Jahren vielleicht manchmal notwendig, aber heute ist es entscheidend, dass wir klug mit
der Wahrheit umgehen. Es kommt also darauf an, dass
wir die Kommunikation anders gestalten und zutreffendere Informationen liefern. Wir müssen der Bevölkerung ehrlich sagen - wenn nicht wir, wer sonst? -, dass
wir voraussichtlich für einen bestimmten Zeitraum mit
höheren Gefährdungen und möglicherweise mit mehr
Opfern bei unseren zivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfern und den Helfern in Uniform rechnen müssen.
Das meine ich sehr ernst. Wir müssen sorgsam mit dieser
Situation umgehen. Zu einer glaubwürdigen Politik gehört es dazu, unangenehme Dinge in passende Worte zu
fassen.
Lassen Sie mich abschließend zwei weitere Gedanken
ausführen. Zum einen - es ist zum Teil angeklungen möchte ich auf die afghanischen Befindlichkeiten eingehen. Eine Shura bzw. eine Jirga ist kein Bundestag,
kein House of Lords oder House of Parliament. Es ist
eine afghanische Besonderheit. Es ist das, was die Afghanen auszeichnet, das ist ihre Tradition. Das müssen
wir ernst nehmen, und wir müssen sie ermutigen und befähigen. Natürlich gibt es die afghanische Verfassung,
ein afghanisches Parlament und Wahlen, aber wir müssen gleichzeitig alle Elemente stärken, die die afghanischen Besonderheiten hervorheben und die die Afghanen in ihrem Selbstbewusstsein stärken. Das müssen wir
eng begleiten und kontrollieren. Dabei müssen wir auf
die roten Linien achten. Wir können andere Ansätze
nicht einfach überstülpen. Ich glaube, wir haben in diesem Jahr einen ganz guten Ansatz gewählt. Afghanistan
kann nämlich mit dezentralen Elementen eine viel größere Wirksamkeit entfalten. Das heißt, wir brauchen eine
starke Zentralregierung, aber auch eine Aufwertung der
Regionen.
Noch ein Punkt: Wir haben heute mehrfach über
Reintegration gesprochen. Wir sollten diese Reintegration auch aufgrund unserer eigenen Geschichte sehr aufmerksam begleiten. Reintegration ist ohne einen Versöhnungsprozess nicht denkbar. Diese Versöhnung müssen
die Afghanen aber selbst leisten. Dazu müssen wir sie
ermutigen. Wenn nicht wir, wer dann? Ich denke, das ist
Sache der Afghanen und liegt in der Verantwortung der
Afghanen; dennoch müssen wir hier auch Forderungen
stellen.
Schließlich geht es darum, die Beschlüsse von London zu operationalisieren, messbar zu machen. Ich bin
sehr froh darüber, dass sich in unserem Hause zum
Herbst ein Konsens zwischen mehreren Parteien abzeichnet, wie wir mit Benchmarks umgehen und wie wir
den Wirksamkeitsbericht entwickeln. Für die Koalitionsfraktionen ist aber entscheidend, dass wir es nicht zulassen, dass unsere Entscheidungsbefugnisse auf externe
Expertise verlagert werden. Die Bundesregierung kann
entsprechende Experten beteiligen, aber wir sollten die
Federführung behalten und uns ganz stark dafür einsetzen, dass wir an diesem Prozess intensiv beteiligt werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein
abgestimmtes Übergabekonzept. Dieses abgestimmte
Übergabekonzept muss eindeutige Verpflichtungsgrößen
enthalten. Es muss klar werden: Wenn wir einmal übergeben haben, können wir den Prozess nicht mehr umkehren. Einmal übergeben heißt untrennbar übergeben.
Deshalb brauchen wir sorgfältig erarbeitete Richtlinien
für die Übergabe. Auch dazu dient die Konferenz in Kabul. Gut ist, dass diese Konferenz im Nachgang von einem NATO-Gipfel in Lissabon begleitet wird. Diesen
Prozess werden das Parlament, die Regierung, die internationale Gemeinschaft und die NATO als Hauptverantwortungsträger im Aufgabenbereich der Vereinten Nationen im nächsten halben Jahr sehr sorgsam begleiten
müssen. Wir sind mit dabei. Unser Haus ist aufgerufen,
intensiv mitzuwirken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/2462. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Ernst, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Beschäftigungssituation Älterer, ihre wirtschaftliche und soziale Lage und die Rente ab 67
- Drucksachen 17/169, 17/2271 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
dieser Aussprache nicht beiwohnen wollen, den Saal
möglichst geräuschlos zu verlassen, damit die anderen
der Aussprache folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von der Linkspartei.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Im März 2007 ist mit den Stimmen der damaligen
Großen Koalition die Rente ab 67 eingeführt worden.
Gleichzeitig ist vereinbart worden, dass zum ersten Mal
im Jahr 2010 - und dann alle vier Jahre - zu berichten
ist, ob dieser Beschluss angesichts der Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer tatsächlich aufrechterhalten werden kann.
Wir haben deshalb eine Große Anfrage gestellt, die
seit dem 23. Juni beantwortet ist. An dieser Stelle
möchte ich anmerken, dass ich es verwunderlich fand,
dass Herr Weiß als Erster, und zwar zu einem Zeitpunkt,
als wir die Antwort der Bundesregierung noch gar nicht
hatten, darauf reagiert hat. Herr Weiß, es ist ja wirklich
klasse, dass Sie offensichtlich zu einem Zeitpunkt informiert wurden, zu dem die Antragsteller die Antwort
noch gar nicht kannten.
({0})
Ich denke, das war kein gutes Verfahren. Herr Weiß,
vielleicht wäre ein wenig Zurückhaltung an der einen
oder anderen Stelle ganz hilfreich.
({1})
Angesichts dieses Vorgehens stellt sich für uns allerdings die Frage, ob die Bundesregierung die Überprüfungsklausel überhaupt ernst nimmt. Schade, dass Frau
von der Leyen nicht hier ist. Sie hat nämlich am 17. Mai
im Focus auf die Frage „An der Rente mit 67 wird nicht
gerüttelt?“, geantwortet: „Warum sollten wir?“ - Zum
damaligen Zeitpunkt hat sie die Antworten der Bundesregierung offensichtlich auch noch nicht gehabt, sonst
wäre sie zu einem anderen Ergebnis gekommen.
Wir haben uns gefragt: Welche messbaren Kriterien
gibt es bzw. müssen vorliegen, damit man diese Frage
überhaupt beantworten kann? Es gibt 234 Fragen und
Tausende von Antworten. Einige Antworten machen uns
deutlich: Die Rente mit 67 kann so nicht funktionieren.
Das erste Argument: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten 64-Jährigen an der Gesamtzahl der 64-Jährigen - die dann also mit 65 bzw.
67 Jahre in Rente gehen sollen - liegt zurzeit bei
9,4 Prozent. Das heißt, 90 Prozent der Menschen, denen
Sie eine Rente ab 67 antun wollen, haben in diesem Alter gar keine sozialversicherungspflichtige Arbeit mehr.
Das bedeutet doch im Ergebnis logischerweise, dass sie,
wenn sie mit 64 Jahren schon keinen Job mehr haben,
auch mit 65 und 66 Jahren keinen mehr haben.
({2})
- Auf dieses Argument komme ich gleich, Herr Weiß. Das bedeutet für diese Menschen lediglich schlichtweg
höhere Abschläge. Im Übrigen betrug diese Quote im
Jahr 2000 3,7 Prozent. Okay, die Quote ist gestiegen.
({3})
- Herr Weiß, hören Sie erst einmal zu, Sie sind schon
wieder so vorlaut.
({4})
Wenn wir für die Folgejahre dieselbe Dynamik unterstellen, die es von 2000 bis 2008 gab,
({5})
wird im Jahr 2029 der Anteil der 64-Jährigen, die ohne
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind, bei
75 Prozent liegen. Das heißt, für die Betroffenen bedeutet das auch im Jahr 2029 schlichtweg eine Kürzung ihrer Leistungen.
Bei den Vollzeit-Sozialversicherungspflichtigen beträgt der Anteil der 63- und 64-Jährigen nur 7,4 Prozent.
Sie beginnen mit der Rente ab 67 im Januar 2012. Bis
dahin wird sich das nicht ändern. Das bedeutet für die
meisten Bürger in unserem Lande höhere Abschläge bei
der Rente ab 67 - und sonst überhaupt nichts.
({6})
Das zweite Argument: Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt nach wie vor weit unter den gesetzlich
festgelegten 65 Jahren. Momentan haben wir ein durchschnittliches Renteneintrittsalter von 63 Jahren. Wir sind
also weit davon entfernt, überhaupt über die Rente mit
67 zu diskutieren.
Ich komme - das ist das dritte Argument - zum Rentenversicherungsbeitrag. Die Antworten, die wir von
der Bundesregierung haben, besagen: Es sind um
0,5 Prozent höhere Beiträge für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer erforderlich, wenn wir auf die Rente
ab 67 verzichten und die Arbeitnehmer mit 65 Jahren in
Rente gehen ließen. Was heißt das für einen Menschen,
der 2 000 Euro verdient? Es bedeutet für ihn, dass er um
fünf Euro höhere Rentenbeiträge zu zahlen hätte; er
könnte dann aber mit 65 in Rente gehen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich habe noch keinen Arbeitnehmer getroffen, der gesagt hätte, dass er wegen
fünf Euro brutto mehr zwei Jahre länger arbeiten würde.
Den müssen Sie mir mal zeigen!
({8})
Was ist Ihre Politik? Die Antworten der Bundesregierung besagen, dass Sie die Menschen, weil diese in dem
Alter keine Jobs mehr haben, in Altersarmut treiben.
Denn sie werden durch die Rente mit 67 um 7,2 Prozent
höhere Abschläge haben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, und sonst nichts.
Jetzt könnten wir noch über Demografie streiten; ich
will eigentlich gar nicht darüber streiten.
({9})
Dazu haben wir ganz andere Ansichten als Sie, die durch
Herrn Rürup belegt sind, der die Produktivitätsentwicklung höher einschätzt als die demografische Entwicklung.
Von Ihnen möchte ich gern hören, was Sie den Menschen sagen,
({10})
die mit 63, 62 oder 61 nicht mehr arbeiten können und
laut Ihnen bis 67 arbeiten sollen. Sie sollten wenigstens
für diese Menschen Antworten haben, ihnen zum Beispiel sagen können, dass sie umschulen sollen. Aber sagen Sie einmal einem Dachdecker, dass er zum Buchhalter umschulen soll. Was soll der tun? Welche Antworten
haben Sie für diese Menschen? Sie haben keine einzige
Antwort.
({11})
Sie verstecken sich hinter dem Argument der Demografie. Letztendlich ist Ihr ganzes Vorgehen bei der Rente
mit 67 ein Manöver zur Kürzung der Renten für die
Mehrheit der Menschen im Interesse der deutschen Versicherungswirtschaft, damit sich möglichst viele privat
versichern.
({12})
Das ist Ihre Politik. Die ist wirklich unzumutbar.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({13})
Der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim
Fuchtel hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Ernst, wenn ich nicht Parlamentarischer Staatssekretär wäre, würde ich auf Ihre agitatorische Rede eine
ganz andere Gegenrede halten, als ich es jetzt in dieser
Funktion tun werde.
({0})
Die Bundesregierung hat auf Ihre Große Anfrage geantwortet und deutlich gemacht: Die Bevölkerungszahl
in Deutschland wird zukünftig sinken, vor allem aber
wird die Bevölkerung älter werden. Wenn es stimmt,
dass die Lebenserwartung der Älteren steigt, wenn es
stimmt, dass die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurückgeht, und wenn es stimmt, dass die Anzahl der Älteren zunimmt, dann kann man den Kopf
nicht einfach in den Sand stecken, dann muss etwas geschehen.
({1})
Lassen Sie mich das an einigen signifikanten Fakten
verdeutlichen. Sie wollen ja möglichst nicht über die Demografie diskutieren; aber das geht nicht. Die Fakten
sind gesetzt. Auch wenn Prognosen sonst oftmals nicht
stimmen, hier sind sie ziemlich zielgenau. Wenn das zumindest anerkannt wird, sind wir einen Schritt weiter.
Herr Staatssekretär, möchten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst zulassen?
Ich habe mir vorgenommen, darauf hinzuweisen, dass
wir im Herbst eine große Debatte über diese Punkte führen werden und ich bei meiner Rede heute daher keine
Zwischenfragen zulassen möchte. Ich werde Ihnen dann
zum gegebenen Zeitpunkt sehr ausführlich zur Verfügung stehen.
({0})
Bis 2030 wird die Lebenserwartung um weitere
2,5 Jahre steigen. Andererseits wird das Potenzial an
Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2030 um
6 Millionen Personen zurückgehen. Gleichzeitig wird
die Anzahl der Älteren um gut 5,5 Millionen zunehmen.
Was das bedeutet, ist klar. Hätte man nichts getan, dann
würden die Rentnerinnen und Rentner in Zukunft geringere Renten erhalten und die Beitragszahler für diese geringeren Renten auch noch höhere Beiträge zahlen. In
der Folge würde der Wohlstand für alle sinken. Das kann
und darf es nicht geben. Das kann und darf nicht unsere
Zukunft sein. Deswegen muss hier gehandelt werden.
({1})
Die Große Koalition hat den Mut gehabt, sich dieser
demografischen Herausforderung zu stellen. Wir haben
unter der Federführung des damaligen Arbeits- und Sozialministers Franz Müntefering den Handlungsbedarf
gesehen und die Anhebung der Regelaltersgrenze auf
67 Jahre gesetzlich festgelegt. Das war keine leichte,
aber eine notwendige, mutige und richtige Entscheidung.
({2})
Warum klatschen eigentlich Sie von der SPD nicht?
Sie haben das doch mitbeschlossen.
({3})
Was damals richtig war, kann heute so falsch nicht sein;
davon sind wir überzeugt.
({4})
Es gibt hier einige, die die Richtung sogar umkehren
wollen. Wenn man das Rad zurückdreht und die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 rückgängig macht,
dann - das sage ich ganz deutlich - hat das gewaltige
Konsequenzen: Der Beitragssatz bei der Rentenversicherung wäre dann langfristig 0,5 Prozentpunkte höher. Was
bedeuten diese 0,5 Prozentpunkte?
({5})
- Rechnen Sie das mal auf die gesamtstaatlichen Kosten
um: Die Kosten einer Beitragserhöhung um 0,1 Prozentpunkte betragen 1,1 Milliarden Euro; also entstünden bei
einer Anhebung um 0,5 Prozentpunkte Jahr für Jahr zusätzliche Kosten in Höhe von über 5 Milliarden Euro.
Diese Kosten müssen von irgendjemandem aufgebracht
werden; das müssen Sie um der Wahrheit willen dazusagen.
({6})
Es ist aber nicht nur das; auch ein zweiter Punkt wird
verschwiegen: Die gesetzlich vorgeschriebene Beitragssatzobergrenze von 22 Prozent würde ebenfalls überschritten oder müsste angehoben werden.
({7})
- Das juckt Sie wahrscheinlich nicht;
({8})
aber das juckt denjenigen, der darüber nachdenkt, wie
die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf
Dauer gewährleistet werden kann.
({9})
Es ist klar: Wer hier etwas anderes will, der muss
auch Vorschläge machen.
({10})
Solche Vorschläge konnte ich zumindest in der ersten
Rede des Kollegen Ernst nicht erkennen.
Die Höhe der gesetzlich fixierten Beitragssatzobergrenze und der ebenfalls gesetzlich fixierten Rentenniveauuntergrenze sind in ihrer Höhe nicht willkürlich
gewählt. Sie sind die Grundlage dafür, dass den Rentnerinnen und Rentnern auch in Zukunft eine anständige
Rente garantiert werden kann und die jungen Menschen
- auch das ist wichtig; dazu hören wir von Ihnen auch
nichts - nicht überfordert werden. Das Thema Generationengerechtigkeit muss hier ebenfalls immer wieder
erwähnt werden.
({11})
Es war demnach der richtige Weg, die Regelaltersgrenze
auf das 67. Lebensjahr anzuheben. Ich betone nochmals:
Es muss auch auf die Generationengerechtigkeit geachtet werden.
Manchmal hat man hier sogar den Eindruck, dass die
Anhebung der Altersgrenze bereits morgen bevorsteht.
({12})
- 2012 beginnt die Anhebung. Warum sagen Sie nicht,
dass die Altersgrenze von 67 Jahren erst 2029 erreicht
wird?
({13})
Sie sollten der Wahrheit die Ehre geben und dies so sagen. - Es geht um kleine Schritte, über 17 Jahre verteilt.
In diesen 17 Jahren werden sehr viele Veränderungen
eintreten, was die Arbeitsbedingungen in Deutschland
betrifft. Wir reden also über einen langen Zeitraum. Wer
hätte vor 20 Jahren gedacht, dass wir heute alle ein kleines Telefon in der Tasche haben, mit dem wir sogar Fotografien machen und diese versenden können!
({14})
Sie werden uns doch wohl nicht weismachen wollen,
dass sich in den nächsten 20 Jahren nicht ebenfalls große
Entwicklungen vollziehen werden, die dazu beitragen,
dass sich die Arbeitsbedingungen anders gestalten.
({15})
Ich muss einen weiteren Gesichtspunkt erwähnen:
Wir werden, wie ich vorhin schon gesagt habe, in Zukunft ungefähr 6 Millionen Menschen weniger haben,
die im erwerbsfähigen Alter sind. Deswegen muss auch
mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland etwas getan werden. Wir sind dafür, dass das in Deutschland vorhandene Potenzial an Arbeitskräften möglichst stark ausgenutzt wird,
({16})
bevor man über andere Lösungen nachdenkt.
Die richtige Überschrift heißt daher aus allen aufgezeigten Gründen nicht „Rente mit 67“, sondern „Arbeit
bis 67“.
({17})
Die Aufgabe, die vor uns steht und der wir uns alle widmen müssen, ist, den damit verbundenen Prozess besser
zu gestalten, entsprechende Konzepte zu entwickeln und
diese dann auch umzusetzen.
({18})
Es gibt bereits erste gute Zeichen: Die Beschäftigung
Älterer hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
So ist die Zahl der Erwerbstätigen im Alter von 55 bis
65 Jahren seit 2000 um fast 1 Million auf über 5 Millionen im Jahr 2008 gestiegen. Selbst im Krisenjahr 2009
hat sich der Arbeitsmarkt für Ältere stabil gezeigt. Wir
sollten das nicht kleinreden.
Das Zweite. Die Arbeitslosigkeit Älterer ist gesunken, und der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den
älteren Arbeitslosen ist von 58 Prozent im Jahr 2007 auf
42 Prozent im Jahr 2009 zurückgegangen.
Vor diesem Hintergrund halten wir es nach wie vor
für den richtigen Weg, dass wir das Renteneintrittsalter
auf 67 Jahre gesetzt haben. Wir werden alles tun, um den
Menschen die Ängste zu nehmen,
({19})
dieses Alter im Erwerbsleben nicht zu erreichen.
Wir könnten noch lange über dieses Thema diskutieren. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir unseren umfangreichen Bericht im Herbst dieses Jahres vorlegen werden.
Sie haben ihn übrigens mitbeschlossen, meine Damen
und Herren. Wenn Sie sich daran genauso gut erinnern
wie an Ihren Beschluss, das Renteneintrittsalter auf
67 Jahre zu setzen, dann steuern wir sicher auf eine gute
Diskussion zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Elke Ferner hat jetzt für SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Fuchtel, es bestreitet niemand, dass sich die Beschäftigungssituation der Älteren verbessert hat.
({0})
Wir bestreiten nur, dass das ausreicht. Ich hätte mir von
Ihnen gewünscht, dass Sie nicht erst im Herbst dieses
Jahres, sondern jetzt Vorschläge vorlegen, über die dieses Haus dann hätte diskutieren können.
({1})
Aber Sie haben im Prinzip nur das vorgetragen, was man
auch in der Antwort auf die Große Anfrage hätte nachlesen können. Neuigkeiten waren von Ihnen nicht zu hören.
({2})
Herr Fuchtel, es kommt auch darauf an, wie die Qualität der Beschäftigung ist. Allein die Beschäftigungsquote zu betrachten, reicht nicht aus.
({3})
Die Frage ist doch: Ist die Beschäftigung existenzsichernd, oder ist sie das nicht? Ist der Beschäftigte sozial abgesichert, oder ist er das nicht? Entsprechen die
Arbeitswelt und die Arbeitsbedingungen auch der individuellen Leistungsfähigkeit des Beschäftigten? Das
sind die zentralen Fragen.
Der Anspruch muss sein, dafür zu sorgen, dass all
diejenigen, die arbeiten wollen, so lange arbeiten können, bis sie die Regelaltersgrenze - egal wie hoch sie
ist - erreichen. Aber dazu bedarf es zusätzlicher Mittel.
Denn wir wissen, dass die Beschäftigungssituation der
Älteren schlechter ist als die der mittleren und der jüngeren Generation. In Ihrem Sparpaket kürzen Sie aber ausgerechnet bei den Maßnahmen für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Wer braucht diese Mittel denn am meisten?
Es sind die Älteren, die nicht über den normalen Weg
der Arbeitsvermittlung eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt finden.
({4})
Ihnen nehmen Sie die Perspektive, wieder in sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde Beschäftigung zu kommen.
Wir brauchen auch eine Umsetzungsstrategie, was die
Qualität der Arbeit anbelangt; auch dazu habe ich von
Ihnen gerade nichts gehört. Wir alle wissen: Wir haben
kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit,
weniger in großen Betrieben, sondern eher in kleinen
und mittleren Betrieben. Ich würde mir wünschen, dass
die entsprechenden Informationen flächendeckend in die
Betriebe getragen werden, damit dort begonnen werden
kann, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass älter
werdende Belegschaften mit ihnen zurechtkommen. Das
alles ist Aufgabe Ihres Ressorts. Aber gehört haben wir
dazu nichts.
Natürlich brauchen wir auch flexible Übergänge in
den Ruhestand; auch dazu habe ich nichts gehört.
({5})
- Herr Kolb freut sich schon. - Aber das, was Sie vorschlagen, ist im Interesse der Besser- und Höchstverdienenden.
({6})
Das hat nichts damit zu tun, auch für Menschen mit
niedrigem Einkommen die Möglichkeit des flexiblen
Übergangs in die Rente zu schaffen.
({7})
Wir schlagen vor, dass nicht nur Menschen, die leistungsgemindert sind, gegenüber der Bundesagentur für
Arbeit einen Anspruch auf Beschäftigung bekommen
sollten, damit sie, wenn sie im ersten Arbeitsmarkt nicht
vermittelt werden können, über öffentlich geförderte Beschäftigung eine Beschäftigungsperspektive im Alter erhalten.
Wir schlagen auch vor, die Übergänge zu flexibilisieren.
({8})
Beispielsweise könnte die Teilrente flexibilisiert werden,
sowohl was den Zugang zur ihr als auch was die Höhe
des Nebenverdienstes und der Zuverdienstgrenzen anbelangt.
Wir schlagen darüber hinaus vor, dass man in Zukunft
Zusatzbeiträge, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bisher nur relativ rentennah zahlen können,
während der gesamten Erwerbsphase zahlen kann und
dass das auch die Arbeitgeber tun können. Das eröffnet
Raum für tarifliche Regelungen und die Möglichkeit,
Abschläge zu kompensieren und die Rentenanwartschaften zu erhöhen, wenn man früher in Rente gehen will.
Auch davon habe ich bisher nichts gehört.
({9})
Wir haben den Vorschlag in den Bundestag eingebracht - das ist bei der Koalition auf wenig Gegenliebe
gestoßen -, die Geltungsdauer der Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu verlängern, wenn ein junger
Mensch einen Ausbildungsplatz bekommt oder ein
frisch ausgebildeter junger Mensch eine Beschäftigungsperspektive erhält. Sie haben zwar die demografischen
Daten richtig dargelegt. Aber im Moment brauchen wir
Brücken für die Älteren in die Ruhephase und Brücken
für die Jüngeren in die Erwerbsphase. Auch dazu höre
ich von Ihnen nichts.
({10})
Wenn man über die Rente spricht, dann sind armutsfeste Renten ein wichtiger Punkt. Auch hier haben wir
kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit.
Die Grundvoraussetzung für armutsfeste Renten sind armutsfeste Löhne und möglichst ungebrochene Erwerbsbiografien. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen
Mindestlohn. Das ist das Erste, was notwendig ist.
({11})
- Das hören Sie nicht gerne. Aber es ist bekannt, dass
Sie Wahrheiten nicht gerne hören.
Ihre Weigerung, hier etwas zu tun, ist unverantwortlich. Wir brauchen auch nicht mehr Minijobs oder eine
Ausweitung der Grenze über 400 Euro hinaus, sondern
mehr sozialversicherungspflichtige und existenzsichernde
Arbeitsverhältnisse.
({12})
Wir brauchen vor allem für Frauen mehr Vollzeitbeschäftigung statt Teilzeitbeschäftigung. Auch das ist ein
Teil des Problems von Frauenarmut im Alter.
({13})
Man muss sehen, dass insbesondere für Mütter die Teilzeitbeschäftigung mittlerweile zum Regelarbeitsverhältnis geworden ist. Sie befördern das mit Ihren Maßnahmen auch noch bzw. versuchen, die Frauen wieder aus
dem Arbeitsmarkt herauszudrängen, obwohl die meisten
Frauen gerne mehr arbeiten wollten, wenn sie entsprechende Arbeitsplätze und Rahmenbedingungen finden
würden.
Während Sie SGB-II-Empfängerinnen das Elterngeld
streichen, bekommt die Millionärsgattin, die nicht arbeitet, es weiterhin. Gleichzeitig wird am Betreuungsgeld
festgehalten. Das ist im Hinblick auf den Arbeitsmarkt
absolut kontraproduktiv und verschärft die Altersarmut.
Wir haben bereits Anträge zu Verlängerung der Rente
nach Mindesteinkommen und Höherbewertung der Zeiten der Arbeitslosigkeit eingebracht. Herr Fuchtel, weil
Sie eben die Beitragssatzziele so hoch gehängt haben:
Mit der Streichung der Rentenversicherungsbeiträge für
SGB-II-Empfänger - das sind 1,8 Milliarden Euro - und
der Anhebung des Beitragssatzes in der gesetzlichen
Krankenversicherung - das macht 640 Millionen Euro entziehen Sie der Rentenversicherung Jahr für Jahr über
2,4 Milliarden Euro, mit der Folge, dass die Schwankungsreserve geringer wird und dass die Beitragssatzziele für 2014 und 2015 mit Sicherheit nicht erreicht
werden können.
