Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Das Leben geht weiter, auch wenn gelegentlich die
Hoffnungen größer sind als die Möglichkeiten. Aber
dass nicht immer alles so gelingt, wie man sich das vorgenommen hat, wissen wir aus eigenen Erfahrungen.
Trotz des Ergebnisses des gestrigen Abends haben
wir allen Anlass, der deutschen Mannschaft für ein famoses Turnier zu danken. Im Übrigen können wir uns
ein bisschen darüber freuen, dass der Weltmeistertitel
wieder mal in Europa bleibt.
({0})
Es gibt im Übrigen eine Reihe weiterer freudiger Ereignisse. Der Kollege Dr. Peter Danckert feiert heute
seinen 70. Geburtstag.
({1})
Ich gratuliere ihm herzlich im Namen des ganzen Hauses. Ebenso herzlich gratuliere ich der Kollegin Beatrix
Philipp zu ihrem gestrigen 65. Geburtstag und der Kollegin Gerda Hasselfeldt zu ihrem 60. Geburtstag. Die
Kollegin Petra Crone feierte diesen runden Geburtstag
bereits am vergangenen Samstag.
({2})
Ihnen allen unsere geballten guten Wünsche für die
nächsten Jahre und Jahrzehnte.
Auf Vorschlag der FDP-Fraktion soll der Kollege
Jimmy Schulz anstelle des ausgeschiedenen Kollegen
Hellmut Königshaus neues stellvertretendes Mitglied im
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ werden. Eine Aussprache ist dazu
nicht vorgesehen. Sind Sie auch ohne Aussprache damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
der Kollege Schulz gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Steigende Beiträge als Ergebnis der Gesundheitsreform - Weniger Netto vom Brutto
({3})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 38
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Marieluise Beck ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem EFSF-Rahmenvertrag vom
7. Juni 2010
- Drucksache 17/2412 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ernst-Reinhard Beck ({6}), Peter
Altmaier, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Elke Hoff, Rainer Erdel,
Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung
- Drucksache 17/2433 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 39
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes
({8}) zu dem … Gesetz
zur Änderung des Erneuerbare-Energien-
Gesetzes
- Drucksachen 17/1147, 17/1604, 17/1950,
17/2402 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, Priska Hinz ({9}),
Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Forschungsetat auf Innovation und
Nachhaltigkeit für 2020 fokussieren - Rats-
entscheidung ITER-Projekt nicht zustim-
men
- Drucksache 17/2440 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 117 zu Petitionen
- Drucksache 17/2442 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 118 zu Petitionen
- Drucksache 17/2443 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 119 zu Petitionen
- Drucksache 17/2444 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
- Drucksache 17/2445 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
- Drucksache 17/2446 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
- Drucksache 17/2447 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 123 zu Petitionen
- Drucksache 17/2448 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
- Drucksache 17/2449 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
- Drucksache 17/2450 -
l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
- Drucksache 17/2451 -
m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 127 zu Petitionen
- Drucksache 17/2452 -
n) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
- Drucksache 17/2453 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Gesundheitspolitik ohne Perspektive
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
EU-Fördermittel aus dem Emissionshandel
für erneuerbare Energien und zur Verringerung prozessbedingter Emissionen
- Drucksache 17/2430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Gisela Piltz, Manuel
Höferlin, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datenschutz bei der transatlantischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus
- Drucksache 17/2431 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({23}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu einem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über den Abschluss des Abkommens
Präsident Dr. Norbert Lammert
zwischen der Europäischen Union und den
Vereinigten Staaten von Amerika über die
Verarbeitung von Zahlungsverkehrsdaten und
deren Übermittlung aus der Europäischen
Union an die Vereinigten Staaten für die Zwecke des Programms zum Aufspüren der
Finanzierung des Terrorismus ({24})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit
§ 9 EUZBBG
Finanzdaten der Bürgerinnen und Bürger Europas schützen - SWIFT ablehnen
- Drucksache 17/2429 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 10 wird abgesetzt. Die
nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken jeweils einen Platz vor.
Schließlich sollen der Tagesordnungspunkt 11 a abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 11 b ohne Debatte
überwiesen werden. Hierdurch rücken dann die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der SPD-Fraktion entsprechend vor. - Auch hierzu kann ich eine größere Unruhe
nicht erkennen, sodass ich davon ausgehe, dass wir das
einvernehmlich so vereinbaren können.
Ich muss Sie darauf hinweisen, dass wir heute Morgen einen partiellen Stromausfall hatten.
({25})
- Mir wäre die umgekehrte Reihenfolge lieber gewesen,
also dass die Uhren funktionieren würden und Sie für
eine Weile nicht telefonieren könnten. Jetzt scheint es
eher umgekehrt zu sein.
Jetzt sehe ich, dass es anscheinend eine positive
Rückkopplung zwischen den Telefonapparaten und den
Uhren gibt, was der Bundestagsverwaltung bis heute
Morgen nicht bewusst war. Wenn es nicht so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, stellen wir ein ambulantes Gerät zur Verfügung.
({26})
An den vereinbarten Redezeiten ändert sich dadurch je-
denfalls nichts.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Religionsfreiheit weltweit schützen
- Drucksache 17/2334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({27})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({28}), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken
- Drucksache 17/2424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Das ist offensichtlich einvernehmlich.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort
zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion.
({30})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Schutzlos ausgeliefert - Im ostindischen Bundesstaat Orissa werden Christen verfolgt und getötet.
Die Täter sind Hindus. Und die Behörden schauen
zu.
In einem ganzseitigen Beitrag hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am letzten Wochenende ausführlich über das Thema berichtet, das heute Gegenstand
dieser Debatte ist und das uns in der Bundestagsfraktion
von CDU/CSU und auch in der FDP immer wieder beschäftigt: Verfolgung von Christen, Bedrängung von
Christen, Missachtung eines der zentralen Menschenrechte, nämlich das Recht, seinen Glauben frei zu leben
und ausüben zu können.
({0})
Orissa ist nur ein aktuelles Beispiel für das, was weltweit geschieht. Deshalb haben wir heute Morgen
Schwester Justine Senapati und Vater Dr. Augustine
Singh aus Orissa eingeladen. Sie sitzen auf der Tribüne,
({1})
begleitet von den Vertretern der christlichen Kirchen hier
am Sitz von Bundestag und Bundesregierung in Berlin.
Die beiden waren beim Menschenrechtsrat in Genf.
Heute sind sie in Deutschland und werben dafür, das
Los, das Schicksal bedrängter und verfolgter Christen
nicht zu vergessen.
Am Beispiel Orissa können wir sehen, wo die Probleme liegen. Indien ist der Verfassung nach eine moderne Demokratie. Die Bundesregierung Indiens schützt
die Religionsausübung und die Religionsfreiheit und bekennt sich immer wieder dazu, dass alle Menschen - in
Indien geht es vor allem um Christen, Hindus und Muslime - ihre Religion frei ausüben können. Aber in den
einzelnen Bundesstaaten kann die Zentralregierung vieles von dem nicht umsetzen. So kommt es zu brutalen
Übergriffen. Christen werden verfolgt, bedrängt und vertrieben. Allein in der Region Orissa wurden in der letzten Zeit 60, 70 Kirchen und 4 000 Häuser angezündet.
Es werden Christen getötet, vergewaltigt, und noch immer sind Zehntausende in Flüchtlingslagern untergebracht. Das ist keine Christenverfolgung durch den
Staat. Aber wir erwarten schon, dass nicht das eintritt,
was die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geschrieben hat, nämlich dass die Behörden zuschauen.
Wir erwarten, dass die Behörden die Christen schützen
und alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt.
({2})
Christen werden weltweit verfolgt. In über 60 Staaten
gibt es Verfolgung oder Bedrängung. Zwei Drittel der
verfolgten Christen leben in diesen 60 Staaten. 200 Millionen Christen sind von Bedrängung und Verfolgung
betroffen.
Ich will kurz einige Beispiele ansprechen. Wir haben
vor wenigen Wochen einen Besuch in die Türkei unternommen, um dort vor allem das bedrängte Kloster Mor
Gabriel zu besuchen. Um es klar zu sagen: Es gibt in der
Türkei keine Christenverfolgung durch den Staat. Aber
es gibt Bedrängungen, die dazu führen, dass Christen ihren Glauben nicht leben können. Wir haben in der letzten
Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag in einem
Antrag die türkische Regierung aufgefordert, die Repressalien, das Drucksystem gegen das Kloster Mor
Gabriel aufzuheben. Bis zum heutigen Tag ist nichts geschehen, und dies ist nicht hinzunehmen.
({3})
Wir eröffnen in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei Kapitel um Kapitel. Aber ein Land, das näher zu Europa will, muss den elementaren Menschenrechtsgrundsatz, dass Religionsfreiheit gelebt werden kann, erfüllen.
Da gibt es kein Wenn und kein Aber.
({4})
Wir bzw. die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes
haben im Grundgesetz die Konsequenzen aus unserer
dramatischen jüngeren Geschichte gezogen. Christen
wurden auch in unserem Land während der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus verfolgt. Deshalb ist die
Religionsfreiheit in unserem Grundgesetz ein zentraler
Artikel. Er ist unmittelbar verbunden mit dem Kernsatz,
der die Menschenrechte betrifft: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und zur Würde des Menschen
gehört auch sein religiöses Bekenntnis.
Wir, die christlichen Demokraten, und die FDP setzen
uns dafür ein, dass in diesem Land Religionsfreiheit gelebt werden darf. Ich kenne die Diskussionen in vielen
Kommunen. Ich sage ausdrücklich: Ich bin dafür - wer
für Religionsfreiheit ist, der ist dafür -, dass Muslime in
diesem Land Moscheen bauen können und dass sie in
diesen Moscheen beten können.
({5})
Aber ich erwarte genau das Gleiche von allen anderen
Ländern in der Welt. Ich erwarte, dass die Christen in
der Türkei ihre Kirchen so bauen können wie die Muslime in Deutschland ihre Moscheen.
({6})
In vielen Ländern dieser Welt erleben wir eine subtile
Bedrängung von Christen. Die Christen sind im Übrigen
die am meisten verfolgte Gruppe in der ganzen Welt.
Übertritte von einer anderen Religion zum Christentum
werden unter Strafe gestellt. Christen wird es untersagt,
für ihre Religion einzutreten, weil dies als unerlaubte
Werbung gilt. Es wird verboten, dass Christen in diesen
Ländern die Ausbildung ihrer Pfarrer und Priester durchführen, und Christen wird ein besonderer Stempel in den
Ausweis gedrückt, damit sie möglichst viele Probleme
im täglichen Leben haben. Ich weiß, dass die Verfolgung
von Christen viele Ursachen hat. Auf der einen Seite
geht es darum, die eigene Religionsmehrheit zu schützen. Auf der anderen Seite sind nationale Themen ursächlich. In einigen Fällen sind die Radikalität der Verfolgung und die emotionale Auseinandersetzung auch
ein Ergebnis der wirtschaftlichen Situation, der Armut in
diesen Ländern.
Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung das Thema
Christenverfolgung/Christenbedrängung in den Katalog
ihrer Arbeit aufgenommen hat. Wir fordern, dass die Religionsfreiheit im Bereich der Entwicklungshilfe als
Teil der Menschenrechtsdiskussion ein zentrales Thema
ist. Ich bin Bundesaußenminister Guido Westerwelle
dankbar, dass er das Thema Christenverfolgung nicht
nur in seinen Katalog einer wertegeleiteten Außenpolitik
aufgenommen hat, sondern das Thema auch in Genf angesprochen hat und dies heute vor dem Deutschen Bundestag erläutern will.
({7})
Ich weiß, dass die Bundeskanzlerin auf ihren vielen
Reisen nach China und in andere Länder der Welt dieses
Thema ebenfalls angesprochen hat. Ich finde, wir müssen dieses wichtige Menschenrechtsthema mit aller
Kraft ansprechen und dürfen nicht zurückweichen, wenn
es heißt: Wenn ihr dieses Thema ansprecht, könnte es
unangenehme Konsequenzen haben. - Meine Erfahrung
ist: Wenn wir darauf hinweisen, in welchen Ländern Bedrängungen und Verfolgungen von Christen stattfinden,
dann hat dies auch Wirkung. Denn dauerhaft will keines
dieser Länder am Pranger der Öffentlichkeit stehen. Sie
wollen nicht, dass man erkennt, wie man mit Menschen
umgeht, die anderen Glaubens als die Mehrheit in dem
entsprechenden Land sind.
({8})
Deswegen macht es Sinn, dies anzusprechen.
Wir verstehen diese Debatte nicht als eine Anklage,
sondern als Aufforderung, dieses elementare Menschenrecht auch umzusetzen. Wir wollen, dass am Beispiel
Europa auch andere Länder erkennen können, welche
beglückende Erfahrung im Zusammenleben der Menschen es ist, wenn jeder seine Religion friedlich leben
und nach ihr friedlich sein Leben ausrichten kann. Religion, der Glaube an etwas nach diesem Leben, die Überzeugung, dass es da etwas anderes gibt, dass es etwas
Transzendentales, dass es Gott gibt, diese glückliche Erfahrung muss jeder in der Welt machen können. Solange
dies nicht erreicht ist, werden wir nicht lockerlassen und
dies regelmäßig zum Thema unserer politischen Diskussion hier in Deutschland und in der ganzen Welt machen.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Kauder, vieles von dem, was Sie gesagt haben,
unterstreiche ich eins zu eins. Es ist nicht ganz das
Thema, über das wir uns streiten sollten. Denn in der
Überschrift Ihres Antrags geht es nicht um Christenverfolgung, sondern um Religionsfreiheit weltweit. Das ist
ein weiter gefasstes Thema als das, was Sie angesprochen haben. Gleichwohl ist es wichtig.
Zu einer Stelle - die mich ein klein wenig betroffen
gemacht hat - möchte ich eine Bemerkung machen. Sie
haben hier vorgetragen, dass sich die CDU/CSU und die
FDP in diesem Hause für Religionsfreiheit und gegen
Christenverfolgung aussprechen. Ich bitte Sie ganz
ernsthaft, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich nicht nur
die Fraktionen auf der rechten Seite des Hauses dafür
aussprechen, sondern dass sich der gesamte Deutsche
Bundestag - auch SPD, Grüne und die Linkspartei - dafür einsetzt. Das ist völlig klar.
({0})
- Die Zeiten sind nun Gott sei dank vorbei; die wollen
wir auch nicht wiederhaben. Aber es ist schon gut, dass
ich Gelegenheit habe, darauf zu reagieren. Es ist wichtig,
festzustellen, dass wir jedenfalls an dieser Stelle keinen
weitgehenden Dissens haben.
({1})
Ich darf darauf hinweisen, dass wir im Deutschen
Bundestag am 24. Mai 2007 gemeinsam - SPD und
CDU/CSU - mit großer Mehrheit einen Antrag mit der
Überschrift „Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten“ beschlossen haben. Wir haben noch vor wenigen Wochen in diesem Haus
über Anträge, die dieses Thema betreffen, diskutiert. Darüber bin ich sehr froh. Ich teile nicht die Meinung des
Kollegen Heinrich, der, als wir über Oppositionsanträge
zum Thema „Folter und Todesstrafe“ nicht zum ersten,
sondern zum zweiten und dritten Mal diskutierten, gesagt hat, dass dies eine Art von Polemik sei und die Arbeit behindere. Ich glaube, das genaue Gegenteil ist der
Fall. Gerade die Beispiele, die Sie, Herr Kauder, genannt
haben, zeigen, dass es wichtig ist, sich immer und immer
wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen, solange
es in der Welt zu Verfolgungen aufgrund der religiösen Zugehörigkeit kommt. Ich glaube, das sind ein
wichtiger Beitrag und ein wichtiges Signal für die Debatte, die wir hier heute beginnen.
({2})
Ich möchte einige Punkte ansprechen, über die wir,
wie ich glaube, dringend diskutieren müssen. Der Antrag, den Sie gestellt haben, enthält viele Punkte, die eins
zu eins dem entsprechen, was wir in der Großen Koalition beschlossen haben, und die in der Gesellschaft konsensfähig sind. Aber unter bestimmten Voraussetzungen
springt dieser Antrag an einigen Stellen zu kurz. Deshalb
möchte ich zwei Probleme ansprechen, die mir ganz
wichtig sind; diese haben nichts mit einer Relativierung
von Christenverfolgung zu tun. Wir haben mit großer
Aufmerksamkeit die Berichte von Frau Granold und
Herrn Kober über ihre Reise nach Orissa verfolgt. Es ist
bedrückend und beschämend, dass es nicht gelingt, die
Menschen dort zu schützen.
Wenn wir über Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Religionsfreiheit reden - das sage ich
mit aller Klarheit -, dann darf und kann das jedoch nicht
unter dem Aspekt der Quantität geschehen. Ja, es ist so:
Die Christen sind in diesen Gesellschaften, um die es
geht, wahrscheinlich die religiöse Minderheit, die am
meisten verfolgt wird. Aber - darauf möchte ich ganz
massiv hinweisen - wenn wir uns in unserer Politik auf
diese Gruppe konzentrieren und andere am Rande lassen, sie allenfalls marginal erwähnen, dann ist das kein
Beitrag zur Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik.
Sie haben zwei andere betroffene Gruppen am Rande
angesprochen: die Bahai und verfolgte Muslime in bestimmten Regionen dieser Welt. Da würde ich mir ein
bisschen mehr Deutlichkeit wünschen. Wenn wir wissen, dass in diesen Zeiten fünf Führer der Bahai-Religion - sie hat nicht viele Anhänger und gehört zu den am
meisten gefährdeten Religionen der Welt - aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit im Iran von der Todesstrafe
bedroht sind, dass es dort Verfahren gibt, dass aber in
diesen Anträgen dazu nichts steht, dann können wir diesen nicht zustimmen; denn das gehört in das Zentrum
unserer Auseinandersetzung. Darüber müssen wir bei
diesem Thema reden.
({3})
Es geht nicht darum, einen Katalog von Qualitäten
und Quantitäten von verfolgten Minderheiten in der Welt
aufzustellen.
Wir haben in den letzten Jahren immer wieder ein
Thema angesprochen. Es gibt eine große verfolgte Minderheit in China: die Buddhisten in Tibet. Sie sind ständig in der Gefahr, von diesem Regime verfolgt zu werden, nicht nur aufgrund der Diskussionen über die
Eigenständigkeit Tibets, sondern auch aufgrund ihrer
kulturellen und religiösen Zugehörigkeit. Auch dieses
Thema gehört in die Anträge. Darüber müssen wir reden.
Wenn wir das nicht tun, dann ist dieser Antrag an dieser
Stelle unvollständig. Wir können ihm in dieser Form
nicht zustimmen.
({4})
Ein weiterer Punkt, der mir wichtig ist, ist der weltweite Schutz der Religionsfreiheit. „Weltweit“ umfasst
- das findet man leider nicht in Ihrem Antrag - natürlich
auch unseren eigenen Kontinent. An der einen oder anderen Stelle muss man darüber nachdenken, wie der Zustand der Religionsfreiheit in Europa ist. Dies muss
man unter einem anderen Aspekt sehen; ich will das gar
nicht gleichstellen. In Europa gibt es in der Auseinandersetzung um Religionsfreiheit keine Verfolgung und Gefahr für Leib und Leben mehr. Aber wir haben natürlich
auch Diskussionen, und die Religionsfreiheit ist vielfältig. Ich wünsche mir, dass wir über Fragen wie die des
Baus von Minaretten ganz offene Diskussionen führen.
Dies betrifft auch die Frage: Wie ist es eigentlich um die
Religionsfreiheit bestellt, wenn wir - zu Recht - die Islamische Charta und die Beschlüsse des Menschenrechtsrates in Genf zur Islamophobie kritisieren und es in
Deutschland noch immer einen § 166 des Strafgesetzbuches gibt?
({5})
Das sind Punkte, die wir nicht ignorieren dürfen. Wir
müssen über diese Themen reden. Ich denke, es wird uns
in diesem Hohen Hause guttun, da ein Stück Selbstkritik
zu üben.
({6})
Ich möchte mit einem Glückwunsch an einen Kollegen schließen, der nicht im Deutschen Bundestag sitzt,
aber vielen von uns aufgrund seiner Arbeit im Deutschen
Institut für Menschenrechte bekannt ist: Heiner Bielefeldt.
Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass jemand wie
Heiner Bielefeldt als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Fragen der Religionsfreiheit benannt worden ist. Ich finde, wir sollten uns darum kümmern, dass er hier im Deutschen Bundestag - wir haben
eine Anhörung im Menschenrechtsausschuss, zu der wir
ihn eingeladen haben - zu diesen Fragen Stellung
nimmt. Wir müssen über diese Anträge diskutieren. Wir
werden uns auch positiv in diese Diskussion einmischen.
Ich hoffe, dass wir an dieser Stelle gute Beratungen hinbekommen und dass der Deutsche Bundestag bei der
Geltung der Menschenrechte und insbesondere der Religionsfreiheit in der ganzen Welt - in Deutschland, Europa und darüber hinaus - klare Signale setzt.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Herr
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Eine aktive Menschenrechtspolitik ist Markenzeichen deutscher Außenpolitik.
Der Einsatz für Religionsfreiheit ist Teil unserer aktiven
Menschenrechtspolitik. Ich habe um das Wort gebeten,
weil ich nachdrücklich unterstreichen möchte, dass das
Engagement der Antragsteller und, wie ich denke, des
gesamten Hohen Hauses für Religionsfreiheit, für Pluralität und gegen Verfolgung und Unterdrückung aus religiösen Gründen nicht nur das Anliegen des Parlamentes
ist, sondern ausdrücklich auch ein zentrales Anliegen der
Bundesregierung.
({0})
Wenn Millionen Christen in der Welt ihren Glauben
nicht frei leben können, dann wollen wir nicht schweigen. Es ist richtig, dass dies ein Anliegen ist, das uns
über die Parteigrenzen hinweg verbindet. In vielen Ländern darf die Bibel weder gekauft noch gelesen werden;
Gottesdienste werden behindert; Christen werden ins
Gefängnis geworfen oder kommen ins Arbeitslager.
Auch vor Angriffen auf Leib und Leben sind sie nicht
gefeit. Viele Staaten unterdrücken die freie Religionsausübung mit Verboten, Polizei und Strafen. Andererseits lassen sie ihre Bürger oft genug frei gewähren,
wenn sie Jagd auf Andersgläubige machen. Beides sind
Formen der Unterdrückung von Religionsausübung:
die staatliche Pression und Verfolgung, aber auch das
Zulassen von Verfolgung durch Mob und durch Kräfte,
die die Toleranz nicht akzeptieren wollen.
({1})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen - hier müssen wir
uns auf Schätzungen verlassen -, dass Nichtregierungsorganisationen weltweit von mindestens 100 Millionen
verfolgten Christen ausgehen. Uns geht es aber nicht nur
um ein Engagement für den christlichen Glauben, die
christlichen Religionen. Vielmehr geht es hier um eine
grundsätzliche Frage. Wir sind der Überzeugung: Jeder
Mensch muss den Glauben leben dürfen, den er für sich
als wahr erkannt hat. Religionsfreiheit ist immer auch
die Freiheit, seine Religion ungehindert auszuüben oder
zu wechseln. Auch gar keiner Religion anzugehören, ist
ein Ausdruck von Religionsfreiheit. Das ist das plurale
Verständnis von Religionsfreiheit, das uns nicht nur
über das Grundgesetz, sondern auch in unserer täglichen
Politik hier verbindet.
({2})
Religionsfreiheit muss also für Angehörige christlicher Minderheiten wie für Anhänger anderer Religionen
gelten. Wenn wir die Freiheit für Christen auf der ganzen
Welt glaubhaft einfordern, dann heißt das natürlich auch,
dass der Staat in Deutschland zuerst die Freiheit aller
religiösen Bekenntnisse bei uns zu Hause schützt. Ich
unterstreiche nachdrücklich, was der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Volker Kauder, hier dazu gesagt
hat: Für uns ist es eine Selbstverständlichkeit - nicht
nur weil wir von Verfassungs wegen dazu verpflichtet
sind, sondern weil wir es in uns selbst fühlen und es anstreben -, dass wir, so wie wir in anderen Ländern auf
Religionsfreiheit setzen, immer und immer wieder alles
dafür tun werden - mit der gesamten staatlichen Gewalt
und dem gesamten zivilen Engagement, das es bei uns
gibt -, dass auch bei uns in vollem Umfang Religionsfreiheit gewährt wird. Das ist mehr als nur eine Frage
von Gebäuden. In Wahrheit ist es auch eine Frage des
gesellschaftlichen Klimas. Auch darum wollen wir uns
gemeinsam bemühen.
({3})
Wenn sich Christen nur um die Freiheit von Christen
kümmern, Hindus nur um die Freiheit von Hindus, Muslime nur um die Freiheit von Muslimen, dann ist das
nicht das Miteinander von Religionen, das wir meinen.
Das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen
gelingt nur mit Respekt und Dialog. Wir wollen uns dabei nicht selber etwas vormachen. Es hat auch bei uns
Jahrhunderte gedauert - ich rede nicht vom Mittelalter -,
bis sich in Europa ein Wertekanon entwickelt hat, in
dessen Mittelpunkt der Mensch steht, einschließlich der
freien Ausübung der Religion.
Wir sollten uns als Deutsche auch daran erinnern,
dass Religionsausübung in Deutschland noch im letzten
Jahrhundert alles andere als selbstverständlich war. Millionenfacher Mord, auch auf religiöser Zugehörigkeit
begründet, hat auf deutschem Boden stattgefunden. Deswegen ist es nicht belehrend, gegenüber anderen Ländern auf Religionsfreiheit zu drängen; es ist vielmehr die
Lehre aus unserer eigenen Geschichte, dass wir uns für
religiöse Pluralität überall in der Welt einsetzen.
({4})
Die Würde des Menschen, die Freiheit, die Eigenverantwortung, das ist unser Fundament; das ist auch ein Erfolg der europäischen Aufklärung. Für dieses Staatsverständnis stehen wir, und für dieses Staatsverständnis
setzen wir uns weltweit ein.
Wir müssen aber allen Versuchen entgegentreten, die
Achtung der Menschenrechte unter den Vorbehalt kultureller Eigenheiten zu stellen. Sehr oft hört man: Dieses
oder jenes müsse man verstehen; denn es sei gewissermaßen das Ergebnis kultureller Herkunft und kultureller
Eigenheit. Das ist eine Form der Relativierung von Werten, die wir nicht akzeptieren können. Religionsunterdrückung ist nicht Ausdruck von Kultur, es ist Ausdruck
von Unkultur.
({5})
Das vertreten wir auch in unserer Politik, und dafür engagieren wir uns auch gemeinsam.
Oft genug wird aus Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit ein Gegensatz konstruiert. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, immer und immer wieder darauf aufmerksam zu machen: Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit
sind gewissermaßen zwei Früchte vom selben Baum,
nämlich vom großen, wunderschönen Baum der Freiheit.
Darum geht es. Auch wenn man als jemand, der religiös
denkt, lebt, erzogen worden ist, das Gefühl hat, dass der
eigene Glaube, vielleicht durch Karikaturen oder Meinungsäußerungen, beeinträchtigt wird, gibt es dennoch
keine Rechtfertigung, gegen irgendjemanden gewalttätig
zu werden. Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit sind
keine Gegensätze. Sie sind in Wahrheit ein wunderbares
Paar, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({6})
Ich möchte für die Bundesregierung mit einem klaren
Bekenntnis schließen. Wer Hass zwischen den Religionen schürt, verfolgt vor allem politische Ziele, keine religiösen. Religion darf nie Vorwand für Hass, nie Entschuldigung für Gewalt und Krieg sein. Deswegen wird
sich die Bundesregierung im, wie ich denke, Namen des
ganzen Hohen Hauses auch international dafür einsetzen, indem ein Kernbestandteil unserer Menschenrechtspolitik das Bekenntnis zur Religionsfreiheit ist.
Ich selbst habe beim Menschenrechtsrat der Vereinten
Nationen in Genf ziemlich am Anfang meiner Amtszeit
die Religionsfreiheit, ausdrücklich auch die Freiheit der
Christen im Hinblick auf ihre Religion und ihr religiöses
Bekenntnis, in den Mittelpunkt meiner Ausführungen
gestellt, weil ich den Eindruck habe, dass wir nicht zulassen dürfen, dass dies ignoriert wird.
Mit Professor Bielefeldt ist vor wenigen Wochen
ein Deutscher zum UNO-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit ernannt worden. Wir
wünschen ihm für seine Arbeit eine glückliche Hand und
viel Erfolg. Sein Anliegen ist das Anliegen der Bundesregierung, und ich bin sicher, es ist das Anliegen des
ganzen Hohen Hauses.
Wenn die Öffentlichkeit sieht, dass wir bei diesen fundamentalen Wertefragen übereinstimmen, dann, so denke
ich, ist das ein gutes Zeichen. Man kann das - wenn Sie
mir erlauben, dies als Abgeordneter am Schluss meiner
Rede zu sagen - auch durch gemeinsame Beschlussfassungen dokumentieren.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Raju Sharma für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In ihrem
Antrag fordern die Koalitionsfraktionen, Religionsfreiheit weltweit zu schützen. Wir als Linke können das nur
unterstützen. Denn natürlich schätzen und achten wir die
Freiheit jedes Menschen, seinen Glauben frei von Unterdrückung und Verfolgung zu leben,
({0})
genauso wie wir die Freiheit grundsätzlich achten; denn
tatsächlich ist die Linke die Partei der Freiheit.
({1})
Hören Sie ruhig zu! Das mag einige von Ihnen überraschen,
({2})
weil wir die Rechtsnachfolgerin der SED sind, die bekanntermaßen die Freiheit nicht geschätzt und geachtet
hat, anders als wir Linke heute. Wir stehen zu dieser Vergangenheit, wir stellen uns ihr, und wir haben aus ihr gelernt.
({3})
Heute ist die Linke diejenige unter allen demokratischen
Parteien, die im innerparteilichen Diskurs die Meinungsvielfalt nicht nur toleriert, sondern als Reichtum begreift
und deshalb unterstützt und fördert.
({4})
- Warten Sie es ab, Herr Kauder. - Auch in unserer Programmdebatte wird der Begriff der Freiheit einen wichtigen Platz einnehmen; denn anders als die FDP haben wir
die Freiheit nicht als Statue, sondern als Statut.
({5})
Auch das hat in der Linken Tradition: Freiheit und
Gleichheit begreifen wir nicht als Gegensatz, sondern
als sich ergänzende und sich bedingende Elemente der
Demokratie, ohne dass eines von beiden größer geschrieben würde.
({6})
Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass das bekannteste Zitat zur Freiheit von einer Sozialistin stammt. Das
gilt ganz besonders für den Bereich, der den Menschen
tief berührt und sein Selbstverständnis betrifft; somit ist
auch ganz klar: Freiheit ist immer auch die Freiheit des
Andersgläubigen.
({7})
Wir verurteilen es natürlich, wenn in vielen Ländern
dieser Welt Religionsfreiheit noch keine Selbstverständlichkeit ist. Ein Beispiel ist Tibet, das im Antrag von
CDU/CSU und FDP leider gar nicht erwähnt wird. Völlig zu Recht hat der Dalai Lama den Friedensnobelpreis
erhalten. In seinen Bemühungen um die Tibeter verdient
er aus meiner Sicht unsere volle Unterstützung,
({8})
genauso wie alle anderen Menschen, die sich weltweit
für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit starkmachen und dafür eintreten, dass sich Rechtslage und
Rechtspraxis in ihrem Land so entwickeln, dass das öffentliche Bekennen der eigenen Religion gewährleistet
ist.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen findet insofern
ebenso grundsätzlich meine Zustimmung wie der von
den Grünen. Allerdings bin ich der Meinung, dass sich
CDU/CSU und FDP um etwas mehr Ausgewogenheit
hätten bemühen können. Ihr Antrag konzentriert sich
vorwiegend - das ist schon gesagt worden - auf die
christlichen Minderheiten, was das im Antrag enthaltene
Islam-Bashing noch verstärkt und die verschiedenen Religionen unnötig gegeneinander in Stellung bringt.
Zudem erweist sich die Haltung der Koalition nicht
wirklich als konsequent; denn wer die UN-Resolution
gegen die Diffamierung von Religionen - sicher richtigerweise - ablehnt und darin einen Beweis für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit im Islam sieht, der sollte
auch einen Blick in das deutsche Strafgesetzbuch werfen
- auch das ist schon gesagt worden -: Zumindest in der
praktischen Handhabung ist das in § 166 des Strafgesetzbuches enthaltene Verbot einer Beschimpfung von
Religionsgesellschaften nicht allzu weit von der gescholtenen Resolution entfernt.
({9})
Ich meine, wir sollten alle Religionen mit demselben
Respekt behandeln.
({10})
Außerdem stünde es der Regierung nicht schlecht an,
ein Urbi et Orbi auch für sich zu beherzigen. In Sachen
Religionsfreiheit lohnt sich nämlich nicht nur der Blick
in die Welt, sondern auch ins eigene Land. Eine staatliche Unterdrückung oder Verfolgung einzelner Religionsgemeinschaften ist hier zwar nicht zu beklagen, aber bedingungslose Religionsfreiheit ohne jede Einschränkung
findet man auch bei uns nicht, jedenfalls dann nicht,
wenn man auch die konsequente Gleichbehandlung aller Glaubensgemeinschaften darunter versteht.
({11})
Wenn nämlich ein Muslim zu häufig sein Gotteshaus
besucht, dann kann es schon passieren, dass er als potenziell Verdächtiger in der Antiterrordatei landet.
({12})
Ein eifriger Kirchgänger muss das nicht befürchten.
Wenn deutsche Behörden Fluggastdaten an die USA
übermitteln, die nicht nur Angaben über die Mitgliedschaft in Gewerkschaften enthalten, sondern auch solche
über Essgewohnheiten oder die Religionszugehörigkeit,
dann geschieht das bekanntermaßen nicht, um den Bordservice für die Passagiere zu optimieren.
({13})
Auch in manch anderer Hinsicht findet staatliche Ungleichbehandlung statt. Noch immer werden die evangelische und die katholische Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt. Eine konsequente
Trennung von Staat und Religion ist in Deutschland
noch längst nicht Wirklichkeit. Ich sage nur: Staatsleistungen, Kirchensteuer, Religionsunterricht. Hier könnten
wir von unseren Nachbarn lernen: In Frankreich ist der
Laizismus als Grundsatz in der Verfassung festgeschrieben - wir haben Gott in der Präambel des Grundgesetzes.
({14})
Immerhin bekennt sich die Koalition in ihrem Antrag
auch zur Freiheit der Nichtgläubigen, die anerkannt
und geschützt werden soll. Es besteht also ein breiter
Konsens darüber, dass die Zeit des Missionierens endgültig vorbei ist. Wenn Menschen zum Glauben finden,
dann sollten sie das in Freiheit tun: hier und im Rest der
Welt.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, ich will Ihr Angebot ausdrücklich aufgreifen, in den Ausschussberatungen zu gemeinsamen Beschlussfassungen zu kommen, weil ich denke, das
Thema der Religions- und Glaubensfreiheit ist so wichtig, dass der Deutsche Bundestag das über die Grenzen
von Koalition und Opposition hinweg tun sollte, weil er
so seine Position stärker zum Ausdruck bringen kann.
({0})
Herr Sharma, Sie haben hier das Religionsverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland kritisiert. Das Entscheidende ist, dass wir alle Glaubensgemeinschaften und weltanschaulichen Haltungen gleich
behandeln. Es gibt unterschiedliche Rechtstraditionen:
Frankreich und die Türkei haben einen eher laizistischen
Ansatz, und in der Türkei existiert außerdem die Besonderheit der Privilegierung des sunnitischen Islam. In
Deutschland besteht die „hinkende“ Trennung von Staat
und Kirche. Das Entscheidende, das wir hier in Deutschland tun müssen, ist, dass wir alle Religionen gleich behandeln. Das heißt aber nicht zwingend, dass wir die
Grundsätze unseres Religionsverfassungsrechtes deshalb
aufgeben müssten.
({1})
Meine Damen und Herren, ich nehme wohl wahr,
dass diese Debatte heute hier anders verläuft als in der
Vergangenheit. Trotzdem erfolgte in Ihrem Beitrag, Herr
Kauder, und auch in Ihrem Antrag eine zu einseitige
Zentrierung auf die Verfolgung der Christen. Ich denke,
wir erweisen den Christen, die in anderen Ländern verfolgt werden, einen Bärendienst, wenn wir nicht um das
Recht der Religionsfreiheit streiten, sondern uns einseitig auf „unsere“ Leute fokussieren, die woanders verfolgt werden. Das ist die falsche Perspektive. Es muss
um das Prinzip der individuellen, der kollektiven und
auch der negativen Glaubensfreiheit gehen. Wenn wir
um das Prinzip streiten, dann können wir weltweit auch
viel für die verfolgten Christen tun.
({2})
Nicht nur Christen aus Orissa haben auf der Tribühne
Platz genommen, sondern auch ein Vertreter des Nationalen Geistigen Rats der Bahai, einer kleinen Weltreligion mit 300 000 Gläubigen im Iran. Was wird aber dadurch ausgesagt, dass zahlenmäßig weniger Bahai als
Christen verfolgt werden, weil es nun einmal weniger
Bahai als Christen gibt? Gerade für diese religiöse Minderheit ist die Situation im Iran dramatisch, weil die iranischen Muslime nicht akzeptieren, dass es nach
Mohammed einen neuen Offenbarer gab, der für sich in
Volker Beck ({3})
Anspruch genommen hat, eine neue Religion zu begründen. Das ist aber kein Argument, mit dem man Glaubensfreiheit ausschalten kann, sondern wir müssen die
Verfolgung der Bahai im Iran massiv kritisieren.
({4})
Seit 2004 wurden 313 Bahai festgenommen. Am
22. Juni 2010, also vor wenigen Wochen, wurden 50 Häuser von Bahai im Iran zerstört. Der Prozess gegen die
zwei Frauen und fünf Männer des Nationalen Geistigen
Rats der Bahai läuft. Sie sitzen ein, und zwar nur dafür,
dass sie einer Religionsgemeinschaft angehören, die
dem iranischen Regime nicht passt, weil sie nach ihrer
Ansicht mit dem Islam nicht konform zu bringen ist.
Vieles aus der Liste der Diskriminierungen und der Verfolgung der Bahai im Iran erinnert daran, wie in den ersten Jahren des Dritten Reiches gegen die Juden vorgegangen wurde. Kein bürgerliches Recht auf Erbe, auf
Besitz, auf Schulbesuch, auf Freiheit und auf den Schutz
von Leib und Leben ist für die Bahai im Iran garantiert.
Deshalb sollten wir hier keinen Wettbewerb zwischen
den verschiedenen Verfolgtengruppen in diesem Bereich
anfangen, sondern massiv da einschreiten, wo eine
Gruppe von Menschen oder Einzelne verfolgt werden,
weil sie einen anderen Glauben haben als die Mehrheit
oder das Regime eines Landes. Darum geht es, wenn wir
über die Religionsfreiheit streiten, und es geht auch darum, dass wir das, was wir von anderen Ländern verlangen, auch im eigenen Land konsequent umsetzen, obwohl es bei uns natürlich keine religiöse Verfolgung
gibt. Deshalb verlangen wir in unserem Antrag, auch darüber zu reden, ob der § 166 Strafgesetzbuch zur Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen mit der von
uns hier gemeinsam geübten Kritik an der Resolution
des UN-Menschenrechtsrats gegen die Diffamierung
von Religionen noch zusammenpasst, also ob wir uns
hier nicht auch an die eigene Nase fassen müssen.
Gleichstellung der Religionen und diskriminierungsfreie Garantie der Glaubensfreiheit - Herr Bielefeldt hat
in einer Schrift der Kommission Justitia et Pax ausgeführt, dass es darum geht, für das Recht der Religionsfreiheit universell und diskriminierungsfrei einzutreten bringt für uns als Bundestag gemeinsam mit den Ländern die große Aufgabe mit sich, endlich die Weltreligion des Islam in Form von anerkannten islamischen
Religionsgemeinschaften innerhalb des deutschen Religionsverfassungsrechtes gleichzustellen. So können wir
diesen die Rechte geben, die unser Religionsverfassungsrecht beim Religionsunterricht und bei der Ausbildung von Geistlichen gewährt, und diese Religionsgemeinschaft auch mit Blick auf andere rechtliche
Konsequenzen, die sich aus der Anerkennung ergeben,
gleichstellen. Denn nach dem Christentum ist der Islam
in Deutschland die zweitgrößte religiöse Gruppe. Es
kann nicht sein, dass eine so große Zahl von Menschen
bei der Inanspruchnahme ihrer Grund- und Menschenrechte letztendlich nicht gleichgestellt ist.
Ich hoffe, dass es bei den Beratungen dazu kommt,
dass unser Antrag und der Antrag der Koalition zu einem
gemeinsamen Beschluss zusammengeführt werden.
Denn ich glaube, nur dann, wenn der Bundestag bei dem
Thema Menschenrechte mit einer Stimme spricht, wird
seine Stimme auch weltweit wirklich gehört werden. Ich
meine, die Glaubensfreiheit ist es wert, dass wir uns dieser Mühe unterziehen.
({5})
Nun erhält Johannes Singhammer das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir in Deutschland wissen vom Wert der Freiheit
des Glaubens. Ohne Religionsfreiheit gibt es keinen dauerhaften inneren Frieden. Im kollektiven Gedächtnis vieler Menschen bei uns, aber auch in Europa, sind die
Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, dieses
schrecklichen Krieges, fest eingebrannt. Drei Jahrzehnte
Krieg, Morde und Verwüstung haben - neben dynastischen und hegemonialen Gründen - vor allem auch die
Auseinandersetzung um Religionsfreiheit zum Kern gehabt. Während dieses bitteren Dreißigjährigen Krieges
erkannte man, dass kein Fürst, kein Staat, keine Obrigkeit, kein Mob dem einzelnen Menschen sein persönliches Verhältnis zu Gott vorschreiben kann. Als eine geschichtliche Erfahrung stellt unser Grundgesetz in Art. 4
Abs. 1 und 2 unmissverständlich fest:
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die
Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Das gilt für alle. Das gilt auch für Menschen, die nach
Deutschland zugewandert sind und nicht einem der
christlichen Bekenntnisse angehören. Deshalb ist der
Bau von Gebetshäusern und Moscheen durch unsere
Verfassung garantiert.
Wir sagen allerdings auch denjenigen Staaten, die
sich für in Deutschland lebende Landsleute einsetzen,
damit diese ihre Religion zu Recht ungestört ausüben
können, dass sie dabei die christlichen Minderheiten im
eigenen Land nicht aus dem Blick verlieren sollen.
({0})
Dabei genügt nicht die formale Gleichstellung auf dem
Papier, sondern sie muss in der wirklichen Praxis erfolgen.
Vor wenigen Tagen habe ich gemeinsam mit einem
Kollegen und mit führenden Repräsentanten der katholischen und der evangelischen Kirche und der Evangelischen Allianz Christen in der Türkei besucht. Was
man gesehen hat, muss man auch ansprechen. Unser
Eindruck war: Viele christliche Minderheiten spüren einen Mangel an Religionsfreiheit und Toleranz, weshalb
gerade viele jüngere Christen für sich keine Perspektive
mehr sehen und das Land verlassen. Den christlichen
Kirchen droht dort die Gefahr der Marginalisierung. Es
leben zum Teil nur noch ein paar Familien in Dörfern,
die früher mehrheitlich von Christen bewohnt waren.
Kirchen und Klöster in Anatolien sind aber nicht
nur uralte, ehrwürdige Bauwerke, die es aus touristischen Gründen zu erhalten gilt, sondern es muss Kirchen
und Klöstern auch gestattet sein, christliches Leben zu
entfalten. Deshalb erfüllt es mich mit Sorge, wenn beispielsweise jetzt in Deutschland mehr Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche leben als in ihrer angestammten
Heimat, der Provinz Mardin.
Die seit 1971 unterbundene Priesterausbildung
muss, gerade für die orthodoxe Kirche, wieder möglich
sein, und die theologische Ausbildung, die eigenverantwortlich zu organisieren ist, ist notwendig, um eine
schleichende Austrocknung des kirchlichen Lebens zu
verhindern.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Religionsfreiheit wird nicht durch klare und eindeutige Rechtssätze gewährleistet. Darin sind wir uns einig. Religionsfreiheit wird vor allem auch durch den tagtäglichen
Umgang von Verwaltung, Administration und Gerichten
mit christlichen Minderheiten oder auch anderen religiösen Minderheiten gewährleistet oder auch verhindert.
Festzustellen ist aber auch: Religionsfreiheit heißt
nicht Wertneutralität. Wir in Deutschland haben in einem langen und schmerzhaften Prozess über Jahrhunderte hinweg eine religiöse bzw. weltanschauliche
Neutralität des Staates verwirklicht, die aber keineswegs eine vollständige Wertneutralität der staatlichen
Ordnung bedeutet. Die Zwei-Schwerter-Lehre und der
Investiturstreit im Mittelalter haben letztlich zu Art. 140
unseres Grundgesetzes geführt, in dem unter anderem
geregelt ist:
Es besteht keine Staatskirche.
Bei den Gründervätern der Bundesrepublik Deutschland herrschte die Überzeugung vor, dass erst der Abfall
von Gott den Weg freigemacht hatte für das schrankenlose Machtsystem tiefster menschlicher Erniedrigung
des Nationalsozialismus. Auf dieser Grundlage unserer
Verfassung haben wir die Religionsfreiheit definiert und
garantiert. Wir wollen diese Erfahrungen nicht besserwisserisch anderen aufdrängen, aber es ist uns von der
Union wie auch, glaube ich, allen Mitgliedern dieses
Hauses wichtig, dass die Religionsfreiheit als Menschenrecht über nationale Grenzen hinweg verwirklicht
wird. Deshalb werden wir darauf achten, dass die Freiheit des Gewissens und Glaubens bei unseren Partnern
und den Mitgliedern der internationalen Völkergemeinschaft gewährleistet wird, und wir werden diese auch
einfordern.
Ein wichtiger Schutzschirm für verfolgte und bedrohte Minderheiten, insbesondere Christen, ist die Herstellung der Öffentlichkeit bei uns und weltweit. Deshalb hilft diese Debatte hier und heute vielen verfolgten
Menschen in unterschiedlichsten Ländern vor allem
dann, wenn wir uns mit einer einigen und gemeinsamen
Botschaft an die Weltöffentlichkeit wenden.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine ganze Reihe Kollegen, darunter der Herr Außenminister und auch Sie, Herr Singhammer, hat auf die
Geschichte der Religionsfreiheit hingewiesen. Ich
möchte noch ein Puzzlestück hinzufügen. Der Augsburger Religionsfriede vom September 1555, in dem der
Grundsatz „cuius regio, eius religio“ festgelegt wurde,
gilt als weltpolitisches Ereignis und läutete nach den
Reformationskriegen quasi die offiziell festgeschriebene Koexistenz beider christlichen Konfessionen und
damit die Neuzeit in den Kirchen ein. Den Dreißigjährigen Krieg hat er allerdings nicht verhindern können.
Religionsfreiheit im heutigen Sinne war das damals nur
ansatzweise, ging es doch bei dieser Regelung darum,
dass die Untertanen der Herrscher der jeweiligen Fürsten- und Königshäuser der Konfession ihres Landesfürsten folgen mussten, was bedeutete, dass sie bei einem
Wechsel des Herrscherhauses auch immer ihre Konfession wechseln mussten.
Tatsächliche Religionsfreiheit ist ganz eindeutig ein
Zeichen der Moderne, auch weil sie in der heutigen Zeit
individuelle Freiheit ausdrückt. Der von mir sehr geschätzte und schon mehrfach angesprochene UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfragen,
Heiner Bielefeldt, sagte neulich in einem Interview - ich
zitiere -:
Die Religionsfreiheit ist ein individuelles Freiheitsrecht, wie die Meinungsfreiheit auch. Es geht um
die Freiheit, sich zu einem Glauben zu bekennen
oder auch nicht.
Das heißt, man darf nicht dazu gezwungen werden, seinen Glauben zu verbergen, aber auch nicht, ihn zu offenbaren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Möglichkeit, im
Deutschen Bundestag zum Beispiel bei der Eidesformel
den letzten Satz wegzulassen.
Religionsfreiheit bedeutet auch die Freiheit, den
Glauben ohne Druck und Zwang, aber auch ohne Konsequenz für Leib und Leben oder die berufliche Existenz
zu wechseln oder zu behalten. Dies ist in einer Vielzahl
von Ländern - das ist schon mehrfach angesprochen
worden - nicht möglich. Beispiele dafür sind der Iran
oder Saudi-Arabien. Dort steht auf Apostasie, also den
Abfall vom Islam, die Todesstrafe, ebenso wie in Pakistan auf die Beleidigung des Propheten Mohammed. Dort
wie in vielen anderen Ländern darf nicht für einen Reli5594
Angelika Graf ({0})
gionswechsel, zum Beispiel hin zum Christentum, geworben werden.
Volker Beck hat schon sehr eindrucksvoll die Lage
der Bahai im Iran geschildert. Christen und Angehörige
anderer Religionen, zum Beispiel die Jesiden, die Juden,
die Hindus, erleben in vielen Ländern und Regionen
Verfolgung. Nicht zu vergessen - Herr Singhammer hat
das angesprochen - ist die Situation der syrisch-orthodoxen Christen in Mor Gabriel im Südosten der Türkei.
Ich selbst war in diesem Kloster und konnte mich von
der schlimmen Lebenssituation der Menschen dort überzeugen.
Die Menschenrechtspolitiker dieses Hauses haben
über alle Fraktionsgrenzen hinweg schon in der Vergangenheit bei Besuchen in den jeweiligen Ländern gegenüber den politisch Verantwortlichen immer deutlich gemacht, dass die Religionsfreiheit und damit auch der
Wechsel der Religion zu den Grundfreiheiten des Menschen gehört, wobei ich allerdings nicht verschweigen
möchte, dass manche Gruppierung absolut inakzeptable
Werbemaßnahmen einsetzt. So bietet zum Beispiel eine
koreanische Organisation Opfern von Unwetter und
Überschwemmung - das habe ich in Kambodscha selbst
erlebt - nur dann ein festes Dach über dem Kopf oder
Bildung für die Kinder an, wenn der Übertritt zum
christlichen Glauben erfolgt. Ich denke, das tut der Sache des Christentums keinen guten Dienst.
({1})
Religionswechsel geschehen bei uns aus sehr unterschiedlichen Beweggründen. Viele Menschen haben aufgrund bestimmter Lebensumstände aus eigenem Willen
in einem anderen Glauben oder in einer anderen Konfession eine neue Heimat gefunden. Aber wir sollten auch
nicht vergessen: Es ist noch nicht so lange her, dass
Menschen in Deutschland wegen einer sogenannten
Mischehe, also der Ehe zwischen einem evangelischen
und einem katholischen Christen, aus der Kirche ausgeschlossen wurden. Erst die Ökumene hat hier einen guten Weg geebnet.
Religionsfreiheit ist ausgesprochen modern und zeitgemäß. Ich frage mich oft: Gilt das auch für das Gottesbild, welches Christen wie Muslime haben? Welchen
Sinn, so wurde vor wenigen Tagen in einem Artikel in
der Zeit gefragt, hat es, wenn wir zu Gott flehen, um unserem Fußballverein zum Sieg zu verhelfen? Besteht
nicht auch der gegnerische Verein aus Kindern Gottes?
Erschreckt hat mich das Minarettverbot in der
Schweiz, womit die Errichtung des Wahrzeichens einer
anderen Religion in einer mitteleuropäischen Stadt unmöglich gemacht werden sollte. Ich danke Ihnen, Herr
Kauder, ganz ausdrücklich, dass Sie deutlich gemacht
haben, dass das in Deutschland nicht infrage kommt.
({2})
Ich begrüße deshalb sehr, dass der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke unmissverständlich klargemacht hat, dass ein Minarett zur Moschee gehört wie
der Turm zur Kirche, und dass er davor gewarnt hat,
Muslime und andere Andersgläubige, die in unserer Gesellschaft ihren Platz haben, durch diese oder ähnliche
Aktionen auszugrenzen; denn wir können nur dann weltweit wirkungsvoll für die Religionsfreiheit kämpfen,
wenn wir selbst sie hochhalten. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir uns mehr darum kümmern, dass
Imame in Deutschland ausgebildet werden. Das würde
uns deutlich weiterbringen.
({3})
Ich komme zurück zu Heiner Bielefeldt. Die Religionsfreiheit dürfe, so sagt er, nicht dazu missbraucht werden,
Religionen gegen jede Kritik oder gesellschaftliche Auseinandersetzung zu immunisieren. - Bielefeldt hat recht.
Religionen müssen als Teil unserer gesellschaftlichen
Prozesse heute mehr denn je miteinander kommunizieren und sich und ihr Auftreten immer wieder neu selbstkritisch unter die Lupe nehmen. Das macht die Vielzahl
der Kirchenaustritte rund um die Missbrauchsfälle in der
katholischen Kirche und den Skandal um Bischof Mixa
überdeutlich. Dort hat die Kirche deutliche Versäumnisse gezeigt.
Ich weiß, dass die ganz große Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime fundamentalistische Gruppierungen ablehnt. Ich sehe aber auch, dass unsere offene
Gesellschaft sich verändert, weil sie sich von diesen fundamentalistischen Strömungen bedroht fühlt. Das Minarettverbot in der Schweiz macht deutlich, dass in letzter
Konsequenz auf Dauer die Religionsfreiheit gefährdet
sein könnte.
({4})
Sorgen mache ich mir auch um die jungen Musliminnen und Muslime, die die Tendenzen in der Mehrheitsgesellschaft natürlich spüren. Wir müssen daran arbeiten, sie vor fundamentalistischen Gegenströmungen zu
schützen. Wir müssen ihnen die Werte unserer offenen
Gesellschaft besser vermitteln. Deswegen plädiere ich
sehr für einen staatlichen Islamunterricht in jedem
Bundesland. Wir müssen auf die Länder einwirken, damit so etwas endlich realisiert werden kann; denn dies
wäre eine Möglichkeit, die Fragen und Bedürfnisse der
jungen Musliminnen und Muslime aufzunehmen, und
ein wichtiger Teil des Weges, den junge Menschen in unserem Staat finden müssen.
({5})
Religionsfreiheit bedeutet den Schutz und die Freiheit
aller Glaubensrichtungen - auch in Deutschland. Das
werden wir in unserem Antrag, den wir Ihnen in Kürze
vorlegen werden, auch deutlich machen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Pascal Kober erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sehnsucht nach Freiheit, die Sehnsucht nach Freiheit der
innersten Bindungen und der innersten Grundüberzeugungen von äußerem Zwang - wir würden heute sagen:
die Sehnsucht nach der Freiheit des Gewissens, die
Glaubens- und Religionsfreiheit - ist geradezu der Ausgangsimpuls für die gesellschaftliche Freiheitsbewegung, in deren Folge sich die freiheitlichen Demokratien
auf dem Boden unveräußerlicher Grundrechte ausgebildet haben.
Es ist kein Widerspruch, dass wiederum der Grundwert der Glaubens- und Gewissensfreiheit in unserer
Geistesgeschichte seinen Ausgangspunkt in der jüdischchristlichen Tradition hat, nach Jahrhunderten der Verdunklung durch theologische Missinterpretation wiederentdeckt und aufgedeckt in der Reformation und säkularpolitisch durchdacht, ausformuliert und erkämpft in der
Freiheitsbewegung der Aufklärung.
Jüdisch-christliche Tradition, Reformation und Aufklärung - wir wären uns selbst nicht treu, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern geradezu selbstvergessen,
würden nicht gerade wir als christlich-liberale Koalition
für das unveräußerliche Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf Religionsfreiheit weltweit entschieden
eintreten.
({0})
Was die Religionsfreiheit, für die die christlich-liberale Koalition weltweit im Rahmen ihrer kohärenten und
wertegeleiteten Außenpolitik eintritt, aber nicht meint,
und was die Toleranz unter den Religionen und Weltanschauungen, die wir einfordern, nicht meint, ist eine relativistische Toleranz oder Religionsfreiheit, die der Frage
nach der Gültigkeit von Werten, die, wenn man so will,
der Wahrheitsfrage ausweicht.
Denn wem alles gleich gültig ist, dem ist auch alles
gleichgültig. Das ist das genaue Gegenteil einer wertegebundenen und wertegeleiteten Außenpolitik
({1})
und das genaue Gegenteil der Idee universell gültiger
unveräußerlicher Menschenrechte.
({2})
Das Konzept der Religionsfreiheit, für das wir als
christlich-liberale Koalition weltweit eintreten, ist das
Konzept einer Toleranz, die nicht alles für richtig hält
und auch nicht jedem recht gibt. Wer beispielsweise unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit anderen andere Grundrechte vorenthalten möchte, hat mit unserem
entschiedenen Widerspruch zu rechnen.
({3})
Religionsfreiheit gibt es für uns nur innerhalb des Rahmens der für alle gültigen universellen und unteilbaren
Menschenrechte.
Was wir mit unserer wertegeleiteten Außenpolitik von
allen Religionen und Weltanschauungen einfordern, ist
gegenseitige Toleranz, aber keine Toleranz, die dem Dialog um Wertefragen ausweicht, sondern eine Toleranz,
die den Dialog um die Wahrheit und Gültigkeit von Werten, die den Dialog um die Weise eines friedlichen Zusammenlebens aller innerhalb der Friedensordnung, die
die unveräußerlichen Menschenrechte jedem gewähren,
sucht. Deshalb sind die Mittel und Wege, mit denen die
christlich-liberale Regierungskoalition weltweit für Menschenrechte eintritt, vor allen Dingen der entschiedene
Menschenrechtsdialog auf allen Ebenen, die Menschenrechtsbildung, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung aufgrund der Einsicht, dass gesellschaftliche Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einerseits und ökonomische Unabhängigkeit andererseits einander positiv
bedingen.
Als christlich-liberale Koalitionsfraktionen fordern wir
mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, in ihren
Anstrengungen für Religionsfreiheit und Menschenrechte nicht nachzulassen, und sichern zugleich unsere
Unterstützung zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Groth für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Als linke, ökumenisch geprägte Protestantin begrüße ich die heutige Debatte über die Glaubensund Gewissensfreiheit als ein elementares Menschenrecht.
Religion ist für viele Menschen von zentraler Bedeutung.
Deshalb müssen sich Staaten gegenüber Religionen und
Weltanschauungen neutral verhalten und eine freie Religionsausübung gewährleisten.
Wie einige Vorrednerinnen und Vorredner unterstütze
ich ausdrücklich die deutliche Kritik am Minarettverbot
in der Schweiz.
({0})
Aber auch in Deutschland versuchen Bürgerinitiativen
häufig, den Bau von Moscheen zu verhindern. So wird
die Religionsfreiheit behindert.
({1})
Seit einiger Zeit beobachte ich mit großer Sorge, dass
in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten mit
Begriffen wie „islamistisch“ eine ganze Religion diskreditiert wird. Eine solche Kategorisierung trägt dazu bei,
dass bei der Mehrheitsgesellschaft Ressentiments gegen
Muslime geschürt werden. Als Reaktion auf diese Diskriminierung und Stigmatisierung könnten Muslime in
die Arme von Extremisten getrieben werden. Deshalb
hat sich die US-Regierung kürzlich von Begriffen wie
„radikaler Islam“ und „islamistischer Terror“ ganz verabschiedet.
Verehrte Damen und Herren, zu einer fortschrittlichen
Menschenrechtspolitik gehört die Analyse der tieferen
Ursachen von religiösen Konflikten. Oft zeigt sich,
dass Diskriminierungen oder Gewaltakte gegen eine bestimmte Religion der Katalysator für soziale und ökonomische Konflikte sind. Wenn Angehörige einer Religion
von der Politik bevorzugt werden, werden bei anderen
Religionsgemeinschaften Ressentiments geschürt. Dann
wird Religion als Machtinstrument missbraucht.
Herr Kauder sowie andere Rednerinnen und Redner
haben den Fall Orissa bereits erwähnt. An den Überfällen
waren Mitglieder der Lokalregierung und der indischen
Volkspartei BJP, deren Mitglieder nationalistische Hindus sind, beteiligt. Ein Grund für diese gewaltigen Ausschreitungen sind die große Armut und der seit Jahren geschürte Hass auf Andersgläubige. Viele der 35 Millionen
Einwohnerinnen und Einwohner Orissas leben in großer
Armut. Diese sozialen Verhältnisse machen es religiösen
Hasspredigern leicht, die Frustration über die sozialen
Ungerechtigkeiten auf andere zu lenken.
Im Bundesstaat Karnataka hat die regierende BJP
kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das den Religionswechsel weg vom Hinduismus verhindern soll. Dieses
Gesetz stellt „unredliche Bekehrung“ unter Strafe und
legt fest, dass jeder Übertritt zum Christentum den Behörden gemeldet werden muss. Mit der toleranten indischen Verfassung ist dieses Gesetz eigentlich nicht vereinbar. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie
solche Diskriminierungen, ganz gleich, ob sie Muslime,
Christen oder andere Religionsgemeinschaften betreffen,
in ihren Gesprächen mit Indien deutlich verurteilt.
({2})
Verehrte Damen und Herren, die Regierung in Orissa
hat auf die Armut mit einer zerstörerischen Industrialisierung reagiert. Durch die Ansiedlung eines Stahlwerks
mit 4 Milliarden Euro Umsatz wurde eine fundamentale
Veränderung der betroffenen Region eingeleitet. Das
Stahlwerk verbraucht riesige Wassermengen und zerstört
die Lebensgrundlage von vielen Bäuerinnen und Bauern.
Dadurch wird die Wut vieler Betroffener noch mehr gesteigert.
Es gibt in vielen Ländern ähnliche Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Religionen. Ich habe Orissa als Beispiel gewählt, weil hier exemplarisch der Zusammenhang zwischen Armut und
religiösem Fanatismus aufgezeigt wird. Wenn durch das
geplante Freihandelsabkommen der EU mit Indien
viele Millionen armer Bäuerinnen und Bauern ihre Existenzgrundlage verlieren, weil billige subventionierte Lebensmittel aus der EU den indischen Markt zerstören,
befürchte ich, dass die Hassprediger noch mehr Zulauf
und Gehör finden könnten als bisher. Deswegen müssen
wir auch durch eine gerechte Handelspolitik dazu beitragen, dass Armut sich nicht weiter verschärft.
Die Linke fordert von der Bundesregierung eine Menschenrechtspolitik, die sich für alle Verfolgten und Bedrohten, egal welcher Religionsgemeinschaft sie angehören, einsetzt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Regierungsfraktionen behandelt
vor allem die Verletzung der Religionsfreiheit in fernen
Ländern. Das ist aber nicht genug. Wer die Religionsfreiheit beschneidet oder missachtet, der missachtet auch
Europa; denn Europa ist ein politisches Projekt der bürgerlichen Freiheiten einschließlich der Religionsfreiheit
und gerade der Religionsfreiheit. Diese grundlegenden
Freiheitsrechte sind im Grad ihrer Durchsetzung und in
der Entwicklung ihres Instrumentariums ein Markenzeichen Europas und nicht nur, Herr Bundesaußenminister,
Deutschlands.
({0})
Wenn ich mich in Europa umsehe, dann sehe ich aber
Debatten, die an diesem Fundament des europäischen
Selbstverständnisses rütteln. Die Mehrheit der Schweizer ist gegen Minarette. Italienische und spanische Kommunen stellen die Vollverschleierung der Frau unter
Strafe. In Belgien und Frankreich strebt man ein Verbot
von Burka und Niqab an. Über ein Verbot der Burka
wurde erst vorgestern wieder in der französischen Nationalversammlung beraten. Immer haben diese Debatten
eine deutlich fremden- und freiheitsfeindliche, eine nationalistische und vor allem antieuropäische Konnotation.
({1})
Darauf müssen wir achten; denn das sind Diskussionen,
die auch zu uns nach Deutschland kommen werden, und
dabei geht es um den Kern unserer Freiheitsrechte, der
Freiheitsrechte von Deutschland und von Europa.
Den freiheitsfeindlichen und reaktionären Tendenzen
müssen wir eine sachliche Erwägung dessen entgegensetzen, was Menschenrechte und Freiheiten sind und wo
sie durch Menschenrechte und Freiheiten anderer begrenzt werden. Sie dürfen nur dann begrenzt werden,
wenn sie Freiheiten und Menschenrechten anderer entgegenstehen.
Europa steht dafür, dass das einzelne, schwache Individuum vor Begehrlichkeiten von starken, überindividuellen Institutionen geschützt wird, auch vor Staaten oder
Schulen, selbst vor Religionsgemeinschaften, egal wie
hoheitlich, traditionsreich oder hochwürdig sie daherkommen mögen. Wenn wir Abstriche am Schutz dieser
Menschenrechte zulassen, dann gefährden wir das politische Projekt Europa.
({2})
Deshalb sollten wir uns davor hüten, nicht Stellung zu
beziehen oder wegzuschauen, wenn wir dergleichen sehen können.
Leute wie Sarkozy oder Wilders sagen es nicht so
deutlich, aber im Hintergrund der Debatten um Burka
und Minarette steht immer noch die Vorstellung von einem christlichen Abendland. Sie sagen in etwa: Europa
ist da, wo die Burka nicht ist, und dass manche Religionen mit unseren Werten weniger zusammenpassen als
andere. Europa ist aber mehr als das christliche Abendland. Europa ist nicht das Projekt einer Religion, sondern
das von vielen Gläubigen und Ungläubigen, Religionen
und Religionsgemeinschaften sowie Areligiösen.
({3})
Noch ist die Religionsfreiheit in Europa besser umgesetzt als in vielen anderen Teilen der Welt - und zwar
nicht nur in den Gesetzestexten, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander. Religionsfreiheit weltweit zu
schützen heißt aber auch, weltweit und in Europa einen
Fundamentalismus zu bekämpfen, der nicht nur unter
Muslimen, sondern auch unter Christen, Juden, Orthodoxen und Ungläubigen zurzeit immer stärker wird.
Religionsfreiheit und Liberalität sind Identitätszeichen Europas. Für viele in der Welt ist Europa gerade
wegen dieser Freiheit so attraktiv. Wenn wir auf Europa
stolz sein wollen, dann sollten wir das gerade deswegen
sein. Die Idee Europa braucht Religionsfreiheit. Wir
sollten sie mit allem Nachdruck vor jeder Relativierung
schützen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Erika Steinbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn weltweit so viel Religionsfreiheit herrschen
würde wie in der Europäischen Union, dann müssten wir
uns heute manche Gedanken nicht machen. Das muss
ich einmal deutlich feststellen.
({0})
Die Situation in Deutschland und in Europa, die
geprägt ist von Debatten über Detailfragen, wie hier Religionsfreiheit ausgestaltet werden kann, lässt sich überhaupt nicht mit der Situation von vielen religiösen Minderheiten - dazu zählen in vielen Staaten auch die
Christen -, die unter Existenzsorgen leiden, vergleichen.
Mit Blick auf die Umsetzung der Menschenrechte und
des Rechts auf Religionsfreiheit kann man sagen, dass
dazwischen wirklich Welten liegen.
({1})
Wir in Europa und insbesondere in Deutschland sind
geprägt - das hat der Kollege Singhammer vorhin zu
Recht angesprochen - von den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges. Durch diese religiöse Auseinandersetzung von Christen gegen Christen wurde die deutsche
Bevölkerung um 20 bis 40 Prozent dezimiert. Diese Erfahrung, die uns geprägt hat, hat uns zu der Überzeugung
gebracht, dass es Religionsfreiheit geben muss. Aber
durch die Jahrhunderte waren Religionskämpfe auch
immer machtpolitische Instrumente, und es waren auch
neidgesteuerte Elemente dabei. Auch das ist deutlich erkennbar.
Angesichts der historischen Entwicklung unseres
Landes durch die Jahrhunderte freuen wir uns natürlich,
dass Religionsfreiheit inzwischen ein elementares Menschenrecht ist; wir müssen dieses Recht wirklich engagiert vertreten. Dieses Recht wird nicht nur im Grundgesetz garantiert, sondern auch in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen
Pakt für bürgerliche und politische Rechte.
Aber seit vielen Jahren müssen wir mit großer Sorge
beobachten, dass Religionsfreiheit zwar in vielen Ländern auf dem Papier steht - Papier ist geduldig -, dass
aber diese Religionsfreiheit nicht umgesetzt wird.
Grundsätzlich wird sie zugesichert, aber zum Beispiel
in den muslimischen Ländern wird sie sehr häufig nur
unter dem Diktum der Scharia angewandt. In mindestens 64 Ländern der Erde - mindestens -, in denen fast
70 Prozent der Weltbevölkerung leben, ist die Religionsfreiheit sehr stark eingeschränkt oder sie existiert überhaupt nicht.
Die kleine Religionsgemeinschaft der Bahai - Herr
Beck, Sie brauchen uns nicht zu überzeugen - lebt unter
großer Bedrängnis und in existenzieller Not. Wir führen
ständig Gespräche mit ihren Vertretern in Deutschland.
Natürlich stehen wir auch an der Seite der Bahai, aber
das heißt doch nicht, dass wir nur dort den Blick hinwenden dürfen. Wir dürfen nicht verkennen, dass weltweit
vor allem Christen die am häufigsten verfolgte und unter Druck stehende religiöse Minderheit sind. Sie sind
die größte Religionsgemeinschaft weltweit, aber in den
Ländern, in denen sie verfolgt werden, sind sie in einer
Minderheitensituation.
Keine andere Religionsgemeinschaft wird intensiver
verfolgt als die christliche. Ich will nur wenige Beispiele
nennen, man könnte eine seitenlange Liste aufführen. In
Indonesien wurden in den Jahren 2000 bis 2001 rund
100 000 Christen von den Molukken vertrieben. Im indischen Bundesstaat Orissa wurden zwischen 2007 und
2009 rund 50 000 Christen vertrieben, ermordet oder
vergewaltigt. Ich freue mich sehr, dass heute Vertreter
der christlichen Minderheit hier sind. Bitte nehmen Sie
folgende Botschaft mit zu Ihren Glaubensgeschwistern:
Wir stehen an Ihrer Seite. Wir haben Sie nicht vergessen.
Wir unterstützen Sie.
({2})
Lassen Sie mich weitere Beispiele nennen: Im Irak
leiden rund 385 000 Christen unter Verfolgung. Wir
müssen feststellen: 80 Prozent aller aus religiösen Gründen verfolgten Menschen sind Christen. Man geht weltweit von mindestens 200 Millionen verfolgten Christen
aus. Das größte Ausmaß nimmt die Diskriminierung und
Unterdrückung leider in mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern an.
Selbst in der Türkei - das halte ich für besonders bedenklich -, die ihren Blick bekanntermaßen in Richtung
Europa gelenkt hat, leben Christen nicht ungefährdet.
Die Religionsfreiheit steht im Grunde genommen nur
auf dem Papier. Der Bau von Kirchen ist nicht möglich,
theoretisch wohl, aber in der Praxis lässt es sich fast
nicht umsetzen. Christliche Geistliche schweben in Lebensgefahr, etliche sind schon umgebracht worden. Mission, ein Teil der christlichen Religion, ist unmöglich.
Predigten dürfen nur an bestimmten Tagen abgehalten
werden. Eine Zahl spricht Bände: Vor 60 Jahren betrug
der Anteil der Christen in der Türkei 20 Prozent. Derzeit
beträgt der Anteil an Christen in der Türkei nur noch
0,15 Prozent. Diese wenigen werden trotz der Beitrittsverhandlungen gezielt unterschwellig unterdrückt. In
Ankara hören Sie nur Stimmen der Unterstützung und
des Verständnisses, aber vor Ort sieht die Welt völlig anders aus.
({3})
Erst kürzlich hat mir ein Pastor aus Izmir, dessen Namen ich nicht nennen will, von seinen Ängsten und von
seiner Drangsal berichtet. Diese ungute Entwicklung
muss uns alle hier im Hause zutiefst beunruhigen. Nicht
nur in Deutschland, sondern auch weltweit brauchen wir
ein friedliches Miteinander der Religionen. Herr Kollege
Koenigs, Sie haben ausgeführt, dass es eigentlich kein
christliches Abendland gibt. Ich sage Ihnen: Wir leben
auf dem Fundament eines christlich geprägten Abendlandes, und das lasse ich mir auch nicht ausreden.
({4})
Als Christin füge ich auch hinzu: Selbstverständlich
stehe ich solidarisch an der Seite anderer Christen. Herr
Beck, Sie wissen doch selber, wo Sie solidarisch stehen.
Ich als Christin stehe solidarisch an der Seite verfolgter
Christen auf dieser Welt.
({5})
- Nein, nicht nur, das habe ich eben deutlich gemacht.
({6})
Missverstehen Sie die Dinge doch nicht so, wie Sie es
wollen.
Ich glaube, es war gut und richtig, dass Deutschland
seinerzeit verfolgte christliche Iraker aus Syrien und Jordanien aufgenommen hat. Es ist gut, dass wir uns im
Deutschen Bundestag in einer Kernzeitdebatte dafür aussprechen, dass kein Mensch auf diesem Erdball wegen
der Ausübung seiner Religion und seiner Religionszugehörigkeit verfolgt wird.
Herr Außenminister, ich bedanke mich bei der Bundesregierung dafür, dass Sie bei Ihren Gesprächen mit
Ihren Auslandskontakten immer wieder darauf hinweisen, dass die Religionsfreiheit für uns ein hohes Gut ist
und dass wir von unseren Gesprächspartnern durchaus
erwarten, dass sie das auch ernst nehmen.
Ich bedanke mich.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
Beck das Wort.
({0})
Ich will es ganz kurz machen. Das ist keine persönliche Bemerkung, Herr Kauder, sondern eine Kurzintervention. Eigentlich wollte ich eine Zwischenfrage an
Frau Steinbach stellen.
Von Christ zu Christin: Sehen wir uns nur an der Seite
anderer Christen, oder sehen wir uns an der Seite von
Verfolgten? Das halte ich für die christliche Haltung.
({0})
Können wir uns gemeinsam darauf verständigen, dass
wir das Aggiornamento des II. Vatikanums zugrunde legen, obwohl Sie keine Katholikin sind? Wir können
Gott, den Vater aller Menschen, nicht anrufen, wenn wir
irgendwelchen Menschen, die nach dem Ebenbild Gottes
geschaffen sind, die brüderliche Haltung verwehren. Das
ist vielleicht eine gute gemeinsame Grundlage. Da geht
es nicht um Christen oder Nichtchristen, sondern um
Menschen.
({1})
Herr Kollege Beck, wer durch des Argwohns Brille
schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut.
({0})
Siegmund Ehrmann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon mehrfach angesprochen worden: Europa und Deutschland sind durch
fürchterliche Epochen gegangen. Das, was wir als unteilbare Menschenrechte verstehen, ist auch in unserem
Land nicht vom Himmel gefallen.
Die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind Rechte des
Einzelnen. Wir messen ihnen in unserer Verfassung den
höchsten Rang zu. Ob Christ, Jude, Muslim, Buddhist,
Hindu oder Mitglied einer anderen Glaubensgemeinschaft, alle haben das Recht, ihren Glauben zu leben, zu
predigen, nach außen zu tragen. Das zeigt sich zum Beispiel an den Moscheen und Gotteshäusern, im Tragen
des Kreuzes oder im Verzehr koscheren Essens.