Wenn Sie im kommenden Herbst Ihren Bericht vorlegen, werden wir ein eigenes Konzept vorlegen. Ich bin
gespannt, was Sie anzubieten haben. Wenn Sie aber Ihre
unsoziale Sparpolitik fortsetzen werden, haben die Beschäftigten nichts Gutes zu erwarten.
({14})
Herr Kollege Ernst, Sie hatten sich zu einer Kurzintervention zur Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs gemeldet. Sie sollen die Möglichkeit dazu haben.
Frau Präsidentin, recht herzlichen Dank. - Herr
Fuchtel, ich will auf den Vorwurf eingehen, wir berücksichtigten die demografische Entwicklung nicht. Selbstverständlich berücksichtigen wir sie. Sie selber haben
gesagt: Die Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik
nimmt ab. - Ich bin mit Ihnen einer Meinung. Gleichzeitig weist aber das Bruttoinlandsprodukt eine jährliche
Steigerungsrate in Höhe von 1,6 bzw. 1,7 Prozent auf.
Das heißt, dass im Jahr 2030 der Kuchen größer ist und
sich weniger Menschen diesen Kuchen teilen müssen.
Wenn Sie diesen Fakt jetzt anhand normaler mathematischer Erkenntnisse bewerten, dann erkennen Sie, dass
sich trotz bzw. aufgrund dieser demografischen Veränderung weniger Menschen einen größeren Kuchen teilen
können, womit die Kuchenstücke für die Einzelnen größer sind.
({0})
Das ist die Realität aufgrund der Demografie, und diesen
Fakt nehmen Sie nicht zur Kenntnis.
Herr Fuchtel, die Produktivitätsentwicklung ist stärker und dynamischer als die Entwicklung der Bevölkerungszahl. Das Problem ist allerdings, dass sich die
Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen widerspiegelt; darauf hat Frau Ferner hingewiesen. Da sich
die Produktivitätsentwicklung nicht mehr in den Löhnen
widerspiegelt, haben wir kein Problem mit der Demografie, sondern ein Problem mit der Gerechtigkeit und
der Verteilung.
({1})
Das ist das eigentliche Thema, wenn es um die Rente
geht.
Das Zweite, was ich Ihnen sagen muss: Sie haben die
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie als Grund
dafür angeführt, dass die Rentner verzichten müssen,
und von ein paar Milliarden Euro gesprochen. Es tut mir
leid, aber wenn ich sehe, was wir hier für die Banken, für
die Rettung des Euros und sonst noch beschließen,
({2})
dann muss ich sagen: Die höheren Ausgaben, die wir in
diesem Zusammenhang für die Rente hätten, sind Peanuts. - Deshalb möchte ich sagen: Es geht hier in dieser
Debatte um die soziale Gerechtigkeit und nicht um die
Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie. Das müssen Sie berücksichtigen.
Ich habe kein einziges Argument und auch keine einzige Zahl von Ihnen gehört - auch aus Ihrer Antwort auf
unsere Anfrage geht das nicht hervor -, womit Sie begründen könnten, dass die Rente mit 67 richtig ist.
({3})
Herr Fuchtel möchte nicht reagieren.
({0})
Deswegen gebe ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für
die FDP das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Ferner, ich habe bei Ihrer Rede vermisst,
zu hören, wie Sie es jetzt mit der Rente mit 67 halten;
({0})
denn der Wahrheit zuliebe muss man hier einmal festhalten: Die Rente mit 67 ist die Erfindung eines SPDMinisters gewesen.
({1})
- Ich war zwar nicht dabei, aber es ist damals umfangreich dokumentiert worden, dass Franz Müntefering vor
einer Kabinettssitzung nachdrücklich auf die Kanzlerin
eingewirkt hat, mit dem Ziel, eine Erhöhung des Regelrenteneintrittsalters herbeizuführen.
({2})
- Frau Kollegin Ferner, wenn das anders war, dann können Sie das hier ja erklären. Meine Erinnerung ist so,
und deswegen hätte es Ihnen als SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag gut angestanden, entweder zu sagen:
„Wir halten weiter an unserer damaligen Erkenntnis
fest“,
({3})
oder zu sagen: „Wir sind davon abgerückt“. - Es wäre
nicht überraschend, wenn Sie davon abrücken würden,
weil Sie ja versuchen, wenn ich das richtig sehe, die gesamte Agenda 2010 Zug um Zug zurückzunehmen. Ihrer
Urheberschaft werden Sie hier aber nicht ledig.
({4})
Herr Kolb, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner zulassen?
Selbstverständlich, ja.
Bitte schön.
Ich bin so nett und verlängere Ihnen Ihre Redezeit. Ich stelle Ihnen eine kurze Frage, die Sie auch ganz kurz
beantworten können.
({0})
Ja, mal schauen.
Stimmen Sie mir zu, dass im Wahlprogramm der
CDU und der CSU im Jahre 2005 das Thema „Anhebung des Renteneintrittsalters“ stand und im Wahlprogramm der SPD nicht?
({0})
Frau Kollegin Ferner, ich habe nicht die Wahlprogramme aller Parteien der vorletzten Bundestagswahl im
Kopf. Das hat keiner hier in diesem Hause; das muss
man ehrlicherweise sagen.
Ich weiß aber noch, wer wie abgestimmt hat, bevor
die Rente mit 67 ins Bundesgesetzblatt aufgenommen
wurde:
({0})
Die SPD und die Union haben dafür gestimmt, die FDP
und andere Fraktionen in diesem Haus haben dagegen
gestimmt. - Das war so, und daran kann ich mich noch
sehr gut erinnern. Sie bleiben hier also verhaftet, ob Sie
das wollen oder nicht.
({1})
Ich will jetzt gerne auf den Antrag der Linken zu
sprechen kommen. Herr Kollege Ernst, Sie haben hier
eine Situationsbeschreibung hinsichtlich der Erwerbsteilhabe älterer Menschen vorgenommen. Als Momentaufnahme ist sie natürlich richtig. Man muss aber
auch sagen: Sie ist natürlich auch das Ergebnis politischer Entscheidungen der Vergangenheit, und wir sind
im Moment dabei, umzusteuern.
Wir haben die Möglichkeit, in geförderte Altersteilzeit zu gehen, abgeschafft. Das wird perspektivisch natürlich zu einem deutlichen Anstieg der Erwerbsbeteiligung in dieser Altersklasse führen. Diejenigen, die schon
vor wenigen Jahren in Altersteilzeit gegangen sind,
kommen in der aktuellen Statistik aber natürlich nicht
vor.
({2})
- Ja, sie sind nicht mehr dabei.
({3})
- Ja, den Anteil der Quote, aber trotzdem sind sie aus
dem Erwerbsleben bzw. aus der aktiven Phase ausgeschieden; das muss man doch sehen.
Deswegen ist es wichtig und richtig gewesen, dass
wir hier jetzt einen Paradigmenwechsel vorgenommen
haben. In den letzten Jahren war es in den Betrieben angesagt, ältere Arbeitnehmer irgendwie in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken. Wir halten das für falsch.
Wir haben das schon immer für falsch gehalten, weil ältere Arbeitnehmer Erfahrungsträger sind. Sie haben eine
hohe soziale Kompetenz und technisches Wissen. Sie
sind für die Unternehmen unverzichtbar.
Deswegen habe ich schon vor Jahren - das können
Sie nachlesen - einen Paradigmenwechsel bei den Managern gerade der DAX-Unternehmen gefordert und darauf hingewiesen, dass wir umsteuern müssen. Ältere
Arbeitnehmer müssen die Chance haben, länger dabeizubleiben. Denn die niedrige Erwerbsquote ist auch das
konkrete Ergebnis aktiver Entscheidungen in deutschen
Unternehmensleitungen gewesen. Das wollen wir ändern. Auf diesem Weg befinden wir uns.
({4})
Die Erwerbsquote nimmt zu. 57,1 Prozent der 55- bis
64-Jährigen sind zurzeit in Arbeit. Damit liegen wir
deutlich oberhalb der Lissabon-Ziele. Wir werden den
Anteil weiter erhöhen. Denn eines ist klar - das sage ich
ohne Wenn und Aber, auch wenn wir damals in diesem
Hause gegen die Rente mit 67 gestimmt haben -: Wenn
wir länger leben, dann werden wir auch länger arbeiten
müssen.
({5})
Fraglich ist nur - darauf haben wir damals schon hingewiesen -, ob man es mit einem festen Renteneintrittsalter angeht, oder ob es besser ist, die Menschen auf der
Basis einer eigenen freien Entscheidung möglichst lange
im Erwerbsleben zu halten. Es war doch in den Unternehmen so, dass etwa einem 60-Jährigen eingeredet
wurde, in den Vorruhestand zu gehen, um einem Jüngeren Platz zu machen, der vielleicht nachrücken würde,
was in vielen Fällen aber gar nicht geklappt hat.
({6})
Ich glaube, es ist besser, wenn sich der Beschäftigte
selbst fragt, ob er mit Anfang 60 noch ein Jahr länger arbeiten möchte, und ihn dann selbst entscheiden zu lassen. Das wird im Ergebnis - das bestätigen Erfahrungen
in den skandinavischen Ländern, auch wenn einige Kollegen von den Linken das nicht glauben wollen - zu einer deutlich höheren Erwerbsbeteiligung führen.
Unser Angebot an diese Menschen ist: Wir wollen einen flexiblen Übergang gewährleisten. Dabei freue ich
mich, Frau Ferner - in diesem Zusammenhang trifft das
Sprichwort „Steter Tropfen höhlt den Stein“ zu -, dass
die SPD offensichtlich einige Teile unseres Konzeptes
übernommen hat.
Wir wollen, dass man mit 60, wenn man grundsicherungsfrei ist - das ist beileibe keine hohe Anforderung,
weil auch die private bzw. betriebliche Altersvorsorge
berücksichtigt werden soll; auch für Bedarfsgemeinschaften soll das geprüft werden -, mit einer Voll- oder
Teilrente in den Ruhestand gehen kann. Gleichzeitig sollen alle Zuverdienstgrenzen entfallen. Denn es ist nicht
nachzuvollziehen, warum jemand, der eine Vollrente bezieht, nach heutiger Rechtslage nur 400 Euro hinzuverdienen kann. Es gibt viele Menschen, die in den Vorruhestand gegangen sind, aber dann feststellen, dass sie
gerne noch ein oder zwei Jahre arbeiten würden, und
zwar zu einem höheren Verdienst als 400 Euro, weil sie
sich noch nicht zum alten Eisen zählen. Das ist derzeit
nicht möglich, und das wollen wir ändern. Das ist unser
innovativer Ansatz.
Wenn es die Mehrheitsfindung in diesem Hause erleichtert, können wir gerne mit einer Verbesserung der
Teilverrentungsmöglichkeiten anfangen. Man muss aber
ehrlicherweise berücksichtigen, dass der Bürokratieaufwand bei der Berechnung der Zuverdienste bei Teilrenten sehr hoch ist, was die Akzeptanz in der Praxis deutlich reduziert. Warum soll aber nicht jemand, der eine
Teilrente bezieht, unbegrenzt hinzuverdienen können?
Die Menschen in unserem Land sind längst so weit. Das
habe ich auf vielen Veranstaltungen erlebt, auf denen ich
unser Konzept erläutert habe. Sie wollen den flexiblen
Rentenzugang, und sie wollen als Rentner selbst entscheiden können, wie viel sie noch arbeiten. Das sollten
wir den Menschen ermöglichen.
Ich komme zum Schluss. Die Altersarmut ist Gott
sei Dank derzeit kein Massenphänomen. Es ist kein großes Problem.
({7})
Aber es verschärft sich.
({8})
Der Normalfall wird aber auch weiterhin ein ausreichendes Alterseinkommen sein, jedenfalls dann, wenn man
nicht allein von der gesetzlichen Rente ausgeht, sondern
vom Zusammenwirken von gesetzlicher Rente und privater und betrieblicher Altersvorsorge.
Ich bitte Sie, die Zahlen im Alterssicherungsbericht
2005 der Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen. Derzeit beziehen 2,5 Prozent der über 65-Jährigen Leistungen
der Grundsicherung. Künftig werden es 8 bis 9 Prozent
sein. Sie, Herr Strengmann-Kuhn, haben „14 Prozent“
dazwischengerufen, das ist ein sehr pessimistisches
Szenario.
Die richtige Antwort darauf heißt Prävention statt
nachsorgender Kompensation. Prävention ist besser. Wir
müssen junge Menschen ermutigen, beizeiten eine eigene Zusatzvorsorge über die gesetzliche Rente hinaus
anzustreben, und ihnen garantieren, dass sie im Alter davon profitieren, indem ihnen Anrechnungsfreibeträge für
private und betriebliche Altersvorsorge gewährt werden.
({9})
Das ist der richtige Weg.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich sehe, Frau Präsidentin, dass meine Redezeit zu
Ende ist. Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt
das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ernst, Ihre Rede hat einmal mehr deutlich
gemacht, wo der Unterschied zwischen Ihnen und uns
Grünen liegt: Während Sie rückwärtsgewandt und sozialstaatskonservativ zu einem Sozialstaat der Vergangenheit zurückwollen, sind wir der Zukunft zugewandt
({0})
und wollen den Sozialstaat reformieren.
({1})
Wir alle leben im Durchschnitt immer länger und leben auch immer länger gesünder. Das ist auch gut so.
Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
({2})
Die längere Lebenserwartung führt - neben der gesunkenen Geburtenquote - dazu, dass der Anteil der Alten in der Gesellschaft steigt. Wir stellen uns dieser
Herausforderung, während die Linke zurück zum Sozialstaat der 1980er-Jahre will. Die Linke ist die Partei der
Vergangenheit - die Grünen sind die Partei der Zukunft!
({3})
Gleichzeitig sind die Grünen auch die Partei der ökonomischen Vernunft. Wir wissen nämlich, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gleich zwei gute Wirkungen für die Rentenversicherung hat: Auf der einen
Seite werden länger Beiträge gezahlt und die Einnahmen
der Rentenversicherung gesteigert. Auf der anderen
Seite ist eine längere Lebensarbeitszeit gut für die Ausgabenseite, weil weniger lang Renten gezahlt werden.
Aufgrund dieser doppelten Wirkung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit besonders effektiv und eine
ganz wichtige Stellgröße für die Finanzierung der Rentenversicherung in der Zukunft. Auch das sollten Sie,
Herr Ernst, endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({4})
Und was volkswirtschaftlich gilt, gilt auch für jeden
Einzelnen und jede Einzelne. Je länger gearbeitet wird,
desto höher sind die Renten.
({5})
- Ich habe ja noch ein paar Minuten.
Ich habe gerade über den Durchschnitt geredet, wir
wissen aber auch, dass nicht jede Person bis zu einem
Alter von 67 oder auch nur 65 Jahren arbeiten kann - das
beträfe also auch die Rente mit 65, die Sie ja wollen.
({6})
Häufig haben gerade diejenigen, die früher in Rente gehen, eine geringere Lebenserwartung. Das sollte auf der
rechten Seite des Plenums einmal zur Kenntnis genommen werden. Von diesen Personen mit einer kürzeren
Lebenserwartung, die früher in Rente gehen müssen, zu
verlangen, dass sie bis 67 arbeiten, wäre in der Tat zynisch.
Die Alterung verläuft individuell sehr unterschiedlich. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, manche
können und wollen aber auch noch mit 75 oder älter arbeiten. Johannes Heesters arbeitet sogar noch mit über
100.
({7})
Diesen individuellen Unterschieden muss ein Alterssicherungssystem gerecht werden. Das ist für uns eine
ganz wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Wir wollen deswegen flexible Übergänge in den Ruhestand schaffen, über die die Menschen möglichst
selbstbestimmt entscheiden können, Herr Kolb.
({8})
Denn wir Grünen sind nicht nur die Partei der Zukunft
und der ökonomischen Vernunft, sondern wir sind auch
die Partei der Freiheit und Selbstbestimmung.
({9})
Aber im Gegensatz zur FDP wollen wir nicht nur Freiheit und Selbstbestimmung für die Besserverdienenden
({10})
- Sie haben eben in Ihrer Rede schon wieder eine
Gruppe ausgeschlossen. Wir dagegen wollen das tatsächlich allen ermöglichen.
({11})
Ich bin deswegen der Meinung, dass wir von einem
starren Renteneintrittsalter wegkommen sollten. Warum
sollten die Menschen nicht in der Tat selbst entscheiden,
wann sie in Rente gehen, ob sie ihre Rente nur teilweise
in Anspruch nehmen, ob sie ihre Arbeitszeit sofort ganz
reduzieren oder in Stufen?
({12})
Diese Entscheidung sollten wir den Menschen schon früher als mit 67 Jahren ermöglichen.
Wir sollten es den Menschen aber gleichzeitig auch
ermöglichen - und daran fehlt es im Moment noch -,
länger zu arbeiten, und zwar jedem nach seinen Bedürfnissen und jedem nach seinen Fähigkeiten.
({13})
Wir wollen es den Menschen ermöglichen, früher - zumindest teilweise - in Rente zu gehen. Gleichzeitig muss
es sich auch lohnen, länger zu arbeiten.
({14})
Die skandinavischen Länder haben mit dieser Kombination gute Erfahrungen gemacht - Herr Kolb hat eben
schon darauf hingewiesen,
({15})
auch wenn die skandinavischen Länder sonst nicht gerade Ihr Vorbild sind; das muss man auch sagen. Dort
gibt es jedenfalls die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen.
({16})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, und reden Sie nicht
andauernd dazwischen!
({17})
In Schweden gibt es die Möglichkeit, früher in Rente
zu gehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, länger zu
arbeiten. Im Durchschnitt arbeiten die Schweden länger.
Länger, aber weniger arbeiten wäre also das Motto.
Für uns ist eine stärkere Flexibilisierung des Renteneintritts eine wichtige Voraussetzung für eine generelle
Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Von der Bundesregierung haben wir dazu bisher noch nichts gehört. Auch
von Ihnen von der FDP habe ich in letzter Zeit keinen
Antrag dazu gesehen. Bringen Sie doch einen entsprechenden Antrag ein, dann können wir konstruktiv darüber diskutieren.
Für uns ist aber auch wichtig - das unterscheidet uns
von der FDP -, dass diejenigen, die früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden, nicht dafür mit einem höheren
Armutsrisiko bestraft werden. Wir wollen deshalb eine
garantierte Mindestrente - wir nennen das Garantierente - für das Alter, die den Grundbedarf deckt. Wer
mehr als 30 Jahre versichert war, muss sich darauf verlassen können, dass er eine Rente erhält, die über dem
Grundsicherungsniveau liegt.
({18})
Auch diesbezüglich gibt es von der Regierung nichts außer einem sehr kryptischen Satz in der KoalitionsvereinDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
barung. Im Gegenteil: Mit ihrem dreisten Griff in die
Rentenkasse durch das sogenannte Sparpaket wird die
Altersarmut ansteigen. Es handelt sich um über
2 Milliarden Euro. Frau Ferner hat das eben schon angedeutet. Das hat mit Sparen überhaupt nichts zu tun, weil
die Ausgaben der Rentenversicherung sogar noch steigen werden und die Ausgaben der Kommunen für die
Grundsicherung ebenfalls. Das heißt, bezahlen müssen
es die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die
Kommunen. Das Ganze nennen Sie Sparen. Für uns
sieht Sparen anders aus.
({19})
Herr Strengmann-Kuhn, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben darum gebeten, nachzufragen, wenn man etwas, was Sie gesagt haben, nicht nachvollziehen kann oder nicht verstanden hat. Ich möchte,
dass Sie mir etwas erklären. Jemand, der 30 Jahre gearbeitet hat, soll nach Ihrem Modell einen Anspruch auf
eine Grundrente haben? Habe ich das richtig verstanden?
Das heißt, jemand, der mit 16 Jahren angefangen hat, in
die Rentenkasse einzuzahlen, hat mit 46 Jahren einen
Anspruch auf die Grundrente. Ist es das, was Sie erklären wollen, oder was macht der Betreffende zwischen 46
und dem Renteneintrittsalter?
Wir sind nicht für die Rente mit 46, um das klar zu sagen.
({0})
Unsere Vorstellung ist, dass jemand ab 60 eine Teilrente
beziehen kann. In Schweden gibt es eine Garantierente
ab 65, also ab dem üblichen Renteneintrittsalter. Wir
wollen einen Einstieg für die langjährig Versicherten
schaffen. Wir wollen denjenigen, die 30 Jahre in die
Rentenkasse eingezahlt haben, ein Minimum garantieren.
Ich möchte einen Satz im Koalitionsvertrag anführen,
weil er so schön ist:
Deshalb wollen wir, dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener
lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das
bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist.
Alles klar? Warum ist das Ganze so merkwürdig formuliert? Weil sich auch hier Union und FDP wieder nicht
einig sind, weil sie unterschiedliche Konzepte haben.
Herr Kolb hat das eben angedeutet. Von der CDU/CSU
kommt vielleicht nachher noch eine Aussage zur Altersarmut. Was ist die Lösung? Sie bilden wieder einmal
eine Kommission, die angeblich 2012 Ergebnisse vorlegen soll. Mehr ist über dieses Geheimgremium bisher
nicht zu erfahren. Wir haben eine Kleine Anfrage gestellt. Es wurde nicht geantwortet, wann mit Ergebnissen
zu rechnen ist, wie die Kommission zusammengesetzt
ist, und es ist nicht zu erfahren, wie der merkwürdige
Satz, den ich eben vorgelesen habe, zu interpretieren ist
und welche Vorschläge im Einzelnen von dieser Kommission behandelt werden sollen. Also gibt es wieder
einmal, wie wir es von dieser Regierung kennen, nichts
als heiße Luft und leere Ankündigungen. Kosten soll das
Ganze auch nichts - das habe ich einem Bericht der Passauer Neuen Presse entnommen; die weiß offensichtlich
mehr als wir -, weder zusätzliche Beitragsmittel noch
Steuermittel. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie
damit eine armutsfeste Rente finanzieren wollen.
Wir Grünen wollen, dass die Rente mit 67 keine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir
verhindern.
({1})
Deswegen wollen wir sicherstellen - das ist der entscheidende Punkt -, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können. Wenn das nicht der Fall ist, dann
wäre es in der Tat eine Rentenkürzung durch die Hintertür. Wir haben aber noch etwas Zeit. Die stufenweise
Einführung fängt erst im Jahr 2012 an. Die Rente mit 67
gilt für meinen Jahrgang erst im Jahr 2029.
({2})
- Hören Sie mir doch einmal zu! ({3})
- Gut, wunderbar. - Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können.
Das ist eine Frage der Gesundheit und der Arbeitsbedingungen. Deswegen brauchen wir insbesondere eine Gesundheitspolitik, die mehr auf Prävention setzt, damit
wir nicht nur länger leben, sondern auch länger gesund
bleiben. Wir brauchen Arbeitsplätze, die die Menschen
nicht kaputtmachen. Wir brauchen gute Arbeit und nicht
Arbeit um jeden Preis.
({4})
- Das ist richtig, aber dazu hätte ich gerne einige Vorschläge von Ihnen. Außerdem gehören dazu sowohl alters- als auch alternsgerechte Arbeitsplätze, also Arbeitsplätze, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeit dem zunehmenden Alter der
Beschäftigten anpassen. Hier sind vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht. Der Jugendwahn, der in vielen Unternehmen immer noch vorherrscht, muss endlich beendet werden.
({5})
Diejenigen, die arbeiten können und wollen, müssen
auch einen Arbeitsplatz finden. Wichtig ist also die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die Antwort auf
die Große Anfrage zeigt, gibt es hier durchaus Fortschritte: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen hat
sich von 2000 bis 2008 immerhin verdoppelt, nämlich
von 10,7 Prozent auf 21,5 Prozent. Das ist nicht allzu
viel: Nur ein Fünftel der 60- bis 65-Jährigen hat eine
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Bei den
64-Jährigen sind es gerade einmal - Herr Ernst hat schon
darauf hingewiesen - 10 Prozent, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Auch das ist kein großer
Fortschritt.
Wenn Erwerbstätige und Arbeitslose zusammengezählt werden, sieht man, dass es zwar Fortschritte gibt
- die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen ist von
21,5 Prozent auf 37,8 Prozent gestiegen; auch das ist immerhin fast eine Verdoppelung -, aber selbst bei den
Männern lag die Erwerbsquote immer noch unter
50 Prozent. Das Glas ist also vielleicht gerade einmal
halb voll.
Es ist noch einiges zu tun, und die Zeit bis 2012 wird
in der Tat langsam knapp. Wir Grünen wollen längeres
Arbeiten und einen flexibleren Übergang in den Renteneintritt ermöglichen - im Interesse der Menschen und im
Interesse der Rentenversicherung. Wir wollen deswegen
keine Rückkehr zur Rente mit 65. Eine bedingungslose
Zustimmung zur Anhebung der Altersgrenze ab 2012
wird es mit uns aber auch nicht geben. In diesem Sinne
sind wir gespannt auf den Bericht der Bundesregierung
im November. Wir werden ihn genau prüfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege Paul
Lehrieder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Lieber Kollege Ernst, es ist jammerschade, dass Sie der demografischen Entwicklung aus
Zeitgründen nicht mehr Aufmerksamkeit widmen konnten, als Sie es in Ihrer Rede letztendlich getan haben. Es
wäre vielleicht besser gewesen, manche Ihrer Vorbemerkungen hier einfach hintanzustellen und erst einmal auf
die Demografie zu schauen. Es ist richtig - Kollege
Strengmann-Kuhn hat es bestätigt, auch die Kollegen
Vorredner haben es getan -: Wir gewinnen von Generation zu Generation drei Lebensjahre hinzu. Das heißt,
Sie werden wahrscheinlich drei Jahre älter als Ihr Vater,
Ihre Kinder werden wahrscheinlich älter als Sie selbst.
Man kann also von gewonnenen Lebensjahren sprechen.
Um der demografischen Entwicklung gerecht zu werden, muss ein Teil der drei gewonnenen Lebensjahre in
der Berufstätigkeit verbracht werden.
Wir alle kennen rüstige, fitte Rentner. Es gibt auch
welche, die mit 60 nicht mehr arbeiten können; auch das
will ich nicht verhehlen. Darauf komme ich nachher
noch zu sprechen. Kollege Strengmann-Kuhn hat zu
Recht auf die Beschäftigungsbedingungen, auf arbeitsmedizinische Aspekte etc. hingewiesen. Es gibt überall
positive Beispiele dafür, dass man mit weit über 50
- auch mit 60 oder 70 - noch leistungsfähig ist. Dafür
gibt es auch hier im Bundestag Beispiele. In der Partei
Die Linke gibt es jemanden, der sich schon zurückgezogen hatte. Einst hat er sich mit seinem Söhnchen auf dem
Balkon präsentiert. Als er merkte, dass ihm das eigentlich zu wenig ist, dass er wieder ins Berufsleben einsteigen will, hat er sich wieder zur Verfügung gestellt.
Schaue ich mich in dieser Runde um, dann sehe ich
dynamische, braungebrannte junge Männer. Ich nehme
irgendeinen heraus: Zufällig fällt mein Blick auf Sie,
Herr Ernst. Wenn der Kürschner nicht lügt, werden Sie
in diesem Jahr 56. Vor wenigen Wochen sind Sie zum
Parteivorsitzenden der Linkspartei gewählt worden. Das
heißt, auch Sie erwarten natürlich, dass bei Ihnen - Sie
befinden sich in der Blüte Ihres Lebens - noch einiges
passiert. Das ist in der Bevölkerung insgesamt so. Das
sollte man den Menschen, bitte schön, ebenfalls sagen.
({0})
- Auch bei der FDP gibt es positive Beispiele. Was ich
beschreibe, gilt parteiübergreifend. Lieber Herr Kolb,
ich danke für Ihren Zwischenruf. Ich erinnere auch an
unseren Kollegen Riesenhuber. Es gibt also wirklich
fitte, dynamische Personen, die an diesem Podium oft
noch mehr Leben entfalten als manche jüngere.
({1})
Eines verstehe ich nicht, Herr Ernst; ich muss noch
einmal auf Ihre Rede eingehen. Sie haben vorhin etwas
von einem Zuwachs des BIP in Höhe von 1,6 Prozent erzählt. Der Kuchen, der in 20 Jahren verteilt werden
könne, sei automatisch größer; deshalb brauchten wir
keine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Sie müssen
doch wissen: Der Kuchen wird erst in 20 Jahren von den
Beitragszahlern gebacken, die dann auf dem Arbeitsmarkt tätig sind. Um der demografischen Fehlentwicklung gegenzusteuern, zahlen wir jetzt schon 81 Milliarden Euro aus Steuermitteln in die Rentenkasse ein. Sonst
würde es schon jetzt nicht mehr funktionieren.
Im selben Atemzug haben Sie gesagt, die Bankenhilfe
sei nicht das Richtige gewesen. Ich entgegne: Wenn die
Große Koalition vor eineinhalb Jahren nicht so deutlich
und kräftig gegengesteuert hätte, wäre ein Wachstum
von 1,6 Prozent natürlich völlig illusorisch gewesen.
Das muss man fairerweise dazusagen. Sie sprachen daPaul Lehrieder
von, dass es immer weiter wächst, vergaßen aber zu erwähnen, dass man die Voraussetzungen für das Wachstum auch sichern muss.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Politik und Wirtschaft - hierauf haben die Vorredner zum Teil ebenfalls
schon hingewiesen - stehen auch in Zukunft vor großen
Herausforderungen, wenn es darum geht, ältere Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und das System
der gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren.
Die Große Koalition hat hier gerade mit der Rente mit 67
- Müntefering sei Dank; jetzt könntet ihr einmal klatschen, lieber Anton Schaaf - und der Initiative „50 plus“
entscheidende Weichen gestellt. Die positiven Effekte
dieser Maßnahmen sind eindeutig zu erkennen und mit
Zahlen zu belegen.
({2})
- Danke.
Nicht nur die Anfrage der Linken ist groß, auch die
Antwort der Bundesregierung auf die immerhin
234 Einzelfragen ist mit 139 Seiten besonders umfangreich. Sehen Sie mir deshalb bitte nach, dass ich mich
heute auf die Beschäftigungssituation der Älteren als
Schwerpunkt konzentriere.
Die in den Antworten der Bundesregierung vorgebrachten Fakten widerlegen das von den Linken in ihrer
Einleitung beschworene Schreckgespenst von Arbeitslosigkeit und Armut als Folge der Rente ab 67. Die Bundesregierung legt ihrer Antwort auf diese Anfrage ja
auch eine große Zahl sehr aussagekräftiger Statistiken
bei - auf immerhin noch einmal 146 Seiten. Ich verweise
insbesondere auf die Tabellen auf den Seiten 111, 115,
119 und 125. Kollege Strengmann-Kuhn hat in seiner
Vorrede hier bereits einige Zahlen zitiert. Ich lese das
nicht noch einmal vor. In dieser Richtung ist schon viel
positive Entwicklung festzustellen.
Liebe Kollegen von der Linken, schon bei der Abfassung Ihrer Anfrage wussten Sie vermutlich sehr genau,
dass das Ergebnis nicht Ihrem Weltbild entsprechen
würde.
({3})
Warum sonst schreiben Sie auf Seite 2: „Es ist allerdings zu erwarten, dass die Bundesregierung diese Erkenntnisse“ - Altersarmut folgt auf Rente mit 67 „ignorieren und sich bei der Überprüfung auf ihr genehme Indikatoren konzentrieren wird“?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Linken sind
wieder einmal auf einer Insel isoliert. Das dürfte jedem
klar sein, der gestern die Berichterstattung in den Medien verfolgt hat. Liebe Frau Präsidentin, mit Ihrem geschätzten Einverständnis darf ich zitieren:
EU-Kommission für späteres Renteneintrittsalter
Bei der Vorstellung eines Diskussionspapiers
({4}) zur Sicherung der Renten- und Pensionssysteme“ sagte Sozialkommissar László Andor
am Mittwoch, es bestehe jetzt die Wahl, entweder
im Ruhestand über ein geringeres Einkommen zu
verfügen, die Beiträge zur Altersvorsorge zu erhöhen oder, was er befürworte, mehr und länger zu arbeiten.
({5})
Das ist eine Tendenz, die europaweit erkannt wird nur bei den Linken nicht.
({6})
Sogar die Franzosen wagen sich vorsichtig heran und gehen von 60 Jahren auf 62 Jahre.
Wozu das führt, haben wir vor wenigen Wochen in
diesem Haus diskutiert. Wenn man wie jetzt großzügig
Wohltaten verteilt - Griechenland hat das mit seinen
Frühpensionierungen ein Stück weit getan -, hat man natürlich in Kürze hier das finanzielle Debakel auszugleichen. Dann besteht für die nächste Generation eben keinerlei Planungssicherheit. In diesem Fall brauchen wir in
20 Jahren über Altersarmut nicht zu reden. Dann haben
wir einen Systemwechsel - den Sie möglicherweise wollen, was ich nicht unterstellen will, den aber mit Sicherheit die Mehrheit in diesem Hause - toi, toi, toi! - nicht
will.
({7})
Meine Damen und Herren, aus einem Dokument der
EU geht hervor, dass derzeit auf jeden Bürger im Alter
von über 65 Jahren vier Bürger im erwerbsfähigen Alter
kommen. Bis zum Jahr 2060 droht sich dieses Verhältnis
auf eins zu zwei zu verschlechtern. Ferner heißt es, dass
zwischen 2001 und 2008 das tatsächliche Renteneintrittsalter im Durchschnitt der 27 EU-Staaten von 59,9 auf
immerhin 61,4 Jahre erhöht wurde. Am niedrigsten liegt
es in Rumänien mit 55 Jahren, am höchsten in Irland mit
64,1 Jahren.
Liebe Kollegen, die Erwerbsquote Älterer hat in den
letzten Jahren bereits um über 10 Prozentpunkte zugenommen. Die Vorredner haben schon darauf hingewiesen; ich kann es mir ersparen, das zu wiederholen.
Das derzeit gültige Lissabon-Ziel, das eine Erwerbstätigenquote für die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen
von 50 Prozent vorsieht, sollte bis 2010 erreicht werden.
Deutschland übertrifft diese Zielvorgabe bereits seit
dem zweiten Quartal 2007. Auch bedingt durch das
Ende der Frühverrentungspraxis ist die Erwerbstätigenquote bei den über 55- bis 65-Jährigen von 45,4 Prozent
im Jahr 2005 auf mittlerweile 57,1 Prozent im vierten
Quartal 2009 gestiegen. In absoluten Zahlen: Im Jahresdurchschnitt waren 2008 circa 5,2 Millionen Personen
zwischen 55 und 65 Jahren erwerbstätig - gegenüber
4,3 Millionen im Jahr 2000. Zum Vergleich: Die Erwerbsquote, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, nahm
von 74,6 Prozent im Jahr 2000 auf 79,8 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2008 zu.
Aus Zeitgründen will ich jetzt einen Teil meines vorbereiteten Manuskripts weglassen. Ich darf aber darauf
hinweisen: Das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn
wir dafür sorgen, dass unsere Mitbürger im Alter in ordnungsgemäßen Arbeitsverhältnissen und einigermaßen
gesund diese Leistungen erbringen können. Dazu müssen die Arbeitsbedingungen zunehmend alters- und al5868
ternsgerecht gestaltet werden. Frau Kollegin Ferner, in
dem Punkt haben Sie recht. Vieles von dem, was Sie gesagt haben, war nicht richtig, aber damit haben Sie recht
gehabt. Auch der Kollege Strengmann-Kuhn hat das hier
zutreffend ausgeführt.
({8})
- Wir werden im Ausschuss darüber diskutieren.
Mit aktivem Arbeitsschutz, gezielter Prävention und
entsprechender Arbeitszeit- und Arbeitsplatzgestaltung
lässt sich die betriebliche Praxis anpassen. Herr Kollege
Ernst, Sie haben danach gefragt, wie ein Dachdecker auf
einen anderen Arbeitsplatz kommen soll. In größeren
Unternehmen ist es durchaus möglich, andere Arbeitsplätze für Ältere zu finden, im Bereich Lager, Logistik
etc. Ich kenne keinen Unternehmer, der, wenn er 10, 15,
20 Leute hat, den Ältesten auf die höchste Dachspitze
schickt. Halten Sie unsere Unternehmer nicht für so
blöd! Die sind intelligent und passen da schon auf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frau Präsidentin
macht sich in meinem Rücken dezent bemerkbar. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, darf aber noch auf
eines hinweisen: Herr Strengmann-Kuhn, Sie haben aus
unserem Koalitionsvertrag zitiert. Darin steht auch, dass
der Bericht der Bundesregierung zur demografischen
Lage und künftigen Entwicklung des Landes im
Jahr 2011 vorgelegt wird. Dann wird er hier ausgiebig
diskutiert. Das ist ein Thema, das uns die nächsten Jahre
dauernd beschäftigen wird; da teile ich Ihre Auffassung.
Da werden wir in Kontakt bleiben. Da werden wir im
Gespräch bleiben. Bis dahin wünsche ich uns allen, die
wir hier sitzen, ein gesundes Älterwerden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Anton Schaaf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Erinnerung für alle, die gefragt haben, wie die SPD mit der
Rente mit 67 umgehen will: Wir haben das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz in Gänze beschlossen und
nicht nur diesen einen Punkt. Darin ist die Überprüfungsklausel ein eigener Paragraf. Wir debattieren
heute, wie wir mit dieser Überprüfungsklausel umgehen
wollen; das ist die entscheidende Frage.
({0})
Ich habe nun vernommen, wie die Bundesregierung
mit dieser Überprüfungsklausel umgehen will, und bin
an der Stelle ziemlich erschrocken. Wie gesagt, sie ist
Bestandteil eines Gesetzes. Der Staatssekretär hat das
Ergebnis dieser Überprüfung aber vorweggenommen,
indem er die Rente mit 67 und deren Einführung ab 2012
nicht infrage gestellt, sondern eigentlich gesagt hat: Die
wird ab 2012 kommen - unabhängig von dieser Überprüfungsklausel. Das ist das, was wir als Opposition in
diesem Hause kritisieren. Wir nehmen Gesetze in Gänze
ernst und nicht nur partikular.
({1})
Herr Staatssekretär, zum Thema Beitragssätze sollte
man sich als Regierungsmitglied sehr zurücknehmen. Im
Bereich Gesundheit halten Sie die Beitragssätze und die
Belastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber für so wichtig und sagen, da dürfe nicht
so viel passieren; gleichzeitig aber will die Bundesregierung die Beitragssätze erst einmal erhöhen.
Was Sie bei den Beiträgen für Langzeitarbeitslose zur
Rentenversicherung vorhaben, ist nichts anderes als eine
Beitragssatzerhöhung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber. Eigentlich war geplant,
dass die Schwankungsreserve genutzt wird, um den Beitragssatz zu senken; dazu sollte sie abgeschmolzen werden. Sie werden aber die Beitragssätze für die Rentenversicherung nicht senken können, wenn Sie für die
Arbeitslosen kein Geld mehr in die Rentenversicherung
einzahlen. Das heißt, Sie nehmen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern das Geld, um Ihre Sparpolitik zu finanzieren. Das ist die Tatsache, die dahintersteht.
({2})
Reden Sie mir nicht über Beitragssätze und Beitragssatzstabilität! Das ist nicht in Ordnung!
Herr Kolb, wenn ich mich recht entsinne, dann sind,
was die Frühverrentung angeht, alle Dämme gebrochen,
als Sie in Regierungsverantwortung waren.
({3})
Die Vorruhestandsmodelle hat die Kohl-Regierung und
keine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung auf
den Weg gebracht.
({4})
Sie waren damals als Staatssekretär Mitglied der Bundesregierung. Sie haben die Dämme geöffnet und haben
sich anschließend über die Wirkung beklagt.
({5})
Wie ist denn die Situation auf dem Arbeitsmarkt für
die Älteren jetzt tatsächlich? Kann es nicht sein, meine
Damen und Herren der Regierungskoalition, dass das
Auslaufen der Vorruhestandsregelungen unmittelbar damit zu tun hat, dass die Beschäftigungsquote Älterer etwas besser geworden ist,
({6})
dass also die Beschäftigungssituation Älterer insgesamt
etwas besser geworden ist, weil sie eben nicht mehr so
schnell aus den Betrieben hinausgedrängt werden können? Mit der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Situation, die hier zu betrachten ist, hat das aber definitiv
nichts zu tun. Der entscheidende Indikator ist doch: Wie
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen unmittelbar aus der Beschäftigung in eine abschlagsfreie
Rente? Diese Quote muss man sich genau anschauen.
Ich sage Ihnen: Sie tun an dieser Stelle überhaupt nichts.
({7})
- Herr Kolb, wir haben zum Beispiel die Initiative
„50 plus“ auf den Weg gebracht, mit der wir die Situation der Älteren deutlich verbessert haben. Sie ist ja auch
zum Teil fortgeführt worden.
Die Frage ist doch, ob sich die Situation der Älteren
tatsächlich verbessert hat. Da hat der Kollege Ernst
recht: Die Menschen gehen derzeit mit durchschnittlich
63 Jahren in Rente. Im Moment ist nicht absehbar, was
diese Regierung plant, damit man länger im Arbeitsleben verweilen kann.
({8})
Da hilft die Aussage der Ministerin von der Leyen
„Wenn jemand 40 Jahre Maurer, Zimmermann oder
Müllmann war, dann kann er am Ende noch einmal etwas anderes machen“ überhaupt nicht; denn es fehlt eine
Aussage darüber, was diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Ende ihres Arbeitslebens anderes machen sollen.
({9})
Etwa die von Ihnen geplante Bürgerarbeit? Vielleicht
wollen Sie sie aus diesem Grund einführen. Nein, diese
Frage ist noch nicht beantwortet.
Sie haben zur Humanisierung der Arbeitswelt keinen einzigen Beitrag geliefert. Auch in Ihrem Koalitionsvertrag finden wir nichts dazu. Dass Menschen bis
zum 67. Lebensjahr arbeiten können, ist Grundvoraussetzung für die Einführung eines höheren Renteneintrittssalters. Da bleiben Sie jede Antwort schuldig. Sie
lassen die Menschen an dieser Stelle gnadenlos im Stich.
Das ist die Realität, die man konstatieren muss.
({10})
Die Frage nach der Altersteilzeit will ich ebenfalls
aufgreifen, weil Sie, Herr Kolb, gesagt haben, die Förderung sei jetzt weggefallen und damit sei das Thema
Frühverrentung erledigt. Das ist nicht ganz richtig; denn
zwei Drittel der genutzten Altersteilzeit entfällt auf die
nicht geförderte Altersteilzeit. Das heißt, zwei Drittel der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. der Betriebe
haben keine staatliche Förderung in Anspruch genommen. Diese Altersteilzeit wird fortgeführt. Der entscheidende Punkt ist aber, dass die nicht geförderte Altersteilzeit vor allem von finanzstarken großen Unternehmen
umgesetzt wird. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen brauchen hingegen die geförderte Altersteilzeit, damit Arbeitnehmer flexibel in Rente gehen können. An dieser Stelle haben Sie sich absolut unbeweglich
gezeigt.
Sie haben gesagt, dass man durch Prävention vor
Altersarmut schützen kann. Am besten schützt man die
Menschen vor Altersarmut, indem man dazu beiträgt,
dass sie während ihres Erwerbslebens vernünftige und
anständige Löhne bekommen, von denen man ausreichende Rentenansprüche erwerben kann.
({11})
Sie sagen hier aber, wir müssten ermöglichen, dass die
Leute privat vorsorgen können. Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen im Alter nicht arm sind, ist aber
nicht die private Vorsorge, sondern ein auskömmliches
Einkommen in der Zeit des Erwerbslebens.
({12})
An dieser Stelle verweigern Sie sich, wie gehabt, komplett.
Ich sage noch einmal - da stimmen wir im Wesentlichen überein -: Das Mindeste, was man machen muss,
um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Altersarmut zu schützen, ist, jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Gern, Herr Kolb.
Danke. - Herr Kollege Schaaf, weil ich weiß, dass Sie
weg wollen, stelle ich nur eine kurze Zwischenfrage.
Würden Sie mir zustimmen, dass man mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro auch nach einem 40-jährigen
Erwerbsleben nur einen Rentenanspruch unter Grundsicherungsniveau erwirbt?
({0})
Wenn Sie das bezweifeln, kann ich es Ihnen gerne vorrechnen. Vielleicht haben Sie es selber schon einmal
ausgerechnet, sodass Sie die Frage jetzt beantworten
können.
Selbstverständlich gebe ich Ihnen recht: Wenn Sie
40 Jahre lang ausschließlich einen Mindestlohn von
8,50 Euro bekommen, dann kommen Sie nicht über das
Grundsicherungsniveau. In England gibt es zum Beispiel
die Low Pay Commission, die in wenigen Jahren den
Mindestlohn bedarfsgerecht deutlich angehoben hat, sodass sich Arbeit für die Menschen lohnt. Wenn allerdings der Mindestlohn 40 Jahre lang nur bei 8,50 Euro
liegt, dann wird man sicherlich nicht über das Grundsicherungsniveau hinauskommen. Allerdings ist es so,
dass man mit einem Lohn von 8,50 Euro zumindest
mehr Rentenansprüche erwirbt
({0})
als mit einem Durchschnittslohn von 6 Euro, den viele
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt bekommen.
({1})
Mit Ihrer Lohndumpingpolitik machen Sie doch Folgendes: Sie machen die Menschen, die jetzt zu Dumpinglöhnen arbeiten müssen, nachher zu Bittstellern. Sie
verlagern die Kosten auf die Kommunen, weil im Alter
die Grundsicherung gezahlt werden muss, und entlasten
damit die Sozialkassen. Das genau ist der Hintergrund.
Sie tun das übrigens auch an einer anderen Stelle.
Wenn Sie die Zuverdienstgrenzen für SGB-II-Empfänger anheben - das haben Sie ja vor; Sie haben es beschlossen, Herr Kolb -,
({2})
- nein, das ist nicht mehr Ihre Frage; das stimmt in der
Tat -, dann tragen Sie dazu bei, dass die Altersarmut
noch einmal deutlich ansteigt, weil ein Teil des Einkommens, das über die Grundsicherung bezogen wird, nicht
versicherungspflichtig ist. Das trägt nicht dazu bei, dass
man Ansprüche auf die Rentenversicherung erwirbt. Das
ist der entscheidende Punkt. Mit einer solchen Maßnahme verringern Sie die zu erwartenden Renten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nehmen Sie davon
Abstand.
({3})
Sorgen Sie lieber dafür, dass diejenigen, die in unserem
Land arbeiten, vernünftige Löhne bekommen. Dann sind
wir bei der Bekämpfung von Altersarmut einen Schritt
weiter.
Ich komme zum Schluss. Vor uns liegt eine parlamentarische Auszeit. Ich freue mich sehr darauf, und im Wesentlichen gönne ich es Ihnen allen.
({4})
Es ist nur schade, Herr Kolb, dass die parlamentarische
Auszeit für die Regierungsfraktion nur für die Sommerpause gilt. Viele Menschen in unserem Lande wünschen
sich, dass Ihre Auszeit wesentlich länger dauert.
({5})
Pascal Kober hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf den Beginn der Debatte zurückkommen.
Lieber Kollege Ernst, Sie haben den Kolleginnen und
Kollegen im Hohen Haus zwei Fragen gestellt. Die eine
Frage war, ob wir jemanden kennen, der für 5 Euro zusätzlich zwei Jahre länger arbeiten würde.
({0})
- Für 5 Euro weniger Einkommen. - Damit offenbaren
Sie, wes Geistes Kind Sie sind. Sie sind ein Linker,
({1})
für den es über den reinen Materialismus hinaus in der
Welt keinen Sinn gibt.
({2})
Das sehen wir als christlich-liberale Koalition naturgemäß anders.
({3})
Vielleicht möchten die Menschen arbeiten, weil die Arbeit ihnen Freude macht. Vielleicht möchten die Menschen nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern
weil Arbeit Sinn vermittelt.
({4})
Vielleicht möchten die Menschen arbeiten, weil sie in
der Gesellschaft Verantwortung für sich und ihre Familien übernehmen wollen.
({5})
Sie haben eine zweite Frage gestellt, lieber Herr
Ernst. Sie haben danach gefragt, was mit jenen Berufen
ist, bei denen es schwierig ist, sie aufgrund der hohen
körperlichen Belastung über einen längeren Zeitraum
auszuüben.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst zulassen?
({0})
Herr Kollege Ernst, das reicht aus, um sich mit Ihrem
Antrag auseinanderzusetzen; heute also nicht.
({0})
Sie haben gefragt, was ein Dachdecker im Alter machen soll, ob er zum Beispiel Buchhalter werden soll.
Ihre Antwort war: Er kann kein Buchhalter werden.
({1})
Das ist vielleicht richtig, wobei ich meine, dass Sie dem
einen oder anderen Dachdecker unrecht tun. Vielleicht
möchte er aber Baumaschinenführer werden.
({2})
Wenn wir das Problem der Altersarmut wirklich anpacken wollen, dann müssen wir bedenken, dass Altersarmut unterschiedlichste Ursachen hat und unterschiedlichster Lösungsansätze bedarf. Ein Lösungsansatz wird
mit Sicherheit sein, dass wir eine innovativere Berufsbildungspolitik betreiben, als es bisher der Fall war. Unsere
Gesellschaft wird lernen, dass man nicht einmal im Leben einen Beruf lernt, sondern vielleicht zwei- oder dreimal im Leben. So weit sind wir noch nicht; aber im Interesse der künftigen Generationen müssen wir solch
innovative Konzepte entwickeln und sollten uns nicht
mit der Frage aufhalten, ob man das Renteneintrittsalter
erhöhen kann oder nicht.
({3})
Wir müssen bei den Ursachen für Altersarmut ansetzen,
besser heute als morgen.
Zu den Ursachen. Altersarmut kann entstehen, wenn
während der Erwerbsphase längere Zeiten der Arbeitslosigkeit auftreten.
({4})
Was müssen wir tun? Wir brauchen eine aktive, wachstumsorientierte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.
Dafür steht unsere christlich-liberale Koalition. Dafür
haben wir Impulse gesetzt. Die Arbeitsmarktdaten zeigen, dass wir recht haben, dass wir richtig handeln und
dass diese Regierung erfolgreich ist, Herr Ernst.
({5})
Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie eine
Kommission einsetzen wird, um sich des Themas Altersarmut anzunehmen.
({6})
Wir werden die Ergebnisse dieser Kommission in die
Beratungen des Parlaments einbeziehen. Wir werden
keine Schnellschüsse machen, sondern kluge Konzepte
erarbeiten.
({7})
Wir werden uns dieses Problems annehmen und eine
Politik für die Menschen machen, die ihnen wirklich
hilft.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Matthias W. Birkwald hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Fraktion Die Linke zur Beschäftigungssituation Älterer bestätigt, was Gewerkschaften, Sozialverbände und wir Linken stets kritisiert haben: Die
Rente erst ab 67 ist das eine; tatsächlich bis 67 in Lohn
und Brot stehen, ist das andere. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Paar Schuhe.
({0})
Herr Kober, wo sind denn die Arbeitsplätze für Menschen über 60? Die können Sie doch mit der Lupe suchen. Ich sage es noch einmal: Nicht einmal jeder zehnte
64-Jährige ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
Das Sparpaket für Rentnerinnen und Rentner heißt:
Rente erst ab 67. Diese Rentenkürzung müssen wir verhindern.
({1})
Auch die schwarz-gelbe Bundesregierung hält sich
eine heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Sie
nennt sie Beitragssatzstabilität. Nach diesem Glauben
dürfen die Beiträge zur Rentenversicherung nicht erhöht
werden. Im Gegenteil: Sie sollen gesenkt werden. Wie
huldigen die Bundesregierungen von Rot-Grün bis
Schwarz-Gelb der heiligen Kuh Beitragssatzstabilität?
Sie kürzen die Rente, und das gleich dreifach: Erstens.
Es gibt weniger Rente für alle; in 20 Jahren wird das
Rentenniveau ein Viertel niedriger sein als 1998. Zweitens. Es wird noch mehr Abschläge geben; noch mehr
Menschen werden das völlig unrealistische gesetzliche
Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht erreichen. Drittens wird es weniger Rente geben, da die Zeit des Ruhestandes gekürzt wird. - Diese Politik des Rentenklaus
lehnen wir Linken ab.
({2})
Jetzt wird es ein bisschen kompliziert.
({3})
Wer heute in Rente geht, ist durchschnittlich 63 Jahre alt.