Doch nicht nur Art. 4 des Grundgesetzes schützt die
Mitglieder von Glaubens- und Religionsgemeinschaften.
Das Grundgesetz gibt uns außerdem auf, dafür Sorge zu
tragen, dass keiner aufgrund seines Glaubens benachteiligt wird. Gläubige, die offen zu ihrer Religion stehen,
müssen nicht fürchten, deswegen diskriminiert zu werden. Religionsfreiheit schließt allerdings auch ein, sich
nicht religiös zu bekennen.
Das ist der Verfassungsrahmen in unserem Land. Die
Realität zeigt jedoch, dass es auch hier immer wieder zu
Konflikten kommt, bei denen die Religionsfreiheit auf
dem Prüfstand steht. Ich erinnere an die Debatten über
die Ladenschlusszeiten, die Kopftücher oder die Moscheebauten. Die Bedeutung der werteprägenden Kraft
von Religion und Glauben für das soziale Miteinander
hebt Böckenförde in der oftmals zitierten Aussage hervor:
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.
Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit
willen, eingegangen ist.
Diese Voraussetzungen liegen eben auch in einer
Werteorientierung, die von Religion und Glauben geprägt sind. Unser demokratisches Gemeinwesen nimmt
Religions- und Glaubensgemeinschaften nicht etwa billigend in Kauf. Sie sind vielmehr eine Voraussetzung für
das Zusammenleben. So weit der Blick auf unser Land.
Die Topografie der Verfolgung religiöser Minderheiten ist hier an vielen Beispielen aus der Welt konkretisiert worden. Ich möchte zwei Beispiele anfügen:
Kürzlich bin ich darauf aufmerksam gemacht worden,
dass insbesondere in Belarus aufgrund der Sonderstellung der russisch-orthodoxen Kirchen andere Religionsgemeinschaften durch eine repressive Politik und entsprechende Maßnahmen kriminalisiert und in die
Defensive getrieben werden.
Ein weiteres Beispiel bietet auf dem afrikanischen
Kontinent Eritrea. Hier sind lediglich vier Konfessionen
erlaubt. Alle anderen Religionen werden automatisch
kriminalisiert. Das belegen die Zahlen der Inhaftierungen, welche die Sicherheitsdienste von Gläubigen anderer Religionsgemeinschaften vornehmen.
Die Nichteinhaltung der Glaubens- und Religionsfreiheit ist - ich habe es eingangs deutlich gemacht - nicht
nur ein außereuropäisches Problem. Das Minarettverbot
in der Schweiz ist angesprochen worden. Ich beobachte
das auch in unserer Region: Wenn es um den Bau von
Moscheen und Minaretten geht, ist das nicht ganz so
stressfrei, wie es hier in der Debatte angedeutet wird.
({0})
Da werden - das ist rechtsstaatlich nicht zu beanstanden - die Instrumente des Bau- und Planungsrechts benutzt. Gleichwohl gibt es tiefe Nachbarschaftskonflikte,
hinter denen sich auch andere Motive verbergen. Auch
das, denke ich, muss benannt werden, wenn wir uns mit
diesen grundlegenden Fragen auseinandersetzen.
({1})
Noch etwas möchte ich ausdrücklich ansprechen: Natürlich ist die Religionsfreiheit im positiven Sinne ein
kostbares Gut. Aber dazu gehört auch die Freiheit, die
Religion zu wechseln sowie keiner anzugehören. Es ist
damit aber auch die Freiheit verbunden, sich kritisch zu
besonderen religiösen Auffassungen zu äußern; denn
nicht nur Gläubige werden in manchen Ländern erpresst,
belästigt und bedroht. Gleiches gilt für Atheisten und
Kritiker. Es gibt Länder, in denen nicht nur Andersgläubige, sondern eben auch Kritiker und Atheisten bedroht
sind. Da wird das Spannungsverhältnis zwischen positiver Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit deutlich.
Wir werden uns - das sage ich abschließend - in den
Ausschüssen mit den Anträgen auseinandersetzen.
Meine Fraktion wird sich mit einem eigenen Antrag an
dieser Debatte beteiligen. Ich möchte an einen Gedanken
erinnern, den Hans Küng in seinen Ausdeutungen des
Weltethos formuliert hat: Was sind die Bedingungen für
den Frieden? Kurz zusammengefasst stellt er fest: Die
Bedingungen für den Frieden setzen einen Dialog der
Kulturen voraus. Ein Dialog der Kulturen ist nur möglich, wenn es auch zu einem Dialog der Religionen
kommt. Dieser Dialog - wie auch der Dialog der Religionen - setzt den Respekt vor den Überzeugungen der
anderen voraus.
Herzlichen Dank.
({2})
Dr. Stefan Ruppert erhält das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir an so prominenter Stelle
ein so wichtiges Thema wie die Religionsfreiheit, die
wir weltweit schützen wollen, behandeln. Ich glaube, der
Erfolg deutscher Außenpolitik wird davon abhängen,
dass wir dieses Thema sehr ernst nehmen. Die Geschichte von der linearen Säkularisierung in Deutschland und weltweit - dabei geht es um den Bedeutungsverlust der Religionen -, die bisweilen erzählt wird, ist
meiner Meinung nach so nicht richtig.
Immer noch - als protestantischer Christ sage ich:
zum Glück - bewegt Religion viele Menschen. Religion
ist in der Lage, Emotionalität und Verhalten entscheidend zu beeinflussen. Deswegen ist die Globalisierung
kein rein ökonomischer Prozess, sondern der Erfolg der
Globalisierung wird auch davon abhängen, welchen
Respekt wir Religionen bzw. religiösen Überzeugungen
und dem religiösen Miteinander weltweit zollen.
Meine Oma, die ich sehr schätze, sagt häufig - - Vielleicht sieht sie mich an dieser Stelle.
({0})
Ich will sie jetzt nicht grüßen. Aber sie sagt häufig -
Aber Sie hätten doch sicher keine Einwände, wenn
ich im Namen des Deutschen Bundestages herzliche
Grüße übermitteln würde.
({0})
Ich danke dem Präsidenten. - Meine Großmutter - sie
ist eine tolerante und weltoffene Frau, deshalb meint sie
es eigentlich nicht so, wie sie es sagt - sagt als überzeugte Lutheranerin aus Frankfurt: Der guckt schon so
katholisch. An diesem Sprachgebrauch sieht man, dass
das Gegeneinander von Konfessionen bisweilen bis weit
in das letzte Jahrhundert hinein sehr wirksam war. Wir
müssen den religiösen Dialog, den Respekt und die Toleranz in Deutschland und weltweit pflegen. Das ist eine
Arbeit, die jeden Tag geleistet werden muss.
({0})
Ich glaube auch nicht, dass es das Gegeneinander,
das hier bisweilen im Raum stand, gibt. Es ist kein Gegensatz, auf der einen Seite auf die Situation von verfolgten Christen weltweit aufmerksam zu machen und
auf der anderen Seite religiöse Toleranz gegenüber allen
Religionen und religiöse Toleranz, auch nichts zu glauben, zu fordern. Dieser Gegensatz wurde hier bisweilen
konstruiert. Wir weisen auf die Verfolgung der Christen
hin und sagen, dass viele Hundert Millionen Menschen
weltweit bedroht sind. Wir kämpfen aber auch für Weltoffenheit und Toleranz gegenüber allen Religionen.
Ich glaube, das ist das Fundament einer guten Außenpolitik, wie diese Koalition sie prägt. Insofern sollten wir
da keinen Gegensatz konstruieren. Ich bin sehr froh über
diese Debatte am heutigen Vormittag.
Vielen Dank.
({1})
Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
ist die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende dieser Debatte brauche ich vieles von dem, das ich
hier sagen wollte, gar nicht mehr zu erwähnen, da es bereits besprochen wurde. Lassen Sie mich ganz kurz auf
einige Punkte eingehen. In einer Presseerklärung steht,
dass der Menschenrechtsbeauftragte von missio Deutschland, Dr. Oehring - er ist heute auch anwesend -, gesagt
hat, er finde es sehr gut, dass zu prominenter Zeit eine
Debatte über die Religionsfreiheit weltweit stattfindet,
bei der wahrscheinlich wortgewaltige Reden gehalten
werden. Aber was kommt danach? Den Worten müssen
Taten folgen.
Ich denke, als ein Land, in dem Religionsfreiheit besteht, haben wir den Auftrag, den Menschen in Not, und
zwar unabhängig davon, welcher Religion sie angehören, zu helfen. Diesem Auftrag sind wir auch bislang
nachgekommen. Wir haben - Kollege Strässer und auch
andere haben es vorhin angedeutet - im Jahr 1999 über
eine Große Anfrage der Union zur Religionsfreiheit, zu
den christlichen Minderheiten, zur Christenverfolgung
debattiert. Wir haben dann in der Großen Koalition einen
gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht. Nun liegt
der Antrag der christlich-liberalen Koalition vor. Mittlerweile haben wir schon einiges umgesetzt.
Wenn Sie, Herr Kollege Koenigs und Herr Beck, immer wieder auf Deutschland und Europa zurückkommen
und da die großen Probleme sehen - zum Beispiel christliche Fundamentalisten? - dann haben Sie ein etwas verwischtes Bild. Ich finde das sehr bedauerlich.
({0})
Wir leben hier auf der Basis der Werte des christlichen
Abendlandes. Ich nehme mir sehr wohl das Recht heraus, als Katholikin - gerade wurden die Protestanten
genannt - dort in der Welt, wo die Christen unterdrückt
werden, den Finger in die Wunde zu legen. Eine Religion wie zum Beispiel der Islam muss sich auch daran
messen lassen, wie sie sich da verhält, wo sie eine Minderheit ist, beispielsweise in Europa, in Deutschland,
und wie sie sich da verhält, wo sie in der Mehrheit ist;
ich denke hier zum Beispiel an die Türkei oder den Iran.
Wir haben in unserem Antrag natürlich die Bahai und
die Muslime angesprochen. Ich würde Sie bitten, dass
Sie den Antrag noch einmal lesen.
({1})
Es geht auch nicht darum, dass wir irgendeine Religion
bevorzugt herausheben oder überhaupt nicht erwähnen,
({2})
sondern es geht darum, dass wir jedem seine Religion individuell lassen, dass jeder die Möglichkeit hat, seine
Religion in der Gemeinschaft zu leben. Die Freiheit,
keine Religion zu haben, oder auch die Möglichkeit, eine
Religion zu wechseln, sind vielerorts nicht gegeben.
Denken wir an Ägypten, den Iran und viele andere mehr.
Selbstverständlich kümmern wir uns auch um all dies.
Dieses Kümmern möchte ich ansprechen. Welche Möglichkeiten haben wir, unseren bedrängten christlichen
Glaubensbrüdern und -schwestern, aber auch anderen in
vielen Regionen dieser Welt zu helfen? Orissa in Indien
wurde angesprochen. Wir haben Gäste aus Orissa, und
der Kollege Kober und ich waren vor Ort. Dort sind die
Christen massiv verfolgt worden; auch heute noch besteht eine ganz furchtbare Situation. Der Bundesstaat
kommt nicht in die Gänge, um die schlimmen Verbrechen aufzuarbeiten, die 2008 geschehen sind. Heute sind
noch viele unter prekären Verhältnissen auf der Flucht.
Wir haben mit den Christen dort gesprochen. Sie waren
so froh, dass es eine Solidarität im Glauben gibt, dass
wir aus dem fernen Europa gekommen sind, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern und Solidarität zu zeigen. Es
ist den Menschen sehr viel wert, Öffentlichkeit zu schaffen. Wir haben es versprochen und dann im Ausschuss
beraten. Wir haben mit den Botschaftern gesprochen.
Ich möchte aber auch erwähnen, dass wir in Gujarat
waren. Das liegt in Westindien und ist einer der reichsten
Bundesstaaten Indiens. Dort wurden 2 000 Muslime umgebracht. Die dortige Regierung war in dieses Massaker
involviert. Auch das muss aufgearbeitet werden.
Wir kümmern uns im Besonderen um die Christen das stimmt. Ich denke an die Aktion damals, als wir den
Flüchtlingen aus dem Irak helfen wollten, die zum größten Teil nach Syrien oder Jordanien geflüchtet waren und
meist keine Möglichkeit hatten, in den Irak zurückzukehren. Diese Flüchtlinge sagten: Wir rennen um unser
Leben. Davon hat uns etwa eine junge Mutter berichtet,
die sagte: Wir möchten irgendwohin, nur nicht zurück in
den Irak, weil wir nicht wissen, ob wir da am Leben bleiben werden.
Wir richten hier einen Fokus auf die Christen, weil Angehörige anderer Religionen, die verfolgt werden - auch
Muslime -, Rückzugsmöglichkeiten im arabischen Raum
haben, die Christen aber nicht. Deshalb galt unser Augenmerk auch im Zusammenhang mit dem Irak den
christlichen Religionsgemeinschaften. Bis zum heutigen
Tage konnten 1 569 Angehörige religiöser Minderheiten
von den 2 500 irakischen Flüchtlingen nach Deutschland
kommen. Ich denke, das ist eine gute Sache; hier war
Deutschland Vorbild für Europa, das insgesamt 10 000
Flüchtlinge aufnehmen wird. Diesen Weg haben wir gemeinsam beschritten; wir sollten ihn weitergehen.
({3})
Es gibt viele Bereiche, in denen wir weiter tätig werden können, über die wir mit den Regierungen sprechen
müssen. Unser Außenminister hat beim Menschenrechtsrat in Genf eine Rede gehalten. Wir waren kurz danach auch beim Menschenrechtsrat und wurden auf
seine Rede angesprochen: Die wertegeleitete Außenpolitik und das Achten auf die Religionsfreiheit waren in den
Gesprächen ein wichtiger Baustein. Deutschland hat
eine führende Stellung in der Welt. Wenn es darum geht,
den Finger in die Wunde zu legen, wenn Menschenrechte, insbesondere die Religionsfreiheit, verletzt werden, stellen wir die Bedingungen, die erfüllt werden
müssen.
Als Letztes möchte ich sagen, dass auch wir von der
Union konkret handeln: Wir haben in Erinnerung an den
ersten christlichen Märtyrer den Stephanus-Kreis gegründet und treffen uns, um anhand verschiedener Länder wie Indien und der Türkei über die Religionsfreiheit
weltweit zu sprechen. Dabei wollen wir - auch finanziell - helfen und speziell die Menschen unterstützen,
die in Not sind, die in Haft sind oder einem anderen
Drangsal ausgesetzt sind. Wir haben für die Menschen in
Orissa Geld von Misereor beschafft, damit sie aus ihren
alten Zelten herauskommen. Über 5 000 ihrer Häuser
wurden zerstört. Wir haben dafür gesorgt, dass Zelte gekauft werden, bevor der Monsun kommt. Danke an
Misereor! Das ist ein kleiner Tropfen auf den heißen
Stein; aber viele kleine Tropfen helfen sicherlich auch.
Ich möchte Sie alle bitten, weiter zu helfen. Wenn
Probleme bestehen, müssen wir sie ansprechen und Öffentlichkeit schaffen. Viele wissen gar nicht, wie
schlimm die Situation in Indien ist. Wir müssen das ansprechen, damit zum Beispiel Indien beim Thema Menschenrechte, insbesondere bei der Religionsfreiheit, einen besseren Weg beschreitet.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2334 und 17/2424 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und
4 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Ingrid Arndt-Brauer, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Brennelementesteuer - Windfall Profits der
Atomwirtschaft abschöpfen
- Drucksache 17/2410 5602
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Lisa Paus, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Atomkosten anlasten - Brennelementesteuer
jetzt einführen
- Drucksache 17/2425 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2009 hat der damalige Bundesumweltminister
Gabriel das erste Mal von einer Brennelementesteuer gesprochen, in dem Ansinnen, auch die Energieversorger,
die Atommeiler betreiben, an den Kosten, die die Atomenergie verursacht, zu beteiligen. Gestern ist das Wort
Brennelementesteuer im schwarz-gelben Kabinett angekommen.
({0})
Die Steuer ist im Rahmen des Sparpaketes als Erbringer
von 2,3 Milliarden Euro pro Jahr angelegt. Leider gibt es
wenig Inhaltliches zu vermelden. Ich habe das Gefühl,
dass kein Konzept hinterlegt ist. Deswegen möchten wir
mit unserem Antrag das Wort ein wenig mit Inhalt füllen. Wir wären froh und dankbar, wenn Sie zu unser aller
Nutzen die Inhalte übernehmen würden.
({1})
Im Jahre 2000 wurde der Atomausstieg vereinbart,
der im Jahr 2021 abgeschlossen sein wird. Seit 2000 hat
sich die Energieversorgung in unserem Land allerdings
gravierend geändert. Die Kosten für die sichere Lagerung radioaktiver Abfälle und die Sanierungskosten haben sich seither vervielfacht. Wir alle wissen nicht, ob
die Rückstellungen, die von den Atomkraftwerksbetreibern gebildet werden, ausreichen werden. Kosten, die
nicht von den Verursachern getragen werden, muss der
Steuerzahler tragen. Das Bundesumweltministerium
rechnet alleine für die Sanierung von Asse II und Morsleben mit Kosten in Höhe von 7,7 Milliarden Euro.
Die Atomenergiewirtschaft ist begünstigt, da sie keine
CO2-Zertifikate kaufen muss. Da sie keine CO2-Schadstoffe ausstößt - in der Wertschöpfungskette schon, aber
nicht bei der Energieerzeugung -, ist die Atomenergie gegenüber fossilen Energieträgern begünstigt. Die Emissionszertifikate, die kostenlos ausgegeben wurden, wurden
eingepreist. Die Risiken der Atomenergie sind nirgendwo
eingepreist worden. Sie entstehen erst, wenn das Risiko
entstanden ist.
Die daraus entstehenden Mitnahmegewinne der Atomenergie betragen laut Öko-Institut 3,4 Milliarden Euro.
Jeder abgeschriebene Meiler produziert, wenn er läuft,
1 Million Euro Gewinn am Tag.
({2})
- Ja, mindestens.
Nach einer Studie des Forums Ökologisch-Soziale
Marktwirtschaft beliefen sich die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen für die Atomenergie im Zeitraum von
1950 bis 2008 auf 125 Milliarden Euro. Eine Steuer, um
diese Gewinne abzuschöpfen, ist mehr als berechtigt.
({3})
Eine derartige Steuer wird keine Auswirkungen auf
den Strompreis haben. Denn er entsteht an der Strombörse und richtet sich nach den Grenzkosten des letzten
fossilen Kraftwerkes. Die Atomenergie ist für den
Grundlaststrom zuständig. Das heißt, sie ist davon nicht
betroffen.
Wir haben im Hinblick auf die Höhe der von uns geplanten Steuer aus den Zertifikatspreisen eine Preisspanne errechnet. Sie soll 2,5 Cent pro Kilowattstunde
betragen. Wir brauchen allerdings noch 0,6 Cent pro Kilowattstunde für die Altlasten, die wir auch finanzieren
müssen.
Die Brennelementesteuer ist eine Steuer auf den Verbrauch von Brennelementen. Sie ist europarechtskonform.
({4})
In Schweden gibt es sie in ähnlicher Form seit den 80erJahren. Daran hat sich nie jemand gestört. Es hat auch
nie jemand ihre Abschaffung verlangt.
Die Brennelementesteuer ist unabhängig von einer
Laufzeitverlängerung - im Gegenteil. Sie wurde im Hinblick auf Laufzeiten bis 2021 berechnet. Ich denke, länger müssen die Laufzeiten der Atomkraftwerke in diesem Land auch nicht sein. Wir dürfen diesem Land
durch alte Reaktoren nicht noch mehr Risiken zumuten.
({5})
Das würde in der Konsequenz übrigens eine beträchtliche Erhöhung der Steuer nach sich ziehen.
Wir fordern die Bundesregierung zu Folgendem auf:
Erstens. An den Laufzeiten, die im Jahr 2000 vereinbart wurden, muss festgehalten werden.
Zweitens. Eine Verbrauchsteuer auf die Spaltung von
Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von
Elektrizität, also eine Brennelementesteuer, muss eingeführt werden.
Drittens. Der Tarif der Brennelementesteuer wird anfänglich, umgerechnet auf die erzeugte Elektrizitätsmenge, 3,1 Cent je Kilowattstunde betragen.
Viertens. Alle zwei Jahre fordern wir von der Bundesregierung einen Bericht über die Entwicklung der Kosten der Kernenergie bzw. über die Auswirkungen, die die
Erhebung der Brennelementesteuer auf die Ertragsteuereinnahmen der Gebietskörperschaften hat. Es muss natürlich einen fairen Bund-Länder-Ausgleich geben. Es
kann nicht sein, dass die Gewinne der Atommeiler durch
diese Steuer verringert werden, wodurch in den Ländern
weniger Steuereinnahmen anfallen würden. Hier muss
es, wie gesagt, einen Ausgleich geben. Das ist allerdings
zu machen.
Fünftens bitten wir die Bundesregierung, auf europäischer Ebene einen Anstoß zu geben und auch die Betreiber von Atomkraftwerken im restlichen Europa zur
Finanzierung der Kosten der Atomenergienutzung heranzuziehen, damit wir bei der Energiebesteuerung in
Europa eine Harmonisierung hinbekommen.
Ich möchte Sie ausdrücklich bitten, dieses Vorhaben
zu unterstützen, diese Steuer einzuführen und im Sinne
der zukünftigen Generationen eine verantwortungsvolle
Politik zu machen. Sie sprechen ja immer von nachhaltigem Wachstum. Ich sage Ihnen: Wachsende Nachhaltigkeit sollte die Maxime sein. Dazu möchte ich Sie auffordern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Dr. Frank Steffel ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie haben
völlig recht: Die Bundesregierung hat gestern beschlossen, dass ab dem 1. Januar 2011 für die Betreiber von
Kernkraftwerken in Deutschland eine Steuer auf den Verbrauch von Brennstäben eingeführt wird. Diese Brennelementesteuer bringt dem Bund jährlich 2,3 Milliarden
Euro Steuereinnahmen und wird für den Schuldenabbau
im Rahmen des Sparpakets genutzt. Wir halten diese
Steuer aus ökologischen und ökonomischen Gründen für
richtig und zielführend.
({0})
- Ich glaube, Sie sollten sich mit Ihren Zwischenrufen
sehr zurückhalten, denn Folgendes ist schon sehr befremdlich: Nachdem gestern die Bundesregierung diesen
wirklich wichtigen Beschluss getroffen hat, diskutieren
wir heute Ihre Anträge dazu im Parlament, obwohl Sie
dafür elf Jahre Zeit hatten.
({1})
- Ihnen steckt die Niederlage beim Fußball noch in den
Knochen. Bleiben Sie gelassen! Lassen Sie uns das
Thema sehr präzise diskutieren.
Sie hatten unter Rot-Grün sieben Jahre dazu Zeit.
Bundesumweltminister Trittin hatte erst mit Herrn
Lafontaine und dann mit Herrn Eichel als Finanzminister
Zeit, das Thema anzustoßen, möglicherweise sogar im
Rahmen der Laufzeitverkürzung festzulegen, die Sie
2000 beschlossen haben. Dann hatten Sie in der Großen
Koalition beide Ressorts. Herr Gabriel, Ihr Parteivorsitzender, der jetzt schlaue Vorschläge macht, hatte mit Finanzminister Steinbrück vier Jahre Zeit, das Thema zu
diskutieren und voranzubringen. Sie haben es nicht getan. Heute machen Sie schlaue Vorschläge. Das geht frei
nach Goethe: Man spürt die Absicht. Man ist verstimmt.
({2})
Wir halten es für richtig, diese Brennelementesteuer
einzuführen, denn die Kernenergie ist eben nicht vom
CO2-Emissionshandel betroffen und somit gegenüber anderen Energieträgern bevorzugt. Wir halten das auch für
richtig, weil gerade die Kosten für Endlagerung und für
den Rückbau der Kernkraftwerke im Wesentlichen vom
Steuerzahler in Deutschland getragen werden. Wir halten
das für richtig, weil der Strommarkt mehr Chancengleichheit braucht und gerade die großen vier nationalen
Stromversorger hier einen Wettbewerbsvorteil gegenüber
vielen kleinen und mittelständischen Stromanbietern haben. Auch hier wollen wir Chancengerechtigkeit und
mehr Wettbewerb.
Wir halten es für richtig, weil der Begriff „Steuer“ irreführend ist. Es handelt sich im Wesentlichen nämlich
nicht um eine Steuer, sondern um einen Subventionsabbau. Auch das ist Teil des Sparpakets. Deshalb sagen
wir: Es werden die wirtschaftlichen Vorteile der Kernenergie reduziert und zusätzliche Anreize für regenerative Energien geschaffen. Das ist in den kommenden
Jahren der richtige Weg.
({3})
Die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke hängt
natürlich politisch mit diesem Thema zusammen; das
wissen wir alle. Aber formal sagen wir sehr klar, dass die
Einführung der Brennelementesteuer im Rahmen des
Sparpakets damit nicht direkt im Zusammenhang steht.
Die Bundesregierung wird zu dem Gesamtthema im
Herbst ein Energiekonzept vorlegen. Dabei geht es im
Wesentlichen um das Ziel, unseren Energiebedarf aus regenerativen Energien zu decken, und um die Frage, wie
lange wir die Kernkraft als Brückentechnologie noch benötigen, nicht mehr und nicht weniger.
Das Ziel ist es, den Energiebedarf der Deutschen so
schnell wie möglich aus regenerativen Energien zu akzeptablen Preisen zu decken. Wir werden mit einem geschlossenen Energiekonzept das Zeitalter der regenerativen Energien vorbereiten. Deshalb freut es uns, dass
uns die Opposition, sowohl die Grünen als auch die Sozialdemokraten, in ihren Anträgen grundsätzlich zustimmt und wir die Details in den Beratungen im Herbst
sicherlich gemeinsam erarbeiten werden.
Die heutige Debatte zeigt aber auch etwas anderes. Die
heutige Debatte zeigt, dass die bürgerlich-liberale Bundesregierung mit dem Sparpaket die richtigen Schwerpunkte setzt. Wir werden innerhalb von nur zwei Jahren
die Ausgaben von 319 Milliarden Euro auf 301 Milliarden Euro senken und die Vorgaben der Schuldenbremse
des Grundgesetzes einhalten. Das ist wirklich eine große
politische Leistung in schwierigen Zeiten.
({4})
Wir werden - auch dazu bekennen wir uns - Subventionen abbauen. So wie wir das beim heutigen Thema
tun, werden wir das auch in anderen Bereichen tun.
Gleichzeitig werden wir den Staat durch Stellenabbau
dauerhaft effizienter und schlanker machen. Auch das ist
die erklärte Politik und richtige Prioritätensetzung dieser
bürgerlich-liberalen Bundesregierung.
Wir werden keine Steuern erhöhen, während sich einige jeden Tag mit immer wieder neuen Vorschlägen
selbst übertreffen. Wir sind der Auffassung, dass sich
Arbeit und Leistungsbereitschaft gerade für die Bezieher
kleiner und mittlerer Einkommen in Deutschland weiterhin lohnen müssen.
({5})
Wir werden das alles tun und die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten, und trotzdem werden
wir in den kommenden Jahren 12 Milliarden Euro mehr
für Bildung und Forschung ausgeben. Auch das ist eine
richtige Schwerpunktsetzung für die Zukunft unseres
Landes und insbesondere für die Zukunft unserer Kinder.
({6})
Insofern zeigen die heutige Debatte und die Debatten der
letzten Wochen, dass wir mit dem Sparpaket der Bundesregierung zum einen verantwortungsvoll mit der Zukunft
unserer Kinder und zum anderen verantwortungsvoll mit
unseren Ressourcen umgehen.
Mein Eindruck ist, dass wir uns in der heutigen Debatte in sehr vielen Punkten einig sind. Einigen Details
in Ihren Anträgen können wir nicht zustimmen, weil wir
sie auch für übereilt halten, beispielsweise die Fixierung
auf einen konkreten Centbetrag zum gegenwärtigen
Zeitpunkt, da die Ausarbeitung in den zuständigen
Ministerien noch vor uns liegt.
({7})
- Es ist ja gut, dass Sie immer dazwischenrufen, aber
lassen Sie mich meine Gedanken vortragen. Sie haben
heute viel Redezeit beantragt: Nutzen Sie sie!
Wir sind uns darin einig, dass die direkte Bevorzugung der Kernenergiewirtschaft beendet werden sollte
und die beantragte Brennelementesteuer ein richtiger
und wichtiger Weg dafür ist.
({8})
Wir sind uns einig, dass die Brennelementesteuer zielgerichtet und ein wirksames Instrument ist, und wir sind
uns einig, dass wir bei den Beratungen im Herbst alle
Details in Ruhe besprechen sollten. Denn es geht um einen wichtigen Wirtschaftsbereich in Deutschland und
übrigens auch um die Frage, wie sich die Strom- und
Energiepreise in Deutschland aufgrund des internationalen Wettbewerbs in den kommenden Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden.
Insofern freuen wir uns, dass Sie uns heute mit Ihren
Anträgen die Gelegenheit geben, noch einmal auf diesen
Gesamtzusammenhang hinzuweisen. Für uns ist es wichtig, dass die Menschen in Deutschland wissen: Mit dem
Sparpaket setzen wir die richtigen Schwerpunkte für die
Zukunft. In der Energiepolitik wollen wir in ein Zeitalter
regenerativer Energien eintreten. - Wir wissen allerdings, dass die Kernenergie als Brückentechnologie in
den kommenden Jahren unverzichtbar dafür ist. Auch das
zu sagen gehört zur Wahrheit, gehört zum Wirtschaftsstandort Deutschland, und vor allen Dingen gehört es zur
Ehrlichkeit in der Politik, die ich uns allen in diesen Tagen empfehle.
Vielen Dank.
({9})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ulrich
Kelber das Wort.
({0})
Ich freue mich auf die Zwischenrufe, die ich zu hören
bekommen werde, Herr Kollege.
Herr Steffel, der Versuch der Geschichtsklitterung,
den Sie gemacht haben, kann nicht eine Stunde lang unkommentiert bleiben.
Sie haben uns als Sozialdemokraten gefragt, warum
es noch keine Brennelementesteuer gibt. Sie sind ja erst
seit Oktober letzten Jahres Kollege in diesem Haus.
Wahrscheinlich ist Ihnen deswegen entgangen, dass die
SPD in der Koalition von CDU/CSU und SPD in der
letzten Legislaturperiode den Vorschlag einer BrenneleUlrich Kelber
mentesteuer gemacht hat, den die Mitglieder Ihrer Fraktion in der Bundesregierung abgelehnt haben.
Das war der erste Teil der Antwort.
({0})
Der zweite Teil. Sie haben mich gefragt, warum in der
Zeit von Rot-Grün keine Brennelementesteuer eingeführt wurde. Die Antwort haben Sie sich eigentlich selber gegeben, ohne es zu bemerken. Sie haben gesagt, Sie
wollen, wie wir, die Zusatzgewinne der Atomwirtschaft
aus dem Emissionshandel mit einer Brennelementesteuer abschöpfen. Die rot-grüne Koalition hat bis 2005
regiert. Erst seit diesem Jahr gibt es den Emissionshandel.
Bitte lassen Sie die Geschichtsklitterung und informieren Sie sich vorher.
({1})
Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke ist
die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Durch eine leere Haushaltskasse werden manchmal
Wunder bewirkt. Es wurde anscheinend nämlich das erreicht, was die Bundesregierung und auch die vorherigen
Regierungen stets abgewiesen haben: die Einführung einer Brennelementesteuer zur Abschöpfung der Extragewinne der Atomwirtschaft aus dem Emissionshandel.
Wir, die Linke, haben das in jeder Haushaltsberatung gefordert. Das wurde aber immer abgewiesen. Jetzt liegen
entsprechende Anträge von SPD und Grünen vor, und
auch die Bundesregierung wünscht sich das. Aber lieber
jetzt als nie. Schließlich wird mit einer Brennelementesteuer ein unhaltbarer Zustand beendet, nämlich der,
dass die Atomindustrie zusätzlich subventioniert wird,
und zwar seit 2005 irrwitzigerweise durch ein vermeintlich umweltpolitisches Instrument, den Emissionshandel.
Wie funktioniert das? Wir wissen, Unternehmen erhalten CO2-Zertifikate zum großen Teil kostenlos, ein
Teil wird gehandelt. Durch den Emissionshandel steigt
der Großhandelspreis an der Strombörse; denn die Betreiber von Kohlekraftwerken schlagen den Handelspreis
der CO2-Zertifikate auf den Strompreis auf. Dass sie die
Zertifikate bislang geschenkt bekommen haben und so
Milliarden an Extraprofiten einfahren, halte ich für einen
großen Skandal.
({0})
Wenigstens ab 2013 müssen die Kohlekraftwerke die
Emissionsrechte ersteigern. Dann endlich könnte der
Emissionshandel von einer Gelddruckmaschine zu einem Klimaschutzinstrument werden.
Der zweite Skandal ist der, um den es sich hier heute
dreht: Der höhere Handelspreis für Strom nützt auch der
Atomindustrie, die mit dem ganzen CO2-Emissionshandel eigentlich nichts zu tun hat. Denn der Handelspreis
bildet sich an der Strombörse nach den Grenzkosten des
jeweils teuersten Kraftwerks, das noch zur Versorgung
benötigt wird, und dies ist meist ein Kohlekraftwerk, das
auch den CO2-Preis kalkulieren muss. AKWs liegen mit
ihren laufenden Kosten stets darunter, verkaufen aber
zum Kohlekraftwerkspreis. Die AKW-Betreiber streichen also zusätzliche Profite ein. Diese Windfall-Profits werden die Atomkonzerne auch noch nach 2012 kassieren - darauf haben wir immer wieder hingewiesen,
das ist aber immer abgewiegelt worden -, wenn die Kohlekraftwerke längst ihre Zertifikate ersteigern müssen.
Bisher wurde das von der Politik als verschmerzbarer
Kollateralschaden behandelt. Ich halte das für absurd;
denn es handelt sich um riesige Summen, die die Stromkonzerne starkmachen und für die die Verbraucherinnen
und Verbraucher blechen müssen.
({1})
Das Öko-Institut schätzt die leistungslosen Extraprofite
pro Jahr für die Atomsparten von RWE, Eon, Vattenfall
und EnBW auf insgesamt rund 3,4 Milliarden Euro.
Diese Summe kommt noch obendrauf auf jene 125 Milliarden Euro Finanzhilfen und Steuervergünstigungen
für die Atomabenteuer, die insgesamt von 1950 bis 2008
geflossen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke steht für
einen unverzüglichen Atomausstieg.
({2})
Bis dieser vollzogen ist, muss jedoch eine Brennelementesteuer die Extragewinne der Atomkonzerne aus dem
Emissionshandel abschöpfen. Es geht also ausdrücklich
nicht um einen Handel „Laufzeitverlängerung gegen
Brennelementesteuer“, wie es zum Beispiel Herr Kauder
gestern im Morgenmagazin zusammenbastelte.
({3})
Nein, es geht nicht um eine solche Verbindung.
Allerdings müssten auch schnellstens jene Extragewinne kassiert werden, die die Kohlekraftwerksbetreiber bis 2012 aus dem Emissionshandel ziehen. Ansonsten könnten Böswillige tatsächlich von einer
Bevorteilung der Kohle gegenüber der Atomkraft sprechen. Unbeachtet bleibt ja weiterhin, dass bis 2012 auch
die Kohlekraftwerksbetreiber Windfall-Profits haben;
denn sie bekommen bis dahin ihre Zertifikate geschenkt.
Das spült ihnen - je nach Zertifikatspreis - 2 bis 3 Milliarden Euro pro Jahr in die Kassen. Diesen gewaltigen
Brocken könnte der Bundesfinanzminister auch gerne
einsammeln. Dann bräuchte er nicht an die Sozialleistungen heranzugehen. Aber dafür fehlt offensichtlich der
politische Wille.
({4})
Zurück zur Brennelementesteuer. Was die Höhe angeht, so sollten zusätzlich zu den Emissionshandelsge5606
winnen auch jene Kosten berücksichtigt werden, die für
die Altlastensanierung auflaufen. Die Bruchbuden
Asse und Morsleben sind zu einem gehörigen Teil durch
westdeutsche AKWs bestückt worden.
({5})
Dafür haben sie nur Peanuts bezahlt. Darum ist jetzt ein
Nachschlag fällig.
Das Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft,
FÖS, hat zur Höhe der Steuer Vorschläge gemacht. Ich
denke, ein Steuersatz, der am Ende rund 3,5 Cent je Kilowattstunde Atomstrom entspricht, wäre durchaus angemessen. Das ergäbe zusätzliche Haushaltseinnahmen
von knapp 5 Milliarden Euro jährlich,
({6})
also mehr als das Doppelte dessen, was dem Finanzminister vorschwebt.
Atomkonzerne saftig besteuern statt Sozialleistungen
kürzen - über den tollen Sparhaushalt wurde bereits diskutiert -: Stattdessen geht es immer nur um eine Umverteilung von unten nach oben. Es werden die Ärmsten
sein, die durch diesen Sparhaushalt bluten müssen, statt
diejenigen, die die Profite einfahren.
({7})
Atomkonzerne saftig besteuern statt Sozialleistungen
kürzen - das wäre zukunftsfähige Finanzpolitik.
({8})
Es wird immer gesagt, das gehe nicht, das sei nicht EUkompatibel. Finnland und Schweden machen uns aber
vor, dass eine vergleichbare Steuer möglich ist.
({9})
Die Argumente, das alles sei nach EU-Recht nicht möglich, sind also vorgeschoben. Ich meine, Herr Schäuble
sollte jetzt handeln.
Ich komme zum Schluss. Wir haben gestern im Umweltausschuss sehr intensiv darüber diskutiert. An der
Sitzung hat auch ein Vorstandsmitglied von RWE teilgenommen. Nach dem, was er sagt, könnte man meinen,
sie wären sehr arm: Wenn sie eine Brennelementesteuer
zahlen müssten, dann seien sie nicht mehr börsenfähig.
Dabei werden enorme Gewinne erzielt, wie wir in den
Börsenblättern lesen können.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, reden immer davon, dass der Verbraucher mehr bezahlen
muss. Wir wollen an die Gewinne dieser großen Konzerne heran. Das ist sozial, und es ist ökologisch.
({10})
Wir wollen mehr regenerative Energien. Mit der von
Ihnen beabsichtigten Laufzeitverlängerung werden Sie
den Ausbau regenerativer Energien verhindern. Sie wollen die Konzernmacht weiter stärken. Das wollen wir
nicht. Aus diesem Grunde brauchen wir diese Steuer und
eine Gewinnabschöpfung der großen Konzerne.
Danke.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was
Frau Bulling-Schröter am Ende ihrer Rede gesagt hat,
wollen wir alle: Wir wollen an die Gewinne der Atomwirtschaft heran und einen Teil davon dem Haushalt zuführen.
({0})
Wenn die Opposition ein laufendes Gesetzesvorhaben
der Bundesregierung begrüßt und sogar noch beschleunigen will, dann frage ich mich, was dahintersteckt.
Wenn SPD und Grüne die Chance auf eine zusätzliche
Einnahme wittern, dann löst das sofort den Reflex aus,
festzulegen, wofür diese zusätzlichen Mittel konkret
ausgegeben werden sollen. Sie wissen aber genauso gut
wie ich, dass Steuereinnahmen nicht per se zweckgebunden sind, sondern in den allgemeinen Haushalt fließen.
({1})
So werden der Soli nicht für den Aufbau Ost, die Ökosteuer nicht für die Umwelt und die Brennelementesteuer nicht automatisch zur Finanzierung der Folgekosten der Atomwirtschaft verwendet, sondern sie dienen
primär der Haushaltskonsolidierung.
({2})
Seit 1999 sind unter der Verantwortung von SPD-Finanzministern über 300 Milliarden Euro zusätzliche
Schulden aufgenommen worden. Die Euro-Krise hat gezeigt, welche verheerenden Auswirkungen Staatsdefizite auf die Stabilität der Währung und auf die Stabilität
ganzer Staaten haben.
({3})
Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesamtpaket zur Haushaltskonsolidierung inklusive der Brennelementesteuer in Höhe von beachtlichen 82 Milliarden
Euro bis 2014 ist das größte Sparpaket in der Geschichte
Deutschlands und bezieht alle mit ein:
({4})
den Finanzsektor, die Wirtschaft, die öffentliche Verwaltung und den Sozialbereich, und zwar ausgewogen und
maßvoll. Erstmals werden jetzt die Staatsausgaben real
gesenkt: von 320 Milliarden Euro in diesem Jahr auf
301 Milliarden innerhalb der nächsten zwei Jahre.
Unser erklärtes Ziel ist es, die Neuverschuldung zurückzuführen, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einzuhalten, die Maastricht-Kriterien wieder einzuhalten sowie dem G-20-Beschluss Rechnung zu tragen
und das Staatsdefizit zu halbieren. Dazu muss gerade
auch die Atomwirtschaft ihren Beitrag leisten, besonders
vor dem Hintergrund, dass sie in der Vergangenheit
enorme Kosten für den Bundeshaushalt verursacht hat
({5})
und auch in Zukunft verursachen wird, zum Beispiel für
die Sanierung von Asse, wie es im Koalitionsvertrag
festgelegt ist.
In Verbindung mit der geplanten Laufzeitverlängerung kann die Abschöpfung von Zusatzgewinnen, die
Sie alle wollen, deutlich höher ausfallen als die jetzt eingeplanten 2,3 Milliarden Euro pro Jahr.
({6})
Ohne Zweifel wollen wir schnellstmöglich den Übergang zu regenerativen Energien schaffen. Trotzdem ist
es - auf der Zeitschiene gesehen - notwendig, im Rahmen des kommenden Energiekonzepts Kernkraftwerke
als Brückentechnologie länger am Netz zu lassen. Warum jetzt plötzlich die Eile? Sie hatten elf Jahre Zeit, das
Thema anzugehen.
({7})
Das Vorhaben ist bereits auf den Weg gebracht. Statt Ihrer Schnellschüsse und Vorfestlegungen, meine Damen
und Herren von der SPD und den Grünen, gilt für die
christlich-liberale Koalition: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Das gesamte Sparpaket inklusive Einführung einer
Brennelementesteuer hat das Kabinett gestern beschlossen. Wir diskutieren derzeit über eine Steuer, deren konkrete Ausgestaltung mitten in der Prüfung ist.
Viele Fragen sind dabei noch offen: Wie soll die Brennelementesteuer konkret ausgestaltet werden? Wird sie
brutto oder netto erhoben? Gilt sie als Betriebsausgabe? Wie gehen wir mit den enormen Auswirkungen
auf die Gewerbesteuer und damit auf die Einnahmen der
Standortkommunen um?
({8})
Kann eine zusätzliche Energiesteuer EU-konform gestaltet werden? - Das ist bei weitem nicht so klar, wie die
Damen der Opposition uns suggerieren wollen.
({9})
Hier erwarten wir kurzfristig eine Klärung des Finanzministeriums. Seit gestern gehen Überlegungen von Finanzminister Schäuble auch in Richtung Fonds oder Abgabe. Das hätte den Charme, dass das Geld dann
zweckbezogen verwendet werden könnte. Nutzen wir
die Zeit, die besten Lösungen zu finden.
Heute tagt die Kommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzen. Ob die Gewerbesteuer in der Form weiter bestehen wird, um auf den Zwischenruf einzugehen,
und ob diese Auswirkungen einberechnet werden müssen, bleibt zu klären. Am 27. August wird es einen Kabinettsbeschluss über das Energiekonzept für Deutschland geben. Es wäre schon geschickt, diese beiden
Beratungsergebnisse in die Überlegungen einzubeziehen. Beschlossen ist, dass die Atomwirtschaft ihren Beitrag leisten muss. Beschlossen ist, dass dieser mindestens 2,3 Milliarden Euro betragen wird. In welcher
Form? In der optimalen. Lassen Sie uns nach der Sommerpause über rechtlich geprüfte Gesetzentwürfe diskutieren. Ihre Anträge hier und heute sind eher Selbstbeschäftigung.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Aussage aus dem Kabinett ist richtig, nämlich die
Aussage von Herrn Finanzminister Schäuble, von der er
sich leider inzwischen schon wieder distanziert hat:
Laufzeitverlängerung und Brennelementesteuer stehen
in keinem Zusammenhang. - Sie dürfen auch in keinem
Zusammenhang stehen. So ein Deal ist Mafiagebaren,
das ist kein demokratisches Regierungshandeln.
({0})
Es ist auch nicht in Ordnung, der Bevölkerung die beabsichtigte und nicht besonders geliebte Laufzeitverlängerung - wir wissen: längere Laufzeiten verlängern
das Risiko, vermehren den Müll und stehen dem Ausbau
der erneuerbaren Energien im Weg - dadurch schmackhaft zu machen, dass man sagt: Dafür gibt es Geld von
den Konzernen,
({1})
und das geben wir für euch aus. - All das ist unseriös.
Seriös ist, die Brennelementesteuer mit einer Begründung zu erheben, wie wir sie in unserem Antrag geben.
Wir sagen: An die gesellschaftlichen Schulden, die die
Atomwirtschaft aufgehäuft hat, seit sie besteht - wir reden von 150 Milliarden Euro -, wollen wir rückwirkend
gar nicht heran. Aber die 30 Milliarden Euro, die nach
Schätzung der jetzigen Bundesregierung in den nächsten
Jahrzehnten durch Rückbau und Sanierung der Endlager
und der atomaren Forschungseinrichtungen auf uns zukommen, wollen wir nicht auch noch den Steuerzahle5608
rinnen und Steuerzahlern aufbürden. Die soll die Atomwirtschaft selbst bezahlen. Dafür wollen wir die
Brennelementesteuer.
({2})
- Hätten Sie in Bezug auf Atomkraft in Ihrer Regierungszeit auch nur halb so viel vor, wie wir damals gemacht haben, dann könnten wir mit Ihnen zufrieden sein.
({3})
- Die Verhältnisse haben sich geändert. Sie hätten vorhin
Herrn Kelber zuhören sollen. Stellen Sie eine Zwischenfrage!
({4})
Herr Dr. Steffel, der Bundestag führt eine Brennelementesteuer ein, nicht das Kabinett, wenn ich Sie daran
erinnern darf.
({5})
Was Sie gestern beschlossen haben, ist offensichtlich sowieso irrelevant; denn bereits gestern haben wir völlig
andere Verlautbarungen gehört. Die Bundesregierung
hat doch überhaupt nicht den Mut gegenüber der Atomwirtschaft, diese Brennelementesteuer ohne das Gegengeschenk der Laufzeitverlängerung einzuführen.
({6})
Die Atomwirtschaft verhandelt doch schon selber wieder
mit, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen sie
eine Steuer oder eine Abgabe zahlt.
({7})
Erzählen Sie doch nicht, was Sie beschlossen haben.
Uns liegen heute zwei Anträge vor, einer der SPD und
einer der Grünen. Stimmen Sie den Anträgen zu! Dann
haben Sie eine anständige Begründung für die Brennelementesteuer und begeben sich nicht in ein vages, diffuses Feld irgendwelcher Deals, was mit seriöser Politik
nichts mehr zu tun hat.
({8})
Wir fordern die Brennelementesteuer ohne Verbindung
mit einer Laufzeitverlängerung.
Zur Laufzeitverlängerung, die eines der großen
Streitthemen der Regierung ist, will ich Ihnen noch
etwas sagen. Sie sollten nicht so viele Ressourcen auf
den Streit verschwenden, ob es 8 Jahre, 15 Jahre oder
28 Jahre sein sollen - mal mit Zustimmung des Bundesrates, mal ohne Zustimmung des Bundesrates. Dann legen die Bundesländer auch noch eigene Vorschläge vor.
Was Sie da aufführen, ist doch ein Kasperletheater. Hören Sie auf damit! Hören Sie auf Ihren Sachverständigenrat! Hören Sie auf Ihr Umweltbundesamt! Sie alle
rechnen Ihnen vor, dass Laufzeitverlängerungen nicht
nur unnötig, sondern auch kontraproduktiv für das gemeinsame Ziel des Klimaschutzes sind. Sie müssen ja
gar nicht auf die Opposition hören;
({9})
wir wissen ja, dass Sie da beratungsresistent sind. Hören
Sie aber auf Ihre eigenen Berater! Machen Sie, was die
Ihnen empfehlen!
Hören Sie mit diesem internen Regierungsstreit auf,
der Ihre wenigen Ressourcen, die Sie ohnehin schon
dauernd mit Streitereien vergeuden, auch an dieser Stelle
noch bindet. Konzentrieren Sie sich auf das, was ansteht,
nämlich auf den Umstieg in der Energieversorgung,
um nach 2020 so schnell wie möglich auf einen Anteil
von 100 Prozent erneuerbare Energien zu kommen.
Dazu brauchen wir eine Flexibilisierung des Kraftwerksparks, die Bereitstellung von Speichern und den Ausbau
der Netze. Das haben wir gestern in der Anhörung alle
gemeinsam gehört. Hören Sie auf Ihre eigenen Berater!
Wenn Sie darüber hinaus noch ein bisschen mehr tun
und einen Schritt der Vernunft gehen wollen, dann stimmen Sie heute einem der vorliegenden Anträge zu. Sie
haben die Wahl zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Unsere Anträge unterscheiden sich nur marginal.
Im Ziel - Brennelementesteuer ohne Verbindung mit einer Laufzeitverlängerung - unterscheiden sie sich nicht.
Stimmen Sie einem dieser Anträge zu. Das wäre einer
der ersten vernünftigen Schritte dieser Koalition.
({10})
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Liebe Frau Kotting-Uhl, zunächst sage ich ein
herzliches Dankeschön für Ihren Antrag - auch für den
Antrag der SPD -, der uns wieder einmal die Gelegenheit gibt, uns über die Energiepolitik und auch über das
wichtige Thema der Kernenergie zu unterhalten.
Lassen Sie mich vorweg auf einen der Punkte eingehen, der Ihnen ganz besonders wichtig ist und auch im
Antrag der SPD eine herausragende Stellung einnimmt,
nämlich auf die Frage: Brauchen wir eine Laufzeitverlängerung?
({0})
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir die Laufzeitverlängerung brauchen und dass dies auch nicht im
Widerspruch zum Ausbau der erneuerbaren Energien
steht,
({1})
sondern dass die erneuerbaren Energien in der Zukunft
dadurch ergänzt werden.
({2})
Wir haben eine ambitionierte Ausbaustrategie. Bis
2020 wollen wir einen Anteil von 30 Prozent erneuerbaren Energien erreichen. Mit diesem Ziel haben wir
das, was Sie in den letzten Jahren gefordert haben, noch
getoppt.
({3})
Bis 2050 wollen wir den Hauptanteil der Energie aus erneuerbaren Energieträgern generieren.
({4})
Auf dieser Wegstrecke haben wir aber enorme Herausforderungen zu meistern. Dies müssen wir gemeinsam
angehen.
Ich nenne nur das Thema Netzausbau. Wie wollen Sie
gewährleisten, dass, wenn wir im Norden in Offshorewindparks 20 Gigawatt Leistung aufbauen und im Süden
12 Gigawatt vom Netz nehmen, diese Strommenge über
die Riesendistanz von Norden nach Süden transferiert
wird? Dazu müssen wir die Netze ausbauen. Das ist
dringend notwendig.
Herr Kollege Bareiß, ich muss Sie unterbrechen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön, Herr Fell.
Herr Kollege Bareiß, Sie haben gerade das Ziel der
Bundesregierung, bis 2020 30 Prozent des Stroms aus
erneuerbaren Energieträgern zu erzeugen, als ambitioniert bezeichnet. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass es
eine Unmenge von Studien und Angeboten gibt, nach
denen weit darüber hinausgegangen werden kann, wenn
man die heutige Wachstumsgeschwindigkeit der erneuerbaren Energien fortsetzt?
Schon vor Jahren hat der Bundesverband Erneuerbare
Energie der Bundesregierung angeboten, bis 2020 fast
50 Prozent Strom aus erneuerbaren Energieträgern zu erzeugen und gleichzeitig auch noch 200 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. - Ich kann mir übrigens gar
nicht vorstellen, wie in diesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, falls es zu einer Laufzeitverlängerung kommt. - Der Vertreter des Sachverständigenrats für Umweltfragen hat erklärt - so Herr
Hohmeyer im Umweltausschuss -, bis 2030 könne man
im Prinzip auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstellen. Das Umweltbundesamt hat dieser Tage ebenfalls
eine neue Studie vorgestellt, wonach in kurzer Zeit eine
Vollversorgung möglich ist.
({0})
Warum ignorieren Sie all diese Möglichkeiten und behaupten einfach fest überzeugt, man brauche die Laufzeitverlängerung, wenn die Möglichkeiten der Nutzung
der erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollten? In
Wirklichkeit wirkt die Laufzeitverlängerung doch wie
eine Bremse, weil nicht mehr genügend Volumen für die
erneuerbaren Energien unter Beibehaltung der heutigen
Wachstumsgeschwindigkeit vorhanden ist.
({1})
Herr Fell, die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt
der Glaube. Ich sage Ihnen ganz offen: Um die Träger
erneuerbarer Energien ans Netz zu bringen und in den
Markt zu integrieren, brauchen wir zwei Dinge: einerseits eine bessere Netzinfrastruktur, sowohl im Übertragungs- als auch im Verteilungsnetzbereich, andererseits Speichertechnologie.
Überall, wo man Netze ausbauen oder Speicher aufbauen will - beispielsweise den Schluchseespeicher im
Schwarzwald; man versucht dort, ein 1000-MegawattPumpspeicherkraftwerk zu errichten -, gibt es vor Ort
grüne Gruppen, die gegen diese Projekte demonstrieren.
({0})
Sie behaupten, dass diese Projekte den Kernkraftausbau
begünstigen. Das, was Sie hier sagen, passt nicht zu
dem, was Ihre Parteifreunde vor Ort machen. Diesen Widerspruch müssen Sie einmal auflösen.
({1})
Es gibt die Probleme mit dem Netzausbau, die ich gerade beschrieben habe. Ein weiterer wichtiger Bereich
sind die Speichertechnologien. Außerdem müssen wir
die Frage beantworten, wie wir die erneuerbaren Energien in den Wettbewerb bringen. Auch damit wird in den
nächsten Jahren eine ganz große Herausforderung verbunden sein. Wenn ich mir das Ganze ernsthaft anschaue, dann komme ich zu der Überzeugung, dass wir
den von Rot-Grün beschlossenen Ausstieg aus der
Atomenergie im Jahre 2022 leider nicht schaffen können.
({2})
Ich bin davon überzeugt, dass wir ihn auch 2025 nicht
schaffen werden.
({3})
Auch 2030 werden wir ihn wahrscheinlich nicht schaffen, wenn wir so weitermachen wie bisher. Deshalb
brauchen wir die Laufzeitverlängerung. Ich sage Ihnen:
Die Menschen wissen, dass wir die Laufzeitverlängerung brauchen,
({4})
weil wir diese Herausforderung nicht so bewältigen können, wie wir es wollten. Wenn Sie ganz ehrlich sind,
dann stimmen Sie uns doch zu. Eigentlich sind Sie dankbar, dass wir dieses Thema in den nächsten Monaten
endlich anpacken.
({5})
Meine Damen und Herren, ich warne davor, dass wir
auch in dieser Debatte irgendwelche Zahlenspielchen
machen. Die einen sagen: Wir brauchen vier bis acht
Jahre. Die anderen sagen: Wir brauchen 28 Jahre. Die
besonders Schlauen sagen: Richtig ist die goldene Mitte;
wir brauchen 15 Jahre. Ich glaube, so vorzugehen, ist
keine seriöse Energiepolitik.
({6})
Wir brauchen in den nächsten Monaten eine solide Datenbasis. Eine solche Basis werden wir Ende August bekommen: Am 27. August erhalten wir die Szenarienberechnungen der Institute. Dann muss aufgeschlüsselt
sein, was in den nächsten Jahren technisch machbar ist
({7})
und an welchen Stellschrauben wir ansetzen müssen.
Wenn wir wissen, was das kostet, müssen wir überlegen,
wie wir diese Kosten decken können und welche gesetzlichen Rahmenbedingungen notwendig sind. Unsere
Überlegungen werden wir dann in ein Energiekonzept
gießen. Das ist für mich eine verlässliche Politik in Sachen Energie. Ich glaube, es lohnt sich, sich im Herbst
ganz viel Zeit zu nehmen.
Ich sehe jetzt die große Chance, die Laufzeitverlängerung, die ich für notwendig halte, zu gestalten. Damit
sind viele Themen verbunden. In vielen Punkten kommen wir sicherlich zueinander; manchmal werden wir
vermutlich gegeneinander arbeiten.
Ein Thema ist die Brennelementesteuer. Sie wird in
diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Eine
Laufzeitverlängerung wird es nicht zum Nulltarif geben.
Wir haben immer gesagt: Die Laufzeitverlängerung wird
es nur in Verbindung mit der Abschöpfung von Zusatzgewinnen geben, und die so eingenommenen Mittel werden in Zukunftsprojekte investiert.
Ein ganz wichtiges Projekt ist für mich hierbei die
Energieeffizienz. Wir sind uns einig, dass wir in diesem
Bereich viel mehr machen müssen. Wir dürfen an diese
Aufgabe nicht nur ordnungspolitisch und durch die Stärkung des Wettbewerbs, was ich ebenfalls für wichtig und
sinnvoll erachte, herangehen, sondern wir müssen auch
Geld investieren, gerade im Gebäudesanierungsbereich.
({8})
- Auch ich bin damit nicht einverstanden, lieber Herr
Kelber. - Wir müssen schauen, wie wir diese Mittel verstetigen. Ich sehe eine gute Chance, durch die Abschöpfung von Zusatzgewinnen den Übergang in das regenerative Zeitalter sinnvoll zu gestalten.
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die Endlagerfrage klären. Ich bin dankbar, dass wir in der jetzigen Koalition dieses Problem der Endlagerung endlich
angehen. Sie haben das über Jahre verhindert,
({9})
haben dieses Thema aufs Abstellgleis geschoben.
({10})
Wir packen es an.
({11})
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung: die Probleme
lösen und nicht ständig nur Hindernisse sehen.
({12})
Ein weiterer Punkt ist das Sicherheitskonzept. Auch
das wird bei der Laufzeitverlängerung eine Rolle spielen. Wenn wir die Kernreaktoren hier - sie gehören
schon heute zu den sichersten der Welt - länger laufen
lassen wollen, dann müssen wir den Anspruch, den wir
eh schon haben, noch einmal erhöhen und schauen: Wo
gibt es Stellschrauben, mit deren Hilfe wir die Bedenken
der Bevölkerung aufnehmen können? Wie können wir
Sicherheit noch einmal neu und besser definieren? Dazu
wird es bis Ende Juli Vorschläge der Bundesregierung
geben.
({13})
Wir werden dann schauen, wie wir die konkret umsetzen. Das muss im Gesamtpaket eine wichtige Rolle spielen.
Der letzte Punkt, liebe Frau Höhn, ist der Wettbewerb, und er ist wichtig. Das nehmen wir gern von Ihnen auf. Auch ich mache mir Sorgen über die Oligopolstruktur im Strombereich. 60 Prozent des Strommarkts
werden über die vier großen Energieversorgungsunternehmen gehandelt.
({14})
Wir wollen schauen, wie eine Laufzeitverlängerung da
hineinspielt. Das müssen wir einmal untersuchen.
({15})
Darüber müssen wir sprechen.
({16})
Wir müssen schauen, welche Instrumente wir finden, um
die Oligopolstruktur für die Zukunft aufzuheben; denn
ein ganz großes Thema ist, den Wettbewerb im Strommarkt in den nächsten Jahren zu stärken, um stabile
Preise für die Zukunft zu gewährleisten.
Unsere Energiepolitik - ich glaube, das kann man
nicht oft genug sagen - beruht auf drei Säulen. Wir wollen sichere und verlässliche Energie für die Zukunft. Wir
wollen vor allen Dingen saubere und klimafreundliche
Energie für die Zukunft. Dabei spielt auch die Kernenergie - das nur als Nebensatz - wegen der CO2-Freiheit
eine ganz besondere Rolle. Wir wollen letztendlich eine
bezahlbare und - das sage ich ganz offen - günstige
Energie, nicht nur für Großfamilien mit vielen Kindern,
die auch einen entsprechend hohen Energieverbrauch
haben, sondern auch für die Industrie, weil sie für die
Arbeitsplätze in Deutschland ganz wichtig ist. Auch das
ist Kernbestandteil unserer Energiepolitik.
({17})
- Warten Sie es einmal ab!
Uns wird im September von der Bundesregierung ein
Energiekonzept vorgelegt. Das werden wir diskutieren.
Dazu wird der Bundestag viele Entscheidungen treffen
müssen. Das werden wir also viel diskutieren. Wir machen ein Energiekonzept aus einem Guss - ich glaube,
das ist dringend notwendig -,
({18})
bei dem die Kernenergie eine Rolle spielt, bei dem aber
der Ausbau der erneuerbaren Energien im Vordergrund
steht. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz für die
nächsten Jahre.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Oliver Kaczmarek von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
heute im Deutschen Bundestag über die Brennelementesteuer debattieren, dann müssen wir zunächst einmal
festhalten, dass die Vorzeichen erfreulicher sind als in
der vergangenen Zeit; denn als Sigmar Gabriel noch als
Bundesumweltminister diese Idee vorgebracht hat,
({0})
wurde ihm insbesondere aus den Reihen des damaligen
Koalitionspartners, aus den Reihen der Union, „reine
Ideologie“ vorgeworfen: so etwa von Herrn Oettinger.
Herr Dobrindt hat ihn sogar einen Ökostalinisten genannt. Dass die derzeitige Regierungskoalition sich nun
im Grundsatz dieser Forderung angeschlossen hat, ist als
Erfolg zu werten. Sie hätten es aber schon während der
Großen Koalition haben können. Das gehört zur Wahrheit dazu.
({1})
Mir scheint die Debatte in der Koalition aber immer
noch ideologisch aufgeladen zu sein. Seit dem Gespräch,
das der Bundesfinanzminister mit den Spitzen der Atomkonzerne geführt hat, ist auch wieder weniger deutlich,
was eigentlich konkret umgesetzt werden soll.
Dabei geht es in dieser Frage im Prinzip um einen
simplen Sachverhalt. Derzeit muss der Steuerzahler für
viele Kosten aufkommen. Es entstehen nämlich Kosten
für den Rückbau kerntechnischer Anlagen, für die Sanierung der Endlager, teilweise zumindest, für die kerntechnische Forschung oder für die Sicherung der CastorTransporte. Das sind Kosten, die der Steuerzahler nicht
verursacht hat, aber von der Atomindustrie, wenn man
so will, externalisiert werden. Die Beträge fließen bei
den Atomkraftwerksbetreibern direkt in die Gewinne.
({2})
Deshalb führen wir keine ideologische Diskussion, sondern eine sachliche Diskussion über die Lastenverteilung bei den ökologischen und gesellschaftlichen Kosten der Atomenergie und über Wettbewerbsgleichheit.
Deswegen - das will ich noch einmal sagen - ist es kein
ideologischer Ballast, sondern vor allem eine ökonomische Notwendigkeit, über die wir heute Morgen diskutieren.
({3})
Allerdings - bei aller Freude, dass die Koalition auf
diese Linie eingeschwenkt ist - fehlt ihr offenbar die
Einsicht in die Notwendigkeit dieser Steuer; denn zu
deutlich ist der Zusammenhang, der hier im Kontext von
Sparpaket und Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke hergestellt wird. Die Bundesregierung will
offensichtlich angesichts der dramatischen und von
nahezu allen Kommentatoren festgestellten sozialen
Schieflage ihres Sparpaketes den Anschein erwecken,
auch die Großen zu schröpfen und ihnen etwas abzuneh5612
men für die Sanierung des Staatshaushaltes. In Wahrheit
geht es jedoch vor allem um die Akzeptanz für die Laufzeitverlängerung; denn die Atomenergie hat in Deutschland keinen guten Ruf. Sie wird von den Menschen einfach nicht akzeptiert. Das ist, wie der Umweltminister
jüngst richtig festgestellt hat, auch nach 40 Jahren noch
so. Es stellt sich langsam die Frage, warum wir über das
Thema Laufzeitverlängerung jetzt diskutieren, wenn
doch in den letzten 40 Jahren keine Akzeptanz bei den
Menschen erreicht werden konnte.
({4})
Dennoch hat sich die derzeitige Regierungskoalition
vorgenommen, gegen den gesellschaftlichen Widerstand die Laufzeiten für die 17 in Deutschland noch in
Betrieb befindlichen Atomkraftwerke zu verlängern.
Diesen Widerstand dagegen reden wir nicht herbei. Ihn
kann man sehen. Jüngst konnte man ihn - ich glaube, es
war Ende April - bei einer Menschenkette mit mehr als
100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zwischen
den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel beobachten.
Die sachlichen Erwägungen gegen eine Laufzeitverlängerung sind gestern im Umweltausschuss breit debattiert und von den Experten ausführlich dargestellt worden. Es ist noch einmal deutlich gemacht worden, dass
wir hier nicht über eine absolut sichere und risikofreie
Technologie reden, sondern dass es Sicherheitsrisiken
gibt. Dies wird insbesondere bei den ältesten Atomkraftwerken, deren Laufzeiten Sie verlängern wollen,
deutlich: Das Atomkraftwerk Krümmel, 1983 in Betrieb
genommen, hat seit 1994 82 sicherheitsrelevante Ereignisse gemeldet, Brunsbüttel, 1976 in Betrieb genommen,
hat 80 und Biblis A, das älteste noch in Betrieb befindliche Atomkraftwerk Deutschlands, hat 66 solcher Ereignisse gemeldet.
Auch wenn die Anzahl der im Jahresdurchschnitt gemeldeten Ereignisse gering erscheint - ich stelle mir die
Frage, ob es bei einer solchen Hochrisikotechnologie tatsächlich eine Toleranzschwelle bei der Anzahl von Sicherheitsereignissen geben kann -, so ist doch Fakt: Die
Stillstandszeiten sind in keinem anderen industriellen
Bereich so hoch wie in Atomkraftwerken. Fakt ist auch,
dass sie mit längerer Lebensdauer eben nicht weniger
stör- und verschleißanfällig werden. Deswegen stellt
eine Laufzeitverlängerung natürlich ein Sicherheitsrisiko
dar. Zumindest verstößt sie gegen das Sicherheitsempfinden der Menschen. Das sollten wir im Deutschen
Bundestag akzeptieren.
({5})
Die Brennelementesteuer darf deshalb aus unserer
Sicht nicht zum Alibi für eine Laufzeitverlängerung werden. Offensichtlich geht es der Bundesregierung auch
darum, sich nachlassende Sicherheit in den älteren
Atomkraftwerken mit dem Geld aus der Brennelementesteuer teuer bezahlen zu lassen. Aber ich sage auch ganz
deutlich: Diese Art von Ablasshandel für Biblis A und
andere alte Reaktoren werden wir und vor allem die
Menschen im Land nicht mitmachen. Dagegen wird es
Widerstand geben. Ich bin da sehr sicher.
({6})
Es ist deshalb mehr als nur Symbolik - es sei mir als
Nordrhein-Westfale erlaubt, das hier anzusprechen -, es
ist eine fundamentale energiepolitische und gesellschaftspolitische Entscheidung, wenn die neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen - ich bin sicher, sie
wird dafür nicht nur im nordrhein-westfälischen Landtag
die Mehrheit bekommen, sondern auch die Unterstützung der Menschen in Nordrhein-Westfalen - zusammen
mit anderen Bundesländern im Bundesrat dafür sorgen
wird, dass es keine Laufzeitverlängerung geben wird.
Das ist ein Akt der politischen Vernunft und der Verantwortung und verdient Unterstützung.
({7})
Es ist dagegen unvernünftig, wenn die Koalition nun
nach Wegen sucht, den Bundesrat auf der Grundlage
zweifelhafter Gutachten zu umgehen. Es ist klar, dass sie
damit einen neuen politischen und gesellschaftlichen
Großkonflikt in dieser Republik mit allen Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen in Kauf nimmt.
Diesen Konflikt und die damit verbundene Unruhe und
Unsicherheit bei den Menschen zu riskieren, ist falsch in
der Sache und stellt überdies eine Fehlkalkulation dar.
Denn selbst wenn sie es wollte - so können wir nach den
Erfahrungen der letzten Wochen und Monate sagen -,
fehlte der jetzigen Regierungskoalition die Mehrheit im
Volk, im Bundesrat und vor allem die politische Klarheit
und Kraft, einen solchen Konflikt durchzustehen. Deswegen sollten Sie im eigenen Interesse davon Abstand
nehmen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie erhalten die Unterstützung auch unserer Fraktion, wenn Sie eine ernst
gemeinte Brennelementesteuer einführen wollen. Aber
Sie werden den Widerstand nicht nur der Opposition hier
im Haus, im Bundesrat oder vor dem Bundesverfassungsgericht, sondern vor allem in der gesamten Republik, in Gorleben, in Lüchow-Dannenberg, in Ahaus,
Brunsbüttel und anderswo erleben, wenn Sie dieses Vorhaben an eine Laufzeitverlängerung koppeln wollen.
Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche.
Vielen Dank.
({9})
Herr Kollege Kaczmarek, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kaczmarek hat angesprochen, welche Großtaten die
neue nordrhein-westfälische Koalition in rot-grüner
Färbung vollbringen will. Ich habe mir gestern die Mühe
gemacht, in diesen Koalitionsvertrag hineinzuschauen.
Da wird die ganze Aberwitzigkeit Ihrer Klimapolitik
deutlich; denn wegen Ihres grünen Koalitionspartners
verzichten Sie auf das Kraftwerkserneuerungsprogramm. Die Grünen werden jetzt sagen: Prima.
({0})
Heimlich, still und leise steht im rot-grünen Koalitionsvertrag - zuerst dachte ich, es ist ein Druckfehler -,
dass Sie die CO2-Emissionen um 25 Prozent bis 2020 im
Vergleich zu 1990 verringern wollen. Man denkt: Tolle
Tat! Aber die alte Regierung wollte 33 Prozent, und im
Bund haben wir 40 Prozent vorgesehen. Das heißt, RotGrün bedeutet weniger Klimaschutz in Nordrhein-Westfalen, das ist doch absurd.
({1})
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn?
Ja.
Bitte, Frau Höhn.
Herr Kollege Kauch, können Sie bestätigen, dass sich
Schwarz-Gelb in der letzten Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen gegen jede Windkraftanlage gestellt
hat und dass sich dadurch die CO2-Reduktion in Nordrhein-Westfalen nicht gemindert hat? Sie sind massiv gegen erneuerbare Energien vorgegangen. Können Sie bestätigen, dass unter Schwarz-Gelb in NordrheinWestfalen die Kapazität der Kraftwerke enorm gestiegen
ist? Damit stand zwar die Zahl - eine Reduktion von
33 Prozent bis 2020 - auf dem Papier, aber in der Politik
ist das Gegenteil gemacht worden. Zu Ihrer Regierungszeit sind die CO2-Emissionen in Nordrhein-Westfalen
gestiegen und nicht gefallen. Wir haben Ihre Altlasten
jetzt abzutragen. Das ist die Wahrheit.
({0})
Liebe Frau Höhn, Sie kennen ebenso wie ich die
Energieversorgungsstruktur in Nordrhein-Westfalen.
Wir haben keine Kernkraftwerke, sondern wir haben vor
allem Kohlekraftwerke. In Nordrhein-Westfalen stehen
die größten CO2-Schleudern Europas. Die Politik von
Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen war immer:
Diese Dreckschleudern müssen durch moderne Kraftwerke ersetzt werden.
({0})
Genau das verhindern Sie. Deshalb sind Sie diejenigen,
die in Ihrem Koalitionsvertrag offenbaren, dass man mit
Ihrer Politik weniger CO2 einsparen kann als mit unserer
Politik.
({1})
Im Übrigen, wenn man in Ihrem Koalitionsvertrag weiterliest, dann erfährt man, dass Sie keinen eigenen müden Euro aus Ihrem Landeshaushalt dafür aufwenden
wollen, dass Klimaschutzprojekte auf den Weg gebracht
werden.
({2})
Zur Finanzierung Ihrer Klimaschutzprojekte heißt es
im Koalitionsvertrag: Der Bund muss quotiert 44 Prozent der Emissionshandelserlöse an Nordrhein-Westfalen abgeben. Sie wollen nur Klimaschutz betreiben,
wenn es der Bund bezahlt. Das ist Ihr Versagen in Nordrhein-Westfalen. Davon können Sie nicht ablenken.
({3})
Herr Kollege Kauch, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kelber?
Gerne. Das verlängert die Redezeit.
({0})
Das stimmt, das verlängert Ihre Redezeit.
({0})
Trotzdem ist die Frage wichtig. - Können Sie erstens bestätigen, dass unter der jetzigen Landesregierung die frühere Vereinbarung von Rot-Grün mit der Kraftwerkswirtschaft, in der vorgesehen ist, alte Kraftwerke sofort
abzuschalten, wenn das neue am Netz ist, beispielsweise
im rheinischen Braunkohlerevier, aufgehoben wurde und
deswegen die alten Kraftwerke weiterlaufen? Das ist
Realität, nicht Ziel.
({1})
Können Sie zweitens bestätigen, dass Sie den Klimaschutz als Ziel aus den Landesgesetzen herausgestrichen
haben?
Lieber Herr Kelber, wenn Sie auf Datteln anspielen
- darum geht es ja offensichtlich -,
({0})
dann kann ich nur sagen, dass dies das effizienteste Kohlekraftwerk ist, das wir momentan in Deutschland bauen.
({1})
Das genau ist der Unterschied. Wir machen Klimaschutz mit dem Emissionshandel und versuchen nicht,
den Bau solcher Anlagen durch Gerichtsurteile zu torpedieren.
({2})
Wir wollen, dass diese modernen Kraftwerke die Dreckschleudern ersetzen,
({3})
deren Betrieb die rot-grüne Regierung, zum Beispiel im
Zusammenhang mit dem Tagebau Garzweiler, ermöglicht hat, Herr Kelber.
({4})
Jetzt kommen wir zurück zum Thema, zu dem, was
wir auf Bundesebene tun, zur Brennelementesteuer. Für
die Brennelementesteuer werden im Kabinettsbeschluss
sehr klug zwei Gründe genannt:
Erstens geht es um die Kosten der Asse. Die FDP hat
diesen Punkt in den Koalitionsverhandlungen sehr nachdrücklich unterstützt. Wir sagen: Wenn es Altlasten gibt,
die dadurch entstanden sind, dass in der Vergangenheit
viele Menschen Fehler gemacht haben, dann kann man
das hinterher nicht einfach dem Stromkunden oder dem
Steuerzahler vor die Füße werfen, sondern dann müssen
sich auch diejenigen, die von diesem Bergwerk profitiert
haben, beteiligen; das ist neben staatlichen Forschungseinrichtungen die Kraftwerkswirtschaft. Ganz klar ist:
Die Asse wird maximal etwa 4 Milliarden Euro kosten.