Das hat Konsequenzen. Wer vor 65 in den Ruhestand
geht, erhält weniger Rente. 115 Euro Monat für Monat
bis zum Lebensende - so hoch sind die Abschläge schon
heute im Durchschnitt. Das heißt bereits jetzt: Ohne die
Rente erst ab 67 müssen Rentnerinnen und Rentner in
den durchschnittlich 18 Jahren, in denen sie Rente erhalten, wegen der Abschläge auf insgesamt 25 000 Euro
verzichten. 25 000 Euro weniger, nur weil das Renteneintrittsalter von 65 Jahren von der Hälfte derer, die in
Rente gehen, nicht erreicht werden konnte. Und Sie wollen das Renteneintrittsalter ernsthaft anheben? Erklären
Sie das einmal den Betroffenen, zum Beispiel der Chemiearbeiterin, dem Elektriker oder dem Bauarbeiter. Die
werden Ihnen etwas husten, und das völlig zu Recht.
({4})
Ihre Politik der Arbeitszeitverlängerung nützt nur der
heiligen Kuh Beitragssatzstabilität. Dazu will ich noch
etwas sagen: Beitragssatzstabilität wird allein deshalb
von Schwarz-Gelb und Rot-Grün nahezu absolut gesetzt,
weil damit die Arbeitskosten niedrig gehalten werden
sollen; der Staatssekretär hat das vorhin gesagt. Ein
Blick auf die durchschnittlichen Lohnkosten zeigt, warum wir recht entspannt sein können: Deutschland liegt
mit 32 Prozent sogenannter Lohnnebenkosten deutlich
unterhalb des europäischen Durchschnitts von 36 Prozent.
({5})
Deswegen sage ich Ihnen: Die Beitragssatzstabilität darf
keine heilige Kuh bleiben.
({6})
Herr Kober und Herr Fuchtel, das Stichwort, das immer genannt wird, ist Generationengerechtigkeit. Ich
sage: Das ist kein Problem der Generationengerechtigkeit; denn es würde die Beschäftigten nur wenig kosten,
wenn es weiterhin bei der Rente ab 65 bliebe. Den Rentenkürzungen wegen der Rente erst ab 67 stehen nicht
einmal zwei Weißbier oder drei Pils oder - ich bin Kölner - fünf Kölsch im Monat gegenüber, die sich eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer mit Durchschnittsverdienst in diesen heißen Sommertagen leisten könnte.
Die Rente ab 67 wird den Beitrag, den durchschnittlich
verdienende Beschäftigte an die Rentenkasse zahlen
müssen, um nicht einmal 7 Euro senken. Bevor diese
7 Euro weniger Beitrag für die Rentenkasse für Bier ausgegeben werden können, werden sie im Übrigen durch
die 8 Euro Beitragserhöhung für die Krankenkasse, die
Herr Rösler will, mehr als aufgebraucht. Heute heißt es
im Handelsblatt:
Röslers Reform belastet vor allem die Rentner.
Kümmern Sie sich bitte einmal darum.
({7})
Das Ganze ist also ein Kuhhandel, und den lehnen wir
ab. Im Übrigen bin ich sicher: Jede Enkelin und jeder
Enkel wäre bereit, 7 Euro im Monat zu zahlen, damit es
für die Großeltern, die Eltern und später auch für sie
selbst beim Rentenalter 65 bleiben kann. Da bin ich ganz
sicher, Herr Weiß.
({8})
Die Würde des Ruhestands steht und fällt mit der
Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Die Rente erst
ab 67 - das gilt auch für die gesamte Ausrichtung der
Rentenpolitik der vergangenen 20 Jahre - bringt diese
Freiheit zu Fall. Wir alle wissen ganz genau: Wer im Alter zu wenig oder gar kein Geld hat, wird um seinen
wohlverdienten Ruhestand gebracht. Wer den Menschen
erst ab 67 die volle Rente zugestehen will, befördert Armut und sozialen Abstieg. Die Linke will das Gegenteil.
Schauen Sie nach Frankreich. Da ist „Rente erst ab 67“
kein Thema. Die Alternativen dort heißen 60 oder 62.
Wir wünschen den französischen Kolleginnen und Kollegen viel Erfolg bei ihrem Kampf um die Rente ab 60.
({9})
Auch für Deutschland gilt der kluge Spruch von Bertolt
Brecht: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,
hat schon verloren.
Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Nehmen Sie die Furcht der
Menschen vor Altersarmut und sozialem Abstieg ernst.
Folgen Sie dem einfachen Grundsatz: Jeder Mensch hat
das Recht, im Alter ein Leben in Würde zu führen. Verzichten Sie auf die Rente ab 67. Holen Sie diese Kuh
vom Eis.
({10})
- Heute Abend.
Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist verständlich, dass man in einer politischen
Debatte über die Vergangenheit redet. Aber es ist Aufgabe der Politik, zu fragen: Wie packen wir die Zukunft
an?
({0})
Die Vergangenheit war in der Tat dadurch gekennzeichnet, dass in den Personalbüros unserer großen Betriebe
Frühverrentungspolitik und Jugendwahn die bestimmenden Themen waren. Aber wenn man die Zukunft
meistern will, muss Schluss sein mit Frühverrentungspolitik und Jugendwahn; denn die Aufgaben für die Zukunft sehen anders aus.
({1})
Peter Weiß ({2})
Viele Zahlen können unterschiedlich interpretiert werden. Ich will mich aber auf folgende Fakten beziehen, die
jedem klarmachen, dass wir in den kommenden Jahrzehnten eine Veränderung zu erwarten haben: Heute
kommen auf 100 20- bis 64-Jährige, also Menschen im
Erwerbsleben, 33,8 Personen über 65, also Rentnerinnen
und Rentner. Das wird sich in den nächsten Jahrzehnten
dramatisch verändern. In 50 Jahren werden auf 100 Personen im Erwerbsleben 63 über 65-Jährige kommen.
Gleichzeitig wird die Lebenserwartung erfreulicherweise
weiter steigen. Sie wird, so schätzt man, für neugeborene
Mädchen gegenüber heute um 6,5 Jahre ansteigen, für
neugeborene Jungen um sechs Jahre. - Ich glaube, jeder
kann jetzt nachvollziehen, dass man die Gewinne an Lebenszeit und Lebensqualität nicht einfach privat genießen
und die daraus folgenden Kosten auf die Allgemeinheit
abwälzen kann.
Normalerweise sagen die Linken hier im Parlament
und auch anderswo, Gewinne würden privatisiert und
Verluste sozialisiert, und kritisieren das. In diesem Fall
verraten die Linken ihre Ideologie voll und ganz. Herr
Ernst und Herr Birkwald sagen, dass sie Gewinne an Lebenszeit privatisieren und die daraus folgenden Kosten
sozialisieren wollen. Das ist das Gegenteil von dem, was
sie als ihre Politik ausgeben.
({3})
Die Auswirkungen dieser Veränderung in unserer Gesellschaft in den kommenden zehn Jahren - sie werden
zu einem ganz anderen Bild führen als zu dem, das wir in
den vergangenen Jahrzehnten hatten - werden sich auch
am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt niederschlagen.
Das geschieht in der Tat schon jetzt. Wir Deutschen hatten in der Vergangenheit eine grottenschlechte Beteiligung älterer Menschen am Erwerbsleben, weil man sie
aus den Betrieben herausgedrängt hat. Im ersten Quartal
2005 lag die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen
bei 44,5 Prozent. Sie ist bis zum dritten Quartal 2009 auf
55,9 Prozent angestiegen; das ist immerhin schon eine
Veränderung. Unser Ziel als christlich-liberale Koalition
ist es, die Erwerbsbeteiligung Älterer bis zum Ende dieser Legislaturperiode auf mindestens 60 Prozent anzuheben und damit zu den in diesem Bereich erfolgreichen
Staaten in Europa zu gehören.
({4})
Frau Ferner, Sie haben einfach falsch zitiert; man sollte
das Wahlprogramm der CDU, auch wenn man in der SPD
ist, richtig lesen. In unserem Wahlprogramm 2005 stand:
Wir wollen die Regelaltersgrenze so anheben, wie es die
Situation am Arbeitsmarkt zulässt, also wie die Beschäftigungsmöglichkeiten für Ältere steigen.
({5})
Deswegen hat sich die Große Koalition dazu entschlossen, die Regelaltersgrenze im Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben. Damit wird der Geburtsjahrgang 1964 der erste
Jahrgang sein, für den die neue Regelaltersgrenze gilt.
Warum der Geburtsjahrgang 1964? Weil er der stärkste
Geburtsjahrgang ist, den es je in Deutschland gegeben
hat. 1964 sind 1,35 Millionen Menschen in Deutschland
geboren worden. Das heißt, wir sind auf dem Höhepunkt
der demografischen Entwicklung, wenn wir die Rente
mit 67 einführen. Zum Vergleich: Wissen Sie, wie viele
Kinder letztes Jahr in Deutschland geboren worden sind?
Es gab 651 000 Geburten.
({6})
Wenn man diese beiden Jahrgänge miteinander vergleicht, den Jahrgang 1964, der erste, für den die Rente
mit 67 gilt, und den Jahrgang 2009 - die 2009 Geborenen stehen dann als 21-Jährige im Berufsleben und finanzieren die Rente mit -, dann wird einem klar, dass
wir zwingend - nicht weil wir mutwillig sind - Generationengerechtigkeit in Deutschland herstellen müssen.
({7})
Gerecht ist, dass die Älteren für eine lebenslange Leistung eine angemessene Rente bekommen. Aber gerecht
ist auch, dass wir die Jungen nicht über Maßen mit Steuern und Abgaben belasten. Generationengerechtigkeit ist
die Zukunftsaufgabe, der wir uns stellen müssen.
({8})
- Die Zurufe der Linken zeigen nur eines: Sie reden von
Gerechtigkeit; aber das Ergebnis von dem, was Sie wollen, ist Ungerechtigkeit, also das Gegenteil von dem,
was Sie sagen.
({9})
Das ist einfach so. Man kann die Zahlen nicht weglügen,
auch nicht mit noch so vielen Debatten.
({10})
Nun stellen sich unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die erkennen, dass die Entwicklung, die ich dargestellt habe, einer Antwort bedarf, zu Recht eine entscheidende Frage.
({11})
Herr Strengmann-Kuhn würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Herr Weiß, ist das in Ordnung?
Lassen wir Herrn Strengmann-Kuhn zu Wort kommen. Bitte.
Bitte schön.
Herr Weiß, Sie sagen: Zahlen lügen nicht.
Ja.
Nun hat die Regierung im Rahmen ihres Sparpakets
beschlossen, Beiträge in Höhe von 1,8 Milliarden Euro
nicht mehr an die Rentenversicherung zu zahlen. Das hat
aber nicht zur Folge, dass die Renten sinken. In den
nächsten Jahren werden der Rentenversicherung jedes
Jahr Einnahmen in Höhe von 1,8 Milliarden bzw., wenn
man das dazuzählt, was Frau Ferner gesagt hat, über
2 Milliarden Euro fehlen. Welche Konsequenz hat das
für die Beitragssätze, und wer zahlt das? Welche Beitragssatzentwicklung sieht die Bundesregierung für die
nächsten Jahre?
({0})
Das heißt doch, dass die Beiträge steigen. Sehe ich das
richtig oder falsch?
Sehr geehrter Herr Strengmann-Kuhn, Beiträgen stehen eines Tages Ausgaben gegenüber. Das wissen Sie
ganz genau. Ich glaube, das Entscheidende ist Folgendes:
Wir sollten erstens feststellen, dass die Deutsche Rentenversicherung eine gute Rücklage hat.
({0})
- Wir wollen sie nicht aufbrauchen, sondern wir wollen,
dass sie in Zukunft wieder steigt. Sie wird aufgrund der
Krise etwas abnehmen. Wir wollen, dass sie wieder
steigt.
({1})
Das Zweite ist: Der um 1,8 Milliarden Euro reduzierte Bundeszuschuss für die Rente, also Zuschuss aus
Steuermitteln, führt dazu, dass keine entsprechenden
Rentenansprüche entstehen.
({2})
Ich glaube aber, dass für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher Folgendes entscheidend ist - ich sage jetzt einmal, was wir machen werden -: Wir werden die Zeiten
des Bezugs von Arbeitslosengeld II weiter als Anrechnungszeiten in der Rentenversicherung vorsehen und
verankern.
({3})
Das heißt, Arbeitslosengeld-II-Beziehern wird auch in
Zukunft der Zugang zur Erwerbsminderungsrente, zu sozialer Rehabilitation und - für langjährig Versicherte zur Rente nach Erreichen einer Versicherungszeit von
35 Jahren ermöglicht. Wir sorgen dafür, dass für diejenigen, die es am Arbeitsmarkt am schwersten haben, weil
sie krank oder behindert sind - die zum Beispiel Erwerbsminderungsrente beantragen müssen -, auch in Zukunft
der Schutz der Rentenversicherung in vollem Umfange
erhalten bleibt.
({4})
Nun wird, wie ich finde, zu Recht die Frage gestellt:
Ist denn längeres Arbeiten überhaupt möglich, selbst
wenn man will?
({5})
Die erste Voraussetzung dafür ist, dass sich in den Personalbüros unserer Betriebe Grundlegendes ändert und es
älteren Beschäftigten ermöglicht wird, länger zu arbeiten. Ich will einige Punkte nennen, wo sich in der Personalpolitik unserer Betriebe noch Entscheidendes ändern
muss:
Erstens. Weiterbildung muss über das ganze Berufsleben hinweg möglich sein, nicht nur in jüngeren Jahren.
Was die berufliche Weiterbildung anbelangt, gehört
Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen
eher zu den schlechteren Ländern.
Zweitens: Gestaltung moderner, gesundheitsgerechter
Arbeitsplätze, weitere Fortschritte bei der Humanisierung der Arbeitswelt,
({6})
besserer Arbeitsschutz, bessere betriebliche Gesundheitsvorsorge und auch die Entwicklung neuer Arbeitsformen,
die auf die Erfordernisse eines älteren Arbeitnehmers
besser eingehen, als das heute der Fall ist. Es muss auch
ein Stück weit zu mehr Flexibilität kommen. Das heißt,
es geht um die Schaffung von Möglichkeiten, gegen Ende
des Berufslebens die Arbeit schrittweise zu reduzieren
und dafür vorher rechtzeitig Arbeitszeit anzusparen, zum
Beispiel durch Lebensarbeitszeitkonten. Auch ich bin der
Auffassung: Die Perspektive muss nicht unbedingt sein,
dass man bis zum Renteneintritt 150-prozentig durchpowert.
Damit diese neue Personalpolitik in unseren Betrieben in Gang kommt, hat die Bundesregierung - übrigens
schon zu Zeiten eines sozialdemokratischen Arbeitsministers - eine Reihe von Initiativen gestartet, die ich aufzählen möchte:
({7})
Peter Weiß ({8})
die Initiative Neue Qualität der Arbeit - INQA -, die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie, das Programm „Perspektive 50 plus“, das wir übrigens im nächsten Jahr auf ganz Deutschland ausdehnen wollen, und das
Projekt „Lebenslang gut arbeiten“ des Bundesforschungsministeriums.
Unternehmen, die an diesen Modellprogrammen teilnehmen, verzeichnen erstaunlich positive Ergebnisse; etliche
von ihnen sind in den letzten Jahren als Deutschlands beste
Arbeitgeber ausgezeichnet worden. Der Altenbericht der
Bundesregierung zeigt, dass man mittlerweile in diesen
Personalbüros umgelernt hat. Da wird die Bedeutung des
Erfahrungswissens älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für den wirtschaftlichen Erfolg höher eingeschätzt als die Bedeutung der Innovationsfreude der Jüngeren. Deswegen gilt: Eine älter werdende Gesellschaft
verursacht nicht nur Probleme; sie ist auch eine Chance.
Wir wollen politische Voraussetzungen dafür schaffen,
dass diese Chance genutzt wird.
Vielen Dank.
({9})
Josip Juratovic hat jetzt für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Debatten um die Erhöhung des Renteneintrittsalters werden gewöhnlich sehr hitzig, oft leider auch sehr einseitig geführt. Das Thema ist aber viel
tiefgründiger als allein die Frage, wann wir in die Rente
kommen. Vielmehr ist die wichtigste Frage: Wie erreichen wir das Rentenalter, und können wir von dieser
Rente anständig leben?
Bevor ich in den Deutschen Bundestag kam, habe ich
unter anderem sieben Jahre lang am Fließband gearbeitet. Ich war in der Lackiererei eines Automobilunternehmens beschäftigt. Auch wenn sich die Arbeit dort inzwischen verändert hat - vieles wurde automatisiert -, weiß
ich, dass ich diese Arbeit aus unterschiedlichen Gründen
nicht bis zum Alter von 67 hätte verrichten können. So
geht es vielen Arbeitnehmern.
Leider entscheiden die wenigsten Menschen in unserem Land tatsächlich nach freiem Willen darüber, wann
sie in Rente gehen. Wenn sie vorzeitig in Rente gehen,
dann tun sie das nicht, weil sie keine Lust mehr haben,
zu arbeiten, sondern sie hören früher auf, weil sie mit
dem Leistungsdruck nicht mehr zurechtkommen.
({0})
Viele einfache Tätigkeiten sind von den Unternehmen
ausgelagert oder wegrationalisiert worden. Ältere Arbeitnehmer haben daher keine Schonarbeitsplätze mehr.
Durch Maßnahmen wie den Kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Quadrat, den sogenannten KVP2, gibt
es eine enorme Leistungsverdichtung in den Betrieben.
Dies hat in den letzten Jahren durch den vermeintlichen
Wettbewerbsdruck permanent zugenommen.
Die Auslastung liegt in vielen Unternehmen inzwischen bei über 95 Prozent. Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer bei einer ein- bis zweiminütigen Taktzeit bis
zum nächsten Takt gerade einmal drei bis sechs Sekunden ohne Tätigkeit ist. Diese Auslastungsoptimierung
bringt die Arbeitnehmer häufig an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Zudem gibt es ständige Versuche seitens
der Unternehmen, die Erholzeiten zu verkürzen.
Viele Arbeitnehmer leiden daher unter psychischem
Druck. Erstens kommt dies durch die Leistungsverdichtung, zweitens durch die oft nicht ausreichende Qualifizierung und drittens auch durch Belastungen des Arbeitsklimas. Wenn ein älterer Arbeitnehmer nicht mehr
so schnell arbeiten kann, haben die jüngeren Kollegen
keine Kapazität mehr, um das auszugleichen. Die Älteren leiden somit auch unter dem Druck ihrer jüngeren
Kollegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind die
Schattenseiten unserer schönen, modernen, hellen und
durchorganisierten Produktionsstätten.
({1})
Leider müssen wir feststellen, dass die Arbeitswelt in
den letzten drei Jahren nicht mehr, sondern weniger altersgerecht geworden ist.
({2})
Das bedeutet, wir sind noch weit davon entfernt, dass die
Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Deshalb
klingt „Rente mit 67“ für meine Kollegen wie eine Rentenkürzung.
({3})
Denn sie wissen, dass sie unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen nicht bis 67 arbeiten können, auch nicht bis
65 und oft nicht einmal bis 60. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters bedeutet für sie somit, dass sie höhere
Abschläge in Kauf nehmen müssen.
({4})
Meine Damen und Herren, leider werden mittelfristig
noch viele Kolleginnen und Kollegen nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten können. Deshalb
müssen wir politische Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel die Weiterentwicklung der Altersteilzeit, eine Teilrente, gleitende Übergänge in die Rente und einen verbesserten Erwerbsminderungsschutz. Erst wenn diese
Probleme gelöst sind, ist die Rente mit 67 keine Rentenkürzung, sondern das, was sie sein soll: die Sicherung
der Finanzierung unserer Renten im Hinblick auf den demografischen Wandel und veränderte Erwerbsbiografien.
({5})
Meine Zustimmung zum Gesetzentwurf zur Einführung der Rente mit 67 hatte ich 2007 mit einer persönlichen Erklärung gemäß § 31 GO verbunden. Die Punkte,
die ich in meiner damaligen persönlichen Erklärung aufgeführt habe, sind leider aktueller denn je.
Wir brauchen altersgerechte Arbeitsplätze; darunter
fallen die bereits angesprochenen Schonarbeitsplätze,
die möglicherweise auch subventioniert werden müssen.
Wir müssen ab dem 55. Lebensjahr gleitende Übergänge
in den Ruhestand ermöglichen; dazu gehören die Altersteilzeit und flexible altersgerechte Arbeitszeiten. Wir
müssen neue Wege im präventiven Gesundheitsschutz
gehen. Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Krankenkassen
müssen Konzepte entwickeln, wie Arbeit am gesündesten zu organisieren ist. Bereits bei der Planung müssen
Arbeitsplätze für die leistungsgewandelten und älteren
Arbeitnehmer berücksichtigt und eventuell staatlich gefördert werden.
({6})
Wir müssen Qualifizierungsmöglichkeiten nicht nur,
aber auch für ältere Arbeitnehmer schaffen. Und wir
müssen den Zugang zur Erwerbsminderungsrente sichern.
Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mir nicht anmaßen, für alle Arbeitnehmer in allen Lebenslagen zu
reden. Aber leider haben weder die Betriebe, jedenfalls
in den meisten Branchen, noch die Politik die letzten
drei Jahre genutzt, um unsere Arbeitswelt altersgerechter
zu gestalten.
({7})
Wir haben das Gesetz, wie gesagt, 2007 beschlossen. In
der betrieblichen Realität ist seitdem aber fast nichts
geschehen. Wir müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
auffordern, zu handeln. Wettbewerb und gute Arbeit
müssen in Einklang gebracht werden. Dazu müssen aber
auch wir in der Politik handeln. Wir brauchen gesetzliche und finanzielle Vorgaben, um die Arbeitswelt zu verändern.
({8})
Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass es nicht
reicht, nur für ein Umdenken zu sorgen, sondern wir
müssen nach Modellen suchen, damit die Rente mit 67
keine Rentenkürzung ist. Zurzeit ist das leider die betriebliche Realität. Wir müssen unser Handeln daran
messen lassen, dass die Menschen gesund in Rente gehen können und dass sie von der Rente anständig und in
Würde leben können. Übrigens, Herr Kolb, das war das
Ziel von Arbeitsminister Franz Müntefering. Darauf
werden wir im anstehenden Bericht der Bundesregierung, der durch die Revisionsklausel nötig ist, sehr genau achten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und eine erholsame Urlaubszeit.
({9})
Jetzt spricht Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will auf den Ausgangspunkt der Debatte eingehen,
nämlich die Große Anfrage der Linken. Lieber Herr
Birkwald, ich glaube, an zwei Stellen gehen Sie ein
Stück weit von falschen Annahmen und falschen Voraussetzungen aus. Wir sollten zuerst über die Grundlagen reden, über die wir hier diskutieren.
Wenn Sie in Ihrer Großen Anfrage „vor dem Hintergrund fortdauernder Arbeitslosigkeit und der schlechten
Arbeitsmarktsituation Älterer“ schreiben - das haben Sie
eben noch einmal wortreich ausgeführt -, dann bin ich
bei Ihnen, wenn es darum geht, die Situation zu verbessern. Aber wir müssen feststellen, dass dieser Weg schon
beschritten wird; denn es gibt einen kontinuierlichen Anstieg der Beschäftigung Älterer. Heute gibt es doppelt so
viele 60- bis 65-jährige Beschäftigte wie vor zehn Jahren. Das ist erst einmal eine gute Nachricht; das sollten
wir festhalten.
({0})
Leider gehen Sie daneben auch beim demografischen Wandel ein Stück weit von falschen Voraussetzungen aus, oder Sie verstehen vielleicht die Herausforderungen einfach falsch. Herr Ernst, Sie haben eben
gesagt, dass Sie den demografischen Wandel sehr wohl
berücksichtigen. Aber Sie sprechen in dem Papier „Positionen zum demografischen Wandel und die Konsequenzen für die Linke“ auf Ihrer Homepage von einer „Demografiekampagne“ des gesamten restlichen Deutschen
Bundestages, von Schwarz bis Grün, und das sei nur deshalb passiert, um die Menschen vom Sozialabbau zu
überzeugen. Mir scheint, dass Sie die Herausforderung,
die Realität, dass sich unsere Gesellschaft wandelt, dass
die Menschen älter werden und dabei im Schnitt fitter
bleiben und dass es mehr Ältere und weniger Jüngere
gibt, einfach nicht verstanden haben. Dass Sie dann nicht
zu guten Schlüssen kommen, verwundert mich nicht.
({1})
Die Herausforderung besteht darin, dass wir die
Sozialsysteme - es ist gut, dass das eingeleitet wurde umbauen müssen. So haben wir zum Beispiel bei der
Rente eine kapitalgedeckte Säule eingeführt. Natürlich
musste auch das Renteneintrittsalter erhöht werden.
Wenn die Menschen älter werden und dabei fitter bleiben - es geht nicht um diejenigen, die heute alt sind,
sondern zum Beispiel um meine Generation -, dann ist
Johannes Vogel ({2})
es ganz logisch, dass sie länger arbeiten müssen. Wir
müssen dann natürlich dafür sorgen, dass die Menschen
auch Jobs in den Unternehmen bekommen. Die Herausforderung für uns in der Politik besteht deshalb darin,
mehr für lebenslanges Lernen sowie für Weiterbildung
und Qualifikation zu tun. Daher ist der erste Schritt, die
jahrzehntelange Kultur der Frühverrentung zu beenden.
Wir haben die Regelung betreffend die geförderte Altersteilzeit auslaufen lassen, weil sie zu Frühverrentungen geführt hat. Das ist der richtige Schluss.
({3})
Es tut sich aber auch schon etwas in der Wirtschaft.
Nach einer Umfrage des IW wandelt sich die Einstellung
der Führungskräfte in den Unternehmen gegenüber älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Herausforderung ist, diesen Weg fortzusetzen. Man darf nicht, wie
Sie, Herr Ernst, es wollen, zu einer Politik der Frühverrentung zurückkehren. Das ist rückwärtsgewandt. Ich
habe mich sehr gefreut, dass aus der Opposition auch
Herr Strengmann-Kuhn für die Grünen ausgeführt hat,
dass wir den Weg, den wir eingeschlagen haben, weitergehen müssen. Ich sage für meine Fraktion: Wir müssen
es flexibler machen. - Herr Ernst, wollen Sie eine Zwischenfrage stellen?
({4})
- Bitte, gern.
Herr Kollege, das geht nicht, wenn Ihre Redezeit bereits vorbei ist. Es war aber einen Versuch wert.
({0})
Herr Ernst, es tut mir sehr leid, aber ich freue mich
auf eine Kurzintervention.
({0})
Darf ich noch einen Satz zur SPD zu Ende ausführen?
Der Kollege Schaaf hat uns eben vorgeworfen, die FDP
selber habe die Politik der Frühverrentung in den 90erJahren vorangetrieben. Herr Kolb hat darauf hingewiesen
Herr Kollege!
- das ist der letzte Satz -,
Schon wieder.
- dass wir diese Politik auch beendet haben. Wenn
man sich anschaut, wie Sie mit dem Thema Rente mit 67
umgehen, dann erkennt man den Unterschied: Wir kehren um, wenn etwas falsch gelaufen ist. Sie kehren um,
wenn etwas richtig gelaufen ist. Das wird die Menschen
nicht überzeugen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Frank
Heinrich das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mein
Kollege Weiß hat es vorhin gesagt: Es ist keine Stichtagsregelung, aber es gibt einen Jahrgang, für den die
Regelung am Schluss erstmalig gilt. Ich habe nicht nur
in meiner Stadt, sondern, ich vermute, auch deutschlandweit genau das Durchschnittsalter der Deutschen. Ich bin
einer aus diesem Jahrgang 1964,
({0})
und ich werde damit zu den Ersten gehören, die in den
Genuss der 67-Jahre-Regelung kommen.
Ich bin ein Stück weit froh darüber; denn ich halte das
auch für ein Signal. Ich halte das für ein Signal nicht nur
dafür, dass ich erst mit 67 Jahren in Rente gehe, sondern
auch dafür, dass ich eine Chance bekomme, zu arbeiten,
bis ich 67 Jahre alt bin. Herr Juratovic hat es gesagt: Ja,
wir müssen Bemühungen hinsichtlich der zukünftigen
Arbeitsgestaltung unternehmen. - Vorhin wurde aber
auch gesagt, dass es erst in 20 oder 25 Jahren so weit ist,
je nachdem, wen es wann trifft. Ich sage: Ich bin ein
Stück weit stolz darauf, dass wir jetzt damit anfangen,
das zu planen. Es ist ja nicht so, dass wir das in den
nächsten Jahren einfach vernachlässigen werden.
Ich gehöre diesem Jahrgang an, und ich bin einverstanden mit dieser Regelung; ich bin sogar froh darüber.
Durch viele Studien wird belegt, dass sich unsere Gesellschaft schon im Wandel befindet. Herr Kolb, Sie haben
das gesagt: Die Leute haben verstanden, dass sie sich darauf einstellen müssen. - Das gilt auch für die Betriebe.
Ich höre es eigentlich nicht so gerne, dass sich die Betriebe nicht umstellen. Das ist nicht wahr.
({1})
In meinem Umfeld sind die Betriebe aufmerksam geworden, und sie haben ja auch noch ein bisschen Zeit,
sich umzustellen, nämlich so lange, bis diese Regelung
greift.
Man sollte nicht polemisch über dieses Thema reden,
also nicht mit plakativen Formeln, wie ich sie auch in
vielen Fragen dieser Großen Anfrage gesehen habe.
({2})
Ich habe gemerkt: Wenn ich in der Auseinandersetzung
mit Bürgern mehrere Sätze dazu sagen und ihnen erklären kann, warum das sein muss, dann ist in unserem Volk
sehr schnell eine breite Zustimmung und ein Verständnis
für diese Regelung vorhanden.
({3})
- 80 Prozent lehnen sie ab, wenn sie nur plakativ gefragt
werden, wie Sie das sehr oft auch tun.
({4})
Wir haben es - das haben wir jetzt schon zuhauf gehört - mit sehr groben und starken gesellschaftlichen
Veränderungen zu tun; das ist hier im Haus in vielen
Debatten klargeworden. Das ist aber auch schon dem
Volk klargeworden, und viele bemühen sich und sind dabei, Umstellungen zu treffen.
Ich habe ein Problem damit, dass hier immer von Vergreisung und Überalterung gesprochen wird. Ein Kollege von mir aus dem Wahlkreis hat einmal gesagt: Wir
sollten das umformulieren und von Entjüngung sprechen, damit das Problem einfach ein Stück weit anders
wahrgenommen wird. - Das Diskussionsklima gefällt
mir an dieser Stelle manchmal überhaupt nicht.
Es gibt eine Zahl, mit der der Hintergrund ein bisschen beschrieben werden kann: Die Bevölkerungszahl in
diesem Altersbereich - 55 bis 65 Jahre - wird deutschlandweit um 1 Million steigen. In den neuen Bundesländern, aus denen ich komme, wird sie aber sinken.
Genau aufgrund dieser regionalen Unterschiede, die
ja nicht nur in diesem Bereich deutlich werden, brauchen
wir die heute genannte Flexibilität umso mehr. Wir können nicht einfach nur einen Strich über alle ziehen, sodass alle gleich sind, sondern wir müssen die Chancen
für mehr Flexibilität schaffen.
({5})
In diesem Sinne habe ich auch das gehört, was Sie, Herr
Juratovic, gesagt haben. Wir müssen gemeinsam daran
arbeiten, um das zu erreichen; hier haben wir noch ein
Stück Wegstrecke vor uns.
Durch die Antworten wird gezeigt, ohne jetzt auf
viele einzelne Fragen und Antworten sowie Zahlen einzugehen, die hier genannt wurden:
Der Hauptgrund eins für die Regelung ist - Herr
Fuchtel hat ganz am Anfang der Debatte darauf hingewiesen -, dass dies eine wichtige rentenpolitische Maßnahme ist, um die gesetzlichen Beitrags- und Niveausicherungsziele einhalten zu können.
Der Hauptgrund zwei dafür ist, dass mit dieser Rente
mit 67 dazu beitragen wird, in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Generationen die finanzielle
Grundlage und die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung nachhaltig sicherzustellen; Herr Weiß hat das
sehr deutlich gemacht.
Ich möchte, weil ich aus diesen neuen Bundesländern komme, noch einmal ein paar Daten in den Fokus
stellen, die hier noch gar nicht genannt worden sind. Die
Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage
sind sehr deutlich. Ich war überrascht und vermute, dass
sie auch den einen oder anderen im Hause überrascht haben: Es gibt eine sehr positive Entwicklung bei den älteren sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, insbesondere in Ostdeutschland.
Von Juni 2005 bis Juni 2009 war eine Steigerung in
dieser Altersgruppe der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 28,6 Prozent zu verzeichnen; in den
neuen Bundesländern waren es 38,3 Prozent. Der Anstieg ist zu knapp zwei Dritteln auf Vollzeitbeschäftigung zurückzuführen.
Zudem ist ein überproportionaler Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in den letzten
vier Jahren zu verzeichnen. Der Grund dafür ist der Anstieg der Beschäftigung älterer Bürger. Der Bevölkerungsanteil der Beschäftigten in der Altersgruppe der
55- bis 65-Jährigen ist in Deutschland um 7 Prozent gestiegen. In den neuen Bundesländern sind es 10 Prozent.
Wow, kann ich dazu nur sagen.
({6})
Wir erleben gerade eine grundlegende Veränderung.
Viele der gegebenen Antworten - ich bitte, die in der
Großen Anfrage gestellten Fragen noch einmal nachzulesen - zeigen, dass die Entwicklung genau in diese
Richtung weist.
Eine Zahl noch: Die jährliche Erhöhung der Zahl der
Leistungsberechtigten auch in Bezug auf die Grundsicherung geht absolut und prozentual kontinuierlich zurück, auch wenn offensichtlich ein gegensätzlicher Eindruck erzeugt wird. Die Regierung arbeitet darauf hin,
im November eine Kommission einzusetzen, die sich
mit dem Thema Altersarmut beschäftigt.
Der Arbeitsmarkt im Osten ist von einem Ungleichgewicht zwischen einem hohen Arbeitsangebot und unzureichender Nachfrage nach Arbeit geprägt. Laut IAB
geht die Differenz zwischen dem Arbeitskräfteangebot
und der Nachfrage nach Arbeit in den neuen Bundesländern in den nächsten 15 Jahren sehr stark zurück.
Für die Schaffung alters- und alternsgerechter
Arbeitsplätze sind allerdings - damit komme ich noch
einmal auf einen meiner Vorredner zurück - weitere Anstrengungen nötig. Wir müssen Grips investieren, um
dabei zu einer größeren Flexibilität zu kommen. Darin
stimme ich Ihnen völlig zu.
({7})
Die Einstellung älterer Arbeitnehmer, der 50- bis
65-Jährigen, ist seit dem ersten Halbjahr 2005 deutschlandweit um 9 Prozent und um 13 Prozent in den neuen
Bundesländern gestiegen. Die kleinen und mittleren Betriebe sind besonders stark daran beteiligt, dass diese
Menschen eingestellt werden. Ein Problem dabei ist,
dass sich immer noch Bewerbungen von Älteren vor allem bei kleinen und mittleren Betrieben aufstauen, obwohl bereits ein Großteil der Neueinstellungen auf diese
Bewerber entfallen.
Viele Unternehmen nutzen aber schon heute das Wissen und schätzen die Fähigkeiten der über 50-Jährigen.
Das wurde mir von begeisterten Wirtschaftsleuten als
auch von Menschen berichtet, die dieser Altersgruppe
angehören, zu der ich in wenigen Jahren selber zähle.
({8})
In den kleinen und mittelständischen Unternehmen gibt es einen deutlichen Bewusstseinswandel. Ich
komme aus einer Region, die ganz stark davon geprägt
ist. Frau von der Leyen wird immer wieder mit ihrer Bewertung dieses Teils unserer Gesellschaft zitiert, die
Potenziale darstellen, die wir abrufen können. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass wir durch Fortbildung und Umstellung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
noch weit mehr erreichen können.
Sie haben in vielen der Fragen die zehn wichtigsten
Bereiche angesprochen, in denen Beschäftigung auch für
diese Altersgruppe gesucht wird. Vorgestern las ich in einer Hamburger Zeitung von einer Liste genau solcher
zehn Bereiche. Sechs dieser Top 10 sind Berufsgruppen,
in denen Menschen bis 67 und viele sogar noch länger
arbeiten möchten. Da wird krampfhaft gesucht.
Ich komme zum Schluss. Sie sagen, ich sei einer der
wenigen, die zuversichtlich sind. Ich glaube tatsächlich,
dass wir auf einem guten Weg sind und entsprechende
Weichen gestellt wurden und dieses Jahr noch gestellt
werden. Wir müssen erstens aufmerksam bleiben und,
um dieser Altersgruppe tatsächlich gerecht zu werden,
entsprechende alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze
schaffen bzw. in sie investieren. Zweitens müssen wir
mit Blick auf Weiterbildungsmaßnahmen für Ältere aufmerksam werden. In diesem Zusammenhang nenne ich
wieder das Wort „Flexibilität“ - aber nicht nur Flexibilität des Staates, sondern auch des Bürgers und der Wirtschaft.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.
Ja, ich komme jeden Moment zum Ende.
Ich wünsche mir, dass wir es dann schaffen - so wie
bei der Staffelung bei der Rente mit 67 -, nach und nach
die Einzelbedingungen zu regeln.
Herr Kollege!
Die entscheidenden Begriffe sind: Generationengerechtigkeit und die Notwendigkeiten von Arbeitsmarkt
und Sicherungssystemen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der Gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 17/2413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein modernes Preisbildungssystem bei
Arzneimitteln
- Drucksache 17/2324 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verabredet ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch,
dann ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Bundesminister Dr. Philipp
Rösler.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Das Gesetz zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung hat drei wesentliche Ziele und enthält eine
große politische Botschaft.
Das erste Ziel ist: Wir wollen den Zugang der Patientinnen und Patienten zu den bestmöglichen Medikamenten auch in Zukunft garantieren und sicherstellen. Das
zweite Ziel ist: Wir wollen die damit einhergehenden
Kosten besser kontrollieren als bisher. Das dritte Ziel ist:
Wir wollen den Mittelstand stärken. Forschung soll auch
hier weiterhin möglich sein. Wir leisten damit unseren
Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung auch und gerade in der Gesundheitswirtschaft.
({0})
Darüber hinaus wird mit diesem Gesetz die Unabhängige Patientenberatung dauerhaft gesetzlich abgesichert auch, aber nicht nur im Arzneimittelbereich. Trotzdem
gehört gerade die Unabhängige Patientenberatung in diesen Gesetzentwurf mit hinein. Denn dies führt uns zu der
entscheidenden Botschaft dieses Gesetzes, das zwar
technisch klingt, aber am Ende den Patientinnen und Patienten nützt und die Versicherten entlastet. Deswegen,
meine Damen und Herren, können wir hier festhalten:
Dieses Gesetz ist gut für die Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland.
({1})
Wir werden all die angepeilten Ziele erreichen. Künftig wird im ersten Jahr die Vollerstattungsfähigkeit erhalten bleiben - aber eben nicht mehr über die gesamte
Patentlaufzeit von 20 Jahren. Erstmalig und neu ist in
diesem Gesetz geregelt, dass die Industrie neben dem
neuen Medikament immer auch Studien mit vorlegen
muss, die den Nutzen oder gegebenenfalls Zusatznutzen
wissenschaftlich belegen. Diese Studien werden dann
von unabhängiger Stelle, nämlich vom Gemeinsamen
Bundesausschuss, überprüft werden. Meine Damen und
Herren, wenn die Industrie will, dass ihre Medikamente
auch weiterhin bezahlt werden, dann ist sie es den Menschen auch schuldig, solche Studien mit vorzulegen.
Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter: Wir verlangen auch die Vorlage von Studien, die abgebrochen
wurden, also nicht nur von positiven, sondern auch von
negativen Studien. Das, meine Damen und Herren, ist im
Interesse der Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({2})
Diese Studien werden dann die Grundlage für Vertragsverhandlungen zwischen der Industrie und der gesetzlichen Krankenversicherung sein. Erstmalig in der
Geschichte ist es damit gelungen, das Preismonopol der
Industrie zu brechen. Wir werden damit zu Einsparungen
im gesamten Arzneimittelbereich von annähernd
2 Milliarden Euro kommen. Das zeigt, dass wir durch
dieses Gesetz die Versicherten finanziell werden entlasten können.
Das zeigt auch, dass die gesamte Diskussion, die wir
in der letzten Woche geführt haben, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zusammenhängt. Im Übrigen haben
wir von Ihnen bisher im Bereich der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung herzlich wenige Sparvorschläge gehört.
({3})
- Trotzdem dürfen Sie das Wort ergreifen und Vorschläge machen. ({4})
Der Gesetzentwurf zeigt die unterschiedliche Art und
Weise, mit der wir an mögliche Einsparungen in der gesetzlichen Krankenversicherung herangehen.
Wir müssen unseren Versicherten finanzielle Möglichkeiten eröffnen. Das tun wir durch den Herstellerrabatt und das Preismoratorium. Das wurde teilweise
schon mit dem GKV-Änderungsgesetz beschlossen. Wir
beschränken uns aber nicht alleine darauf, Kostendämpfungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen, sondern wir
kommen zu echten, strukturellen Verbesserungen; denn
erstmalig gibt es Vertragsverhandlungen, also ein marktwirtschaftliches Instrument, um zu vernünftigen und
fairen Preisen zu kommen. Es zeigt, dass wir es ernst
meinen, wenn wir sagen, dass wir den Leistungsanbietern - übrigens in allen Bereichen - nicht immer mehr
Geld bieten können. Manchmal müssen wir ihnen sogar
Geld nehmen, wie jetzt aktuell im Bereich der Pharmaindustrie. Dafür bekommen sie aber am Ende ein faires
System, auf das sie sich dauerhaft werden verlassen können.
({5})
Damit erreichen wir das Ziel. Die Menschen werden
auch künftig die bestmöglichen Medikamente gegen die
großen Volkskrankheiten - Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Demenz und Krebs - bekommen, und
gleichzeitig wird es besser als bisher gelingen, die Kosten im Interesse der Versicherten im Griff zu behalten.
Ich freue mich auf eine angeregte Debatte und bitte um
Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Karl Lauterbach für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal will ich mit einem Lob für den besten
Teil dieses Gesetzes einsteigen, mit dem ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet hatte. Das verbinde ich mit einem
persönlichen Dank an Sie, Herr Zöller. Die Unabhängige
Patientenberatung ist in einer Art und Weise im Gesetz
verankert, wie ich es bei meiner letzten Plenumsrede zu
diesem Thema nicht für möglich gehalten hätte. Sie haben sich durchgesetzt. Dafür muss man ein anerkennendes Wort haben. Mein Dank gilt auch im Namen meiner
gesamten Fraktion.
({0})
Das ist eine ordentliche Leistung, und die muss anerkannt werden.
Leider kann ich dieses Lob nicht auf die restlichen
90 Prozent des Gesetzentwurfs ausdehnen.
({1})
Das ist keine Kleinkariertheit, und das ist auch keine
Missgunst. Ich will die Ablehnung begründen. Zunächst
einmal ist es sehr gut und angemessen, dass dem Minister selbst sein eigener Gesetzentwurf gefällt; aber dieser
erntet das Lob nicht in Fachkreisen und auch nicht in
den Medien. Weshalb ist das so? Die zentralen Schwächen dieses Gesetzentwurfs liegen auf der Hand.
Im ersten Jahr nach der Zulassung werden Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen
geführt. Sie haben überhaupt keine Möglichkeit, auszuschließen, dass die zu erwartenden Preisabschläge, wenn
sie jemals kommen, vorher aufgeschlagen werden.
({2})
Daher sprechen mittlerweile die Fachpresse und auch
zum Beispiel die Leiterin des Referats Arzneimittel im
AOK-Bundesverband, Frau Beckmann, vom Teppichhändlereffekt. Es wird so gehandelt werden wie bei den
Teppichhändlern. Sie mögen das nicht gerne hören, aber
es ist tatsächlich so. Sie werden nachher bemüht sein,
den Aufschlag, der jetzt erhoben wird, wieder herunterzuhandeln. Ich sage Ihnen: Wir werden ein Jahr lang höhere Preise als sonst haben, und danach werden wir die
normalen Preise haben. Das endet letztendlich mit Mehrkosten, und Sie werden keinerlei Einsparungen erzielen.
({3})
- Es wäre das erste Mal, dass ich von Ihnen, Herr
Lanfermann, in dieser Hinsicht Nachhilfe beziehen
könnte.
({4})
Was ist denn zusätzlich zu erwarten? Sie haben darüber hinaus noch mit erheblichen Mengensteigerungen
und mit einer Ausweitung der Indikationen zu rechnen.
Sie haben im gleichen Gesetzentwurf die Richtgrößenprüfung geschwächt, und durch eine Schwächung der
Richtgrößenprüfung müssen Sie mit einer Ausweitung
der Menge und einer Ausweitung der Indikationen rechnen. Somit kommt es zunächst einmal zu einer Ausweitung der Indikationen und der Menge bei steigenden
Preisen. Im ersten Jahr haben Sie ja gar nichts in der
Hand. Sie müssen überlegen, was das bedeutet. Ich wiederhole: Im nächsten Jahr müssen Sie mit steigenden
Preisen, mit einer Ausweitung der Menge und einer Ausweitung der Indikationen rechnen. Der eingeschlagene
Weg wird zu Mehrkosten führen. Um das zu erkennen,
sind wir doch lange genug im Geschäft. Das ist doch
kein Spargesetz.
({5})
Ich will einer Legende vorbeugen, die Herr Spahn
gleich wieder verbreiten wird. Herr Spahn wird gleich
wieder argumentieren, dass diese Koalition wagt, etwas
durchzusetzen, wozu wir nie den Mut hatten, nämlich
die Kosten-Nutzen-Analyse.
({6})
- Sie müssten eine Sekunde nachdenken. - Die Kosten-Nutzen-Analyse ist doch schon jetzt, während wir
sprechen, Gesetz.
({7})
Sie schwächen ein bestehendes Gesetz und verkaufen
das dann als einen Neubeginn. Die Kosten-Nutzen-Analyse ist nicht so oft angewandt worden, wie man es hätte
tun müssen; das ist ganz klar. Das war auch deshalb so,
weil der dafür zuständige Institutsleiter, Herr Sawicki,
ständig Druck von den Lobbygruppen bekommen hat.
Anstatt ihn darin zu unterstützen, diesem Druck standzuhalten, haben Sie ihn gefeuert. Damit haben Sie ein ganz
klares Signal gegen die Kosten-Nutzen-Analyse gesetzt.
Das ist doch die Wahrheit.
({8})
Sie, Minister Rösler, sind doch immer gegen die
vierte Hürde gewesen. Ich könnte jetzt zitieren, wie Sie
als zuständiger niedersächsischer Wirtschaftsminister
gegen die vierte Hürde polemisiert haben.
({9})
Sie können doch nicht behaupten, dass Sie hier etwas
durchgesetzt haben, was durchzusetzen wir uns nicht getraut haben. Die Wahrheit ist: Es war schon Gesetz; Sie
sind damals dagegen gewesen. Sie haben jetzt eine abgeschwächte Version durchgesetzt, wodurch zum Schluss
kein einziger Euro gespart wird.
({10})
- Das ist keine Märchenstunde. Die Kosten-NutzenAnalyse ist Gesetz. Sie wird jetzt abgeschwächt.
({11})
Wir werden uns hier in einem Jahr noch einmal sprechen. Ich sage voraus: Es wird keine Einsparungen geben.
Darüber hinaus führen Sie hier eine IGeL-Leistung
bei den Arzneimitteln ein. Die von Ihnen hier eingeführte Mehrkostenregel wird darauf hinauslaufen, dass
der Versicherte demnächst nur noch die Basiskomponente, das Rabattmedikament - unabhängig davon, ob
es erhältlich ist oder nicht - erstattet bekommt und die
komplette Preisdifferenz zuzahlen muss. Das wird Ihnen
auf die Füße fallen. Der Apotheker wird nämlich immer
sagen: Herr Rösler ist schuld, dass Sie die Kosten für das
Medikament, das Sie jetzt eigentlich brauchen, nicht
mehr erstattet bekommen. Genauso wird es sein. Jeder
Apotheker wird sagen: Dieses Medikament kann ich Ihnen leider nicht mehr kostenlos geben; da müssen Sie
sich bei Herrn Rösler bedanken; wenn Sie dieses Medikament haben möchten, müssen Sie die Mehrkosten tragen. Die Zuzahlung kann 10 oder sogar 15 Euro betragen. - Erinnern Sie sich an meine Worte! Bei jeder
Gelegenheit wird man sagen: Bedanken Sie sich bei
Herrn Rösler oder tragen Sie die Mehrkosten; wir können Ihnen nur noch das billigste Rabattmedikament verkaufen. - Sie versuchen das als eine Stärkung der Kunden darzustellen.
Ich will Sie hier noch ein letztes Mal daran erinnern:
({12})
Der kranke ältere Mensch, der Medikamente nicht beurteilen kann, bedarf der Fürsorge. Er ist kein Kunde. Er
kann nicht bewerten, ob er abgezockt wird oder ob es
sich wirklich um unterschiedliche Medikamente handelt.
Fangen Sie an, den mündigen Kunden im Gesundheitssystem einzuführen! Mündig ist der Kunde dann, wenn
er sich zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenkasse entscheiden kann. Schützen Sie nicht die
Klientel und machen Sie nicht ausgerechnet den kranken, armen älteren Menschen zum Spielball der Interessen der Apotheker und der Pharmaindustrie.
({13})
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns zum dritten Mal in dieser Woche
mit Gesundheitspolitik. Erstmals wird konstruktiv gehandelt - zuvor gab es viel Gemeckere, etwa in der Aktuellen Stunde -: Heute legen wir einen Gesetzentwurf
vor, in dem die Neuordnung des Arzneimittelmarktes geregelt wird.
Lieber Herr Kollege Lauterbach, auch wenn wir uns
freuen, dass Sie das, was bei der Unabhängigen Patientenberatung gelungen ist, anerkennen - Sie selbst sagen,
dass Sie das falsch eingeschätzt haben -, sage ich Ihnen
voraus, dass Sie spätestens in einem Jahr hier stehen
werden und sagen müssen, dass Sie sich geirrt haben,
dass all das, was Sie prognostiziert haben, nicht eingetreten ist,
({0})
sondern dass wir - im Gegenteil - eine langfristig wirkende Strukturvereinbarung im Arzneimittelbereich zustande gebracht haben.
({1})
Ich freue mich jedenfalls schon auf den Tag, an dem Sie
hoffentlich so ehrlich sind, wie Sie es heute im Hinblick
auf die Unabhängige Patientenberatung dankenswerterweise gewesen sind.
({2})
Am Ende - das wissen Sie - treffen wir heute nämlich
eine fast schon historische Entscheidung; denn damit erfolgt ein Paradigmenwechsel in der Frage der Arzneimittelpreisfindung in Deutschland. Bisher konnten die Arzneimittelunternehmen nach der Zulassung für die Zeit
des Patentschutzes den Preis des Medikamentes im
Grunde frei - Himmel nach oben offen, pflege ich immer zu sagen - bestimmen.
Sie haben lange davon geredet - auch während Ihrer
Regierungszeit;
({3})
Sie haben ja über ein Jahrzehnt die Gesundheitsministerinnen in diesem Land gestellt -, dass dieser Zustand
nicht so bleiben kann. Jetzt sind Sie doch ein Stück weit
erschrocken darüber,
({4})
dass es gerade eine christlich-liberale Koalition ist, von
der Sie das vielleicht am wenigsten erwartet hätten, die
diese strukturelle Frage nun endlich angeht und einer
Lösung zuführt, die dem Ziel dient, den direkten Zugang
zu Innovation und neuen Medikamenten für die Patienten aufrechtzuerhalten, und gleichzeitig dafür sorgt, dass
das Ganze bezahlbar ist und in einem angemessenen
Verhältnis steht.
Sie haben jahrelang davon geredet. Nichts ist passiert.
Wir regieren erst wenige Monate und legen heute schon
etwas Konkretes vor. Das ist effektive Arbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Auch in anderen Bereichen findet übrigens ein Paradigmenwechsel statt. Jenseits des kurzfristigen Sparens
geht es um strukturelle Veränderungen.
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben die Kosten-Nutzen-Bewertung erwähnt. Sie wissen genauso gut wie ich,
dass die Kosten-Nutzen-Bewertung in keinem einzigen
europäischen Land Grundlage für die Preisfindung ist.
Auch in Deutschland wäre sie das am Ende nie wirklich
gewesen; denn sie hat nicht funktioniert.
Es ist richtig, hier zur Nutzenbewertung zu kommen,
also zu schauen, wie viel besser ein neu auf den Markt
kommendes Arzneimittel im Vergleich zu den bereits auf
dem Markt vorhandenen Therapiealternativen ist. Dann
soll zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem entsprechenden pharmazeutischen Unternehmen verhandelt werden. Es gibt also keine staatlich
festgesetzten Preise, sondern Verhandlungslösungen.