({5})
Das entspricht den Einnahmen von zwei Jahren aus der
Brennelementesteuer. Dadurch ist diese Steuer sehr klar
legitimiert.
Das Zweite ist die Ungleichbehandlung, die es ab
2013 geben würde, wenn wir keine Abschöpfung der
Gewinne vornehmen würden. Momentan haben wir in
der Tat eine Steigerung bei den Strompreisen; Frau
Bulling-Schröter, ich war erstaunt, dass von einer Linken eine sachliche volkswirtschaftliche Darstellung
kam. Dadurch, dass die Zertifikate, die man kostenlos
bekommen hat, eingepreist wurden, haben die Unternehmen mehrere Milliarden Euro Zusatzgewinne gemacht.
Jetzt haben wir fraktionsübergreifend durchgesetzt, dass
die Zertifikate für die Kohlewirtschaft ab 2013 voll versteigert werden. Es wäre eine Wettbewerbsungleichheit,
wenn wir es bei den mit Kernkraft produzierenden Unternehmen weiterhin so belassen würden.
({6})
Deshalb ist die Zielsetzung der Brennelementesteuer,
die das Kabinett beschlossen hat, richtig. Dennoch sage
ich: Natürlich gibt es einen politischen Zusammenhang
zur Laufzeitverlängerung. Für uns ist das durchaus ein
Paket. Ich sage aber auch: Für die Laufzeitverlängerung
der Kernkraftwerke ist das, was die Regierung hier vorlegt, nicht das Ende der Fahnenstange. Das ist nicht die
Abschöpfung der Gewinne aus der Laufzeitverlängerung. Ich sage auch sehr deutlich: In den Wahlprogrammen von Union und FDP finden wir die Aussage, dass
ein Teil der Erlöse, die aus der Laufzeitverlängerung resultieren, im Bereich erneuerbare Energien zu verwenden ist. Genau das lässt der Kabinettsbeschluss weiterhin
zu.
Wir haben 2,3 Milliarden Euro für den Haushalt. Ich
glaube, der Finanzminister hat damit das, was er bekommen muss. Wenn wir für die Laufzeitverlängerung noch
eine Schippe drauflegen, dann muss auch deutlich werden, dass der Bereich der erneuerbaren Energien davon
profitiert.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Dezember 2009 postulierte die Bundesregierung in Fortsetzung ihrer Politik, sie plane keine Einführung der Brennelementesteuer. Im Juni 2010 kommt
Ihnen die Erkenntnis dann doch, weil die Atomindustrie
von dem Handel mit den CO2-Zertifikaten über höhere
Strompreise profitiert. Das sind jährlich immerhin
3,4 Milliarden Euro. Allerdings sagen Sie - ich zitiere
aus Ihrem Programm „Die Grundpfeiler unserer Zukunft
stärken“ -: Es wird „im Rahmen eines GesamtenergieKonzepts notwendig sein, die Laufzeiten von Kernkraftwerken zu verlängern.“
({0})
Zukunft stärken und Laufzeitverlängerung sind ein
Widerspruch in sich, sagt die Linke.
({1})
Im Klartext: Die ganze Aktion der Brennelementebesteuerung ist ein ausgeklügelter Deal zwischen Ihnen
und der Atomlobby; denn durch diesen billigen Trick
wollen Sie den hart erkämpften Atomkompromiss aufweichen und damit ein späteres Abschalten aller Atomkraftwerke in Deutschland erreichen.
Nun komme ich zu Ihrem tollen Plan. Sie wollen mit
der Brennelementesteuer 2,3 Milliarden Euro jährlich
einnehmen, unter anderem zum Zwecke der Sanierung
- wie Sie selbst sagen; ich zitiere noch einmal -:
Allein durch die Stilllegung und den Rückbau von
kerntechnischen Anlagen - einschließlich voraussichtlicher Kosten für die Endlager von Atommüll wird der Bund erheblich belastet.
Selbst die Zwischenlager sind derzeit in einem skandalösen Zustand. Es gibt noch gar kein Endlager. Die
Kosten für Lagerung und Sanierung der Lagerstätten haben sich vervielfacht; es wurde schon vorhin die Zahl
von über 7 Milliarden Euro genannt.
Nun planen Sie frisch und fröhlich eine Laufzeitverlängerung. In diesem Zusammenhang frage ich Sie:
Wieso soll denn der Bund, das heißt, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Folgekosten für die Endlagerung tragen? Wieso sollen das nicht die Verursacher, die
Atomwirtschaft, tun, und zwar selbstverständlich in voller Höhe?
({2})
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat Ihnen
ausdrücklich aufgeschrieben, dass es möglich ist, dass
Deutschland als Industriestandort bei Weiterentwicklung
der bisherigen erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050
allen Strom aus diesen erneuerbaren Energien bezieht.
Hierfür brauchen wir natürlich einen konsequenten Umbau hin zu den erneuerbaren Energien. Dazu braucht
man eben - das wurde bereits erwähnt - umfangreiche
Mittel für die Netzerneuerung und für das Erschließen
neuer Speicherkapazitäten.
Selbst der Bundesumweltminister, Herr Röttgen, bestätigte, dass der Anteil der erneuerbaren Energien 2022,
konservativ gerechnet, auf knapp 40 Prozent gestiegen
sein wird, sodass dann tatsächlich alle AKWs in Deutschland abgeschaltet werden könnten. Sie erinnern sich:
Hierzu liegt eine Studie aus dem Jahre 2009 vor; inzwischen wird das oft verschwiegen. Das heißt, eine Verlängerung der Laufzeiten ist völlig irrational und falsch. Wir
fordern deshalb einen schnellstmöglichen Atomausstieg
und nicht erst 2022.
({3})
Wir fordern das auch deshalb, um die Folgekosten aus
der Nutzung der Atomkraft zu reduzieren. Wir wollen,
dass die Atomwirtschaft die von ihr verursachten Kosten
in vollem Umfang trägt. Führen Sie deshalb als ersten
Schritt die Brennelementesteuer so ein, dass mindestens
5 Milliarden Euro jährlich an Einnahmen erzielt werden.
Diese Einnahmen sollten dann für einen Energiesparfonds verwendet werden, um die Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien voranzutreiben.
Nun möchte ich noch eine kurze Bemerkung zu Herrn
Fuchs machen, der nachher noch spricht.
({4})
Sie haben in der vergangenen Woche das Erneuerbare-Energien-Gesetz als Begründung vorgeschoben,
um Atomenergie weiterhin zu legitimieren. Ich sage Ihnen: Das ist schlicht eine Frechheit und ein Schlag ins
Gesicht all der Menschen, die heute im Bereich der Erzeugung erneuerbarer Energien arbeiten.
({5})
Sie sagten letzten Donnerstag, dass die Energiekosten
für einen Vier-Personen-Haushalt im Rahmen des EEG
ab dem nächsten Jahr um circa 200 Euro steigen würden.
Deshalb brauchten wir auch weiterhin den ach so billigen Atomstrom.
({6})
Ich staune immer wieder über Ihre Kurzsichtigkeit. Sie
sind es doch, die vernünftige Rahmenbedingungen schaffen könnten. Sie könnten erneuerbare Energien über eine
vernünftige Steuergesetzgebung billiger machen. Wenn
Sie beim Preis für den Atomstrom alle Folgekosten mit
einfließen lassen würden, wäre Atomstrom eben nicht
billig. Er ist schon heute viel teurer als der Strom aus erneuerbaren Energien.
({7})
Frau Kollegin Höll, kommen Sie bitte zum Schluss.
Schieben Sie den Schwarzen Peter nicht auf andere.
Handeln Sie endlich selbst einmal weitsichtig; das ist
notwendig.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Ich
finde es bemerkenswert, dass wir die Diskussion offenbar so reflexhaft miteinander führen können, dass man,
Frau Höll, bereits im Vorhinein auf einen nachfolgenden
Redner eingehen kann; das ist schon etwas Besonderes.
Ich bin jetzt nicht enttäuscht - das sage ich Ihnen
ganz offen -, dass es keine Loblieder auf das gibt, was
wir hier als Koalition planen, nämlich eine Brennelementesteuer, obwohl ich zugebe, dass ich schon das
eine oder andere wohlwollende Wort erwarte, wenn man
Dinge umsetzt, die andere vorher angeblich so gefördert
haben.
({0})
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe
Ihren Antrag gelesen. Sie versuchen ja jetzt - husch,
husch -, mit einem Anträglein nörgelnd auf dieses Trittbrett aufzuspringen und so zu tun, als sei man bei dem
Thema dabei. Sie verwechseln bei dieser Gelegenheit
Rücklagen und Rückstellungen, weil es aus Ihrer Sicht
offenbar ökonomisch keine Rolle spielt. Damit zeigen
Sie, welcher ökonomische Sachverstand hinter dem
steht, was Sie beantragen.
({1})
Ich sage auch ganz offen an die Adresse der SPD: Der
SPD-Antrag ist ein verkrampfter Versuch, einen Zusammenhang mit Sigmar Gabriel herzustellen. Darin steht:
„Anknüpfend an die Bestrebungen von Sigmar Gabriel
…“. Die Brennelementesteuer, die wir beschließen, hat
mit vielen Dingen zu tun, aber garantiert nichts mit
Gabriel.
({2})
Ich möchte das herausarbeiten, was die Kollegin
Reinemund von der FDP unterstrichen hat. Es gibt keine
Zweckbindung von Steuern. Es ist ganz wichtig, dass
wir uns das hinter die Ohren schreiben. Wenn man bestimmte Dinge politisch durchsetzen will, wird oft anderes behauptet; aber diese Zweckbindung gibt es nicht.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ein bisschen nachdenklich, dass ich mir persönlich mit dem Geld durchaus eine
Fondslösung zugunsten der Erforschung alternativer
Energien hätte vorstellen können; das hätte den Haushalt
auch entlastet. Aber sei es drum.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ein paar Fakten klarzustellen.
Die Mär von der nichtverursachergerechten Kostentragung muss man abräumen. Entsprechend dem Atomgesetz werden bei Konrad die Versorger einen Anteil
von 64,4 Prozent der Kosten zu tragen haben; das ist verursachergerecht. In Gorleben müssen die Versorger
96,5 Prozent der Kosten tragen. Das muss man doch einmal sagen. Man darf nicht immer einen anderen Eindruck erwecken.
({3})
Die Themen Asse, ein ehemaliges Forschungsendlager
des Bundes, und Morsleben, eine Altlast aus der ehemaligen DDR - deshalb würde ich den Linken empfehlen,
an dieser Stelle ein bisschen leiser zu treten -,
({4})
bleiben offen und werden den Haushalt belasten. Man
braucht Einnahmen, mit denen man die Kosten ausgleichen kann.
Nun haben Frau Kotting-Uhl, Frau Höll und etliche
andere von einem Handel mit den Versorgern gesprochen, einem Deal mit Brennelementesteuer auf der einen Seite und Laufzeitverlängerungen auf der anderen
Seite. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wer einen Deal
gemacht hat: Sie im Jahr 2000.
({5})
Sie haben einen Deal gemacht. Die Verknüpfung zwischen der Brennelementesteuer und der Laufzeitverlängerung haben Sie damals verursacht, weil in diesem
Deal ausdrücklich steht, dass es keine zusätzliche steuerliche Belastung der Kernenergie geben darf.
({6})
Deshalb kann man, wenn man aus dem Thema Ausstieg aussteigt, eine Brennelementesteuer erheben. Wenn
man aber bei dem bleibt, was zwischen Ihnen und den
Versorgern damals vereinbart wurde, sieht es schlecht
aus. Diese Verknüpfung haben Sie vollständig zu verantworten. Das möchte ich an dieser Stelle eindeutig sagen.
({7})
Thema Windfall-Profits. Ja, da gibt es ungerechtfertigte Profite, die ökonomisch begründbar, politisch aber
problematisch sind. Dass man dafür Sorge tragen muss,
dieses Geld wiederzubekommen, ist unstrittig. Aber aus
meiner Sicht muss das über den Emissionshandel, nämlich die vollständige Versteigerung, die bisher europapolitisch verwehrt war, erfolgen. Es ist doch völlig falsch,
gerade dort anzuknüpfen, wo wir kein CO2-Problem haben, nämlich bei der Kernenergie. Das wäre doch widersinnig. Man muss einmal in aller Deutlichkeit sagen,
dass diese Verknüpfung problematisch ist. Ich sage das
ganz offen und offensiv.
({8})
- Liebe Frau Höhn, deshalb ist es gut, wenn neben den
Finanzpolitikern der eine oder andere Fachpolitiker etwas sagt.
Ich sage ganz klipp und klar: Um die Windfall-Profits
aus dem Emissionshandel abzuschöpfen, sollte man aus
meiner Sicht nicht da anknüpfen, wo der Emissionshandel konterkariert wird. Das wäre falsch. Sie haben aber
richtig argumentiert, dass die Einnahmen in Höhe von
2,3 Milliarden Euro jährlich auch für andere Dinge notwendig sind. Ich sage dazu nur eines: Ihr Argument fällt
aus meiner Sicht weg; es spricht nicht gegen die Brennelementesteuer. Auch das muss man einmal deutlich herausstellen.
Abschließend möchte ich sagen: Nachdem ich vorhin
den vollzogenen Handel so lang und breit erläutert habe,
ist es mir ein Anliegen, die Doppelzüngigkeit dieser
Debatte herauszuarbeiten. Es ist aus meiner Sicht doppelzüngig, jemandem einen Handel vorzuwerfen, wenn
man selbst einen Handel gemacht hat. Ich möchte deutlich herausstellen, wie Sie sich, insbesondere die Grünen, bei diesem Deal im Jahr 2000 verbogen haben.
Sie haben damals in den Wahlkämpfen immer von unverantwortbaren Risiken gesprochen, von der Notwendigkeit eines sofortigen Ausstiegs aus der Kernkraft, weil
diese mit Risiken verbunden sei, die nicht hinzunehmen
seien. Dann haben Sie bzw. der Staatssekretär Barke, damals die rechte Hand von Trittin, am 14. Juni 2000 eine
Vereinbarung unterschrieben - ich habe sie hier -, wonach die Kernkraftwerke einen hohen Sicherheitsstandard haben.
({9})
Das haben Sie paraphiert. Sie haben also gesagt: Es ist
unverantwortlich; aber obwohl es unverantwortlich ist,
können wir das Ganze für weitere 20, 25 Jahre vertreten.
({10})
Sie müssen uns erklären, woher die Motivation dazu
kam, warum Sie das getan haben. Ich befürchte, es ging
um etliche Dienstwagen.
({11})
Wenn es zumindest Dienstfahrräder gewesen wären,
hätte ich das bei den Grünen noch verstanden. Sie sollten
einmal über Ihre Politik nachdenken: Sie gehen für
Dienstwagen solche Risiken ein - zumindest behaupten
Sie, es sei riskant; im Hintergrund sehen Sie es vielleicht
auch so, dass die Kernkraft sehr wohl kalkulierbar und
beherrschbar ist -, schüren im Wahlkampf Angst und
vereinbaren in der politischen Realität, wenn Sie auf den
Boden der Tatsachen zurück sind, mit den Versorgern etwas anderes. Vielleicht kann Frau Höhn, die nach mir
spricht, ein bisschen Licht in diese Sache bringen und
sagen, warum Sie das getan haben.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bärbel Höhn von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Nüßlein hat uns jetzt demonstriert, dass er offensichtlich heimliche Wünsche hat, einmal in einem
Dienstwagen zu sitzen. Sie sollten das aber nicht anderen unterstellen.
({0})
Wir machen Politik für die Menschen, nicht für die
Dienstwagen. Belassen Sie es also bei Ihren eigenen
heimlichen Wünschen.
Wenn wir heute über die Brennelementesteuer reden, dann tun wir das, weil wir über ein Sparpaket reden.
Es ist gut, über die Brennelementesteuer zu reden; denn
es handelt sich vom Grundsatz her um eine alte grüne
Forderung, es ist ein richtiges Instrument. Das begrüßen
wir.
Ich finde, dass Finanzminister Schäuble bei diesem
Thema bisher eigentlich ziemlich gerade gestanden hat.
Man muss allerdings sagen: Seit gestern hat er seine
Taktik vollkommen verändert; er ist vollkommen von
dem abgerückt, was er bisher behauptet hat.
({1})
Spannend ist, dass er wochenlang seitens des Finanzministeriums gefordert hat, dass diese Brennelementesteuer kommt, er sie aber gestern infrage gestellt hat.
Warum? Was ist in der Zwischenzeit passiert? Vertreter
der vier großen Energiekonzerne haben dem Finanzministerium einen kurzen Besuch abgestattet. Da muss
man sagen: Das ist ein dreckiger Deal. Wir wollen ihn
nicht unterstützen.
({2})
Das ist ein Einknicken vor der Atomlobby auf eine Art
und Weise, die wir bisher noch nicht erlebt haben. Das
ist wirklich ungeheuerlich.
({3})
Stellen Sie sich einmal vor, es würde jeder, bei dem
eine Steuer anfällt, ins Finanzministerium eingeladen
und man dürfte verhandeln. Das wäre interessant. Warum lädt eigentlich das Finanzministerium nicht die
Hartz-IV-Empfänger ein, bei denen Sie gerade das Elterngeld streichen? Das wäre vielleicht ein fairer Ausgleich. Sie tun das aber nicht; denn Ihre Lobbyinteressen
liegen eindeutig bei der Atomwirtschaft, nicht bei den
Hartz-IV-Empfängern. Das ist der Unterschied.
({4})
Der erste Punkt ist, dass der Finanzminister gesagt
hat: Von der Brennelementesteuer rücken wir eher ab;
wir suchen nach Alternativen. Die Kollegin Reinemund
hat eben bestätigt, dass jetzt andere Punkte in der Debatte sind.
Der zweite Punkt ist genauso gefährlich. Bisher hat
der Finanzminister immer gesagt, dass die Brennelemen5618
testeuer unabhängig von den Laufzeiten kommen soll.
Ich wiederhole: unabhängig von Laufzeiten.
({5})
Noch am 11. Juni dieses Jahres hat er gesagt, die Brennelementesteuer sei unabhängig vom Beschluss über längere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Anders als Sie,
Herr Fuchs, hat Herr Schäuble bisher eine kluge Meinung vertreten. Denn es ist ganz entscheidend, dass die
Brennelementesteuer unabhängig von der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke in diesem Land ist. Ich
sage Ihnen: Das ist absolut wichtig. Auch die Kanzlerin
hat das bestätigt und damit Leuten wie Ihnen, Herr
Fuchs, einen Riegel vorgeschoben.
Gestern sagte der Finanzminister: Dass die Brennelementesteuer in einem politischen Zusammenhang mit
der Frage der Restlaufzeiten stehe, sei völlig unbestritten. Das ist nichts anderes, als dass Sie sagen: Sicherheit
gegen Geld. Sie wollen die Laufzeiten der alten Atomkraftwerke verlängern, um bei den Atomkonzernen Geld
einsammeln zu können. Das ist ein Deal, den man nicht
zulassen darf.
({6})
Wenn es um die Sicherheit von Atomkraftwerken
geht, dann dürfen finanzielle Erwägungen keine Rolle
spielen; das ist ganz entscheidend. Vor allen Dingen
kommen Sie in eine große Bredouille. Wenn Sie Ihr Vorhaben nämlich, wie Sie es planen, am Bundesrat vorbei
durchsetzen wollen, dann werden wir klagen. Wir von
Grünen und SPD werden eine Normenkontrollklage
auf den Weg bringen. Angesichts der Ergebnisse all der
Gutachten, die uns vorliegen, bin ich sicher, dass wir
recht bekommen werden. Sie werden den Ausstieg aus
der Atomkraftnutzung nicht rückgängig machen können,
indem Sie den Bundesrat umgehen. Dem werden wir einen Riegel vorschieben, und wir werden gewinnen. Sie
kommen damit nicht einfach durch.
({7})
- Sie kommen damit nicht einfach durch.
Dass vier Energiekonzerne einfach zum Finanzministerium gehen und dort Politik machen, ist ein unglaublicher Vorgang. Das müssen wir uns einmal auf der
Zunge zergehen lassen. Wenn ich höre, wie zum Beispiel
der Fraktionsvorsitzende Kauder und die Fraktionsvorsitzende Homburger - ich sage es einmal so - den bösen
Schein erwecken, als seien sie nichts anderes als die
Sprecher von EnBW, sage ich Ihnen: Das wirft ein ganz
schlechtes Licht auf Ihre Politik und Ihre Regierungskoalition. Das ist der Punkt: Diese Koalition vertritt die Interessen der großen Stromkonzerne und der Atomkonzerne, nicht mehr und nicht weniger. Das ist Ihr Fehler.
({8})
Das, was Herr Kauch zum Thema Wettbewerb gesagt
hat, fand ich spannend. Denn der Chef des Kartellamts,
ein FDP-Mann, hat gesagt, man darf der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke nicht zustimmen, weil es
auf dem Strommarkt dann keinen Wettbewerb mehr gibt,
weil die großen Energiekonzerne die Preise in die Höhe
treiben können und weil am Ende, egal wie hoch die
Brennelementesteuer ist, die Verbraucherinnen und Verbraucher aufgrund dann höherer Strompreise große Gewinne in die Kassen der Energiekonzerne spülen werden. Das ist der Punkt. Ihr Mann an der Spitze des
Kartellamts, ein FDP-Mann, sagt: keine Laufzeitverlängerung, damit die Preise für die Verbraucher nicht explodieren.
({9})
Das ist die Wahrheit über das Vorhaben, das Sie momentan auf den Weg bringen.
Gleichzeitig muss man sehen, dass die Stadtwerke
sagen: Wir können diese Laufzeitverlängerung nicht mit
uns machen lassen, weil es dann keinen Wettbewerb
mehr gibt. Dann können wir nicht mehr mithalten. Durch
die Laufzeitverlängerung zerstören Sie den Wettbewerb
auf dem Strommarkt.
({10})
Frau Kollegin Höhn, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - 150 000 Menschen haben
Ende April dieses Jahres gegen Ihren Ausstieg aus dem
Atomausstieg demonstriert. 150 000 Menschen!
({0})
All diese Menschen haben Sie nicht berücksichtigt. Ihre
eigenen Leute in den Stadtwerken haben Sie nicht berücksichtigt. Umweltverbände und das Bundeskartellamt
haben Sie nicht berücksichtigt. Wenn Sie nur die Interessen der Atomkonzerne vertreten, dürfen Sie sich nicht
wundern, dass Sie dann letzten Endes nicht die Interessen des Volkes vertreten. Dafür sind Sie allerdings gewählt worden. Machen Sie sich nichts vor: Ihre schlechten Umfragewerte liegen an der Politik, die Sie machen.
({1})
Ändern Sie endlich Ihre Politik!
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über die Einführung einer
Brennelementesteuer. Darüber scheinen wir uns fast alle
einig zu sein, doch die Gemeinsamkeiten verlieren sich
leider im Detail. Sie nutzen nämlich diese Kostenerhebung als Generalangriff auf die Kernkraftindustrie. So
sollen die Kernkraftbetreiber zum Beispiel die Entsorgung aller kerntechnischen Forschungsanlagen des
Bundes gleich mitbezahlen.
Wir hingegen schaffen einen angemessenen Ausgleich für die Kosten der Asse. Wir garantieren die
Gleichbehandlung von Kohle und Kernkraft beim Emissionshandel. Für uns stehen zwei Ziele im Vordergrund:
die Sanierung des Haushaltes und die regenerative Erneuerung unseres Energiewesens. Sie sehen also, dass
wir in der Wirtschafts- und Umweltpolitik an einem
Strang ziehen.
({0})
Sie aber operieren mit Zahlen und Forderungen, die
aus der Luft gegriffen sind. Sie gaukeln uns etwas vor,
was es nicht gibt. Sie führen die Bürger hinters Licht. Ihren Behauptungen nach wurden Kernkraftwerke vom
Staat mit Finanzhilfen und Steuervergünstigungen
von insgesamt 125 Milliarden Euro finanziert, eine Mär,
die unters Volk zu bringen Sie nicht müde werden.
({1})
Für Sie scheint die Kernenergieindustrie so etwas wie
ein großer Geldspeicher zu sein - wissen Sie, so einer
wie bei Dagobert Duck -, und Sie sind die Panzerknacker:
({2})
Man muss das Ding nur anbohren, und schon sprudelt
unablässig das Geld. So funktioniert das aber nicht.
({3})
Die Betreiber von Kernkraftwerken erhielten keinerlei Steuersubventionen. Das wurde auch zu Zeiten der
rot-grünen Bundesregierung immer wieder bestätigt.
({4})
Lediglich im Bereich der Entwicklung und Forschung
wurden staatliche Mittel eingesetzt. Der Rückbau stillgelegter Kernkraftwerke und die Entsorgung der Abfälle
werden durch die Betreiber finanziert. Die Mittel dafür
sind durch Rückstellungen der Energieversorger
({5})
von annähernd 30 Milliarden Euro angesammelt worden.
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt, Gewinne
aus einer Laufzeitverlängerung nutzbringend einzusetzen. Dies erfolgt nicht willkürlich, sondern wettbewerbskonform. Wie das konkret aussehen wird, ergibt sich aus
unserem Energiekonzept. Bei uns herrscht schließlich
das Ordnungsprinzip: erst der Rahmen, dann die Details.
({6})
Nach der Sommerpause im September wird die Bundesregierung dieses Konzept vorlegen. Es wird sich auf
nüchterne Analysen gründen, nicht auf Hoffnungen oder
Wunschdenken. Es wird die Kernenergie in den künftigen Energiemix einbeziehen, und zwar so weit, wie es
sinnvoll ist.
Die Fakten hierzu kennen wir alle: Immer noch stellt
die Kernenergie 23 Prozent der Stromproduktion
({7})
und nahezu 50 Prozent des Grundlastanteils. So kann die
Leistung der Kernenergieanlagen fast bis zur Hälfte flexibel gefahren werden. Produktionsschwankungen der
Wind- und Sonnenenergie können durch sie aufgefangen
werden. Und sie verursacht kein CO2. Die Zuverlässigkeit, mit der Strom produziert wird, liegt bei Anlagen der
Kernenergie über 95 Prozent, bei Windenergie bei 5 bis
10 Prozent und bei Solaranlagen bei 1 Prozent. Dabei
sind erneuerbare Energien ohnehin äußerst schwankende
Energiequellen.
Wir werden die Betreiber der Kernkraftwerke in eine
angemessene gesellschaftliche Verantwortung nehmen:
mit Maß und Vernunft, nicht mehr und nicht weniger.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Monaten muss Deutschland einen schwarz-gelben Überbietungswettbewerb von Ergebenheitsadressen
und Gewinnversprechen an die Atomwirtschaft ertragen.
Wenn es dann einmal einen lichten Moment wie die Kabinettsklausur gibt, in der man sich auf die Einführung
einer Brennelementesteuer verständigt, gibt es sofort die
Blutgrätsche des Herrn Kauder, Fraktionsvorsitzender
der CDU, der direkt sagt: Wir führen die Brennelementesteuer mit Einnahmen von 2,3 Milliarden Euro nur dann
ein, wenn wir vorher politisch festgelegt haben, den Betreibern von Kernkraftanlagen 6 bis 8 Milliarden Euro
pro Jahr durch eine Laufzeitverlängerung zu schenken.
Das ist dann die Reaktion auf den ersten lichten Moment.
({0})
Jetzt geht es darum, den Spieß umzudrehen. Die SPD
will die Atomlobby für die enormen Kosten der Altlasten zur Kasse bitten, und zwar nicht nur für Asse und
Morsleben, Jülich und Karlsruhe, sondern auch für die
leistungslosen Zusatzgewinne aus dem Emissionshandel. Es wurde nie zugesagt, dass diese Gewinne behalten
werden können. Wir wollen das nicht mit einer Debatte
über Laufzeitverlängerungen verbinden, sondern wir
sind der Überzeugung, dass es jetzt nach diesem schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien längst um die
Frage einer Laufzeitverkürzung geht.
Wer in der politischen Diskussion die Brennelementesteuer mit einer Laufzeitverlängerung verbindet, der betreibt den Ausverkauf von Sicherheit in diesem Lande,
({1})
und wer das mit der Zusage verbindet, dass 6 bis 8 Milliarden Euro an Zusatzgewinnen pro Jahr anfallen, der
macht Geschenke an die bestverdienenden Unternehmen
unseres Landes und verzerrt den Wettbewerb am
Strommarkt.
Die Kollegin Höhn hat den derzeitigen Präsidenten
des Bundeskartellamts zitiert. Sein Vorgänger hat, wenige Wochen bevor er Staatssekretär dieser Regierung
geworden ist, das Gleiche gesagt, und dessen Vorgänger
hat in einem Gutachten für die Stadtwerke ebenfalls das
Gleiche gesagt.
Worum geht es?
Erstens. Die Zusatzgewinne. Der Emissionshandel
- erst ab 2012 gibt es eine volle Versteigerung, Herr
Steffel - war vor zehn Jahren, zu dem Zeitpunkt, an dem
der Atomkompromiss geschlossen wurde, noch nicht aktuell. Daraus sind Zusatzgewinne entstanden, die der
Atomwirtschaft nie zugestanden haben; es wurde auch
nie versprochen, dass sie sie behalten darf. Im Atomkompromiss - Sie hätten richtig zitieren sollen, Herr
Dr. Nüßlein - steht nämlich nur etwas davon, dass es
keine Zusatzbelastungen geben darf, und nichts vom
Behalten von Zusatzgewinnen. Dieses Geld gehört nicht
den Aktionären von Eon oder RWE; es gehört der Gesellschaft. So war der Emissionshandel von vornherein
angelegt. Wir wollen dieses Geld abschöpfen.
({2})
Zweitens, die Altlasten von 10 Milliarden Euro für
Asse, Morsleben, Karlsruhe und Jülich. In Jülich liegen
aus der Zeit, in der die Atomwirtschaft aktiv war, Altlasten, von denen wir noch nicht wissen, wie wir sie technisch anfassen sollen.
Dieses Geld soll nicht die nächste Generation zahlen,
sondern dieses Geld sollen im Sinne der Nachhaltigkeit
diejenigen zahlen, die davon profitiert haben. Auch das
muss deswegen aus einer Brennelementesteuer bezahlt
werden, die nicht an die Bedingung einer Laufzeitverlängerung geknüpft sein darf, weil das bereits entstandener Atommüll ist. Alles andere wäre eine Subvention der
bestverdienenden Unternehmen dieses Landes.
({3})
Ich habe mitbekommen, dass die Kanzlerin den Finanzminister angewiesen hat, eine Alternative zur
Brennelementesteuer zu prüfen, nämlich einen Fonds,
den die Energiewirtschaft vorgeschlagen hat. Man muss
sich das so vorstellen: Die Unternehmen nehmen bei der
Kreditanstalt für Wiederaufbau einen Kredit auf. Das
ganze Geld, das man ihnen nehmen will - ein Viertel ihrer Zusatzgewinne -, wird mit einem Mal an die Bundesregierung übergeben. Dieser Kredit wird aber nur so
lange abbezahlt, wie der Deutsche Bundestag die Laufzeitverlängerung nicht zurücknimmt. Danach müssen
das wieder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bezahlen.
({4})
Das ist ein Ausverkauf der Demokratie. Sie wollen
den Menschen verbieten, sich bei Wahlen anders zu entscheiden, und Sie wollen dem Deutschen Bundestag verbieten, Energiepolitik zu machen. Wer das tut, der entmündigt die Bürger und dieses Parlament.
({5})
Man kann das ganz konkret machen: Stellen Sie sich
vor, dieser Fonds wird von Ihnen eingeführt, Sie haben
das Geld bekommen, und im Augenblick zahlen die
Energiekonzerne den Kredit ab. Zu diesem Zeitpunkt sagen wir in der Politik: Wir schätzen die Terrorismusgefahr neu ein und wollen die ältesten Atomkraftwerke früher stilllegen, weil sie gegen Angriffe aus der Luft nicht
richtig zu schützen sind. Dann wird gesagt: Ja, natürlich
dürft ihr das machen. Ihr könnt uns anweisen, sie stillzulegen, aber pro Reaktor und Jahr wollen wir 500 Millionen Euro von euch an den Fonds gezahlt haben.
Ein anderer Fall: Die Atomaufsicht sagt: Wir haben
neue Erkenntnisse über den sicheren Betrieb, sodass wir
euch jetzt etwas Neues vorschreiben wollen. Ansonsten
legen wir die Anlage still. Dann wird gesagt: Ja, ihr dürft
sie stilllegen, das kostet euch aber 250 Millionen Euro
pro Jahr.
Wenn die Atomaufsicht nicht mehr unabhängig arbeitet, sondern vor den finanziellen Konsequenzen ihrer
Entscheidungen Angst haben muss, dann haben Sie mit
Ihren Tricks an dieser Stelle nicht nur die Demokratie,
sondern auch die Sicherheit ausverkauft.
({6})
Nach mir spricht ja noch Herr Dr. Fuchs, der auch in
der Energiepolitik immer sehr vehement bei der Sache
ist. Wir haben hier vielleicht die gleichen Emotionen.
Sie haben ja die Chance, hier einmal ein paar Dinge klarzustellen:
({7})
Ist das politisch verbunden? Wie viel Prozent der Zusatzgewinne wollen Sie abschöpfen? - All das können
Sie heute hier einmal sagen.
Was mich aber immer am meisten interessiert, ist die
Gleichzeitigkeit in Ihrer Energiepolitik. Es geht gar nicht
darum, dass im Augenblick gar keine Investitionen getätigt werden, weil alle auf ein immer wieder angekündigtes Energiekonzept warten, von dem ja nur eine Sache
feststeht, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nämlich
die Verlängerung der Atomlaufzeit. Was Sie in dieser
Woche machen, ist aber doch spannend: Die Brennelementesteuer wird nur eingeführt, wenn wir ihnen durch
eine Laufzeitverlängerung das Vierfache schenken, und
die Unterstützung der Solarindustrie wird gekürzt, weil
- das wird von CDU/CSU oft mit zittriger Stimme gesagt - dort zweistellige Renditen möglich sind.
Wissen Sie eigentlich, dass RWE und Eon in ihren
Unternehmenspublikationen ausweisen, dass dort jedes
Jahr 15 Prozent Rendite erreicht werden und dass diese
beiden Unternehmen zusammen mehr Gewinn machen
als alle anderen börsennotierten deutschen Unternehmen
zusammen, nämlich 200 Euro pro Kopf der deutschen
Bevölkerung? Diese Gewinne fließen dorthin ab - Gewinne, die Sie nicht abschöpfen, sondern erhöhen wollen, während Sie bei den erneuerbaren Energien reingrätschen.
({8})
Herr Kauch - ist er noch da? -, Sie hatten ja gesagt, es
ist nicht ausgeschlossen, dass die Einnahmen aus der
Brennelementesteuer für den Ausbau der erneuerbaren
Energien ausgegeben werden. Aber der Haushaltsentwurf liegt auf dem Tisch: Die Einnahmen aus der Brennelementesteuer sind darin enthalten, aber die Ausgaben
für die erneuerbaren Energien werden in Ihrem Haushalt
2011 gekürzt. Das heißt, Sie erzielen Einnahmen, aber
kürzen gleichzeitig die Ausgaben für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist schwarz-gelbe Energiepolitik schwarz auf weiß.
({9})
Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Pfeiffer und dann des Kollegen
Kauch?
Aber gerne doch.
Vielleicht lassen wir beide Zwischenfragen nacheinander stellen, und Sie können dann darauf antworten.
Wenn beide stehen bleiben! - Gerne.
Herr Kollege Kelber, Sie haben mehrfach ausgeführt,
dass RWE und andere die größten Eigenkapitalrenditen haben, die sicherlich zum Teil auf mangelnden Wettbewerb zurückzuführen sind. Darin sind wir uns einig:
Wir wollen einen besseren Wettbewerb erreichen.
Die Aussage, dass das die höchsten Renditen sind, ist
aber, glaube ich, nicht ganz korrekt. Wenn ich richtig informiert bin - vielleicht können Sie das bestätigen oder
auch nicht -, dann hat beispielsweise die Solarworld AG
in 2008 nicht eine Eigenkapitalrendite, sondern, wenn
ich richtig informiert bin, eine Umsatzrendite - das ist
ein kleiner Unterschied - von annähernd 50 Prozent erzielt, und zwar allein aufgrund von Aktivitäten, die
durch das EEG und andere Dinge politisch verursacht
sind.
({0})
Ist es in der Tat richtig, dass die Solarworld AG beispielsweise Ihnen sechsstellige Spendenbeträge überwiesen hat? Dazu muss ich sagen: Das ist dann unerhört.
Gibt es dort Zusammenhänge? Oder können Sie das
nicht bestätigen? Das ist schon spannend.
({1})
Herr Kelber möchte direkt darauf eingehen.
Ja, darauf muss man schon einzeln eingehen. Zunächst einmal: Ich würde mich freuen, wenn ich in der
Lage wäre, einen Vergleich von RWE und Eon aus 2009
und entsprechende Zahlen aus 2009 zu nennen. Dann
würden Sie nämlich sehen, dass viele der Solarunternehmen bereits ins Minus gerutscht sind.
({0})
Fragen Sie einmal Ihre Kollegen aus Sachsen-Anhalt,
aus Thüringen und Sachsen. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Herr Dr. Pfeiffer, ich finde es
schon spannend, dass Sie a) eine Lüge wiederholen und
sich b) trauen, sich hier hinzustellen. Erstens. Ich als
Person habe keinen Cent Spenden erhalten - Punkt.
({1})
- Ja, einen Augenblick. Wir kommen gleich dazu.
Zweitens. Sie als Person weisen auf Ihrer Website
aus, dass Sie - von wem auch immer und für welche Beratungsleistung auch immer - persönliche Einnahmen also für Ihre Nebentätigkeit - in wer weiß welcher Höhe
bekommen haben. Ich denke, Sie sind in diesem Parlament einer der Letzten, der sich auf Kolleginnen und
Kollegen beziehen sollte, die über das gesetzliche Maß
hinausgehend, Herr Hinsken, Spenden an Ortsverbände
und Kreisverbände veröffentlichen. Das macht kein einziger Abgeordneter der CDU/CSU. Ich tue dies als einziger Abgeordneter freiwillig. Das sollten Sie sich vielleicht als Beispiel nehmen. Gewöhnen Sie sich an diese
Transparenz, dann können wir uns gerne weiter unterhalten. Und nennen Sie endlich einmal die Namen der Un5622
ternehmen, für die Sie Beratungsleistungen für Ihre private Geldtasche erbringen, Herr Dr. Pfeiffer - vor allem
mit Blick auf Ihre Herkunft aus der Energiewirtschaft.
Das finde ich wirklich spannend.
Jetzt liegt noch eine Wortmeldung des Kollegen
Kauch vor, den Sie auch angesprochen haben.
Lieber Kollege Kelber, Sie haben quasi eine rückwirkende Zwischenfrage gestellt, die ich Ihnen gerne beantworten möchte. Ich habe eindeutig nicht gesagt, dass die
Einnahmen aus der Brennelementesteuer in dem Umfang, wie es das BMF jetzt vorlegt, in die erneuerbaren
Energien fließen. Ich habe deutlich gemacht, dass es bei
einer Laufzeitverlängerung eine zusätzliche Abschöpfung der Gewinne geben muss. Und ich bin der Auffassung, dass diese dann in die erneuerbaren Energien fließen sollen.
Ich würde mich freuen, wenn das nachher die Position
von ganz Schwarz-Gelb wäre.
Jetzt können Sie zu Ihrem Schlusswort kommen.
Ich hatte meinen Schlusssatz gesagt, bevor meine Redezeit abgelaufen war. Danach wurden noch zwei Zwischenfragen gestellt. Ich bedanke mich noch einmal. Ich
habe am Ende ja das Fazit gezogen, dass der Vergleich
im Umgang mit der Solarwirtschaft, der Vergleich im
Umgang mit den Stadtwerken in der gleichen Art und
Weise, wie man den am besten verdienenden Unternehmen dieses Landes Zusatzgewinne zuschanzen will, ein
entsprechendes Licht auf die schwarz-gelbe Energiepolitik wirft. An ihren Zahlen sollt ihr sie erkennen - das
wäre an dieser Stelle vielleicht eine schöne Variante.
Vielen Dank.
({0})
Herr Pfeiffer, habe ich Ihre Wortmeldung als Antrag
auf eine Kurzintervention zu verstehen, oder ist das
falsch? - Das ist so. Eine Zwischenfrage können Sie
jetzt nicht mehr stellen.
Ich möchte kurz auf das eingehen, was der Kollege
Kelber gesagt hat. Ich bin ihm dankbar, dass er das wiederholt hat, was er schon in einer früheren Plenardebatte
angesprochen hat, ohne dass ich die Möglichkeit hatte,
darauf einzugehen. Ich musste mich belehren lassen,
dass hier alles gesagt werden kann; man kann nicht dafür
zur Rechenschaft gezogen werden.
Er hat schon einmal hier behauptet, ich würde die
Energiewirtschaft beraten - das hat er gerade wiederholt -, und darauf hingewiesen, dass ich aus der Energiewirtschaft komme. Dazu will ich in aller Deutlichkeit sagen, dass ich zwar in der Tat freiberuflich beratend tätig
bin, aber zu keiner Zeit in der Vergangenheit oder heute
- ich plane es auch nicht für die Zukunft - in irgendeiner
Weise beratend oder in sonstiger Art und Weise für die
Energiewirtschaft tätig bin.
({0})
Das möchte ich ein für alle Mal für das Protokoll und
auch Herrn Kelber gegenüber öffentlich klarstellen. Insofern bin ich ihm für den Hinweis dankbar.
Ich komme den Offenlegungspflichten in vollem
Umfang nach, um auch das in aller Deutlichkeit festzustellen. Ich gehe davon aus, dass damit auch dieses
Thema erledigt ist.
Wenn Sie daraus eine Befangenheit ableiten wollen,
dass jemand vor 20 Jahren in der Energiewirtschaft tätig
war, dann kann ich nur antworten: Wenn Sachverstand
nicht mehr gewünscht ist, dann führt das zu der Politik,
die Sie verantworten, die elektrische Leistung und elektrische Arbeit nicht auseinanderhalten kann. Das ist
nicht unsere Politik.
({1})
Zur Erwiderung Herr Kelber.
Wem es zu heiß ist, der muss aus der Küche herausgehen. Wer anfängt, muss auch eine Antwort aushalten. Ich
schlage einfach allen vor, die zuhören: Besuchen Sie
die Website von Herrn Dr. Pfeiffer - Sie müssen leider
auf die Bundestagswebsite zurückgreifen, weil auf seiner Seite gar nichts steht - und auf meine Website
www.kelber.de! Der Unterschied ist: Wenn ich eine Nebentätigkeit ausübe, ist dort ein Name und eine Summe
angegeben. Bei Herrn Dr. Pfeiffer steht „Kunde 1“ und
„Stufe 3“. Das ist irgendein Betrag über 7 000 Euro. Ich
glaube nicht, dass Sie der Richtige sind, um sich hier zu
Wort zu melden.
Jetzt hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kelber,
Lesen bildet. Es wäre sinnvoll, sich die Verhaltensregeln des Deutschen Bundestages durchzulesen. Darin ist
das, was Sie gerade gesagt haben, exakt aufgeführt. Der
Kollege Pfeiffer verhält sich exakt so, wie es im Deutschen Bundestag vorgeschrieben ist.
({0})
Man kann ihm schlecht vorwerfen, dass er sich an die
Vorschriften hält.
({1})
Der nächste Punkt: Sie sollten hier auch sagen - das
mache ich für Sie -, dass Sie Ihren gesamten Wahlkampf durch Herrn Asbeck und die Firma Solarworld finanzieren lassen, der Ihre Kreispartei massivst unterstützt.
({2})
Aber kommen wir zur Sache: Ja, wir führen eine
Brennelementesteuer ein. Ja, wir werden auch die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängern. Allerdings zeichnet sich eine bürgerliche Koalition im Vergleich zu einer
linken dadurch aus, dass sie den Unternehmen bei verbindlich getroffenen Vereinbarungen Verlässlichkeit
bietet.
({3})
Wirtschaftspolitische Vernunft wird von Bürgern und
der Wirtschaft außerordentlich geschätzt. Deshalb wurden wir gewählt und nicht Sie.
In der Ausstiegsvereinbarung vom 14. Juni 2000
wurde zwischen der Bundesregierung und den Kraftwerksbetreibern vereinbart, dass ihnen im Gegenzug zu
den verkürzten Laufzeiten keine zusätzlichen Belastungen aufgebürdet werden können. Eine Brennelementesteuer unabhängig von einer Laufzeitverlängerung ist
durch Ihr Handeln nicht möglich.
({4})
Sie fordern quasi dazu auf, eine Vereinbarung, die Sie
selbst getroffen haben, zu brechen. Das ist nicht unsere
Politik. So etwas tun wir nicht.
Dass Sie sich von Schröder distanzieren, kann ich
verstehen.
({5})
Das haben Sie schon mehrfach gemacht. Dass Sie sich
jetzt aber auch noch von Ihrem grünen Fraktionsvorsitzenden distanzieren - denn er hat das Ganze mit unterschrieben -, wie Sie es jetzt getan haben, kann ich nicht
verstehen. Wahrscheinlich ist er nicht anwesend, weil er
sich für Sie schämt.
({6})
Herr Kollege Fuchs, mir liegen mehrere Bitten um
Zwischenfragen vor.
Nein, wir haben heute genug gehört.
Danke.
In der Unionsfraktion gibt es keinen Zweifel daran,
dass die Einführung einer Brennelementesteuer ausschließlich im Zusammenhang mit einer Laufzeitverlängerung gesehen werden muss. Durch Ihr Handeln sind
wir dazu gezwungen.
({0})
Darüber hinaus zitiere ich aus unserem Koalitionsvertrag. Darin heißt es wörtlich:
Der wesentliche Teil der zusätzlich generierten Gewinne aus der Laufzeitverlängerung der Kernenergie soll von der öffentlichen Hand vereinnahmt
werden. Mit diesen Einnahmen wollen wir auch
eine zukunftsfähige und nachhaltige Energieversorgung und -nutzung, z. B die Erforschung von Speichertechnologien
- damit haben Sie sich nie beschäftigt für erneuerbare Energien, oder stärkere Energieeffizienz fördern.
Genau deswegen werden wir das so machen. Ich
weiß, dass es Ihnen schwerfällt, zu begreifen, dass wir
heute noch nicht aus der Kernenergie aussteigen wollen.
Ich will Ihnen einfach einige Zahlen nennen. Wissen Sie,
wie viele Stunden ein Jahr hat? 8 760. Kennen Sie die
durchschnittliche Wirkungszeit einer Solarzelle in
Deutschland? 940 Stunden. Sie können also 10,7 Prozent des Jahres mit Solarstrom abdecken.
({1})
Kennen Sie die Ausnutzungsdauer von Onshorewindanlagen? 1 560 Stunden. Das sind 17,8 Prozent. Bei Offshoreanlagen sieht es ein bisschen besser aus. Da beträgt
sie 3 000 Stunden; das entspricht 34,2 Prozent. Das zeigt
ganz deutlich, dass wir bis heute keine Möglichkeit haben, auf die Grundlasterzeugung durch andere Energien
zu setzen. Welche Grundlastversorgung haben wir? Wir
haben fossile Energien,
({2})
wir haben in ganz kleinem Maße Biomasse - das liegt
unter 1 Prozent -, und wir haben Kernkraft. Kernkraft
deckt momentan 23 Prozent unseres gesamten Strombedarfs, aber 48 Prozent unserer Grundlast. Was passiert dann, wenn wir die Kernkraftwerke abschalten?
Dann bleibt uns nichts anderes übrig - Frau Höhn, das
sollten Sie wirklich irgendwann einmal lernen -, als
fossile Energieträger zu nutzen, um die Lücke, die wir
dann haben, auszufüllen.
({3})
Wir sind eben nicht in der Lage, vernünftige Speichertechnologien zu entwickeln. Wir haben sie bislang noch
nicht. Wir haben weder Wasserspeicher noch Druckluftspeicher in ausreichendem Maße. Mir geht es um eines
- das hat der Kollege Steffel vollkommen richtig gesagt -,
nämlich dass wir verlässlich preiswerte Energie in
Deutschland zur Verfügung stellen. Die Zeitung Photon
ist kein Parteiblatt der CDU. Darin steht, dass allein
durch den Zubau an Solaranlagen in diesem Jahr - das
haben Sie zu verantworten - der Strompreis im nächsten Jahr um bis zu 12 Prozent steigen wird. Dabei sind
Windanlagen noch gar nicht berücksichtigt. Die kommen noch hinzu. Ich sehe noch kommen, dass wir hier
demnächst darüber diskutieren, ob wir wegen der steigenden Ökokosten Sozialtarife für den Strombezug einführen sollen.
Ich will nicht, dass in Deutschland die großen Industrien - Stahl, Glas, Textil etc. - aufgeben müssen, weil
sie aufgrund zu hoher Stromkosten hier nicht mehr arbeiten können. Ich will nicht, dass die Preise so aus dem
Ruder laufen, dass wir in Deutschland bestimmte Industrien nicht mehr halten können. Für mich ist Deutschland
nach wie vor ein Industrieland. Dafür werde ich mich
einsetzen, dafür kämpfe ich.
({4})
Ich möchte nicht, dass Deutschland ein Land wird, dessen Bruttoinlandsprodukt zu 75 Prozent von der Finanzbranche und der Dienstleistungsbranche abhängig ist.
Die zentralen Bereiche der Industrie müssen hier erhalten werden. Dafür müssen wir alle uns einsetzen.
Schauen Sie sich England an. Ungefähr 27 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts in England - ich weiß nicht,
ob Ihnen diese Zahl bekannt ist - werden in der City of
London erzeugt - mit all den Problemen, die die Engländer jetzt haben: 12 Prozent Verschuldung etc. Wir sind
auf einem wesentlich besseren Weg. Die Industrie läuft
hier wieder, die Industrie erlebt richtige Boomzeiten.
Haben Sie mitbekommen, dass der VDMA bekanntgegeben hat, dass der Auftragseingang im Maschinen- und
Anlagenbau um 60 Prozent im Mai 2010 gegenüber dem
Vorjahresmonat gewachsen ist? Das sind positive Zahlen. Die Entwicklung wird sich sehr schnell auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Darüber sind wir froh.
Genau das wollen wir.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Abschalten
der Kernkraftwerke sagen. Würden wir die jetzt komplett abschalten, dann würde das bedeuten, dass wir rund
150 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich produzieren würden, weil wir die Differenz - ich habe eben versucht, Ihnen das zu erklären - mit fossiler Energie überbrücken
müssten. Wissen Sie, Frau Höhn, wie viel 150 Millionen
Tonnen CO2 sind?
({5})
Das entspricht dem Ausstoß des gesamten deutschen
Straßenverkehrs. Dies müssten wir in Kauf nehmen,
wenn wir alle Kernkraftwerke ersetzten. Anders ist das
nicht zu machen. Das sollten Sie wissen.
({6})
Deswegen werden wir die Kernkraftwerkslaufzeiten verlängern und eine Brennelementesteuer einführen, weil es
gerecht ist, den Profit, der durch die Verlängerung der
Laufzeiten entsteht, abzuschöpfen. Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({7})
Mir liegen zwei Meldungen zu Kurzinterventionen
vor. Weitere Kurzinterventionen lasse ich allerdings
nicht mehr zu.
Zunächst hat der Kollege Ulrich Kelber das Wort.
Es bleibt dabei: Wer Vorwürfe macht, muss sich die
Antwort anhören. - Die Zahlen, die Herr Dr. Fuchs in
Hilfestellung für Herrn Dr. Pfeiffer genannt hat, sind
deswegen bekannt, weil sie auf der Webseite der Bonner
SPD seit drei Jahren freiwillig - über jedes gesetzlich
notwendige Maß hinaus - stehen.
({0})
Welche Spenden an den CDU-Kreisverband Koblenz
von Herrn Dr. Fuchs gegangen sind und welche Spenden
an den CDU-Kreisverband Waiblingen von Herrn
Dr. Pfeiffer gegangen sind, wird auf den entsprechenden
Webseiten hingegen nicht veröffentlicht. Bei uns kann
sich das jeder anschauen.
({1})
- Das müssen Sie sich jetzt schon anhören.
Es weiß auch niemand, wie viel Geld vom Bonner
Unternehmen Solarworld gezahlt wurde. Seit der Renta-Rüttgers-Affäre ist bekannt, dass von Solarworld über
die sogenannten Zukunftskongresse Geld an die NRWCDU geflossen ist. Wann und wie viel, ist auf der Webseite der NRW-CDU nicht nachzulesen. Seit dieser Affäre weiß man auch, dass die Firma Solarworld der FDP
und Herrn Westerwelle Geld gegeben hat. Das finde ich
völlig in Ordnung; denn auch er ist ein Bonner Abgeordneter. Wie viel, können Sie bei der FDP nicht nachlesen.
Das ist der entscheidende Unterschied. Es ist einfach
peinlich, wenn die Intransparenten die Transparenten
wegen angeblich mangelnder Transparenz angreifen.
({2})
Zur Erwiderung, Herr Fuchs.
Herr Kollege, man sollte vielleicht das Parteienfinanzierungsgesetz kennen, wenn man in diesem Hohen
Hause arbeiten darf.
({0})
Ich halte das schon für notwendig. Sie sind nämlich veröffentlichungspflichtig. Wenn ein Kreisverband eine
Spende über 10 000 Euro erhält, muss das veröffentlicht
werden.
({1})
- Bitte schön, das können Sie beim Bundestagspräsidenten nachschauen.
({2})
Das ist veröffentlichungspflichtig.
An meinen Kreisverband hat es nicht eine Spende
über 10 000 Euro gegeben.
Bitte sagen Sie uns dann auch - wir können es auch
nachschauen -, wie viele Spenden Sie von Solarworld
bekommen haben.
({3})
Das würde Ehrlichkeit bedeuten.
({4})
Zwar könnte ich Auskunft geben, weil ich darüber gut
Bescheid weiß. Ich bin aber gehalten, mich hier neutral
zu verhalten,
({0})
keine Meinung zu äußern und auch keine Fachaufklärung zu leisten. Alle Spenden eines Spenders müssen
aber - unabhängig davon, an wie viele Untergliederungen einer Parteien sie gehen - öffentlich berichtet werden.
({1})
- Nein, sie müssen im Rechenschaftsbericht öffentlich
berichtet werden.
({2})
Jetzt kommt eine weitere Kurzintervention der Kollegin Kotting-Uhl.
Herr Dr. Fuchs, bei meiner Kurzintervention geht es
nicht um Spenden, sondern um den Vertrag zum Atomkonsens, den Sie vorhin zitiert haben. In der Tat steht in
diesem Vertrag zwischen den Betreibern und der damaligen rot-grünen Bundesregierung, dass keine einseitig
diskriminierenden Maßnahmen getroffen werden sollen,
wozu auch Steuern gehören, die die Atomkraft einseitig
belasten.
Wie wir heute mehrfach gehört haben - auch Sie haben es gehört, Herr Dr. Fuchs -, stehen wir inzwischen
vor neuen Fakten. Mittlerweile sieht die Situation so aus,
dass die Atomwirtschaft seit dem Emissionshandel de
facto einseitig privilegiert ist. Wenn man denn wollte,
könnte die Argumentation also wie folgt lauten: Dieses
einseitige Privileg wird aufgehoben.
Mir geht es in meiner Kurzintervention aber um etwas
anderes. Sie haben sich hier der Klage der Atomwirtschaft angeschlossen und gesagt, das sei in der Tat ungerecht; wir würden mit unseren Anträgen jetzt den Vertrag
brechen, den wir damals selbst unterschrieben hätten.
Herr Dr. Fuchs, ist Ihnen bekannt, womit dieser Vertrag beginnt? In seiner Einleitung steht der Satz:
Beide Seiten werden ihren Teil dazu beitragen, dass
der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt
wird.
Stimmen Sie mit mir überein, dass die Atomwirtschaft
diesen Vertrag nicht einhält?
Herr Kollege Fuchs zur Erwiderung.
Wir bringen in unserem Koalitionsvertrag klar zum
Ausdruck - ich habe eben daraus zitiert -, dass wir die
Laufzeiten verlängern wollen. Das ist eine politische
Entscheidung der christlich-liberalen Koalition. Dazu
stehen wir auch.
Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass nach dem
von Ihnen ausgehandelten Vertrag zum sogenannten
Atomkonsens die von Ihnen angestrebte Behandlung
eben nicht möglich ist. Das ist eine technische Frage;
man bricht diesen Vertrag ja nicht. Die Verlängerung der
Laufzeiten ist eine politische Entscheidung der christlich-liberalen Koalition. Also können wir mit den Atomkraftwerksbetreibern durchaus einen neuen Vertrag vereinbaren; schließlich tun wir damit nichts Schädigendes anders als Sie damals.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2410 und 17/2425 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 m und
11 b sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
38 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Bettina Herlitzius, Friedrich Ostendorff, Undine
Kurth ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Baugesetzbuchs - Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich
- Drucksache 17/1582 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
weitere Bereinigung von Bundesrecht
- Drucksache 17/2279 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Neue Initiative für Neuheitsschonfrist im Patentrecht starten
- Drucksache 17/1052 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2009
- Vorlage der Vermögensrechnung des Bundes
für das Haushaltsjahr 2009 -
- Drucksache 17/2305 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Auch Verletztenrenten von NVA-Angehörigen
der DDR anrechnungsfrei auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen
- Drucksache 17/2326 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte und Friedensprozess in Sri
Lanka fördern
- Drucksache 17/2417 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik
- Drucksache 17/2434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
PKW-Energieverbrauchskennzeichnung am
Klimaschutz ausrichten
- Drucksache 17/2435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reisende besser schützen
- Drucksache 17/2428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Katrin GöringEckardt, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mindestbeiträge zur Rentenversicherung verbessern, statt sie zu streichen
- Drucksache 17/2436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Marieluise Beck ({10}), Volker Beck
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unterrichtungs- und Mitwirkungsrechte des
Bundestages in Bezug auf Europäische Räte
stärken
- Drucksache 17/2437 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({12})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Marieluise Beck ({13}), Volker Beck
({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU,
NATO und NATO-gleichgestellte Länder konsequent umsetzen
- Drucksache 17/2438 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Auswärtiger Ausschuss ({16})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck ({17}), Josef Philip
Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weitere iranische Flüchtlinge aus der Türkei
in Deutschland aufnehmen
- Drucksache 17/2439 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Federführung strittig
11 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({20}), Volker Beck ({21}),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit Partnerschaft mit Russland fördern
- Drucksache 17/2426 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({22})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 2 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt,
Marieluise Beck ({23}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem EFSF-Rahmenvertrag vom 7. Juni 2010
- Drucksache 17/2412 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({24})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ErnstReinhard Beck ({25}), Peter Altmaier,
Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Verbesserung der Regelungen zur Einsatzversorgung
- Drucksache 17/2433 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu zwei Überweisungen, bei
denen die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 38 l. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auf Drucksache 17/2438 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss - abstimmen. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 m. Der Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Aufnahme iranischer
Flüchtlinge aus der Türkei auf Drucksache 17/2439 soll
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
überwiesen werden. Die Fraktionen der CDU/CSU und
FDP wünschen Federführung beim Innenausschuss. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung
beim Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen. Ich gehe davon aus, dass Sie mit der Überweisung
der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 i sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 n auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland
am 7. Juni 2009
- Drucksache 17/2200 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({27})
Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Michael Hartmann ({28})
Christian Lange ({29})
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler
Es ist vereinbart, dass der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses das Wort zur Berichterstattung erhalten soll. - Herr Kollege Strobl, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen!
Viele Menschen wissen gar nicht - manche Kollegin und
mancher Kollege hier im Hohen Hause offensichtlich
auch nicht -, dass es in Deutschland die Möglichkeit
gibt, gegen Wahlen, namentlich gegen die Bundestagswahl oder auch gegen die Wahl der deutschen Abgeordneten für das Europäische Parlament, einen Wahleinspruch einzulegen. Jede Bürgerin, jeder Bürger hat das
Recht, einen solchen Einspruch gegen eine solche Wahl
einzulegen, wenn sie oder er der Meinung ist, dass bei
der Wahl etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.
Ob der Einspruch berechtigt ist oder nicht, entscheiden
der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages,
das Plenum und anschließend das Bundesverfassungsgericht.
Der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages sammelt alle Einsprüche, prüft jeden einzelnen
Einspruch gewissenhaft und wendet sich dann mit einer
Beschlussempfehlung an Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen, im Plenum des Deutschen Bundestages. Dem
Plenum steht die abschließende Entscheidung über die
Wahleinsprüche zu. Gegen diese Plenarentscheidung
kann dann der Einsprechende eine Wahlprüfungsbeschwerde in Karlsruhe vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen.
Um zwei solcher Beschlussempfehlungen geht es
heute. In der ersten Beschlussempfehlung werden
33 Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl zum
17. Deutschen Bundestag behandelt, und in der zweiten
Beschlussempfehlung geht es um Einsprüche gegen die
Gültigkeit der Wahl der Abgeordneten des Europäischen
Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland. Hier
ist im Plenum noch über 30 Einsprüche zu entscheiden.
Während die Prüfung weiterer Einsprüche gegen die
Bundestagswahl noch andauert, schließt der Deutsche
Bundestag, wenn Sie heute der Beschlussempfehlung
des Ausschusses folgen wollen und die Einsprüche zurückweisen, die Prüfung der Einsprüche betreffend die
Wahl zum Europäischen Parlament ab. Insgesamt gab es
gegen diese Wahl 54 Einsprüche. Die Prüfung der Gültigkeit der Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments - zurzeit sind es 99 Abgeordnete obliegt dem Deutschen Bundestag, übrigens seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament im Jahre
1979. Ein einheitliches europäisches Wahlprüfungsverfahren gibt es nicht.
Der Zweck der Wahlprüfung sind die Sicherung des
objektiven Wahlrechts und die Gewährleistung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Europäischen
Parlaments, soweit die in der Bundesrepublik Deutschland gewählten Abgeordneten betroffen sind. Das bedeutet - das ist für das Verständnis unserer Entscheidungen
wichtig -, dass ein Einspruch gegen die Europawahl nur
dann Erfolg haben kann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss ein Wahlfehler vorliegen. Das
heißt, es muss gegen Vorschriften betreffend die Durchführung oder die Vorbereitung der Wahl verstoßen worden sein. Zweitens muss sich dieser Wahlfehler auf die
Verteilung der Mandate ausgewirkt haben können; er
muss also, wie wir sagen, mandatsrelevant sein. Ich darf
Ihnen mitteilen, dass ein derartiger Fall im Rahmen der
Prüfung der 54 Einsprüche gegen die Europawahl 2009
nicht vorgelegen hat.
Nichtsdestoweniger ist der Wahlprüfungsausschuss
jedem behaupteten Wahlfehler gründlich und sorgfältig
nachgegangen. Wir haben in elf Fällen das Vorliegen eines Wahlfehlers bejaht, jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen können. Hierbei handelte es
sich jedoch durchgehend um Mängel in konkreten Einzelfällen, die die Sitzverteilung im Europäischen Parlament nicht beeinflusst haben. So ging es beispielsweise
um Fehler bei der Führung des Wählerverzeichnisses
Thomas Strobl ({0})
oder um Irrtümer der zumeist ehrenamtlich tätigen
Wahlvorstände in den Wahllokalen. Auch wenn diese
Einsprüche letztlich zurückgewiesen werden, gehe ich
davon aus, dass die betroffenen Wahlorgane unsere Hinweise auf Mängel aufgreifen und darauf hinwirken, dass
derartige Fehler in Zukunft unterbleiben.
Einen Schwerpunkt der Prüfung der Einsprüche zur
Europawahl bildeten diesmal insgesamt zehn Einsprüche, mit denen die Verfassungswidrigkeit der 5-ProzentHürde, die nach dem Europawahlgesetz für die Wahl der
deutschen Europaabgeordneten gilt, geltend gemacht
wurde. Diese Einsprüche konnten schon deshalb keinen
Erfolg haben, weil der Deutsche Bundestag traditionell
im Rahmen der Wahlprüfung die Verfassungsmäßigkeit
der in der Regel von ihm selbst erlassenen Wahlrechtsnormen gar nicht prüft, sondern dies dem Bundesverfassungsgericht überlässt. Dieses kann im Rahmen der sogenannten Wahlprüfungsbeschwerde gegen jede unserer
Entscheidungen angerufen werden.
Ich möchte aber ergänzen, dass der Wahlprüfungsausschuss mit deutlicher Mehrheit festgestellt hat, dass er
die Verfassungsmäßigkeit der 5-Prozent-Hürde bei der
Europawahl nicht bezweifelt. Anderer Ansicht war in
diesem Zusammenhang die Fraktion Die Linke.
Einige der Einspruchsführer haben schon angekündigt, dass sie im Fall der Zurückweisung der Einsprüche
gegen die 5-Prozent-Hürde durch den Deutschen Bundestag planen, den Weg nach Karlsruhe zu beschreiten.
Dieser Weg zum Bundesverfassungsgericht wird durch
den heutigen Beschluss frei.
Ich möchte noch erwähnen, dass bei der Prüfung der
Europawahl erstmals das im Jahr 2008 im Hinblick auf
das Verfahren im Wahlprüfungsausschuss geänderte
Wahlprüfungsgesetz Anwendung fand. Dieses ermöglicht dem Ausschuss, bei der Vorbereitung der Entscheidung regelmäßig auf eine mündliche Verhandlung zu
verzichten, sofern davon keine Förderung des Verfahrens zu erwarten ist. Dies war auch die gängige, langjährige Praxis. Diese Klarstellung im Gesetz hat sich aus
meiner Sicht sehr bewährt.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich die sachliche Atmosphäre, die bei den Beratungen im Ausschuss
herrschte, ebenso hervorheben wie die Tatsache, dass
- mit der soeben erwähnten Ausnahme - im Hinblick
auf das Ergebnis der Entscheidungen durchweg Konsens
zwischen allen Fraktionen bestanden hat. Deshalb
möchte ich mich bei der Kollegin und bei den Kollegen
im Wahlprüfungsausschuss recht herzlich für die sehr
kollegiale und sehr konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Außerdem möchte ich sehr herzlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschusssekretariats für
ihre exzellente Arbeit und für die sehr gute Vorbereitung
danken.
({1})
Ich bitte Sie nun, liebe Kolleginnen und Kollegen,
den Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses Ihre Zustimmung zu erteilen.
Ich bedanke mich bei Ihnen fürs Zuhören.
({2})
Damit kommen wir unverzüglich zur Abstimmung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Beratung der Ersten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009
- Drucksache 17/2250 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({0})
Dr. Wolfgang Götzer
Michael Grosse-Brömer
Michael Hartmann ({1})
Dr. Dagmar Enkelmann
Josef Philip Winkler
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll
vom 11. Dezember 2009 zum Abkommen vom
23. August 1958 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Großherzogtum
Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und
Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern
- Drucksache 17/1943 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Juli
2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/1944 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/2248 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({3})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll zum Abkommen mit dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf
dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2248, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1943
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen nun zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen mit der mazedonischen Regierung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2248, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1944
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Verwendung von Verwaltungsdaten
für Wirtschaftsstatistiken und zur Änderung
von Statistikgesetzen
- Drucksache 17/1899 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({4})
- Drucksache 17/2467 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2467, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/1899 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 15. Mai
2003 zur Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus
- Drucksache 17/2067 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 17/2370 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Sebastian Edathy
Halina Wawzyniak
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2370, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2067 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertneunte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste
- Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 17/1624, 17/1819 Nr. 2, 17/2379 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2379, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/1624 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deklarationspflicht für Palmöl in Lebensmitteln
- Drucksachen 17/1780, 17/2316 Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Iris Gleicke
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2316, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1780 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 116 zu Petitionen
- Drucksache 17/2317 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 116 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({9})
Übersicht 3
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
- Drucksache 17/2459 -
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü-
nen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenom-
men.1)
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({10}) zu dem … Gesetz zur Än-
derung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
- Drucksachen 17/1147, 17/1604, 17/1950,
17/2402 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
1) Anlage 2
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache
17/2402? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Priska Hinz ({11}), Manuel
Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Forschungsetat auf Innovation und Nachhaltigkeit für 2020 fokussieren - Ratsentscheidung ITER-Projekt nicht zustimmen
- Drucksache 17/2440 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 117 zu Petitionen
- Drucksache 17/2442 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 117 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 118 zu Petitionen
- Drucksache 17/2443 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 118 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 119 zu Petitionen
- Drucksache 17/2444 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 119 ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 120 zu Petitionen
- Drucksache 17/2445 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 120 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 121 zu Petitionen
- Drucksache 17/2446 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 121 ist bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 122 zu Petitionen
- Drucksache 17/2447 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 122 ist bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 123 zu Petitionen
- Drucksache 17/2448 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 123 ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen
Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
- Drucksache 17/2449 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 124 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
- Drucksache 17/2450 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 125 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
- Drucksache 17/2451 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 126 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 127 zu Petitionen
- Drucksache 17/2452 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 127 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 3 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
- Drucksache 17/2453 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Sammelübersicht 128 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der
„Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
- Drucksachen 17/2414, 17/2415 -
Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
Medien hat bereits die Wahlvorschläge der Bundesregie-
rung, des Bundes der Vertriebenen, der Evangelischen
Kirche in Deutschland, der Katholischen Kirche in
Deutschland und des Zentralrats der Juden in Deutsch-
land übermittelt. Dazu liegt Ihnen eine Unterrichtung auf
Drucksache 17/2415 vor.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Bevor wir zur abschließenden Wahl aller Mitglieder
des Stiftungsrates kommen, müssen wir zunächst die
vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder
und Stellvertreter für die Wahl des Stiftungsrates benen-
nen.
Es gibt den Wunsch, vor Eintritt in diesen Wahlgang
mündliche persönliche Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung abzugeben, und zwar von der SPD-
Fraktion, vom Bündnis 90/Die Grünen und von der
Fraktion Die Linke.1)
Zunächst für die SPD-Fraktion, Frau Kollegin
Schwall-Düren.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Heute beweist sich, dass die von der
Mehrheit dieses Hauses beschlossene Form der Wahl
von Stiftungsratsmitgliedern falsch ist. Bereits bei der
Änderung des Gesetzes zur „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ hat die SPD-Fraktion zum Ausdruck
gebracht, dass die Abstimmung über die Besetzung des
Stiftungsrates im Gesamtpaket inakzeptabel ist, und hat
deshalb das Gesetz abgelehnt. Der Berufungsprozess ist
damit nämlich keinesfalls objektiviert. Im Gegenteil,
nun werden auch Mitglieder des Stiftungsrates mit einer
demokratischen Legitimation ausgestattet, an deren Engagement für den Stiftungszweck erhebliche Zweifel bestehen.
Sicherlich steht die Mehrheit der vorgeschlagenen
Personen eindeutig hinter den Stiftungszielen. Ich darf
zur Erinnerung den Gesetzestext zitieren:
Zweck der unselbstständigen Stiftung ist es, im
Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansionsund Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten.
Heute steht der Bundestag allerdings vor dem Dilemma,
dass zumindest bei zwei Vertretern des Bundes der Vertriebenen aufgrund von Äußerungen in der Presse bezweifelt werden muss, ob diese als künftige Stiftungsratsmitglieder die Arbeit der Stiftung auch im Sinne der
Versöhnung unterstützen werden.
({0})
Hartmut Saenger spricht beispielsweise in der Preußi-
schen Allgemeinen Zeitung über den Beginn des Zweiten
Weltkrieges wie folgt - ich darf zitieren -:
Besonders kriegerisch führte sich Polen auf. Der
1918 wieder erstandene Staat schaffte es in der kur-
zen Zeit bis 1921, gleich mit vier Nachbarn … im
dauerhaften Streit zu liegen.
Und weiter:
1) Anlagen 3 bis 8
Erst England machte den Krieg um Danzig zu einem weltweit ausgetragenen Krieg, der dann durch
den Kriegseintritt der USA wegen seiner Interessen
am Pazifik zum globalen Krieg ausuferte.
Wenn das keine Form von Geschichtsrevision ist, dann
weiß ich nicht, was man unter diesem Begriff verstehen
kann.
({1})
Arnold Tölg sagt im Interview mit der Jungen Freiheit zum Thema Zwangsarbeiter:
Wenn man über Zwangsarbeiterentschädigung
spricht, müßte man auch deutlich machen, daß gerade die Länder, die am massivsten Forderungen
gegen uns richten, genügend Dreck am Stecken haben, weil sie Hunderttausende deutscher Zwangsarbeiter in zahllosen Lagern hatten.
Oder:
Während in Nürnberg von den Siegern die deutschen Kriegsverbrecher zurecht verurteilt wurden,
haben die gleichen Länder bezüglich Zwangsarbeitern ähnliche Verbrechen begangen wie HitlerDeutschland.
({2})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dennoch ist die
vorgeschlagene Gesamtliste abzulehnen für einen Teil
der Kollegen der SPD-Fraktion und auch für mich keine
Option, da das positive Engagement der anderen Stiftungsratsmitglieder nicht infrage gestellt werden kann.
Uns ist daran gelegen, dass die Stiftung endlich die Arbeit aufnehmen kann. Deshalb stimme ich der Wahl trotz
dieser großen Bedenken zu.
({3})
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat nun
Kollegin Jochimsen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
stimme dem Gesamtvorschlag für die Mitglieder und
Stellvertreter des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ nach sorgfältiger Prüfung
nicht zu. Grund meiner Ablehnung ist das undemokratische Wahlverfahren, das mir - wie allen anderen Abgeordneten - nur die Möglichkeit gibt, über einen Vorschlag abzustimmen, der nur als Ganzes angenommen
oder abgelehnt werden kann. Ich würde also bei einer
Zustimmung nicht nur den von den Fraktionen benannten Mitgliedern des Deutschen Bundestags meine
Stimme geben, sondern ebenso allen anderen Mitgliedern, auf deren Auswahl ich keinerlei Einfluss hatte. Das
ist für mich nicht akzeptabel.
({0})
Ein vergleichbares Wahlverfahren gibt es derzeit bei
keiner anderen Gremienbesetzung, so die Auskunft des
Wissenschaftlichen Dienstes. Damit widerspricht das
Wahlverfahren den demokratischen Gepflogenheiten,
denen wir bisher im Deutschen Bundestag bei der Besetzung der Gremien folgten. Es gibt den Abgeordneten des
Bundestages auch keineswegs mehr Einflussmöglichkeit. Im Gegenteil: Bei einem solchen Gesamtvorschlag
kommt der Wille des Parlaments nur ungenügend oder
verfälscht zum Ausdruck. Letztlich können wir nur Ja
oder Nein sagen. Das entmündigt das Parlament. Meine
Kolleginnen und Kollegen, Sie entmündigen sich bei
dieser Abstimmung selbst!
({1})
In der Begründung für die Veränderung des Besetzungsverfahrens heißt es im Gesetzentwurf, dass die Erhöhung der Anzahl der Sitze im Stiftungsrat und die
Änderung des Berufungsverfahrens aufgrund der besonderen geschichtspolitischen Komplexität des Projektes
erfolgen und um der Komplexität der Aufgabenstellung
und des Meinungsspektrums noch besser Rechnung tragen zu können. Hinzu komme, dass durch die Entscheidung des Bundestages gewährleistet sei, dass übergeordnete politische Belange beachtet werden.