Unterschätzen Sie bitte auch nicht den Intellekt der
Krankenkassen in Bezug darauf, wie sie in diese Verhandlungen gehen. Natürlich wird auf Basis des Dossiers, also der Frage, wie viel mehr Nutzen das neue Medikament im Verhältnis zur Therapiealternative hat, über
den Preis verhandelt werden - und nicht, wie Sie es immer darstellen wollen, im Sinne von Teppichhändlerrunden. Hier werden mit Schiedsverfahren - wir haben auch
Konfliktlösungsmechanismen eingebaut - vernünftige
Preise gefunden.
Wir wollen Vertragslösungen. Wir wollen keinen
staatlichen Dirigismus. Das mag Ihnen nicht gefallen.
Zumindest wir halten das aber für die bessere Lösung.
({6})
Im Übrigen beinhaltet das Ganze auch eine wichtige
gesellschaftliche Debatte. Einen Aspekt blenden Sie
nämlich immer völlig aus. Es geht natürlich darum, dass
die Pharmaunternehmen auch die Chance haben, für etwas, was tatsächlich eine Innovation ist - denken Sie nur
an Demenz; wie froh wären wir, wenn es endlich ein
Medikament gegen diese Geißel gäbe -
Kollege Spahn, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Lauterbach?
Jederzeit.
Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel nennen. Das
neueste und teuerste Medikament bei den Cholesterinsenkern, Crestor, wurde bewertet. Nach zwei Jahren
wurde die Studie abgebrochen. Der Pharmahersteller
kam zu dem Ergebnis, es sei wunderbar und bringe deutlich mehr. Das ist Gegenstand des Dossiers gewesen.
Später kam dann heraus - das hatten die Unternehmen
nicht vorgelegt -, dass es in der gleichen Studie, der
JUPITER-Studie, auch Daten gab, die gezeigt haben,
dass die eigentliche Senkung der Zahl von Herzinfarkten
oder Schlaganfällen nie aufgetreten war.
Wenn man jetzt nur das Dossier des Unternehmens
bewerten müsste, dann wäre - ({0})
- Im Dossier des Unternehmens ist das an keiner Stelle
erwähnt worden. Hätte man allerdings unabhängige Bewertungen zugelassen, wäre das sofort herausgekommen.
Was jetzt vorgetragen wird, ist so ähnlich, als würden
Sie nur die Testberichte der Werksfahrer anfordern, und
die Autos würden von den unabhängigen Testern selbst
nie gefahren. Das ist doch das, was hier passiert.
({1})
Glauben Sie denn nicht, dass es der zentrale
Schwachpunkt dieses Vorschlags ist, dass Sie sich allein
auf das verlassen müssen, was das Unternehmen Ihnen
hier vorschlägt?
Lieber Herr Kollege Lauterbach, zum Ersten muss
sich niemand allein auf das verlassen, was das Unternehmen vorschlägt. Ich finde es aber nur fair, das Unternehmen nachweisen zu lassen - das ist auch die Verantwortung des Unternehmens; im Übrigen erfolgt dieser
Nachweis natürlich auf eigene Kosten -, welchen zusätzlichen Nutzen das eigene Medikament denn tatsächlich hat.
Auch da haben Sie übrigens jahrelang geredet; der
Minister hat schon darauf hingewiesen. Wir schaffen
jetzt endlich eine Pflicht zur Veröffentlichung aller Studien, der positiven wie der negativen. Während Sie jahrelang nur geredet haben, tun wir es jetzt.
({0})
Damit würde diesem Punkt, der ja lange gefordert wird,
auch Rechnung getragen.
Die entscheidende Herausforderung, auch in der gesellschaftlichen Debatte, ist aber folgende - das würde
ich jetzt gerne einmal in einem Zug ausführen -: Einerseits wollen wir, dass die Pharmaunternehmen forschen
und dass es neue Medikamente gibt. Ich sagte gerade
schon, wie wichtig es ist, dass etwa gegen die Geißel
Demenz endlich etwas auf den Markt kommt.
Solche Innovationen müssen natürlich auch finanziell
anerkannt werden; sonst gäbe es keinen Anreiz, zu forschen. Gleichzeitig müssen wir einen Spagat schaffen.
Das alles muss auch finanziell darstellbar sein. Es muss
gelingen, die Solidargemeinschaft nicht übermäßig zu
belasten. Genau dieser Spagat ist so schwierig.
Das stört mich manchmal an den Debatten, wie Sie
sie führen, wenn es um die Entwicklung der Pharmapreise geht: Sie blenden den Aspekt völlig aus, dass für
viele Tausende und Zehntausende schwerkranker Menschen mit neuen Medikamenten auch viele Hoffnungen
auf Minderung von Leid verbunden sind. Wir versuchen,
durch das Bewertungsverfahren beim Institut, aber auch
durch die Vorlage von wissenschaftlichen Studien genau
diesen Spagat zu schaffen. Deswegen bringt die Keule
nichts, die immer gegen die Pharmaindustrie geschwungen wird nach dem Motto: Die kann man richtig abzocken.
({1})
Eine sachlich orientierte Debatte, die diesen Spagat widerspiegelt, ist entscheidend. Genau das wollen wir mit
der Debatte zu diesem Gesetz erreichen.
({2})
Kollege Spahn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Volkmer?
Jederzeit.
Ich dachte mir das schon.
Herr Spahn, ich möchte Sie etwas zu den Studien fragen, die die Pharmaindustrie vorlegen muss. Sie haben
gesagt: Es müssen jetzt alle veröffentlicht werden. Im
Gesetzentwurf steht: Es ist den Pharmaunternehmen
überlassen, in welcher Form sie diese Studien veröffentlichen. Es reicht auch, wenn sie das auf ihrer Internetseite veröffentlichen. - Stimmen Sie mir darin zu, dass
das in dem Gesetzentwurf so steht?
Klar, ich stimme Ihnen zu.
({0})
Ich habe jetzt nur nicht ganz die Problematik erkannt. Es
geht darum, dass es am Ende zu einer Veröffentlichung
kommt. Es gibt im Übrigen - das blenden Sie bei den
Debatten auch immer aus - auf europäischer Ebene
schon Datenbanken, die entsprechende Studien sammeln.
Eines sage ich Ihnen noch, weil das eine Frage betrifft, über die man konstruktiv miteinander reden kann:
Wir gehen in diese Debatte hinein mit der deutlichen
Ansage, dass wir bereit sind, im Gesetzgebungsverfahren über alle diese Fragen mit allen Beteiligten - dazu
gehören die Patientenverbände, die pharmazeutische Industrie, die Kostenträger, gern auch die Opposition,
wenn es denn konstruktiv ist - konstruktiv zu reden.
Transparenz ist die Voraussetzung von Akzeptanz.
({1})
Ich habe schon deutlich gemacht, wie schwer es ist,
diesen gesellschaftlichen Spagat zu schaffen. Da gibt es
die Hoffnungen und Erwartungen vieler kranker Menschen, und da ist zu unterscheiden: Was ist Abzockerei
durch die Pharmaindustrie? Was ist berechtigtes Interesse, auch Forschungsleistungen abgegolten zu bekommen?
({2})
Dafür braucht man Verfahren, die transparent sind, die
nachvollziehbar sind, die für Akzeptanz sorgen. Wir sind
bereit, bis zur zweiten und dritten Lesung über alle diese
Schritte zu sprechen: beim Gemeinsamen Bundesausschuss, beim IQWiG und bei all dem, was anliegt. Wir
jedenfalls wollen diese Diskussion in den nächsten Wochen und Monaten bis zur zweiten und dritten Lesung
konstruktiv führen. Anders als in den Debatten in diesem
Hause gestern und vorgestern sollte es nicht bei pauschalem Gemeckere bleiben. Sie sind herzlich eingeladen
Kollege Spahn, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss
kommen.
- ich bin offensichtlich im letzten Satz, Frau Präsidentin -, an der Sache konstruktiv mitzuarbeiten. Das
wäre für dieses Haus in dieser Frage ein entscheidender
Schritt nach vorne.
Danke schön.
({0})
Das mit dem letzten Satz ist immer so eine Sache, je
nachdem, wie viele Kommas man setzt.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben schon in den letzten zwei Tagen erlebt, wie
die schwarz-gelbe Koalition Planlosigkeit und soziale
Kälte zum gesundheitspolitischen Programm macht. Die
steigenden Beiträge, die ungerechte Kopfpauschale, die
vor allem wieder Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen schultern sollen,
({0})
begründen Sie immer wieder gern mit der steigenden Lebenserwartung. Das war auch in der Rentendebatte gerade wieder das Thema. In unserem Bereich verweisen
Sie da auf den medizinischen Fortschritt.
Wenn dem so ist, dann sollten Sie diejenigen, die von
beidem stärker profitieren, auch mehr oder angemessen
zur Kasse bitten. In Deutschland leben nämlich die
reichsten 10 Prozent der Bevölkerung durchschnittlich
zehn Jahre länger als die ärmsten. Das zeigt, dass unser
vielgelobtes Gesundheitswesen - ich schätze es; ich
kenne seine Qualitäten - wirklich gut ist, aber nicht unbedingt sozial und nicht gut für alle.
({1})
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie, Herr Rösler, die
Kostensteigerungen für Arzneimittel in der gesetzlichen
Krankenkasse bremsen.
({2})
Andererseits - das sagen Sie ganz offen - wollen Sie
auch Wirtschaftsförderung betreiben. Wir machen hier
aber keine Wirtschaftspolitik, sondern Gesundheitspolitik. Weil Ihre Vorschläge dementsprechend unzureichend und inkonsequent sind, um die Megaprofite der
Pharmaindustrie zu begrenzen, hat die Fraktion Die
Linke einen eigenen Antrag für vernünftige und nachvollziehbare Arzneimittelpreise vorgelegt. Ich fordere
Sie auf: Setzen Sie sich vernünftig damit auseinander!
({3})
Schauen wir einmal genauer auf das, was Sie da vorhaben. Sie wollen also, dass die Pharmaindustrie auch
weiterhin für jedes neue Medikament selbst den Preis
festlegen darf.
({4})
Diesen Preis, egal ob 20 oder 2 000 Euro, müssen die gesetzlichen Krankenkassen dann mindestens ein Jahr lang
erstatten.
({5})
Sie, Herr Rösler, nennen das einen patientenfreundlichen
Zugang zu Innovationen. Aber ich nenne das die Lizenz
zum Gelddrucken.
Die Linke fordert eine viel schnellere und transparentere Preisfestlegung gerade für die neuen Arzneimittel;
denn das sind die Arzneimittel, die die hohen Kosten
verursachen. Dabei wollen wir vor allem darauf achten
- das haben wir in unserem Antrag dargestellt -, ob das
Präparat wirklich einen Nutzen für die Patientinnen und
Patienten hat. Ist es nicht wirklich neu oder nicht besser
als bereits auf dem Markt befindliche Medikamente,
dann darf es auch nicht teurer sein.
Bei den sogenannten therapeutischen Solisten, also
bei den Präparaten, für die es keine Behandlungsalternative gibt und für die eine Kosten-Nutzen-Bewertung in
angemessener Zeit nicht möglich ist, brauchen wir weitere Kriterien - Herr Kollege Spahn, Sie haben gerade
gesagt, Forschung sei wichtig für Innovationen -, zum
Beispiel die Forschungskosten. Dazu müsste die Industrie erst einmal ihre tatsächlichen Kosten offenlegen,
und zwar ohne die üblichen Mogeleien.
({6})
Die Pharmalobbyisten erklären uns ja immer gerne,
dass die Mondpreise für neue Mittel sein müssten, um
die Forschung zu finanzieren. Angeblich kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments über 600 Millionen
Euro. US-Wissenschaftler haben aber schon vor einigen
Jahren nachgewiesen, dass es real oft nicht einmal
50 Millionen Euro sind. Hier brauchen wir dringend die
Transparenz, die Sie, Herr Minister, und Sie, Herr Kollege Spahn, immer so gerne fordern.
({7})
Nach dem ersten Jahr sollen dann die Krankenkassen
mit den Herstellern über den Preis verhandeln. Daran
glauben Sie doch selbst nicht.
({8})
Herr Rösler, gehen Sie doch einmal zur Deutschen Post
und verhandeln über den Preis einer Briefmarke. Warum, bitte schön, sollte sich die Post darauf einlassen?
({9})
Sie hätten in diesem Fall wenigstens die Möglichkeit,
den Brief selbst zu überbringen. Ein Kranker hat aber
keine Alternative, und die Krankenkassen müssen das
zahlen, was die Industrie verlangt.
Last, not least wollen wir mit unserem Antrag eine
weitere Lücke Ihres Entwurfes schließen. Es gibt keinen
vernünftigen Grund, warum die Arzneimittel in den
Krankenhäusern von der Preisgestaltung ausgenommen
sein sollen. Schließlich werden die meisten Erstverordnungen von teuren Medikamenten in Kliniken vorgenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
lieber Kollege Spahn, es nützt überhaupt nichts, wenn
Sie dauernd beklagen, dass die Opposition nur meckere.
Das stimmt nämlich nicht. Wir haben ganz konkrete Vorschläge gemacht. Ich fordere Sie auf: Prüfen Sie diese
Vorschläge vorurteilslos, soweit Ihnen das möglich ist!
({10})
Wir erheben kein Copyright; denn es geht hier schließlich um ein zukunftsfähiges und soziales Gesundheitswesen. Und nicht vergessen: Gesundheit ist keine Ware.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Birgitt Bender das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, ich bin froh, dass Sie eben bei der Vorstellung
Ihres Gesetzentwurfs das revolutionäre Pathos weggelassen haben, mit dem wir den Entwurf oft in den Medien beschrieben gefunden haben, nach dem Motto „Ich,
der Ritter, gegen die Pharmaindustrie“.
Es ist richtig, die Ziele des AMNOG verdienen Respekt. Da geht es um Nutzenbewertung zu Beginn des Lebenszyklus eines Medikaments, um Preise, die der Hersteller nicht völlig frei festlegen kann, oder um mehr
Transparenz bei Arzneimittelstudien. Es ist allerdings
überraschend, dass Schwarz-Gelb so etwas macht, lieber
Kollege Spahn. Ich will Ihnen sagen, warum. Im Jahre
2003 sind wir mit einem rot-grünen Reformentwurf an
den Verhandlungstisch zu Union und FDP gekommen.
Die Gelben sind sofort davongesprungen, weil sie auf
keinen Fall der Pharmaindustrie etwas tun wollten. Die
Union hat damals die Kosten-Nutzen-Bewertung abgelehnt. Ich kann nur sagen: Schön, dass Sie etwas dazugelernt haben.
({0})
Wenn es tatsächlich so sein soll, dass überhöhte Renditen der Pharmaindustrie zugunsten der Versicherten
abgeschöpft werden, dann darf das Vorgehen aber nicht
halbherzig sein. Anders gesagt: Wenn man Fische fangen will, aber das Netz besonders große Maschen hat,
dann wird der Angler hungrig bleiben. Genau das droht,
wenn sich am AMNOG nicht noch etwas verändert.
({1})
Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen,
warum die Nutzenbewertung in der Regel erst nach der
Zulassung und nicht parallel zum Zulassungsverfahren
durchgeführt wird, wie das in anderen Ländern der Fall
ist?
({2})
- Nein, das können Sie nicht.
({3})
Bereits beim Design und der Durchführung der Zulassungsstudien muss berücksichtigt werden, dass für die
Bewertung eines Zusatznutzens die Prüfung gegenüber
der Standardtherapie notwendig ist. Wenn nur gegenüber
Placebos geprüft wird, dann nutzt das vielleicht dem
Hersteller, aber nicht dem Gesundheitssystem.
({4})
Klare Anforderungen an vorzulegende Studien und der
Start der Nutzenbewertung bereits zum Zeitpunkt des
Zulassungsantrages, das wäre der richtige Ansatz.
Ein weiterer Punkt. Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen, warum Impfstoffe von der Nutzenoder Kosten-Nutzen-Bewertung ausgenommen sind? Ich
habe bisher keinen einzigen gehört.
({5})
Das Verfahren der Ständigen Impfkommission ist eine
Blackbox. Wir brauchen ein transparentes, methodisches
Vorgehen wie beim IQWiG und Transparenz im Verfahren, wie es für das IQWiG und den G-BA selbstverständlich ist.
Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen,
warum sie den Pharmaherstellern im ersten Jahr völlig
freien Spielraum bei der Preisgestaltung lässt? Zum einen können Verhandlungen zwischen Herstellern und
Kassen früher beginnen, wenn die Nutzenbewertung früher vorliegt. Zum anderen wird unser Vorschlag der
Rückerstattung bei überhöhten Preisen abgelehnt, weil
das ein nachträglicher, nicht zulässiger Eingriff in die
unternehmerische Freiheit sei.
Unser Vorschlag ist weit marktwirtschaftlicher als der
Vorschlag, den die Koalition anderenorts preist. In den
aktuellen Sparvorschlägen der Koalition heißt es: „Die
Preise für Impfstoffe werden auf das europäische Durchschnittsniveau gesenkt.“ Das heißt, zum einen ist das
Senken von Preisen möglich, aber Sanktionen für überhöhte Preise nicht? Das verstehe, wer will. Ich glaube,
Sie müssen Ihre Argumente noch einmal überprüfen.
({6})
Auch die Frage, ob es Preis- oder Rabattverhandlungen geben soll, haben Sie nicht zu Ende gedacht. Sie
wollen doch immer der PKV etwas Gutes tun. Unser Interesse gilt dem Verbraucherschutz, wir wollen, dass die
PKV-Versicherten - solange es sie in der jetzigen Form
gibt - nicht ständig überhöhte Preise auch im Arzneimittelbereich bezahlen. Wenn das der Fall ist, dann muss
man Preisverhandlungen führen, weil nur dann die
Preise auch für die PKV-Versicherten gelten. Das scheint
Sie nicht zu interessieren, aber vielleicht denken Sie darüber nach.
({7})
Kann mir die Koalition einen guten Grund nennen,
warum sie bei der Transparenz von Arzneimittelstudien
so hasenfüßig ist? Sie schreiben nicht vor, wo diese Studien zu veröffentlichen sind.
({8})
Wenn ich Beratungsdienste für Böswillige zu leisten
hätte, dann würde ich sagen: Gründet doch eine Publikation - das ist zwar teuer und die Informationen erreichen
nur wenige - und veröffentlicht dort die Arzneimittelstudie, sodass sie auch ja keiner findet.
({9})
Mit Ihrem Gesetz wird so etwas nicht verhindert. Warum
nicht? Können Sie dafür einen guten Grund nennen?
Nein, das können Sie nicht.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben über den Sommer noch einige Hausaufgaben zu machen. Vor diesen Aufgaben sollten Sie
nicht wegtauchen. Das empfehle ich Ihnen.
({10})
Der Kollege Wolfgang Zöller spricht nun für die
Unionsfraktion.
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei der Diskussion, die geführt wird, sollte
man das Positive festhalten: Heute ist ein guter Tag für
die Patienten.
({0})
Als Patientenbeauftragter möchte ich zwei Punkte ansprechen. Die strukturellen Änderungen auf dem Arzneimittelmarkt werden die Patientenrechte stärken. Es wird
mehr Transparenz erreicht. Es wird dem Patienten mehr
darüber mitgeteilt werden können, welcher Nutzen ihm
bei neuen Arzneimitteln nachgewiesen werden muss.
Auch die klinischen Prüfungen sind zu veröffentlichen.
Das ist ebenfalls ein wichtiger Vorteil für die Patienten.
({1})
- Da gefragt wird, wo, sage ich: Im SPD-Mitteilungsblatt Vorwärts muss es nicht unbedingt stehen, damit die
Leute es zur Kenntnis nehmen können.
({2})
Die Patienten erhalten wieder mehr Wahlfreiheit, was
ihr gewohntes Arzneimittel angeht. Sie können nicht nur
rabattierte Arzneimittel auswählen. Ich glaube, das fördert die Zufriedenheit und die Akzeptanz.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen,
den ich für sehr wichtig halte. Mein Leitbild ist der mündige und informierte Patient.
Kollege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler?
Selbstverständlich.
Lieber Kollege Zöller, würden Sie mit mir darin übereinstimmen, dass nur diejenigen Patientinnen und Patienten bei den Medikamenten eine Wahlfreiheit haben,
die über das nötige Kleingeld verfügen, um sich die Zuzahlung zu den Medikamenten leisten zu können?
Nein, dem kann ich so nicht zustimmen. Bei der Festbetragsregelung hatten wir ähnliche Befürchtungen. Damals ist aber das eingetreten, was wir gesagt haben: Die
Arzneimittelhersteller, die höhere Preise hatten, haben
festgestellt, dass die Versicherten die Zuzahlung nicht
haben leisten wollen, sodass von der Zuzahlungsmöglichkeit kaum Gebrauch gemacht wurde. Sie sind mit
dem Preis dann bis zum Festbetrag heruntergegangen.
Dadurch war das sogar eine kostendämpfende Maßnahme.
({0})
Kollege Zöller, bevor Sie weitermachen, weise ich
Sie darauf hin, dass es eine zweite Zwischenfrage gibt. Nein, der Kollege Lauterbach zieht zurück. Dann kann
es weitergehen.
({0})
Er ist heute besonders freundlich zu mir.
Patientenrechte sind für mich Bürgerrechte. Deshalb
bin ich sehr froh, dass die Koalition mit diesem Gesetzentwurf ihr Bekenntnis zu starken Patientenrechten manifestiert. Jetzt wird die unabhängige Verbraucher- und
Patientenberatung als Regelleistung festgeschrieben. Ab
1. Januar 2011 haben alle Versicherten einen Anspruch
auf eine unabhängige Beratung. Sie werden bestimmt
mit mir einer Meinung sein: Oft wissen die Patienten
nicht, welche Rechte sie haben, geschweige denn, wie
sie sie umsetzen können.
Kollege Zöller, Sie haben nochmals die Chance zur
Verlängerung Ihrer Redezeit. Die Kollegin KleinSchmeink möchte Sie etwas fragen.
({0})
Bitte schön.
Sie werden gleich auf die Patientenberatung und die
Förderung eingehen. Ich möchte Sie bitten, in diesem
Zusammenhang etwas dazu zu sagen, wie Sie sicherstellen wollen, dass dieses verzögerte Gesetzgebungsverfahren und die sehr späte Beschlussfassung nicht zu einem
Bruch bei den bisherigen Beratungsstellen führen. Bitte
sagen Sie etwas dazu, dass die Mitarbeiter der Beratungsstelle nicht wissen, ob es für sie weitergeht oder
nicht. Bitte sagen Sie insbesondere, wie Sie sicherstellen
wollen, dass sich die Vergabeverfahren nicht so lange
hinziehen, dass die befürchtete Entwicklung eintritt.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die am System Beteiligten - angefangen beim Spitzenverband der
Krankenkassen -, mit denen wir schon Gespräche geführt haben, dafür sorgen werden, dass das Gesetz rechtzeitig umgesetzt wird. Ich bin da recht zuversichtlich.
Ich würde allen Beteiligten raten, in der Öffentlichkeit
nicht allzu viel über die eine oder andere Schwierigkeit
zu diskutieren, sondern sich an einen Tisch zu setzen und
dafür zu sorgen, dass es umgesetzt wird. Wer will, dass
das Gesetz umgesetzt wird, findet Wege. Wer das nicht
will, der sucht Gründe.
({0})
Kollege Zöller, ich bitte um einen kleinen Moment
Geduld. - Ein Hinweis an alle Kolleginnen, die sich
ebenfalls zu Zwischenfragen zu diesem Beitrag gemeldet haben: Bei diesen kurzen Redebeiträgen lasse ich jeweils zwei Zwischenfragen zu, da wir nicht zu einer Ver5888
Vizepräsidentin Petra Pau
dreifachung der Redezeit kommen wollen. Wir haben
eine entsprechende Verabredung zwischen den Fraktionen getroffen.
({0})
Ich habe kein Problem damit und akzeptiere das mit
Rücksicht auf die nachfolgenden Redner selbstverständlich.
Nach zehn Jahren Modellphase wurden die richtigen
Schlüsse gezogen. Wir haben - davon bin ich fest überzeugt - alle Kriterien berücksichtigt. Dazu darf ich stichpunktartig sagen: Das Verfahren wird neutral und unabhängig sein; es wird im Einvernehmen mit dem
Patientenbeauftragten erfolgen - auch das ist sehr erfreulich -; die Beratung wird evidenzbasiert und von Kompetenz geprägt sein; die Ausschreibung erfolgt alle fünf
Jahre; die Beratung ist kostenfrei, was gut für die
Niedrigschwelligkeit ist. Vielleicht darf ich die Telefonnummer hier einmal nennen: 0800 0 117722. Das ist
eine 0800er-Nummer.
({0})
- Das ist eine wesentlich seriösere Nummer. Da erhalten
Sie unbürokratisch die notwendigen Informationen.
Wir haben keine Doppelstrukturen. Es gibt Kooperation und Vernetzung mit den Selbsthilfeorganisationen.
Finanziellen Mehraufwand gibt es nicht. Erfreulich ist
auch, dass sich die privaten Krankenversicherungen an
den Kosten beteiligen. Die Mittel werden dynamisiert.
Es gibt eine Berichtspflicht an den Patientenbeauftragten. Auch das halte ich für eine wesentliche Verbesserung, weil wir auf diese Weise sehr schnell Schwachstellen im System feststellen und aufgrund von Meldungen
Handlungsoptionen ableiten können.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetzentwurf einen Punkt des Koalitionsvertrags als erledigt abhaken können. Dafür möchte ich mich an dieser
Stelle ganz besonders bei Gesundheitsminister Rösler
und seiner Mannschaft bedanken.
({1})
- Das sage ich nicht nur aus Überzeugung, sondern auch
deshalb, weil es bei der letzten Diskussion in diesem
Hause geheißen hat, ich hätte keine Rückendeckung
vom Ministerium. Die Rückendeckung vom Ministerium hätte ich mir nicht besser vorstellen können.
({2})
Ich werde aber die Hände nicht in den Schoß legen.
Jetzt beginnt nämlich die Umsetzung. Wir werden zusammen mit dem BMG und dem GKV-Spitzenverband
die Ausschreibung der Beratungsstellen vorantreiben,
damit die Patientenberatung pünktlich ihre Arbeit aufnehmen kann. - Ich habe jetzt noch zehn Sekunden, die
schenke ich dem Nächsten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Rösler hat eben gesagt, wir hätten gar keine Vorschläge vorgelegt. Ich rate Ihnen, Herr Rösler, sich einfach einmal - vielleicht wenn das Chaos sich etwas gelichtet hat - die Bundestagsdrucksachen anzusehen. Es
gibt einen Antrag von uns, der im Deutschen Bundestag
bereits in erster Lesung beraten worden ist. Er liegt jetzt
im Ausschuss und wird zusammen mit Ihrem Paket beraten. Es mag sein, dass das in dem Regierungschaos etwas untergegangen ist; aber wir haben schon etwas vorgelegt, und zwar bevor Sie zu dem ersten Paket etwas
vorgelegt haben.
({0})
Die bisherigen Rabattverträge werden aus mehreren
Gründen geschwächt werden. Damit wird es für die Kassen teurer werden. Herr Zöller hat das eben als große
Leistung hervorgehoben. Er hat gesagt, es sei toll für die
Patienten und Patientinnen, dass sie jetzt mehr zuzahlen
können, wenn nur genügend Pharmareferenten durch die
Arztpraxen und vielleicht auch durch die Apotheken reisen. Dann wird eben nicht das Mittel verschrieben oder
ausgegeben, das die Kasse am günstigsten einkauft, sondern das, welches der Pharmaindustrie und anderen Beteiligten am meisten bringt. Und das geht allein zulasten
des Patienten. Das heißt also, zusätzlich zu den steigenden Beiträgen und zu der Kopfpauschale wird jetzt der
Einstieg in eine Kostenbeteiligung vorgenommen. Was
daran im Sinne der Patienten und Patientinnen sein soll,
Herr Zöller, ist mir persönlich ein Rätsel.
Ein zweiter Punkt. Bei den innovativen Arzneimitteln
können die Preise im ersten Jahr in den Mond schießen.
Das werden sie auch. Wenn Sie es wirklich ernst meinen,
dann fordere ich Sie auf, zu sagen: Es wird nicht nur ab
dem 13. Monat der verhandelte Rabatt angewandt, sondern er gilt rückwirkend ab dem ersten Monat, direkt ab
dem ersten Tag der Zulassung. Das würde in der Tat verhindern, dass Mondpreise aufgeschlagen werden, damit
man im ersten Jahr gut bei den Kassen abkassieren kann,
um trotz der Rabattverträge, die erst später gelten, insgesamt den Preis zu erzielen, den man eigentlich sowieso
gehabt hätte.
Im Übrigen macht das auch Sinn. Ich weiß nicht, wie
es Ihnen geht. Mir geht es auf jeden Fall immer so, dass
ich bei allen Veranstaltungen gefragt werde: Warum ist
denn das Mittel A oder das Mittel B - nicht ein vergleichbares, sondern das gleiche Mittel - in Frankreich,
Spanien oder sonst wo so viel billiger? Insofern, glaube
ich, ist da noch ordentlich nachzubessern.
({1})
- Bitte? In unserem Vorschlag, geehrte Frau Flach, steht,
dass wir den europäischen Durchschnittspreis haben
wollen. Auch das macht Sinn. Was ist das denn für ein
Markt in Deutschland, auf dem der größte Nachfrager
die höchsten Preise für die Arzneimittel zahlen muss?
Was hat das mit Wettbewerb und Marktmechanismen zu
tun?
({2})
Damit bin ich beim dritten Punkt; er ist heute noch
nicht angesprochen worden. Sie machen mit diesem Gesetz einen Schritt in die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens
({3})
- Frau Flach sagt Ja -,
({4})
weil Sie das Wettbewerbsrecht statt das Sozialrecht anwenden. Sie müssen sich einmal vor Augen führen, was
das bedeutet. Es gibt ja noch anhängige Verfahren in
Düsseldorf und in Hessen,
({5})
bei denen es um mögliche Absprachen bei Zusatzbeiträgen geht. Offenbar verstehen Sie nicht, dass eine Krankenversicherung kein Wirtschaftsunternehmen ist. Die
Krankenversicherungen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie unterliegen einer staatlichen Aufsicht.
Keine Krankenkasse kann ohne den Beschluss ihres Verwaltungsrates oder ohne die Zustimmung der zuständigen Aufsichtsbehörde einen Zusatzbeitrag, eine Kopfprämie oder sonst etwas festsetzen.
({6})
Da, wo die Krankenkassen gemeinsam und einheitlich
handeln, lassen Sie es außen vor. Das heißt, da, wo Sie
qua Gesetz sozusagen Monopolist sind, wird das Sozialrecht angewandt, und da, wo Sie auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten gemeinsam und einheitlich handeln können - das wollen ja alle -, wollen Sie jetzt das Kartellrecht
anwenden. Das wird dazu führen, dass die Großen stärker
und die Kleinen schwächer werden. Denn die regionalen
Kassen, die Betriebskrankenkassen, die Innungskrankenkassen werden sich nicht mehr zusammenschließen können, um bessere Rabattverträge bezüglich der Arzneimittel
zu erzielen und um mit Leistungserbringern gemeinsam
über integrierte Versorgung zu verhandeln.
Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt über das, was Sie da
machen, nachgedacht haben. Auf alle Fälle wird es dazu
führen, dass es insgesamt teurer wird, dass es schneller
weniger Netto vom Brutto gibt und dass die Kopfpauschalen schneller in die Höhe schießen.
({7})
Die Kollegin Ulrike Flach spricht nun für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Ferner, das grundlegende Missverständnis besteht
in Ihrer Einschätzung, wie man in einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft agiert.
({0})
Wir sind hier nicht in Kuba oder stellen irgendwelche
planwirtschaftlichen Überlegungen an. Wir schaffen mit
diesem Gesetz die Möglichkeit, zum ersten Mal Marktwirtschaft im Arzneimittelbereich einzusetzen, und zwar
zugunsten der Patienten.
({1})
Ich möchte Sie einmal daran erinnern: Wir haben in
den Krankenkassen ein Defizit in Höhe von 11 Milliarden Euro,
({2})
aber nicht aufgrund des marktwirtschaftlichen Systems,
sondern aufgrund Ihres planwirtschaftlichen Systems.
({3})
Ihre ehemalige Ministerin hat noch vor zwei Tagen gesagt: Wenn Steuermittel begrenzt sind, dann müssen die
Beiträge steigen. Das ist doch Ihre Überlegung in diesem
Zusammenhang. Sie setzen immer darauf, dass der Staat
alles weiß, und Sie misstrauen dem Markt zutiefst. Genau an dieser Stelle gibt es an diesem Tag die Wende.
Denn wir werden dafür sorgen, dass Arzneimittel endlich
nach marktwirtschaftlichen Gegebenheiten einen Preis
bekommen,
({4})
der gut für die Menschen ist, nämlich niedrig.
({5})
Ich kann auch nicht verstehen, warum Sie jetzt meinen, dass ein erhöhter Herstellerabschlag oder ein Preismoratorium etwas Schreckliches ist; das habe ich eben in
der Rede von Herrn Lauterbach so vernommen.
({6})
Sie haben so etwas 2006 zum ersten Mal eingeführt. Das
ist doch immer SPD-Gedankengut gewesen; Sie wollten
das. Das machen wir jetzt, um schnell zu Geld zu kommen, und zwar in diesem Jahr.
({7})
Zum 1. August 2010 wird der Preisabschlag erhöht, und
es wird einen Preisstopp geben. Die Menschen in diesem
Land werden merken, dass die Krankenkassen um
500 Millionen Euro entlastet werden.
({8})
Ich wundere mich, Herr Lauberbach, über Ihre Kritik,
wir täten nichts gegen den Preisanstieg. Ehrlich gesagt:
Neun Jahre lang haben wir bei Ihnen nur begrenzte Möglichkeiten gesehen, da etwas zu tun. Das Defizit ist zu
Ihrer Regierungszeit entstanden. Wir sind jetzt ein halbes Jahr an der Macht,
({9})
und es ist bereits das zweite Gesetz, das dieser Minister
auf den Weg bringt und das den Menschen in diesem
Land 2 Milliarden Euro ersparen wird. Was ist denn das
für ein Gerede? Einerseits meinen Sie, man würde alles
schlecht machen; andererseits erkennt man, dass es läuft.
Lieber Herr Lauterbach, ich kann das ein wenig verstehen, wenn ich an Ihre Worte vom Januar dieses Jahres
denke. Da haben Sie in der Deutschen Apotheker Zeitung - in diesem Zusammenhang eine interessante Zeitung - geschrieben:
Wenn wir wirklich innovative Arzneimittel gut bezahlen würden, dann … müssten wir uns keine Sorgen
machen um den einen oder anderen kleinen Anbieter
von Generika, der wegen eines Rabattvertrages aufgeben muss.
({10})
Was ist das für ein Verständnis von Marktwirtschaft?
Was ist das für ein Selbstverständnis gegenüber kleinen
und mittelständischen Unternehmen?
({11})
Was erzählen Sie uns am heutigen Tage? Dass angeblich
alles zu teuer ist und Sie deshalb so tolle Überlegungen
anstellen!
Ihre Vorschläge in diesem Haus beschränken sich im
Wesentlichen auf einen Antrag, Importeure zu schützen.
Das war ein Lobbyantrag. Ansonsten haben Sie in den
letzten Tagen nur dafür gesorgt, dass den Menschen in
diesem Land etwas erzählt wird, was nicht stimmt.
({12})
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In dieser Woche hatten wir zwei Aktuelle
Stunden, in denen die Opposition versucht hat, der Regierung vorzuwerfen, dass sie ausschließlich auf Kosten
der Patienten unsere gesetzliche Krankenkasse reformieren würde.
({0})
Heute treten wir den Gegenbeweis an.
({1})
Ich will kurz in Erinnerung rufen, dass wir erst vor
drei Wochen Rabatte für die Arzneimittelhersteller beschlossen haben. Die Herstellerrabatte und das Preismoratorium bringen uns insgesamt Einsparungen von rund
1,5 Milliarden Euro. Nun legen wir einen Gesetzentwurf
vor, mit dem wir langfristige strukturelle Veränderungen
auf den Weg bringen. Das Einsparvolumen beträgt hier
rund 2 Milliarden Euro.
Vor einigen Tagen wurden uns die Zahlen zur Ausgabenentwicklung im ersten Quartal 2010 im Verhältnis
zum ersten Quartal 2009 vorgelegt. Es gab Steigerungen
der Ausgaben um durchschnittlich 4,5 Prozent, überproportional im Bereich der Krankenhausbehandlungen - 5,3 Prozent - und im Bereich der ambulanten ärztlichen Behandlungen, 4,8 Prozent. Relativ gute Zahlen gab es bei den
Arzneimittelausgaben, die im Schnitt um 3,9 Prozent gestiegen sind.
Das sind auf den ersten Blick recht gute Zahlen, die
zeigen, dass wir in der letzten Legislaturperiode im Bereich des Arzneimittelmarktes einige sinnvolle Reformen
auf den Weg gebracht haben. Es lohnt sich aber, genau
hinzusehen: Im Festbetragsmarkt sind die Arzneimittelausgaben um 1,8 Prozent zurückgegangen; im Bereich
der Ausgaben für Arzneimittel ohne Festbetrag gab es
hingegen Steigerungen um rund 8 Prozent. Deshalb ist es
wichtig, dass wir mit diesem Gesetzentwurf die Initiative
ergreifen, um die Ausgaben bei den patentgeschützten
Arzneimitteln in den Griff zu bekommen.
({2})
Ich glaube, dass diese Maßnahmen der Arzneimittelindustrie zuzumuten sind. Wer in krisengeschüttelten Zeiten wie den letzten zwei oder drei Jahren immer noch
Renditen von mehr als 20 Prozent erwirtschaften kann, ist
aufgefordert, einen Beitrag zur Zukunftssicherung unseres Gesundheitswesens zu leisten. Deswegen legen wir
heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir Einsparungen erzielen, Überregulierung abbauen und langfristige
strukturelle Veränderungen auf den Weg bringen.
Unser Ziel bleibt es, die Patienten weiterhin mit den
besten und wirksamsten Arzneimitteln zu versorgen. Wir
müssen aber auch darauf achten, dass die Versorgung
kosteneffizient und wirtschaftlich ist. Wir schaffen mit
diesem Gesetzentwurf einen verlässlichen Rahmen für
Innovationen, für die Versorgung der Versicherten und
für die Arbeitsplätze.
In diesem Zusammenhang richte ich einen Appell an
die Arzneimittelindustrie, die jetzt schon wieder teilweise
den Arbeitnehmern droht: Die Politik sei schuld, wenn
jetzt verschärft Arbeitsplätze abgebaut würden. Ich will
in Erinnerung rufen, dass es in den letzten zehn Jahren in
der Pharmaindustrie einen Arbeitsplatzaufbau um 10 Prozent gab, trotz vieler Reformen. Ich richte den ausdrücklichen Appell an die Unternehmen, die Diskussion mit
der Politik nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmer auszutragen. Wir sind gerne bereit, mit ihnen über den einen
oder anderen Punkt in einen Dialog zu treten. Aber es
wirft einen Schatten auf diese Gespräche, wenn sie mit
den Ängsten der Arbeitnehmer spielen.
({3})
Die wesentlichen Elemente sind schon dargestellt
worden. Vonseiten der Linken wurde angemahnt, dass
wir noch schneller als innerhalb von drei Monaten zu einer vernünftigen Nutzenbewertung kommen sollten. Als
einzige Möglichkeit bleibt wohl nur noch Paul, das Orakel, übrig. Mit seiner Hilfe könnten wir eine Nutzenbewertung in der Tat innerhalb von zwei Tagen durchführen.
({4})
- Ja. Das schottische Modell ist im Grunde genommen
auch hier implementiert.
({5})
- Doch. Darauf komme ich gleich noch zu sprechen,
Frau Bender. - Was die Nutzenbewertung betrifft, so
glaube ich, dass drei Monate ein vernünftiger Zeitraum
sind. Wir stellen eine angemessene Beteiligung von Arzneimittelherstellern und Patienten sicher. Ich denke, es
ist durchaus vertretbar, innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr Preisverhandlungen zu führen.
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, die Rabattverträge. Es wurde kritisiert, die Patienten würden
mehr oder weniger abgezockt. Welches Bild, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Opposition, haben
Sie eigentlich von Apothekern? Haben Sie von Apothekern das Bild, dass sie, wenn Patienten in ihre Apotheke
kommen, nur unter dem Gesichtspunkt „Wie kann ich
den maximalen Erlös erzielen?“ beraten und entsprechende Produkte verkaufen? Das ist nicht das Bild, das
ich von Apothekern habe. Ich glaube - das hat auch der
Kollege Zöller gesagt; es ist nämlich wie beim Thema
Festbeträge -, dass es nicht zu Preisexplosionen kommen wird. Warum haben wir denn die Mehrkostenregelung? Wir wollen die Patientenautonomie stärken und
vor allem auch mittelständische Arzneimittelhersteller
schützen.
({6})
- Ja. Es ist ein durchaus legitimes Ziel, den Mittelstand
in unserem Land zu schützen.
({7})
Wenn Sie, Frau Ferner, anderer Auffassung sind, bitte!
({8})
Wir regeln den Großhandelszuschlag; dadurch erzielen wir Rabatte in Höhe von rund 400 Millionen Euro.
Außerdem formulieren wir Therapiehinweise und Verordnungsbeschlüsse klarer; auch hier besteht, was die
Preisbildung angeht, die Möglichkeit, innerhalb des ersten Jahres regulierend einzugreifen. Weitere wichtige
Aspekte sind die Veröffentlichungspflicht für klinische
Studien und die Unabhängige Patientenberatung.
Aber, Herr Minister Rösler, es gibt noch offene Baustellen, erstens bei den Rabatten für Privatversicherte
und zweitens beim Pick-up-Verbot. Wir haben im Koalitionsvertrag versprochen, hier eine klare Regelung zu
treffen. Wir sollten dieses Versprechen einhalten.
({9})
Herr Lauterbach, Sie haben dargelegt, Sie hätten fast
nur Kritik an den geplanten Regelungen gehört. Mein
Eindruck ist: Sie haben mit den falschen Leuten gesprochen, zu viel mit der Pharmaindustrie
({10})
und zu viel mit Schmidtchen statt mit Herrn Schmidt.
Frau Fischer, die ehemalige Bundesgesundheitsministerin, hält die geplanten Maßnahmen - Frau Bender, Sie
haben diesen Begriff vorhin kritisiert - für revolutionär.
({11})
Sie sagte, dass ihr dieser Schritt imponiert, will sie nicht
verbergen.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir haben
ein vernünftiges Gesetz auf den Weg gebracht. Ich rate
Ihnen, sich konstruktiv zu beteiligen.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2413 und 17/2324 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Angekündigte Mittelkürzung beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm zurücknehmen
- Drucksache 17/2346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortführen - Mit energetischer Sanierung Konjunktur ankurbeln, Arbeitsplätze sichern und
Klima schützen
- Drucksache 17/2395 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Stephan Kühn, Daniela Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensqualität und Investitionssicherheit in
unseren Städten durch Rettung der Städtebauförderung sichern
- Drucksache 17/2396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die Aussprache werde ich erst dann eröffnen, wenn
wir mit der nötigen Aufmerksamkeit dieser Aussprache
folgen können. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die nicht vermeidbaren Wechsel möglichst geräuschlos vorzunehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Groß für die SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere
eine Schlagzeile aus dem Handelsblatt von Februar
2010:
Die Bundesregierung will den Etat für die Gebäudesanierung erhöhen. Für entsprechende Programme sollen künftig 400 Mio. Euro mehr ausgegeben werden. Denn die Hilfen werden in der
Bevölkerung
- man höre und staune gut angenommen - und die konjunkturellen Effekte
sind deutlich sichtbar.
Nur fünf Monate später kritisieren die Bundesvereinigung Spitzenverbände der Immobilienwirtschaft und die
Aktion „Impulse für den Wohnungsbau“ in einer gemeinsamen Pressemitteilung, dass
die Kürzungspläne der Bundesregierung bei … dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm und der Städtebauförderung den Staat mehr kosten, als sie sparen.
Diese Förderprogramme führen nachweislich zur
Sicherung sowie zum Ausbau der Beschäftigungsverhältnisse, die weitere Einnahmen über Lohnsteuer und Sozialabgaben für die öffentlichen Kassen bringen.
Deutliche Kritik an den Sparplänen der Bundesregierung kommt auch von der Immobilienwirtschaft, dem
Mieterbund, der IG BAU sowie der Wohnungsbaubranche. An deren Positionierung zeigt sich das ganze Ausmaß der Einsparmaßnahmen und deren Wirkung mehr
als deutlich.
Was nach den Ankündigungen der Bundesregierung im
Februar wirklich folgte, ist eine Halbierung der Mittel im
Haushaltsentwurf 2011 gegenüber dem Vorjahr, ein
Schritt in eine Richtung, die nicht in die Zukunft weist.
Untersuchungen zu den Beschäftigungseffekten des CO2Gebäudesanierungsprogramms zeigen, dass 1 Milliarde
Euro Investition zur Sicherung von 20 000 Vollzeitarbeitsplätzen pro Jahr führt. Hinzu kommt, dass jeder
geförderte Euro bei den Programmen bis zu 9 Euro an
privaten Investitionen nach sich zieht. Zusätzliches Kapital wird aktiviert. Im jüngsten Antrag der Koalitionsfraktionen zum Bericht der Bundesregierung zur Lage
der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft klingt es
schon zynisch, dass die Schlüsselrolle der Baubranche
bei der Bewältigung des Klimawandels hervorgehoben
wird, wenn gleichzeitig mit den Haushaltsentwürfen
massive Sparmaßnahmen vorgenommen werden. Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Folgen und den Arbeitsplatzverlusten im Handwerk und im Mittelstand ist der
erneute Vertrauensverlust bezüglich des Handelns dieser
Bundesregierung schwerwiegend. Kleinere Betriebe,
aber auch Eigentümer und Investoren kritisieren die Einsparungen zu Recht.
({0})
Das größte Potenzial zur Vermeidung von CO2 bis
zum Jahr 2020 steckt in Wohngebäuden sowie gewerblichen und öffentlichen Immobilien. Für die BundesregieMichael Groß
rung gibt es noch viel zu tun, um die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen. Durch die Einsparungen der
Bundesregierung kommt das notwendige Sanierungstempo eindeutig zum Erliegen. Fachleute schätzen den
Finanzierungsbedarf für die nötige Sanierungsrate auf
5 Milliarden Euro pro Jahr, um die Klimaschutzziele zu
erreichen. Drei von vier Wohnungen in Deutschland sind
energetisch sanierungsbedürftig. Hinzu kommen
150 000 Schulen und Kindergärten. Rund 85 Prozent des
gesamten Energiebedarfs in privaten Haushalten fallen
für Heizung und Warmwasser an. Ein erheblicher Teil
der Heizkosten lässt sich durch die Modernisierung von
Fenstern, gute Dämmung von Fassaden und Dächern sowie neue Heizungsanlagen einsparen. Energieeffizientes
Wohnen wirkt sich so direkt auf den Geldbeutel der Eigentümer und Mieter aus.
Der Ausfall bei den Investitionen wird sich erneut direkt auf die Handlungsfähigkeit der Kommunen auswirken. Kommunen tragen zwei Drittel aller öffentlichen
Investitionen und somit erheblich zur wirtschaftlichen
und klimapolitischen Zukunftsvorsorge bei.
({1})
Hinzu kommt, dass die Programme der Städtebauförderung, zum Beispiel „Soziale Stadt“ und Stadtumbau Ost
und West, abgewickelt werden. Allein übrig bleibt ein
unspezifisches Schrumpfprogramm. Das bedeutet das
Aus für einen Großteil der bundesweit 3 400 Gebiete, in
denen Städtebauförderung betrieben wurde.
Für eine nachhaltige und zukunftsweisende Entwicklung der Städte und Gemeinden sind die Bundesländer
und Kommunen auf eine engagierte Klimaschutzpolitik
des Bundes und eine Fortentwicklung der Instrumente
zwingend angewiesen. Die SPD hat in ihrer Regierungszeit die entscheidenden Impulse gegeben. Aufgabe der
Politik muss es sein, einen nachhaltigen und sozialverträglichen Ansatz zu verfolgen, der Barrierefreiheit, demografischen Wandel und Klimaschutz verbindet.
({2})
Ich fasse zusammen. Durch die ambitionierten Programme müssen vier Ziele erreicht werden: Die Klimaschutzziele müssen in den geplanten Zeiträumen erreicht
werden; Arbeitsplätze müssen generiert und gesichert
werden; die Energiekosten müssen für alle bezahlbar
bleiben; lebenswerte Städte und Gemeinden müssen gestaltet werden. Deshalb fordern wir Sie auf, die angekündigte Mittelkürzung zu unterlassen und die Programme
weiterzuentwickeln.
Ich komme zum Schluss: Auf der Homepage des
Bundesbauministeriums finden Sie interessanterweise
folgenden Satz zur CO2-Gebäudesanierung: „Die Bundesregierung handelt konsequent …“ Ich fasse zusammen: Die Bundesregierung untergräbt Klimaschutzziele,
gefährdet Arbeitsplätze und vernachlässigt die Kommunen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Peter Götz für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Städtebauförderung braucht nicht gerettet zu werden. Die
Mittel dafür stehen im Einzelplan 12 des Entwurfs des
Bundeshaushalts. Lieber Kollege Groß, im Hinblick darauf, dass der Umfang der Förderung einmal wächst und
einmal sinkt, ist politische Untergangsrhetorik durchaus
unangebracht.
({0})
Die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung ist unbestritten. International werden wir darum beneidet. Seit
nunmehr knapp 40 Jahren leisten wir mit der Städtebauförderung erfolgreich einen Beitrag zur Verbesserung
der Innenentwicklung unserer Städte und Gemeinden.
Sie hat sich bewährt und wurde stetig und zielgerichtet
weiterentwickelt und den jeweiligen Anforderungen angepasst.
Es gibt viele gute Beispiele in unserem Land, die dies
eindeutig dokumentieren. Ein Beispiel ist Pirmasens, wo
der Strukturwandel dieser von der Schuhindustrie geprägten Industriestadt unterstützt wurde. Weitere Beispiele sind die Spandauer Vorstadt in Berlin, das Holländische Viertel in Potsdam und die Aufwertung des
Nordostbahnhofs in Nürnberg. Schauen Sie sich auch
die städtebaulichen Maßnahmen in Greifswald, Essen,
Kassel, Bamberg, Leinefelde usw. an. Das könnte beliebig fortgesetzt werden. All das sind gelungene Beispiele,
und ein Besuch lohnt sich.
({1})
Ich lade Sie auch in meinen Wahlkreis nach Rastatt
oder nach Baden-Baden ein, wo nach dem Abzug mehrerer Tausend Angehöriger der französischen Streitkräfte
ganze Stadtteile mit Städtebaufördermitteln neu geordnet wurden,
({2})
und das war nicht in Ihrer Regierungszeit.
({3})
Vor dem Hintergrund dringend notwendiger Konsolidierungsmaßnahmen hat die Bundesregierung in dieser
Woche den Bundeshaushalt 2011 beschlossen.
({4})
Eine der vielen darin enthaltenen Sparmaßnahmen ist die
Reduzierung der Mittel für die Städtebauförderung; das
bleibt nüchtern festzustellen.
({5})
Das schmerzt die Fachpolitiker genauso wie die Vielzahl
jener, denen die Erfolgsgeschichte der Städtebauförderung bewusst ist. Wir wissen: Nicht nur die Städtebauförderung, sondern auch andere Politikfelder sind
von den Kürzungen betroffen, und die Begeisterung dafür ist auch dort begrenzt und überschaubar.
Die vorgesehenen Konsolidierungsmaßnahmen sind
ein Teil des Weges, den wir gehen müssen, um die im
Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremse einzuhalten. Die Schuldenbremse haben wir alle gemeinsam
beschlossen, und ich sage auch: Sie ist richtig. In den
letzten Jahren haben wir im Rahmen der Konjunkturpakete I und II zig Milliarden Euro an Bundesmitteln für
die Städte, Gemeinden und Kreise ausgegeben, um die
Konjunktur zu stützen. Dafür haben wir zu Recht von
vielen Seiten Beifall erhalten. Davon flossen übrigens
auch zusätzliche Gelder in die Städtebauförderung und
die Stadtentwicklung.
Nachdem die Wirtschaft aufgrund der politischen
Entscheidungen, die wir hier in diesem Hause getroffen
haben, jetzt nachweislich wieder wächst, muss nun als
nächster Schritt die Phase der Haushaltskonsolidierung
folgen, damit wir auch in Zukunft wieder mehr für den
Städtebau tun können.