Ich sage Ihnen: Das ist purer Hohn bei dieser Wahl.
({2})
Das neue Gesetz und das darin festgelegte Besetzungsverfahren vermehren nur die Zahl der Ämter und Sitze in
der Stiftung und degradieren das Parlament zu einem
Zustimmungsapparat. 63 Mitglieder der Linksfraktion
sehen das genauso und haben sich meiner Erklärung
schriftlich angeschlossen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nun hat Kollege Volker Beck Gelegenheit zu einer
persönlichen Erklärung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mitglieder meiner Fraktion und auch ich persönlich werden
die beiden Wahlvorschläge ablehnen. Dies hat zwei
Gründe. Einmal finden wir den Deal, den die Bundesregierung mit dem Bund der Vertriebenen gemacht hat und
der zu der jetzigen Zusammensetzung des Stiftungsrats
führt, inakzeptabel.
({0})
Herr Westerwelle hat mit gutem Grund und völlig zu
Recht der Benennung von Erika Steinbach als Mitglied
des Stiftungsrates der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ widersprochen, weil dies die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland belastet
hätte. Frau Steinbach hat damals gegen die Anerkennung
der Oder-Neiße-Grenze gesprochen und abgestimmt und
sich in zahlreichen Äußerungen gegenüber unseren europäischen Nachbarn, unseren ehemaligen Kriegsgegnern,
in einer Art und Weise geäußert, dass ihre Benennung
dort nicht als Signal der Versöhnung verstanden worden
wäre.
({1})
Dafür kann der Bundestag nichts, dafür kann die Bundesregierung nichts, auch diese Stiftung kann dafür
nichts. Deshalb braucht es dafür, dass Frau Steinbach
nicht in dieses Gremium kommt, keine Kompensation
durch Aufblähung der Zahl der Sitze für den Bund der
Vertriebenen. Es gibt einige relevante Organisationen,
die in diesem Stiftungsrat nicht vertreten sind. Es gibt
zwei Fraktionen des Deutschen Bundestages, die in diesem Stiftungsrat nicht vertreten sind. Deshalb ist es völlig unangemessen, diese Art der Besetzung hier vorzunehmen.
({2})
Ein zweiter wesentlicher Grund, warum wir diesen
Wahlvorschlägen heute nicht zustimmen können, sind
zwei Personen, die auf der Benennungsliste stehen. Frau
Kollegin Schwall-Düren hat schon einiges dazu gesagt.
In der Preußischen Allgemeinen Zeitung schreibt
Hartmut Saenger, einer der für den Stiftungsrat benannten Mitglieder und Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges:
Oft genug geschieht das
- die Beschreibung des Ausbruches unter Kurzformeln wie: „… der vom nationalsozialistischen Regime entfesselte Weltkrieg“.
Solche Kurzformeln werfen naturgemäß mehr Fragen auf als beantwortet werden.
Er beantwortet sie dann:
Der historische Kontext zum Sommer 1939 weist
bei allen europäischen Großmächten eine erstaunliche Bereitschaft zum Krieg aus, um staatliche Ziele
durchzusetzen oder Bedrohungen durch Bündnisse
abzuwehren.
Besonders kriegerisch führte sich Polen auf. …
Im März 1939 machte Polen sogar gegen Deutschland mobil und gab damit Hitler die Möglichkeit
Volker Beck ({3})
der Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934.
Polen hat demnach doch den Krieg begonnen; wir haben auch nur zurückgeschossen. In den weiteren Ausführungen erklärt er England, Frankreich und die Vereinigten Staaten sozusagen für schuldig, einen
imperialistischen Krieg gegen Deutschland geführt zu
haben.
({4})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie können
doch heute nicht ernsthaft mit diesem Mann diesen Aussagen Ihre Zustimmung erteilen.
({5})
Ich appelliere an Sie: Ziehen Sie den Wahlvorschlag hier
heute zurück und lassen Sie uns darüber noch einmal reden. Das ist völlig inakzeptabel.
Ein weiterer Vertreter auf dieser Liste des Bundes der
Vertriebenen ist Herr Arnold Tölg,
({6})
der im Zusammenhang mit der Zwangsarbeiterentschädigung den Bundespräsidenten Rau dafür kritisierte,
dass er diese Entschädigungen begrüße, anstatt deutlich
zu machen, dass die Empfängerländer in Osteuropa eine
ähnliche oder vergleichbare Schuld wie Deutschland auf
sich geladen hätten. Er sagte im Zusammenhang mit den
Nürnberger Urteilen:
Während in Nürnberg von den Siegern die deutschen Kriegsverbrecher zu Recht
- immerhin verurteilt wurden, haben die gleichen Länder bezüglich Zwangsarbeitern ähnliche Verbrechen begangen wie Hitler-Deutschland.
({7})
Meine Damen und Herren, das darf nicht die Botschaft dieser Versöhnungsstiftung sein!
({8})
Ich bin selbst ein Kind aus einer Vertriebenenfamilie. Ich
distanziere mich mit Nachdruck von solchen Aussagen,
wenn es um die Aufarbeitung des Unrechts der Vertreibung geht. Menschen, die vertrieben worden sind, teilen
diese Thesen nicht.
({9})
Deshalb kann so jemand nicht im Stiftungsrat einer Bundesstiftung der Bundesrepublik Deutschland sitzen, mit
der Zustimmung des Deutschen Bundestages. Das ist in
keiner Weise hinnehmbar. Lassen Sie uns diese Frage
anders lösen.
Ich appelliere an Sie von der Union und von der FDP:
Machen Sie das jetzt nicht! Sie richten großen Schaden
in unseren europäischen Beziehungen an. Sie blamieren
sich als Koalition, wenn Sie jetzt einfach daran festhalten.
({10})
Es besteht immer noch die Möglichkeit, das jetzt von der
Tagesordnung zu nehmen und noch einmal neu darüber
zu reden.
({11})
Vielleicht waren Ihnen diese Äußerungen nicht bekannt; das setze ich einmal voraus. Dann muss man jetzt
aber dementsprechend angemessen handeln und darf das
nicht einfach durchwinken. Der Bundestag ist kein Abnickorgan. Sie sind hier als Abgeordnete alle einzeln dafür verantwortlich, wie Sie hier jetzt abstimmen bzw. ob
Ihre Fraktionen diese Vorschläge jetzt zurücknehmen
und die Entscheidung vertagen.
({12})
({0}):
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP
bezogen auf die vom Deutschen Bundestag vorzuschlagenden Mitglieder und Stellvertreter. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag bezogen auf die
Mitglieder des Bundestages angenommen mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Linken
bei Stimmenthaltung der Grünen und zweier Abgeordneter der SPD.
({1})
- Entschuldigung. Also: bei Gegenstimmen der Grünen
und einigen Enthaltungen seitens der SPD-Fraktion.
Damit können wir nun über den Gesamtvorschlag
über die Mitglieder des Stiftungsrates auf Drucksache 17/2415 einschließlich des soeben angenommenen
Wahlvorschlags des Deutschen Bundestages abstimmen.
Der Gesamtvorschlag kann nur als Ganzes angenommen
oder abgelehnt werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({2})
Hierzu liegen - ich werde gerade daran erinnert - einige persönliche Erklärungen in schriftlicher Form vor.
Wer stimmt für diesen Gesamtvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesamtvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP
({3})
gegen die Stimmen der Linken, der Grünen und der SPD
- in der SPD-Fraktion gab es einige Enthaltungen und
eine Zustimmung - angenommen. Die Mitglieder und
ihre Stellvertreter im Stiftungsrat der „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ sind damit gewählt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den
Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Gesundheitspolitik ohne Perspektive
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin
Martina Bunge für die Fraktion Die Linke.
({4})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ja, wir haben beantragt, heute eine zweite Aktuelle
Stunde in dieser Sitzungswoche zur Gesundheitspolitik
durchzuführen. Während wir uns gestern über den zutiefst unsozialen Charakter des Konzepts von Ihnen,
Herr Minister Rösler, und der Kolleginnen und Kollegen
der Koalition ausgetauscht haben, hat die Linke für
heute eine Aktuelle Stunde beantragt, die zeigen soll,
dass Ihr Konzept, dass Ihre Politik ohne Perspektive ist.
({0})
Sie bieten für die Zukunft keine brauchbaren Antworten.
Mit Beitragssatzerhöhungen und Zusatzbeiträgen muten Sie den gesetzlich Versicherten mit 10,2 Prozent,
8,2 plus 2 Prozent, den höchsten Beitragssatz aller Zeiten zu; den müssen schon bald alle schultern. Heute
Morgen gab es ja die ersten Meldungen, dass das Defizit
2011 laut Rechnungen des Bundesgesundheitsministeriums gedeckt sein könnte, dass aber schon Milliardendefizite für 2012, 2013 und 2014 - wir reden über 4 bis
10 Milliarden Euro - absehbar sind. Das allein sollen die
Versicherten schultern, und insbesondere Menschen mit
den kleinsten Einkommen, also Geringverdiener, Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner sowie Studierende,
überproportional, während die Arbeitgeber und Bestverdienenden außen vor bleiben? Das alles ist zutiefst unsozial.
({1})
Aber das Ganze ist nicht ohne Alternative. Die Stimmen in der Öffentlichkeit, die eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung befürworten, mehren
sich. Viele fordern: Sie muss her! Es geht dabei um eine
Versicherung, in die wirklich alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden, also auch Beamte, Abgeordnete,
Minister, Selbstständige und Manager, und in die auch
alle Einkommen einbezogen werden, von denen Menschen heutzutage leben, also auch Kapital- und Zinseinkünfte. Natürlich müssen sich auch die Arbeitgeber wieder zu gleichen Teilen an der Finanzierung beteiligen.
Die Parität muss wiederhergestellt werden.
({2})
Auf dieser neuen Basis reichten für Versicherte und Arbeitgeber 10 Prozent, also 5 plus 5 Prozent, aus, um alle
gesundheitlichen Leistungen zu bezahlen. Zuzahlungen
und die unsägliche Praxisgebühr könnten sogar abgeschafft werden. Außerdem hätten wir Spielraum für die
Herausforderungen, vor denen wir stehen.
Alle reden von den Erfordernissen aufgrund des demografischen Wandels bzw. der älter werdenden Gesellschaft und vom rasanten medizinischen Fortschritt. Wie
eine Monstranz trägt man das vor sich her. Aber sind wir
wirklich darauf eingestellt? Wir sagen Nein.
({3})
Ein Blick in Ihr lange ausgebrütetes Konzept bestätigt
dies: kein Wort zu Strukturveränderungen. Vielmehr:
Der Wettbewerb soll es richten. Ausgaben werden dabei
pauschal gekürzt.
Nehmen wir nur das Beispiel der Krankenhäuser: Der
Ausgabendeckel wird gesenkt - die Ausgaben dürfen
maximal in Höhe der halben Steigerung der Grundlohnsumme wachsen -, und für Mehrleistungen ist ein Effizienzabschlag von 30 Prozent zu zahlen. Meinen Sie
denn, die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht aus
Jux und Dollerei von einem Sanierungsdefizit in Höhe
von 50 Milliarden Euro? Meinen Sie, Verdi fordert aus
Jux und Dollerei: „Weg mit dem Deckel!“?
Die Finanzlöcher in den Krankenhäusern werden zulasten der dort Beschäftigten gestopft. Immer unerträglichere Arbeitszeiten, enorme Arbeitszeitverdichtungen,
physische und psychische Belastungen von Ärztinnen
und Ärzten, Schwestern und Pflegern sind die Realität.
Letztlich wirkt sich dies auch auf die Versorgung der Patientinnen und Patienten aus. Technik und Pillen allein
heilen nicht. Zum Heilungsprozess gehören auch ein
aufmunterndes Lächeln und ein gutes Wort. Doch wo
gibt es das bei allem Engagement der Beschäftigten
- das will ich nicht in Abrede stellen - noch?
({4})
Wir brauchen endlich konsequente Schritte, um den
medizinischen Bedarf in den Regionen unseres Landes
konkret zu ermitteln und dabei auch schier unüberwindDr. Martina Bunge
bare Sektorengrenzen zu überdenken. Man muss entscheiden: Wo wird die Behandlung am besten gemacht?
Wo können sich Krankenhaus und ambulant Tätige gemeinsam engagieren? Neue Versorgungsformen wie das
erfolgreiche Modell AGnES brauchen eine echte
Chance. Dann könnten auch unter Bundesbeteiligung Investitionsmittel in die Hand genommen und ein zielgerichteter Ausbau der Infrastruktur gewährleistet werden.
Dann könnten Krankenkassenbeiträge für medizinische
Leistungen und Beschäftigte in ausreichendem Maße
dorthin fließen, wo die Behandlung effizient stattfindet.
Dann würde Arbeit im Gesundheitsbereich endlich wieder attraktiv.
Machen Sie mit der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung das Gesundheitssystem zukunftsfest! Lassen
Sie von Ihrer verkappten Kopfpauschale die Finger!
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident, Sie sagen zu Recht zu mir: Sie habe
ich doch schon gestern gehört. Das ist richtig.
({0})
Das macht deutlich, dass es der Opposition offensichtlich nicht gelungen ist, sich darauf zu einigen, wie sie
denn mit diesem Thema in dieser Woche umgehen will.
({1})
Sie können uns gerne ob der einen oder anderen Debatte
kritisieren, die wir in der Koalition führen. Aber wir führen die Debatten wenigstens in der Sache und ringen um
die beste Lösung für die Gesundheitsversorgung der
Menschen.
({2})
Aber weil sich Linke und SPD nach der Zerlegung bei
der Bundespräsidentenwahl nicht einigen können und
sich vollends auf die Taktiererei nach dem Motto verlegt
haben: „Und täglich grüßt das Murmeltier“, gab es gestern eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema und heute
wieder eine.
({3})
Das ist das eigentliche Armutszeugnis dieser ganzen
Veranstaltung.
({4})
Das gibt uns andersherum die Gelegenheit, noch einmal deutlich zu machen, warum der Kompromiss der
Koalition gelungen ist.
({5})
Wir haben ein faires Paket geschnürt, das in seiner Kombination sowohl kurzfristig die Herausforderungen angeht als auch strukturell für die Zukunft eine Perspektive
beinhaltet.
Erstens. Angesichts eines Defizites von über
10 Milliarden Euro - das größte Defizit in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung - müssen wir es schaffen, die Ausgabenzuwächse im nächsten
Jahr zu begrenzen. Da geht es etwa um Bereiche wie die
Versorgung durch Niedergelassene, die Krankenhäuser
und die Verwaltungskosten der Krankenkassen.
Es ist schon spannend, immer wieder zu hören - ich
ahne es, Sie werden es gleich wieder sagen, Herr Kollege Lauterbach; auch gestern klang das schon an -, all
das sei viel zu wenig.
({6})
Ich will Ihnen sagen - Frau Kollegin Bunge hat darauf
schon hingewiesen -, was das für die Beschäftigten in
den Krankenhäusern bedeutet: für die vielen Pflegekräfte, die Ärzte und die vielen Beschäftigten in den niedergelassenen Praxen. Wir haben auch Gespräche mit
den Betriebsräten der Pharmaunternehmen geführt. Natürlich wollen wir die Kostensteigerungen der nächsten
Jahre begrenzen. Natürlich müssen wir die großen Ausgabenblöcke in den Blick nehmen. Wenn wir angesichts
von Hunderten Milliarden Euro bis zu 4 Milliarden Euro
einsparen wollen, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, aber sagen, das seien nur Kleckerbeträge, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der betroffenen
Menschen, die sich Sorgen machen. Deswegen sollten
Sie genau aufpassen, wie Sie sich an dieser Stelle einlassen.
({7})
Normalerweise fordern Sie immer abstrakt das Sparen ein. Abstrakt Sparen zu fordern, ist immer einfach.
Aber wenn es dann konkret wird, wird es schwieriger.
Sie sind in den letzten Wochen einmal konkret geworden. Sie haben gesagt, wir sollen den Rabatt der Pharmaindustrie auf Arzneimittel um 10 Prozentpunkte erhöhen. Wir haben vor zwei Wochen hier im Deutschen
Bundestag mit dem GKV-Änderungsgesetz die Erhöhung des Zwangsrabattes auf Arzneimittel für die gesetzliche Krankenversicherung durch die Pharmaindustrie um 10 Prozentpunkte beschlossen. Die einzige
Fraktion, die dagegengestimmt hat, war die SPD-Fraktion.
({8})
Das soll mir doch einmal jemand erklären: Sie stellen
sich hierhin, schreien fortwährend, man solle sparen,
wenn aber dann gespart wird, dann stimmen Sie dagegen. Das ist doch nicht mehr zu verstehen, Herr Kollege
Lauterbach. Das macht das Ganze nur noch alberner.
({9})
Zweitens. Neben der Frage der Zuwachsbegrenzung
im nächsten Jahr ist die Rückkehr zum alten Beitragssatz
der gesetzlichen Krankenversicherung von 15,5 Prozent
ein weiterer Punkt. Diesen Beitragssatz haben wir zum
1. Januar 2009 in der Großen Koalition gemeinsam beschlossen. In der Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir
den Satz Mitte 2009 auf 14,9 Prozent gesenkt, um Anreize zu setzen, Arbeitsplätze zu erhalten und zusätzliche
zu schaffen. Jetzt, zum Ende der Krise - die Zahl der Arbeitslosen sinkt bemerkenswert stark, die Wirtschaft erholt sich gut -, kehren wir zu diesem alten Beitragssatz
zurück. Entgegen dem, was an der einen oder anderen
Stelle behauptet wird, ist es im Übrigen auch völlig in
Ordnung, dass auch die Arbeitgeber mit in der Verantwortung sind und zusätzlich zahlen müssen.
Zum Dritten werden wir - das ist die Perspektive für
die Zukunft - den Zusatzbeitrag, den wir übrigens
- auch das will ich Ihnen einmal sagen - in der Großen
Koalition zusammen beschlossen und eingeführt haben SPD und Union haben diesen Zusatzbeitrag gemeinsam
beschlossen;
({10})
ich weiß, dass Sie diesbezüglich eine politische Demenz
haben, das haben wir ja gestern schon hinreichend gehört -, so weiterentwickeln, dass das, was damit bezweckt ist, auch erreicht wird
({11})
und dass wir zu gerechteren Verhältnissen als bisher
kommen. Wir werden nämlich den sozialen Ausgleich
aus Steuermitteln vornehmen, das heißt, wir werden den
sozialen Ausgleich auf mehr und breitere Schultern verteilen. Nicht mehr nur die 28 Millionen abhängig Beschäftigten und ihre Arbeitgeber, die in die gesetzliche
Krankenversicherung einzahlen, sondern auch alle anderen Steuerpflichtigen - die Bezieher aller Einkommensarten, die Privatversicherten und auch die Bezieher von
Einkommen über der Bemessungsgrenze - finanzieren
den Sozialausgleich. Das ist am Ende gerechter und
sollte doch gerade die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands freuen.
({12})
Am Ende steht das Ziel - um das geht es im Kern -,
eine flächendeckende Versorgung zu erhalten. Ich
komme aus dem Münsterland, also einer ländlichen Region. Es geht nicht nur um Spitzenmedizin in München,
Düsseldorf oder Berlin. Der Zugang zu medizinischer
Innovation ist ein hohes Gut. Wir haben eines der wenigen Gesundheitssysteme auf der Welt, innerhalb dessen
medizinische Innovationen und neue Arzneimittel für
die gesetzlich Versicherten direkt verfügbar und zugänglich sind. Vor allem sind sie für jeden in Deutschland zugänglich. Was nützt Ihnen eine Spitzenmedizin, wenn
wie zum Beispiel in den USA noch immer bis zu
40 Millionen Menschen ohne Versicherung und Gesundheitsschutz sind?
Diese drei Ziele wollen wir erreichen: eine flächendeckende Versorgung, einen weiterhin direkten Zugang zu
Innovationen, und zwar für jedermann - unabhängig
vom Alter und Einkommen. Damit das in einer älter
werdenden Gesellschaft und bei medizinischem Fortschritt, etwa bei der Krebsdiagnose und -therapie, möglich ist, braucht man eine breitere Finanzierungsgrundlage.
Es ist es übrigens wert, in einer Koalition ein paar
Wochen und Monate darum in der Sache zu ringen,
wenn am Ende ein gutes Ergebnis dabei herauskommt.
({13})
Genau das wollen wir in den nächsten Wochen und Monaten umsetzen. Es wäre schön, wenn Sie sich einmal
konstruktiv und nicht nur durch Geschrei in Aktuellen
Stunden beteiligen würden.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir müssen uns daran erinnern, was hier von
Minister Rösler und auch von der Koalition versprochen
wurde. Es sollte eine Reform aus einem Guss werden:
keine Flickschusterei, keine Beitragssatzerhöhung. Die
solidarische Absicherung sollte ein Stück weit geschützt
werden, und die 1-Prozent-Regel - so wurde damals behauptet - sollte auch nicht wegfallen. Es sollte eine
nachhaltige Reform werden. Echte Strukturreformen
wurden angekündigt. Das ist also das, was damals angekündigt wurde.
Wenn Sie eine solche Reform gemacht hätten, dann
hätten Sie tatsächlich unsere Zustimmung verlangen und
erwarten können. Was haben Sie stattdessen vorgelegt?
Was liegt heute vor? Seien wir doch ehrlich!
({0})
Es liegt eine Beitragssatzerhöhung vor, aber überhaupt
keine Strukturreform; es gibt ein paar unsystematische
und im Wesentlichen nicht besonders wirksame Sparvorschläge, die Kopfpauschale wurde „durch die Hintertür“
eingeführt - hier ist Herr Seehofer, das sage ich einmal
ganz offen, relativ erbärmlich eingeknickt -,
({1})
und es gibt einen Sozialausgleich mit Alibifunktion. Das
ist das, was vorliegt. Daher ist diese Reform aus meiner
Sicht auf der ganzen Linie gescheitert.
({2})
Minister Rösler hat damals sinngemäß gesagt - ich
muss sagen, das fand ich beeindruckend, weil das eine
außergewöhnliche Ankündigung war -: Wenn die Reform misslingt, dann will mich niemand mehr als Minister haben. - Ich kann nur sagen: Dieser Fall ist jetzt eingetreten; jetzt ist es so weit. Das ist jetzt sozusagen der
Zeitpunkt dafür, den zweiten Schuh fallen zu lassen. Es
ist so weit. Die Reform ist misslungen, und daher will
der Bürger Sie als Minister, ehrlich gesagt, auch nicht
mehr haben.
({3})
- Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind ja gar nicht zu
sehen, Herr Kollege.
({4})
Zu Ihnen gibt es keinen Kommentar. Sie sind nicht zu
sehen, von daher gibt es auch keine Kritik.
({5})
Wäre diese Beitragssatzerhöhung vermeidbar gewesen? Natürlich wäre die Beitragssatzerhöhung vermeidbar gewesen. Seit neun Monaten haben wir keinerlei
Sparbemühungen gesehen. Wir haben auch kein Vorschaltgesetz gesehen. Wir haben damals unter dem
Druck drohender Beitragssatzerhöhungen immer Vorschaltgesetze gemacht. Jetzt steigen die Kosten im
Pharmabereich, im Krankenhausbereich und bei den niedergelassenen Ärzten um 6 Prozent; und jetzt kommt die
Beitragssatzerhöhung. Da sagen Herr Spahn und andere,
wir hätten Sie mit den Schulden belastet. Das ist schlicht
und ergreifend eine Lüge.
({6})
Als wir damals das Ministerium an Herrn Rösler
übergeben haben
({7})
- nein, die Große Koalition; unter anderem wir beide -,
({8})
als die Große Koalition das Ministerium übergeben hat,
hatten wir in der KV-45-Tabelle
({9})
- Herr Lanfermann, das wäre auch für Sie ganz interessant - einen Überschuss von 1,4 Milliarden Euro. Jetzt
schwadronieren Sie von einem Defizit von 10 Milliarden
Euro und verbreiten die Legende, um nicht zu sagen, die
Lüge, wir hätten Sie mit einem Schuldenhaushalt von
10 Milliarden Euro belastet. Das stimmt doch gar nicht!
({10})
Die Wahrheit ist doch, dass wir Überschüsse hatten.
Keine einzige Krankenkasse hatte einen Zusatzbeitrag
erhoben. Das wissen Sie selbst doch ganz genau. Wir
hatten einen ausgeglichenen Haushalt. Jetzt kann man
unterschiedlicher Meinung sein, wie viel davon - ({11})
- Die KV-45-Tafel ist keine Schätzung, sondern das waren die Zahlen bei der damaligen Übergabe, das war der
Bestand. Das ist die Bilanz, Herr Lanfermann. Die Bilanz war damals positiv mit 1,4 Milliarden Euro.
({12})
Aber Sie sagen, wir hätten Ihnen 10 Milliarden Euro an
Schulden überlassen. Das ist schlicht und ergreifend eine
Lüge, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
sind Ihre Schulden.
({13})
- Das ist keine Schätzung, verstehen Sie.
({14})
Ich wiederhole ja nur, was Herr Spahn sagt.
({15})
- Nein, ich muss es Ihnen erläutern. Es geht nicht um
den Schätzerkreis. Herr Spahn sagt, wir hätten Ihnen ein
Defizit von 10 Milliarden Euro hinterlassen. Ich sage:
Das ist schlicht eine Lüge.
({16})
Das hat nichts mit dem Schätzerkreis zu tun: Hören Sie
genau zu, was ich sage!
Was ist passiert? Ich bringe es auf den Punkt: Wir haben hier keine Strukturreform, wir haben die Kopfpauschale durch die Hintertür. Die Kopfpauschale wird die
Bezieher mittlerer und geringer Einkommen besonders
belasten. Die kleinen Leute werden belastet. Kapitaleigner, Gutverdiener, Privatversicherte, diejenigen, die
oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen, werden
geschont. Die Arbeitgeber sollen demnächst nicht mehr
mitbezahlen. Nur die kleinen Selbstständigen, nur die
kleinen Arbeitnehmer müssen bezahlen.
({17})
Sie quetschen die Menschen aus, die von ihrer Hände
Arbeit leben müssen. Dafür werden Sie abgewählt. Sie
stehen jetzt bei 4 Prozent.
({18})
Sie werden die Netto-Lügen-Partei sein. Man wird Ihnen
bis zum Schluss, bis zur Abwahl vorwerfen, dass Sie die
Netto-Lügen-Partei sind. Sie haben gelogen, als Sie gesagt haben, Sie würden die Bezieher mittlerer Einkommen entlasten. Denn Sie haben genau dort zugeschlagen.
Daher sind Sie ab heute - ob Sie das wollen oder nicht;
da können Sie filibustern, wie Sie wollen - die NettoLügen-Partei. Das ist auch richtig so, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({19})
Das Wort hat nun Christine Aschenberg-Dugnus für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Nun haben wir uns heute hier versammelt, um
erneut über Gesundheit zu diskutieren. Mir kommt es so
vor, als wäre es erst gestern gewesen - aber von mir aus
immer wieder gerne.
Kommen wir zur Sache: Die Menschen werden im
Schnitt immer älter. Das müssen wir immer wieder verbreiten. Der medizinische Fortschritt ist eine erfreuliche
Tatsache. Die altersbedingten Krankheiten werden stark
zunehmen.
Dazu im Einzelnen ganz konkret: Die Zahl der zu erwartenden Herzinfarkte steigt bis zum Jahr 2050 um
75 Prozent.
({0})
Bei Schlaganfällen gibt es ein zu erwartendes Plus von
62 Prozent, und die Zahl der Demenzpatienten wird sich
bis zum Jahr 2050 verdoppelt haben. An dieser Tatsache
kommen wir leider nicht vorbei. Sogar ein Schulkind
kann sich ausrechnen: mehr alte Menschen, mehr Krankheiten, die erst bei alten Menschen auftreten, mehr Möglichkeiten, die Krankheiten erfolgreich zu therapieren.
All das kostet Geld, und zwar mehr als das, was uns bis
dato zur Verfügung steht.
Wir sagen den Menschen hier ganz ehrlich: Ja, wir
brauchen mehr Geld für die Gesundheit. Ja, die Menschen werden deshalb in Zukunft mehr bezahlen müssen
als in der Vergangenheit. Ja, es wird auf absehbare Zeit
nicht billiger, sondern eher teuerer. Aber dafür werden
wir auch weiterhin das beste und weltweit anerkannteste
Gesundheitssystem behalten, und das ist gut so.
({1})
Die Alternative dazu wäre Rationierung. Ich hoffe, wir
sind uns darüber einig, dass wir das nicht wollen.
({2})
Zur Stabilisierung der Gesundheitsfinanzen müssen
und werden alle beitragen: Arbeitgeber, Arbeitnehmer,
Leistungserbringer und auch die Krankenkassen.
({3})
Daher begrenzen wir den Zuwachs bei der Vergütung der
ambulanten Versorgung bei Ärzten und Zahnärzten.
({4})
Es wird eine Begrenzung des Vergütungsniveaus bei
Hausarztverträgen geben,
({5})
und auch im stationären Bereich wird es Einsparungen
geben.
Beachtliche Einsparvolumina gibt es auch im Arzneimittelsektor. Das entsprechende Gesetz kennen Sie bereits. Es ist ein gutes Gesetz.
({6})
Wenn die Leistungserbringer ihren Teil zur Reform
beitragen, müssen selbstverständlich auch die Leistungsempfänger herangezogen werden. Das ist genauso fair
wie einleuchtend.
({7})
Deshalb wird der allgemeine Beitragssatz auf das VorWirtschaftskrisenniveau von 15,5 Prozent angepasst.
Damit nehmen wir die im Zuge der Konjunkturkrise mit
Steuermitteln, also auf Pump, finanzierte Absenkung der
Beiträge wieder zurück. Denn die Zeit der ungebremsten
Verschuldung ist endgültig vorbei.
({8})
Mit der Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge kommen wir endlich weg von der beschäftigungsfeindlichen
Koppelung der Krankheitskosten an die Einkommen der
Arbeitnehmer. Wir haben doch erlebt, dass sich jede
Konjunkturschwankung direkt auf die Gesundheitskassen auswirkt. Das können wir nicht weiter hinnehmen.
Die Kassen erhalten nun die Möglichkeit, einkommensunabhängige, individuelle Zusatzbeiträge festzulegen.
({9})
Die Kassen erhalten damit mehr Beitragsautonomie;
denn die Zusatzbeiträge landen direkt bei der Krankenkasse und werden nicht über den Gesundheitsfonds geChristine Aschenberg-Dugnus
schleust. Auch das war uns sehr wichtig. Damit schaffen
wir den dringend notwendigen Wettbewerb zwischen
den Krankenkassen.
({10})
Unterschiedliche Prämien bieten nämlich Anreize für
Kassen und Patienten. Der Patient kann also die völlig
transparenten Preise und Leistungen der Kassen vergleichen. Man darf den Menschen ruhig zutrauen, dass sie
unterschiedliche Preisniveaus bewerten können.
({11})
Ich zitiere Herrn Böll auf Spiegel Online vom gestrigen Tage:
Wer wegen einer 5-Cent-Ersparnis beim Joghurt
fünf Kilometer fährt, dürfte auf solche Preissignale
bei den Zusatzbeiträgen ebenfalls reagieren.
Recht hat der Mann!
({12})
Außerdem führen wir weitere strukturelle Änderungen im System durch: eine Honorarreform für den ambulanten Bereich mit klar erkennbaren Preisen, Ausweitung der Kostenerstattung und die Reform der Selbstverwaltungsorgane. Außerdem werden wir eine Präventionsstrategie entwickeln und die Gesundheits- und Versorgungsforschung ausbauen. Der Vorwurf der Opposition entbehrt daher jeder Grundlage, Frau Bunge und
Herr Lauterbach.
({13})
Wir stellen sicher, dass die Zusatzbeiträge direkt an
die Kassen gehen und dass diejenigen, die davon überfordert werden, einen Ausgleich erhalten. Sie sehen also:
Wettbewerb und soziale Verantwortung gehen bei uns
Hand in Hand.
({14})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Mit den von uns eingeleiteten Maßnahmen zur Reduzierung der Ausgaben und Stabilisierung der Einnahmen haben wir ein sehr wirksames
Mittel gefunden, der bisherigen Planwirtschaft im Gesundheitswesen ein Ende zu bereiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Maria Klein-Schmeink für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie immer bekomme ich die besonderen Stichworte von den Vorrednerinnen und Vorrednern der FDP.
Das war auch dieses Mal der Fall. Wenn hier von Planwirtschaft gesprochen wird, dann muss man doch der
FDP ganz klar vorwerfen: Sie sind marktradikale Anhänger einer Theorie, die die Steuerung der gesundheitlichen Versorgung dem Wettbewerb überlassen will.
({0})
Das werden wir jedenfalls nicht mitmachen, und das
wird auch der Großteil der Bevölkerung nicht mitmachen. Seien Sie sich dessen sicher!
({1})
Sie haben sich sehr viel Mühe gegeben, meine Vorredner und Vorrednerinnen von den Regierungsparteien,
deutlich zu machen, es handle sich hier um ein faires Paket. Was fair daran sein soll, dass sämtliche Kostensteigerungen in der Zukunft allein von den Versicherten aufgefangen werden müssen - einmal über die Beiträge,
zum anderen über die Zusatzbeiträge -, müssen Sie uns
und der Bevölkerung einmal erklären. Ich glaube, das
wird Ihnen nicht gelingen.
({2})
Wenn Sie in die Presse schauen, können Sie feststellen,
dass keiner der Autoren Ihre Argumentation auch nur in
Ansätzen nachvollzogen hat.
({3})
Alle sagen rundweg - Sie können sich den Pressespiegel anschauen -: Es handelt sich um einen faulen
Kompromiss. - Es ist völlig klar: Die Zuwächse werden
von den Patienten und von den Versicherten zu zahlen
sein.
Das heutige Thema sind aber die Perspektiven der
Gesundheitspolitik. Da stellt sich die Frage, welche Perspektiven eigentlich aufscheinen. Haben Sie uns überhaupt Perspektiven aufgezeigt? Als Erstes haben Sie es
gerade einmal geschafft, das kommende Defizit in den
Griff zu bekommen. Darauf sind Sie stolz wie Oskar. Ich
verstehe diesen Stolz nicht. Sie hätten dieses Defizit
gleich zu Beginn dieses Jahres durch einen Federstrich
vermeiden können. Das wäre im Haushaltsgesetz leicht
möglich gewesen. Sie hätten sich dieses ganze Theater
sparen können. Es ist überhaupt kein Stolz angebracht.
({4})
Herr Spahn, Sie haben gestern stolz darauf verwiesen,
dass Sie etwas in Sachen Gesundheitspolitik geschafft
haben, und gleichzeitig der SPD Versäumnisse vorgeworfen. Es sei daran erinnert: Dieses Defizit geht genauso auf Ihr Konto wie auf das der SPD. Machen Sie
sich da keinen schlanken Fuß!
({5})
- Darauf komme ich gleich. ({6})
Sie brauchen acht Monate, um die Situation zu ändern.
Das ist Ihr Kardinalfehler. Es geht gar nicht darum, dass
es Kostensteigerungen gegeben hat.
({7})
Sie haben dieses Defizit von vornherein im Gesetz einkalkuliert. Sie sind von einem Deckungsbeitrag für die
GKV in Höhe von 95 Prozent ausgegangen. Alles andere
haben Sie wissentlich in Kauf genommen. Das ist doch
völlig klar.
({8})
Deshalb standen Sie in der Verantwortung, für diese Situation eine Lösung anzubieten. Sie haben also keinen
Grund, stolz zu sein.
Kommen wir zu den Perspektiven. Frau AschenbergDugnus und viele andere haben angesprochen, dass uns
die demografische Entwicklung große Probleme bereiten
wird. Haben Sie bisher auch nur eine einzige Lösung auf
den Tisch gelegt oder gesagt, wie Sie mit diesem Problem umgehen wollen? Keine einzige. Es hilft nicht, die
ländliche Versorgung zu beschwören, wenn man keinen
einzigen Lösungsbeitrag vorlegt. Es hilft auch nicht, einen Zusatzbeitrag einzuführen,
({9})
der gerade die Rentnerinnen und Rentner belasten wird,
die es nicht schaffen werden, einfach in eine andere
Krankenversicherung zu wechseln. Sie haben keine Lösung für die Probleme, die vor uns liegen.
({10})
Ich bin mir sicher: Sie werden bei der nächsten Wahl
genau dafür die Quittung erhalten. In dieser Woche hat
es eine Umfrage unter 1 200 Personen gegeben, von
denen sich 80 Prozent für ein Solidarsystem mit einer
paritätischen Finanzierung ausgesprochen haben - das
wollen auch wir -, die aber auch Versorgungslücken gesehen haben und eine verbesserte Zusammenarbeit und
mehr Investitionen in die Prävention gefordert haben.
Das sind die großen Aufgaben, die wir angehen müssen.
Davon haben Sie nicht eine einzige in Angriff genommen. Sie schieben das in die Zukunft. Kein einziges der
strukturellen Probleme haben Sie auch nur annähernd
gelöst.
({11})
In den letzten Tagen habe ich immer nur gehört: Wir
setzen auf Wettbewerb. - Welche Wettbewerbsstrukturen
sollen denn sicherstellen, dass die Aufgaben der ortsnahen Versorgung und der Behebung des Fachkräftemangels auch nur annähernd bewältigt werden können? Das
werden sie natürlich nicht. Das wird mit 160 im Kartenwettbewerb zueinander stehenden Krankenkassen, die
ständig damit beschäftigt sind, welchen Zusatzbeitrag
sie nun nehmen dürfen und welcher Zusatzbeitrag sie in
diesem Wettbewerb schlecht dastehen lässt, nicht möglich sein. Mit so aufgestellten Krankenkassen werden
Sie die drängenden Probleme in dieser Form nicht lösen
können. Es hilft nicht, allein auf Wettbewerb zu setzen.
Es ist vielmehr nötig, dass man eine sozial orientierte,
eine solidarische und eine sozial verantwortliche Gesundheitspolitik und mehr Zusammenarbeit auf den Weg
bringt. Genau dafür fehlt Ihnen jedes Rezept.
({12})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Verlauf der heutigen Debatte zeigt,
wie notwendig und richtig es ist, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen durch
einen mutigen Schritt ein weitreichendes Konzept vorgelegt haben.
({0})
Das, was Sie von der Linken hier präsentiert haben
- mit zweimal 5 Prozent Beitrag die Finanzierung des
Systems und die Krankenhauskosten mit einer Unterdeckung von 50 Milliarden Euro zu finanzieren -, beruht
auf Rechenkünsten aus dem Wolkenkuckucksheim.
({1})
Herr Kollege Lauterbach, bis jetzt sind Sie jeden Vorschlag schuldig geblieben. Sie haben nicht ein einziges
Finanzierungskonzept vorgelegt. Sie haben hier im Parlament nicht einen einzigen konkreten Einsparvorschlag
mitgetragen.
({2})
Im Gegenteil: Was Sie hier im Parlament eingebracht haben, waren Änderungsanträge, die die Pharmaindustrie
begünstigt hätten. Ich erinnere nur an die Arzneimittelimporteure; das ist gerade einmal wenige Tage her.
({3})
Es gibt keine verantwortbare Alternative zu den Maßnahmen, die wir jetzt beschlossen haben. Wir schaffen
damit die Grundlage für ein stabiles, ein transparentes,
ein gerechtes und ein effizientes Gesundheitssystem.
({4})
Das ist ein klarer Schritt in Richtung einer dringend
erforderlichen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir verhindern mit diesen Maßnahmen,
dass die gesetzlichen Krankenkassen im nächsten Jahr
unter der Last eines Defizits von 11 Milliarden Euro zusammenbrechen.
({5})
Die Zusatzbeiträge auf der Grundlage eines kasseninternen Sozialausgleichs, wie sie heute existieren, hätten
doch dazu geführt, dass sich die Krankenkassen selbst
strangulieren. Dies gilt insbesondere für diejenigen, für
die Sie doch sonst meinen, Politik zu machen. Ich meine
die Krankenkassen, die Menschen mit geringen Einkommen versichert haben.
({6})
Wir sind deren Fürsprecherinnen und Fürsprecher.
Deshalb ändern wir dieses System der Zusatzbeiträge.
({7})
Die Krankenkassen hätten doch bei diesem Defizit gar
keine Möglichkeit und keine Perspektive mehr, die qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung unserer Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Was wären denn die Perspektiven
gewesen? Insolvenzen? Leistungskürzungen? Leistungsausschlüsse? Rationierung von Leistungen? Höhere Zuzahlungen?
({8})
Die Leidtragenden dieser Perspektiven, die Sie in Kauf
nehmen wollen, wären die Kranken und die Schwachen
gewesen, die auf die Stabilität dieses Systems angewiesen sind.
({9})
Ich kann Ihnen nur sagen: Ein vorrangiges Ziel ist es,
dass die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiert werden. Das erreichen wir durch kurzfristige Einsparungen auf der Seite der Leistungserbringer, und zwar der Krankenhäuser, der Ärzte, der
Pharmaindustrie - vom Hersteller über den Großhändler
bis in die Apotheke - und bei den Verwaltungskosten der
Krankenkassen. Wir verlangen von allen Beteiligten einen Beitrag zur Stabilisierung der Ausgaben.
({10})
Wir verlangen ihn aber mit Sinn und Verstand, und
zwar ohne notwendige und sinnvolle Leistungen einzuschränken oder die Menschen vom medizinischen Fortschritt abzukoppeln.
Ich kann nur sagen: Es geht nicht, dass man im Parlament und im Ausschuss immer wieder größtes Verständnis für die Nöte der Beschäftigten äußert - ob sie nun im
Krankenhaus als Ärzte oder Pflegekräfte beschäftigt sind
oder die medizinische Versorgung im ländlichen Raum
abdecken -, sich aber dann, wenn es darum geht, ihnen
auch eine leistungsgerechte Vergütung zukommen zu
lassen bzw. diese abzusichern, durch die Gänge zu machen. Das geht nicht. Wir handeln an dieser Stelle verantwortlich.
({11})
Mit dem Ziel der Ausgabenstabilisierung ist auch eine
mittel- und langfristige Perspektive verbunden. Wir werden in dieser Legislaturperiode strukturelle Reformen im
Gesundheitswesen auf den Weg bringen, Reformen, die
mehr Wahlfreiheit für den Einzelnen, weniger Bürokratie und vor allen Dingen mehr Wettbewerb schaffen. Die
zentrale Voraussetzung für funktionierenden Wettbewerb
sowohl zwischen den Krankenkassen als auch zwischen
den Leistungserbringern ist, dass Krankenkassen wirklich Planungssicherheit haben und damit die langfristige
Perspektive besitzen, gestalten zu können. Deshalb müssen wir die Finanzgrundlagen stärken.
Das erreichen wir auf folgenden Wegen:
Erstens. Wir sehen einen zusätzlichen Steuerzuschuss
von 2 Milliarden Euro für das Jahr 2011 vor. Dazu kann
ich nur sagen: Das ist eine notwendige und richtige Maßnahme.
Zweitens. Wir stellen den Zustand von vor der Wirtschaftskrise wieder her. Ministerin Schmidt und allen
Beteiligten war schon klar, dass die Beitragsabsenkung
vorübergehend ist und dass dieses Defizit wieder entstehen wird. Vielleicht haben Sie, Kollege Lauterbach, in
den entsprechenden Sitzungen in der letzten Legislaturperiode gefehlt; wahrscheinlich hat Frau Schmidt mit Ihnen darüber nicht gesprochen. Dass Ihnen dies nicht klar
war, zeigt, wie weit Sie von der gesundheitspolitischen
Realität in unserem Land entfernt sind.
({12})
Drittens. Wir haben den Krankenkassen über die Zusatzbeiträge die erforderliche Finanzautonomie zurückgegeben. Auch das ist dringend notwendig. Schauen Sie
einmal: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten 15 Jahren sind deutlich stärker
und dynamischer gewachsen als die beitragspflichtigen
Einnahmen, und das, obwohl wir eine Vielzahl von Maßnahmen in unterschiedlichen Koalitionsformationen
durchgeführt haben, obwohl Kosten über Budgets oder
über Zwangsabgaben gedämpft wurden, obwohl wir in
der Vergangenheit strukturelle Maßnahmen ergriffen haben - denken Sie an die DRGs, denken Sie an Regelleistungsvolumina, denken Sie an Festbeträge! -, obwohl
wir mehr Wettbewerb ins System gebracht haben. Denken Sie an Rabattverträge, an Verträge zur Integrierten
Versorgung, an Ausschreibungen!
Trotzdem hat sich der Abstand zwischen Einnahmen
und Ausgaben weder verringert, noch ist er gleich geblieben, sondern er ist sogar größer geworden. Das zeigt
ganz klar: Demografische Entwicklungen und medizinischer Fortschritt haben Folgen für das Gesundheitswesen, und sie fordern ihren Preis. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer im Interesse der Menschen diesen Bedarf
decken will, der hat keine Alternative, wenn er Arbeitsplätze nicht gefährden und Konflikte nicht auf dem Buckel der Kranken und der sozial Schwachen austragen
will. Wir wollen das nicht tun.
Zu diesen Maßnahmen gibt es keine Alternative. Wir
schaffen neue Perspektiven für dieses System.
Neben der erforderlichen Stärkung der Finanzierungsgrundlage ist unser erklärtes Ziel, sicherzustellen, dass
die Versicherten nicht über Gebühr belastet werden.
Deshalb gestalten wir den Zusatzbeitrag gerecht.
({13})
Wie geschieht dies? Wir sorgen dafür, dass der soziale
Ausgleich nicht mehr innerhalb der einzelnen Krankenkasse, sondern im gesamten GKV-System stattfindet.
Das Ganze ist fair gestaltet, da der Ausgleich vom ersten
Euro des Zusatzbeitrags an durchgeführt wird. Es geht
also nicht mehr um einen Betrag von 8 Euro, bei dem
keine Einkommensprüfung stattfindet.
({14})
Wir finanzieren den Sozialausgleich aus Steuermitteln. Damit beteiligen sich privatversicherte Einkommensbezieher und eben auch Arbeitgeber - das sind die
stärkeren Schultern in unserem Land - an diesem Ausgleich. Dadurch ist unser Ansatz deutlich gerechter.
({15})
Wir gestalten diesen Ausgleich unbürokratisch: Er
wird über den Arbeitgeber bzw. den Rentenversicherungsträger gewährt.
({16})
Wir schaffen die Nachteile im Wettbewerb derjenigen
Krankenkassen ab, die hauptsächlich Einkommensschwache versichern. Wir befördern damit über Preissignale
endlich wieder den Wettbewerb um eine effizientere Versorgung der Versicherten mit innovativen Konzepten.
Wir stellen Transparenz hinsichtlich Preis und Leistung her. Wir schaffen beim Versicherten den Anreiz, in
eine günstigere, in eine effizientere Krankenkasse zu
wechseln.
Das sind Perspektiven für Krankenkassen und für
Versicherte, hochwertige Verträge abzuschließen, ein gutes Versorgungsmanagement zu organisieren und eine
effiziente Verwaltung aufzubauen. Das sind Perspektiven, die unser Konzept schafft, und das sind Perspektiven, die den Menschen in unserem Lande zugutekommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat nun Bärbel Bas für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
den letzten Tagen konnte man dazu wirklich viele Überschriften in den Medien lesen. Ich will sie jetzt gar nicht
alle wiederholen; darüber haben wir gestern schon gesprochen. Für mich bestätigt sich das, was ich schon in
einer Rede im April gesagt habe, nämlich dass der
Minister als Tiger gestartet ist und mit seinen Vorschlägen als Bettvorleger landen wird.
({0})
Sie, Herr Minister, sind mit dem Ziel angetreten, alles
gerechter, sozialer, stabiler und transparenter zu machen.
Vor allem wollten Sie es anders machen als Ihre Vorgänger im Amt.
({1})
Was ist von diesen Ankündigungen übrig geblieben?
Letztendlich ist nichts davon übrig geblieben. Sie kündigen Kostendämpfungen und gleichzeitig eine Beitragssatzerhöhung an. Ich möchte wirklich einmal wissen, wo
die Unterschiede zu Ihren Vorgängern liegen.
Ich habe nachgeforscht, welche Unterschiede es denn
tatsächlich zu Ihren Vorgängern gibt. Mir sind ganze drei
eingefallen: Erstens haben Sie extrem lange gebraucht,
zweitens haben Sie vorher etwas völlig anderes gesagt,
als Sie jetzt machen, und drittens kassieren Sie die gesetzlich Versicherten in einem Ausmaß ab, das, glaube
ich, vorher noch nie da gewesen ist.
({2})
Ich will Ihnen einmal sagen, wie die Vorschläge aussehen. Sie belasten die Wirtschaft und die Versicherten
mit 6 Milliarden Euro. Das ist eine ganz erhebliche
Summe. Daneben machen Sie ein Sparpaket von nur
3,5 Milliarden Euro. Ich sage deshalb „nur“, weil ich es
nicht für gerecht halte,
({3})
wenn bei einem Defizit von 11 Milliarden Euro Versicherte und Wirtschaft 6 Milliarden Euro tragen, die
Pharmaindustrie, Ärzte und Krankenhäuser aber nur
3,5 Milliarden Euro.
({4})
Das ist eine ungerechte Verteilung der Belastung. Da
müssen Sie es schon hinnehmen, dass das als nicht gerecht bezeichnet wird.
Jetzt kommt es noch besser. Wenn das nicht reicht,
müssen die Kassen eine Kopfpauschale erheben - und
das in Zukunft in unbegrenzter Höhe. Damit haben Sie
den Weg dafür freigemacht, dass die Kassen bis zu
10 Milliarden Euro bei den Versicherten abschöpfen
können - das hat es, glaube ich, bisher auch noch nicht
gegeben -, und zwar ohne einen Euro Ausgleich. Sie haben nämlich die Hürde für den Sozialausgleich mal eben
auf 2 Prozent hochgesetzt. Erst dann gibt es einen Ausgleich - bisher waren die Zusatzbeiträge auf 1 Prozent
der beitragspflichtigen Einnahmen begrenzt -,
({5})
und das ist überhaupt nicht sozial und gerecht schon gar
nicht.
({6})
Unvermeidbare Ausgabensteigerungen werden
durch Zusatzbeiträge der Versicherten finanziert.
Mit diesem Satz haben Sie endlich die Katze aus dem
Sack gelassen. Ab 2012 zahlen nämlich die Mitglieder
der gesetzlichen Krankenversicherung die Zeche ganz
allein. Das nenne ich ebenfalls nicht sozial, nicht ausgewogen und nicht gerecht.
Wenn Sie sich schon dafür feiern, dass die gesetzliche
Krankenversicherung die Beitragsautonomie zurückbekommt, dann müssen Sie ihr auch zeitgleich Möglichkeiten geben, stärker als bisher Rabatte auszuhandeln,
Verträge mit Ärzten und Krankenhäusern zu schließen.
Aber hier bleiben Sie genauso wie mit Ihrem Arzneimittel-Neuordnungsgesetz im Ansatz stecken. Nichts davon
liegt auf dem Tisch.
Sie rühmen sich weiterhin, den Ausgleich ganz unbürokratisch zu gestalten. Konsequenterweise hätten Sie
auch die Erhebung des Zusatzbeitrags über den sogenannten Quellenabzug organisieren müssen. Vor allem
wäre das auch wirtschaftlicher gewesen. Sie sagen: Das
alles geht ganz einfach. Die Arbeitgeber können das
EDV-gestützt leisten. Die Rentenversicherer können das
EDV-gestützt leisten. - Nur haben Sie offenbar vergessen, dass die Zusatzbeiträge von den Kassen eingesammelt werden müssen.
Jetzt nenne ich Ihnen einmal ein paar Zahlen, die ganz
interessant sind - die Deutsche BKK, die schon einen
Zusatzbeitrag erhebt, hat das für 2010 einmal ausgerechnet -: Von 8 Euro gehen 1,60 Euro in die Verwaltung.
Das macht bei der Kasse 12 Millionen Euro. 10 Prozent
der Verwaltungsausgaben entfallen damit auf die Erhebung des Zusatzbeitrags.
({7})
- Ich beschwere mich nicht. Aber Sie wollen es doch
besser machen.
({8})
Sie verschwenden über die Verwaltungskosten bei einer
Kasse 12 Millionen Euro. Damit könnten Sie 6 000 medizinische Rehamaßnahmen oder 3 000 Mutter- oder Vater-Kind-Kuren finanzieren. Das sind nur einige Beispiele
für das, was wir mit Ihrer Bürokratie verschwenden.
({9})
- Das war kein Eigentor; denn die Vorschläge, die Sie
jetzt auf den Tisch gelegt haben, sind weder gerecht
noch sozial ausgewogen. Sie stabilisieren damit in keiner Weise das Gesundheitssystem, sondern lediglich die
Arbeitgeberbeiträge und Ihre chaotische Koalition.
Der Satz Ihres Generalsekretärs Lindner „Der Staat ist
ein teurer Schwächling“ hat für mich Gestalt angenommen in Person des Gesundheitsministers.
({10})
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde
auf Antrag der Linken beweist doch eigentlich nur eines:
Nicht in der Gesundheitspolitik der Regierung herrscht
Perspektivlosigkeit, sondern in der Fraktion Die Linke
selbst. Ganz offensichtlich weiß die Opposition nicht,
wovon sie redet.
({0})
Von Perspektivlosigkeit kann nach dem vergangenen
Dienstag doch überhaupt nicht mehr die Rede sein.
({1})
Seit der Bundestagswahl ist kaum mehr als ein halbes
Jahr vergangen, und wir haben endlich eine Gesund5646
heitsreform, die diesen Namen auch verdient. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten - ich betone: seit Jahrzehnten geht es bei dieser Reform nicht nur um Kostendämpfung.
({2})
Es geht um den Einstieg in eine solide, nachhaltige und
gerechte Finanzierung des Gesundheitssystems.
Zugegeben, die Verhandlungen in der Koalition waren nicht einfach. Aber für uns war der Koalitionsvertrag
der Maßstab, und die vereinbarten Maßnahmen haben
wir in einem ersten Schritt klar umgesetzt. Die Regierung hat ein zukunftsweisendes Paket geschnürt. Es enthält sinnvolle Einsparungen in Milliardenhöhe
({3})
ebenso wie erste Schritte zum Einstieg in eine nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens - und dies
ohne Einschränkung der Qualität.
({4})
Die einkommensunabhängigen Zusatzbeiträge werden nicht prozentual berechnet. Vielmehr erhebt jede
Krankenkasse eine fixe Summe pro Versicherten. Dies
bedeutet zum einen mehr Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen, da die Vergleichbarkeit der Beiträge direkt gegeben ist, und zum anderen mehr Transparenz für die Versicherten, die endlich einen klaren
Überblick über die Angebote der verschiedenen Kassen
erhalten.
({5})
Für die Kassen bedeutet die Aufhebung der Deckelung der Zusatzbeiträge mehr Freiheit bei der Tarifgestaltung. Für die Arbeitgeber bedeutet das Einfrieren ihrer Beiträge Entkoppelung von den Arbeitskosten,
endlich Planungssicherheit über Jahre hinaus. Das ist gut
für Investitionen, gut für das Wachstum und gut für das
Vertrauen in eine Politik, die nicht jedes Jahr eine neue
Sau durchs Dorf jagt.
({6})
Für die Liberalen ist besonders wichtig, dass die Neuregelung der Zusatzbeiträge auch einen Einstieg in das
System des Sozialausgleichs bedeutet, den es bislang
nicht gab.
({7})
Für den Ausgleich über Steuermittel sind Steuererhöhungen nicht erforderlich. Wir werden genau beobachten, wie sich dies auf Geringverdiener und Bezieher
mittlerer Einkommen auswirkt. Ganz im Gegensatz zu
den substanzlosen Behauptungen der Opposition gilt bei
uns: Wir wollen verhindern, dass die Versicherten überfordert werden. Dass die Mehrwertsteuerlüge-Partei
SPD uns hier ausgerechnet Lügen vorwirft, das ist schon
dreist.
({8})
Bisher führten steigende Gesundheitskosten zu steigenden Arbeitskosten. Alle bisherigen sogenannten Gesundheitsreformen waren reine Gesetze zur Kostendämpfung. Das Ergebnis war: Deckelungen und
Budgetierungen, die dem Gesundheitssystem immer
mehr Fesseln angelegt haben. Die Entkoppelung der Gesundheits- von den Arbeitskosten führt auch zu mehr
Freiheit im Gesundheitssystem.
({9})
Selbstverständlich müssen Mediziner und Angehörige der Heilberufe künftig darauf achten, dass die Verantwortung gegenüber den Patienten und die Verantwortung gegenüber der Finanzierbarkeit des Systems im
Gleichgewicht bleiben. Dieses Gleichgewicht wird jedoch nicht mehr zentralistisch verfügt wie bisher, sondern in die Hände des Fachpersonals gelegt. Das ist eine
echte, eine fundamentale Verbesserung.
({10})
Uns allen geht es doch darum, die exzellente medizinische Versorgung in Deutschland aufrechtzuerhalten
und fortzuentwickeln. Hohe Qualität und das Schritthalten mit dem technischen Fortschritt sind nicht zum Nulltarif zu bekommen. Der Koalition ist es gelungen, unvermeidliche Kosten auf so viele Schultern wie möglich zu
verteilen und weniger abhängig von den Schwankungen
der Konjunktur zu werden. Gleichzeitig haben wir den
Weg zu einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen geebnet. Das ist ein Ausweg aus den stümperhaften Nachbesserungsmaßnahmen, die für die Gesundheitspolitik
der letzten zehn Jahre kennzeichnend waren. Das soll
Chaos sein?
({11})
Ich möchte nicht das Chaos erleben, das losbricht, wenn
die Opposition weiterhin an unserem Gesundheitssystem
herumpfuscht.
({12})
Wir werden weiterhin mit Nachdruck Bundesgesundheitsminister Rösler unterstützen. Wir zeigen Ihnen eine
Perspektive auf. Wir haben eine Vision, und an dieser
halten wir fest.
({13})
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Prozess des
vorliegenden Reformwerkes, die verschiedenen Stufen
und die verschiedenen Ideen, die uns dargelegt wurden,
zeigen uns im Wesentlichen eines: Die Bundesregierung
- darin vor allem die FDP - hat keinen Plan.
({0})
Im Übrigen geht es mit dem Chaos - das Sie uns vorwerfen wollen - weiter. Es gab eine Pressemeldung, in
der zu lesen war, dass die CSU am unbürokratischen
Sozialausgleich zweifelt. Ihr Gesundheitsexperte
Straubinger führt aus: „Ich kann nicht erkennen, wie das
umgesetzt werden soll.“ So geht das mit dem Chaos in
dieser Regierung ein Stück weiter.
({1})
„Wichtig ist, was hinten rauskommt“, sagte Helmut
Kohl. Seiner politischen Erbin hingegen, der jetzigen
Kanzlerin, scheint es egal zu sein, was das Ergebnis für
die Versicherten, die Patientinnen und Patienten sowie
für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bedeutet.
Hinten rauskommen soll vor allem eines: der Koalitionsfrieden.
({2})
Liebe Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande, raten
Sie mal, wer das zahlen darf.
({3})
Die Menschen in diesem Land wissen genau, dass die
Koalition auf ihre Kosten gerettet werden soll. Herr
Rösler wird zwar nicht müde, zu behaupten, der Einstieg
in eine dauerhaft solide Finanzierung sei geschafft. Das
glauben ihm nach einer Umfrage auf tagesschau.de, an
der sich schon 15 000 Bürgerinnen und Bürger beteiligt
haben, gerade mal 2,4 Prozent.
({4})
Damit glauben ihm das noch nicht einmal die 4 Prozent
verbliebenen FDP-Anhänger.
({5})
Die Koalition will Unvereinbares zusammenbringen.
Einerseits hätte die FDP das Gesicht verloren, wenn es
keine Kopfpauschale gegeben hätte, andererseits war die
CSU - im Übrigen zu Recht - dagegen. Was haben Sie
gemacht? Sie haben pauschale Zusatzbeiträge geschaffen, die der Kopfpauschale in nichts nachstehen.
({6})
Die sind das ungerechteste Finanzierungsinstrument, das
es überhaupt gibt.
({7})
Ihr Problem ist: Sie wollen einen kompletten Systemwechsel - zumindest die eine Seite der Koalition -, aber
gleichzeitig soll es so aussehen, als bliebe alles beim Alten. Was dabei herauskommt, ist unsozialer Murks.
({8})
Herr Rösler, Sie meinen, Sie hätten eine nachhaltige
und soziale Finanzierung geschaffen. Ihr Modell läuft
darauf hinaus, dass in wenigen Jahren die Zusatzbeiträge
bis zur Belastungsgrenze von 2 Prozent des Einkommens steigen werden, zuerst bei den armen Versicherten,
später bei allen, zuerst bei klammen Kassen, später bei
allen Kassen. Was passiert denn dann, nachdem Sie allen
eine 2-prozentige Einkommenskürzung verpasst haben?
Dann verwandelt sich Ihr sogenannter Sozialausgleich
automatisch in ein Instrument, das alle weiteren Kostensteigerungen aus Steuern finanziert. Ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem? Ist das das liberale Idealbild?
Ihren Vorschlägen ist eines gemein: Am Ende zahlen
die Versicherten. Wie schon die Vorgängerregierungen
laden Sie fast alle Kostensteigerungen bei den Versicherten und bei den Kranken ab. Als Feigenblatt haben Sie
sich überlegt, den Arbeitgeberbeitrag zunächst um
0,3 Prozent zu erhöhen, dann aber für alle Zeiten festzuschreiben. Das heißt, über kurz oder lang haben die Versicherten eine zusätzliche Belastung von 2,3 Prozent. Sie
belasten die Versicherten in unserem Land fast achtmal
stärker als die Arbeitgeber. Ich frage Sie: Ist das sozial
gerecht? Ist es sozial gerecht, dass die Versicherten ohnehin schon 0,9 Prozent mehr Beiträge zahlen als die Arbeitgeber? Dazu kommen die Praxisgebühr, Zuzahlungen, wirtschaftliche Aufzahlungen und Leistungen, die
nicht mehr von der Krankenkasse übernommen werden.
Das ist weder sozial noch gerecht, und das wissen alle
Menschen draußen im Land.
({9})
Noch eine Bemerkung zum Mythos Lohnnebenkosten, der auch hier wieder bemüht worden ist: Die Exportindustrie hat diese Koalition offensichtlich vor den Karren gespannt. Sie kämpfen bei den Lohnnebenkosten
merkwürdigerweise um jeden Cent Entlastung, wohlgemerkt als höchstes Ziel der Gesundheitspolitik. Mit Händen und Füßen wehren Sie sich zum Beispiel dagegen,
das Defizit des nächsten Jahres dadurch auszugleichen,
dass die Arbeitgeber wieder den gleichen Beitragssatz
zahlen wie die Versicherten.
Wie würde sich eine Beitragssatzsteigerung um
0,9 Prozentpunkte für die Arbeitgeber auf die Exportindustrie auswirken? Nehmen wir ein typisches Exportgut,
den VW Golf mit einem Listenpreis von 18 275 Euro.
Diese Beitragssatzsteigerung würde bei einem Lohnkostenanteil von 15 Prozent - Tendenz sinkend - am Preis
gerade einmal 20 Euro ausmachen. 1 Prozent Wechselkursschwankungen, die wir in der letzten Zeit ja mitunter täglich haben, machen 185 Euro aus. Das ist also
deutlich mehr.
Sie hingegen belasten den VW-Facharbeiter durch
den 0,9-prozentigen Sonderbeitrag mit 405 Euro zusätzlich im Jahr. Das soll gerecht sein? Wirtschaftlich sinnvoller wäre es, wenn sich der Arbeitgeber an diesen Kosten wieder zur Hälfte beteiligen würde und der
Facharbeiter das Geld zum Ausgeben hätte.
({10})
Dadurch, dass Sie über Ihr Konzept schreiben, es sei
gerecht, sozial, stabil, wettbewerblich und transparent,
wird das, was unter dieser Überschrift steht, nicht besser.
Die Menschen wollen keine stufenweise Abschaffung
der Solidarität im Gesundheitssystem. Sie wollen eine
tatsächlich sozial gerechte Finanzierung, bei der starke
Schultern mehr tragen als schwache. Das will die Linke
auch. Das werden wir versuchen, durchzusetzen.
Danke.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Stephan Stracke für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei den Redebeiträgen der Opposition von gestern und
heute habe ich ein Rauschen im Ohr. Das klingt wie ein
Föhn.
({0})
Sie produzieren in diesem Saal nichts als heiße Luft. Mir
ist klar geworden, warum Sie zwei Aktuelle Stunden
brauchen - gestern und heute -: Sie verstehen es einfach
nicht, und, schlimmer noch, Sie haben keine eigenen
Vorschläge.
({1})
Wenn es dem Erkenntnisfortschritt auf der linken Seite
dieses Hauses dient, erklären wir Ihnen die gute Gesundheitspolitik der christlich-liberalen Koalition herzlich
gerne.
Durchgängig bildet sich ein deutliches Muster ab: Da
steht die deutsche Sozialdemokratie, den Linken zugewandt, mit weit ausgebreiteten Armen,
({2})
mit offenem Herzen, aber trübem Blick, sei es, wenn es
um die Wahl des Bundespräsidenten geht, sei es, wenn
es um NRW geht; doch die Linke lässt sie abblitzen. Ja,
enttäuschte Liebe kann ganz schön nachtragend machen.
({3})
Nicht anbiedern, Herr Lauterbach, sondern mit guter
Politik überzeugen! Weil Sie dazu nicht in der Lage sind,
sind Sie zu Recht da, wo Sie hingehören, nämlich auf
den Oppositionsbänken.
({4})
Weil Sie nicht in der Lage sind, verantwortungsvoll Politik zu gestalten, haben Sie auch keine Antworten auf die
Herausforderungen, jedenfalls nicht solche, die über den
Tag hinausreichen. Das gilt insbesondere für die Gesundheitspolitik.
({5})
Die Herausforderungen sind wirklich groß. Das für
2011 erwartete Defizit beträgt rund 11 Milliarden Euro.
Die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben geht
stark auseinander. Deswegen ist die Politik aufgefordert,
zu reagieren.
({6})
Dabei ist die Leitlinie unserer Politik: Wir wollen keine
Kürzungen von Leistungen zulasten der Patientinnen
und Patienten; wir wollen keine Rationierung und Priorisierung von Leistungen.
({7})
Im Gegenteil: Wir gewährleisten, dass jede und jeder
ungehinderten Zugang zu unserem exzellenten Gesundheitswesen hat, unabhängig von Alter, Geschlecht, Einkommen und Krankheitsrisiko.
({8})
Wir sorgen dafür, dass jede und jeder Teilhabe hat an
Innovationen und medizinisch-technischen Fortschritten.
Herr Lauterbach, genau dafür sorgen wir mit unseren
vorgelegten Eckpunkten.
({9})
Dabei gehen wir anders vor als die Opposition. Diese betrachtet ausschließlich die Einnahmeseite mit der Idee
einer sozialistischen Einheitsversicherung im Kopf,
({10})
die hinsichtlich der Wirkungen nichts anderes ist als ein
tiefer Griff in die Taschen der Menschen in Form einer
zweiten Einkommensteuer und im Ergebnis eine
schlechtere medizinische Versorgung für alle bedeutet.
({11})
Wir hingegen machen im Bereich der Gesundheit zunächst genau das, was wir auch beim Bundeshaushalt
tun, wenn es um die Reduzierung der Neuverschuldung
geht: Wir heben Sparpotenziale - gerecht und fair -;
denn es ist fair, dass zunächst nach möglichen Sparbeiträgen im System gesucht wird.
Vorschläge der Opposition dazu gibt es - bis auf ganz
kleine - nicht, Fehlanzeige. Wir hingegen ziehen alle
Akteure heran, die Leistungserbringerseite mit der Pharmaindustrie, den Apothekern, den Ärzten und Krankenhäusern auf der einen Seite und natürlich auch die Krankenkassen auf der anderen Seite durch einen Stopp bei
den Verwaltungskosten. Der Sparbeitrag beträgt rund
3,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr und 4 Milliarden Euro im Jahr 2012. Wir nehmen auch die Arbeitgeber mit in die Verantwortung, indem wir den paritätisch
finanzierten Beitragssatz wieder auf das Niveau von vor
der Finanz- und Wirtschaftskrise anheben. Ferner nehmen wir Steuermittel in Form eines steuerlichen Bundeszuschusses in die Hand.
So nehmen wir zur Bewältigung des Defizits alle in
den Blick: Arbeitgeber, Arbeitnehmer, die Leistungserbringer, die Krankenkassen und den Steuerzahler. Ich
finde, wir haben hier ein ausgewogenes Konzept auf den
Weg gebracht, das Einseitigkeiten vermeidet und die Solidarität im Gesundheitswesen erhält.
Sicherlich wird es auch nach dieser Reform Kostensteigerungen geben. Wir verzeichnen jährlich Steigerungen von 1 bis 3 Prozent. Wenn wir auch in Zukunft einen
ungehinderten Zugang zum Gesundheitswesen und Teilhabe an Innovation und Fortschritt gewährleisten wollen, dann müssen wir auch künftige Kostensteigerungen
mit aufnehmen. Deshalb bedarf es Veränderungen auf
der Einnahmeseite, und diese nehmen wir auch vor.
Klar ist aber auch: Die Begrenzung zukünftiger Ausgabensteigerungen wird eine Daueraufgabe sein. Ich
glaube, dass bei einem Gesamtvolumen von 174 Milliarden Euro, die wir Jahr für Jahr in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeben, genug Spielraum sein wird,
um das System zu optimieren. Im Bereich der Verwaltungskosten der Krankenkassen und im Bereich der gesamten Behandlungskette müssen wir die Schnittstellen
im System zu Nahtstellen machen.
({12})
Was den Mehrwert für Patienten angeht, so müssen
wir, genauso wie im Arzneimittelbereich, bei der Behandlung Instrumente entwickeln, die qualitätsgerichtet
sind, sei es in der integrierten Versorgung, sei es im Disease-Management. Vor uns liegen viele Herausforderungen. Wir werden diese entschlossen anpacken.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Steffen-Claudio Lemme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Dr. Rösler, Frau Staatssekretärin
Widmann-Mauz! Ich muss zugeben, dass die sogenannte
Gesundheitsreform der schwarz-gelben Regierungskoalition meine Erwartungen mehr als übertroffen hat. Ich
hatte mir, ehrlich gesagt, bis vorgestern nicht vorstellen
können, wie respektlos diese Bundesregierung, insbesondere der Gesundheitsminister, mit den 50 Millionen
GKV-Beitragszahlern in unserem Land umgeht.
({0})
Diese Regierung ist dabei - nach rund neun Monaten
Koalitionsgezänk und kollektiver Orientierungslosigkeit
in der eigenen Gesundheitsreformdebatte -, sich ihre
Handlungsunfähigkeit von den Beitragszahlern finanziell ausgleichen zu lassen.
({1})
In Kurzform: Es wird bei den Versicherten mit einer
Beitragsanhebung und einer glatten Verdoppelung des
Zusatzbeitragsvolumens ungeniert abkassiert. Damit wird
die Konjunktur geschwächt und somit durch die Hintertür
auch die kleine Variante der unsozialen sogenannten
Kopfpauschale eingeführt. Bei dieser Gesundheitsreform
komme ich nicht umhin, festzustellen, dass die Führungsriege im Gesundheitsministerium wohl völlig den Bezug
zu den Versicherten verloren hat.
({2})
Ich empfehle den Kolleginnen und Kollegen auf der
Regierungsbank dringend, sich mit den Nöten der Bürgerinnen und Bürger sowie der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu befassen, denen durch Ihr Sparpaket
Sozialleistungen gestrichen und gleichzeitig noch deutlich höhere Ausgaben für ihren Krankenversicherungsschutz zugemutet werden.
Für die Damen und Herren der Regierungskoalition
ein kurzes Rechenbeispiel: Der Durchschnittsverdienst
meiner Thüringer Landsleute liegt gegenwärtig bei
1 857 Euro brutto. Diese Beitragszahler müssen sich nun
aufgrund Ihrer Politik auf Mehrausgaben in Höhe von
5,60 Euro für den regulären Beitrag und in der Obergrenze auf 37,14 Euro Zusatzbeitrag einstellen. Das sind
über 40 Euro weniger Haushaltseinkommen im Monat.
Ich finde das, ehrlich gesagt, skandalös.
({3})
- Frau Flach, genau das ist das Modell.
({4})
- Sie können es ja selbst nicht erläutern - das ist ja Ihr
Problem -, und andere verstehen es nicht. Deshalb ist so
ein Wirrwarr entstanden.
({5})
Ich möchte kurz auf zwei Detailfragen eingehen. Zum
einen ist meiner Ansicht nach die zukünftige Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages nichts anderes als ein
Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({6})
Die Arbeitgeber werden ganz bewusst aus der Verantwortung für das zukünftige Wachstum der Gesundheitskosten entlassen. Wir als SPD-Fraktion fordern unmissverständlich die Rückkehr zur Parität,
({7})
um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital wiederherzustellen und die Lasten gerecht zu verteilen.
({8})
Die paritätische Finanzierung war ursprünglich die Legitimationsgrundlage für die Mitbestimmung der Versicherten und Arbeitgeber in den Kassen. Ihre Beitragsdisparität muss sich in meinen Augen nun auch in der
Zusammensetzung der sozialen Selbstverwaltung der
Kassen mit Vertretern beider Seiten niederschlagen. Das
heißt, dass derjenige, der mehr in die sozialen Versicherungssysteme einzahlt, auch mehr Mitbestimmungsrechte in den Selbstverwaltungsgremien genießt.
Zum anderen wird unter Punkt 1 des Gesundheitsreformpapiers, bei der Frage der Ausgabenstabilisierung,
der Anschein erweckt, Sie würden die Leistungserbringer im selben Maße zur Konsolidierung der GKV heranziehen wie die Versicherten. Sie verschweigen der Öffentlichkeit jedoch - ich glaube, mit Methode -, dass Sie
etwa bei den Zahnärzten bereits jetzt das Ende der
Grundlohnsummenanbindung für die Budgetsteigerungen und damit die späteren Einkommenszuwächse zugesagt haben,
({9})
frei nach dem Motto: Haltet noch kurz die Füße still, der
große Schluck aus der Pulle wird nachgereicht.
({10})
Diese Koalition hat vorgestern den nächsten Akt ihrer
verfahrenen Gesundheitspolitik - nennen wir es einmal
so - eingeläutet. Nur haben die Hauptakteure noch nicht
mitbekommen, dass ihnen das Publikum nicht applaudieren kann, da es aus Enttäuschung und Frust bereits
den Saal verlassen hat. In Richtung der Regierungsbank
sage ich: Ziehen Sie bitte schnell Ihre Konsequenzen
und beenden Sie alsbald Ihre Spielzeit.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Rolf Koschorrek für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir befassen uns innerhalb weniger Stunden
zum zweiten Mal in einer Aktuellen Stunde mit dem
gleichen Thema. Das ist eine interessante Déjà-vu-Veranstaltung.
({0})
Wir haben jetzt mittlerweile zwölf Redner der Opposition gehört, die Kritik an Dingen üben, die wir gar nicht
beschlossen haben,
({1})
und die uns bisher keine eigenen Vorschläge genannt haben. Der einzige konkrete Vorschlag, der heute im Raum
steht, ist die Forderung nach einem Vorschaltgesetz, was
auch immer das beinhalten mag. Ansonsten waren zum
Teil ganz drollige Dinge zu hören.
Herr Kollege Lemme, wir haben vor nicht langer Zeit
gemeinsam eine Resolution mit unterschrieben, in der
wir genau das gefordert und dringend angemahnt haben,
was Sie jetzt gerade kritisieren. Es geht darum, dass wir
sehr wohl für die Angleichung der Ost- an die Westhonorare eingetreten sind. Bis vor wenigen Stunden war
ich der Meinung, dass Sie das mitgetragen haben. Ich
kann Ihnen Ihre Unterschrift unter der Resolution gern
zeigen.
({2})
Bei den anderen Bereichen ist das längst erfolgt; vielleicht sind Sie da noch nicht auf dem neuesten Stand.
Seit einigen Jahren ist das in allen anderen Leistungsbereichen abgearbeitet worden.
({3})
Insofern hinken Sie da gewaltig hinterher.
Ich muss sagen: Das, was hier in den letzten zwei Tagen gelaufen ist, ist für mich erschreckend. Wir haben sicherlich einen gewissen Anteil des Salärs, das wir hier
bekommen, unter der Rubrik Schmerzensgeld zu verbuchen. Das, was wir hier hören mussten, ist grenzwertig
und zeigt, dass Sie überhaupt nicht bereit sind, konstruktiv an der Lösung unserer Probleme mitzuarbeiten.
({4})
Das, was Sie in der Debatte des heutigen Tages zur Bewältigung der Zukunftsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung gesagt haben - Sie haben das Thema
selbst gewählt -, war beschämend, gerade auch von Ihnen
aus der Abteilung der Linken. Sie reden von einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung und wissen ganz genau,
dass Sie damit rechts- und finanzpolitisch einen Blindflug
der allerersten Sorte hinlegen, weil Sie ein entsprechendes Modell weder bestimmen noch berechnen können.
Sie würden damit in einer nicht umsetzbaren Weise in
Rechtsbestände eingreifen. Deswegen haben Sie bis zum
heutigen Tag das vor langem gemachte Versprechen nicht
einlösen können, ein wirklich durchgerechnetes und im
Hinblick auf die Rechtssystematik haltbares Modell einer
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung - so nennen Sie es vorzulegen. Dort scheitern Sie schon im Ansatz; das Modell ist nicht einmal vorlagefähig.
Auch wir von CDU und CSU haben durchaus schon
harte Zeiten in der Opposition verbracht.
({5})
Unsere Auffassung von der Opposition war aber immer,
nicht nur zu kritisieren, sondern die jeweils Regierenden
mit konstruktiven Vorschlägen dazu zu ermutigen,
({6})
zu besseren, schnelleren und konstruktiveren Lösungen
zu kommen; wir haben uns da gemeinsamen Lösungen
nicht verschlossen.
Wir haben im nächsten Jahr ein Defizit zu erwarten,
das eine konstruktive Mitarbeit, nicht nur destruktive
Kritik, dringend erforderlich macht.
({7})
Ich finde, Sie sollten sich in den nächsten Wochen zusammenreißen. Wir haben schon morgen die nächste Gelegenheit, in einer Gesundheitsdebatte miteinander zu
ringen, um diese Dinge vernünftig voranzubringen. Ich
hoffe, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen zu
konstruktiveren Ansätzen kommen.
Die Vorschläge, die wir gemacht haben, sind ein Weg
zur Verbesserung der Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Wir werden das System
demografiefester machen. Wir werden dafür sorgen, dass
wir in den nächsten Jahren die finanzielle Basis bekommen, auf der wir miteinander Diskussionen über die
Strukturen führen können. Auf diese Diskussionen freue
ich mich sehr. Wir können aber nur vor dem Hintergrund
einer zumindest mittelfristig gesicherten Finanzplanung
über strukturelle Reformen diskutieren. Die Grundlage
dafür - nicht mehr und nicht weniger - haben wir mit
diesem Gesetzespaket, mit diesen Initiativen gelegt. Ich
bitte um Unterstützung.
Danke schön.
({8})
Als letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde erteile ich
Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Jetzt haben wir über eine Stunde lang die Aktuelle Stunde auf Antrag der Linken verfolgt. Außer Vorurteilen, Zweckbehauptungen
({0})
und umfragengestützter Politik haben wir nichts gehört.
({1})
Sie sind so etwas von beratungsresistent, dass ich es mir
jetzt schenke, meine Rede zu halten. Sie kapieren die
Vorgänge jedenfalls heute offensichtlich nicht. Deshalb
können Sie das besser im Protokoll nachlesen.
Danke schön.
({2})
Liebe Kollegin, ich hoffe, Sie haben nicht gemeint,
dass ich das jetzt vorlese.
({0})
Ich schließe also mit unser aller Einverständnis die
Aussprache.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a bis
6 c:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Weiss ({1}), Holger Haibach, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bemühungen zur Umsetzung der Millenniums-
entwicklungsziele bis 2015 verstärken
- Drucksache 17/2421 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Helga Daub, Joachim Günther ({3}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bildung in Entwicklungs- und Schwellenländern stärken - Bildungsmaßnahmen anpassen
und wirksamer gestalten
- Drucksache 17/2134 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Lothar Binding ({6}), Dr. h. c. Gernot
Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Herausforderung Millenniums-Entwicklungsziele
- zu dem Antrag der Abgeordneten Niema
Movassat, Heike Hänsel, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steigerung der Entwicklungshilfequote auf
0,7 Prozent gesetzlich festlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Uwe Kekeritz, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit dem Global Green New Deal die Millenniumsentwicklungsziele erreichen
- Drucksachen 17/2018, 17/2024, 17/2132,
17/2464 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss ({7})
Harald Leibrecht
Thilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Gudrun Kopp das Wort.
({8})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Wir haben fast zwei Drittel des Weges hin zur Erfüllung der acht Millenniumsentwicklungsziele, die wir
selbst gewählt hatten, hinter uns. Wir müssen jetzt die
nächsten fünf Jahre nutzen, um den Rest der Forderungen, die wir uns selber auferlegt hatten, umzusetzen.
Es ist wichtig, in besonderer Weise auf zwei Millenniumsziele einzugehen, nämlich auf die Verbesserung
der Gesundheit von Müttern und auf die Senkung der
Kindersterblichkeit. Diese beiden Millenniumsziele
standen auch im Blickpunkt des G-8-Gipfels, auf den
sich die Bundeskanzlerin dieser Tage fokussiert hat.
Zweifellos ist es notwendig, an dieser Stelle voranzukommen und mehr Erfolge zu erzielen. Wir im Ministerium sind davon überzeugt, dass dafür unter anderem
folgende Aspekte notwendig sind: der Aufbau eines Gesundheitssystems, Hygiene, sanitäre Anlagen, sauberes
Wasser und Nahrung, Familienplanung und reproduktive
Gesundheit.
Ich will darauf hinweisen, dass es in diesem Bereich
auch positive Meldungen gibt. Ich nenne Ihnen eine
Zahl: Während im Referenzjahr 1990 noch 12,5 Millionen Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr starben, ging
diese Zahl bis zum Jahre 2008 auf 8,8 Millionen zurück.
Das bedeutet: Pro Tag konnte durch die Bemühungen
der Entwicklungszusammenarbeit 10 000 Kindern weltweit das Leben gerettet werden. In neuesten Studien geht
man sogar von einer noch höheren Zahl aus, nämlich
von 13 000 Kindern pro Tag, und erwartet bis 2010 eine
Reduktion auf 7,7 Millionen.
Diese Zahl ist natürlich noch immer viel zu hoch; gar
keine Frage. Dennoch zeigt sie, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung muss auf diesem Gebiet vorankommen. Wir müssen die Millenniumsziele ganzheitlich betrachten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass
es notwendig ist, in allen Bereichen eine gute Regierungsführung, die Beachtung der Menschenrechte, die
Stärkung der Rechte von Frauen und die Stärkung der
Zivilgesellschaft, um nur einige Punkte zu nennen, in
den Mittelpunkt zu rücken.
({0})
Wir richten unsere Entwicklungszusammenarbeit auf inklusives Wachstum aus, das geeignet ist, armutsmindernd zu wirken. Wir wollen beim Aufbau von Steuersystemen und Gesundheitssystemen helfen. Wir
möchten gerne, dass die internationalen Handelspolitiken so ausgerichtet werden, dass auch eine Marktöffnung für die Entwicklungsländer erfolgen kann.
({1})
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel für eine positive Entwicklung. Es ist in kürzester Zeit gelungen, in einem der ärmsten Länder dieser Welt, in Malawi, das
Ausmaß der Sterblichkeit von Kindern bis zu ihrem
fünften Lebensjahr zu halbieren, und zwar durch kostengünstige Maßnahmen wie die Erhöhung der Zahl der Geburtshelfer, die Steigerung der Impfquoten und die Versorgung mit Vitamin-A-Präparaten. Ich nenne dieses
Beispiel, weil mir wichtig ist, dass wir in dieser Debatte
nicht nur auf Geldbeträge und Quoten achten, sondern
auch darauf setzen, eine höhere Wirksamkeit und Effizienz unserer Hilfen zu erreichen.
({2})
Die Effizienz und die Zielgenauigkeit unserer Maßnahmen gehören in den Mittelpunkt dieser Debatte. Ich
will betonen, wie wichtig es ist, dass wir, was die Effizienzerhöhung und eine Strukturreform zum Zwecke einer wirkungsvolleren technischen Zusammenarbeit angeht, ein gehöriges Stück vorangekommen sind. Am
gestrigen Tag hat das Bundeskabinett diese Maßnahmen
verabschiedet. In einem unglaublichen Kraftakt ist es
Bundesminister Niebel gelungen, Reformansätze zu entwickeln und eine Reform auf den Weg zu bringen, die
das DAC OECD-weit und weltweit eingefordert hat. Damit haben wir nicht nur die entsprechenden Forderungen
des Koalitionsvertrages erfüllt, sondern es ist uns auch
gelungen, den im Koalitionsvertrag formulierten anspruchsvollen Zeitplan ressortabgestimmt umzusetzen.
Das finde ich hervorragend. Das ist eine gute Meldung.
({3})
Zum Schluss darf ich noch auf eines aufmerksam machen: Im Hinblick auf die Mittel, die wir bereitstellen,
und bei der Arbeit, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit leisten, ist es überaus wichtig, auch auf die
Akzeptanz im Parlament und in der Bevölkerung zu achten. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit hinter den USA und Frankreich der
weltweit drittgrößte Geber ist und dass es natürlich
wichtig ist, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten.
Wir haben auch vor, eine ODA-Quote von 0,7 Prozent
zu erreichen. Das ist weiterhin unser Ziel. Wir haben mit
dem vorgelegten Haushalt 2011, der gerade im Kabinett
verabschiedet wurde, dargelegt, dass der Gesamthaushalt mit 6,07 Milliarden Euro wirklich ambitioniert ist
angesichts der schwierigen Zeiten, in denen es darum
geht, Schulden abzubauen. Auch damit beweisen wir
einmal mehr, dass es uns wichtig ist, in der Entwicklungszusammenarbeit ein gehöriges Stück weiterzukommen, sowohl in der Wirksamkeit als auch mit dem finanziellen Einsatz.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin immer wieder erstaunt, was man
in solchen Debatten zu hören bekommt. Sehr verehrte
Frau Staatssekretärin, Sie haben von einem ganzheitlichen Ansatz gesprochen, von einem Steuer- und Gesundheitswesen in den Entwicklungsländern, das sie aufbauen wollen, und von einem ganz fantastischen
Haushalt, den Sie gestern ins Kabinett eingebracht haben.
Ich glaube, was gestern passiert ist, ist sehr dramatisch und sehr traurig. Das, was gestern als Haushalt vorgelegt worden ist, ist leider der Abschied von internationalen Vereinbarungen, leider der Abschied von der
Vereinbarung zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele, die wir getroffen haben, leider der Abschied
vom 0,7-Prozent-Ziel.
({0})
Vor kurzem hat Ihr eigener Staatssekretär, Herr
Beerfeltz, gesagt - das war in einer Tickermeldung zu lesen -, ein Aufwuchs von 400 Millionen Euro sei das unerlässliche Minimum, das man unbedingt in diesem
Haushalt haben müsse, um weiterhin glaubwürdig zu
sein und um bei der Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit weiterzukommen. Ich finde, das, was gestern vorgelegt worden ist, ist angesichts der Probleme,
die wir heute im Zusammenhang mit unserem Antrag
und unserer Fragestellung zu den Millenniumsentwicklungszielen diskutieren, beschämend.
Es stimmt: In den letzten Jahren sind wir in einigen
Punkten weitergekommen. Es gibt eine gestiegene Einschulungsrate, zum Beispiel in Subsahara-Afrika. Das ist
richtig und gut. Aber diese erreichten Ziele sind gefährdet. Auch sind eine ganze Reihe von Zielen nicht erreicht worden. Mit Verlaub: Gerade der Bereich der
Mütter- und Kindersterblichkeit ist kein gutes Beispiel
für das Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele.
Jährlich sterben in den Entwicklungsländern immer noch
530 000 Frauen während der Schwangerschaft und Entbindung, weil sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Es ist und bleibt unabdingbar, finanzielle
Mittel zur Verfügung zu stellen. Dabei darf man sich
nicht hinter einer Effizienzdebatte verstecken, so wie Sie
das tun.
({1})
Wir haben in der Anhörung zu den Millenniumsentwicklungszielen von allen Experten eines ganz deutlich
gehört: Wir brauchen beides, Effizienz und die nötigen
Mittel. Niemand in diesem Haus ist gegen Effizienz und
gegen eine effiziente Mittelausgabe. Das unterstelle ich
Ihnen nicht. Ich finde es allerdings ungehörig, das immer
wieder uns und der Vorgängerregierung zu unterstellen.
({2})
Niemand wehrt sich gegen einen effizienten Mitteleinsatz. Aber was wir auch brauchen, sind die Mittel, die
wir effizient einsetzen wollen; denn ohne Moos nix los.
({3})
Sie schreiben in Ihrem eigenen MDG-Antrag - ich zitiere Punkt 2 Ihres Forderungskataloges -, die Bundesregierung solle
… sich auf dem MDG-Gipfel der Vereinten Nationen im September 2010 dafür einsetzen, dass die
internationale Staatengemeinschaft sich erneut zu
den Millennium Development Goals bekennt und
ihre gemeinsamen Verpflichtungen bekräftigt …
Was machen Sie denn mit diesem Haushalt? Sie halten
Ihre eigenen Vorgaben nicht ein und haben sich davon
verabschiedet. Man kann doch nicht nach New York fliegen und so tun, als habe man zu Hause seine Hausaufgaben erledigt.
({4})
Das kennen wir leider aus dieser Ecke des Hauses von
den verschiedenen internationalen Konferenzen, von
Kopenhagen bis zu dem anstehenden Gipfel in New
York. Sie fahren hin, halten schöne Reden - die Kanzlerin ist gut darin, international einen schönen Auftritt hinzulegen -; aber auf dem Rückweg sind die Worte, die
man gesagt hat, schon längst vergessen. Es geht hier darum, die Entwicklungszusammenarbeit im Interesse der
Ärmsten der Armen zu finanzieren.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade von der Akzeptanz in der Bevölkerung gesprochen. Dazu gehört
auch, sich eine Petition anzuschauen, die von 66 000
Bürgerinnen und Bürgern unterschrieben worden ist und
die zeigt, wie viele Menschen in diesem Land sich die
Einführung der Finanztransaktionsteuer wünschen, und
zwar aus verschiedenen Gründen.
({5})
Die Verursacher der Krise sollen an den Folgen der Krise
beteiligt werden, und Spekulationen, durch die neue Krisen hervorgerufen werden, sollen verhindert werden.
Insbesondere soll der krisenbedingte Rückfall in Armut
- das erleben wir ja auch in Bezug auf die MDGs -, zu
dem es durch die Wirtschaftskrise und verzocktes Geld
gekommen ist, verhindert werden. Es geht darum, dort
die Mittel einzunehmen, wo sie herkommen müssen.
Dort, wo das Geld verzockt worden ist, muss auch wieder Geld eingefordert werden.
({6})
Ich kann nicht verstehen, dass sich ausgerechnet der Entwicklungsminister diesen Vorstellungen verschließt.
Warum das Ganze? Ich nenne Ihnen zwei Beispiele.
Erstes Beispiel: Thema Bildung. Wir diskutieren heute ja
auch über einen Antrag der Koalition zur Bildung.
70 Millionen Kinder sind noch immer vom Zugang zur
Bildung ausgeschlossen; in dieser Analyse sind wir uns
einig. Ich habe Ihren Antrag gelesen und bin von den
Kollegen der Union, ehrlich gesagt, ein bisschen enttäuscht.
({7})
- Ja, das kommt manchmal noch vor. - Wir haben in der
letzten Legislaturperiode gemeinsam einen Bildungsantrag formuliert, in dem wir sauber und detailliert zu allen
Fragen - von der Grundbildung bis zur beruflichen Bildung - Stellung genommen haben. Er enthielt auch die
Forderung an unsere damalige Bundesregierung, in diesem Bereich mehr zu tun. Was haben Sie hier und heute
als Papier vorgelegt? Sie betonen, wie wichtig die Privatwirtschaft im Bildungssektor sei.
({8})
Ehrlich gesagt: Dieser Antrag ist das Papier nicht wert,
auf dem er gedruckt ist. Treten Sie ihn in die Tonne, und
nehmen Sie unseren alten Bildungsantrag! Der ist wesentlich besser, wesentlich fundierter.
({9})
Bildung ist eine urstaatliche Aufgabe. Das wurde von
Frau Napoe, der Vorsitzenden der Globalen Kampagne
für Bildung, in der öffentlichen Anhörung noch einmal
deutlich gemacht. Bildung muss öffentlich und kostenlos
sein. Dabei darf man nicht die Möglichkeitsform gebrauchen, wie Sie das in Ihrem Papier in mehrfacher Weise
tun: Es „solle“ gebührenfrei etwas zur Verfügung gestellt
werden, darauf „sollten“ entwicklungspolitische Maßnahmen abzielen, man „solle“ das Bildungssystem stärken. - Die Möglichkeitsform haben Sie hier weidlich benutzt, um sich aus der Affäre zu ziehen, da die Mittel aus
Ihrem Haushalt dafür nicht reichen.
({10})
Wir brauchen eine verlässliche und weltweit abgestimmte und koordinierte Initiative für Bildung.
Deutschland muss sich verlässlich daran beteiligen.
Aber gerade daran, sich auf internationaler Ebene verlässlich zu beteiligen, hapert es bei dieser Regierung.
({11})
Es hapert auch an der Umsetzung des MDG 7, bei
dem es um die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit geht; das ist das zweite Beispiel. Es kann doch nicht
sein, dass man sagt, Klimaschutz sei ein Schlüssel zur
Armutsbekämpfung, die Folgen des Klimawandels wie
Überflutung, Dürre und schwere Stürme träfen insbesondere die Ärmsten der Armen, Entwicklungsprozesse
würden zurückgedreht und durch die Folgen des Klimawandels aufgehalten, und gleichzeitig im gestern vorgelegten Haushaltsentwurf die einzigen beiden Titel, die es
in diesem Haushalt für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern gibt, streicht, auf null fährt, rasiert.
({12})
Hier geht es um die Gelder, die Sie der Weltgemeinschaft in Kopenhagen so großzügig zugesagt haben. Von
den zugesagten 420 Millionen Euro haben Sie schlappe
70 Millionen Euro im laufenden Haushalt eingestellt,
und die werden jetzt auch rasiert.
Für den Fall, dass ein nachfolgender Redner der
Union oder der FDP versuchen möchte, das schönzureden:
({13})
Bei den Mitteln, die Sie dann immer benennen - es gibt
ganze Ausarbeitungen dazu -, geht es um Mittel wie beispielsweise für die Internationale Klimaschutzinitiative,
die bereits 2007 vereinbart und 2008 in den Haushalt
eingestellt wurden. All das rechnen Sie uns jetzt als Klimaschutzmaßnahme für die Entwicklungsländer vor. So
geht das nicht.
({14})
Wenn man international ernst genommen werden will,
dann muss man mit seinen Finanzierungszusagen glaubwürdig sein. Man muss auch bei der Umwelt- und Energiepolitik im eigenen Land glaubwürdig sein. Zudem
sollte man tunlichst auf Forderungen wie die im Antrag
formulierten verzichten, zum Beispiel die, in den Entwicklungsländern die Sensibilität für das Thema Klimaschutz zu fördern. Ja, wie denn? Indem Sie gegenüber
den Entwicklungsländern gemachte Versprechen brechen? - Wie wollen Sie denn so auf internationalen Konferenzen Sensibilität bei den Partnerländern fördern?
Das ist doch Humbug.
({15})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Ich komme zum Ende.
Es hat sehr lange gedauert, bis Sie dieses Papier vorgelegt haben. Es ist erst nach einer Nacht-und-NebelAktion heute Morgen vorgelegt worden. Ich glaube, Sie
hätten sich die Mühe für diesen MDG-Antrag sparen
können. Stimmen Sie dem Antrag der SPD-Fraktion zu!
Dann haben Sie ein vernünftiges Papier.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Christian Ruck für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube nicht, Frau Kofler, dass wir Ihrem
SPD-Antrag zustimmen werden.
({0})
Wenigstens war das bei uns so nicht ausgemacht. Daran
halten wir uns natürlich.
Ich möchte zuerst eine wenig erfreuliche Feststellung
machen: Für viele Menschen in Afrika sind viele Hoffnungen, die mit der Unabhängigkeit verbunden waren
- allein in diesem Jahr begehen 17 Staaten Afrikas den
50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit -, nicht in Erfüllung
gegangen. Zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo: Wer heute dort geboren wird, erlebt statistisch gesehen den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit
nicht; denn die durchschnittliche Lebenserwartung liegt
bei nur 47 Jahren. Oder in Äthiopien: Dort haben nur
20 Prozent der Bevölkerung Zugang zu einer geordneten
Sanitärversorgung. Oder in Mosambik: Dort stirbt fast
jedes fünfte Kind vor seinem fünften Lebensjahr.
Es gibt aber gerade in vielen afrikanischen Ländern
Gott sei Dank auch Entwicklungsfortschritte. In Benin
zum Beispiel ist der Anteil der Menschen, die Zugang zu
sauberem Trinkwasser haben, von 12 Prozent in 1990
auf inzwischen über 30 Prozent gestiegen. In Ghana ist
die Armutsquote von 40 Prozent in 1998 auf 28,5 Prozent in 2005 gesunken, und in Tansania gehen inzwischen fast alle Kinder in die Grundschule, nachdem es
1991 nur 62 Prozent waren.
Die Bilanz ist also gerade auf dem Problemkontinent
Afrika durchaus durchwachsen. Es gibt gute Nachrichten; es gibt schlechte Nachrichten. Aber für mich als Abgeordneter, der seit 20 Jahren in der Entwicklungspolitik
tätig ist, folgt daraus: Wenn die Rahmenbedingungen
stimmen, wenn die Regierung eines Landes sich dem
Wohl seiner Bevölkerung verschrieben hat, wenn Korruption bekämpft wird, wenn rechtsstaatliche Prinzipien
zur Geltung kommen und die Verwaltung besser arbeitet,
dann geht es auch mit der Entwicklung und den Millenniumszielen vorwärts und dann ist auch Entwicklungspolitik und Unterstützung von außen bei der Entwicklung wirksam - sonst nicht.
Genau davon handeln die Millenniumserklärung und
die Millenniumsziele aus dem Jahre 2000. Neben den inhaltlichen Zielen zur Armutsbekämpfung wird die kollektive Verantwortung der Staats- und Regierungschefs,
also die gemeinsame Verantwortung von Entwicklungsund Industrieländern, auch für die Ärmsten betont. Es
wird explizit hervorgehoben, wie wichtig gute Regierungsführung innerhalb jedes Landes ist. Die Staats- und
Regierungschefs haben sich auch alle verpflichtet,
Demokratie zu fördern, den Rechtsstaat zu stärken und
die Menschenrechte zu beachten. Die christlich-liberale
Koalition rückt genau diese Gesichtspunkte, nämlich
gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, in den Mittelpunkt der Entwicklungspolitik;
({1})
denn dies ist die beste Hilfe zur Selbsthilfe.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die stärkere Förderung der Bildung, wie es in
unserem Antrag zum Ausdruck kommt. Dabei sehe ich
Bildung nicht nur als ökonomischen Faktor an, der den
Menschen zu einem Arbeitsplatz verhilft, von dem sie
gut leben können. Bildung ist ebenso wichtig, um gute
Regierungsführung zu stärken und notwendige Reformprozesse in Entwicklungsländern in Gang zu bringen
und den Rückhalt der Bevölkerung dafür zu gewinnen.
Das ist auch beste Hilfe zur Selbsthilfe.
({2})
Wenn wir bei diesen Themen keine Fortschritte machen, dann werden wir trotz aller finanziellen Mittel weder die materiellen Armutsbekämpfungsziele erreichen,
noch können wir dann kulturell und menschlich von einer erfolgreichen Entwicklung sprechen. Deswegen dürfen wir diese Punkte in der öffentlichen Diskussion nicht
übersehen, und wir müssen auch genau auf die inhaltlichen Ziele achten. Es ist falsch, den Gebern die Schuld
zu geben, wenn diese Ziele nicht erreicht werden.
Richtig ist, dass die Forderung nach guter Regierungsführung keine Einbahnstraße ist. Auch wir müssen
unsere Hausaufgaben machen und die Wirksamkeit unserer Hilfe stärken. Wie in der Koalitionsvereinbarung
festgehalten, haben wir dabei mit der Reform der technischen Zusammenarbeit begonnen. Ich gratuliere Bundesminister Niebel dazu, wie geräuschlos und effizient
er die Vorfeldreform angegangen ist.
({3})
Die geplante organisatorische Fusion von GTZ, InWEnt
und DED stärkt die deutsche TZ und macht sie sichtbarer. Gleichzeitig erleichtert die Zusammenlegung die
Steuerung durch das Ministerium und verbessert die
Kohärenz des Auftritts der deutschen EZ. Das ist sehr
wichtig, weil es dabei auch um die Schlagkraft unserer
EZ geht.
({4})
Insgesamt ist diese Reform ein erster wichtiger Beitrag
zur Erreichung der Millenniumsziele durch diese christlich-liberale Koalition, an dem sich die frühere Leitung
des Hauses die Zähne ausgebissen hat.
({5})
Auch in anderen Bereichen müssen die Geber ihre
Hausaufgaben machen, um eine stärkere Kohärenz ihres
Handelns zu erreichen. Zum Beispiel müssen die Geber
gegenüber rohstoffreichen Staaten gemeinsam und koordiniert auftreten, um zerstörerische Fehlentwicklungen
wie mit Blutdiamanten oder Blutöl zu vermeiden. Sie
dürfen sich dabei nicht wegen Wirtschaftsinteressen gegeneinander ausspielen lassen. Als Entwicklungspolitiker müssen wir uns dafür einsetzen, dass aus dem Fluch
von Rohstoffreichtum ein Segen für die Entwicklung der
Menschen wird. Das Gleiche gilt für die Handelspolitik.
Auch da haben wir viele Gemeinsamkeiten. Wir müssen
Wert darauf legen, dass jede weitere Öffnung durch die
Doha-Runde oder durch die EPAs auch zu entwicklungspolitischen Fortschritten in diesen Ländern führt.
({6})
Jetzt komme ich zum Geld. Wir können nicht über die
Millenniumsziele sprechen, ohne über Geld zu sprechen.
({7})
- Genau. - Ich weiche dieser Diskussion auch nicht aus,
weil es wahr ist, dass wir nach wie vor vor großen Herausforderungen stehen: beim Klimaschutz, beim Schutz
der Ökosysteme, beim Aufbau von fragilen Staaten, bei
der Ernährungssicherung und vielem mehr. Darüber sind
wir uns völlig einig. Aber, liebe Bärbel Kofler und
Sascha Raabe, das Dauergezetere der Opposition zur
ODA - da bin ich mir sicher - ist polemisch, scheinheilig und unseriös.
({8})
- Zu Ihnen komme ich noch. - Die großen Versprechungen hat Bundeskanzler Schröder gemacht. Er hat aber
null Komma gar nichts dafür getan. In der ganzen Regierungszeit von Rot-Grün blieb der BMZ-Haushalt fast
konstant knapp unter 4 Milliarden Euro. Das Volumen
hat in der Zeit sogar abgenommen. Das ist der erste Teil
der Wahrheit. Der zweite Teil der Wahrheit ist, dass erst
mit dem Antritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel der
BMZ-Haushalt in nur einer Legislaturperiode um
50 Prozent auf über 6 Milliarden Euro gestiegen ist.
Diese Zahlen sind nicht so kompliziert, dass man sie sich
nicht merken könnte.
Frau Wieczorek-Zeul, Sie waren doch mit mir einig,
dass es ein Glück war, dass Schröder nicht mehr Kanzler
war und Bundeskanzlerin Merkel Ihre Chefin wurde.
({9})
Das hat Ihnen einen unverhofften und auch berechtigten
Geldsegen beschert.
({10})
Wahr ist auch, dass Ihr letzter Haushaltsentwurf einen
Anstieg um 23 Millionen Euro vorsah. Damals hatte
nämlich bereits die Krise eingesetzt. Wir haben damals
zusammen regiert, und das, was Sie jetzt sagen - oder
auch du, Bärbel Kofler -, stand in einem ganz anderen
Zusammenhang. Das war damals die Wahrheit, und jetzt
soll alles falsch sein. Die christlich-liberale Koalition hat
in ihrem ersten Haushalt einen Aufwuchs zu verzeichnen, der das Zehnfache des Ansatzes der ehemaligen
Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul ausmacht. Daran erkennt man eure fadenscheinigen Argumente.
Zu den Grünen möchte ich prophylaktisch nur eines
sagen: Nachdem ihr aus der Regierung ausgeschieden
wart, wurde der Ansatz für Klimaschutzmaßnahmen im
BMZ verdreifacht, der für die Biodiversität wurde vervierfacht. Daran sieht man, wer die wahren Grünen im
Parlament sind.
({11})
Wir kämpfen dafür, obwohl wir zur Schuldenbremse
stehen, die auch die SPD mitbeschlossen hat, und obwohl wir knappe Haushaltsmittel haben
Herr Kollege!
- das ist mein letzter Satz -, dass die Bundeskanzlerin
- darauf können sich auch die NGOs verlassen - ihre
Zusagen einhalten kann. Das gilt auch für diesen Herbst.
Sie hat bis jetzt mit unserer Hilfe noch jede Zusage einhalten können.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Heike Hänsel für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
sprechen heute im Vorfeld der Überprüfung der sogenannten Millenniumsentwicklungsziele im September
über die bisherigen Erfolge bzw. Misserfolge beim Erreichen der selbstgesteckten Ziele. Die Bilanz - das haben wir schon gehört - ist durchwachsen. Jetzt werden
viele Vorschläge gemacht - manche sind konkret, manche weniger konkret -, was man denn verbessern könnte.
Mir fehlt in der gesamten Diskussion ein kritischer Blick
auf die Millenniumsentwicklungsziele selbst. Viele
Menschen, die heute hier zuhören, wissen sicher gar
nicht ganz genau, was die Millenniumsentwicklungsziele überhaupt sind. Das liegt unter anderem am Zustandekommen dieser Ziele. Das ist nämlich weitgehend
ein Prozess ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft. Acht
Ziele wurden von Institutionen wie der OECD, dem
Internationalen Währungsfonds und der Weltbank entwickelt und sind von den Regierungen der Entwicklungsländer und der Industriestaaten umzusetzen.
Wir waren aber bei der weltweiten Armutsbekämpfung schon einmal weiter. In den 90er-Jahren wurden
nämlich UN-Beschlüsse mit der Mobilisierung von
Menschen verbunden, zum Beispiel im Rahmen des RioProzesses für nachhaltige Entwicklung. Die Ideen wurden in die Kommunen getragen; in vielen Städten und
Gemeinden entstanden sogenannte lokale Agenda-21Gruppen, die sich mit dem Zusammenhang von weltweiter Armut, Klimawandel und unserem Konsummodell
und dem Ressourcenverbrauch in den reichen Industriestaaten beschäftigt haben. Die Millenniumsentwicklungsziele dagegen sprechen diese Strukturen gar nicht
mehr an. Sie sagen nichts über Ursachen der Armutsbekämpfung und Strategien zur Armutsbekämpfung. Deshalb fordern wir: Wenn wir von Armutsbekämpfung
sprechen, müssen wir auch von den strukturellen Ursachen der Armut sprechen.
({0})
Damit kommen wir zu dem heute herrschenden Weltwirtschaftssystem. Allein durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sind laut Aussagen der Weltbank im letzten
Jahr mindestens 100 Millionen Menschen mehr in Armut zurückgefallen. Das ist eine größere Anzahl als
Deutschland Einwohnerinnen und Einwohner hat. Deshalb ist es auch fatal, dass Sie, Herr Niebel, nun neue
Weichen in der Entwicklungszusammenarbeit stellen
wollen und mit Ihren neoliberalen wirtschaftspolitischen
Vorstellungen, die Armut erzeugen, Armut bekämpfen
wollen. Sie werden nicht müde, hier und in den Entwicklungsländern die freie Marktwirtschaft als Entwicklungsmodell zu propagieren.
({1})
Was bedeutet das konkret für die Länder des Südens?
Ich möchte zwei Beispiele nennen.
Erstens. Die Bundesregierung verhandelt im Rahmen
der EU über ein Freihandelsabkommen mit Indien. Die
Europäische Union will in diesem Zusammenhang das
Patentrecht verschärfen, was zum Ergebnis hat, dass billige Nachahmerprodukte erst viel später und deutlich
teurer produziert werden können. Die Bundesregierung
vertritt ganz im Sinne der freien Marktwirtschaft
({2})
die Interessen der Pharmakonzerne gegen die Interessen
von Millionen von Menschen, die bisher keinen Zugang
zu billigen Medikamenten haben. Das ist ein Skandal.
({3})
Dies läuft drei Millenniumsentwicklungszielen gleichzeitig zuwider, nämlich denen, die sich mit Kindersterblichkeit, Müttergesundheit und dem Kampf gegen Aids
und Malaria beschäftigen.
Zweitens: Die Bundesregierung hat sich im Rahmen
der EU für ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien
und Peru starkgemacht, das bereits unterzeichnet wurde.
Darin geht es unter anderem um bessere Möglichkeiten
des Imports von Palmöl aus Kolumbien in die EU. Davon profitieren ebenfalls große Konzerne, die in Kolumbien Ölpalmen auf Land anbauen, das Kleinbauern gehörte, die vertrieben wurden. Mittlerweile gibt es in
Kolumbien mehr als 4 Millionen vertriebene Menschen,
die in größter Armut in den Slums der großen Städte leben. Das Brisante ist, dass die kolumbianische Armee an
diesen Vertreibungen beteiligt ist und die illegalen Ölpalmenplantagen auch noch schützt. Ich frage mich, wie
sich Angela Merkel gestern dazu geäußert hat, als sie
sich mit dem kolumbianischen Präsidenten getroffen hat.
Ich habe nichts von Kritik an dieser Politik, die konkret
zu Armut beiträgt, gehört. Auch das ist völlig inakzeptabel.
({4})
Ein ganz entscheidender Punkt, der in der Diskussion
viel zu kurz kommt, ist, dass wir nicht von Armutsbekämpfung sprechen können, ohne über Krieg zu sprechen. Viele arme Menschen leben in Kriegs- und Krisenregionen und werden so lange nicht aus der Armut
herauskommen, solange diese Kriege andauern. Das zeigt
sich unter anderem am Beispiel Afghanistan. Trotz neun
Jahren Aufbauhilfe gehört Afghanistan zu einem der
ärmsten Länder der Welt und hat eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten weltweit. Deshalb gilt für uns: Wir
müssen dringend ein neues Millenniumsentwicklungsziel
formulieren: den Krieg als Mittel der Politik zu überwinden.
({5})
Die Rüstungsausgaben von mehr als 1 Billion Dollar
übersteigen die weltweiten Entwicklungsausgaben um
das Zehnfache. Das ist im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung völlig inakzeptabel.
Die Millenniumsentwicklungsziele sind ein Minimalkonsens, an dem es viel zu kritisieren gibt. Die Ausgabenpolitik der Bundesregierung wird aber nicht viel dazu beitragen, diesen Minimalkonsens zu erreichen. Dazu
gehören auch - das wurde bereits erwähnt - zahllose nicht
gehaltene Versprechen, zum Beispiel auf G-8-Gipfeln.
Mittlerweile haben wir den Überblick über die zahlreichen Zusagen und nicht eingehaltenen Versprechen verloren. So hat Angela Merkel in Kanada 80 Millionen Euro
für Mütter- und Kindergesundheit in Aussicht gestellt.
Davon ist im neuen Haushalt aber nichts zu sehen. Es
wird eine Nullrunde geben und höchstens umgeschichtet.
Das ist ein Armutszeugnis für den Entwicklungshilfeminister.
({6})
Herr Niebel, es legt den Verdacht nahe, dass Sie im
Rahmen Ihrer Institutionenreform deshalb ständig von
Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit sprechen,
um sich vor einer substanziellen Erhöhung des Entwicklungshaushalts zu drücken. Genau deswegen hat die
Fraktion Die Linke einen Antrag eingebracht. Wir wollen das 0,7-Prozent-Ziel für Entwicklungsausgaben bis
zum Jahr 2015 verbindlich gesetzlich festlegen, damit
Ihre Politik der Trickserei und Täuschung bei den Entwicklungsausgaben ein Ende hat.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eines steht fest: Wenn wir die international
vereinbarten Ziele zur Halbierung der Armut, zur Senkung der Müttersterblichkeit und für mehr globale Partnerschaft erreichen wollen, dann müssen wir mehr tun.
Dann reichen die Anstrengungen der letzten zehn Jahre
nicht aus.
Vor diesem Hintergrund richtet sich meine Frage an
die Koalition aus CDU/CSU und FDP: Wie ernst nehmen Sie Ihren Antrag eigentlich?
({0})
Die Überschrift dieses Antrags lautet: „Bemühungen zur
Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015
verstärken“. Ich frage Sie: Wie ist das zu verstehen?
Diese Bemühungen des Verstärkens sind doch für das
Jahr 2010, also für dieses Jahr, schon gescheitert.
Mittlerweile hat uns aus dem Kabinett die dröhnende
Ansage erreicht: Deutschland verabschiedet sich nicht
nur sang- und klanglos vom europäisch vereinbarten Ziel
von 0,51 Prozent im Jahr 2010, sondern auch von einer
weiteren Erhöhung im Jahr 2011. Das bedeutet Nullwachstum im Rahmen der Millenniumsentwicklungsziele. Deutschland landet mit Schwarz-Gelb voraussichtlich bei nur 0,4 Prozent,
({1})
und das ist ein Skandal.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, dieser
Antrag muss sich an dem messen lassen, was jetzt im
Haushalt auf den Weg gebracht wird. Da handelt es sich
offensichtlich um eine Täuschung der Öffentlichkeit.
({3})
Gestern posaunte Minister Dirk Niebel auch noch, dass
die Reform der entwicklungspolitischen Institutionen ein
starkes Signal an den UN-Millenniumsgipfel im September aussende. Da täuscht er sich gewaltig. Sowohl diese
Reform wie auch dieser Antrag gehen vor der Dramatik
des gebrochenen Versprechens in die Knie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich wissen
doch wir alle hier, warum und weswegen wir aus der Entwicklungspolitik für die MDGs kämpfen; da sind wir uns
fraktionsübergreifend einig. Uns Grünen wurde im Ausschuss schon bestätigt, dass unsere Forderungen zu den
Zielen in vielen Bereichen auch für die Koalition akzeptabel seien. Wir Grünen meinen, dass wir einen umfassenden Ansatz wie den globalen Green New Deal brauchen,
damit die Finanzmärkte effektiv reguliert werden, damit
sich die Wirtschaft ökologisch und sozial ausrichtet, damit ein sozialer Ausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern stattfindet und damit besonders in den
Entwicklungsländern gegen die katastrophalen Wirkungen des Klimawandels gekämpft werden kann.
Für all dies brauchen wir Handlungsstrategien und
natürlich einen weltweiten MDG-Aktionsplan, der auch
finanziell unterstützt und unterfüttert ist.
({4})
Da muss ich Ihren Antrag, den Koalitionsantrag, im Vorfeld der UN-Konferenz als Täuschungsmanöver sehen.
Die harten Haushaltsfakten sprechen eine andere Sprache.
({5})
Sie führen mit Ihrem Antrag schon die Rückzugsgefechte und legen die Argumente vor, die schon heute
rechtfertigen sollen, warum es nicht so wichtig ist, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Sie führen die Verantwortung der Steuerzahler an.
({6})
Sie führen an, dass die Gelder wirksam und effizient
ausgegeben werden sollen. Sie glauben an die Effizienzgewinne in Milliardenhöhe in der EZ, die untermauern
sollen, dass Steigerungsraten für Entwicklung nicht die
einzigen Herausforderungen sind.
({7})
Das alles tun Sie nur, um sich reinzuwaschen von dem
großen politischen Versagen, ein international gegebenes
Versprechen gebrochen zu haben.
({8})
Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie mit dem Finger auf die Vergangenheit zeigen und die damaligen Versäumnisse anprangern. Zwar sage auch ich: „Es ist nicht
ganz verkehrt, daran zu erinnern“, doch es nützt Ihnen
hier und heute nichts. Sie tragen für 2010 und für 2011
die Verantwortung. Sie verantworten, dass es nicht mehr
Mittel für die Entwicklungspolitik gibt. Was fehlt, ist
politischer Wille.
Mein Fazit: Lug und Trug.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Harald Leibrecht für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
MDG-Überprüfungskonferenz im September ist in der
Tat ein wichtiger Meilenstein für die internationale Entwicklungspolitik. Uns allen ist doch klar, dass noch
große Aufgaben vor uns liegen. Natürlich können wir
mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden sein. Viele Industriestaaten haben ihre Hausaufgaben, die selbstgesteckten Ziele - sei es bei der ODA-Quote oder bei den
MDGs -, bisher nicht erreicht. Gerade das Erreichen der
MDGs ist für die Bundesregierung in der Tat eine Herkulesaufgabe, der sie sich jedoch mit ganzer Kraft stellt.
Es ist wirklich bitter, dass die SPD, aber auch die Grünen in den vielen Jahren, in denen sie in diesem Bereich
Verantwortung hatten, leidlich wenig erreicht haben.
({0})
Doch jetzt gilt es, den Blick nach vorn zu richten.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Entwicklungsländern eine Perspektive geben. Staatssekretärin
Kopp hat die wichtigen Aspekte zu den MDGs genannt.
Ich möchte die wenigen Minuten Redezeit nutzen, um
das Thema „Bildung in Entwicklungsländern“ anzusprechen. Es hat hier vor allem im Bereich der Grundbildung
in den letzten Jahren durchaus Erfolge gegeben.
Um ein Land aber auf lange Sicht erfolgreich aus der
Armut zu befreien, müssen wir in Zukunft auf eine qualifizierte und nachhaltige Bildung in den Entwicklungsländern setzen.
({1})
Nur dann, wenn Menschen eine solide Schulbildung bekommen, haben sie die Chance, ihr Schicksal selber in
die Hand zu nehmen und sich von Abhängigkeit zu befreien.
Doch Grundbildung alleine reicht bei weitem nicht
aus. Für den Aufbau von Justiz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft bedarf es einer
breiten Bildungsschicht, ja einer Bildungselite, die ihr
Land in eine bessere Zukunft führt. Wenn ein Staat bei
der Bildung versagt, wie das in Entwicklungsländern so
oft der Fall ist, dann ist es doch durchaus sinnvoll, Frau
Kofler, wenn es private Anbieter gibt. Warum eigentlich
auch nicht?
({2})
Ich kenne viele Beispiele dafür, dass der Staat versagt
und dass es nur dank der Privaten funktioniert. Junge
Menschen, Männer und Frauen gleichermaßen, müssen
die Chance haben, nach der allgemeinen Schulbildung
einen qualifizierten Beruf zu erlernen oder eine höhere
Schulbildung bis hin zur Universität zu erhalten.
Besonders der Lehrerausbildung kommt eine große
Bedeutung zu, da sie die Basis für ein gut funktionierendes Schulsystem ist. Minister Niebel hat vor wenigen
Wochen ein Teacher Training College in Afghanistan eröffnet. Dort werden mit deutscher Hilfe jährlich bis zu
2 000 Lehrer ausgebildet. Wir bauen also nicht nur
Schulen, sondern wir sorgen auch für qualifizierte Lehrer.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass gut
ausgebildete und hochqualifizierte Menschen sich in ihrem Land mit ihrem Wissen einbringen und so ihren Beitrag zur Entwicklung ihres Landes leisten. Der Braindrain, also das Abfließen der Bildungselite aus einem
Entwicklungsland, lässt viele Bildungsmaßnahmen wirkungslos verpuffen und muss deshalb vermieden werden.
Schon heute leistet Deutschland mit weltweiten Bildungskooperationen einen bedeutenden Beitrag. Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist eine wichtige
Säule der deutschen Außenpolitik, und viele junge Men5660
schen in der Welt erhalten durch die Hilfe unseres Landes eine bessere Bildung.
Aus-, Fort- und Hochschulbildung sind die beste langfristige Hilfe zur Selbsthilfe und Voraussetzung für eine
nachhaltige Entwicklungspolitik. Hierum geht es auch in
unserem Antrag für eine bessere Bildung in Entwicklungsländern, wofür ich um Ihre Unterstützung werbe.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
({0})
Es ist klar, dass wir zur Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele auch mehr Geld brauchen. Darüber haben wir schon bei der ersten Lesung diskutiert. Die eine
oder der andere unter den Rednerinnen und Rednern
hatte mir danach vorgeworfen: Wenn es um die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele geht, darf man
nicht laut werden, nicht emotional werden. Wir alle sind
uns doch eigentlich einig. Das ist ein ernstes Thema.
({1})
Wissen Sie, wir sind hier nicht auf dem Kirchentag,
sondern im Bundestag. Für die ärmsten Menschen in der
Welt reicht es nicht, wenn wir in Sonntagsreden immer
wieder sagen, dass wir Hunger und Armut überwinden
müssen, aber dann, wenn es darum geht, auch die Mittel
zur Verfügung zu stellen, das nicht leisten, so wie es bei
dieser Bundesregierung der Fall ist, Herr Kollege Ruck.
({2})
Sie haben mir vorhin, bevor ich hier überhaupt geredet habe, Polemik vorgeworfen. Es ging darum, dass wir
als Opposition kritisieren, dass die Bundesregierung ihre
Versprechen nicht einhält. Ich möchte Ihnen dazu in Erinnerung rufen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel
bei der Regierungserklärung 2005 hier vor uns gesagt
hat:
Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet … bis
2010 mindestens 0,51 Prozent und bis 2015 die
ODA-Quote von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da sage.
Dann hat sie - Herr Kollege Ruck, hören Sie gut zu! am 7. Juni 2007 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesagt:
Und wir fühlen uns und ich fühle mich den Zielen
für 2010 verpflichtet. Da wird abgerechnet.
Herr Ruck,
({3})
wenn im Jahr 2010 anstatt 0,51 Prozent nur 0,4 Prozent
da sind, dann stellt man nun einmal fest, dass eine Kluft
vorhanden ist. Da ist ein Versprechen gebrochen worden.
Das ist keine Polemik. Da muss man nur rechnen können. Herr Ruck, nehmen Sie einen Taschenrechner und
reden Sie sich da nicht heraus.
({4})
Es ist nun so, Herr Kollege Ruck, lieber Christian,
({5})
dass die Kanzlerin wesentlich weiter ist als du. Sie hat
mir dieses Versprechen in vielen persönlichen Gesprächen immer wieder gegeben.
({6})
Ich habe sie vor wenigen Wochen im Rahmen der Debatte zum Haushalt 2010 angesprochen. Da hat sie mir
gesagt: Ja, ich fühle mich sündig; ich habe da mein Versprechen gebrochen. - Ich als guter Katholik sage: Ich
wäre bereit, einer Sünderin zu verzeihen. Aber das setzt
aufrichtige Reue voraus. Angesichts der Tatsache, dass
es im Haushaltsentwurf für 2011 keine Steigerung gibt
und dass die Versprechen ganz klar aufgegeben werden,
kann ich nur sagen: So können wir die Millenniumsziele
nicht erreichen. Die Kanzlerin hat die Öffentlichkeit belogen und die ärmsten Menschen betrogen.
({7})
Das werden wir als Opposition Ihnen immer wieder sagen, ob es Ihnen gefällt oder nicht, Herr Kollege.
Frau Staatssekretärin, ich bin gerne bereit, Effizienz
und Wirksamkeit in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen, wie Sie es gefordert haben. Aber dass Sie, wie gestern in der Pressekonferenz groß angekündigt, die Zusammenführung der technischen Institutionen im
Entwicklungsbereich als die große Lösung und den großen Wurf in der Effizienzdebatte bezeichnen, das ist
doch wirklich sehr stark übertrieben.
Der DAC-Bericht, auf den Sie sich immer beziehen,
fordert, die Trennung von technischer und finanzieller
Zusammenarbeit zu überwinden.
Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuster
zu?
Ja.
Herr Kollege Raabe, Sie haben in Ihren Ausführungen mehrmals auf die Quote Bezug genommen. Zum
Schluss haben Sie die Effizienz angesprochen. Sind Sie
bereit, anzuerkennen, dass es sehr wichtig ist, dafür zu
sorgen, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie benötigt
wird? Ihre Ministerin hat auch solchen Staaten Budgethilfe zugesagt, von denen wir später wussten, dass diese
Gelder in den Apparaten der jeweiligen Regime versickern und eben nicht den Ärmsten der Armen zur Verfügung gestellt werden.
({0})
Man muss auch einmal darüber diskutieren, wie man erreichen kann, dass das Geld da ankommt, wo es benötigt
wird.
Ich möchte Sie ferner fragen: Sind Sie nicht auch der
Meinung, dass die Reform der Durchführungsorganisationen notwendig ist? Von vielen, die in den Organisationen arbeiten, haben wir die Aufforderung vernommen:
Packt es endlich an! - Wir wollten dies schon viele
Jahre. Aber die damaligen Regierungen haben es nicht
geschafft.
({1})
Liebe Kollegin Schuster, ich möchte zunächst auf den
zweiten Teil Ihrer Frage antworten.
Was die Reform der Institutionen angeht, ist es so,
dass das Verhältnis von finanzieller zu technischer Hilfe,
was ihr Haushaltsvolumen angeht, zwei zu eins beträgt.
Wir geben also doppelt so viel Geld für die finanzielle
Zusammenarbeit aus wie für die technische Zusammenarbeit. Natürlich ist es ein erster wichtiger Schritt, wenn
man im technischen Bereich etwas zusammenführt.
Aber es wäre wesentlich sinnvoller - da werden Sie mir
sicherlich zustimmen -, dass man den Bereich, der ein
doppelt so großes Volumen aufweist, auch in die Reform
einbezieht. Tut man dies nicht, gibt es für die Menschen
in den Partnerländern weiterhin zwei Ansprechpartner.
({0})
Das ist doch gerade das, was im DAC-Bericht kritisiert
wird. Die Ministerin hat in der letzten Legislaturperiode
zu Recht gesagt: Erst einmal müssen wir die KfW-Entwicklungsbank mit der GTZ fusionieren. Dann reformieren wir den technischen Bereich. Denn nur auf diese
Weise erhalten wir eine Lösung aus einem Guss. - Das
steht auch, wie ich gerade schon ausgeführt habe, im
DAC-Bericht der OECD.
Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass
Staatssekretär Beerfeltz gestern im Ausschuss und danach Minister Niebel im Rahmen der Regierungsbefragung gesagt haben, dass sie auch zukünftig die KfW
Entwicklungsbank mit der Deutschen Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit nicht zusammenlegen wollen. Damit brechen Sie ein Versprechen, weil Sie anfangs gesagt hatten, diese Zusammenlegung sei der
zweite Schritt. Herr Beerfeltz hat sogar noch eine Bestandsgarantie für die KfW Entwicklungsbank abgegeben.
Liebe Frau Kollegin Schuster, zu diesem Teil Ihrer
Frage kann ich also ganz klar zusammenfassend sagen:
Es ist zu kurz gesprungen. Sie müssen eine große Reform durchführen, wie sie von allen Experten gefordert
wird. Nur dann ergibt sie einen Sinn.
Zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin Schuster,
zur Budgethilfe. Da haben Sie einen schwerwiegenden
Vorwurf erhoben. Sie haben gesagt, dass die alte Bundesregierung in Person der damaligen Entwicklungsministerin im Rahmen von Budgethilfe Geld an Länder gegeben hätte, welches dort versickert wäre. Das ist auch
das Kernargument von Minister Niebel. Er sagt immer
wieder, Frau Kollegin Schuster, dass er die Budgethilfe
möglichst zurückfahren möchte. Dazu sage ich Ihnen:
Das Problem ist, dass wir in manchen Ländern 120 bis
130 Geberländer oder verschiedene Ansprechpartner haben. Das heißt, die Italiener, die Spanier oder die Franzosen - wir hatten das Beispiel im Bildungsbereich - wollen Schulen bauen oder ein eigenes Lehrprogramm
auflegen. Eine staatliche bzw. eine internationale Organisation gibt der nächsten die Klinke in die Hand. Das
überfordert unsere Partnerländer. Das schwächt auch die
Eigenverantwortung der Parlamente.
({1})
Deswegen wollen wir Budgethilfe dann geben, Frau
Kollegin, wenn sie mit einer klaren Rechenschaftspflicht
verbunden ist, das heißt, es muss ein Rechnungshof vorhanden sein. Ich weise es daher zurück, dass wir jemals
Budgethilfe irgendwo hingegeben hätten, ohne klare
Kriterien festzulegen, dass die Parlamente dort zum
Zuge kommen und das Vorgehen kontrolliert wird.
Frau Kollegin Schuster, ich zitiere keinen Sozialdemokraten, sondern einen liberalen Politiker, den ehemaligen EU-Entwicklungskommissar Louis Michel, der Ihrer Partei angehört.
({2})
Er hat im Jahr 2008 im Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung Folgendes gesagt ich zitiere -:
Die Frau Ministerin
- Heidemarie Wieczorek-Zeul und ich selbst kommen gerade zurück von der Konferenz in Accra …
- Das war die Aid-Effectiveness-Conference. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument
der Budgethilfe am besten geeignet ist, diese Prinzipien zur Erhöhung der Wirksamkeit in unserer Entwicklungszusammenarbeit zu verwirklichen.
({3})
Budgethilfe verstärkt den demokratischen Prozess.
Der Haushaltsplan entspricht der politischen Vision
und spiegelt die sozialen und wirtschaftlichen Prioritäten der Regierung wider. Der Haushaltsplan fördert Transparenz und Rechenschaftspflicht durch
die Einbeziehung und Kontrolle des Parlaments.
Am Haushaltsplan lässt sich auch ablesen, inwieweit die Regierung sich um die Verwirklichung der
Millenniumsentwicklungsziele bemüht.
({4})
Budgethilfe unterstützt somit direkt die Entwicklungsstrategien der Partnerregierungen und nimmt
sie gleichzeitig in die Verantwortung, diese Prioritäten umzusetzen und Resultate vorzuweisen.
Sie erhöht die Rechenschaftspflicht der Partnerländer
- das tut weh, stimmt’s? gegenüber ihren Bürgern und Parlamenten.
Ich könnte fortfahren. Für uns ist noch wichtig, dass
er gesagt hat:
Die Auszahlung der Mittel
- hören Sie gut zu, Frau Schuster, wir führen eine MDGDebatte wird vom Fortschritt beim Erreichen der Millenniumsentwicklungsziele ({5}) abhängig gemacht. Statt über die Verwendung jedes Euros mitzubestimmen ({6}), wie bei der Projekthilfe,
wollen wir von der Regierung Resultate ({7})
sehen.
Darum geht es bei der Budgethilfe. Wenn der Staatssekretär Beerfeltz im Ausschuss dieses moderne Instrument der Entwicklungshilfe als Suppenschüsselsozialismus tituliert, dann frage ich mich, wer einen Sprung in
der Schüssel hat.
({8})
Das gerade Zitierte hat Ihr Entwicklungskommissar der
EU gesagt. Ich finde, Sie sollten aufhören, Vorurteile an
Stammtischen zu bedienen,
({9})
und so zu tun, als würden wir Geld verplempern. Nehmen Sie die Worte des ehemaligen Kommissars der Europäischen Union zur Kenntnis, der der Partei der Liberalen angehört.
({10})
In Wirklichkeit wollen Sie, Herr Minister - darum
geht es Ihnen auch bei der Institutionenreform -, nicht
gemeinsam mit anderen Ländern eine abgestimmte Entwicklungspolitik machen, indem wir multilateral mit
vielen anderen Gebern gemeinsam eine vernünftige, einheitliche Entwicklungszusammenarbeit machen, sondern Sie wollen - das sagte Ihr Staatssekretär gestern im
Ausschuss -, dass überall dort, wo Deutschland drin ist,
auch Deutschland draufsteht. Sie wollen viele deutsche
Fahnen auf möglichst vielen kleinteiligen Projekten sehen, anstatt gemeinsam mit den anderen Staaten dieser
Erde eine moderne Entwicklungspolitik zu machen. Auf
diese kleingeistige Kleinstaaterei lassen wir uns nicht
mehr ein. Das wäre der Kernpunkt einer Debatte über
Effizienz und nicht das, was Sie mit einer kleinen Institutionenreform machen, Herr Minister.
({11})
Dazu gehört auch, dass Sie im Koalitionsvertrag festgelegt haben - das muss man sich einmal überlegen -,
dass nur noch ein Drittel der künftigen Entwicklungszusammenarbeit multilateral ausgegeben werden darf. Sie
widersprechen hundertprozentig dem, was in Accra bei
der Konferenz über Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit vereinbart wurde. Deswegen haben wir in
unserem Antrag, den wir als Aktionsplan zur Erreichung
der Millenniumsentwicklungsziele geschrieben haben,
ganz klar formuliert, dass wir gemeinsam mit anderen
Ländern für eine moderne und wirksame Entwicklungspolitik stehen.
Zu den finanziellen Zusagen. Wir wollen Quantität
und Qualität nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen mehr Mittel. Wir brauchen eine abgestimmte Politik. Wir brauchen dort multilaterale, moderne Mittel wie
die Budgethilfe, wo die Kriterien stimmen. Wir wollen
vor allem, dass der Hunger in der Welt halbiert wird.
Deswegen sind wir der Meinung, dass unser Antrag dieses Ziel befördern könnte. Ich bitte deshalb um Zustimmung zu diesem Antrag.
Vielen Dank.
({12})
Jetzt erteile ich der Kollegin Heidemarie WieczorekZeul das Wort für eine Kurzintervention.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier
steht eine wahrheitswidrige Behauptung im Raum. Ich
erwarte, dass Frau Schuster diese zurücknimmt. Ich lege
Wert auf die Feststellung, dass über alle Budgethilfeanträge im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
abgestimmt worden ist. Sie werden wohl nicht unterstellen wollen, dass Ihr jetziger Koalitionspartner, die CDU/
CSU-Fraktion, in diesen Abstimmungen Geld verplempert hat.
({0})
Der Haushaltsausschuss hat diese Anträge sehr sorgfältig überprüft und dazu beigetragen, dass die Linie des
Ministeriums, nur dann Mittel gezielt zur Verfügung zu
stellen, wenn man weiß, wie der gesamte Haushalt des
Partnerlandes aussieht, eingehalten wurde. Demgegenüber haben Sie bei der Projektitis nur ein kleines Projekt,
das Sie sich anschauen können, aber der Gesamthaushalt
des Partnerlandes wird nicht überprüft.
Das ist das, was wir gemacht haben. Dazu stehe ich
ausdrücklich. Wahrheitswidrige Behauptungen bitte ich
hier zurückzunehmen.
({1})
Jetzt gebe ich Frau Schuster die Gelegenheit zur Erwiderung.
Frau Wieczorek-Zeul, ich habe mich nicht auf die
Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages bezogen, sondern ich habe mich darauf bezogen, dass sich bei
den Reisen, die wir durchgeführt haben, Abgeordnete
aus afrikanischen Ländern bei uns beschwert haben, dass
ihre Regierungen vor Ort die Budgethilfe nicht in einem
transparenten Verfahren verwenden. Das war mein
Punkt. Die Parlamentarier in diesen Ländern sagen
selbst: Das Geld kommt nicht bei den Ärmsten an; es
wird bei den Machthabern gebunkert, statt die Projekte
umzusetzen, die den Armen vor Ort nützen. Das war
mein Punkt. Ich habe mich nicht auf die Haushaltsberatungen bezogen.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Weiss
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich will zum Thema
zurückkommen und nicht in die Haushaltsberatungen
eintreten, die erst im September stattfinden.
Das wird Mitte September alles andere als eine bequeme Sitzung, wenn die Vereinten Nationen in New
York zusammenkommen, um eine Zwischenbilanz zu
ziehen. Es geht um acht ambitionierte Ziele, um Armut
und Hunger auf dieser Welt zu mindern und Krankheit
und Elend einzudämmen, um fehlende Bildung auszugleichen und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern
herzustellen. 15 Jahre gab man sich im Jahr 2000 Zeit.
Nun, im September 2010 wird überprüft, wo die Weltgemeinschaft nach zwei Dritteln der Wegstrecke steht.
Diese Zwischenbilanz - ich denke, darin sind wir uns
einig - wird uns im Ergebnis nicht zufriedenstellen; das
einmal vorweg. Sie kann aber - ich denke, auch das
muss erwähnt werden - Mut machen, wenn wir den
Blick auf die Bereiche richten, in denen wir vorwärtsgekommen sind. Wir haben beispielsweise in China und
Indien gesehen, dass über die wirtschaftliche Entwicklung tatsächlich Armut bekämpft werden kann. Wir haben gesehen, dass der Zugang zu Bildung im Grundschulbereich tatsächlich verbessert werden konnte, und
dies eben nicht nur für die Jungen. Wir haben Erfolge bei
der Bekämpfung von HIV, Malaria und Tuberkulose zu
verzeichnen, und wir können eine nachhaltige Reduzierung der Treibhausgasbelastung feststellen.
Mut machen kann die Zwischenbilanz da, wo wir sehen, dass der Weg der richtige ist: ambitionierte, klare
und messbare Ziele, die gemeinsame Verpflichtung von
Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern sowie
die aktive Beteiligung der internationalen Hilfsorganisationen und der Privatindustrie. Dieser Weg kann zu Fortschritten führen, wenn man ihn denn beherzt und konsequent geht.
Genau hier, denke ich, liegt der Schlüssel für das weitere Vorgehen im September. Wir müssen konstatieren:
In den meisten Bereichen liegen wir weit hinter dem
Plan. Gerade bei den Millenniumszielen 4 und 5 wird
dies erschreckend deutlich.
Es wurde heute zwar schon einige Male gesagt, aber
ich denke, angesichts der Dramatik kann es nicht oft genug
gesagt werden: Wenn nach wie vor jährlich Millionen Kinder in den Entwicklungsländern sterben, bevor sie 5 Jahre
alt geworden sind, wenn nach wie vor 350 000 Mütter
jährlich die Geburt nicht überleben, wenn nach wie vor
einfachste Krankheiten in den armen Ländern zum Tode
führen können, nur weil die hygienischen und medizinischen Voraussetzungen fehlen, und wenn dies - das empfinde ich als sehr dramatisch - dann auch noch geschieht,
ohne dass die bundesrepublikanische Öffentlichkeit aufgerüttelt wird, dann ist das in meinen Augen ein Skandal
erster Güte.
({0})
Wir müssen weiterhin konstatieren: Die Welt hat sich
seit dem Jahr 2000 geändert. Die weltweite Wirtschaftsund Finanzkrise hatte man damals eben nicht auf der
Rechnung. Und die Fachleute sind sich einig: Die härtesten Auswirkungen wird diese Krise ohnehin auf die
Ärmsten der Armen haben. Also dürfen wir diese Millenniumsziele nicht leichtfertig aufgeben. Wir haben sie
auch nicht aufgegeben.
Frau Koczy und Herr Raabe, wir - das gilt also auch
für mich - lassen uns von niemandem hier in diesem
Hause oder von draußen unterstellen, dass wir Lug und
Trug begehen. Wir meinen es ehrlich. Wir nehmen den
Kampf auf, und wir werden die Fahne weiterhin hochhalten.
({1})
Wir müssen die Millenniumsziele weiter bekräftigen und
an ihnen festhalten - und dies eben nicht als Akt der
Sabine Weiss ({2})
Barmherzigkeit oder des Gutmenschentums. Die Verpflichtung zu den Millenniumszielen beruht vielmehr - wie wir
es in unserem Antrag formuliert haben - auf dem Fundament weltweiter Solidarität und Gerechtigkeit. Die Millenniumsentwicklungsziele sind ein ambitionierter Fahrplan, um einen großen Teil der Menschheit von Elend
und Hunger zu befreien. Wem damit alleine nicht gedient
ist: Diese Verpflichtung ist auch ein aktiver Beitrag zur
Konflikt- und Terrorismusprävention. Und sie schafft die
Voraussetzung zur Vermeidung unkontrollierbarer Flüchtlingsströme. Ich füge hinzu: Gerade in Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise ist niemandem damit gedient,
wenn die weltweiten Märkte durch Armut, Hunger und
auch Perspektivlosigkeit zusammenbrechen.
({3})
Wir müssen uns dabei aber auch, bitte, ehrlich in die
Augen schauen und ein Weiteres konstatieren: Die aktuelle Finanzsituation macht erhebliche Steigerungen im
Haushalt eher schwierig bis unwahrscheinlich. Wir alle
können uns das natürlich wünschen; aber dieser Wunsch
wird auf absehbare Zeit ein solcher bleiben. Wir müssen
also umschichten und Prioritäten setzen. Aber genau
dies ist verantwortliche Politik: das Machbare wirklich
möglich machen. Es muss aber machbar sein.
Wie können wir also den Millenniumszielen näher
kommen, ohne gleichzeitig mit dem großen Füllhorn
durch die Gegend zu laufen? Für mich liegt der Schlüssel in einer umfassenden Effizienzkontrolle. Und glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist noch
eine ganze Menge Musik drin.
({4})
Jeder von uns Entwicklungspolitikern - ich sage das
ohne Vorwurf - kennt Beispiele, wo viel Geld auch ineffizient ausgegeben wurde. Ich möchte hier niemanden
- keine Person und keine Organisation - infrage stellen,
aber bei der Effizienzkontrolle unserer Entwicklungshilfemittel kann noch viel gemacht werden. Das sind wir
den Menschen in den Entwicklungsländern schuldig. Ich
denke, der deutsche Steuerzahler muss sicher sein, dass
jeder einzelne Euro unserer Finanzhilfe so effizient wie
möglich angelegt wird.
Wir Entwicklungspolitiker - auch das möchte ich im
Rahmen heftiger Debatten sagen - sollten in der Sache
zusammenhalten. Wir müssen uns ehrlich, kritisch, aber
auch selbstkritisch für eine gute Politik für die Menschen
in den Schwellen- und Entwicklungsländern und damit
gemeinsam für eine bessere Welt einsetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Weiss, ich möchte Ihren Appell gerne aufnehmen. Sie haben Ehrlichkeit eingefordert. Es gab im
Ausschuss eine heftige Debatte über Glaubwürdigkeit.
Ich möchte hier gerne klarstellen, dass ich keiner Kollegin und keinem Kollegen aus dem Entwicklungsausschuss unterstellen würde, sich nicht für die Erreichung
der Millenniumsziele und auch für die Erreichung des
0,7-Prozent-Ziels voll einzusetzen. Aber zur Ehrlichkeit
gehört auch - das betone ich; ich habe das bereits im
Rahmen der letzten Haushaltsdebatte getan und will das
gerne wiederholen -, dass bisher alle Bundesregierungen
das vollmundige Versprechen, diesen Pfad zu beschreiten und das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, nicht mit den
notwendigen Haushaltszahlen unterlegt haben.
({0})
Das ist also Anlass zur Kritik und auch zur Selbstkritik.
Dieses Theater mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen können wir uns wirklich schenken.
({1})
Zur Wahrheit gehört auch, dass es sehr schwer ist, das
0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Aber ich möchte denjenigen heftig widersprechen, die sagen, es sei unmöglich
und unrealistisch. Wenn wir die Zahlen genau betrachten, dann sehen wir, dass im Haushalt 2011 - die Zahlen
liegen ja schon vor - für die Finanzierung der MDGs
4 Milliarden Euro fehlen. Ich lasse mir von niemandem
sagen, dass es unrealistisch ist, diesen Betrag aufzubringen. Denn es war zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode möglich, einmal eben aus dem Handgelenk über
Nacht 5 Milliarden Euro für eine Abwrackprämie zur
Verfügung zu stellen.
({2})
Sie haben von der Fahne gesprochen, die wir hochhalten sollen. Vielleicht können wir sie ja gemeinsam hochhalten. Wir sind uns im Entwicklungsausschuss ja einig.
Wir müssen aber auch zugeben, dass es an einer falschen
Prioritätensetzung jeweils im Gesamtkabinett gescheitert
ist.
({3})
Die Erreichung der 0,7 Prozent ist weder an Heidemarie
Wieczorek-Zeul gescheitert noch jetzt an Dirk Niebel
- beide wären dankbar über mehr Geld in ihrem Etat gewesen -, sondern an Fehlentscheidungen des Gesamtkabinetts und des jeweiligen Haushaltsausschusses. Wenn
wir, die Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker aller Fraktionen, wirklich gemeinsame Sache
machen würden, wenn wir wirklich Rückgrat hätten,
dann würden wir jetzt ganz energisch einfordern: Die
Versprechen müssen eingehalten werden. Es ist möglich,
es ist finanzierbar. Es kommt einzig und allein auf die
Prioritätensetzung an.
({4})
Dann könnte unser Ausschuss wirklich Profil gewinnen,
so wie das in der letzten oder vorletzten LegislaturpeThilo Hoppe
riode der Menschenrechtsausschuss geschafft hat, als er
die Fesseln von Fraktionszwängen abgelegt hat.
Ich habe jetzt in der kurzen Redezeit über das Geld
gesprochen. Natürlich ist viel mehr notwendig, um die
MDGs zu erreichen. Wir haben einen umfassenden Antrag vorgelegt, in dem wir einen Global Green New Deal
fordern. Wir brauchen gerechtere Strukturen in der Weltwirtschaft. Einige Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen. Wir brauchen eine Effizienzsteigerung. Der Weg zur Institutionenreform ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Aber wir dürfen uns um Gottes
Willen nicht davor drücken, die Zusagen einzuhalten
und das Geld zur Verfügung zu stellen.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anette Hübinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Kollegin Kofler, den Antrag werden wir bzw.
ich mit Sicherheit nicht in die Tonne treten. Wir mussten
feststellen, dass unser zugegebenermaßen guter Antrag
aus der letzten Legislaturperiode nicht die Strahlkraft ins
Ministerium hatte, wie wir uns das vorgestellt hatten.
Auch eine Nachfrage zum Ende der Legislaturperiode,
was nun umgesetzt ist, hat uns nicht befriedigt. Was
nicht funktioniert, muss erneuert werden. Deswegen haben wir heute die Erneuerung auf dem Tisch.
({0})
- Ja, doch.
Aber nun zum Thema unseres Antrags: Bildung als
Millenniumsziel. Dazu muss ich Ihnen vorab einige Zahlen nennen, die plastisch machen, um was es geht.
2,2 Milliarden Menschen auf der Welt sind heute jünger
als 18 Jahre, davon leben 1,9 Milliarden in den Entwicklungsländern. Das heißt, ein Großteil der Kinder und Jugendlichen wächst in Ländern auf, in denen sie keinen
Zugang zu Bildung haben.
Weitere Zahlen: 72 Millionen Kinder, mehr als die
Hälfte davon Mädchen, können noch immer keine
Grundschule besuchen. Ein Drittel der eingeschulten
Kinder in Afrika bricht die Grundschule frühzeitig ab.
776 Millionen Jugendliche und Erwachsene können weder schreiben noch rechnen. Das sind erschütternde Zahlen.
Hinzu kommt, dass die Bildungssysteme in den Entwicklungsländern oft unterfinanziert und den Lernbedürfnissen nicht angepasst sind. Die Schulklassen sind
überfüllt. Früher Schulabbruch ist weit verbreitet. Lehrkräfte sind ungenügend aus- und fortgebildet. Angesichts dieser Realität scheint die Erreichung des zweiten
Millenniumsziels - Grundschulbildung für alle Kinder
bis 2015 - trotz erzielter Fortschritte schwer erreichbar
und erfordert vermehrte Anstrengungen. Ich sage „erfordert“; ich spreche nicht im Konjunktiv.
Bildung ist der Schlüssel zur Bekämpfung von Armut. Bildung ist der beste soziale Impfstoff gegen HIV/
Aids und Hunger. Bildung ist ausschlaggebend für eine
Teilhabe der Menschen an gesellschaftlichen Prozessen,
für Demokratisierung und nicht zuletzt für Innovationen
und Wirtschaftswachstum.
({1})
Kurz: Ohne Bildung hat ein Land keine Zukunft. Deshalb haben wir als Koalition Bildung zu einem Schwerpunkt in unserer Entwicklungszusammenarbeit gemacht
und die Mittel im diesjährigen Fachhaushalt - 200 Millionen Euro - fast verdoppelt. Das zeigt deutlich, dass
wir diesen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in
den kommenden Jahren quantitativ, aber auch qualitativ
weiter voranbringen wollen. Dabei liegt die Betonung
insbesondere auf der Qualität; denn es nutzt den Kindern
und Jugendlichen nichts, wenn sie die Schule besuchen
konnten, aber nach dem Ende der Schulausbildung kaum
lesen und schreiben oder rechnen können. Bildungsinvestitionen sind das Fundament für eine nachhaltige Entwicklung in unseren Partnerländern. Deshalb möchte ich
Ihnen, Herr Minister Niebel, danken und Sie ermuntern,
den Bildungsbereich in der EZ weiterhin so zu fördern,
wie bis jetzt geschehen.
({2})
Ich möchte einige Aspekte unseres Antrags hervorheben. Durch die steigende Einschulungsrate und wegen
des rasanten Bevölkerungswachstums fehlen bereits jetzt
18 Millionen Grundschullehrkräfte. Deshalb wollen wir
mit einer verstärkten Förderung der Aus- und Weiterbildung von Lehrern, durch partizipative Unterrichtsmethoden und mehrsprachigen Unterricht, bei dem auch die indigenen Sprachen berücksichtigt werden, und nicht
zuletzt durch eine angemessene Bezahlung der Lehrerinnen und Lehrer die Qualität der Bildung verbessern.