Für uns ist es wichtig, dass die Städtebauförderung in
dieser Diskussion nicht ganz dem Rotstift zum Opfer gefallen ist und dass sich Bundesminister Peter Ramsauer
klar und eindeutig zur Städtebauförderung bekannt hat.
({6})
In dieser Woche hat der Minister zusammen mit den
Ländern den Dialog zur Perspektive der Städtebauförderung in Gang gesetzt. Herr Staatssekretär Mücke, ich
bitte darum, in diesen notwendigen Dialog frühzeitig
auch die kommunalen Spitzenverbände einzubinden, damit ihr Sachverstand genutzt werden kann. Denn die Betroffenen sind letztlich die Städte und Gemeinden.
Wir wollen übrigens auch die Gemeindefinanzen
nachhaltig stärken. Deshalb hat die Bundesregierung
eine Gemeindefinanzreformkommission eingesetzt. Der
Zwischenbericht lag uns diese Woche vor. Die Ergebnisse werden wir im Herbst dieses Jahres beraten.
Doch zurück zur Städtebauförderung. Wir sollten die
Debatte um eine Mittelreduktion auch als Chance sehen.
Wir müssen die Effizienz der Städtebauförderprogramme verbessern, damit mit weniger Geld mehr Nutzen entsteht.
({7})
Wir sollten prüfen, wie durch eine Bündelung der verschiedenen Programme Überschneidungen, die immer
wieder kritisiert werden, vermieden werden können.
({8})
Wir sollten auch über eine Priorisierung der uns besonders wichtigen Handlungsschwerpunkte im Bereich
der Städtebauförderung nachdenken. Unsere alternde
Gesellschaft und Klimaschutzfragen sind dabei besonders zu berücksichtigen. Des Weiteren sollten wir kreative Wege suchen, wie wir für bestimmte Programmteile
alternative Finanzierungsquellen erschließen. Dies gilt
für den öffentlichen wie für den privaten Bereich.
Die Städtebauförderung ist unbestritten auch ein Konjunkturprogramm, das viele private Investitionen auslöst. Sie ist eine wichtige Stütze für das heimische Handwerk und den Mittelstand. Auch deshalb ist es richtig,
sie zu erhalten und weiterzuentwickeln. Das gilt übrigens auch für das -Gebäudesanierungsprogramm,
auf das mein Kollege Volkmar Vogel noch näher eingehen wird.
Übrigens hat der Haushaltsausschuss mit der Vorlage
des Entwurfs des Bundeshaushalts 2011 in dieser Woche
die Haushaltssperre beim Marktanreizprogramm aufgehoben. Das heißt konkret, dass die Antragsteller jetzt
ihre Bundeszuschüsse im Bereich der erneuerbaren
Energien und bei der energetischen Sanierung im Gebäudebestand erhalten können.
({9})
Für die Folgejahre sind dafür weit über 1 Milliarde Euro
vorgesehen. Das ist übrigens mehr als doppelt so viel, als
die rot-grüne Regierung seinerzeit einzusetzen bereit
war.
({10})
Die Städtebauförderung ist das wichtigste kommunalpolitische Instrument für die Lebensqualität der Menschen und die Stärkung der Innenentwicklung unserer
Städte und Gemeinden. Sie ist ökonomisch und ökologisch sinnvoll, und sie hat sich bewährt.
Deshalb arbeiten wir dafür, dass diese Städtebauförderung auch nach nahezu 40 Jahren eine gute Zukunft
hat.
({11})
Ich werde mich im Rahmen der anstehenden Haushaltsplanberatungen dafür einsetzen, dass der Kürzungsumfang in der heute diskutierten Größenordnung nicht bestehen bleibt.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Stephan Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer die Städtebauförderung dermaßen zusammenstreicht und die Programme abwickelt, dass er die
Restmittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm im
nächsten Jahr nochmals halbiert und 2012 gar keine Mittel mehr zur Verfügung stellt, macht genau das Gegenteil
von intelligentem Sparen.
({0})
Damit werden Sie nichts einsparen; vielmehr wird es den
Staat im Nachhinein sehr viel kosten. Denn die ökologische Verschuldung wird zunehmen.
Vor allen Dingen ist es ein weiterer Beitrag Ihrer Politik zulasten der Kommunen. Denn Sie verhindern notwendige Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unserer
Städte und Gemeinden.
Sie sparen, wie gesagt, auch nichts ein. Denn Sie gefährden Arbeitsplätze im Handwerk und im Mittelstand.
Gerade jetzt, wo ein konjunktureller Impuls gebraucht
wird, streichen Sie diese Programme zusammen.
Man hat von Ihnen immer geglaubt, dass Sie gut rechnen können. Das Schlimme ist, dass Sie völlig die ökonomische Hebelwirkung vergessen, die von diesen Programmen ausgeht. Es ist zum Teil schon angesprochen
worden: 2009 sind 2,2 Milliarden Euro öffentlicher Gelder in das CO2-Gebäudesanierungsprogramm geflossen.
Dadurch sind private Investitionen in Höhe von
18 Milliarden Euro zustande gekommen. In der Städtebauförderung - dazu hatten wir eine Anfrage gestellt hat 1 Euro aus öffentlichen Mitteln 8,5 Euro private Investitionen ausgelöst. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt
eine Studie des DIW. Das sind also rentable Fördermaßnahmen, die zu Mehreinnahmen führen - allein schon
durch die Umsatzsteuer oder die Lohnsteuer.
Vor allen Dingen frage ich mich, wie Sie, wenn Sie
diese Programme so massiv zusammenstreichen, Ihre
Klimaschutzziele erfüllen wollen.
({1})
Im Januar sind wir im Bauausschuss darüber unterrichtet worden, dass das Bundesministerium vorhat, sektorspezifische Energie- und Klimaschutzziele für den
Bereich Verkehr und Gebäude aufzustellen. In dem Bericht an den Ausschuss heißt es - ich zitiere -:
Im Rahmen ihrer Klimaschutzpolitik im Gebäudebereich setzt die Bundesregierung auf den bewährten Instrumenten-Mix, der Vorgaben und Anreize
miteinander verbindet, fordert und fördert. Ein etabliertes Werkzeug, dessen Wirksamkeit und Effizienz
stets verbessert wird, ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Neben der Energieeinsparverordnung … ist es die wichtigste Maßnahme der
Bundesregierung für Energieeinsparung und Klimaschutz im Gebäudebereich.
Nichts ist von Ihren Ankündigungen übrig geblieben.
Bisher sind durch das Programm 7 Millionen Tonnen
CO2 eingespart worden. Und wir alle wissen, dass
20 Prozent unserer CO2-Emissionen im Gebäudebereich
verursacht werden. Es kann nicht sein, dass zwar einerseits das Ordnungsrecht mit der Energieeinsparverordnung 2009 weiterentwickelt wird, andererseits aber nicht
die entsprechenden Anreize gegeben werden. Denn dann
ist es für viele Private, aber auch für Wohnungsunternehmen überhaupt nicht mehr wirtschaftlich darstellbar,
diese energetischen Sanierungsmaßnahmen vorzunehmen.
Heute liegt die Sanierungsquote im Gebäudebereich
bei 1 Prozent. Das bedeutet, dass wir - wenn wir so weitermachen und diese Anreize gestrichen werden - wahrscheinlich noch 100 Jahre brauchen werden, bis unsere
Gebäude durchgehend saniert sind. Die Deutsche Energie-Agentur sagt: Wir brauchen eine Sanierungsquote
von 3 Prozent und 5 Milliarden Euro für das CO2-Sanierungsprogramm. - Offensichtlich sind diese Aussagen
nicht gut angekommen; denn auch bei der dena wird gekürzt. Im Haushalt werden der dena im nächsten Jahr die
Mittel für Projekte zur Steigerung von Energieeffizienz
und zur Verbesserung von Klimaschutz im Gebäudebereich halbiert. Die Kürzungsorgie setzt sich also fort.
Ich kann nur fordern - und das tut meine Fraktion
auch -, die Mittel im CO2-Gebäudesanierungsprogramm
auf dem Niveau des Jahres 2009 zu verstetigen, die
EFRE-Mittel, die wir auch für energetische Gebäudesanierung einsetzen können, endlich zu nutzen und die
Städtebauförderungskürzungen zurückzunehmen.
({2})
Denn ansonsten - das muss man ganz klar sagen findet Städtebaupolitik und Baupolitik im Ministerium
von Herrn Ramsauer überhaupt nicht mehr statt. Ich
frage mich, wie wir unsere Städte auf das Problem demografischer Wandel und im Osten auf das Problem
Stadtumbau Ost - Stichwort: zweite Leerstandswelle überhaupt einstellen und sie dabei unterstützen wollen.
Darauf geben Sie keine Antwort.
Anders sieht es im Verkehrsbereich aus. Da gibt es
überhaupt keine Abstriche. Wir leisten uns weiter überdimensionierte Verkehrsprojekte, die keine privaten Investitionen zur Folge haben, sondern nur Folgekosten
verursachen. Dann soll Herr Ramsauer ehrlich sein und
die Begriffe „Bau“ und „Stadtentwicklung“ aus seinem
Ministeriumstitel streichen. Dann können wir im Übrigen auch den Staatssekretär, der für dieses Thema zuständig ist, einsparen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Jan
Mücke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschland ist gut durch die Wirtschaftsund Finanzmarktkrise gekommen.
({0})
Wir haben ein erfreuliches Wirtschaftswachstum, das in
diesem Jahr bei 2 Prozent liegen wird. Einige gehen sogar von einem Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent
aus. Wir können feststellen, dass wir in Deutschland nur
noch knapp über 3 Millionen Arbeitslose insgesamt haben. In den neuen Bundesländern - das freut mich ganz
besonders - liegt die Zahl der Arbeitslosen seit Anfang
der 1990er-Jahre das erste Mal sogar wieder unter einer Million.
({1})
Dass diese Erfolge erzielt werden konnten, liegt an
staatlichen Ausgabeprogrammen, die zum großen Teil
schuldenfinanziert gewesen sind. Dazu gehören die
Konjunkturpakete I und II; dazu gehört auch das CO2Gebäudesanierungsprogramm. Die damaligen Regierungsparteien haben sich für dieses Programm eingesetzt
und durchgesetzt, dass für insgesamt vier Jahre pro Jahr
1,5 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm zur Verfügung stehen. Das ist ein Gesamtbetrag
von 6 Milliarden Euro. Wenn ich mir heute die Bilanz
anschaue, dann kann ich für das Jahr 2010 feststellen,
dass die Gesamtausgaben am Ende dieses Jahres bei
7,2 Milliarden Euro liegen werden. Sie können an diesen
Zahlen sehen, dass die Bundesregierung dieses erfolgreiche CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortgesetzt hat,
obwohl Sie selbst - damit spreche ich ausdrücklich die
Sozialdemokraten an - ursprünglich vorhatten, dieses
Programm nur 4 Jahre lang mit einem Volumen von
6 Milliarden Euro durchzuführen.
Bei einer volkswirtschaftlichen Betrachtung im Sinne
von Keynes ist es wichtig, nicht nur die von ihm vorgeschlagenen schuldenfinanzierten Ausgabenprogramme
durchzuführen, sondern auch seine Forderung zu beherzigen, das öffentliche Defizit in Zeiten guter Konjunktur
zurückzuführen. Das tun wir mit den Einsparungen, die
wir jetzt vornehmen, da die Wirtschaft etwas besser läuft
und sich der Haushalt positiver entwickelt.
({2})
Das ist in den vergangenen Jahren oftmals vergessen
worden. Man hat weiter versucht, die Konjunktur durch
schuldenfinanzierte Programme anzuregen. Wir müssen
jetzt die Aufgabe erfüllen, diese Programme zu reduzieren; so schmerzlich das ist.
Ich bin stolz darauf, dass es dieser Bundesregierung
gelungen ist, dieses Programm überhaupt fortzusetzen.
Ich bin stolz auf jede einzelne Million der 436 Millionen
Euro, die wir im Jahr 2011 für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm vorsehen. Dieses Programm hat in den
letzten Jahren eine große Arbeitsplatzwirkung gehabt.
Es konnten damit über 300 000 Arbeitsplätze gesichert
werden. Wir wollen dafür sorgen, dass dieses Programm
trotz aller Sparbemühungen im Haushalt in den nächsten
Jahren fortgeführt wird.
({3})
Wichtig ist, dass wir immer die Marktentwicklung betrachten. Ich habe mir heute Morgen die Mühe gemacht
und mir das aktuelle Zinsniveau angesehen. Ein Blick
darauf lohnt sich durchaus; denn ein Großteil des CO2Gebäudesanierungsprogramms wird für die Verbilligung
von Krediten verwendet, also für eine Zinssubvention.
Als das Programm 2006 eingeführt wurde, lag der Zins
für die Finanzierung einer Bestandssanierung bei ungefähr 4,5 Prozent. Heute Morgen war der aktuelle Stand
2,86 Prozent. Sie bekommen eine Finanzierung von
50 000 Euro mit einer Zinsbindung von fünf Jahren zu
diesem Zinssatz. So niedrig sind die Zinsen noch nie gewesen. Wir sollten auf diesem historisch niedrigen Zinsniveau die Marktkräfte wirken lassen,
({4})
und wir sollten darauf setzen, dass sich die Menschen
jetzt sehr viel preiswerter mit Krediten versorgen können
und sie deshalb ihre Häuser billiger auch energetisch sanieren können. Trotz dieser Zinsentwicklung werden wir
weiter das CO2-Gebäudesanierungsprogramm fortsetzen.
({5})
Uns ist bewusst, dass die Kürzung der Mittel für die
Städtebauförderung schmerzlich ist. Wir wissen durchaus, dass wir gemeinsam mit den Kommunen eine große
Verantwortung tragen. Aber bei diesen Städtebaufördermitteln handelt es sich um Bundesfinanzhilfen. Das soll
man nie aus den Augen verlieren. Der Begriff deutet darauf hin, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt,
also nicht nur die des Bundes, sondern auch die der Länder und der Kommunen. Wir müssen dafür sorgen, dass
wir in den nächsten Jahren mit weniger Geld eine intelligentere Stadtentwicklung betreiben.
({6})
Das wird keine ganz einfache Aufgabe werden. Wir
wollen gemeinsam mit den Kommunen dafür sorgen,
dass wir auch andere Fördertöpfe, zum Beispiel solche,
die es auf europäischer Ebene gibt, anzapfen, um Städtebauförderung in den nächsten Jahren voranzubringen.
Dass auch die Städtebauförderung einen Anteil zur Sanierung des Bundeshaushalts leisten muss, schulden wir
unseren Kindern und unseren Enkeln; denn auch die Generationengerechtigkeit hat etwas mit der Zukunftsfestigkeit einer Gesellschaft zu tun.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Heidrun Bluhm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Götz, Sie tun so, als wären unsere Städte alle
fertig.
({0})
Nach der von Ihnen hier vorgelegten Bilanz könnte das
Stadtumbauprogramm zu Ende gehen, weil wir so wunderschöne Städte haben. Und das sagen Sie als ehemaliger Bürgermeister!
({1})
Wie wollen Sie das Ihren Bürgermeisterkollegen in den
anderen Städten erklären?
Was mich beeindruckt hat: Sie haben es in Ihrer Rede
tatsächlich geschafft, keinen einzigen Satz dazu zu verlieren, dass es sich hier um eine Halbierung der Förderung, die wir bereits in Aussicht gestellt hatten, handelt.
Gerade im Bereich Bauen besteht die Verlässlichkeit darin, dass man, auch als Kommune, über Jahre planen
können muss. Ich weiß nicht, wie Sie Ihren Bürgermeisterkollegen erklären wollen, dass wir die Hälfte, also
50 Prozent, der zugesagten Mittel - wir hatten die Fortschreibung unseres Haushalts vereinbart - für alle infrage kommenden Förderprogramme streichen.
({2})
Kurz bevor das Sparprogramm verabschiedet wurde,
hat unser Fachminister Ramsauer insbesondere zur Immobilienwirtschaft gesagt - ich zitiere -:
Die Immobilienwirtschaft ist eine tragende Säule
unserer Volkswirtschaft. Sie stärkt den Standort
Deutschland und trägt maßgeblich dazu bei, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Die Branche
ist eine der größten Wirtschaftszweige mit mehr als
460 000 Erwerbstätigen und einer Bruttowertschöpfung von mehr als 260 Milliarden Euro.
({3})
Zusammen mit der Bauwirtschaft findet dort eine jährliche Wertschöpfung von über 400 Milliarden Euro statt.
Wenn wir uns bewusst machen, welche Wirkungen das
auf die Bauwirtschaft und auf die Immobilienwirtschaft
hat - ich rede jetzt noch nicht einmal von den Städten,
die die Städtebaumittel brauchen -, dann wird uns klar,
dass die Zahlen zur Arbeitslosigkeit, die Herr Mücke
hier eben vorgetragen hat, überhaupt keinen Bestand haben werden und dass es eine Rückwärtsentwicklung geben wird. Sie zielen jetzt mit der Abrissbirne genau auf
die tragende Säule, von der der Minister spricht.
Meine Damen und Herren der Regierung, Ihnen ist in
den letzten Tagen wie auch heute sicher schon hundertfach vorgerechnet worden, um wie viel mehr die von
Ihnen so hochgeschätzten Wirtschaftszweige der Immobilienwirtschaft und der Bauwirtschaft durch die vermeintlichen Einsparungen in Ihrem Etat gebeutelt werden.
Herr Groß hat hier aufgeführt, von wem wir im Moment
mit Stellungnahmen überschwemmt werden und was das
für Konsequenzen hat:
({4})
Nahezu alle Verbände, nahezu alle Betroffenen sind zu
100 Prozent der Auffassung, dass das, was wir hier machen, wirklich der Konkurs ist. Ich glaube nicht, dass
das, was wir so erfolgreich in Gang gesetzt haben - wir
alle haben voller Stolz immer wieder berichtet, was das
für die Wirtschaft in Deutschland bedeutet hat -, jemals
wieder so wird, wie es einmal war, ganz zu schweigen
von den Mehraufwendungen und vor allem von den Verlusten der anderen Ressorts, zum Beispiel des Ministeriums für Arbeit und Soziales. Wir werden merken, dass
es zusätzliche Arbeitslose, mehr Bedarfsgemeinschaften
bei Hartz IV und mehr Wohngeldempfänger gibt. Wahrscheinlich wird es dann Maßnahmen geben, auch Transferleistungen wie das Wohngeld zu kürzen.
({5})
Dabei ist das, was Sie tun, nicht einmal Sparen; denn
Sparen hieße ja, für die Zukunft vorzusorgen. Unsere
Kinder und Enkel, die vorgeblich vor weiter wachsenden
Schulden bewahrt werden sollen, werden ein Vielfaches
von dem, was jetzt weggestrichen wird, aufbringen müssen, um die ihnen hinterlassenen ökologischen Lasten
und vor allem die demografischen Probleme noch irgendwie in den Griff zu bekommen.
({6})
Die Erderwärmung werden wir ihnen ebenso wenig ersparen können wie den Mangel an altersgerechtem und
barrierefreiem Wohn- und Lebensraum. Drastische Unterversorgung mit bezahlbaren Wohnungen in prosperierenden Regionen kriegen Sie mit diesem Streichpaket
ebenso wenig kleingespart wie den dramatischen Wohnungsleerstand und den Zerfall ganzer Quartiere, vor allem in den schrumpfenden Regionen.
Erfahrungsgemäß heißt das: Was einmal weg ist, das
taucht auch nie wieder auf, Herr Mücke. Deswegen
wage ich zu prognostizieren: Wenn dieses Sparpaket so
durchgezogen wird, wie beabsichtigt, ist das der Einstieg
in den Ausstieg aus den Klimaschutzzielen, ist das der
Anfang vom Abschied des Bundes aus dem Stadtumbau
Ost und West, aus dem Programm „Soziale Stadt“, aus
der Förderung aktiver Stadt- und Ortsteilzentren, und
selbstverständlich ist das auch der K.o. für die soziale
Wohnraumförderung der Länder. Denn die Länder werden - das kann man ihnen in dieser Situation nicht einmal verübeln - die freigesetzten Kofinanzierungsmittel
nicht sparen, 5898
Kollegin Bluhm, achten Sie bitte auf das Signal.
- sondern sie werden sie gezwungenermaßen zur Lösung anderer Probleme ausgeben, sodass sie auch dieses
Geld später nicht mehr haben.
Wir als Linke wollen -
Das war jetzt ernst gemeint. Sie haben Ihre Redezeit
bereits überschritten.
Entschuldigung. - Wir wollen dem sozialen Grundbedürfnis nach Wohnen gerecht werden, und deshalb unterstützen wir die beiden Antragsteller SPD und Grüne.
Danke schön.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Volkmar
Vogel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere Städte werden nie fertig sein. Sie stehen nämlich
immer wieder vor neuen Herausforderungen. Die Herausforderungen der nächsten Jahre sind der demografische
Wandel und die Energieeinsparung, damit Nebenkosten
bezahlbar bleiben sowie Umwelt und Klima geschützt
werden.
Die Strukturanpassungen unterstützt der Bund mit
seinen Städtebauförderprogrammen.
Nun können wir mit der Opposition über die vorliegenden Anträge streiten, darüber, dass diese Programme
nicht mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet sind.
Ich möchte hier aber gemeinsam mit meinem Kollegen Peter Götz noch einmal ganz deutlich erklären: Wir
werden keines der Programme streichen. Sie bedienen
alle Belange des Städtebaus in ihrer Vielschichtigkeit
und in ihrer Differenziertheit,
({0})
also regional, nach Eigentümerstruktur, nach Bewirtschaftungsform, nach sozialen Belangen und nach ökologischen Erfordernissen.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat sich auf
diesem Feld ganz besonders bewährt: klimapolitisch für
die Umwelt, konjunkturpolitisch für das Handwerk sowie das Baugewerbe und wohnungspolitisch in Bezug
auf den Modernisierungsgrad der Gebäude.
Meine Damen und Herren, gemessen am Sanierungsbedarf - das muss man an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen - werden wir dieses Programm nie ausfinanzieren können. Wie wir alle wissen, ist der Bedarf
nämlich so groß, dass wir wahrscheinlich den gesamten
Investitionshaushalt des Bundes in das CO2-Gebäudesanierungsprogramm stecken könnten und es trotzdem
nicht ausreichte.
({1})
Wir müssen die privaten Initiativen unterstützen, und
zwar mit Geld, aber - das kam heute in der Diskussion
aus meiner Sicht zu kurz, bzw. wurde außer von meinem
Kollegen Peter Götz noch gar nicht genannt - vor allen
Dingen auch durch einfache, nachvollziehbare Regelungen.
Trotzdem helfen die gezielten Anreize des Programms, Investitionen freizusetzen - besonders im
Handwerk und bei mittelständischen Baufirmen.
Das Programm war bis Ende 2011 ausgelegt. Danach
wäre Schluss. Derzeit laufen Untersuchungen, welche
Wirkung es zeigt. Im internationalen Maßstab liegt es
ganz vorn; ich denke, sogar auf Platz eins. Deshalb wird
die christlich-liberale Koalition prüfen - das werden wir
auch positiv tun -, wie dieses Programm noch effizienter
fortgeführt werden kann.
Ich möchte an dieser Stelle an Folgendes erinnern:
2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung. 750 Millionen Euro davon haben wir aus 2010 und 2011 vorgezogen. Trotz der erkennbaren Finanzlücke haben wir den
Haushaltsansatz für 2010 durch Vorziehung aus 2011
noch einmal um 400 Millionen Euro auf 1,4 Milliarden
Euro aufgestockt.
Die Sparzwänge durch die Schuldenbremse gehen leider auch an diesem Programm nicht vorbei.
Lassen Sie mich an dieser Stelle bekräftigen: Die
Kollegen meiner Fraktion und ich sind nach wie vor der
Meinung, dass das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
eines der erfolgreichsten klimapolitischen Förderinstrumente der Bundesrepublik ist.
({2})
Dennoch muss jetzt bedachtes, nachhaltiges und vor allem generationengerechtes Handeln, besonders in Haushaltsfragen, im Vordergrund stehen. Wir müssen uns in
diesen Zeiten damit abfinden, dass wir nicht unbegrenzt
zusätzliches Geld ausgeben können.
({3})
2012 wäre mit dem Programm Schluss. Wie gesagt,
wir prüfen die Fortschreibung. Was ist in Anbetracht nötiger Sparzwänge besser - 2011 ohne Kürzung circa
800 Millionen Euro auszugeben und dann garantiert
Schluss machen zu müssen oder eine Fortsetzung auf
niedrigem Niveau, um das Programm am Laufen zu halten?
Volkmar Vogel ({4})
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Meinung, dass Letzteres der geeignetere Weg ist.
({6})
Wie Staatssekretär Mücke bereits ausgeführt hat, kann
das derzeit niedrige Zinsniveau nämlich eine günstigere
Kreditaufnahme ermöglichen.
Die effektive Förderung von Einzelmaßnahmen in der
Breite bewirkt ein besseres Ergebnis für Wirtschaft und
Klimabilanz als eine teure Förderung zur Erreichung des
absoluten Spitzenwertes an Effizienz. Es ist doch allemal besser, mit einer bestimmten Geldsumme in der
Breite viel zu erreichen, als mit einem Betrag, der nur für
die Spitze eingesetzt wird, eine viel geringere CO2-Minderung zu erzielen.
Deswegen kommt es aus unserer Sicht darauf an, dass
wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm in der Zukunft flexibler handhaben.
Dies gilt übrigens auch in Verbindung mit anderen
Programmen. Der Ansatz der Verknüpfung der Programme im Städtebau muss gerade bei knappen Kassen
konsequent fortentwickelt werden. Altersgerechtes Wohnen, Barrierefreiheit, Energieeffizienz, soziale und technische Infrastruktur sowie Gebäudemanagement müssen
im Komplex betrachtet werden.
Dafür haben wir unsere bewährten Programme. Deshalb führen wir sie weiter, und deshalb werden wir sie
finanziell so ausstatten, wie wir es uns leisten können:
mal schlechter, aber garantiert auch wieder besser. Daran
- davon bin ich überzeugt - werden die Baupolitiker der
Koalition arbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/2346, 17/2395 und 17/2396 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elektronischen Personalausweis nicht einführen
- Drucksache 17/2432 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Stephan
Mayer, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, Manuel Höferlin
für die FDP, Jan Korte für die Fraktion Die Linke und
Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.1)
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
Drucksache an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 14. September 2010, 10 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen erholsame Tage, manche neue Erkenntnisse und Ideen. Wir sehen uns dann am 14. September hier wieder.