So wichtig und richtig Grundbildung ist, so reicht ihre
alleinige Förderung nicht aus. Eine Entwicklung in unseren Partnerländern gelingt nur, wenn ein gleichmäßiger
Aufbau aller Bildungsbereiche - frühkindliche Bildung,
Primar- und Sekundarbildung, berufliche Bildung, Hochschulbildung und Erwachsenenbildung - gewährleistet
wird. Auch hier muss gelten: kein Abschluss ohne Anschluss. Junge Menschen müssen die Chance haben, nach
einer allgemeinen Schulbildung einen Beruf zu erlernen
oder eine höhere Schulbildung bis hin zur Universität zu
erlangen.
Qualifizierte Arbeitskräfte sind in unseren Partnerländern genauso wie bei uns hier in Deutschland für das
Wirtschaftswachstum entscheidend. Der bewährte deutsche Ansatz der dualen Berufsausbildung wird in einzelnen Schwellen- und Entwicklungsländern bereits praktiziert und immer mehr nachgefragt. Hier gibt es enormes
Entwicklungspotenzial. Deshalb wollen wir künftig noch
stärker in Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen
innovative Angebote in der beruflichen Bildung fördern;
denn Berufsausbildungsprogramme spielen in diesen
Ländern gerade im non-formalen Bildungssektor eine
große Rolle. Für viele Menschen ist eine solche Ausbildung die einzige Möglichkeit, eine berufliche Qualifizierung und damit die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben zu erhalten.
Im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftskooperation leistet Deutschland schon heute einen wichtigen
Beitrag zum globalen Wissensaustausch. Ich nenne hier
beispielhaft den DAAD, die Stiftungen, Kirchen, die GTZ,
die KfW und InWEnt, die jungen Menschen mithilfe von
unterschiedlichsten Förderprogrammen und -maßnahmen den Zugang zu einer Universitätsausbildung ermöglichen. Dabei ist uns besonders wichtig, dass wir die Kapazitäten im Wissenschafts- und Forschungsbereich vor
Ort, in den Partnerländern, gezielt unterstützen.
({3})
Die Herausforderungen sind groß. Wir müssen die
frühkindliche Bildung ausbauen, mehrere Millionen
Kinder in die Grundschule bzw. Schule bringen, die
Lernstandards und die Lernangebote für Jugendliche und
Erwachsene erweitern.
Good Governance ist der Schlüssel zur Erreichung
dieser Ziele. Ungleichheiten, die auf Armut, ethnischer
Zugehörigkeit, Geschlecht oder anderen Faktoren der
Benachteiligung beruhen, müssen von den Regierungen
in unseren Partnerländern abgebaut werden. Die nationalen Ausgaben der Partnerländer für Bildung müssen
erhöht werden. In diesem Zusammenhang ist die politische Bildungsarbeit unserer Stiftungen vor Ort in den
Bereichen Good Governance, Demokratiebildung und
Stärkung der Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung.
({4})
Der Bildungsbereich ist ein Schlüsselsektor für nachhaltige Entwicklung, Wachstum und Wohlstand, in unserem Land genauso wie in unseren Partnerländern. Deshalb bitten wir als CDU/CSU-Fraktion um Zustimmung
zum Antrag der Koalition.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/2421 mit dem Titel „Bemühungen zur
Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015
verstärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit der
Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Oppositionsfraktionen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2134 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 17/2464.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/2018 mit dem Titel „Herausforderung Millenniums-Entwicklungsziele“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/2024 mit dem Titel „Steigerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Prozent gesetzlich festlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/2132 mit dem Titel „Mit dem Global Green New
Deal die Millenniumsentwicklungsziele erreichen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 17/1199 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Direkte Demokratie ist wieder im Gespräch.
Genau das ist die Stärke der direkten Demokratie. Die
Menschen reden nämlich über Sachfragen und nicht über
Machtfragen. Sie reden über Dinge, die sie wirklich interessieren. Auch nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Bayern, über dessen Ausgang man durchaus
unterschiedlicher Meinung sein kann,
({0})
mehren sich die Stimmen in Bevölkerung, Medien und
Politik, die fordern, dieses Instrument auch auf Bundesebene einzuführen.
({1})
Sie haben heute die Chance, dies auf den Weg zu
bringen. Die Fraktion Die Linke hat als einzige Fraktion
einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht, über
den wir nunmehr diskutieren. Ich sage insbesondere im
Hinblick auf die Fraktionen, die in der letzten Legislaturperiode einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht haben: Liebe FDP, liebe Grüne, geben Sie sich einen Ruck!
({2})
Lassen Sie mich den Inhalt in seinen wesentlichen
Grundzügen kurz skizzieren. Die Volksgesetzgebung
gliedert sich nach diesem Gesetzentwurf in ein dreistufiges Verfahren: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid.
Um eine Volksinitiative zu starten, benötigen die Initiatoren 100 000 Unterschriften. Danach können sie dem
Bundestag eine Gesetzesvorlage zur Änderung eines
Bundesgesetzes oder des Grundgesetzes vorlegen. Einzige Einschränkung: Die Gesetzesvorlage muss verfassungsrechtlich zulässig sein. Sie ist es nicht, wenn zum
Beispiel der Kerngehalt der Grundrechte berührt wird.
Eine Wiedereinführung der Todesstrafe ist zum Beispiel
unmöglich. Das ist gut so.
({3})
Der Gesetzentwurf greift auch einen anderen wichtigen Punkt auf. Unzulässig sind allein Volksinitiativen,
die sich auf das Haushaltsgesetz beziehen. Dies ist aus
unserer Sicht wichtig, da zu häufig Volksinitiativen mit
dem Verweis auf haushaltsrechtliche Auswirkungen als
unzulässig abgelehnt wurden.
Der Bundestag muss über die Zulässigkeit und den
Inhalt der Initiative beschließen. Dem Bundesrat muss
die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
Wird die Initiative für unzulässig erklärt, steht den Vertrauensleuten der Rechtsweg offen. Stimmt der Bundestag mit Mehrheitsbeschluss dem Inhalt der Initiative zu,
dann erlangt diese Initiative Gesetzeskraft.
Lehnen die Abgeordneten den Inhalt ab, dann haben
die Initiatoren die Möglichkeit, die zweite Stufe, also die
Volksgesetzgebung, zu beschreiten: Das Volksbegehren
wird eingeleitet. Dafür müssen dann 1 Million Unterschriften gesammelt werden, bei einer Grundgesetzänderung 2 Millionen. Wird das Begehren abgelehnt, kommt
die dritte Stufe, der Volksentscheid, bei dem nunmehr
die wahlberechtigte Bevölkerung über den Inhalt abstimmt. Gesetzeskraft erlangt der Inhalt bei einer Abstimmung dann, wenn ein Viertel der Wahlberechtigten
an der Abstimmung teilnimmt und davon die Mehrheit
mit Ja stimmt. Bei einer Grundgesetzänderung müssen
zwei Drittel mit Ja stimmen. So weit die Gesetzesinitiative.
Gute und gefestigte Demokratien zeichnen sich durch
eine Vielfalt von demokratisch geprägten und demokratieförderlichen Institutionen und Prozessen in allen gesellschaftlichen Bereichen aus. Ihre Grundlage ist die
möglichst intensive Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger an allen öffentlichen Angelegenheiten. Die
Volksgesetzgebung ist nur ein Element. Um ihr zu ihrer
tatsächlichen Wirkung zu verhelfen, ist es wichtig, das
Engagement der Bürgerinnen und Bürger auch strukturell zu unterstützen. Das bedeutet weitestgehende Transparenz aller Entscheidungsprozesse: im Parlament, in
der Regierung und in der Verwaltung.
({4})
Öffentlichkeit von Sitzungen und parlamentarischen
Gremien gehört genauso dazu wie Akteneinsichtsrechte
für Abgeordnete und Bürger.
Zum Schluss möchte ich auf den Vorschlag von Professor Dr. Roland Roth, Politikwissenschaftler an der
Fachhochschule Magdeburg und Autor der bemerkenswerten Expertise Handlungsoptionen zur Vitalisierung
der Demokratie aufmerksam machen. Er fordert die Einsetzung einer Demokratie-Enquete des Bundestages.
Aufgabe dieser sollte es sein, grundlegende und längerfristige gesellschaftliche und politische Problemlagen
aufzuarbeiten und politische Lösungswege vorzuschlagen. Die Einsetzung dieser Kommission wäre mit den
Stimmen von Rot-Rot-Grün möglich. Ich möchte aber
zunächst vorschlagen, dass wir gemeinsam die Volksgesetzgebung einführen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ceterum censeo: Jedes Jahr aufs Neue debattieren wir über die Einführung einer direkten Demokratie.
({0})
- So alt werden Sie gar nicht, Herr Ströbele, als dass ich
das nicht erleben könnte.
({1})
Zum wiederholten Male müssen wir uns heute daher
diesem Thema widmen. Ich freue mich, dies heute für
meine Fraktion tun zu können.
Ich werde deutlich machen, dass es sich hierbei um
einen rein populistischen Antrag und eine rein populisti5668
sche Forderung der Linken handelt, mit der man möglicherweise die Gunst der Bevölkerung leicht gewinnen
kann, die aber keine zum Nutzen unserer Demokratie ist.
({2})
An unserer Argumentation, die in den letzten Jahren bei
den einschlägigen Debatten immer wieder vorgebracht
wurde, hat sich im Kern nichts verändert.
({3})
Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei
unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine
quasi minderwertige Form der Demokratie,
({4})
ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden muss. Das ist eine Geisteshaltung, die ich nicht teilen kann.
({5})
Es wird dabei suggeriert, die Einführung von Volksentscheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit.
({6})
- Das steht zwar nirgendwo, aber das steht hinter Ihrem
Antrag. - Es wird behauptet, nur durch die direkte Demokratie könnten das bürgerschaftliche Engagement gestärkt und die Wähler wieder an die Wahlurnen zurückgeholt werden.
({7})
Diese Auffassung teilen wir ausdrücklich nicht. Es sprechen nämlich gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite
auf Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.
Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung in sich.
({8})
- Herr Wieland, ich hatte von der Bundesebene und
nicht von Berlin gesprochen. - Herr Wieland, Sie wissen
mit Sicherheit - ich weiß, dass Sie das wissen -, dass
durch diese Form des Plebiszits in der Weimarer Zeit das
Volk aufgewühlt und gespalten und das Vertrauen in das
Parlament zusätzlich erschüttert wurde. Ich brauche Sie
auch nicht daran zu erinnern, dass gerade während der
Naziherrschaft Volksabstimmungen geradezu missbraucht wurden, um diktatorische Entscheidungen zu legitimieren.
({9})
Mit Volksabstimmungen kann man den immer
schwierigeren und komplexen Fragestellungen unserer
pluralistischen Welt gerade nicht gerecht werden. Ein
Volksentscheid ist ein vereinfachtes Verfahren, bei dem
eine Frage - und das steht in Ihrem Antrag - mit Ja oder
Nein entschieden wird. So sind komplexe Probleme
nicht zu lösen.
({10})
Im Gegensatz dazu ist unser bestehendes Gesetzgebungsverfahren ein lernendes Verfahren. Kein Gesetz
verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde.
Nach der ersten Lesung schließt sich eine intensive Beratung in den Ausschüssen an. Sachverständigenanhörungen, Expertengespräche und Berichterstattergespräche werden durchgeführt.
({11})
Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen. Ich
erinnere unter anderem auch an die Einrichtung des Normenkontrollrates. Es ist also ein umfassender Vorgang,
bei dem alle Gesichtspunkte erörtert werden konnten, bis
schließlich das Gesetz verabschiedet wird. Solch ein
gründliches Verfahren, bei dem regelmäßig auch Kompromisse zum Wohle der Allgemeinheit, aber eben auch
zum Wohle der Minderheiten ausgehandelt werden, ist
nach unserer Auffassung das besser geeignete Instrument.
Das beste Beispiel dafür - das haben Sie nicht erwähnt,
weil Ihnen das natürlich nicht in den Kram passt - wird
durch die Schweiz geliefert, wo bei einer Abstimmung
durch in diesem Fall zwei rechtspopulistische Parteien
überraschend eine Mehrheit von 57 Prozent herauskam.
({12})
Durch diese Abstimmung wurden nicht nur bei den in
der Schweiz lebenden Muslimen, sondern auch im Ausland und bei uns zu Recht große Proteste ausgelöst.
Herr Kollege Brandt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte schön.
Bitte, Herr Ströbele.
Danke, Herr Präsident. - Herr Kollege, haben Sie eine
Erklärung dafür, warum es auf europäischer Ebene mit
einem Volksentscheid klappen soll, während es auf Bundesebene nicht klappen soll? Wenn ich mich richtig erinHans-Christian Ströbele
nere, dann hat Ihre Fraktion - vermutlich haben Sie selber das auch getan - für den Lissabon-Vertrag und
vorher für die Europäische Verfassung gestimmt, in
denen das ja ausdrücklich vorgesehen ist. Wir wissen ja,
dass im Augenblick noch sehr intensiv an den Einzelheiten gearbeitet wird.
Ich habe deshalb keine Erklärung dafür, weshalb das
klappen sollte, weil ich an ein solches Verfahren nicht
glaube.
({0})
- Unabhängig davon, Herr Wieland, ob das im LissabonVertrag vorgesehen ist oder nicht, wird man abzuwarten
haben, was im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens im
Europäischen Parlament dazu beschlossen wird. So wie
Sie das anstreben und wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, klappt das weder auf Bundesebene noch auf europäischer Ebene.
({1})
Ich hatte gerade die Schweiz und die dort mit Volksabstimmungen verbundenen Probleme erwähnt. Darauf
gehen Sie natürlich nicht ein, weil das Ihnen nicht passt.
Für besonders groß halte ich auch die Gefahr, dass
wichtige Fragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden, sondern danach, welche
Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht,
({2})
wie schlagwortartig Parolen - darin sind Sie ja groß unter das Volk gejubelt werden und wer welche Prominenten mit entsprechender Werbewirkung für seine Sache gewinnt. Die Folge ist doch klar: unsachlicher Abstimmungskampf, der die Gefahr von Manipulation in
sich birgt.
({3})
- Das ist nicht unglaublich, Herr Wieland. Sie wissen
genau, wovon ich spreche.
Meines Erachtens ist es nicht einzusehen, dass sich
Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem Volk
überlassen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wieland?
Selbstverständlich, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. - Wenn das Instrument des Volksbegehrens bzw. des Volksentscheides
nur ein Instrument für Unwissende ist, für Demagogen,
für Spalter der Bevölkerung, warum wird es denn dann
auf Ebene der Bundesländer zum Teil mit großem Erfolg
praktiziert? Warum stellt sich Ihre Partei auf Ebene der
Bundesländer gerne hinter solche Volksbegehren, hier in
Berlin zum Beispiel beim Thema Religion oder Offenhaltung des Flughafens Tempelhof? Warum haben Ihre
Parteifreundinnen und -freunde von der CSU gefordert,
dass über den Vertrag von Lissabon eine Volksabstimmung stattfinden solle, der ja nun wirklich nicht einfach
zu lesen und zu verstehen war? Warum kommen solche
Forderungen aus Ihrer Partei, wenn dieses Instrument,
wie Sie sagen, nur etwas für plakative Parolen und zur
Volksverdummung ist?
Erstens habe ich das so, wie Sie es jetzt wiedergeben,
nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass eine solche Gefahr besteht.
({0})
Zum anderen ist es ein großer Unterschied, ob man in einer Stadt wie Berlin mit 3,6 Millionen Einwohnern ein
solches Verfahren durchführt oder in einem Land mit
80 Millionen Einwohnern.
({1})
- Das ist zahlenmäßig ein großer Unterschied. Das werden Sie vielleicht nicht so weit nachvollziehen können,
aber ich kann Ihnen das vorrechnen.
Dann kommt noch eines hinzu, Herr Wieland: Wenn
Sie schon Berlin erwähnen, dann werden Sie doch auch
die Worte des Herrn Regierenden Bürgermeisters
Wowereit kennen, der sagte, es wäre ihm vollkommen
egal, wie das Volk in dieser Volksabstimmung entscheidet, er wird sich ohnehin nicht daran halten, Tempelhof
würde geschlossen.
({2})
So viel zum Verständnis der Grünen, der Roten und anderer in dieser Frage. Ich denke, dass Ihre Frage damit
beantwortet ist.
({3})
Ich habe es ja gerade erwähnt - ich verstehe das auch
oft in der Diskussion nicht -: Für mich ist nicht einzusehen, weshalb wir uns als Parlamentarier auf diese Art
und Weise zum Teil aus der Verantwortung stehlen sollten.
({4})
Herr Ströbele, ich denke auch, dass das insgesamt eine
Abwertung des Parlaments bedeuten und damit ein Bedeutungsverlust einhergehen würde, der bereits durch
die Normenflut der europäischen Institutionen - und wir
wissen ja aus dem Innenbereich, was es damit auf sich
hat ({5})
und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten
mehr in Talkshows zu diskutieren als im Parlament auszutragen, eingetreten ist. All das würde gefördert.
Letztlich wäre die föderale Grundstruktur unseres
Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierte grundsätzliche Beteiligung der Länder
an der Gesetzgebung nicht mehr in der vom Grundgesetz
garantierten Form gewährleistet wäre.
({6})
- Sie müssen meinen nächsten Satz abwarten, dann wissen Sie, was fehlt.
Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat sieht
Ihr Gesetzentwurf nämlich nicht vor - auch andere Regularien nicht. Er wird lediglich beteiligt, aber nicht in
der vom Grundgesetz vorgesehenen Form.
({7})
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind damit die
Gründe für eine Ablehnung im Wesentlichen die gleichen, die wir bereits anlässlich der früher vorgelegten
ähnlichen oder gleichartigen Gesetzentwürfe genannt
haben.
Kommen wir zu den Hauptargumenten derjenigen,
die den Gesetzentwurf eingebracht haben. Sie behaupten
immer wieder, durch die Möglichkeit von Plebisziten auf
Bundesebene könne man der Politikverdrossenheit und
dem Vertrauensverlust der Politiker entgegenwirken.
Das stimmt einfach nicht.
Ich habe bis heute nicht verstanden, warum der Vorschlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzgeberische Entscheidungskompetenz zu entziehen und sie
dem Volk zu übertragen, zu einem größeren Vertrauen
gerade in das Parlament führen soll. Das ist für mich ein
Widerspruch in sich.
Was die behauptete höhere Wahlbeteiligung anbelangt, beweisen nicht nur der aktuell in Bayern durchgeführte Volksentscheid zum Nichtraucherschutz, sondern
auch die in den vergangenen Jahren in Berlin durchgeführten Volksentscheide das Gegenteil. Die Wahlbeteiligung war stets konstant niedrig. Sie lag immer bei
36 oder 37 Prozent, also deutlich unter der Beteiligung
bei anderen Wahlen. Diese Zahlen sprechen nach meiner
Auffassung für sich. Direkte Demokratie führt eben
nicht zu einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung.
Auf die Äußerungen des Herrn Wowereit habe ich
eben schon Bezug genommen. Das kann ich mir jetzt
sparen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neue Argumente
sind für uns nicht ersichtlich. Deshalb hat sich auch unsere Einstellung zu diesem Gesetzentwurf nicht verändert. Ich fasse zusammen: Schon die Ergänzung unserer
repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente
auf Bundesebene würde die Wesenszüge unserer Demokratie verändern. Ich kann nur raten: Unterschätzen wir
nicht die Gefahr des Populismus, der in Plebisziten
steckt! Geringschätzen wir nicht unsere geschichtlichen
Erfahrungen damit! Überschätzen wir nicht die Bedeutung von Plebisziten beim Kampf gegen Politikverdrossenheit!
Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen. Wir lehnen den Gesetzentwurf ab.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Hartmann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe mir vorhin in Vorbereitung auf unsere
Debatte am heutigen Nachmittag die Mühe gemacht,
nachzulesen, wie oft wir in den letzten Wahlperioden
über diese Fragen diskutiert haben. Es waren sage und
schreibe zehn Mal. Es wird noch ein elftes, zwölftes und
dreizehntes Mal geben müssen. Eines Tages wird die
Kraft der Argumente auch die CDU/CSU-Fraktion erreichen.
({0})
Denn es macht durchaus Sinn, auch in einer parlamentarischen Demokratie mehr Bürgerbeteiligung einzuführen.
Angesichts der Debatten könnte man sagen: Täglich
grüßt das Murmeltier. Ich bin Optimist und sage: Steter
Tropfen höhlt den Stein. Denn alles, was gegen mehr direkte Demokratie eingewandt wird, trifft nicht. In der Tat
hatten die Eltern des Grundgesetzes 1949 die schlechten
und schlimmen Erfahrungen der Weimarer Republik vor
Augen. Angesichts der Teilung Deutschlands und des
beginnenden Kalten Krieges sahen sie auch die Möglichkeiten, die nationale Karte manipulativ zu ziehen. Das
alles ist wahr.
Michael Hartmann ({1})
Aber wir haben gerade im letzten Jahr gemeinsam mit
Stolz das 60-jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert. Auch unter unserer erheblichen Beteiligung haben
wir das Grundgesetz, das gut ist, immer besser gemacht,
indem wir es verändert haben. Heute sind wir so weit,
dass wir sagen können: Es ist kein Abbruch parlamentarischer Demokratie, wenn wir Volksabstimmungen zulassen, sondern ein Zugewinn für parlamentarische Prozesse.
({2})
Im Übrigen hatten auch die Väter und Mütter des
Grundgesetzes keineswegs die Tür dafür zugeschlagen.
Denn in Art. 20 heißt es sehr wohl, dass das Volk in
Wahlen und Abstimmungen seiner Meinung Ausdruck
verleihen kann. Das sollten wir heute ernster nehmen
denn je, in Zeiten, in denen wahrhaftig nicht die Rede
davon sein kann, dass hier die Untertanen sind, die gar
nicht wissen, wie ihnen geschieht, und dort die weisen
Volksvertreterinnen und Volksvertreter, die das würdevoll und gescheit an ihrer Stelle für sie entscheiden.
Das wäre ein fatales Missverständnis dessen, was parlamentarische Demokratie ausmacht. Jeden Tag gibt es
eine neue Meinungsumfrage, die täglich aufs Neue die
Politik beeinflusst. Wäre es nicht klüger, sinnvoller, kanalisierender und in höherem Maße Demagogie verhindernd, wenn wir in einem geordneten Verfahren den
Bürgerinnen und Bürgern von Zeit zu Zeit die Möglichkeit gäben, uns zu sagen, was sie über unsere Politik
denken?
({3})
Herr Kollege Hartmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grosse-Brömer?
Gerne.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Kollege Hartmann, Sie haben gerade die Umfragen angesprochen. Würden Sie mir recht geben, dass es gerade
in der Vergangenheit häufig politische Entscheidungen
gegeben hat, die in der Bevölkerung auf große Skepsis
oder große Ablehnung gestoßen sind? Ich nenne exemplarisch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik
oder den NATO-Doppelbeschluss. Diese Entscheidungen wurden in einem parlamentarischen Verfahren mit
ausgiebigen Debatten gegen die Mehrheit der Bevölkerung getroffen, wobei die Parlamentarier über Informationen verfügten, über die der einzelne Bürger nicht verfügt hat.
({0})
Dies barg im Übrigen die Gefahr für die Parlamentarier,
nicht wiedergewählt zu werden. Im Nachhinein haben
sich diese Entscheidungen aber als fundamental wichtig
für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik
Deutschland erwiesen. Das ging hin bis zur Ermöglichung der Wiedervereinigung. Würden Sie angesichts
dieser Tatsachen akzeptieren, dass es manchmal sogar
sinnvoll ist, nicht so sehr auf Umfragen zu schauen, sondern intensiver parlamentarisch zu beraten, parlamentarische Verantwortung wahrzunehmen und darüber nachzudenken, wie man die Bevölkerung auf Landes- und
auf Kommunalebene besser einbinden kann? Würden
Sie mir zustimmen, dass manche Entscheidungen hier
im Parlament bewusst von verantwortungsvollen Politikern, die gewählt worden sind, wahrgenommen werden
müssen?
({1})
Sehr geehrter Herr Kollege, ich bin mir sicher - wäre
es anders, dann wäre es fatal -, dass Sie einem Missverständnis unterliegen. Volksabstimmungen oder Volksentscheide einzuführen, heißt nicht, einer Gefälligkeitsdemokratie das Wort zu reden. Werter Herr Kollege,
vielleicht würde es uns allen guttun, wenn wir das, was
wir wollen und vielleicht gegen Widerstände der Öffentlichkeit durchzusetzen haben - das ist gelegentlich unsere Pflicht -, genauer und besser erklären würden.
Wenn wir uns einem Volksentscheid stellen müssten,
dann müssten wir viel offener und transparenter, als das
heute der Fall ist, über das rechten und das verantworten,
was wir wollen. Deshalb ist das gerade ein gutes Element in der parlamentarischen Demokratie.
({0})
Die Zeit hat heute sehr schön zu dem Thema unter der
Überschrift „Wir beißen nicht“ geschrieben:
Plebiszit ist nicht das Gegenteil von Parlament. Die
Politik sollte weniger Angst vor dem Souverän haben.
Das passt genau zu Ihrer Zwischenfrage.
Es wird immer das volkspädagogische Argument ins
Feld geführt, die Leute könnten über all diese komplexen Fragen, über die wir hier debattieren und über die
wir hier zu entscheiden haben, nicht mit der Tiefe und
der Sachkompetenz entscheiden, wie wir das können.
Dem halte ich entgegen: Können wir das immer - seien
wir bitte ehrlich - mit der Tiefe und Detailgenauigkeit
bei dem Zeit- und Termindruck, dem wir ausgesetzt
sind? Sind wir denn frei von manipulativen Angriffen
von Lobbyisten und anderen? Ist bei uns alles so transparent, wie wir es uns wünschen würden? Je mehr Öffentlichkeit bei den richtigen und notwendigen Fragen, umso
besser für die parlamentarische Demokratie.
Michael Hartmann ({1})
({2})
Natürlich gibt es Fragen und Themen, die sich einem
Volksentscheid entziehen. Die Grenzen dafür sind sehr
klar beschrieben. Das sind die Grenzen, die das Grundgesetz setzt. Das Grundgesetz würde zum Beispiel diskriminierende Fragestellungen, Fragen, die religiös oder
anderweitig ausgrenzen - ich denke an ein Minarettverbot -, auf jeden Fall von vornherein nicht zulassen.
Wenn jemand die Weisheit der Wählerinnen und Wähler, der Bürgerinnen und Bürger bezweifelt, dann rate
ich, nach Bayern zu schauen. Egal ob einem das Ergebnis gefällt oder nicht, egal ob das Quorum so hoch war,
wie man es sich wünschen würde - das ist eine andere
Frage -: Klar ist doch, dass die Unentschlossenheit der
Politik durch die Entschlossenheit der Wählerinnen und
Wähler, die an dieser demokratisch legitimierten und von
der bayerischen CSU gelobten Volksabstimmung - zumindest als Instrument gelobten Volksabstimmung - teilgenommen haben, beseitigt wurde.
({3})
Ich sagte bereits: Wir reden zum elften Mal über diese
Frage, und es wird noch weitere Male geben. Vielleicht
schaffen es die Linken, manche Unstimmigkeiten in ihrer Initiative im parlamentarischen Beratungsprozess zu
eliminieren.
Dazu gehört zum Beispiel, Wahlen mit Einzelfragen
zu verknüpfen, die dann auch zur Abstimmung gestellt
werden. Ein anderes Beispiel sind die niedrigen Quoren.
Wenn wir es schaffen, das Ganze noch zu verbessern,
und wenn wir es schaffen, dass die Linke, die Grünen,
die FDP - hoffentlich auch heute noch - und die SPD all
diese Elemente einer dreistufigen Volksgesetzgebung
befürworten, dann wird es eines Tages gelingen, auch
die Union davon zu überzeugen; schließlich sprechen
sich CDU und CSU auf europäischer Ebene dafür aus
und befürworten sie auf Länderebene schon lange.
Ich baue darauf und hoffe, dass das Misstrauen den
Bürgerinnen und Bürgern gegenüber auch bei der Union
bald überwunden sein wird. Wir sind kein Untertanenstaat mehr. Ich hoffe allerdings auch, dass die Linke das
Ganze nicht nur als eine rhetorische Form der Auseinandersetzung ansieht. Denn ihr eigenes Agieren bei der
Wahl des Bundespräsidenten hat nicht unbedingt dem
Volkswillen entsprochen.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Jimmy Schulz ist nun der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Heute mache ich es mit Papier. - Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Werte Kollegen! Winston Churchill sagte
1947 in einer Rede im Unterhaus:
Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von all den anderen Formen, die
von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.
Er kannte das Grundgesetz noch nicht. Darin ist ein demokratischer Rechtsstaat beschrieben, der ohne Frage
den höchsten Ansprüchen genügt. Diese Demokratie gilt
es jedoch behutsam, aber beständig weiterzuentwickeln
und zu verbessern. Das haben wir Liberale immer gefordert und in vielen Anträgen dokumentiert. Heute aber
steht ein Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Beratung, der eben nicht den Anforderungen einer positiven
Weiterentwicklung genügt. Es geht darum, ob wir Volksentscheide auch auf Bundesebene wollen. Die Mütter
und Väter des Grundgesetzes haben sich aus gutem
Grund für eine repräsentative Demokratie entschieden.
({0})
Man muss die Ergebnisse von Volksbegehren und
Volksentscheiden nicht immer mögen, um sich trotzdem
für sie einzusetzen. Darum geht es nämlich nicht. Sicherlich kann man solche Entscheidungen auch kritisch hinterfragen; als Bayer sei mir das heute erlaubt. Das ist für
mich aber ein Grund, an der grundsätzlichen Richtigkeit
der direkten Elemente in unserem politischen Gemeinwesen auf keinen Fall zu zweifeln. Deswegen setzen wir
Liberale uns für die Stärkung der direkten Demokratie
ein, auf kommunaler Ebene, auf Länderebene, auf Bundesebene und natürlich auf europäischer Ebene; das habe
ich unlängst an dieser Stelle klar dargelegt.
({1})
Ich freue mich über bürgerliches Engagement und Initiative, insbesondere in der Politik. Ich halte plebiszitäre
Elemente und eine Fortentwicklung der Demokratie für
einen guten und richtigen Prozess, auch wenn ich mit
dem Blick nach Bayern manchmal daran verzweifeln
möchte. Trotzdem, nein, gerade deswegen bin ich ein
großer Fan der Bürgerbeteiligung in den Ländern. Denken Sie nur daran, wie selten die bayerische Verfassung
geändert wurde. Das liegt daran, dass nur das Volk die
Möglichkeit dazu hat. Dem Grundgesetz hätte ein solcher Schutz manchmal ganz gutgetan. Die FDP-Fraktion
hat in der letzten Wahlperiode einen Antrag zu demselben Thema gestellt.
({2})
Wir wünschen uns damals wie heute, dass die Bürger
unseres Landes tiefgreifender an politischen Prozessen
beteiligt werden. Die Bundesrepublik Deutschland ist
eine repräsentative Demokratie. Daran soll auch in Zukunft kein Zweifel bestehen. Und doch wollen wir dieses
Haus für mehr Bürgerbeteiligungen öffnen. Gerade die
großen Fragen und die harten Entscheidungen können
durch Bürgerbeteiligungen in ihrer Legitimation gestärkt
werden.
Trotzdem lehnen wir den Gesetzentwurf der Linken
ab. Scheinbar haben Sie seit den Diskussionen in der
letzten Legislaturperiode nichts dazugelernt. Ihr Gesetzentwurf jedenfalls ist weitgehend derselbe. Immer noch
sind die Schwellen, die Sie anlegen, viel zu niedrig. Wir
wollen die Beteiligung der Bürger, nicht aber die Diktatur durch Minderheiten. Es muss sichergestellt bleiben,
dass auch Volksinitiativen auf ähnlich breiter gesellschaftlicher Basis stehen wie die Entscheidungen dieses
Parlaments.
({3})
Gleichzeitig darf aber die Hürde für die Beteiligungen
nicht unmöglich hoch oder abschreckend sein.
({4})
Die FDP hat sich immer für eine Schwelle von 400 000
Unterstützern eingesetzt. Dies scheint mir immer noch
eine angemessene Höhe zu sein. Auch das Quorum, das
Sie bei der zweiten Stufe, bei den Volksbegehren, anlegen, sollte überdacht werden. Eine prozentuale Koppelung an die Gesamtzahl der Wahlberechtigten erscheint
mir deutlich sinnvoller als eine absolute Zahl, die zur
Folge hätte, dass wir bei jeder Änderung der Bevölkerungs- und Wahlberechtigtenzahlen das Grundgesetz ändern müssten.
Es gibt aber nicht nur inhaltliche Gründe, warum wir
diesen Gesetzentwurf ablehnen - obwohl diese vollkommen ausreichend wären. Im Koalitionsvertrag haben sich
die Regierungsfraktionen darauf verständigt, die Beteiligung der Bürger über die Reform des Petitionswesens
auszubauen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Gestatten
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wawzyniak?
Wenn es der Erheiterung des Publikums dient.
Herr Schulz, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie
bereit sind, mit meiner Fraktion und mir über diesen Gesetzentwurf in den nächsten Lesungen wohlwollend zu
reden, wenn wir ein bisschen über die Quoten sprechen?
Sie haben richtig verstanden, dass wir eine Bürgerbeteiligung am demokratischen Prozess sehr wohl unterstützen, und das werden wir auch weiterhin tun. Die Regierungsfraktionen haben sich im Koalitionsvertrag
darauf geeinigt, diesbezüglich in einem ersten Schritt
über eine Änderung des Petitionsrechts zu beraten. Das
werde ich gleich ausführlicher darstellen.
({0})
Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag - dann verstehen Sie das vielleicht -:
Wir wollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bevölkerung an der demokratischen Willensbildung
stärken. Dazu werden wir das Petitionswesen weiterentwickeln und verbessern. Bei Massenpetitionen werden wir über das im Petitionsausschuss bestehende Anhörungsrecht hinaus eine Behandlung
des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundestages unter Beteiligung der zuständigen Fachausschüsse vorsehen.
Darauf haben wir uns geeinigt, und das wollen wir so
umsetzen.
({1})
Wir haben im letzten Jahr sehen können, welche Dynamik eine solche Petition bekommen kann. Ich selbst
habe zusammen mit 134 000 engagierten Bürgerinnen
und Bürgern die Petition von Franziska Heine gegen Internetsperren gezeichnet, und dadurch wurde eine breite
Debatte über politische Fehlentwicklungen ausgelöst.
Dieses Petitionsrecht wollen wir nun deutlich ausbauen.
Diese Umsetzung hat für uns Priorität, weil das Petitionsrecht die Strukturen dieses Hauses einbezieht. Das
heißt, dass das Plenum erfolgreiche Massenpetitionen an
die zuständigen Ausschüsse überweisen kann, wo dann
fachkundige Beratungen stattfinden.
Wir haben nun seit fünf Jahren das Verfahren der Onlinepetitionen, das Interaktionen zwischen Bürger und
Parlament endlich auf eine zeitgemäße Ebene gehoben
hat. Durch die Ausbreitung des Internets stehen wir vor
der Verwirklichung eines alten Traums, nämlich der Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen am Meinungsbildungsprozess unserer Republik. Durch die öffentlichen Petitionen können wir Schichten erreichen, die der
politischen Teilhabe früher fernstanden. Der mündige
und informierte Bürger kann seinem Anliegen nun öffentlich Gehör verschaffen und Missstände anprangern.
Lassen Sie mich noch einmal klar sagen: Ich bin für
eine weitergehende Beteiligung der Bürger an der Politik, auch am Gesetzgebungsverfahren. Ich habe das zuletzt in meiner Rede zur Europäischen Bürgerinitiative
hier gesagt, in einer Rede, die übrigens erhebliche Aufmerksamkeit bekommen hat.
({2})
Ich halte es für einen sehr interessanten und diskussionswürdigen Ansatz.
Lassen Sie uns gemeinsam Schritt für Schritt unsere
Demokratie weiterentwickeln. Einen ersten wichtigen
Schritt werden wir nach der Sommerpause mit dem erweiterten Petitionsrecht tun.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Hönlinger
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle hier im Hause wissen: Unser Grundgesetz ist die beste Verfassung, und unsere Demokratie
ist die beste Regierungsform, die wir je in Deutschland
hatten.
({0})
Wir haben freie, gleiche und geheime Wahlen auf allen
Ebenen. Dadurch beteiligen sich die Bürgerinnen und
Bürger an der Demokratie. Diese Art der repräsentativen
Demokratie hat sich bewährt. Auch wir Grünen sind
überzeugt davon: Wir haben hier in Deutschland eine
gute und funktionierende Demokratie.
({1})
Aber Demokratie fällt nicht vom Himmel, und sie ist
auch nicht in Stein gemeißelt. Die ständig sinkende
Wahlbeteiligung ist für mich ein ernstes Anzeichen dafür, dass wir schnell und aktiv an der inneren Stärkung
unseres demokratischen Gemeinwesens arbeiten müssen. Wir dürfen hier nicht stehen bleiben.
({2})
Hier ist es genauso wie in Wissenschaft und Forschung:
Stehen bleiben bedeutet Rückschritt. Was wir brauchen,
ist demokratischer Fortschritt.
Wie soll dieser demokratische Fortschritt aussehen?
({3})
Nach unserer Überzeugung können wir ihn mit mehr
Elementen direkter und partizipativer Demokratie erreichen. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte auch zwischen den Wahltagen die Möglichkeit haben, Demokratie aktiv zu leben.
({4})
Wir sollten den Bürgerinnen und Bürgern sehr schnell
mehr direkte Beteiligung ermöglichen, und zwar auch
den Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund. Vielleicht ist das auch ein Schlüssel zur Terrorismusbekämpfung; denn überzeugte Demokraten, meine
Damen und Herren, überzeugte Demokraten sind nicht
anfällig für extremistische Positionen.
Für uns Grüne ist direkte Demokratie, sind Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide eine Herzenssache. Wir haben schon mehrfach Vorschläge zu
dem Thema unterbreitet. Jetzt greift die Linke das
Thema auf. Das ist lobenswert. Aber im Detail sehen wir
doch noch einige Mängel in ihrem Gesetzesentwurf.
Auch aus unserer Sicht sind die Quoren zu niedrig angesetzt. Das kann schnell zu riskanten Zufallsergebnissen
führen. Die Fristen für den Übergang von einer abgelehnten Volksinitiative zum Volksbegehren und dann
zum Volksentscheid sind uns zu kurz. Wir sollten dadurch kein Einfallstor schaffen, das wir im Einzelfall bedauern könnten. Deshalb sollten wir mit allen Fraktionen, gern auch mit der FDP, überparteiliche Antworten
finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen - jetzt spreche ich
ganz besonders zu den Damen und Herren von der CDU
und der CSU -:
({5})
Wir haben ganz aktuell zwei herausragende Beispiele für
direkte Bürgerbeteiligung. Das erste Beispiel: Im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl hat sich
die Bevölkerung ein eigenes Urteil über die Kandidaten
gebildet und dieses Urteil auch geäußert. Damit hat sie
sich ein hervorragendes demokratisches Reifezeugnis
ausgestellt. Das wird weiterwirken, und das muss auch
weiterwirken, meine Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin, würden Sie mir darin zustimmen, dass in dem von
Ihnen genannten Beispiel der Bundespräsidentenwahl
Umfragen vor der Wahl ein anderes Ergebnis hatten als
Umfragen nach der Wahl? Nach der Wahl hat die überwiegende Zahl der Menschen in Deutschland auf die
Frage, ob der neue Bundespräsident, Herr Christian
Wulff, ihrer Meinung nach ein guter Bundespräsident
wird, plötzlich eine drastisch veränderte Meinung geäußert.
({0})
- Ich stelle jetzt meine Frage, Herr Kollege Wieland.
Dann können Sie, wenn Sie wollen, Ihrer Kollegin ja
auch noch eine Frage stellen.
({1})
Sind Sie auch der Meinung, dass dies bei dem, was
Sie gerade gesagt haben, zu beachten ist?
Umfragen hängen natürlich immer ganz stark von der
Fragestellung ab.
({0})
Ich schätze unsere Bevölkerung einfach als fair ein. Die
Bevölkerung hat sich vor der Wahl ein Bild gemacht in
der Frage, welchen Kandidaten oder welche Kandidatin
für das Amt des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin sie am besten findet, und sie hat nach der Wahl
akzeptiert, dass wir hier eine demokratische Wahl durchgeführt haben.
({1})
Dann zu sagen, dass Herr Wulff als Bundespräsident in
Ordnung ist, ist doch wirklich demokratisch.
({2})
- Genau.
Ich habe noch ein zweites leuchtendes Beispiel für
mehr direkte Bürgerbeteiligung, und dieses Beispiel
kommt aus Bayern.
({3})
Jetzt sage ich „aus Bayern“ und nicht „von der CSU“;
denn die CSU hat mit ihrem Schlingerkurs nicht erreicht,
dass die Bevölkerung das akzeptiert hat, was dort gerade
Gesetz ist. Entgegen dem Schlingerkurs der CSU
({4})
und entgegen der Meinung der FDP hat die bayerische
Bevölkerung die Zigarette ausgedrückt.
({5})
Sie hat durch den Volksentscheid das schärfste Rauchverbot durchgesetzt, das wir in Deutschland haben.
({6})
Das finde ich wirklich erstaunlich, zumal die Tabakindustrie und die Gastronomie die Raucherkampagne mit
mehr als 600 000 Euro unterstützt hatten. Ich denke, wir
können hier bundesweit von den Bayern lernen.
({7})
Mein Fazit lautet: Die Bürgerinnen und Bürger sind
bereit, Verantwortung zu übernehmen. 60 Jahre nach
Verabschiedung des Grundgesetzes sind die Deutschen
reif für mehr direkte Demokratie. Diesen Demokratisierungsprozess müssen wir auch hier im Parlament unterstützen; denn er nutzt überparteilich uns allen. Wir hier
im Parlament haben die Aufgabe, Regeln zu setzen für
die direkte Demokratie. Wir müssen die Verfassung, die
Grundrechte und auch die Minderheiten schützen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss will
ich sagen: Wir sollten in diesem Haus mit der Unterstützung von allen Fraktionen direkter Demokratie mehr
Chancen geben. Lassen Sie uns gemeinsam unsere Demokratie stärken! Das macht sie bunter, lebendiger und
zukunftsfester.
Vielen Dank.
({9})
Der nächste Redner ist Michael Frieser für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Soweit ich mich erinnern kann,
wurden die bayerische Politik, die CSU und die Ergebnisse ihrer direkten Volksbeteiligung noch nie so oft erwähnt wie in den letzten Reden. Darauf kann man als
Bayer durchaus stolz sein. Das sage ich auch an die
Adresse des Kollegen Schulz.
({0})
Darüber freuen wir uns. Ich kann immer wieder nur sagen: Ein Blick nach Bayern schadet auch in dieser Frage
nichts. Von Bayern kann man einiges lernen.
({1})
Aber die Schlüsse, die Sie ziehen, sind mitunter leider
Gottes etwas kurzsichtig, wenn es um die Attraktivität
von Bürgerbeteiligung und um die Intensivierung von
demokratischen Prozessen geht.
Wenn Sie das Bewusstsein für demokratische Prozesse erhöhen wollen, dann seien Sie bitte ehrlich. Das
Grundgesetz hat in dieser Frage keinen Zweifel gelassen. Es wurde übrigens damals nicht zur Volksabstimmung gestellt. Trotzdem ist es eine der besten Verfassungen, die es überhaupt auf der Welt gibt.
({2})
- Ja, deshalb enthält die bayerische Verfassung diese unglaubliche Form von Volksbeteiligung.
Wenn Sie mir jetzt geneigt zuhören wollen, dann erkläre
ich Ihnen einmal, warum in einem föderalen System, bestehend aus Bundesstaaten wie in der Bundesrepublik
Deutschland, in einzelnen Landesteilen Volksentscheide
möglich sind und auf Bundesebene nicht.
Ich will zuvor etwas Grundsätzlicheres sagen. Ich
habe schon ein bisschen den Eindruck, als ob es Ihnen
hierbei um die Frage geht, was man damit eigentlich bezwecken kann. Haben wir das richtig verstanden, dass es
Volksabstimmungen immer nur dann geben soll, wenn
das Thema in Ihre politischen Vorstellungen passt? Denn
wenn es nach Ihnen geht, soll es keine Volksentscheidungen bei religiösen Grundsatzfragen, bei moralischen
Grundsatzfragen und Ähnlichem geben. Kann man also
davon ausgehen, dass es eine Volksabstimmung nur bei
unwichtigen Themen geben soll?
({3})
Aber wenn es um wichtige Fragen geht und man Angst
vor dem Ergebnis hat, dann soll eine Volksabstimmung
nicht vorgesehen sein. Das funktioniert nicht. Es tut mir
leid.
({4})
Sie wissen genau, welche Kombination wir gerade
dank des Grundgesetzes haben, nämlich eine Balance
zwischen einer sehr basisdemokratischen und sehr
grundsätzlichen Beteiligung des Volkes einerseits und
den in der repräsentativen Demokratie unabhängigen
Abgeordneten andererseits. Der Abgeordnete ist somit
kein Befehlsempfänger, und er hat auch kein imperatives
Mandat. Im Gegenteil: Er ist nur seinem Gewissen verpflichtet, soweit er denn eines hat. Er muss seine Entscheidungen auf seinen Sachverstand und auf seine Erfahrungen beispielsweise aus Gesprächen, die er in
seinem Wahlkreis führt, gründen und diese Intentionen
hier einbringen. Auf der einen Seite steht der Volkswille
bzw. der Bürgerwille und auf der anderen Seite steht die
politische Umsetzung dieses Willens. Das haben die Väter des Grundgesetzes mit dem Begriff „Willensbildungsprozess“ gemeint. Sie wissen auch, dass diese Balance kein Minus im Hinblick auf die Legitimation ist.
Wenn man auch die wichtigen Fragen zum Diskurs
stellen möchte, dann muss damit ein intensiver Prozess
verbunden sein. Nicht nur im Bundestag bedarf es einer
intensiven Abstimmung. Wie wollen Sie Sachverständigenanhörungen in Volksabstimmungen einbringen und
Sachverständigengremien im Falle von Volksabstimmungen einbeziehen? Wie wollen Sie dann das Prinzip,
dass Diskussionen, die untereinander geführt werden,
mitunter in Kompromisse bzw. in einen Konsens münden, aufrechterhalten? Dies alles würde bei Volksabstimmungen wegfallen.
({5})
Im Ergebnis hebeln Sie auch das Prinzip der Beteiligung der Länder aus. Sie verwandeln nicht nur das Prinzip der Beteiligung - darüber könnte man noch reden -,
sondern Sie verwandeln auch das Grundgerüst unseres
Staates, indem Sie das föderale Prinzip ein ganzes Stück
weit aufgeben.
({6})
Ich höre, Sie wollen wichtige Themen wie die Todesstrafe nicht zur Abstimmung stellen. Das soll eine Ausnahme sein. Schon sind wir beim nächsten Thema. Wie
sieht es mit der Sicherungsverwahrung aus?
({7})
Zu all solchen Themenkomplexen müssten Sie einen Katalog erstellen, der immer nur den Zeitgeist abbilden
kann. Man kann nur das Hier und Heute in einem entsprechenden Gesetzentwurf abbilden.
Meines Erachtens geht es nicht um mehr politische
Stabilität, sondern schon auch um das Ziel, das parlamentarische System durch das hochgehaltene Warnschild, man könne zu einem bestimmten Thema eine
Volksabstimmung durchführen, aus der Balance zu bringen. Das kann der Abbildung des Bürgerwillens nicht
unbedingt dienlich sein. Was wäre denn bei Abstimmungen zum Thema Euro oder zum Thema Wiedervereinigung - Kollege Brandt hat schon darauf hingewiesen passiert? Ist es nicht gerade auch das Ziel des Antragstellers, Entscheidungen zu Themen, die wir nach schwierigen Diskussionen bewusst getroffen haben, beispielsweise zu Auslandseinsätzen, auf diese Art und Weise
wieder aufzuheben? Damit werden allerdings die Interessen des Staates wirklich massiv aufs Spiel gesetzt.
Letztendlich muss auch folgendes Argument zählen:
Was ist bei Handlungsdruck? Sie wissen, dass Volksabstimmungen eines langen Vorlaufs bedürfen. Man kann
dann nicht schnell entscheiden bzw. auf manche Entwicklungen nicht schnell genug reagieren.
Im Ergebnis: Versuchen wir nicht immer wieder, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Anscheinend
war es schon früher so - selbst als Neuer kann ich das
sagen, wenn ich in die Annalen blicke -, dass es in einem Zeitraum von einem Dreivierteljahr immer wieder
kommt. Umgekehrt sehe ich, dass, wenn es um Themen
geht, bei denen wir uns nicht einer Zustimmung von
mehr als 51 Prozent der Bürger sicher sind, gesagt wird,
dass man sich eine Entscheidung auch ohne direkte Demokratie vorstellen kann. So würde ich mich darüber
freuen, in unserem Land eine Abstimmung durchzuführen, um endlich zu erfahren, wo die SED-Milliarden geblieben sind.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Die Kollegin Fograscher hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch die SPD setzt sich seit vielen Jahren dafür
ein, Elemente direkter Demokratie ins Grundgesetz zu
schreiben. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2009
haben wir geschrieben - ich zitiere -:
Wir wollen Volksbegehren und Volksentscheide
auch auf Bundesebene ermöglichen und dabei die
Erfahrungen der Länder berücksichtigen.
({0})
Unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie
hat sich bewährt. Aber wir sind der Meinung, dass es an
der Zeit ist, diese durch direkte Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen. Es wäre auch ein
Schritt zu mehr europäischer Gemeinsamkeit; denn in
vielen unserer Nachbarstaaten und auch in Europa, im
Lissabon-Vertrag, gibt es diese Instrumente bereits,
ebenso wie in allen Bundesländern der Bundesrepublik
Deutschland, auch in den CDU- bzw. CSU-regierten.
Warum also nicht auch im Bund?
Alle Fraktionen dieses Hauses, bis auf die CDU/CSU,
haben in der Vergangenheit Gesetzentwürfe vorgelegt.
Der Gesetzentwurf der FDP aus der 16. Wahlperiode ist
immer noch auf deren Homepage zu finden. Leider steht
zu diesem Thema nichts in Ihrem Koalitionsvertrag.
Herrn Kollegen Schulz möchte ich sagen - er hat sich
gerade entschuldigt, er musste gehen -: Es ist etwas anderes, das Petitionsrecht zu stärken und zu ändern, als
das, was unsere Intention ist, nämlich direkte Bürgerbeteiligung zu ermöglichen.
({1})
In der konkreten Ausgestaltung von Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheiden gibt es allerdings
sehr unterschiedliche Vorschläge.
Für die erste Stufe, die Volksinitiative, fordern SPD
und Grüne und auch die FDP ein Quorum von
400 000 Stimmberechtigten, die Linke fordert in ihrem
heute vorgelegten Gesetzentwurf nur ein Quorum von
100 000 Stimmberechtigten. Sie begründen das damit,
dass in etwa so viele Stimmen zur Erlangung eines Bundestagsmandats nötig seien. Ich halte dieses Quorum für
zu gering, um Bagatellinitiativen zu verhindern. Auch
das Argument, dass die Zahl von 100 000 Wählerstimmen einem Bundestagsmandat entspricht, ist keine vernünftige Begründung; denn ein einzelner Abgeordneter
kann im Bundestag allein keine Initiative einbringen.
Für Volksbegehren forderte Rot-Grün in einem gemeinsamen Antrag in der 14. Legislaturperiode ein Quorum von 5 Prozent. Das entspricht etwa 3 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Die FDP fordert sogar 10 Prozent,
also etwa 6 Millionen Unterstützer. Der Linken reicht ein
Quorum von 1 Million, also etwa 1,7 Prozent. Auch das
halte ich für zu gering.
({2})
- Gerne.
Wir wollen die Themen nicht wie Sie in einem Katalog auflisten. Sie werden nämlich automatisch durch das
Grundgesetz begrenzt. Die darin enthaltenen Regelungen sind ausschlaggebend dafür, ob eine Fragestellung
zulässig ist oder nicht.
Was mir an dem Vorschlag der Linken völlig unverständlich ist, sind die Vorschläge zu Art. 82 c Abs. 4 des
Grundgesetzes - ich zitiere -:
Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins zum
Bundestag hat jede Fraktion des Bundestages das
Recht, eine Sachfrage zur Abstimmung am Wahltermin vorzuschlagen.
Weiter:
Der gewählte Bundestag
- es müsste heißen: der neu gewählte Bundestag ist für seine Wahlperiode an die Entscheidung der
Bürgerinnen und Bürger in diesen Fragen gebunden.
Unserer Ansicht nach hat ein Volksentscheid den
Zweck, dass sich Bürgerinnen und Bürger zwischen den
Wahlterminen zu Sachfragen direkt äußern können.
Wenn Sie den Volksentscheid an die Bundestagwahl
knüpfen, wäre dieser Zweck hinfällig. Warum sollen nur
die im Bundestag vertretenen Fraktionen berechtigt sein,
Sachfragen zur Abstimmung zu stellen? Warum dürfen
das nicht alle Parteien, die zur Bundestagwahl zugelassen sind? Und warum sollen Parteien Sachfragen vorgeben, wo doch Volksentscheide schon allein vom Namen
her aus der Mitte des Volkes kommen sollen? Was soll
das denn bringen, und wem soll das nützen? Den Wählerinnen und Wählern bringt das sicher nichts. Die Parteien und ihre Bewerber treten mit einem umfassenden
Programm, soweit sie eines haben, zu unterschiedlichen
Themen zur Bundestagwahl an, und der Wähler trifft
dazu seine Entscheidung.
Mit der Bindung des Bundestages an die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger während der gesamten
Legislaturperiode würde der Rahmen der politischen Gestaltungsmöglichkeiten nicht ergänzt, wie wir es wollen,
sondern eingeschränkt. Diesen Vorschlag halte ich deshalb für verfehlt. Wir werden ihm nicht zustimmen.
({3})
Auch wenn alle bislang eingebrachten Gesetzentwürfe letztlich dasselbe Ziel haben, so unterscheiden sie
sich doch in vielen Punkten. Bei den Quoren wird das
wohl am deutlichsten. Solange sich CDU und CSU aber
standhaft weigern, mehr Bürgerbeteiligung zuzulassen,
werden wir auch in dieser Legislaturperiode keine
grundgesetzändernden Mehrheiten erreichen. Ich bedauere es, dass sich die FDP von diesem Ziel offensichtlich
verabschiedet hat.
Frau Kollegin, ich bedauere, dass Ihre Redezeit bereits abgelaufen ist.
Einen Satz noch. - Das müssen Sie in der Koalition
vielleicht noch einmal klären.
Ich jedenfalls freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. Es hat,
wie der Kollege schon sagte, bereits zehn Anläufe gegeben. Vielleicht ist der elfte entscheidend und bringt den
Durchbruch.
Danke schön.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt.
Es ist verabredet, den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 17/1199 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie einverstan-
den. Dann ist diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt - Beschäftigungschancengesetz
- Drucksache 17/1945 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/2454 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/2455 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({2})
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme,
Hubertus Heil ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und
ausbauen
- Drucksachen 17/2321, 17/2454 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann,
Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung der freiwilligen
Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung
- Drucksache 17/1141 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5})
- Drucksache 17/1636 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige entfristen und ausbauen
- Drucksachen 17/1166, 17/1636 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Zu dem Entwurf eines Beschäftigungschancengesetzes der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Auch dazu höre und sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Brauksiepe für die Bundesregierung. Bitte schön.
({7})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat dem Hohen Haus den Entwurf
eines Beschäftigungschancengesetzes vorgelegt, über
den wir heute abschließend beraten wollen. Das gibt die
Gelegenheit, mal wieder über die tatsächliche Lage in
Deutschland in diesem Sommer 2010 zu sprechen.
Gestern beim Fußball waren andere besser als wir;
aber wenn man die Lage auf dem Arbeitsmarkt sieht,
muss man sagen: Seit Monaten ist niemand in Europa
besser als wir. Seit Monaten ist Deutschland der einzige
EU-Mitgliedstaat, in dem die Arbeitslosigkeit im Jahresvergleich sinkt. Das ist etwas, meine Damen und Herren,
worauf wir stolz sein können in diesem Land.
({0})
- Das ist nicht nur Champions League, Herr Kollege
Kolb; denn Champions League ist ja, wie die Kundigen
wissen, etwas, das auf Europa beschränkt ist. Aber unsere Erfolge sind schon ein bisschen größer. Deutschland
ist das einzige Industrieland in der OECD, einer weltweiten Organisation mit rund 30 Mitgliedsländern, in
dem die Arbeitslosigkeit wieder unter den Stand vor der
Wirtschaftskrise gefallen ist. Das sagen nicht wir, die
Bundesregierung, sondern die OECD selbst hat das veröffentlicht. Wir sind im Industrieländervergleich weltweit spitze bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Auch das ist etwas, worauf wir stolz sein können, meine
Damen und Herren.
({1})
Es gilt in der christlich-liberalen Koalition, was früher
in der Großen Koalition auch schon galt: Politik ist weder allmächtig noch ohnmächtig. Politik hat das nicht
allein geschafft. Aber natürlich hat auch die Arbeitsmarktpolitik - neben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die wichtige Vereinbarungen miteinander getroffen haben - unbestreitbar einen hohen Beitrag geleistet. Entgegen allen ursprünglichen Erwartungen ist es
uns in Deutschland gelungen, einen spürbaren Einbruch
bei der Zahl der Erwerbstätigen und den Anstieg der
Zahl der Arbeitslosen in einem selbst von Optimisten
nicht abzusehenden Ausmaß zu begrenzen.
Führen wir uns noch einmal die Situation vor der
Krise vor Augen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Im
Herbst 2008 lag die Arbeitslosigkeit zeitweise bei unter
3 Millionen. Seit 2005 waren rund 1,5 Millionen neue
Beschäftigungsverhältnisse geschaffen worden. Es gab
über 40 Millionen Erwerbstätige. In der Krise ist die Arbeitslosigkeit um rund 300 000 gestiegen, die Erwerbstätigkeit in einem etwa ähnlichen Maße zurückgegangen.
Das war deutlich geringer als erwartet. Dies haben wir
neben der Beschäftigungspolitik der Unternehmen vor
allem dem massiven Einsatz von Kurzarbeit zu verdanken. Über 300 000 Vollzeitstellen wurden durch Kurzarbeit ersetzt. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre ohne
Kurzarbeit womöglich doppelt so hoch ausgefallen.
Deswegen sage ich: Es war richtig, dass die Regierung, die zu der Zeit, als die Krise ausbrach, die Verantwortung hatte, also die Große Koalition, diese Maßnahmen ergriffen hat. Und es ist richtig und wichtig, dass
die christlich-liberale Koalition jetzt daran anknüpft und
das Signal gibt: Es ist viel erreicht worden, aber wir sind
noch nicht durch die Krise durch. Wir werden diesen
Weg, der einmalig erfolgreich ist, auch gemeinsam weitergehen. Das ist die Botschaft dieses Gesetzes.
({2})
Wir stehen am Anfang einer konjunkturellen Erholung, nachdem die Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt vergleichsweise gering geblieben sind - nicht
deswegen, weil in großem Maße irgendwelche niedrig
bezahlten Jobs entstanden wären, sondern deswegen,
weil wir mit unseren Maßnahmen vor allem Beschäftigung gehalten haben. Genau das, was es im Zusammenhang mit der Kurzarbeit an Skepsis gegeben hat - dass
möglicherweise Arbeitslosigkeit nur verlagert wird -, ist
eben nicht eingetreten. In der jetzigen Situation haben
wir über 200 000 Beschäftigungsverhältnisse mehr als
vor einem Jahr. Die Zahl der Kurzarbeiter, die sich
zwischenzeitlich aufgrund der Fördermaßnahmen, die
wir ergriffen haben, von rund 100 000 auf anderthalb
Millionen verfünfzehnfacht hatte, ist jetzt wieder auf ein
deutlich niedrigeres Maß zurückgegangen. Das heißt, die
Menschen sind nicht aus der Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit gegangen, sondern sie sind wieder in Beschäftigung gekommen, weil die Betriebe mit ihren Beschäftigten durch diese Krise gegangen sind. Das wollten wir
erreichen, und das ist gelungen.
({3})
Wir wissen, dass dies nicht zum Nulltarif zu haben
war. Viele unserer Partner aus unseren Nachbarländern
fragen uns, was der Kern des deutschen Jobwunders ist ein Begriff, den nicht wir erfunden haben, sondern der
aus dem Ausland an uns herangetragen wurde. Der Kern
ist, dass es gelungen ist, Gewerkschaften und Arbeitgeber mit den Beitrags- und Steuerzahlern in einem
Bündnis zusammenzubringen, das Arbeitsplätze erhalten
und neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Dieses Miteinander, diese Sozialpartnerschaft, die dieses Land über
60 Jahre stark gemacht hat, hat auch die letzten Jahre
mitgeprägt. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Jenseits allen politischen Streites - auch des Streites über
notwendige Sparmaßnahmen in diesen Tagen - muss
man einfach einmal ein herzliches Dankeschön an die
Sozialpartner in unserem Land sagen, die dieses Land
mit großgemacht haben und mit durch diese Krise geführt haben.
({4})
Weil wir mit unserer Politik in dieser Krise bisher gut
gefahren sind, aber sie noch nicht überwunden haben, ist
es richtig, dass wir jetzt mit diesen Maßnahmen fortfahren in dem Wissen, dass neben der gelebten Sozialpartnerschaft der Erfolg bei der Bewältigung der Krise auch
teuer erkauft wurde. Wir haben die Reserven, die wir in
der Arbeitslosenversicherung hatten, in der Tat aufgebraucht. Wir haben deswegen gesagt: Damit die Arbeitsmarktpolitik handlungsfähig bleibt, damit die Bundesagentur für Arbeit handlungsfähig bleibt und damit für
die Langzeitarbeitslosen weiterhin etwas getan werden
kann, unterstützt der Bund die Bundesagentur in diesem
Jahr mit einem Zuschuss. Wir werden weiter für die
Handlungsfähigkeit der arbeitsmarktpolitischen Akteure
in diesem Land sorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, wenn wir im Jahr 2013, in dem wir aller Voraussicht nach noch weniger Arbeitslose haben als jetzt, so
viel für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben, wie wir es
im Jahr 2006 bei weit über 4 Millionen Arbeitslosen getan haben, zeigt das, dass wir auf Dauer deutlich mehr
Geld in die Arbeitsmarktpolitik geben, als das früher der
Fall war.
({5})
Wir betreiben also keinen Abbau von Maßnahmen, sondern es gibt bezogen auf die Zahl der Menschen, die
Hilfe brauchen, einen Aufbau von arbeitsmarktpolitischem Engagement. Das ist richtig so. Diese christlichliberale Koalition steht für Aufbau und nicht für Abbau
in der Arbeitsmarktpolitik.
({6})
Wir stehen in der zweiten und dritten Lesung dieses
Gesetzentwurfes. Das heißt, wir reden auch über Änderungsvorschläge, die aus dem Haus gekommen sind und
über die im federführenden Ausschuss diskutiert worden
ist. Die Bundesregierung begrüßt die Änderungsanträge,
die eingebracht worden sind. Den Änderungsantrag zum
Thema Bürgerarbeit will ich zum Anlass nehmen, an
dieser Stelle etwas dazu zu sagen.
Dieser Änderungsantrag und diese abschließende Beratung gehen einher mit dem Modellprojekt „Bürgerarbeit“, das in den Startlöchern ist. Bundesweit haben rund
200 Grundsicherungsstellen gesagt, dass sie bei diesem
Projekt mitmachen wollen. Dieses Projekt ist gerade in
Sachsen-Anhalt von der dortigen Landesregierung erfolgreich erprobt worden. Es geht bei dem Projekt darum, Menschen zu aktivieren, ganz gezielt zu fördern,
sechs Monate lang ganz viele Anstrengungen koordiniert
und gebündelt zu unternehmen, um diese Menschen in
den Arbeitsmarkt zu bringen. Nur für die, bei denen das
nicht gelingt, wird es Bürgerarbeitsplätze geben, die der
Bund finanziert, damit sie weiter eine Chance auf sinnvolle Beschäftigung in unserer Arbeitswelt haben.
Diese christlich-liberale Koalition - dafür steht auch
die Ausweitung der Bürgerarbeit zu einem bundesweiten
Projekt - lässt niemanden am Wegesrand stehen, lässt
niemanden zurück, sondern kümmert sich gerade um
die, die die meiste Unterstützung brauchen.
({7})
Gerade für diese Menschen setzen wir neue Akzente,
stellen wir etwas zur Verfügung. Wir reden nicht darüber, sondern wir handeln.
Ich bedanke mich herzlich für die Initiativen, die ergriffen worden sind, und für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Anette Kramme spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Uns wurden gerade die Heldentaten der Union
verkündet: Man wolle die aktive Arbeitsmarktpolitik auf
dem Level des Jahres 2006 fortsetzen. Ich weiß nicht, ob
ich das tatsächlich als Heldentat empfinden kann. Man
sollte nämlich berücksichtigen, dass die tatsächlichen
Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik im Jahr
2006 besonders niedrig waren.
({0})
Sie kennen auch die Gründe, warum die Ausgaben besonders niedrig waren: Sie waren besonders niedrig,
weil wir einen riesigen Umstellungsprozess bei den Argen hatten und die Arbeitsmarktmittel deshalb nicht
vollumfänglich ausgeschöpft werden konnten. Das soll
jetzt der Vergleichsmaßstab sein.
({1})
Der Name dieses Stückwerkgesetzes mutet etwas seltsam an: Für die Regierung mag zwar vorübergehend Beschäftigung entstanden sein; aber mit Chancen hat dieses
Regelwerk relativ wenig zu tun. Ich will eine Ausnahme
machen: Sie sind endlich bereit, die Regelungen zur
Kurzarbeit zu verlängern. Aber auch hier mussten wir
Sie zum Jagen tragen:
({2})
Noch im April haben Sie sich geweigert, die Förderung
der Kurzarbeit inklusive der Befreiung von Sozialabgaben und attraktiver Angebote zur Weiterbildung zu verlängern. Warum? Aus schierem Trotz, weil nicht sein
kann, was nicht sein darf; ein von einem Sozialdemokraten, Olaf Scholz, entwickeltes Modell ist nämlich in
einer schwarz-gelben Koalition nicht opportun. Dabei
sind sich alle Experten, von DGB bis OECD, vollumfänglich einig gewesen: Kurzarbeit hat wesentlich dazu
beigetragen, höhere Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Sogar der Arbeitgeberverband sekundierte seinerzeit.
({3})
Es wird auch immer betont, dass Kurzarbeit wesentlich billiger als Arbeitslosigkeit ist. Im Durchschnitt ist
nämlich nur ein Drittel der Arbeitszeit durch die Sozialleistung zu ersetzen. Kurzarbeit ist auch deshalb vernünftig, weil Unternehmen nach einer Krise sofort starten und ihre Fachkräfte im Zuge eines zunehmenden
Fachkräftemangels halten können.
({4})
Nun, meine Damen und Herren von der Koalition, wir
freuen uns über Einsicht, auch über späte Einsicht. Endlich fangen Sie an, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Zwei Aber gibt es dennoch:
Aber Nummer eins: Für etliche Unternehmen kommt
die Einsicht zu spät. In vielen Unternehmen haben Entlassungsprozesse eingesetzt, weil Sie nicht zu Potte gekommen sind.
({5})
Sie haben nicht beachtet, dass einerseits Kündigungsfristen eingehalten werden müssen und andererseits langAnette Kramme
wierige und komplizierte Sozialplanverhandlungen zu
führen sind. Häufig konnten diese Unternehmen nicht
länger warten, weil sie in finanzieller Not waren und
nicht wussten, was nun im nächsten Jahr Sache ist. Hätte
die Regierung eher gehandelt, wäre Mitarbeitern die
Entlassung erspart geblieben.
Aber Nummer zwei: Auch diesmal wollen Sie die
Kurzarbeit nur vorübergehend verlängern. Da stellt man
sich die Frage: Warum eigentlich so schüchtern? Wir
von der SPD schlagen vor: Kurzarbeit soll künftig generell unter den aktuellen Bedingungen möglich sein. Wir
fordern eine Entfristung unter den erleichterten Bedingungen, die eine Erstattung der Sozialversicherungsabgaben ermöglichen. Wir wollen darüber hinaus die reguläre
Bezugsdauer von sechs auf zwölf Monate ausdehnen, die
maximale Bezugsdauer auf immerhin 36 Monate.
Alle sind sich einig: Kurzarbeit hat geholfen. Alle
sind sich einig: Kurzarbeit ist billiger als Arbeitslosigkeit. Warum sollte man dann daraus keine Dauerlösung
machen? Sollten die Regelungen in wirtschaftlich guten
Zeiten nicht gebraucht werden, ist eine Verlängerung unschädlich;
({6})
ohne Nutzung entstehen keine Kosten. Sollten die Regelungen gebraucht werden, muss nicht erst ein langwieriger Gesetzgebungsprozess in Gang gebracht werden; die
Reaktionszeiten werden kürzer, die Hilfe effektiver.
Lieber Herr Kolb, Sie können den mahnenden Zeigefinger, der vor Missbrauch warnt, getrost unten lassen.
Die Gefahr des Missbrauchs wird nämlich völlig überschätzt.
({7})
Unternehmen haben gar kein Interesse, Kurzarbeit unnötig auszudehnen.
({8})
Zum einen bleiben nämlich immerhin noch Remanenzkosten - so hat es das IAB errechnet - in Höhe von mindestens 24 Prozent übrig. Die Firmen wären mit dem
Klammerbeutel gepudert, wenn sie diese ohne Not zahlen würden. Zum anderen ist es für Unternehmen
schlichtweg lukrativer, Aufträge abzuarbeiten und Gewinne einzufahren.
Wenn wir uns aufraffen, meine Damen und Herren,
die neue Kurzarbeit von einer befristeten Sonderregelung zu einem neuen regulären Instrument der Arbeitsmarktpolitik zu machen, ist das mehr als nur eine kleine
Paragrafenänderung. Das wäre ein Paradigmenwechsel.
Früher gehörte es in der Wirtschaft zum guten Ton,
Cost-Cutting durch Entlassung zu betreiben. In den letzten Monaten war es anders. Manchmal fühlte man sich
fast an das alte „Modell Deutschland“ erinnert. Damals
galt es als klug, auf seine Mitarbeiter zu achten. Auch in
dieser Krise galt es als klug, seine Mitarbeiter möglichst
lange im Unternehmen zu halten, um in Zeiten anspringender Konjunktur sofort weiterproduzieren zu können
und nicht erst Fachkräfte neu einstellen zu müssen. Es
setzte ein Effekt ein, bei dem sich Arbeitgeber sogar in
Unternehmerkreisen rechtfertigen mussten, wenn sie die
Kurzarbeit nicht nutzten.
Die besseren Regelungen zur Kurzarbeit haben Flexibilität für Unternehmen in der Krise geschaffen und
gleichzeitig dem „hire and fire“ ein Ende gesetzt. Ich
sage: Diese Wirkung ist aber auch nur deshalb eingetreten, weil wir nach wie vor ein relativ gut funktionierendes Kündigungsschutzgesetz und Strukturen haben, die
die Betriebsratsarbeit effektiv gestalten.
Daran müssen wir anknüpfen. Diesen Mentalitätswechsel müssen wir erhalten. Deshalb, meine Damen und
Herren von der Koalition: Nehmen Sie das Beschäftigungschancengesetz wörtlich, und ergreifen Sie die
Chance, die Kurzarbeit wirklich und endgültig von einem
flügellahmen Entlein zu einem schönen Schwan zu machen.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Heinrich Kolb spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die gestern in Paris vorgestellte OECD-Studie ist für uns
ein Grund zu großer Freude; das will ich sehr deutlich
sagen. Es ist ein positives Zeichen, das wir aus Paris erhalten haben.
({0})
Wir neigen manchmal dazu - Schwarz-Gelb mehr als
andere in diesem Haus -, unser Licht unter den Scheffel
zu stellen.
({1})
Das wollen wir heute ausdrücklich nicht tun.
Ich will, ebenso wie es der Staatssekretär getan hat,
festhalten - dann sitzt es besser; dann kommt auch die
Botschaft besser an -: In der Krise ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich zurückgegangen, während
sie in anderen OECD-Ländern erheblich gestiegen ist,
und das, obwohl Deutschland vom Wirtschaftseinbruch
besonders stark betroffen war.
({2})
Das ist ein Riesenerfolg für unser Land, für unsere Wirtschaft und auch für unsere Regierung.
({3})
Weil Sie manchmal behaupten, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz habe nur negative Wirkungen gehabt, sage ich Ihnen: Das ist nicht der Fall. Es war ein
wesentlicher Baustein. Die Maßnahmen zur Verbesse5682
rung der Kaufkraft, die Anfang dieses Jahres in Kraft getreten sind, all das sind wesentliche Signale, die zusammenspielen. Deswegen sage ich: Wir sind auf einem
guten Weg.
({4})
Die OECD lobte zum einen das Kurzarbeitergeld und
zum anderen,
({5})
dass Unternehmen, Belegschaften und Gewerkschaften
mit flexiblen Arbeitszeitregelungen einen erheblichen
Beitrag geleistet haben; das darf man nicht übersehen.
Es ist beileibe nicht so, Frau Kramme, dass all das alleine durch die Kurzarbeit erreicht worden ist,
({6})
sondern ein Gutteil der Last ist von den Unternehmen
selbst getragen und geschultert worden. Dazu ist übrigens in erheblichem Umfang Liquidität eingesetzt worden. Ich betone das deswegen, weil gerade von Ihrer
Fraktion, Frau Kramme, immer unterstellt wird, Unternehmen hätten nur den schnöden Mammon im Sinn, und
alles andere spiele für sie keine Rolle.
({7})
Hier ist im Zusammenspiel von Unternehmen und Gewerkschaften sozial sehr verantwortlich gehandelt worden. Auch dies gilt es hier und heute zu betonen.
({8})
Auf das, was wir erreicht haben, bin ich stolz. Wir haben es uns nicht leicht gemacht, Frau Kollegin Kramme.
Aber am Ende haben wir uns geeinigt und eine gute Regelung getroffen; Herr Kollege Schiewerling sei an dieser
Stelle ausdrücklich erwähnt. Wir haben die Kurzarbeiterregelung mit Augenmaß verlängert. Auch die OECD hat
darauf hingewiesen: Es hat sich um eine Ausnahmesituation, eine Krise gehandelt. Irgendwann muss die Kurzarbeit zurückgeführt werden. - Wir müssen dabei so vorgehen, dass wir davon auch diejenigen profitieren lassen,
die die Last - weil nicht alle Branchen gleichzeitig von
der Krise betroffen sind, sondern manche früher, andere
später - erst am Ende des Krisenzyklus zu tragen haben.
Deswegen soll es - das hat die Anhörung bestätigt - auch
jetzt noch die Möglichkeit geben, neue Kurzarbeitsanträge mit längerer Frist zu stellen. Das alles läuft aber aus
und wird langsam zurückgenommen. Es erfolgt elastisch,
damit harte Brüche, die zu Entlassungen führen könnten,
vermieden werden. Das alles ist sehr vernünftig.
Zeitarbeitnehmern wird es weiter ermöglicht, Kurzarbeitergeld in Anspruch zu nehmen. Frau Kramme, das
alles wird dazu führen, dass wir elastisch aus der Kurzarbeit aussteigen und mit dem Wiederanziehen der Auslastung in den Unternehmen aufgrund der guten konjunkturellen Situation wieder zum Normalfall zurückkehren.
Die Fristen werden dann wieder kürzer sein. Auch die
Erstattungsmöglichkeiten werden nicht mehr so großzügig sein. Die Bundesagentur für Arbeit wird dann bei
den einzelnen Anträgen etwas genauer hinschauen. Das
alles halte ich für sinnvoll und vernünftig.
Ihre Anträge sind nicht sinnvoll und vernünftig. Teilweise gibt es erhebliche Sprünge. Wenn ich Ihren Antrag
„Beschäftigte vor Kurzarbeit schützen - Konditionen für
Kurzarbeit verbessern“, den Sie in der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs im April eingebracht haben, mit dem
vergleiche, was Sie heute vorlegen, dann stelle ich fest,
dass es erhebliche Unterschiede gibt.
({9})
Damals war die gesetzliche Festschreibung der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge nicht Teil des
Forderungskatalogs Ihrer Fraktion. Jetzt, zweieinhalb
Monate später, haben Sie auf einmal die dringende Notwendigkeit erkannt - erstaunlich, vielleicht auch ein
Stück weit unverständlich -, genau dies zu tun. Das ist
für mich nur ein weiterer Beleg für die Sprunghaftigkeit
Ihrer Politik gerade im Bereich des Arbeitsmarktes. Solchen Vorschlägen kann man nicht zustimmen.
({10})
Ich bin leider am Ende meiner Redezeit und kann zu
dem Antrag der Linken, Frau Zimmermann, nichts mehr
sagen. Was Sie vorgelegt haben, ist ohnehin das Übliche:
reduzierte Höchstarbeitszeit, Mindestlohn, Verlängerung
der Bezugsfrist usw. Das kann man sich ersparen bzw.
werden wir bei nächster Gelegenheit kommentieren.
({11})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und verweise auf meinen Kollegen Vogel, der alles andere, was
nicht das Kurzarbeitergeld betrifft, später kommentieren
wird.
({12})
Sabine Zimmermann ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen der Koalition, eines muss
man Ihnen lassen: Sie sind richtig große Verpackungskünstler.
({0})
Ich will es Ihnen erklären. Ihre Gesetze tragen so tolle
Namen wie Wachstumsbeschleunigungsgesetz, Finanzmarktstabilisierungsgesetz und heute Beschäftigungschancengesetz. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sich dieses
Gesetz aber genauer anschauen, müssen sie feststellen,
dass da nur heiße Luft drin ist.
({1})
- Das muss man schon so sagen. Sie sind wirklich große
Verpackungskünstler.
({2})
- Frau Connemann, hören Sie mir bitte zu! Dann kann
ich Sie vielleicht aufklären.
Im Juni meldete die Bundesagentur für Arbeit 3,2 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose. Aber wir alle in
diesem Haus wissen: Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als
4,3 Millionen; hier muss ich Sie korrigieren, Herr Kolb.
Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man die Teilnehmer an Maßnahmen und diejenigen, die sich in Warteschleifen befinden, sowie die älteren Arbeitslosen hinzuzählt. Diese sind in der Statistik gar nicht enthalten. Das
zeigt uns: Es ist notwendig, ja überfällig, dass die Bundesregierung Vorschläge vorlegt, die dazu dienen, die
Chancen auf Beschäftigung zu erhöhen. Das tun Sie aber
nicht.
({3})
Dabei müssen Sie uns aber mal erklären: Wie wollen
Sie die Beschäftigungschancen erhöhen, wenn Sie die
Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen? Sie
betreiben Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik und beschneiden so die Chancen von Erwerbslosen, wieder in
Arbeit zu kommen. Das wird die Linke nicht hinnehmen.
({4})
Um es ganz klar zu sagen: Das Sparpaket ist sozial
ungerecht und beschäftigungspolitisch falsch. Bevor ich
darauf genauer eingehe, einige Worte zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf:
Erstens. Die Regierung will die Kurzarbeiterregelung
verlängern. Da gehen wir mit, auch wenn wir uns weiter
gehende Regelungen gewünscht hätten, wie zum Beispiel eine längere Bezugsdauer. Frau Kramme hat auch
schon einige Hinweise dazu gegeben.
Zweitens. Die Regierung will die Regelung zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
verlängern. Dazu muss man natürlich sagen, dass die
Linken und die Grünen schon im März einen Gesetzentwurf bzw. Antrag dazu eingebracht haben.
({5})
Schön, dass Sie dem nun gefolgt sind, aber leider natürlich mit einer abrupten Beitragserhöhung. So erzielt die
Regelung jedoch vor allen Dingen bei Selbstständigen
mit einem geringen Einkommen überhaupt keine Wirkung. Auch damit verstoßen Sie gegen das Gleichbehandlungsgebot.
Drittens. Die Regierung will die Dauer bestehender
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen verlängern. Einiges
davon unterstützen wir. Wir sagen aber auch: Arbeitsmarktpolitik darf nicht bedeuten, dass die Arbeitgeber
subventioniert werden.
Abgeschafft gehört zum Beispiel der sogenannte Vermittlungsgutschein. 2 000 Euro erhält ein privater Arbeitsvermittler, wenn er einen Erwerbslosen in Beschäftigung gebracht hat. Tatsache ist doch - das hat der
Kollege vom DGB auch noch einmal deutlich gemacht -:
50 Prozent der über diesen Weg Vermittelten melden sich
nach sechs Monaten wieder arbeitslos. 25 Prozent der
Kolleginnen und Kollegen werden im Rahmen der Leiharbeit tätig. Das hat nichts mit guter Arbeitsmarktpolitik
zu tun.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung plant einen Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik.
Allein 16 Milliarden Euro will die Regierung durch die
Umwandlung von sogenannten Pflicht- in Ermessensleistungen kürzen. Was bedeutet das? Millionen Menschen verlieren ihren Rechtsanspruch auf bestimmte
Fördermaßnahmen.
Ich nenne einmal ein Beispiel: Eine junge Frau - nennen wir sie Susanne - konnte wegen der Geburt eines
Kindes noch keine Ausbildung machen. Heute gehört sie
noch zu den Glücklichen, die ein Anrecht auf eine sogenannte berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme haben.
Über 38 000 Personen haben dieses Instrument in Anspruch genommen, und zwar mit Erfolg: In mehr als jedem zweiten Fall führte dies zu einer Beschäftigung.
Dieses Instrument und damit diese Chance für junge
Mütter wie Susanne werden nun wie viele andere auch
infrage gestellt. Betroffene sollen kein Anrecht mehr darauf haben, und es droht eine Arbeitsmarktpolitik nach
Kassenlage. Sie schaffen keine Chancen, sondern Sie
vernichten sie. Das machen wir nicht mit.
({7})
Ich komme zum Schluss. Frau von der Leyen hat Ende
April angekündigt - ich zitiere -: „Wir werden nicht sinnlos kürzen.“ Keine zwei Monate später hat sie im Kabinett die Hand für eine beispiellose Kürzung in der Arbeitsmarktpolitik gehoben.
Frau von der Leyen - Herr Brauksiepe, Sie können es
ihr ja vielleicht ausrichten -, ich muss Ihnen sagen: Sie
sind eine Ankündigungsministerin. Das wird vor allen
Dingen durch die ganzen Ankündigungen im Bereich
der Leiharbeit gezeigt. In der Öffentlichkeit kritisieren
Sie seit Monaten die Missstände. Was haben Sie bis jetzt
getan? Nichts! Es ist nichts passiert.
Fangen Sie endlich an, etwas zu tun. Halten Sie es
vielleicht ein bisschen mit Goethe: „Es ist nicht genug,
zu wollen, man muss es auch tun.“
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Brigitte Pothmer spricht jetzt für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durch
die letzte Umfrage wurde gezeigt, dass 8,6 Millionen
Menschen in Deutschland einen Arbeitsplatz suchen
oder aber mehr arbeiten möchten, als es ihnen derzeit
möglich ist.
Ich will gar nicht bestreiten, dass die neuesten Arbeitsmarktzahlen auf Entspannung hinweisen. Frau
Zimmermann hat aber darauf hingewiesen: Die Unterbeschäftigung ist noch immer sehr hoch; es fehlen über
4 Millionen Vollzeitstellen. Wenn man die stille Reserve
hinzunimmt, die in keiner Statistik auftaucht, dann kann
man nicht leugnen, dass wir es mit einem riesengroßen
Problem zu tun haben.
Herr Kolb, gleichzeitig haben wir schon jetzt einen
riesengroßen Fachkräftemangel. Durch all das wird gezeigt: Wir brauchen tatsächlich neue Impulse in der Beschäftigungspolitik, und wir brauchen tatsächlich Chancen für die Arbeitslosen.
({0})
- Darin stimmen wir überein.
Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet, ob mit dem Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, diese Chancen für die Betroffenen tatsächlich eröffnet werden. Ich
will Ihnen einmal etwas sagen: In Teilen ist absolut das
Gegenteil der Fall. Zum Teil erschweren Sie den Weg
hin zu einem neuen Job; Sie erschweren zum Beispiel
die Gründung von neuen Unternehmen.
Betrachten wir einmal das Beispiel der Alten- und
Krankenpflege. Sie beenden die Förderung von Umschulungen in der Alten- und Krankenpflege. In diesem
Bereich gibt es bereits heute einen exorbitanten Fachkräftemangel. Experten rechnen uns vor, dass wir in
zehn Jahren 230 000 Vollzeitarbeitskräfte in diesem Bereich bräuchten. Wenn Umschulung an irgendeiner
Stelle sinnvoll und notwendig ist, dann doch wohl in diesem Bereich! Wo könnte das Geld besser angelegt sein?
({1})
Nehmen wir das andere Beispiel: Sie wollen die freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige verlängern. Gleichzeitig machen Sie sie aber unbezahlbar,
indem Sie die Beiträge vervierfachen.
({2})
Viele der Solo-Selbstständigen haben schon jetzt erhebliche Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt und die
Krankenversicherungsbeiträge zu finanzieren und für
das Alter vorzusorgen. Und jetzt sagen Sie mir, dass sie
bereits ein Jahr nach Gründung 1 000 Euro im Jahr für
die Arbeitslosenversicherung zahlen können.
({3})
Das wird nicht funktionieren. Damit versetzen Sie diesem Instrument einen Dolchstoß.
({4})
In der Koalitionsvereinbarung steht: „Deutschland
muss wieder zum Gründerland werden.“ Sie glauben
doch nicht allen Ernstes, dass Sie mit dieser Politik einen
Gründungsboom auslösen werden. Mit dieser Politik
wird Ihnen das nicht gelingen.
Nein, meine Damen und Herren, das, was Sie hier
wirklich großspurig als Beschäftigungschancengesetz
anpreisen, ist bei genauerer Betrachtung nichts anderes
als eine dem Kürzungsdiktat geschuldete Billigversion
der Beschäftigungspolitik von Olaf Scholz.
({5})
Da gibt es keinen einzigen neuen Impuls, keine einzige
neue Idee.
({6})
Kein Mensch behauptet, dass es falsch ist, das Kurzarbeitergeld zu verlängern. Aber warum bleibt eigentlich
der Qualifizierungsanreiz in dieser Frage auf der Strecke?
Ich will Ihnen einmal vorlesen, was die Bundesagentur für Arbeit in ihrer schriftlichen Stellungnahme dazu
sagt: Der im Hinblick auf den absehbaren Fachkräftemangel sinnvolle und äußerst notwendige Qualifizierungsimpuls wird deutlich abgeschwächt.
Und jetzt komme ich auch einmal zur OECD. In jeder
OECD-Studie zu diesem Thema wird nachgewiesen,
dass sich Deutschland, was das lebenslange Lernen und
die Weiterbildung angeht, im unteren Mittelfeld bewegt.
({7})
Wenn wir so weitermachen, dann stolpern wir genau auf
das Szenario zu, vor dem Frau von der Leyen immer gewarnt hat: nämlich auf einen dramatischen Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit.
({8})
- Hören Sie einmal zu, ich zitiere jetzt nämlich Ihren
Minister Brüderle:
Jeder Arbeitslose, der einen Job bekommt, macht
sein eigenes Konjunkturprogramm. Er hat mehr
Einkommen und damit mehr Konsummöglichkeiten.
Ich finde, da hat Herr Brüderle - und ich stehe nicht im
Verdacht, ihm ungerechtfertigt recht zu geben - ausnahmsweise recht.
({9})
Aber solange Sie die Arbeitsförderung weiter kaputtsparen und kaputtkürzen, wird von diesen Beschäftigungschancen bei den Langzeitarbeitslosen jedenfalls
nichts ankommen. Daraus wird nichts!
Ich danke Ihnen.
({10})
Herr Schiewerling hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! So unterschiedlich kann die
Welt sein. Bei Pippi Langstrumpf gibt es den sogenannten Sachensucher. Ein Sachensucher ist jemand, der immer vor sich auf die Straße guckt und ganz kleine Sachen findet, die er sorgsam hütet und pflegt. Ihre Reden,
Frau Kramme, Frau Zimmermann, Frau Pothmer, erinnerten mich an dieses Spiel bei Pippi Langstrumpf. Sie
haben lange suchen müssen, bis Sie in diesem Gesetz etwas gefunden haben.
({0})
Ich sage Ihnen: Es ist Ihnen zwar gelungen, etwas ausfindig zu machen; nur hat das leider mit unserer Politik
nichts zu tun.
({1})
Beschäftigung sichern, Arbeitsplätze fördern, gestärkt
aus der Krise herauskommen - das ist das Thema dieses
Beschäftigungsförderungsgesetzes. Ich sage Ihnen: Das
liegt auf einer Linie mit dem, was Bundeskanzlerin
Angela Merkel in 2008, als die Finanzmarktkrise begonnen hat, bereits gesagt hat: Wir wollen aus dieser Krise
stärker herausgehen, als wir hineingegangen sind.
Wir befinden uns in genau dieser Phase und dieser
Entwicklung. Da können Sie reden, wie Sie wollen: Die
Arbeitsmarktdaten sprechen für uns. Es gibt mittlerweile
3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind deutlich weniger
als die 5 Millionen noch in 2005. Wenn Sie die Statistik
bezweifeln wollen, dann können Sie das gerne tun. Sie
können das Ganze hoch- und runterrechnen. Der Chef
der Agentur für Arbeit, Weise, pflegt zu sagen, dass die
Deutschen die strengsten Kriterien für die Arbeitslosenstatistik haben.
({2})
Innerhalb des europäischen Vergleiches hat diese Statistik damit auch weiterhin Bestand.
({3})
Die Bundesregierung geht von einem Wachstum von
1,4 Prozent aus. Viele Forschungsinstitute und internationale Organisationen gehen von mehr als 2 Prozent aus.
Staatssekretär Dr. Brauksiepe und auch Herr Dr. Kolb haben es dargestellt: Wir haben eine äußerst stabile Situation am Arbeitsmarkt. Wir alle wissen: Das Geheimnis
sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, und zwar
insbesondere die Kurzarbeit.
Ich will das alles nicht im Detail wiederholen, sondern nur eines deutlich sagen, Frau Kramme: Wir sind
weder zum Jagen getragen worden, noch hat uns jemand
zwingen müssen. Wir haben die Entscheidung alleine
getroffen, und zwar unter Abwägung der Gegebenheiten,
insbesondere der Entwicklung am Arbeitsmarkt.
({4})
Insofern haben wir mit Augenmaß eine gute und vernünftige Entscheidung getroffen.
Ich halte es für zwingend geboten, diese Dinge vernünftig und mit Augenmaß weiterzuentwickeln. Dazu
gehört, dass die Unternehmen dieses Instrument nicht
ausgenutzt haben. Obwohl dieses Instrument mit der
Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge weiter besteht, wird es weit weniger in Anspruch genommen, weil
die Konjunktur entsprechend angesprungen ist. Mit dem
Gesetzentwurf wollen wir die gesetzlichen Regelungen
verlängern, damit diejenigen, die die Krise noch nicht
überwunden haben, die Sicherheit haben, Unterstützung
vom Staat zu bekommen, damit das Ganze entsprechend
gestaltet werden kann.
So verstehen wir Arbeitsmarktpolitik mit Augenmaß.
Ein großer Dank, dass das so geklappt hat und dass wir
so dastehen, wie es jetzt der Fall ist, gilt der Flexibilität
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, die in dieser schwersten Krise geholfen haben,
sodass wir heute gut dastehen und es weiter aufwärts gehen kann.
({5})
Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung,
die christlich-liberale Koalition, ihren erfolgreichen
Kurs in der Arbeitsmarktpolitik und im Bereich Arbeit
und Soziales weiter fort. Ich will einmal Revue passieren
lassen, was wir in den letzten Monaten erreicht haben.
Wir haben erreicht, dass ein Mindestlohn in der Pflege in
Kraft treten wird.
({6})
Wir haben am Beispiel der Firma Schlecker das
Thema Zeitarbeit aufgegriffen. Das haben weder die
Linken noch die SPD und die Grünen auf den Weg gebracht,
({7})
sondern das ist die christlich-liberale Koalition angegangen. Wir waren diejenigen, die den Finger in die Wunde
gelegt und benannt haben, was nicht ordentlich läuft,
und wir haben bei den Tarifpartnern der Zeitarbeitsbranche einen intensiven Diskussionsprozess in Gang gesetzt. Dass dort heute viele Selbstheilungskräfte wirken,
verdanken wir genau dieser Politik.
({8})
Ich will noch eines ansprechen, das im Kampfgetümmel und Getöse nicht von dem nötigen Krach begleitet
wurde, um Beachtung zu finden, obwohl es erfolgreich
zu Ende gegangen ist:
({9})
Wir haben gemeinsam mit der SPD in diesem Hohen
Hause in einem hervorragenden und verantwortungsbewussten Verfahren die Jobcenter-Organisation durchgeführt.
({10})
- Frau Kollegin Kramme, es ist verständlich, dass Sie für
sich das Recht in Anspruch nehmen wollen, andere permanent zum Jagen getragen zu haben. Das ist aber nicht
der Fall. Wir haben nämlich das Ganze von uns aus auf
den Weg gebracht. Ich gestehe zu, dass die Bundesländer
kräftig mitgeholfen haben. Aber wir haben es auf den
Weg gebracht, und wir haben es geschafft.
({11})
Wir klären zurzeit, was im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes möglich ist. Ich denke, dass wir auch das
bald gemeinsam schaffen werden. Insofern haben wir im
Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den letzten
Wochen und Monaten in aller Ruhe Schritt für Schritt
sehr viel erreicht. Das haben uns die wenigsten von der
linken Seite des Hauses zugetraut.
Es gab eine hervorragende Zusammenarbeit, und wir
haben viel miteinander geschafft. Das hat auch etwas mit
der guten Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsministerin zu tun, die ihre Politik in sehr kluger und stringenter Weise gestaltet und nach vorne bringt. Dabei hat sie
unsere Unterstützung.
({12})
Ich will den Blick aber nicht nur zurückwenden, sondern auch nach vorne richten. In der zweiten Jahreshälfte
geht es um die uns vom Bundesverfassungsgericht mit
Recht auferlegte Regelung der Kinderbedarfssätze und
die Frage der Bildung. Das steht im Mittelpunkt. Wir
wollen Kindern, die in einer sehr schwierigen sozialen
Lage sind, Bildungschancen eröffnen. Es geht aber nicht
nur um diese Kinder, sondern auch um Kinder von Eltern, deren Verdienst nur wenig über dem Regelsatz nach
Hartz IV liegt. All diesen Kindern wollen wir Perspektiven eröffnen. Das ist unsere Aufgabe.
({13})
Diesem Thema werden wir uns in der zweiten Jahreshälfte konkret widmen.
(Anette Kramme [SPD]: Deshalb stellen Sie
500 000 Euro zur Verfügung, und das Elterngeld wird gekürzt!
Es geht auch um die Hinzuverdienstgrenzen. Auch
dieses Problem müssen wir miteinander in der zweiten
Jahreshälfte lösen. Dahinter steckt mehr, als wir im Augenblick wahrhaben wollen. Das ist ein sehr kompliziertes Thema. Es gilt, unsererseits volkswirtschaftlich sinnvolle Anreize zu setzen, um Arbeit aufzunehmen. Das
werden wir miteinander vereinbaren. Wir müssen auch
sehen - auch das sage ich deutlich -, dass viele Aktivitäten in der Schattenwirtschaft stattfinden. Das betrifft
nicht nur diejenigen, die dort arbeiten, sondern auch diejenigen, die Arbeit anbieten. Dazu gehören auch - das
betrifft gerade SGB-II-Empfänger - nicht wenige Privathaushalte. Ich halte es für notwendig, darüber nachzudenken, ob die rechtlichen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, nicht verschärft werden müssen.
Vielleicht sollten wir härtere Sanktionen beschließen.
({14})
Wir verlängern mit diesem Gesetz einige arbeitsmarktpolitische Instrumente. Diese werden weiterhin
evaluiert. Wir werden im nächsten Jahr an diese Fragen
herangehen. Wir werden passgenaue, regionale Lösungen finden. Wir werden diejenigen, die dort tätig sind
und an Lösungen mitwirken, ermuntern, ihren Beitrag zu
leisten, indem sie Verantwortung vor Ort übernehmen.
Eines treibt uns - da gebe ich Frau Pothmer recht - um:
Ich meine die gespaltene Situation auf dem Arbeitsmarkt. Auf der einen Seite werden Facharbeiter gesucht,
auf der anderen Seite haben weniger Qualifizierte große
Mühe, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Dieser
Herausforderung stellen wir uns. Wir alle werden unseren Beitrag dazu leisten, dass auch die weniger Qualifizierten eine Perspektive haben.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Jetzt spricht Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Schiewerling,
Pippi Langstrumpf hat manchmal in der Villa Kunterbunt äußerst eklige Sachen gefunden. Der Gesetzentwurf
zum Kurzarbeitergeld kommt einfach zu spät. Der Bezug des Kurzarbeitergeldes sollte entfristet werden.
({0})
Ich möchte Ihnen etwas zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Regelsatz für Kinder von
Hartz-IV-Empfängern auf den Weg geben: Bitte keinen
Silvia Schmidt ({1})
schwarz-gelben Rucksack für Kinder von Hartz-IVEmpfängern,
({2})
bitte keine Gutscheine, mit denen diese Menschen einkaufen müssen.
({3})
- Bleiben Sie sitzen, ich möchte keine Zwischenfrage
zulassen.
Sehr verehrter Herr Brauksiepe, Sie haben eben Sachsen-Anhalt - ich finde, zu Recht - im Zusammenhang
mit der Bürgerarbeit gelobt. Wir als Sozialdemokraten
wollen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Die Männer und Frauen, die drei
Jahre Bürgerarbeit geleistet haben, haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das wissen wir. Es wäre
doch deutlich besser, wenn man den Kommunen Geld
zur Verfügung stellen würde, damit sie selbst entscheiden können, welche Arbeiten sie vergeben, um zum Beispiel ihre älteren Bürgerinnen und Bürgern zu unterstützen.
Frau Pothmer hat die Bildung im Alter angesprochen.
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir brauchen lebenslanges
Lernen; denn gerade gering Qualifizierte und ältere Arbeitnehmer, die in kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen
können, sind die Ersten, die gegebenenfalls entlassen
werden. Wenn sie entlassen werden, haben sie die geringsten Chancen, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt
Arbeit zu finden. Gerade dieser Personenkreis wurde
durch dieses Programm gefördert. Das ist eine sehr gute
Sache. Mit Sicherheit hat es auch die Unternehmen angespornt, sich selbst um Weiterbildung sowie um Qualifizierungs- und Ausbildungsmaßnahmen zu kümmern.
Man sollte dieses Programm nicht verteufeln, sondern es
generell entfristen.
Was mir am meisten am Herzen liegt, ist, dass wir das
dritte Ausbildungsjahr für Altenpfleger und Krankenpfleger nicht mehr finanzieren. Ich gebe dem Arbeitgeberverband und auch dem DGB recht, wenn sie sagen,
die Branche müsste das selber tun. Das ist richtig. Denn
die Renditen der Heimbetreiber - das wissen wir von der
Bundesinitiative Daheim statt Heim - liegen an den
Börsenmärkten zwischen 6 und 10 Prozent. Auch diese
Branche hat gegenüber ihren Mitarbeitern und ihrer
Klientel, um die sie sich kümmert, normalerweise die
Verpflichtung, Ausbildung und Weiterbildung mitzufinanzieren.
Wir können nach neun Monaten nicht einfach sagen:
Stopp! Bis zum letzten Ausbildungsjahr sind 14 000
Menschen aus dem Regelkreis SGB II herausgekommen
und haben in diesem Bereich ein neues Beschäftigungsfeld gefunden. Deshalb können wir jetzt nicht einfach
einen Schlussstrich ziehen. Als wir nicht finanziert haben - das war in den Jahren 2004 und 2006 -, lagen die
Zahlen zwischen 3 000 und 4 000 Menschen. Das kann
so nicht fortgesetzt werden. Frau Pothmer ist ausdrücklich auf den demografischen Wandel eingegangen und
hat entsprechende Zahlen genannt; ich muss sie jetzt
nicht wiederholen. Ich kann Sie nur immer wieder auffordern, dieses Programm wieder aufzulegen. Wir müssen die Branche unter Druck setzen, damit die Ausbildung gesichert wird.
({4})
Dass wir einen massiven Fachkräftemangel haben,
spiegelt sich natürlich auch in der Qualität der Pflege wider. Als Politiker bekommen wir ständig Gutachten um
die Ohren gehauen. Als Politiker wissen wir somit auch
genau, was die Menschen wollen. Sie wollen eine gute
und qualitativ hochwertige Pflege. Diese erreichen wir
aber nicht, indem wir nur Hilfskräfte einsetzen. Das geht
nicht. Wir brauchen eine große Anzahl von ausgebildeten Altenpflegekräften, die sich in guter Arbeit um die
Pflege kümmern. Es handelt sich um Assistenzleistung,
wenn ein Buch vorgelesen wird. Dafür braucht man
keine Pflegefachkraft; das ist richtig. Man muss aber
sehen, dass die Qualität der Pflege gesichert ist. Dies ist
im Moment nicht der Fall. Ich bitte Sie, dies zu prüfen
und im Auge zu behalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Jetzt spricht Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Schmidt, wir freuen uns über konstruktive
und sachdienliche Hinweise zur Ausgestaltung der Bildungsausgaben für Kinder. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es gut ist, dass wir in den Hartz-IV-Sätzen
überhaupt Bildungsausgaben für Kinder vorgesehen haben.
({0})
Bisher sind diese nämlich überhaupt nicht vorgesehen.
Das ist aber das wahre Problem, wenn wir über Qualifikation reden.
Ich möchte auf die OECD-Studie eingehen; mein
Kollege Kolb hat das bereits getan. Sie hat in der Tat
zwei interessante Ergebnisse gebracht: Erstens. Deutschland steht sehr gut da, wenn es um die Vermeidung von
Arbeitslosigkeit in der Krise geht. Deswegen setzen wir
diesen Weg durch eine maßvolle Verlängerung der Kurzarbeitsregelung sinnvoll fort. Zweitens. Im internationalen Vergleich stehen wir aber nicht so gut da, wenn es
darum geht, Arbeitslosigkeit schnell wieder zu beenden,
die Menschen wieder in Arbeit zu bringen und ihnen
eine Perspektive zu geben. Das Beschäftigungschancengesetz mit seinem Zweiklang greift im Hinblick darauf
aber sehr gut. Deshalb ist das Beschäftigungschancengesetz der Ansatz der Bundesregierung, sich diesem Zwei5688
Johannes Vogel ({1})
klang zu stellen. Wir verlängern die Laufzeit arbeitsmarktpolitischer Instrumente, um sie nächstes Jahr zu
evaluieren und zu schauen, was genau die Menschen
wirklich in Beschäftigung bringt.
Liebe Frau Pothmer, wir tun auch etwas für die Qualifikation der Fachkräfte: erweiterte Berufsorientierung,
Ausbildungsbonus bei Insolvenz - das wird auch verlängert, teilweise sogar länger als ein Jahr - und Verlängerung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung, um etwas für die Existenzgründer zu tun.
({2})
- Frau Kollegin Pothmer, ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie das kritisiert haben. Deswegen möchte ich
noch einmal darauf eingehen. Das ist es wert. Sie sind
auf das Thema Beiträge eingegangen. Ich kann Ihnen
sagen, was wir machen: Wir schließen die Gerechtigkeitslücke bei den Beiträgen. Bisher wurden die Selbstständigen den Angestellten gegenüber massiv bevorteilt.
Ich weiß, Sie haben die Anhörung am Montag in unserer
aller Anwesenheit genutzt, um einen empirischen Beleg
für Ihre These zu finden, die besagt, dass wir alles kaputtmachen. Nur muss man eben auch sagen: Diesen Beleg haben Sie nicht bekommen. Kein Sachverständiger
hat Ihnen das bestätigt.
({3})
Ich zitiere einmal aus der schriftlichen Stellungnahme
des DGB, des Deutschen Gewerkschaftsbundes:
Es ist nach Auffassung des DGB nachvollziehbar,
dass für die Risikogruppe der freiwillig Versicherten ein einigermaßen angemessenes Verhältnis von
Einnahmen und Ausgaben bestehen muss, weil ansonsten eine Quersubventionierung durch die übrigen Versicherten erfolgen würde.
Richtig ist also das Gegenteil von dem, was Sie behaupten: Wir machen nichts kaputt, sondern wir sorgen für
eine Vereinfachung, weil endlich die Antragsfrist verlängert wird. Die zu kurze Antragsfrist ist nämlich das eigentliche Problem der Betroffenen.
({4})
Sie haben uns darauf hingewiesen, dass man als Firmengründer natürlich andere Sorgen hat, dass man Tausend
Dinge im Kopf hat, dass man genug Probleme mit der
deutschen Bürokratie hat und dass man sich oft nicht
gleich innerhalb des ersten Monats nach der Firmengründung für die freiwillige Arbeitslosenversicherung
entscheiden möchte.
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pothmer zulassen?
Sehr gerne sogar.
Bitte schön.
Herr Vogel, haben Sie in der Anhörung auch zur Kenntnis genommen, dass die Vertreter der Bundesagentur für
Arbeit die Regierungsfraktionen darauf hingewiesen haben, dass die in Ihrem Gesetzentwurf zugrunde gelegten
Zahlen über die Entwicklung und die Inanspruchnahme
der freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige angesichts Ihrer Gestaltung dieser Versicherung bei
weitem nicht erreicht werden?
Frau Pothmer, ich habe zur Kenntnis genommen, dass
IAB und BA Ihren Thesen und Ihrer Behauptung, dass
diese Zahlen nicht zutreffen, nicht zustimmen wollten.
({0})
- Doch, es ist so. - Die Vertreter der Bundesagentur für
Arbeit haben nur gesagt, dass sich die Weiterentwicklung dieser Versicherung natürlich nicht prognostizieren
lässt.
({1})
- Ich war dabei. Ich habe genau zugehört.
({2})
Für Ihre Aussage, dass die freiwillige Arbeitslosenversicherung kaputtgemacht werde, konnten die Vertreter von BA und IAB Ihnen nicht den empirischen Beleg
liefern, den Sie haben wollten. Das habe ich sehr wohl
zur Kenntnis genommen.
Ich will noch eine Kleinigkeit zum Vermittlungsgutschein sagen. Das, was dazu festgestellt wurde, war ein
weiteres interessantes Ergebnis dieser Anhörung. Auch
da haben uns BA und IAB bestätigt, dass wir, wenn es
darum geht, Menschen in Beschäftigung zu bringen, alle
Register ziehen müssen:
Erstens. Wichtig ist die Eigeninitiative der Betroffenen, sich selbst einen Job zu suchen.
Zweitens. Wichtig ist darüber hinaus die Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur für Arbeit.
Drittens. Von Bedeutung ist außerdem die Vermittlungstätigkeit von privaten Arbeitsvermittlern.
Es ist also gut, dass wir die Gültigkeitsdauer des Vermittlungsgutscheins verlängern. Gut ist auch die Verkürzung der Wartefrist auf sechs Wochen. Wir meinen es
wirklich ernst und ziehen alle Register, um Menschen in
Beschäftigung zu bringen.
Ich kann konstatieren: Diese Koalition hat die OECDStudie wirklich verstanden. Wir verlängern nicht nur die
Geltungsdauer sinnvoller Kriseninstrumente, um Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zu verhindern, sondern wir
setzen auch darauf, noch mehr Menschen in BeschäftiJohannes Vogel ({3})
gung zu bringen. Hierzu haben wir erste Maßnahmen ergriffen. Wir werden diesen Weg weitergehen. Mein Kollege Schiewerling hat schon darauf hingewiesen. Wir
werden uns im Herbst zum Beispiel noch mit den
Hartz-IV-Sätzen und der Frage der Zuverdienste beschäftigen.
({4})
Auch das ist nämlich ein Punkt, bei dem die OECD
explizit anmahnt, dass die positiven Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland nicht ausgeprägt genug sind. Genau das werden wir verbessern.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für
bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt - Beschäftigungschancengesetz. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2454, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/1945 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen
gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, aufzustehen. - Die Gegenstimmen? Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
vorher angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/2463. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt.
Dagegen haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die SPD hat sich enthalten.
Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen
und ausbauen“. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2454 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2321 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt hat die SPDFraktion. Enthalten haben sich die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Entfristung der freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1636, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/1141 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringende Fraktion, Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen gestimmt haben die
Koalitionsfraktionen. Enthalten hat sich die SPD-Fraktion.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/1636 fort. Unter Buchstabe b empfiehlt
der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1166 mit dem Titel „Freiwillige Arbeitslosenversicherung für Selbstständige entfristen und ausbauen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen
haben Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gestimmt.
Die SPD hat sich im Wesentlichen enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Scheel, Ingrid Hönlinger, Fritz Kuhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Insolvenzrechtsreform unverzüglich vorlegen Außergerichtliche Sanierungsverfahren
stärken - Insolvenzplanverfahren attraktiver
gestalten
- Drucksache 17/2008 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hier ist verabredet worden, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Koalition hat im Koalitionsvertrag als das wichtigste
wirtschaftsrechtliche Vorhaben die Reform des Insolvenzrechts benannt. Wir finden, dass es auch notwendig ist,
zu einer Verbesserung des Insolvenzrechts zu kommen,
und zwar in der Richtung, in der Bundesrepublik
Deutschland mehr Planinsolvenzen durchführen zu können. Wir haben nämlich festgestellt, dass gerade in den
letzten Jahren, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise,
Tausende von Firmen in die Insolvenz gestürzt sind. Wir
hatten allein im ersten Halbjahr 2010 noch 17 360 Insol5690
venzen. Es wird davon gesprochen, dass es im Laufe des
Jahres eine Zunahme auf etwa 36 000 geben soll.
Das ist natürlich ein Schaden für die gesamte Volkswirtschaft. 2009 hat das Justizministerium von 50 Milliarden Euro gesprochen. Ich will jetzt nicht nur
Arcandor bzw. KarstadtQuelle und all die anderen Unternehmen nennen, die in der Presse stehen; betroffen
sind auch sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen, deren Namen in der Presse nicht so oft aufgetaucht sind.
Es besteht also nach wie vor die Situation, dass Unternehmen unter Kreditzurückhaltung und verschärften Bonitätsforderungen der Banken leiden. Vor diesem Hintergrund ist uns als Grüne nicht verständlich, warum die
Bundesregierung nicht früher darauf gekommen ist, eine
Vorlage einzubringen.
Ich habe die Woche über die Wirtschaftsteile der Zeitungen aufmerksam gelesen. Wir konnten feststellen,
dass unser Antrag die Bundesjustizministerin anscheinend dazu gebracht hat - darüber freuen wir uns -, ihre
Vorstellungen jetzt in die Öffentlichkeit zu tragen, sodass wir uns damit endlich auseinandersetzen können.
Das ist ein schöner Fortschritt. Das haben wir, glaube
ich, ganz gut hinbekommen.
({0})
Aufgefallen ist, dass vonseiten des Ministeriums kein
Wort darüber verloren wurde, wie sich die von Herrn
Minister Schäuble in der Finanzplanung vorgesehene
Wiedereinführung des Fiskusprivilegs auf die Unternehmen und die Insolvenzentwicklung auswirken wird. Ich
stelle einmal die Behauptung auf, dass die Reformabsichten der Justizministerin konterkariert würden, wenn
sich der Bundesfinanzminister mit seinen Plänen durchsetzen sollte. Im Zuge der Beratungen über das Jahressteuergesetz 2007 hatten wir schon eine Diskussion über
diesen Punkt. Wir haben damals aus der Opposition heraus dafür gesorgt, dass das Fiskusprivileg nicht wieder
eingeführt wird. Jetzt wird dieser Punkt offensichtlich
wieder als Sparbüchse aus der Schublade geholt und soll
in der Finanzplanung mit 500 Millionen Euro veranschlagt werden.
Wir waren froh - ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit
an die Adresse der jetzigen Regierung -, dass wir es unter
Rot-Grün im Jahr 1999 geschafft haben, dieses Fiskusprivileg abzuschaffen. Es gab damals sehr gute Gründe dafür. Wenn wir es nicht geschafft hätten, dann hätten wir
jetzt eine Situation, in der es nicht möglich wäre, beispielsweise die Arbeitsplätze bei Karstadt zu retten. Denn
wenn der Vorgriff des Fiskus wieder eingeführt worden
wäre, könnte Karstadt heute auch mit der Perspektive auf
eine Umstrukturierung nicht überleben.
Man muss klar erkennen, dass eine Insolvenzrechtsreform überfällig ist und dass wir verschiedene Dinge erreichen müssen. Nur 2 Prozent aller Fälle gehen in das Insolvenzplanverfahren. Dieser Anteil ist zu gering. Es gibt
Beispiele aus anderen Ländern. Ich nenne beispielsweise
das Chapter-11-Verfahren aus den USA. Das sind gute
Beispiele dafür, wie wir auch in Deutschland zu einer besseren Infrastruktur in Bezug auf die Gerichtszuständigkeit kommen können. Wir müssen außerdem für Klarheit
sorgen, was die qualifizierte Auswahl von Insolvenzverwaltern betrifft und vieles mehr. Es gibt also in der Struktur viel zu verändern, um das von uns allen gewünschte
Ergebnis zu erreichen.
Wir wollen den Unternehmen Zukunftsperspektiven
eröffnen. Die politische Seite kann mehr dafür tun, dass
weniger Unternehmen in die Insolvenz gehen müssen.
Das muss unser aller Ziel sein.
Ich freue mich in dem Zusammenhang auf eine anregende Diskussion. Sie werden Ihre Position jetzt darlegen. Wir sind jedenfalls stolz darauf, dass wir dieses
Thema im Parlament vorangetrieben haben.
Danke schön.
({1})
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Wenn aus der Opposition die Aufforderung kommt,
wir sollten den Koalitionsvertrag schnell und zügig umsetzen, dann freuen wir uns natürlich zunächst einmal
über das Lob, das darin steckt. In der Tat steht im Koalitionsvertrag, dass wir uns des wichtigen Themas annehmen werden, die Chancen für die Sanierung strukturell
gesunder Unternehmen oder Unternehmensteile zu verbessern.
Ich bedanke mich für dieses Lob, indem ich meine
Rede mit guten Nachrichten beginne. Wir sind ziemlich
weit mit unserer Arbeit vorangekommen. Wir arbeiten in
der Koalition sehr gut zusammen und werden einen Gesetzentwurf in Kürze vorlegen. Man sieht, dass wir in
der Tat auf einem guten Weg sind.
Bei unserer Arbeit ist uns der Blick auf die Praxis sehr
wichtig. Denn es geht nicht darum, eine komplizierte
rechtliche Konstruktion einzuführen, sondern wir wollen
etwas hinbekommen, das in der Praxis auch wirkt. Deshalb stehen wir in einem intensiven Dialog mit der Fachwelt, zuletzt im Rahmen eines Kolloquiums im Bundeswirtschaftsministerium.
Es ist klar: Wir müssen die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass Sanierungen besser möglich werden, dass
nicht unnötig Werte zerstört werden und Arbeitsplätze
verloren gehen. Wenn man genau hinschaut - die Beachtung dieses Punktes ist damals bei der Insolvenzordnung
ein bisschen versäumt worden -, dann geht es gar nicht
so sehr um rechtliche Dinge, sondern sehr viel um Psychologie und Zeitabläufe, um Zuständigkeiten bei Gericht und um Anreize, die durch Honorarregelungen gesetzt werden. Man muss sich sehr genau anschauen, wo
es Fehlanreize gibt, und man muss verhindern, dass die
handelnden Personen sich leichtfertig für Insolvenzpläne
entscheiden.
Wir werden dazu in Kürze ein gut durchdachtes und
zielführendes Paket vorlegen. Ich erlaube mir, einige
Punkte daraus zu verraten, weil die Neugier anscheinend
ziemlich groß ist. Schwerpunkte werden sein: die Ergänzungen im Insolvenzplanverfahren und die Stärkung der
Eigenverwaltung. Etliches ist bereits in der 16. Wahlperiode diskutiert worden. Obwohl vieles auf dem Tisch
lag, sind wir nicht weitergekommen. Wir konnten uns in
einzelnen Punkten nicht einigen, sonst hätten wir das
schon erledigt.
Aus der Analyse ergibt sich Folgendes: Nach zehn
Jahren stellen wir fest, dass sich die damaligen Erwartungen an die Insolvenzordnung nicht in vorgegebenem
Maße erfüllt haben. Die Annahme, dass ein Insolvenzplanverfahren immer die bessere Lösung für die Quote,
also sowohl für den ungesicherten Gläubiger als auch für
die Arbeitnehmer ist, hat sich bestätigt. Trotzdem müssen wir an dieser Stelle nachlegen. Die Wirtschaftskrise
hat die Notwendigkeit hierfür verstärkt. Wir erwarten für
dieses Jahr etwa 36 000 Insolvenzen.
Warum gelingt eine Sanierung im Planverfahren so
selten? Welche Hindernisse gibt es? Das Insolvenzplanverfahren ist ziemlich komplex. Es kann nur gelingen,
wenn alle ihren Beitrag dazu leisten: die Schuldner, die
Gläubiger, die Insolvenzverwalter und das Gericht. Die
Gläubiger müssen die Chance sehen, dass sie mit dem
Insolvenzplanverfahren letztendlich eine höhere Quote
erzielen als bei einer Zerschlagung. Oft nehmen sie nicht
den Spatz in der Hand, weil sie die Taube auf dem Dach
für realistisch halten. Von ihnen wird eventuell sogar
neues Kapital erwartet, was in der Praxis häufig fehlt.
Die Bereitschaft, neues Kapital einzubringen, werden
Gläubiger nur dann haben, wenn sie deutlich früher Einfluss auf die Entscheidungen des Insolvenzverfahrens
bekommen, wenn sie bereits zu Beginn auf die Auswahl
des Verwalters einwirken können und dessen Entscheidungen nicht einfach hinnehmen müssen. Deshalb wollen wir diese Möglichkeit stärken und die Gläubiger
deutlich früher in den vorläufigen Gläubigerausschuss
einbeziehen, damit wesentliche Entscheidungen nicht an
ihrem Sachverstand vorbei getroffen werden.
Wir wollen die Rechte der Anteilseigner in den Plan
einbeziehen, sodass die Forderungen der Gläubiger
durch den Debt-Equity-Swap in Eigenkapital umgewandelt werden können; denn man kann nicht von den Gläubigern erwarten, dass sie neues Geld einbringen, wenn
die Anteilseigner ungeschoren davonkommen, sich aber
die Erfolge der Sanierung lediglich bei denjenigen auswirken, deren Anteile vorher einen wirtschaftlichen Wert
von null hatten.
Wir werden außerdem die obstruierenden Gläubiger,
die vernünftige Lösungen torpedieren, in ihren Möglichkeiten beschränken. Natürlich darf niemand durch einen
Insolvenzplan schlechtergestellt werden, als er es sonst
wäre. Aber wer darüber hinaus noch etwas möchte und
gegen den gemeinsam erarbeiteten Plan vorgeht, der
muss seine Interessen künftig außerhalb des Plans verfolgen. Er darf damit nicht die ganze Sanierung in Gefahr bringen.
Die Bereitschaft der Gläubiger, ihre Forderungen erst
einmal stehen zu lassen und Kapital für eine Sanierung
zur Verfügung zu stellen, ist essenziell. Deshalb müssen
wir in der Tat das Fiskusprivileg sehr kritisch prüfen.
Das hat die Regierung in ihrem Sparpaket vorgesehen.
Wir im Parlament müssen uns die Freiheit nehmen, das
kritisch zu hinterfragen;
({0})
denn es darf nicht dazu führen, dass das Finanzamt mit
seiner gut gesicherten Forderung einer Sanierung das
Wasser abgräbt und sich zunächst selbst bedient. Dann
hätten wir für die Sanierung nichts mehr übrig und könnten alle Überlegungen einpacken. Das hat mit dem hochgehaltenen Grundsatz der par conditio creditorum nichts
mehr zu tun. Deshalb müssen wir überlegen, was zu tun
ist. Vielleicht fällt uns eine Alternative ein, die man als
Gegenvorschlag bringen kann.
Für die Gläubiger ergeben sich drei wesentliche Verbesserungen: frühere und deutlich effizientere Mitwirkung, der
Debt-Equity-Swap und der Schutz vor obstruierenden Gläubigern, die eine wirtschaftliche Gesamtlösung nicht mittragen wollen. Das sind die wesentlichen Schritte, über
die lange diskutiert worden ist. Jetzt schreiten wir endlich
zur Tat.
Der Schuldner - das ist ein Befund - ignoriert die Krisensignale oft konsequent und unternimmt untaugliche
Rettungsversuche, bevor er irgendwann doch den Insolvenzantrag stellt. Doch dann ist das Kapital weg, das man
für eine Sanierung gebraucht hätte. Wir wollen die Eigenverwaltung stärken und damit die Hemmschwelle für einen frühzeitigen, rechtzeitigen Insolvenzantrag senken.
Ich denke, das ist wirklich innovativ; denn eine Insolvenz
in Eigenverwaltung mit einem Sachwalter an der Seite hat
einen ganz anderen Charakter als ein Verfahren, in dem
man einen Insolvenzverwalter vor die Nase gesetzt bekommt. Bei der Eigenverwaltung bleibt man nach außen
derjenige, der handelt und die Geschäfte führt.
Bisher ist es aber sehr ungewiss, ob man mit dem Antrag auf Eigenverwaltung durchkommt. Der Schuldner
kann das nicht steuern. Das wollen wir ändern. Wir wollen, dass das Gericht in Zukunft deutlich mehr Anträge
auf Eigenverwaltung positiv bescheidet. Dazu soll zum
einen beitragen, dass das Gericht die Ablehnung des Antrags begründen muss. Zum anderen sollte es ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung geben, damit es in deutlich mehr Fällen - jetzt haben wir eine 1-Prozent-Marge
bei der Eigenverwaltung - so gehandhabt wird.
Außerdem wollen wir eine frühzeitige Antragstellung
belohnen. Derjenige Schuldner, der schon bei drohender
Zahlungsunfähigkeit den Antrag auf Eigenverwaltung
und Insolvenz stellt, soll vom Gericht Hinweise erhalten,
wenn es eine Eigenverwaltung nicht zulassen will, sodass
der Antrag dann sogar zurückgenommen werden kann.
Das ist wie ein Freischuss, den man ohne Risiko unternehmen kann, ohne die Gefahr, dass das Ganze eine Eigendynamik entwickelt. Ich denke, das ist eine ziemlich
gute Idee. Das ist ein wirkliches Angebot an den Schuldner und ein Anreiz, die Sanierungsmöglichkeiten frühzeitig zu nutzen.
({1})
Ein weiterer Mosaikstein ist die Einschränkung des
Vorbefassungsverbots. Wir wollen es ausdrücklich ermöglichen, dass der Schuldner mit dem Sanierer, mit dem
er einen guten Plan entworfen hat, in das Insolvenzverfahren geht, wenn die Gläubiger zustimmen. Das kann
sehr sinnvoll sein, weil man dann keinen Bruch hat und
sich nicht auf einen neuen Insolvenzverwalter einstellen
muss. Dieser Sanierer ist an Weisungen übrigens nicht gebunden.
All das bietet zusammen die Möglichkeit, dass man
mit einem vorbereiteten Sanierungsplan, den Schuldner,
Gläubiger und ein sachkundiger Sanierer zusammen entwickelt haben, in das Insolvenzverfahren geht und seine
Möglichkeiten nutzt. Praktisch geht man mit einem Prepacked Plan in das Insolvenzverfahren. Das ist ein echtes
Angebot, mit dem wir den Bedarf nach einem vorgerichtlichen, vertraulichen Sanierungsverfahren weitgehend decken.
Das hat vor allem den Vorteil, dass das geregelte Insolvenzverfahren letztlich nicht durch erfolglose Sanierungsbemühungen verzögert und am Ende schwieriger
wird. Es hat außerdem den Vorteil, dass es klar definierte
Regeln gibt. Man weiß, mit welchen Mitteln man agieren kann: Anfechtung bzw. Lösung von unbequemen
Verträgen und Insolvenzgeld für die Arbeitnehmer. Es
gelten aber auch klare Publizitätsvorschriften. Ich denke,
das ist der bessere Weg und sinnvoller, als dem Stigma
der Insolvenz mit Vertraulichkeit zu begegnen. Lieber
wollen wir einen offenen Umgang mit der Insolvenz, sodass der Markt weiß, woran er ist. Wir wollen die Krise
nicht geheim halten und die anderen ins offene Messer
laufen lassen, sondern sagen: Wir sind in der Insolvenz,
versuchen aber die Sanierung und haben gute Chancen.
Dann weiß jeder, woran er ist. Das ist aus unserer Sicht
der bessere Weg.
({2})
Ganz kurz kann und möchte ich auf weitere Punkte
eingehen: Die Professionalisierung der Gerichte steht auf
der Agenda. Das betrifft zum einen die Zentralisierung
der Gerichtsstände, aber auch die funktionale Zuständigkeit von Richtern und Rechtspflegern. Wenn wir im Insolvenzplan den Debt-Equity-Swap etablieren, dann ist
das ein Eingriff in die Eigentumsrechte. Das setzt die Entscheidung des Richters voraus. Deshalb müssen wir diesbezüglich zu Änderungen kommen.
Die Verwalterauswahl ist sicherlich auch ein wichtiges Thema. Hier ist vieles aber schon ausgeräumt, wenn
die Gläubiger einen besseren und weitergehenden Einfluss bekommen. Wir werden schauen müssen, ob im
Vergütungssystem der Insolvenzverwalter Fehlanreize
bestehen. Die Sonderregeln für die Konzerninsolvenz,
die Insolvenzfestigkeit von Lizenzen und das Verbraucherinsolvenzverfahren sind ebenfalls zu prüfen.
Es steht also eine ganz lange Liste von Punkten an.
Diese Liste gehen wir in sehr konkreten Arbeiten und
Besprechungen an und stehen, wie gesagt, an einigen
Punkten kurz vor einem guten Ergebnis. Natürlich bieten
wir allen an, konstruktiv mit uns zusammenzuarbeiten;
denn gute Ideen sind immer gefragt. In diesem Sinne:
Machen wir uns an die Arbeit!
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat Burkhard Lischka das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Winkelmeier-Becker! Wir haben hier
- ein Stück weit durchaus mit Genugtuung - zur Kenntnis genommen, dass Sie die Arbeit im Insolvenzrecht
aufgenommen haben. Es ist ja auch besonders wichtig,
in der schwersten Wirtschaftskrise der deutschen Nachkriegszeit hier etwas auf den Weg zu bringen. Ich hoffe
nach den Erfahrungen der letzten Tage in Bezug auf die
Sicherungsverwahrung, dass das diesmal zwischen
Union und FDP ein bisschen besser abgestimmt wird.
Dem Thema wäre es sicherlich nicht dienlich, wenn in
diesem Fall ein Entwurf aus dem BMJ kommt, der am
nächsten Tag vonseiten der Union zerrissen wird. Ersparen Sie uns das bitte, koordinieren Sie das ein bisschen
besser.
Die einzig konkrete Maßnahme - das hat Frau Kollegin Scheel eben zu Recht gesagt -, die die schwarz-gelbe
Regierung bisher zum Insolvenzrecht ausgeheckt hat, ist
die im Rahmen des Sparpakets geplante Wiedereinführung des Fiskusprivilegs. Für unsere Zuschauer bei
Phoenix, die nicht wissen, was das ist: Das bedeutet,
dass sich das Finanzamt, wenn eine Firma insolvent
wird, dann schlicht und einfach vorab, vor allen anderen
Gläubigern, also Geschäftspartnern, Lieferanten und
Handwerkern, aus der Insolvenzmasse bedient. Die anderen Gläubiger gucken dann entsprechend in die Röhre
und bleiben auf ihren Rechnungen sitzen. - Ich sage Ihnen vorab: Das wird aus unserer Sicht zu mehr Firmenpleiten führen. Es wird Arbeitsplätze in unserem Land
vernichten. Deshalb wird das auf den erbitterten Widerstand der SPD-Bundestagsfraktion stoßen.
({0})
Man muss sich das einmal vorstellen: Wir haben derzeit schon die wirklich unbefriedigende Situation, dass
von einer unbezahlten Rechnung über 100 Euro im Falle
der Insolvenz am Ende im Schnitt ganze 3,60 Euro für
die Gläubiger übrig bleiben. Bei zwei Drittel aller Insolvenzen gehen die Gläubiger sogar komplett leer aus. Jetzt wollen Sie, dass der Staat die Insolvenzmasse komplett abschöpft. Das ist wirklich unglaublich. Im Klartext
heißt das, dass diese Bundesregierung beabsichtigt,
künftige Bundeshaushalte auch auf Kosten von InsolBurkhard Lischka
venzmassen zu sanieren und sich bei denjenigen zu bedienen, die ohnehin am Boden liegen. Das ist ökonomisch unsinnig, schäbig und ungerecht. Aber ich sage
Ihnen: Sie werden damit Schiffbruch erleiden.
({1})
Das Fatale an diesem Vorschlag ist - das wissen Sie
doch ganz genau -: Wenn von der Insolvenzmasse nichts
mehr übrig bleibt, dann ist an fortführende Insolvenzen
sowie an erfolgreiche Betriebssanierungen gar nicht
mehr zu denken. Stattdessen würden Unternehmen nur
noch abgewickelt, Existenzen und damit viele Arbeitsplätze vernichtet. Das geschieht ausgerechnet in einer
Situation, in der wir - seit dem Jahr 2009 - eine regelrechte Insolvenzwelle haben; allein im ersten Quartal
dieses Jahres ist die Zahl der Insolvenzen noch einmal
um 6,7 Prozent gestiegen.
Wir brauchen eigentlich genau das Gegenteil, nämlich
mehr und frühzeitige Sanierungen. Wir brauchen ein Insolvenzrecht, mit dem versucht wird, möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten. Im Übrigen brauchen wir eine
Politik, die dafür die notwendigen Rahmenbedingungen
auch im Insolvenzrecht schafft. Aber das machen Sie
bestenfalls auf dem Papier. In Ihrem Koalitionsvertrag
- das ist interessant - lehnen Sie das Fiskusprivileg übrigens noch ausdrücklich ab. Darin formulieren Sie - ich
darf einmal zitieren - eigentlich ziemlich eindeutig:
Eine wesentliche Errungenschaft der Insolvenzordnung ist die Gleichbehandlung aller Gläubiger.
Jetzt planen Sie offensichtlich wider besseres Wissen,
genau das Gegenteil zu tun. Das zeigt wieder einmal,
dass bei dieser Bundesregierung Worte und Taten häufig
überhaupt nicht zusammenpassen und Sie ständig genau
das Gegenteil von dem tun, was Sie vorher großspurig
versprochen haben. Aber, wie gesagt, damit werden Sie
Schiffbruch erleiden. Dafür werden wir sorgen.
Danke.
({2})
Christian Ahrendt spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kollegen! Erst einmal danke ich den Grünen für diesen Antrag. Das ist ein
konstruktives Sichauseinandersetzen mit dem Thema,
auch wenn Sie ein bisschen spät dran sind. Wir haben
uns des Themas recht frühzeitig angenommen. Herr Kollege Lischka, ich muss Sie an die letzte Legislaturperiode erinnern. Da haben Sie § 28 e SGB IV eingeführt.
Das ist heute - Gott sei Dank - wegen der BGH-Rechtsprechung totes Recht. Aber wenn Sie hier über Vorrechte reden, sollten Sie sich daran erinnern, was Sie in
der letzten Legislaturperiode selber auf den Weg gebracht haben, und ganz still sein.
({0})
Ich will die Zeit nutzen, um Ihnen einmal kurz darzustellen, wohin die Reise geht; denn dies ist ein Thema,
mit dem man sich sehr sorgfältig auseinandersetzen
muss. Die Kollegin Winkelmeier-Becker hat es schon
angesprochen. Es geht um die Frage: Wie machen wir
für den Mittelstand das Sanieren von Unternehmen attraktiv? Wie ermöglichen wir es einem Unternehmer, der
in der Krise ist, jetzt die Chance der Insolvenzordnung
zu nutzen und sein Unternehmen aus eigener Kraft zu sanieren? Dafür muss man kein neues Sanierungsrecht
schaffen. Vielmehr muss man die Institute, die wir in der
Rechtsordnung haben, schärfen.
({1})
- Hören Sie zu! Dann lernen Sie etwas.
({2})
Wir haben zwei Institute, die dazu geeignet sind. Das
sind das Institut der drohenden Zahlungsunfähigkeit und
das Institut der Eigenverwaltung. Ein zentraler Ansatz
des Gesetzentwurfes, an dem wir zurzeit arbeiten, ist, die
Eigenverwaltung und die drohende Zahlungsunfähigkeit
zu verbinden, damit der sanierungswillige Insolvenzschuldner zu einem sehr frühen Zeitpunkt in das Verfahren gehen kann. Wenn wir zudem erreichen, dass er mit
seinen Gläubigern einen Sachwalter, der ihn durch das
Verfahren begleitet, selbst auswählen kann, dann schaffen wir Planungssicherheit. Damit verhindern wir die
heutige Situation, dass jemand, der ein Sanierungsinteresse hat und sich frühzeitig mit seiner Situation auseinandersetzt, in Unsicherheit gestürzt wird, wenn er vor
Gericht steht und nicht weiß, welchen Insolvenzverwalter er bekommt und wie das Verfahren für ihn läuft.
Diese Planungssicherheit ist für jemanden, der über Sanierung nachdenkt, ein wichtiges Thema.
Als zweiten Punkt wollen wir das Insolvenzplanrecht
wesentlich überarbeiten. Wir brauchen keine verstärkte
Nutzung der Eigenverwaltung, auch nicht bei drohender
Zahlungsunfähigkeit. Wir wollen das Insolvenzplanrecht
so lassen, wie es ist; ansonsten würde es zu überfrachtet
werden. Wir wollen, dass jemand, der die Möglichkeit
der Eigenverwaltung bekommt, in kürzester Zeit verpflichtet ist, einen Plan vorzulegen, damit Gläubiger und
weitere an dem Verfahren Beteiligte wissen, wohin die
Reise geht. Es gibt verschiedene Beispiele in der Praxis,
die zeigen, dass es innerhalb von wenigen Monaten erfolgreich gelingen kann, ein Unternehmen wieder vom
Kopf auf die Füße zu stellen. Das liegt unter anderem
daran, dass das Planrecht sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten bietet.
Eine der Gestaltungsmöglichkeiten, die wir schaffen
- das ist ein wesentlicher Wurf -, besteht darin, im Rahmen des Plans in Eigentumsrechte einzugreifen, insbesondere auf Gesellschafterebene. Das ist die Einführung
des sogenannten Debt-Equity-Swaps, des Umwandelns
von Verbindlichkeiten in Kapitalanteile. Das brauchen
wir; dann haben wir ein Planrecht. Zusammen mit den
anderen Aspekten, die Frau Winkelmeier-Becker schon
vorgestellt hat - ich will sie jetzt nicht wiederholen -,
wird erreicht, dass das Planrecht einfach handhabbar und
beim Sanierungsverfahren konstruktiv ist.
Der entscheidende Punkt bezieht sich - da gebe ich
Ihnen recht - auf den Vorschlag des Finanzministers, das
Insolvenzverfahren mit einem Vorrecht zu belasten.
Wenn das in die Richtung geht, wie ich mir das vorstelle
- ich habe das 15 Jahre lang in anwaltlicher Praxis gemacht -, dann wird es im Wesentlichen nicht mehr um
die Frage des Vorrechtes gehen. Denn die Kernfrage,
über die wir uns am Ende des Tages unterhalten müssen,
ist: Brauchen wir noch ein Vorverfahren? Wenn jemand,
der drohend zahlungsunfähig ist, einen Eigenverwaltungsantrag stellt und wir unterstellen, dass er redlich ist,
und es beim Vorverfahren nur um die Frage geht, ob die
Mittel im Unternehmen ausreichen, um die Gerichtskosten und die Kosten des Verwalters zu bezahlen, dann
können wir uns das Vorverfahren möglicherweise sparen. Das heißt, mit dem Antrag auf Eigenverwaltung bei
drohender Zahlungsunfähigkeit wird auch sofort, ohne
weiteren Zwischenschritt, das Insolvenzverfahren eröffnet mit der Folge, dass die Vorrechtsfrage gar nicht entsteht.
({3})
Denn wenn das Unternehmen in diesem Verfahrensstadium fortgeführt wird, sind alle Verbindlichkeiten, die in
§ 55 der Insolvenzordnung genannt werden, automatisch
Masseverbindlichkeiten. Dann entsteht die Situation,
dass Sie Gläubiger und Schuldner ohnehin gleichmäßig
im Rahmen einer Fortführung des Unternehmens bedienen müssen; das ist Bestandteil einer Sanierung. Insofern erledigt sich genau an dieser Stelle die Vorrechtsfrage.
({4})
- Die 500 Millionen Euro kommen aus der Fortführung
des Unternehmens, weil das Unternehmen weiter am
Markt tätig ist, seine Arbeitnehmer bezahlen kann, seine
Steuern bezahlen kann und im Grunde genommen weiterhin erfolgreich am Wirtschaftsleben teilnimmt.
Das ist die Planung. Ich gehe davon aus, dass wir in
der Sommerpause an diesem Gesetzentwurf arbeiten
werden und ihn dann im Herbst vorliegen haben. Danach
werden wir gerne mit Ihnen in den Ausschüssen über
diesen Weg diskutieren. Wir haben dann in kürzester
Zeit umgesetzt, was wir von der FDP-Fraktion schon in
der Opposition mit unserem Antrag vom März letzten
Jahres auf den Weg gebracht haben. Das ist konstruktives, schnelles Regierungshandeln für den Mittelstand.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Richard Pitterle spricht für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für das Jahr 2010 werden 40 000 Unternehmensinsolvenzen erwartet. Daher ist das heutige Thema
sehr aktuell. Die in der Insolvenzordnung vorhandenen
Möglichkeiten eines Insolvenzplanverfahrens wurden
kaum genutzt; da stimme ich zu. Auch ist die Aussage
im Antrag der Grünen richtig, dass wir das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren im Interesse des Erhalts vieler
Unternehmen und damit auch der Arbeitsplätze dringend
benötigen. Im Antrag wird die Regierung aufgefordert,
einen Gesetzentwurf vorzulegen. Medienberichten von
vor zwei Tagen entnehme ich, dass ein solcher Entwurf
bereits in der Schublade der Justizministerin liegt. Da
wird es Zeit, die Schublade zu leeren, damit wir im Parlament zur Diskussion und Beschlussfassung kommen.
Ich frage mich: Warum ist die Bundesregierung so lange
untätig geblieben? Ich sage aber auch: Besser spät als
nie.
Grundsätzlich begrüßen wir Linke die Stoßrichtung
des vorliegenden Antrags. Wenn man das Insolvenzrecht
reformieren will, muss man meines Erachtens auch die
Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedenken; denn nur mit motivierten Beschäftigten ist eine
Sanierung von Unternehmen überhaupt denkbar. Hier
besteht bei dem Antrag Ergänzungsbedarf.
({0})
In meiner Tätigkeit als Fachanwalt für Arbeitsrecht
habe ich wiederholt Fälle erlebt, in denen der Insolvenzverwalter von den Beschäftigten gefordert hatte, ihre bereits erhaltene Arbeitsvergütung zurückzuzahlen. Das
muss man sich vorstellen: Da bekommt ein Arbeitnehmer sechs Monate lang die Hälfte des vertraglichen
Lohns, bleibt trotzdem im Betrieb, weil der Chef sagt, es
sei Land in Sicht; dann folgt die Insolvenz und der Insolvenzverwalter will von ihm Geld zurück. - Das müssen
Sie einem solchen Arbeitnehmer erklären; er versteht die
Welt nicht mehr. Doch nach § 130 Insolvenzordnung
sind Lohnansprüche anfechtbare Gläubigerforderungen
im Insolvenzverfahren anstatt geschützte Masseforderungen. Ich finde, das müssen wir ändern.
({1})
Genauso ungerecht ist es, wenn sich Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Rahmen von Umstrukturierungsmaßnahmen bereit erklären, gegen eine Sozialplanabfindung aus dem Betrieb auszuscheiden; geht der Betrieb
dann in die Insolvenz, gehen sie leer aus und müssen ihren Abfindungsanspruch zur Insolvenztabelle anmelden.
Zusammen mit dem DGB sind wir der Meinung, dass
die Ansprüche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis Vorrang vor anderen
Gläubigeransprüchen haben müssen. Genau so ist es im
französischen Insolvenzrecht geregelt; das wollen wir
auch hier.
({2})
Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die
Auszahlung des Lohns von existenzieller Bedeutung,
({3})
ganz im Gegensatz zum Beispiel zur finanzierenden
Bank, die legitimerweise ihre Kreditraten erhalten
möchte, jedoch nicht in gleicher Weise darauf angewiesen ist.
Genauso wichtig ist es, dem Betriebsrat ein Vetorecht
gegen die Einsetzung eines Insolvenzverwalters einzuräumen. Während sich früher in Deutschland circa
50 Insolvenzverwalter um die Aufträge durch das Insolvenzgericht bemühten, sind es heute circa 2 000. Jeder,
der sich in dem Bereich nur ein wenig auskennt, weiß jedoch: Mehr Quantität geht hier nicht mit mehr Qualität
einher. Daher bin ich mir an dieser Stelle mit den Antragstellern einig, dass Regelungen zur Auswahl der Insolvenzverwalter dringend nötig sind.
({4})
Im Interesse der betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer fordern wir insbesondere eine bessere Absicherung der Arbeitszeitkonten und der Altersteilzeit im
Blockmodell gegen die Insolvenz, die Streichung der
verkürzten Kündigungsfristen und der Namenslisten in
der Insolvenzordnung, eine Verbesserung der Insolvenzgeldregelung sowie die Verankerung von Ansprüchen
des Betriebsrats auf Auskünfte zum Stand des Verfahrens gegenüber dem Insolvenzverwalter in der Insolvenzordnung.
Wie Sie sehen, gibt es viel zu diskutieren. Es ist
höchste Zeit, damit anzufangen. Ich sehe: Meine Zeit ist
abgelaufen.
({5})
Daher kommt jetzt das Wichtigste: der Schluss.
({6})
Sie haben die Redezeit auf die Minute genau eingehalten. Das war sozusagen fast protestantischer Redezeitethos.
Die nächste Rednerin ist Sonja Amalie Steffen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das vor rund zehn Jahren eingeführte Insolvenzplanverfahren ist ein sehr sinnvolles Instrument in
der Insolvenzordnung. Das wurde heute schon festgestellt; darin sind sich alle Anwendenden ausnahmsweise
einig. Der Insolvenzverwalter erstellt im Zuge dieses
Verfahrens ein vom zuständigen Gericht abzusegnendes
Sanierungskonzept für das Unternehmen und verhandelt
mit den Gläubigern über Verzichtsmöglichkeiten. Darüber hinaus kann das Unternehmen Insolvenzgeld in
Anspruch nehmen. Das ist eigentlich ein sehr sinnvolles
Verfahren, könnte auf diesem Weg doch ein Großteil der
sanierungsfähigen Unternehmen tatsächlich gerettet
werden. Prominente Beispiele für ein gelungenes Insolvenzplanverfahren sind die großen Firmen Ihr Platz,
Sinn-Leffers und Herlitz.
Das Verfahren bietet aber nicht nur für Schuldner Vorteile. Ziel des Insolvenzplanverfahrens war auch eine
bessere Gläubigerbefriedigung. So sind zum einen die
Befriedigungsquoten im Planverfahren durchschnittlich
um ein Vielfaches höher als im normalen Regelverfahren
- das haben wir heute schon gehört -, nämlich bei rund
20 Prozent der Forderung im Vergleich zu 3 bis
5 Prozent im Regelverfahren. Zum anderen erhalten die
Gläubiger ihr Geld oftmals bereits innerhalb weniger
Monate und nicht erst nach Jahren.
Anhand des Kriteriums Arbeitsplatzsicherung lässt
sich ein weiterer positiver Effekt des Planverfahrens ausmachen. Seit 2003 waren schätzungsweise rund 30 000
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vom Insolvenzplanverfahren betroffen. Gut die Hälfte dieser Stellen
konnte dadurch bislang erhalten bleiben, mit positiven
Auswirkungen im Hinblick auf Steuereinnahmen und
soziale Sicherungssysteme.
Doch wird das Insolvenzplanverfahren viel zu selten
in Anspruch genommen. Nach Hochrechnungen gab es
im vergangenen Jahr in Deutschland rund 29 800 Firmenpleiten. Vorhin haben wir schon gehört: In diesem
Jahr werden es voraussichtlich 36 000 sein; wir hoffen,
dass es in den kommenden Jahren nicht noch mehr werden. Im letzten Jahr wurde jedoch für nur 640 Unternehmen ein Insolvenzplan erstellt. Das sind tatsächlich nur
2,15 Prozent der Fälle. Das heißt, dass rund 98 Prozent
der insolventen Betriebe nach wie vor zerschlagen werden, und das bei einer gleichzeitig leider steigenden Zahl
von Insolvenzen vor allem bei kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Ein Grund für die mangelnde Inanspruchnahme des
Insolvenzplanverfahrens ist, dass der Insolvenzantrag
oftmals erst dann gestellt wird, wenn die Masse des Unternehmens schon aufgebraucht ist und kein Handlungsspielraum mehr vorhanden ist. Außerdem bestehen
strukturelle Mängel beim Insolvenzplanverfahren. Viele
Insolvenzverwalter kritisieren, das Planverfahren sei zu
kompliziert, und wenden es daher nicht an. Es bedarf
also einer verbesserten fachlichen Qualifikation für das
Handeln der Insolvenzverwalter, der Richter und der
Rechtspfleger.
({0})
Darüber hinaus versagen die Gerichte zu oft die Eigenverwaltung. Die Insolvenzordnung sieht schon
gegenwärtig die Möglichkeit vor, dass die bisherige Unternehmensleitung den Insolvenzplan selbst umsetzt und
die Geschäfte fortführt. In der Praxis hat sich die Eigenverwaltung bislang jedoch leider nicht durchgesetzt.
Entsprechende Anträge finden bei Gericht viel zu selten
Gehör. Vermutlich ist das Misstrauen zu groß, denselben
Menschen die Sanierung des Unternehmens zu überlassen, die es zuvor nicht vor der Insolvenz bewahren konnten. Will man das Insolvenzplanverfahren stärken, so ist
ein Vertrauensvorschuss zwingend notwendig. Die Ei5696
genverwaltung sollte grundsätzlich gewährt werden,
wenn ein plausibler Insolvenzplan vorgelegt wird und
der Antrag frühzeitig, also nicht erst bei Vorliegen eines
zwingenden Insolvenzgrundes, gestellt wird.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält diese Anregungen und wird von uns daher voll unterstützt. Es freut uns natürlich, dass die Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nun ebenfalls Gesetzespläne im Hinblick auf Änderungen beim
Insolvenzrecht für Firmen angekündigt hat; Einzelheiten
wurden uns bereits von der Frau Kollegin WinkelmeierBecker erläutert. Es bleibt zu hoffen, dass das unselige
Fiskusprivileg zumindest im Zusammenhang mit dem
Insolvenzplanverfahren abgeschafft wird.
Abschließend möchte ich an dieser Stelle unsere frühere Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zitieren:
Sanieren statt zerschlagen ist das oberste Gebot der
Stunde - es geht vor allem um den Erhalt von Arbeitsplätzen.
({1})
Es ist sehr sinnvoll, dass sich der Deutsche Bundestag
nun dafür einsetzt, das Insolvenzrecht stärker auf die
Rettung von Unternehmen auszurichten.
Vielen Dank.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2008 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der geänderten Bankenrichtlinie und der geänderten Kapitaladäquanzrichtlinie
- Drucksachen 17/1720, 17/1803 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/2472 -
Berichterstattung:
Abgeornete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stabilisierung des Finanzsektors - Eigenkapitalvorschriften für Banken angemessen
überarbeiten
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten
Kapitaladäquanzrichtlinie
- Drucksachen 17/1756, 16/13741, 17/2472 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Linken und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
kommen heute das letzte Mal vor der Sommerpause zum
Thema Finanzmarkt zusammen. Wir haben uns in den
letzten neun Monaten des parlamentarischen Jahrs ziemlich oft mit diesem Thema befasst. Das ist auch ganz gut
so, weil es weiterhin gilt, Lehren aus der Bankenkrise zu
ziehen. Wir haben dabei entdeckt, dass wir uns in einem
Spannungsfeld befinden, einem Spannungsfeld aus dem,
was national wünschenswert ist, und dem, was international umsetzbar ist. Wir haben erkannt, dass die meisten
Regeln nur dann Sinn machen, wenn sie international
umgesetzt werden. Dabei sind wir an unsere Grenzen gestoßen, ganz frappierend wieder in Toronto. Bestimmte,
wichtige Länder haben uns gesagt: Das ist eure Krise;
das ist nicht unsere Krise. - Dazu gehören die Chinesen,
die Australier, die Koreaner, die Kanadier und viele andere. Insofern bin ich froh, dass wir heute über zwei Vorhaben beraten, die auf internationalen bzw. europäischen
Vorgaben beruhen.
Wir wollen heute in zweiter und dritter Lesung ein
Gesetz zur Umsetzung der geänderten Bankenrichtlinie
und der geänderten Kapitaladäquanzrichtlinie verabschieden. Das heißt, wir wollen europäisches Recht in
deutsches Recht überführen. Darüber hinaus - das finde
ich bemerkenswert - bringen CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag im
Hinblick auf den sogenannten Basel-III-Prozess ein. Wir
alle haben uns mit beiden Vorhaben intensiv befasst. Wir
haben durchaus sehr oft Einigkeit erzielt. Als ein Ergebnis dieser Beratungen werden wir heute über eine ganze
Reihe von Änderungsanträgen zum ursprünglichen Gesetzentwurf zu beraten haben. Wir werden auf Antrag
der Opposition in der heutigen Debatte noch über einen
dritten Punkt sprechen, nämlich über die Finanztransaktionsteuer. Auch da liegen wir inhaltlich gar nicht so
weit auseinander, wie es manchmal scheint.
Ich möchte im Folgenden alle drei Blöcke kurz erläutern. Zuerst zur geänderten Bankenrichtlinie und Kapitaladäquanzrichtlinie. Es handelt sich hier um ein sehr
umfangreiches Paket von Regulierungsmaßnahmen für
Finanzdienstleister, für die Bereiche Eigenkapital, Großkreditgrenzen, Verbriefungen, europäische Aufsicht,
Pfandbriefrecht und viele andere, kleine Punkte. Für den
Laien hört sich das nicht sehr spannend an, ist es aber
trotzdem; denn durch dieses Gesetz wird sich viel verändern. Ich will versuchen, diese komplizierte Materie in
möglichst einfachen Worten verständlich zu machen. Ich
möchte dabei auf zwei große Punkte dieses Gesetzentwurfs eingehen.
Erstens, zu den Großkreditgrenzen. Dahinter steckt
die Überlegung, dass es für eine Bank ein großes Risiko
ist, zu hohe Kredite an einen Kreditnehmer herauszulegen. Man möchte vermeiden, dass durch die Schieflage
eines einzelnen Kunden ein ganzes Institut gefährdet
wird. Wie hoch ein Kredit sein wird, hängt von der
Größe der Bank ab. Diese Regelung galt bislang aber leider nicht für Kredite, die sich Banken untereinander gegeben haben. Das musste geändert werden; das ist eine
Konsequenz aus der Krise. Insofern ist es gut und richtig, dass wir das mit diesem Gesetz tun.
Zweitens, zu den Verbriefungen. Das ist für mich eindeutig der Teil des Gesetzentwurfs, der am meisten verändern wird. Man spricht von Verbriefungen, wenn zum
Beispiel eine Bank eine Kreditforderung an eine andere
Bank weiterverkauft. Das hört sich zunächst sehr harmlos an, war aber ein wesentlicher Grund für die Finanzkrise im Oktober 2008. Was war passiert? Kredite wurden nicht eins zu eins verkauft, sondern mit anderen
Krediten vermischt und dann mehrfach weiterverkauft,
mit dem Ergebnis, dass viele Investoren überhaupt nicht
mehr erklären konnten, was in ihren Büchern steht. So
sind zum Beispiel amerikanische Immobilienkredite im
Depot der deutschen Landesbanken gelandet. Das war
nicht gut.
Im vorliegenden Gesetzentwurf wird nun verlangt,
dass derjenige, der eine Verbriefung kauft, der Investor,
genau darüber Auskunft geben können muss, was diese
Verbriefung enthält. Er muss das Risiko einschätzen und
diese Verbriefung in sein Risikomanagement integrieren.
Das ist gut und richtig. Das ist ein Quantensprung in der
Regulierungsphilosophie; denn gerade die fehlende
Transparenz, die Tatsache, dass viele Bankmanager nicht
wussten, was in ihren Depots lag, war ein Grund dafür,
dass wir 2008 so viele Schwierigkeiten bekommen haben. Transparenz ist der Schlüssel für eine funktionierende Marktwirtschaft, und es ist ordnungspolitisch völlig legitim, dass der Staat regelnd eingreift, wenn diese
Transparenz vom Markt ignoriert wird.
({0})
Insoweit waren wir uns noch alle einig.
Ein zweiter Punkt, der in diesem Bereich geregelt
wird, ist, dass derjenige, der eine Verbriefung auflegt,
zukünftig einen Eigenbehalt leisten muss; er muss einen
Teil des Risikos übernehmen. Die europäischen Regeln
sehen 5 Prozent vor. Damit sind wir hier im Haus nicht
unbedingt auf Einigkeit gestoßen. Die FDP hat auf
10 Prozent gedrängt, die Linken auf 15 Prozent, die SPD
gar auf 20 Prozent. Dahinter steht folgende Philosophie:
Wenn man einen hohen Eigenbehalt leisten muss, wird
man keine schlechten Kredite herauslegen und dann weiterverbriefen. - Die Idee mag richtig sein; einen empirischen Nachweis dafür gibt es allerdings noch nicht.
Wir als Union sehen diesen Eigenbehalt eigentlich
auch nicht als entscheidend an. Für uns sind die Transparenzvorschriften entscheidend. Jeder kann dann entscheiden, was er in sein Depot aufnimmt und in seine
Bücher schreibt. Viele europäische Länder sehen das genauso. Deswegen ist diese 5-Prozent-Regelung eigentlich europäischer Standard.
Nichtsdestotrotz machen wir einen Kompromissvorschlag, um Einigkeit in diesem Haus zu erzielen, weil
wir denken, dass es gut wäre, dieses Gesetz gemeinsam
zu verabschieden: Wir legen auf deutscher Ebene zunächst für zwei Jahre 5 Prozent als Eigenbehalt fest und
werden diesen Anteil dann auf 10 Prozent erhöhen.
Dadurch haben wir Zeit, zu prüfen, ob 10 Prozent,
15 Prozent oder 20 Prozent richtig sind, und vor allen
Dingen haben wir dadurch Zeit, die europäischen Partner davon zu überzeugen, auch auf die 10-Prozent-Regel
überzugehen; denn wenn wir sie nicht überzeugen, müssen wir damit rechnen, dass der Verbriefungsmarkt in
andere Länder, zum Beispiel nach Luxemburg, abwandert. Ich denke, diesen Weg kann man durchaus gehen,
und ich würde mich freuen, wenn Sie von der Opposition diesen Weg mitgingen. Wir können dann immer
noch 15 Prozent oder 20 Prozent einführen, wenn wir
am Ende des Tages bessere Erkenntnisse haben.
({1})
Alles in allem packen wir mit diesem Gesetzentwurf
sehr viele Problembereiche in Bezug auf die Finanzkrise
an. Das ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu besseren und sicheren Finanzmärkten. Ich kann nur um Zustimmung werben.
Zum zweiten Block, zum gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
Basel III. Es gibt ein internationales Expertengremium,
das derzeit Vorschläge zur Verbesserung der Eigenkapitalvorschriften erarbeitet. Dieser Basel-III-Prozess ist
gut und richtig und auch notwendig; denn wir haben in
der Finanzkrise gesehen, dass die Koppelung von Haftung und Risiko nicht mehr gegeben ist. Durch das Ei5698
genkapital wird genau diese Koppelung erreicht. Hier
haben wir Defizite. Um das ernsthaft zu benennen: Das
gilt auch für Deutschland. Deutsche Banken haben teilweise zu wenig Eigenkapital. Hier besteht Nachholbedarf. - Das ist das Gute an diesem Projekt.
Das weniger Gute ist, dass wir erfahren haben, dass
das Basel-III-Projekt, an dem viele Länder beteiligt sind,
genutzt wurde, um Standortpolitik zu betreiben. So haben die Amerikaner im Vorgängerprozess - Basel II sehr, sehr harte Forderungen gestellt, diese im Gegensatz
zur EU aber nicht umgesetzt. Darüber hinaus haben wir
in Deutschland ein einzigartiges Bankensystem, bestehend aus Sparkassen, Volksbanken und Geschäftsbanken, das wir erhalten wollen; das müssen wir berücksichtigen. Daneben ist es auch sehr wichtig, dass die
verschärften Eigenkapitalvorschriften nicht dazu führen, dass wir in eine Kreditklemme geraten, weil sich die
Banken in Deutschland damit beschäftigen, Eigenkapital
aufzubauen, und nicht damit, Kredite herauszugeben. Deswegen brauchen wir Übergangsvorschriften. Das haben wir in diesem gemeinsamen Antrag formuliert. Das
ist gut und richtig, weil sich im Basel-Prozess momentan
viel bewegt. Es werden dort Positionen von Ländern und
Interessenverbänden aufgebaut, und ich glaube, es ist legitim, dass der Bundestag an dieser Stelle eine Gegenposition einnimmt.
({2})
- Jetzt können alle klatschen; das ist ja ein gemeinsamer
Antrag. Sie dürfen auch mitklatschen, Herr Troost.
({3})
- Wir hätten ihn aber gerne dabeigehabt.
Der dritte Punkt beschäftigt sich mit der Finanztransaktionsteuer. Es gibt drei Anträge zur Finanztransaktionsteuer. Nur zur Erklärung: Die Bundesregierung hat als
einzige Vertretung einer großen Volkswirtschaft in Toronto für eine Finanztransaktionsteuer gekämpft, wohl
wissend, dass es schwierig wird. Das Ergebnis ist bekannt: Es ist nicht erfolgreich ausgegangen. Die Bundesregierung wird jetzt zusammen mit Frankreich auf europäischer Ebene versuchen, eine Finanztransaktionsteuer
durchzusetzen. Auch das wird schwierig werden. Ich erinnere nur daran: Steuern müssen einstimmig beschlossen werden. Wenn es auch auf EU-Ebene nicht gelingt,
dies zu erreichen, dann gilt das Versprechen unseres Finanzministers, es dann auf der Ebene des Euro-Raums
zu versuchen. Wenn wir es auf Euro-Raum-Ebene auch
nicht schaffen, dann werden wir versuchen, eine Lösung
hier in Deutschland zu finden. Meine Damen und Herren, wir müssen eine solche Lösung auch finden, weil
wir im Rahmen unseres Sparpakets versprochen haben,
die Banken mit mindestens 2 Milliarden Euro an den
Kosten der Krise zu beteiligen.
Weg, Zeitplan und Absicht sind also definiert. Insofern besteht eigentlich auch überhaupt kein Anlass, einen weiteren Antrag zu diesem Thema zu stellen. Wir
sollten zügig daran arbeiten, diesen Komplex umzusetzen, und darauf verzichten, Anträge für die Galerie zu
machen. Das hilft nämlich niemandem.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen: Bundesregierung und Koalitionsfraktionen haben in
den letzten neun Monaten vier Projekte im Bereich Finanzmarkt abgeschlossen: die Regulierung der Ratingagenturen,
({5})
die Regulierung der Vergütungssysteme, die Einschränkung der Leerverkäufe und heute - in den nächsten zehn
Minuten - die Umsetzung der Kapitaladäquanzrichtlinie.
({6})
Wir werden darüber hinaus nach der Sommerpause
Regelungen zum Anlegerschutz in den parlamentarischen Prozess einbringen. Bis zum Herbst werden wir
- insofern ist es schön, dass die Kollegen vom Rechtsausschuss hier sitzen - das wirkliche Mammutprojekt
Restrukturierung im Bereich der Banken und Finanzinstitute auf den Weg bringen. Das wird epochal sein; das
wird wegweisend sein. Insofern kann man wirklich nicht
sagen, dass diese Bundesregierung und diese Koalition
in diesem Bereich nicht ernsthaft oder langsam arbeiten.
({7})
Auf europäischer Ebene verhandeln wir darüber hinaus über weitere Maßnahmen: die Regulierung von
Hedgefonds, weitere Eigenkapitalregeln, die Regulierung des Derivatehandels, die Neuordnung der Einlagensicherung, die Schaffung von europäischen Aufsichtsstrukturen,
({8})
um nur einige Beispiele zu nennen.
Meine Damen und Herren, wir werden die Banken an
den Kosten der vergangenen und zukünftigen Krisen beteiligen. Wir haben systemrelevante Banken unter den
Schutz des Bundes, des SoFFin, gestellt.
Schließlich kann ich nur sagen - das ist deutlich geworden -: Bundesregierung und Koalitionsfraktionen
haben die Bedeutung des Themas erkannt. Sie arbeiten
hart an den richtigen Maßnahmen, und zwar auf allen
Ebenen: national, europäisch und international. Das Ihnen vorliegende Gesetz und der gemeinsame Antrag sind
ein wichtiger Schritt dazu. Ich werbe daher um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({9})
Manfred Zöllmer hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gab von der Bundesregierung mehrfach die Ankündigung, nun wolle man den Finanzmärkten endlich Daumenschrauben anlegen. Der Kollege Brinkhaus hat eben
ja versucht, das noch einmal zu unterstreichen.
({0})
- Er hat es versucht.
Mit den vorliegenden geänderten Banken- und Kapitaladäquanzrichtlinien können Sie in der Tat für sich in
Anspruch nehmen, die Daumenschrauben mal vorgezeigt zu haben. Ob sie auch angelegt werden, wollen wir
uns jetzt einmal gemeinsam anschauen.
Zuerst das Lob: Mit diesem Gesetzentwurf wird ein
überfälliger Schritt gemacht, um Verantwortlichkeit zu
stärken, Transparenz zu verbessern, einheitliche Standards zu implementieren und damit Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen. Der Kollege Brinkhaus hat das hier
im Detail erläutert. Ich werde es mir schenken, auf Einzelheiten einzugehen, und nur einen Punkt ausführlicher
mit Ihnen diskutieren, und zwar den Punkt Verbriefung.
Der grundlegende Ansatz, den Sie gewählt haben, den
Investor in den Mittelpunkt der Regulierung zu stellen,
ist richtig und nachvollziehbar. Wir begrüßen das. Denn
er muss sich jetzt intensiv mit den Produkten auseinandersetzen und ein entsprechendes Risikomanagement
implementieren. Ich hoffe, dass damit die Zeiten vorbei
sind, in denen es in den USA hieß: Diese Produkte werden an ein paar „stupid Germans“ verkauft - die würden
alles nehmen.
Nun gibt es aber einen ganz wichtigen Dissens zwischen uns, den Sie auch schon angesprochen haben. Es
geht dabei um den Selbstbehalt bei Verbriefungen. Sie
haben eben erläutert, was Verbriefungen sind: Banken
kaufen und verkaufen inzwischen Risiken. Dies hat bei
der Finanzkrise als auslösender Faktor eine ganz wichtige Rolle gespielt. Verbriefungen und Wiederverbriefungen führten schließlich dazu, dass Bankvorstände
nicht einmal die leiseste Ahnung davon hatten, was sie
im Portfolio hatten. Sie hatten sich nur auf die Bonitätsnoten der Ratingagenturen verlassen. Und da die Ratingagenturen klotzig daran verdient haben, haben sie immer
Bestnoten vergeben.
Nun hatten wir im Finanzausschuss eine Anhörung zu
diesem Thema. Diese Anhörung hat sehr deutlich gemacht, dass der Vorschlag der Bundesregierung, bei der
Verbriefung der Kredite einen Selbstbehalt von nur
5 Prozent vorzusehen, keine Verbesserung der Regulierung bedeuten würde; es wäre nur eine Festschreibung
des Status quo.
({1})
Die Sachverständige Frau Dr. Metzger vom Berliner
Institut für Finanzmarktforschung brachte es in der Anhörung auf den Punkt, als sie formulierte, es gebe nur
sehr wenige Verbriefungen, bei denen der Selbstbehalt
des Forderungsverkäufers weniger als 5 Prozent betrage.
Das bedeutet, wenn Sie einen Selbstbehalt von 5 Prozent
im Gesetz festschreiben, dann gibt es keine Veränderung
gegenüber der derzeitigen Praxis.
Sie haben eben deutlich gemacht, dass Sie die
5 Prozent nur für zwei Jahre festschreiben und dann auf
10 Prozent anheben wollen. Wenn aber 10 Prozent nach
zwei Jahren nach Ihrer Auffassung die richtige Größe
sind, Herr Brinkhaus, frage ich Sie, warum das jetzt
nicht der Fall sein soll. Das können Sie nicht plausibel
erklären.
({2})
Dieser Ansatz hat wohl mehr mit koalitionsinternen Problemen als mit ökonomischer Vernunft zu tun.
({3})
- So dünnhäutig sind Sie inzwischen geworden? Das tut
mir aber leid.
Man konnte nämlich im Vorfeld der Presse entnehmen, dass die CDU 5 Prozent und die FDP 10 Prozent
wollte. Dann hat man sich offenkundig auf diesen Kompromiss mit der Zeitschiene verständigt. Kompromisse
sind wichtig, doch dies ist offensichtlich ein fauler Kompromiss zulasten der Finanzmarktstabilität. Hier hat sich
offenkundig die Finanzmarktlobby wieder einmal durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, Daumenschrauben anlegen sieht anders aus. Wir als Sozialdemokraten beantragen 20 Prozent Selbstbehalt, weil wir nicht bereit sind,
Praktiken zu unterstützen, die dazu geführt haben, dass
ein ganzes Finanzsystem in Richtung Abgrund geführt
wurde und nur mithilfe von Milliarden an Steuergeldern
gerettet werden konnte. Dies ist nicht hinnehmbar, Herr
Kollege Brinkhaus. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
({4})
Nächstes Stichwort: Basel III. Sie haben erläutert,
was der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht macht.
Ich stimme Ihnen zu: Es geht wirklich um den Kern einer angemessenen Regulierung, die die Stabilität der Finanzinstitutionen deutlich erhöht. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir haben uns in unserem gemeinsamen
Antrag darauf verständigt, die Bundesregierung aufzufordern, dafür zu sorgen, dass gemäß den G-20-Forderungen künftig jedes Produkt, jeder Akteur und jeder Finanzmarkt reguliert und einer Aufsicht unterstellt wird.
Bezüglich der Frage, ob es eine sogenannte Leverage
Ratio, eine Schuldenbremse für Banken, geben soll, gibt
es unterschiedliche Akzentuierungen. Ich glaube, es war
richtig, dass wir in dem Antrag fordern, erst einmal die
Ergebnisse abzuwarten und dann zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden, ob eine solche Schuldenbremse
für Banken als zusätzliches verpflichtendes und begrenzendes Element der richtige Weg ist. Das wird in den
einzelnen Ländern sehr unterschiedlich gesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man alle Forderungen des gemeinsamen Antrages eins zu eins umset5700
zen würde, dann hätten wir den Finanzmarktakteuren in
der Tat Daumenschrauben angelegt.
Der nächste Punkt ist die Finanztransaktionsteuer. Für
uns Sozialdemokraten war es immer wichtig, die Verursacher der Krise auch an deren Kosten zu beteiligen.
Verursacher sind die Spekulanten und Zocker, die das Finanzmarktkasino betrieben haben. Deshalb sollen sie herangezogen werden. Jedes Gut, das wir in Deutschland
kaufen, ist mit einer Mehrwertsteuer belegt, nur Finanzprodukte sind es nicht. Finanzprodukte werden daher in
Deutschland durch die Steuerfreiheit letztlich subventioniert. Riskante Finanzspekulationen haben uns in die
Krise geführt, die dann nur mit Steuermitteln bekämpft
werden konnte, und eine Subventionierung dieser Produkte ist zutiefst ungerecht.
({5})
Wir haben uns deshalb sehr gefreut, dass Finanzminister Schäuble in einer Rede im Deutschen Bundestag
deutlich gemacht hat, dass er eine solche Steuer jetzt
auch europaweit durchsetzen will. Herr Kollege
Brinkhaus, ich habe mit großem Erstaunen zur Kenntnis
genommen, dass Sie für die CDU/CSU-Fraktion erklärt
haben, dass dies auch deutschlandweit, also national,
eingeführt wird. Ich betone das extra für das Protokoll.
Sie haben es jedenfalls hier so gesagt.
In der Anhörung ist deutlich geworden, dass es ein
ganz wichtiges Signal wäre, wenn der Deutsche Bundestag eine solche Forderung parteiübergreifend unterstützen würde.
({6})
Deshalb haben alle Oppositionsfraktionen jeweils einen
fast wortgleichen Antrag eingebracht, in dem sie die
Aussage des Bundesfinanzministers bekräftigen und unterstützen. Nur die Koalitionsfraktionen haben keinen
Antrag eingebracht.
({7})
Was bedeutet das politisch? Der Minister steht im Regen. Es gibt keine Einigkeit zwischen den Regierungsfraktionen. Das ist leider die Realität der Politik dieser
Bundesregierung: Streit und Konflikt, wohin man
schaut. Vielleicht wird das Wort „Neustart“ zum Unwort
des Jahres.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte überlegen Sie,
ob Sie den Anträgen der Opposition zustimmen können.
Es wäre ein wichtiges Signal, ein Signal der Unterstützung des Finanzministers und ein richtiges Signal in
Richtung Finanzmärkte, dass wir die Daumenschrauben
nicht nur vorzeigen, sondern sie ihnen auch anlegen wollen.
Herzlichen Dank.
({8})
Björn Sänger spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bitte Sie, sich kurz etwas vorzustellen. Stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie seien eine Kfz-Versicherung. Sie bieten ausschließlich Tarife ohne Selbstbehalt an. Jetzt überlegen Sie, welchen Fahrertyp Sie als
Kunden mit einem solchen Angebot gewinnen. Überlegen Sie weiter, welche Auswirkungen das auf die Stabilität Ihres Unternehmens hat. Wenn Sie mit diesen Überlegungen fertig sind, dann überlegen Sie, welche Risiken
denn wohl in Kreditverbriefungen schlummern, wenn es
keinen Selbstbehalt gibt. Wir haben gesehen, dass verbriefte Kredite eine der Kernursachen der Banken- und
Finanzkrise gewesen sind. Deshalb möchte ich darauf
den Schwerpunkt meiner Rede legen, zumal der Kollege
Brinkhaus, bei dem ich mich für die gute und jederzeit
angenehme Zusammenarbeit an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte, auf alles Weitere eingegangen ist.
Es würde nichts bringen, wenn ich das wiederholen
würde. Deswegen werde ich mich auf die Kreditverbriefungen konzentrieren und die Frage stellen, was zu tun
ist.
Dazu möchte ich Ihnen drei Punkte nennen:
Erstens. Man muss einen Selbstbehalt einführen. Ein
gewisser Teil des Risikos muss beim Originator verbleiben. Das ist in der Richtlinie mit der 5-Prozent-Regel gelöst. Zusätzlich muss es Transparenz geben. Der Investor
muss sich einen Überblick über das verschaffen, was in
den Verbriefungen enthalten ist. Bei der Kfz-Versicherung hieße das: Sie müssen das Alter der Fahrer angeben, Sie müssen angeben, ob sie eine Garage haben oder
nicht, und auch die Kilometerleistung pro Jahr spielt
eine Rolle.
Zweitens. Der Selbstbehalt - das ist der Kernpunkt muss hinreichend hoch sein. Dazu haben wir in der Anhörung einiges gehört. In einem Punkt waren sich eigentlich alle einig, nämlich darin, dass 5 Prozent sicherlich nicht der optimale Wert sind, den man allerdings
- auch das wurde gesagt - nicht empirisch bestimmen
kann. Das ist im Übrigen auch die Position des Bankenverbandes und des Bundesverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands, niedergelegt in dem Schreiben, das
wir alle kürzlich erhalten haben. Also kann man davon
ausgehen - wir als Freie Demokratische Partei gehen davon aus -, dass 10 Prozent der nachhaltigere Wert im
Sinne einer effektiven Regulierung sind.
({0})
Für die Kfz-Versicherung hieße das: Je höher der Selbstbehalt, desto niedriger die Prämie. Das ist eine schöne
Analogie.
Drittens. Diese Regeln müssen international kompatibel sein, damit es nicht zu Wettbewerbsnachteilen
kommt. Mit der EU-Richtlinie und der Festlegung auf
5 Prozent ist das EU-weit geregelt, aber das ist nicht der
Wert, den wir möchten. Wir gehen von 10 Prozent aus.
Das ist für uns zunächst einmal die richtige Größe. Denn
wenn man die 10 Prozent einführen würde, wäre ein Verkauf von deutschen Kreditverbriefungen im Ausland
nach wie vor möglich, weil der Selbstbehalt dort nur
5 Prozent beträgt. Problematisch wird es nur, wenn man
sie innerhalb des Landes verkaufen will. Die Frage ist,
was für ein Geschäftsmodell wir überhaupt unterstützen,
wenn wir bei den 5 Prozent bleiben.
Herr Kollege?
Mir ist eine Aussage eines Bankenvertreters in Erinnerung, die ich sehr interessant fand. Er hat gesagt: Wir
müssen unseren Mist in irgendeiner Art und Weise loswerden. - Das ist sicherlich nicht das Geschäftsmodell,
das wir für die Banken in Deutschland haben wollen.
Das sind nicht die Geschäftsmodelle, die wir vorantreiben.
({0})
Herr Kollege, Herr Schick würde gerne eine Frage an
Sie loswerden. Ist das möglich?
Die kann er gerne loswerden. Ich gehe davon aus,
dass es kein Mist ist.
Eben.
Danke. - Sie haben viel zum Selbstbehalt gesagt. Mich
würde in Bezug auf die Anträge der Oppositionsfraktionen interessieren, ob die FDP-Fraktion die Initiative des
Bundesfinanzministers auf europäischer Ebene zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer unterstützt.
Lieber Kollege Schick, wenn Sie meine letzte Rede zur
Finanztransaktionsteuer aufmerksam verfolgt haben, dann
wissen Sie sicherlich, dass ich dort bestimmte Punkte genannt habe, die als Parameter gelten müssen. Wir stehen
einer Finanztransaktionsteuer nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber und unterstützen die internationalen Bemühungen der Bundesregierung, in dieser Hinsicht zu einer Lösung zu kommen. Der Finanzminister wird auch
von der FDP mitgetragen.
({0})
- Davor, dahinter und daneben.
({1})
Damit kommen wir zu einer weiteren Frage. Ich halte
es für die Kernfrage, ob wir die Finanzmärkte wirklich
regulieren wollen oder ob wir so weitermachen wollen
wie bisher. Ich sage für die Freie Demokratische Partei:
Wir wollen die Finanzmärkte regulieren. Wir wollen
eben nicht so weitermachen wie bisher, weil wir aus der
Krise gelernt haben.
({2})
Wir wollen in Europa eine Benchmark setzen. Ich
finde, dass wir eine sinnvolle Lösung ausgearbeitet haben. Wir bleiben zunächst einmal bei den 5 Prozent; so
ist es in der Richtlinie auch vorgesehen. Außerdem wollen wir bereits im Gesetz festschreiben, dass wir nach
zwei Jahren auf 10 Prozent gehen. Damit geben wir der
Branche Zeit, sich auf diese Regelung einzustellen. Wir
geben der Bundesregierung Zeit, in der EU auf eine einheitliche Regelung - 10 Prozent Selbstbehalt - zu kommen. Das halte ich für realistisch.
Herr Kollege Zöllmer, ich komme zu der Frage, welcher der richtige Wert ist. Wir haben zwei Jahre Zeit, um
empirisch zu evaluieren, welcher der optimale Wert ist,
wenn man ihn denn bestimmen kann.
({3})
Ich kann nur wiederholen, was der Kollege Brinkhaus
gesagt hat: Wenn ein anderer Wert als 10 Prozent herauskommt, dann sind wir die Letzten, die einer Änderung
entgegenstehen.
Insgesamt ist es ein logischer Ansatz, der das Gesetz
abrundet und zu einem echten Regulierungsgewinn
führt. Dies ist nicht nur eine Benchmark für Europa. Dieser Gesetzentwurf ist zielführend für die gesamte Welt.
({4})
Der Kollege Axel Troost spricht jetzt für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alles in allem stehen wir hier vor einem recht mutlosen
Gesetzentwurf. Das liegt in ganz erheblichem Maße daran, dass eine relativ mutlose EU-Vorgabe national umgesetzt werden muss. Nach wie vor stellt sich aber die
Frage, welche Rolle die Bundesregierung bei der Entwicklung solcher EU-Vorgaben spielt.
Ich will nicht verschweigen, dass wir uns durchaus
freuen, dass zumindest die Einwände der Opposition und
der Sachverständigen dazu geführt haben, dass es jetzt
über die 5 Prozent hinaus zu einem größeren Selbstbehalt kommt. Dennoch sind wir der Ansicht, dass ein
Selbstbehalt von 10 Prozent viel zu niedrig ist. Das EUParlament war sich relativ lange fraktionsübergreifend
einig, dass 20 Prozent eigentlich der richtige Wert wären,
({0})
bevor dann die Brüsseler Lobbyistenmaschine systematisch gearbeitet und den Wert gedrückt hat.
Wir fordern in unserem Antrag einen Selbstbehalt von
15 Prozent plus dem Anteil der Tranche mit dem höchsten Risiko. Würde man dem folgen, läge der Selbstbehalt
bei 20 Prozent und bei riskanten Geschäften sogar darüber.
Des Weiteren wollen wir - das ist uns noch viel wichtiger - ein konsequentes Verbot der Wiederverbriefung.
Es war gerade das wiederholte Um- und Neuverpacken
von ohnehin wackligen Immobilienkreditpaketen, das die
globale Finanzkrise ausgelöst hat. Diese Praxis der systematischen Risikoverschleierung muss endlich abgestellt werden, und dazu dient unser Änderungsantrag.
({1})
Da ich nur vier Minuten Redezeit habe, möchte ich
nun zu unseren Entschließungsanträgen im Zusammenhang mit der Einführung einer Finanztransaktionsteuer
kommen. Wir haben von Herrn Brinkhaus gehört, dass
es - das ist völlig richtig - ein sehr schwieriges Vorhaben wird, die Euro-Partner zu überzeugen, eine solche
Steuer mitzutragen. Deswegen ist es ungeheuer wichtig,
dass die Bundesrepublik wirklich mit mehr oder weniger
einheitlicher Stimme sprechen kann. Es ist ein Unterschied, ob nur die Bundeskanzlerin, der Finanzminister
oder der Deutsche Bundestag in Verhandlungen für eine
bestimmte Position steht.
({2})
Seit langem haben das belgische Parlament, das französische Parlament und seit kurzem hat das österreichische Parlament entsprechende mehr oder weniger einmütige bzw. einstimmige Beschlüsse gefasst. Ich finde,
es ist schon ein großes Problem, dass wir in der Bundesrepublik das gerade in dieser zugespitzten Situation nicht
zustande bringen. Das heißt letztlich, sich für diese
Steuer nicht entschieden genug einzusetzen. Später werden wir hören, wie kompliziert die Einführung dieser
Steuer auf nationaler Ebene ist. Sie haben die ganzen
letzten Monate argumentiert, dass man sie nur weltweit
oder bestenfalls europaweit einführen könnte. Gehen Sie
da wirklich noch einmal in sich!
Man muss sich das vorstellen: Sämtliche Abgeordnete der Linken haben einen Entschließungsantrag unterzeichnet, in dem es heißt: Wir unterstützen die Bundesregierung in diesem Vorhaben. Mehr Einheitlichkeit
kann man doch eigentlich nicht bieten.
({3})
- Dann haben Sie es wenigstens jetzt mitbekommen.
Wir befürchten ein relativ abgekartetes Spiel. Zumindest im Sommer könnte es so sein, dass Herr Brinkhaus
und Teile der CDU durch das Land laufen und sagen:
„Selbstverständlich sind wir für eine Finanztransaktionsteuer“, während Herr Sänger und die FDP durch das
Land laufen und sagen: Wollen wir doch einmal sehen;
wir werden das schon verhindern. Das führt letztlich
dazu, dass diese Steuer nicht eingeführt werden kann.
Das fände ich wirklich schändlich.
Danke schön.
({4})
Gerhard Schick hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über eine ganze Menge von Richtlinien und Einzelregelungen. Aufgrund der Kürze der
Zeit will ich nur weniges herausgreifen. Unter den vielen
Regelungen befindet sich natürlich auch das eine oder
andere Gute. Insbesondere bei den Verbriefungen gibt es
jetzt eine klare Verpflichtung der Banken - Herr
Brinkhaus, Sie haben es dargestellt -, darauf zu schauen,
was sie in ihren Büchern haben. Man möchte meinen,
das sei selbstverständlich. Es scheint aber notwendig zu
sein, dass der Gesetzgeber das tut.
({0})
Das gilt allerdings auch für andere Gebiete, und dort
ist keine Kontrolle durch den Gesetzgeber vorgesehen.
Ich möchte an eine meiner Erfahrungen im Hypo-RealEstate-Untersuchungsausschuss erinnern. Man konnte
dort sehen, wer alles wie viele ungesicherte Einlagen in
einer Bank hatte, die wackelte. Es wurde deutlich, dass
eine einzelne Bank, in diesem Fall die Bayern LB, über
2 Milliarden Euro bei der Hypo Real Estate angelegt hat.
Angesichts dessen kann man sich ausrechnen, wodurch
die von allen beklagten Dominoeffekte in dieser Krise
zustande kommen: Dies geschieht nämlich, wenn eine
Bank bei einer anderen zu viel „im Feuer“ hat. Die Frage
der Großkredite ist von entscheidender Bedeutung, und
deswegen haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag gestellt. 25 Prozent vom Eigenkapital allein an
eine Bank auszuleihen, ist nämlich zu gefährlich.
({1})
Ich verstehe nicht, warum man beim Wert 25 Prozent
bleibt. Wir haben den Wert 10 Prozent vorgeschlagen,
weil wir glauben: Wenn wir den Dominoeffekt an dieser
Stelle nicht stoppen, dann werden unsere Finanzmärkte
nicht sicher genug.
({2})
Ich will einen zweiten Punkt nennen, den Pfandbrief.
Wir haben an die Gesetzentwürfe zur Umsetzung des
EU-Rechts noch eine Mini-Pfandbriefrechtsnovelle gehängt. Wenn man weiß, welche Bedeutung der PfandDr. Gerhard Schick
brief in der Diskussion um die Bankenrettung hatte - das
war ein zentrales Argument dafür, dass man mit vielen
Milliarden an Steuerzahlergeld bei der HRE eingestiegen ist -, dann kann man bei dem, was die jetzige Regierung in Sachen Pfandbrief tut, auf jeden Fall nicht stehen
bleiben. Das sind nämlich nur Kleinigkeiten.
({3})
Wir haben einen Vorschlag gemacht, der weiter geht,
und wir werden weitere Vorschläge vorlegen. Ich halte
das, was vonseiten der Koalition dazu vorgesehen ist, für
völlig unzureichend. Wir haben gesagt: Die Investoren
brauchen mehr Transparenz, damit eine Unsicherheit:
„Was steckt eigentlich dahinter? Ist das überhaupt noch
sicher?“, erst gar nicht entstehen kann. Sie haben das abgelehnt. Dabei hätte man es in dieser Novelle direkt regeln können.
({4})
Lassen Sie mich noch kurz auf unseren gemeinsamen
Antrag eingehen. Ich bin froh darüber, dass es uns gelungen ist, die Position, die Bundesbank, BaFin und Finanzministerium in den Baseler Verhandlungen bisher hatten,
in ein paar Punkten zu korrigieren. Ich will einen Punkt
herausgreifen, weil er mir sehr wichtig ist, und das ist
die Größenbremse für Banken. Wenn man das Wort „too
big to fail“ - manche Banken sind so groß, dass es ganze
Volkswirtschaften ruinieren kann, wenn sie kippen ernst nimmt, dann muss man fragen: Was tut man eigentlich dagegen? Mit all den Maßnahmen, Herr Brinkhaus,
die Sie genannt haben, ist dieses Problem von der Regierungskoalition bisher nicht beantwortet worden.
({5})
Das gilt auch für das, was Sie noch in der Verhandlung
haben.
({6})
Deswegen ist der Punkt, den wir in den gemeinsamen
Antrag eingebracht haben, so wichtig. Wir brauchen eine
Größenbremse: steigende Eigenkapitalunterlegung bei
wachsendem Bilanzvolumen und größere Liquiditätsanforderungen, je größer das Institut ist; denn große Institute
sind gefährlicher als kleine Institute. Deswegen brauchen
große Institute schärfere Eigenkapitalregeln als kleine Institute. - Sie haben das mit unterstützt. Sie können deswegen jetzt mitklatschen.
({7})
Mein allerletzter Punkt betrifft etwas, was ich für
prioritär halte.
({8})
- Ich will die Zwischenfrage gern zulassen.
Das war für mich leider verdeckt. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Kollege Schick, würden Sie zugestehen, dass bei der Systemik einer Bank nicht nur die
Größe und das Volumen entscheidend sind, sondern
mehr noch ihre Vernetztheit?
Herr Dautzenberg, das kann ich sehr gerne zugestehen. Ich habe meine Rede nämlich genau mit diesem
Problem der Vernetztheit begonnen.
({0})
Deswegen haben wir die Änderung zur Großkreditregelung beantragt. Dabei geht es genau um die Vernetzung.
({1})
Eine Bank darf nicht zu viel Geld bei einer anderen Bank
im Feuer haben. Wir spielen die Fragen „Zu vernetzt?“
und „Zu groß?“ aber nicht gegeneinander aus, sondern
wir versuchen, für beide Probleme Lösungen vorzuschlagen.
({2})
Deswegen Regelungen zu den Großkrediten und deswegen steigende Eigenkapitalunterlegung bei großen Banken. Die Banken sollen eben nicht so groß werden; denn
wir wissen gerade aus der Diskussion, die wir als Finanzausschuss in der Schweiz geführt haben, dass es für
ein Land gefährlich sein kann, wenn eine sehr große
Bank kippt.
({3})
- Beide Probleme sind wichtig, Herr Dautzenberg, nicht
nur das eine und nicht nur das andere.
Der zentrale Punkt ist - da haben Sie mich gerade mit
der Frage unterbrochen; das will ich noch kurz sagen -:
Wir brauchen eine Schuldenbremse für Banken. Es ist zu
gefährlich, wenn Banken auf jeden Euro Eigenkapital
49 Euro Schulden auftürmen, wie das einzelne Banken
in Deutschland tun. Das ist zu riskant. Je mehr Schulden
bezogen auf eine Einheit Eigenkapital gemacht werden,
desto größer ist potenziell die Rendite, aber desto größer
ist auch das Risiko für den Steuerzahler. Bei dieser Frage
entscheidet sich, ob man für Gewinne der Banken oder
für die Sicherheit der Gelder der Steuerzahler ist. Deswegen fordere ich Sie auf, das Thema „Schuldenbremse
für Banken“ endlich auf die Agenda zu nehmen.
Danke schön.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der geänderten Bankenrichtlinie und der
geänderten Kapitaladäquanzrichtlinie. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/2472, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/1720
und 17/1803 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktio-
nen. Dagegen gestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke. Die SPD hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf ist,
den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Bera-
tung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2473. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt bei Zu-
stimmung durch die Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke. Dagegen haben die Koalitions-
fraktionen gestimmt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/2474. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist ebenfalls abgelehnt, mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis wie zuvor.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/2475. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser
Entschließungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenver-
hältnis wie zuvor abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/2472
fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1756 mit dem Titel „Stabilisierung des Finanz-
sektors - Eigenkapitalvorschriften für Banken angemes-
sen überarbeiten“ in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschluss-
empfehlung angenommen bei Zustimmung durch CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die Frak-
tion Die Linke hat sich enthalten.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss, den Bericht der Bundesregierung
auf Drucksache 16/13741 über die Umsetzung der neu
gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapi-
taladäquanzrichtlinie zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Be-
schlussempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({0}), Burkhard Lischka, René
Röspel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Deutschlands Verantwortung für die Gesundheit in Entwicklungsländern - Vernachlässigte
Krankheiten bekämpfen, Kinder- und Müttersterblichkeit verringern und Globalen Fonds
stärken
- Drucksache 17/2135 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten
- Drucksachen 17/1581, 17/2465 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss ({3})
Karin Roth ({4})
Niema Movassat
Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Karin Roth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute beraten
wir den Antrag der SPD zur Verantwortung Deutschlands für die Gesundheit in den Entwicklungsländern.
Armutsbedingte, vernachlässigte Krankheiten sind mitverantwortlich dafür, dass die Lebenserwartung der
Menschen in den Entwicklungsländern bis zu 30 Jahre
unter der der Industrienationen liegt.
Fast 5 Millionen Tote gibt es allein durch die drei großen Krankheiten HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose.
Karin Roth ({0})
Während unserer 30-minütigen Debatte sind wieder
500 Kinder unter fünf Jahren an Krankheiten gestorben,
die leicht zu vermeiden gewesen wären, wenn die Weltgemeinschaft die Kindersterblichkeit - jährlich sterben
insgesamt 9 Millionen Kinder - nicht einfach hinnehmen würde. Es gibt keinen großen Aufschrei, sondern
meist bedauerndes Schulterzucken und beschämte Betroffenheit. Stärkere Reaktionen gibt es angesichts dieser
gnadenlosen Zahlen fast nie. Wie reagieren Politik und
Regierungen in den Industriestaaten? Wie reagieren wir
als Abgeordnete? Werden wir unserer Verantwortung angesichts dieser Zahlen gerecht? Was tun wir, um dies alles zu ändern? Es stellt sich auch die Frage: Was haben
wir getan? Was werden wir tun?
In der vorletzten Woche stand das Thema Bekämpfung der Kinder- und Müttersterblichkeit auf der Tagesordnung des G-8-Gipfels. Leider gab es, wie so oft, viel
Wind um nichts. Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin haben sich wieder einmal verpflichtet, mehr
Geld zur Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit bereitzustellen: 80 Millionen Euro jährlich für die
nächsten fünf Jahre.
Was sind diese Zusagen wert? Bereits vor fünf Jahren
haben die G-8-Staaten 50 Milliarden US-Dollar zusätzlich pro Jahr bis zum Jahr 2010 für die Erreichung der
Millenniumsziele versprochen. Deutschland hat es - das
wissen wir in diesem Hohen Haus - nicht geschafft,
diese Zusage einzuhalten. Auch die neuen Versprechungen finden sich im Haushalt der Bundesregierung für
2011 leider nicht wieder; denn die 80 Millionen Euro
werden innerhalb des Haushaltes umgeschichtet, das
heißt, andere dringende Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit werden gekürzt. Am Ende gibt es nicht
mehr, sondern weniger Geld zur Erreichung der Millenniumsziele. Das ist die bittere Wahrheit.
Das ist ein Offenbarungseid, der durch die lang anhaltende Diskussion über die Kürze der Regierungszeit, die
wir heute schon geführt haben, nicht besser wird;
({1})
denn die Frage ist doch: Wie viel Geld ist in den Haushalten? So wie ich das sehe, ist auch mittelfristig nur
Haushaltskosmetik vorgesehen, aber keine wirkliche
Verbesserung. Beim Thema Gesundheitsvorsorge in den
Entwicklungsländern geht es nicht um die Frage, ob wir
uns das leisten können, sondern ob wir es hinnehmen vor
dem Hintergrund unserer Werte - Herr Minister, Sie betonen das immer - und unserer Moral, dass Millionen
Menschen sterben, obwohl sie zu einem vergleichsweise
geringen Preis gerettet werden könnten.
Es ist zynisch, wenn die FDP im Ausschuss bei der
Frage, ob wir alle gemeinsam darum ringen, dass wir
zum Beispiel durch die Einführung einer Transaktionsteuer nicht nur die Spekulanten an der Wirtschaftskrise beteiligen, sondern einen Teil dieser Einnahmen
für die Bekämpfung des Hungers in der Welt verwenden,
darauf hinweist, dass mehr Geld an der Situation nichts
ändern würde.
({2})
Man sehe am Beispiel von Hartz IV, so die FDP, dass
mehr Geld im System nicht automatisch dazu führen
würde, dass Menschen Arbeit aufnehmen. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Situation ist das zynisch
und obszön. Das haben die Menschen in den Entwicklungsländern nicht verdient.
({3})
Keine Frage: Wir müssen bestrebt sein, dass die Steuermittel, die wir ausgeben, effizient genutzt werden,
nicht nur in den Entwicklungsländern, auch bei uns. Die
Nichteinhaltung der ODA-Quote von 0,7 Prozent durch
eine Effizienzdebatte zu vertuschen und sie gegeneinander auszuspielen, ist durchsichtig und gegenüber den
Partnerländern in hohem Maße unglaubwürdig.
({4})
Die SPD zeigt mit ihrem Antrag, dass der Zugang zu
kostengünstigen Medikamenten ein Schlüssel zur Verbesserung der Gesundheit in den Entwicklungsländern
ist. Gerade jetzt, ganz aktuell, verhandelt die EU mit Indien, der sogenannten Apotheke der Dritten Welt, über
den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten. Die Regierung kann jetzt beweisen, dass sie im Rahmen der EU
dafür sorgt, dass dieser Zugang nicht blockiert wird;
denn dies hätte katastrophale Auswirkungen auf die Arbeit des Global Fund, der eingerichtet wurde, um Aids,
Malaria und Tuberkulose zu bekämpfen. Die erfolgreiche Arbeit des Globalen Fonds wollen wir mit unserem
Antrag unterstützen. Wir fordern daher eine Verdoppelung der Mittel in den nächsten drei Jahren.
Aber was macht die Bundesregierung? Im Haushaltsentwurf werden die Mittel für den Globalen Fonds um
4 Millionen Euro gekürzt, obwohl seine erfolgreiche und
effiziente Arbeit vom Ministerium nicht bestritten wird.
Dafür gibt es aber zum Beispiel im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit 63,5 Prozent mehr Geld, um das Erscheinungsbild des Ministers in den Medien aufzupolieren.
({5})
So viel zur besseren Sichtbarkeit der deutschen Entwicklungspolitik.
Wenn es schon wenig zu verteilen gibt, dann sollte die
Bundesregierung sich auf das Wesentliche konzentrieren. Im Bereich der Gesundheitspolitik heißt das, den
Ausbau von Gesundheitssystemen in den Entwicklungsländern zu fördern und den Bereich Forschung und Entwicklung finanziell zu unterstützen, um zur Bekämpfung
der vernachlässigten Krankheiten, aber auch zur Bekämpfung von HIV und Aids, von Malaria und Tuberkulose beizutragen.
Dabei unterstützen wir auch neue Kooperationen zwischen Pharmaindustrie und öffentlichen Forschungseinrichtungen im Rahmen von sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften. Es geht also um eine
kohärente Strategie, um den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern und die Versorgung mit
medizinischem Personal besser zu organisieren. Die Industrienationen müssen allen Versuchen widerstehen,
Karin Roth ({6})
das medizinische Personal aus den Entwicklungsländern
abzuwerben.
({7})
In Subsahara-Afrika steht für 65 000 Menschen ein Arzt
zur Verfügung, und bei uns kommt ein Arzt auf
294 Menschen. Daraus folgt auch, dass wir mehr Geld in
die Ausbildung des medizinischen Personals investieren
müssen. Auch dadurch erreichen wir mehr Effizienz in
diesem System.
Die komplexe Aufgabe im Bereich der Gesundheit
- ganz zu schweigen von der Bekämpfung des Hungers,
der Verbesserung der Bildung und der Stärkung der
Frauenrechte - zeigt, wie notwendig es ist, dass die
Weltgemeinschaft an einem Strang zieht, die Kräfte bündelt und die Aufgaben verteilt, und zwar gemeinsam.
Multilaterales Denken und Handeln und bilaterale Verantwortung - das sind die zwei Seiten einer Medaille.
Ich denke, das ist notwendig, um den Anforderungen gerecht zu werden und auf der Höhe der Zeit zu sein.
Wer wie die FDP weniger über die Mittel und die
Höhe der Ausstattung diskutiert, sondern mehr über die
Effizienz, der sollte sich die Frage stellen, ob ein großer,
nicht abgestimmter Flickenteppich von Einzelprojekten
wirklich effizient ist oder ob es nicht notwendig ist, eine
Entwicklungspolitik zu machen, die auch Strukturpolitik
ist, damit Nachhaltigkeit erzeugt wird.
({8})
Eine moderne Entwicklungspolitik versteht sich nicht
nur als Hilfe zur Selbsthilfe. Das zwar auch, aber es geht
ihr vor allem darum, finanzielle Mittel einzusetzen, um
nachhaltige Strukturen zu schaffen, die zur Stärkung der
Zivilgesellschaft, zu Transparenz, Kontrolle und Verantwortung führen. Von solchen Konzepten sind Sie, Herr
Minister, doch weit entfernt.
({9})
Gerade im Gesundheitsbereich könnten mit einer sektoralen Budgethilfe einerseits - wir haben gelernt, dass
das bei Ihnen die sozialistische Suppenküche ist; aber
das ist natürlich falsch
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit?
- und der Stärkung des Globalen Fonds andererseits
gute Voraussetzungen geschaffen werden, um Millionen
Menschenleben zu retten. Es geht um nichts weniger als
das.
Frau Kollegin, achten Sie auf die Redezeit!
- Danke schön.
In unserem Antrag haben wir einige Wege aufgezeigt
und Maßnahmen vorgeschlagen. Es wäre gut, wenn Sie
unserem Antrag folgen könnten.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Weiss für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist für uns alle
unstrittig, dass wir uns mit dem jetzigen Stand der Umsetzung der Millenniumsziele nicht zufriedengeben können. Gerade im Bereich der Gesundheitsziele 4 und 5 Frau Roth, Sie erwähnten es - liegen wir weit zurück.
Mehr noch: Es besteht die Gefahr, dass die weltweite
Entwicklung infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise
die Ziele noch schwerer erreichbar macht, als wir uns
das noch vor zwei Jahren haben vorstellen können.
Das darf uns als Abgeordnete, die sich auf die christlichen Grundwerte berufen bzw. das Soziale auf ihre Fahnen schreiben, nicht kaltlassen. Deutschland hat eine
Verantwortung für die Gesundheit in den Entwicklungsländern, und die müssen wir gemeinsam wahrnehmen,
auch wenn dieses Thema nicht gerade für die vielbeschworene Hoheit über den Stammtischen tauglich ist.
Vernachlässigte Krankheiten bekämpfen, Kinder- und
Müttersterblichkeit senken: Wer von uns würde da widersprechen? Hier im Deutschen Bundestag werden wir
niemanden finden, der die Verantwortlichkeit unseres
Staates ablehnt. Draußen im Wahlkreis sieht die Lage allerdings durchaus anders aus. Da nämlich müssen wir
den Menschen erklären, warum wir uns um die Weltgesundheit kümmern und internationale Verpflichtungen in
Milliardenhöhe eingehen, die hier vielleicht zur Senkung
der Krankenkassenbeiträge eingesetzt werden könnten.
Da erleben wir sogar, dass rechtsradikale Rattenfänger
diesen guten Konsens der Demokraten diskreditieren
und für ihre Zwecke ausnutzen wollen. Umso wichtiger
ist es also, dass wir uns einheitlich und machtvoll zu unserer Verantwortung bekennen und dies auch außerhalb
des „Raumschiffes Berlin“ deutlich machen können.
({0})
Frau Kollegin Roth, seien wir doch wirklich froh,
dass der letzte G-8-Gipfel ausdrücklich mehr Geld für
die Umsetzung der Millenniumsziele 4 und 5 in Aussicht
gestellt hat.
({1})
Das ist nämlich ein klares Bekenntnis dazu, die Fragen
der weltweiten Gesundheit mit Priorität zu bedienen.
Das kann keiner bestreiten.
({2})
Sabine Weiss ({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen Antragsteller, ich
tue mich mit einem Forderungskatalog von 34 Einzelpunkten in dem hier zu debattierenden Antrag schwer.
({4})
Es mag ja durchaus sein, dass all diese 34 Punkte gut
und richtig sind. Sie entsprechen auch ohne Zweifel
den wichtigsten Forderungen unserer Partner - seien
sie nun auf der staatlichen Ebene, bei den internationalen NGOs oder den vielen nationalen Entwicklungshilfeorganisationen angesiedelt. Ich verstehe auch den
Wunsch unserer Partner, gerade in Zeiten des knappen
Geldes möglichst viele ihrer begründeten Forderungen
durch einen Beschluss im Deutschen Bundestag mit einem Haken versehen zu wissen.
In der Politik aber - und das ist hier - sind Ehrlichkeit, Realismus und Prioritätensetzung gefragt.
({5})
Mit Verlaub: Bei einem Forderungskatalog von 34 Einzelpositionen vermag ich dies nur schwer zu erkennen.
Wenn wir ehrlich sind, liebe Antragsteller, ist es doch so:
Wenn man die finanziellen Bedürfnisse in Bezug auf
Ihre 34 Forderungen grob überschlägt, hätten Sie diese
selbst in Zeiten von Rot-Grün nicht durchsetzen können.
Und da war von der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise überhaupt noch nichts zu sehen.
({6})
Ich setze auf die Einsicht und den Zusammenhalt derer, die sich ihrer weltpolitischen Verantwortung bewusst sind, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen
Fraktionszugehörigkeit. Wir sorgen uns um die Gesundheit in den Entwicklungsländern. Wir anerkennen
Deutschlands Verantwortung und die führende Rolle des
Globalen Fonds. Wir sehen die enorme Herausforderung, hierfür auch in der globalen Finanzkrise finanzielle
Mittel bereitzustellen. Wir werden uns auch der Herausforderung stellen und uns für mehr finanzielle Mittel
starkmachen. Diese Mittel aber - das ist mein Credo müssen bis auf den letzten Cent effektiv und wirksam
angelegt sein. Dies will ich wissen, bevor ich meine
Hand für Forderungen hebe, egal wie überzeugend sie
auch formuliert sein mögen. Denn das liegt auch - das
muss immer erwähnt werden - im Interesse der deutschen Steuerzahler.
({7})
Es liegt natürlich auch im Interesse der Millionen Menschen weltweit, denen unser Geld nutzen und helfen soll.
Ich denke, wir müssen uns die Mühe machen, wieder
auf die Kernaussagen zu schauen und gemeinsam zu
überlegen, was am erfolgversprechendsten und am wichtigsten ist, statt uns gegenseitig mit möglichst umfangreichen Forderungskatalogen zu überbieten. Wir müssen
es einsehen und akzeptieren: Das Geld, mit dem wir arbeiten können, ist begrenzt. Das wird es in den nächsten
Jahren auch bleiben. Geben wir es also da aus, wo es am
meisten bewirkt. Das ist die große Herausforderung für
die kommenden Jahre.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einigen Tagen wurden wir alle Zeugen eines Trauerspiels.
Da saßen die G 8 in Kanada zusammen und diskutierten
darüber, wie man die UN-Millenniumsziele in den Bereichen Kinder- und Müttergesundheit erreichen kann.
Der Nachholbedarf ist enorm. So wurden im Bereich
der Müttergesundheit gerade einmal 9 Prozent der Millenniumsmarken erreicht. Während die G 8 1 Milliarde
Dollar allein für die Sicherheit ihrer Konferenz ausgaben, waren sie nur bereit, 5 Milliarden Dollar - das ist
ein lächerliches Fünftel des Bedarfs - für die Erreichung
dieser Ziele auszugeben. Damit haben sie sich von ihrem
selbst gesteckten Ziel endgültig verabschiedet.
({0})
Sie von der Bundesregierung haben Ihre eigene unrühmliche Rolle dabei gespielt. Sie sagten nur magere
500 Millionen Dollar zu. Der aktuelle Haushaltsentwurf
deutet darauf hin, dass es sich dabei nicht um neues Geld
handeln wird, sondern vielmehr um Geld, das umgeschichtet wird und damit woanders, bei den Armen und
Ärmsten dieser Welt, eingespart wird. Das ist Betrug zulasten der Entwicklungsländer.
({1})
Ferner müsste die Bundesregierung einen Schwerpunkt auf die öffentliche Forschung zu vernachlässigten
Krankheiten legen. Denn das sind die Krankheiten, an
denen Millionen Menschen in den Entwicklungsländern
sterben. Auf die Pharmaindustrie kann man hier nicht
zählen. Von den etwa 1 500 pharmazeutischen Wirkstoffen, die zwischen 1975 und 2004 entwickelt wurden,
zielten nur 21 auf die Heilung vernachlässigter Krankheiten, einschließlich Malaria und Tuberkulose. Denn
die Pharmaindustrie will Milliardenprofite einstreichen.
Das ist mit Medikamenten gegen Krankheiten, die in armen Ländern auftreten, nicht möglich. Denn es fehlt
schlicht an der zahlungskräftigen Kundschaft. Öffentliche Forschung in diesem Bereich, die neu entwickelte
Wirkstoffe patentfrei und damit für alle frei zugänglich
und bezahlbar macht, würde Menschenleben retten und
ist daher die Forderung der Stunde.
({2})
Es ist gut und richtig, dass der SPD-Antrag feststellt,
dass Patentlizenzen und das System handelbarer geistiger Eigentumsrechte die Herstellung und Verteilung lebenswichtiger Generika behindern oder unmöglich ma5708
chen. Aber ziehen Sie daraus doch bitte den richtigen
Schluss. Auch das TRIPS-Abkommen, auf das Sie sich
positiv beziehen, gefährdet Menschenleben.
({3})
Wir brauchen hier eine grundlegende Revision, die den
Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten gewährleistet. Die Gesundheit und das Überleben der Menschen
in den Entwicklungsländern müssen Vorrang vor den Interessen von Konzernen haben.
({4})
Insofern muss die EU - das wäre ein kleiner Schritt in
die richtige Richtung - beim Freihandelsabkommen mit
Indien auf die Verlängerung von Patentlaufzeiten verzichten. Das würde Hunderttausende Menschenleben
retten. Insgesamt müssen sich die Bundesregierung und
die EU für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung einsetzen. Denn nur dann können Entwicklungsländer funktionierende Gesundheitssysteme aufbauen.
({5})
Nur 0,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens wären nötig, um die deutsche Zusage zur Erreichung der
Millenniumsziele im Gesundheitsbereich zu erfüllen.
Wir sind heute bei gerade einmal 0,03 Prozent. Frau
Weiss, eine aktuelle Umfrage zeigt, dass die deutsche
Bevölkerung durchaus bereit ist, mehr Geld in die Entwicklungshilfe zu stecken.
({6})
Der politische Wille dazu ist nötig; denn es ist finanzierbar. Wir, die Linke, haben hier die Einführung einer
Finanztransaktionsteuer und den Stopp von Rüstungsprojekten als Finanzierungsmöglichkeit vorgeschlagen.
Dafür wäre es jedoch notwendig, dass Sie sich endlich
davon verabschieden, die Interessen der deutschen Wirtschaft, etwa der Pharmaindustrie, der Banken und der
Rüstungsindustrie, über die Interessen der Menschen in
den Ländern des Südens zu stellen.
({7})
Leider sind Sie dazu offensichtlich nicht bereit.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Dr. Christiane Ratjen-Damerau.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Deutschland erfüllt als drittgrößter Geldgeber selbstverständlich seine
Pflicht im Sinne der weltweiten Solidarität und Gerechtigkeit.
({0})
Unser Ziel ist es, die Gesundheit der Weltbevölkerung,
insbesondere der benachteiligten Regionen unserer Welt,
deutlich zu verbessern.
Allein das Problem der schlechten Gesundheitsversorgung von Frauen in der Dritten Welt trifft uns und ruft
uns zum Handeln auf. Die hohe Mütter- und Kindersterblichkeit macht uns ganz besonders betroffen. Es ist
aber schon ein unglaublicher Erfolg, dass beim letzten
G-8-Gipfel das Erreichen der Millenniumsziele im Mittelpunkt stand.
({1})
- Nun warten Sie doch ab! Ich fange erst an; ich bin erst
beim ersten Absatz.
({2})
Maßgeblich ist das übrigens der Bundeskanzlerin
Angela Merkel zu verdanken. Sie hat dafür gesorgt, dass
die Mütter- und Kindergesundheit in den Entwicklungsländern das zentrale Thema auf diesem Gipfel war.
({3})
Die Weltgesundheitsversammlung hat bei ihrem letzten Treffen im Mai eine Resolution zur Verfügbarkeit,
Sicherheit und Qualität von Blutprodukten verabschiedet. Wenn man bedenkt, dass nur 56 Prozent der Testungen von circa 81 Millionen Blutspenden in 178 Ländern
pro Jahr auf Krankheitserreger wie HIV oder Hepatitisviren internationalen Standards entsprechen, dann erkennt man, dass diese Resolution ein wichtiger Schritt
im Hinblick auf die Verbesserung dieser schlechten Lage
ist. Die Zahl der Blutspenden, die gar nicht oder nicht
ausreichend getestet werden - weltweit jährlich 28 Millionen -, muss drastisch gesenkt werden. Das gilt gerade
auch im Hinblick auf die hohe Sterberate von Frauen in
den Entwicklungsländern: Sie ist oft auf einen Mangel
an sicheren Blutkonserven zurückzuführen; durch eine
bessere Testung kann sie eingedämmt werden.
Die WHA hat sich im Mai auch auf anderen Feldern
mit den Millenniumszielen der Mütter- und Kindergesundheit intensiv beschäftigt. Wie Sie richtig festgestellt
haben, konnten wir bis heute trotz aller sonstigen Erfolge gerade bei diesen wichtigen Zielen keine akzeptablen Ergebnisse erreichen: Noch immer erleben 9 Millionen Kinder pro Jahr nicht ihren fünften Geburtstag;
noch immer sterben eine halbe Million Mädchen und
Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder Entbindung.
Richtig ist aber, dass die Stärkung der Gesundheitssysteme vorangetrieben werden muss. Dies betrifft insbesondere die Forschung zur Medikamentenversorgung
bei vernachlässigten Krankheiten und ihre Umsetzung.
Mit einem systemischen Ansatz könnte hier vieles besser
erreicht werden.
({4})
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, es ist
allerdings interessant, wie schnell Sie Ihre BetrachtungsDr. Christiane Ratjen-Damerau
weise geändert haben. Es war doch Ihre Ministerin, die
die Aufteilung bilateral zu multilateral im Verhältnis von
einem Drittel zu zwei Dritteln für unantastbar erklärt hat.
({5})
- Ja, wahrscheinlich. Soll ich den Satz noch einmal vorlesen? - Es war doch Ihre Ministerin, die die Aufteilung
multilateral zu bilateral im Verhältnis von zwei Dritteln
zu einem Drittel für unantastbar erklärt hat.
({6})
- So, ich habe es noch einmal vorgelesen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Nein.
({0})
Schön ist aber, dass wir jetzt einer Meinung sind. In
unserem Koalitionsvertrag steht: Wir wollen eine Verteilung der bilateralen sowie der europäischen und multilateralen Leistungen Deutschlands im Verhältnis von zwei
Dritteln zu einem Drittel erreichen, um die Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Entwicklungspolitik zu erweitern und den Wirkungsgrad der eingesetzten Haushaltsmittel zu erhöhen.
({1})
Die Bundesregierung steht zu diesen multilateralen
Verpflichtungen.
({2})
Die Arbeit des Global Fund, der Globalen Allianz für
Impfstoffe und Immunisierung und der anderen Organisationen wird hoch geschätzt und nicht infrage gestellt.
({3})
Die Erhöhung der Mittel im Haushalt 2010 um 4 Millionen Euro hat das gezeigt.
Aber es ist angesichts unserer Haushaltslage doch
mehr als unseriös, geradezu unverantwortlich, eine Verdopplung des Global-Fund-Anteils in diesem Einzelplan
zu fordern, ohne dass Sie auch nur ansatzweise sagen,
woher das Geld kommen soll.
({4})
Zu Ihren Forderungen nach dem TRIPS-Abkommen
möchte ich nur sagen, dass Sie sich nicht immer einseitig
zum Sprachrohr der NGOs machen lassen sollten.
({5})
Beurteilen Sie die Diskussion einmal verantwortlich und
vor allem gesamtpolitisch.
({6})
- Dazu komme ich jetzt; Moment. - Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich an dieser Stelle
deutlich sagen: Allein der Verzicht auf Patente bringt
kein Heil über diese Welt. Ein Unternehmen, das aus seinen Aufwendungen für die Forschung keinen Gewinn
mehr erzielt, kann auch nichts mehr entwickeln.
({7})
Unternehmen sind nicht unsere Feinde, sondern sie
helfen auch aus eigenem Antrieb, Innovationen und
Wohlstand zu schaffen.
({8})
Es muss ein Ausgleich geschaffen werden. Natürlich
sind wir uns völlig einig, dass insbesondere die armen
Länder einen möglichst umfassenden Zugang zu Medikamenten bekommen müssen. Aber auch hier unterscheiden wir uns in dem Wie. Ich denke, es ist an der
Zeit, dass die Entwicklungszusammenarbeit ganzheitlich
und vor allem rationaler angegangen wird.
({9})
Damit nachhaltige Erfolge erzielt werden können, müssen gesundheitspolitische und handelspolitische Ziele in einer Balance zueinander stehen. Ein gutes Modell wäre der
Verzicht auf Patentrechte innerhalb des WHO-Netzwerkes, also bei staatlichen Laboratorien. Ich denke, dass wir
uns darauf einigen könnten.
({10})
Nun noch ein abschließendes Wort zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bei allem Dank für
das Lob, das Sie der Arbeit der Bundesregierung in diesem Antrag zollen, hat der AwZ zu Recht mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Ablehnung dieses Antrages beschlossen.
({11})
Meine Kollegin Helga Daub hat bei der ersten Lesung
dieses Antrages bereits auf die maßgeblichen Unter5710
schiede unserer Auffassungen hingewiesen. Sowohl das
BMZ als auch die FDP-Fraktion betrachten das bloße
Geldgeben sehr differenziert. Ohne deutlich mehr Transparenz und Effizienz in der Entwicklungspolitik als bisher wird es keine zukunftsweisenden, langfristigen Erfolge geben.
({12})
Die Effizienz der Mittel muss an erster Stelle stehen.
({13})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Noch ein Satz. - Good Governance und damit der
verantwortungsvolle Umgang mit Geldern ist eine Voraussetzung für das Wirken von sektoraler Budgethilfe.
Daher können wir Ihrer Forderung nach sektoraler Budgethilfe zur Stärkung des Gesundheitssystems nicht zustimmen
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Raabe.
Frau Kollegin, ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie
noch nicht lange im Bundestag sind. Sie haben gerade
Ihre zweite Rede gehalten. Wenn Sie aber - auch wenn
es erst Ihre zweite Rede war - eine Behauptung aufstellen, die nachweislich unwahr ist, muss ich von Ihnen fordern, dass Sie das richtigstellen.
Ich bin seit 2002 Mitglied dieses Hauses und gehöre
seitdem auch dem Entwicklungsausschuss an. Ich habe
in der Zeit, in der Ministerin Heide Wieczorek-Zeul Verantwortung hatte, jeden Haushalt ihres Ministeriums zusammen mit ihr aufgestellt.
({0})
- Wir waren seit 2002 - daran werden Sie sich noch erinnern - immer an der Regierung und hatten somit auch
die Verantwortung, für eine Mehrheit für den Haushalt
zu sorgen.
Es gibt keine einzige Aussage der Ministerin, dass sie
nur ein Drittel der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, wie Sie behauptet haben, für multilaterale
Ausgaben zur Verfügung stellt. Ganz im Gegenteil, diese
Ministerin hat im Haushaltsausschuss sehr oft interveniert, und zwar erfolgreich, sodass wir insbesondere im
multilateralen Bereich immer wieder Mittelsteigerungen
zu verzeichnen hatten.
Gerade im Hinblick auf den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria hat Ministerin Heide Wieczorek-Zeul immer durchgesetzt, dass die
Mittel hierfür erhöht wurden. Sie haben die Ein-Drittel/
zwei-Drittel-Regelung in Ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Stehen Sie dazu, und nehmen Sie Ihre Behauptung zurück, oder weisen Sie nach - das werden Sie aber
nicht können -, dass Ministerin Heide Wieczorek-Zeul
jemals gesagt hat, das sei unantastbar.
Das ist Quatsch. Wir stehen zu einer sinnvollen multilateralen Entwicklungspolitik. Ich bitte Sie, diese unwahre Behauptung zurückzunehmen.
Wollen Sie antworten, Frau Kollegin? - Nein.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Kekeritz für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Weiss, ich möchte kurz Ihren Lieblingsbegriff aufgreifen, den Sie immer wieder gebrauchen, auch im
AwZ. Sie sprechen ständig von Ehrlichkeit. Sie wissen,
dass die ODA-Quote 40-jähriges Jubiläum hat und dass
sich jede Bundesregierung eindeutig zur ODA-Quote bekannt hat. Daher gehört es zur Ehrlichkeit, alles zu tun,
um die ODA-Quote zu erreichen. Das sehe ich momentan aber nicht.
({0})
Es gibt noch immer keinen Stufenplan. Deswegen ist Ihr
Appell an die Ehrlichkeit etwas fragwürdig.
({1})
- Das ist kein Widerspruch zu meiner Aussage.
Kommen wir zum G-8-Gipfel. Die Kanzlerin hat dort
großzügig 400 Millionen Euro zugesagt. Wir hatten den
Eindruck, dass es sich dabei um frisches Geld handelt.
Ich habe nicht daran geglaubt, beim BMZ nachgefragt
und als schriftliche Antwort bekommen:
Ob sich durch aktuelle oder künftige G-8-Zusagen
Anpassungserfordernisse ergeben, kann derzeit
nicht ausgeschlossen werden.
Ins Deutsche übersetzt heißt das: Es wird an anderer
Stelle gekürzt. Während die gesundheitlichen Aspekte
gestärkt werden sollen, sollen zum Beispiel die Mittel
für die Ernährung, die Wasserversorgung oder die Schulbildung gekürzt werden. Ich denke, auch das hat nichts
mit Ehrlichkeit gegenüber den betroffenen Menschen zu
tun.
({2})
Wie lauten die Lieblingsbegriffe unserer Kanzlerin:
Vertrauen, Transparenz, Zuverlässigkeit. Wo sind übrigens die 20 Milliarden von Gleneagles geblieben? So gesehen war der Gipfel in Kanada ein voller Erfolg: 5 Milliarden zugesagt, 20 Milliarden gestrichen. Das macht ein
Plus von 15 Milliarden. Frau Merkel, Zuverlässigkeit
kann man eben nicht nur von anderen einfordern. Mit Ihren leeren Versprechungen und dem Bilateralismustrip
des Ministers Niebel ruiniert die Regierung Deutschlands
Ruf und verschlechtert die internationale Zusammenarbeit. Das ist alles andere als effizient.
({3})
Zur SPD. Sie plädieren in Ihrem Antrag für eine drastische Anhebung der Beiträge an den Global Fund auf
420 Millionen Euro jährlich. Zweifelsohne hat der Global Fund schon unzählige Menschenleben gerettet.
({4})
Daher unterstützen wir grundsätzlich die Stärkung des
Global Fund. Allerdings ist es unerlässlich, Antworten
auf die Frage zu finden, wie es mit dem Global Fund
weitergehen soll. Die ausschließlich vertikale Konzentration auf HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose ist nicht
zukunftsweisend. Der Global Fund möchte längst selbst
seinen Aktionsradius ausweiten. Darin sollten wir ihn
unterstützen. Im Sinne einer transparenten und effizienten Mittelverwendung muss im Gegenzug eine unabhängige Kontrolle des Fonds und seiner Projekte eingeführt
werden.
Es geht jedoch nicht nur um den Global Fund. Globale Gesundheitspolitik umfasst auch Fragen des Patentrechts, der Forschung, Handelsfragen, Gesundheitssystemfragen, Ernährung und Bildung. Es geht auch um das
Thema Braindrain. Das riesige Feld der globalen Gesundheit muss aufgrund der Komplexität zukünftig besser koordiniert, das heißt verstärkt multilateral, sogar international bearbeitet werden. Dafür brauchen wir eine
Koordinationsstelle. Meiner Ansicht nach kann eine solche Koordinationsstelle nur bei der WHO angesiedelt
werden. Nur die WHO ist ausreichend legitimiert und
hat das Potenzial dazu. Aus diesem Grund fordern wir in
unserem Antrag, dass die WHO die Führungsrolle in der
globalen Gesundheitspolitik übernimmt. Die Bundesregierung hat bis 2012 einen Sitz im Exekutivrat der WHO
und sollte darauf hinarbeiten, die Koordinationsfunktion
der WHO zu stärken.
Gemeinsam koordinierte, demokratisch legitimierte
globale Gesundheitspolitik ist das Gebot der Stunde und
hat nichts mit Suppenschüsselsozialismus, wie Staatssekretär Beerfeltz diesen Effizienzansatz diffamiert, zu
tun.
Sie ist Voraussetzung - ich bin gleich fertig - für eine
effizientere Gesundheitspolitik. Eine höhere Effizienz
- Herr Niebel, hören Sie gut zu - darf allerdings nicht
durch finanzielle Abstriche konterkariert werden. Die
ODA-Quote von 0,7 Prozent muss für Deutschland verpflichtend bleiben.
({5})
Danke schön.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zum
Abschluss dieser Debatte die schlimmste Krankheitsgeißel dieser Welt in den Mittelpunkt meiner Ausführungen
stellen. Etwa 33 Millionen Menschen weltweit sind mit
HIV infiziert. Das entspricht der Gesamtbevölkerung von
Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern.
In den vergangenen Jahrzehnten erlitten 25 Millionen
Menschen den meist qualvollen Tod aufgrund einer Aidsbedingten Erkrankung.
Die Auswirkungen dieser humanitären Katastrophe
konnten wir bisher und können wir auch weiterhin nicht
hinnehmen. Aus diesem Grund ist es notwendig, in den
nächsten Jahren eine neue nachhaltige Strategie zu entwickeln und diese vor allen Dingen auch mit Konsequenz und kühlem Kopf durchzusetzen.
Bei einer nüchternen Betrachtung der vielfältigen
weltweiten Bemühungen im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit muss man konstatieren, dass es in
den Entwicklungsländern oft an Bewusstsein, an Aufklärung und an medizinischer Hilfe fehlt. Hinsichtlich des
Bewusstseins gilt das aber besonders auch für die Industrieländer. Gerade bei uns hat sich die Wahrnehmung in
den letzten Jahren verschoben. Man sagt: Medikamente
helfen. - Die Krankheit ist und bleibt jedoch tödlich.
HIV/Aids wird unter der Mehrzahl der Menschen dieser Erde noch immer totgeschwiegen, als Gottesstrafe
verunglimpft oder als Schwulenkrankheit gebrandmarkt.
Diese Gleichsetzungen sind nicht nur falsch, sie zeugen
auch davon, dass Prävention und Aufklärung im Umgang mit dieser Krankheit weiterhin verstetigt werden
müssen.
HIV und das Vollbild dieser Krankheit, Aids, sind für
die Entwicklungsländer eine gesellschaftliche Katastrophe. Öffentliche Haushalte und die privaten Spender
müssen in Zukunft einen Fokus auf die Auswirkungen
der Krankheit auf die Gesellschaftsstrukturen unserer
Partnerländer legen. Ich glaube, das ist besonders wichtig.
Die bisherigen Schwerpunkte, die besonders von multilateralen Organisationen bevorzugt werden, reichen
nicht aus. Anstrengungen in der medizinischen Versorgung, zum Aufbau einer Gesundheitsstruktur für ein lebenslanges Einnehmen der Medikamente sowie Prävention sind nur Teilaspekte einer nachhaltigen Strategie
gegen diese Krankheit.
HIV/Aids ist derzeit schon - das ist besonders wichtig eine Querschnittsaufgabe im Rahmen der bilateralen EZ.
Für diesen Ansatz müssen wir auch verstärkt auf den
multilateralen Ebenen werben.
Ich kann das BMZ nur unterstützen, wenn es mit seiner Strategie ganz im Gegensatz zum Global Fund wirtschaftliche, soziale und sicherheitspolitische Auswirkungen von HIV/Aids in seine programmatische Arbeit
mit einbezieht.
({0})
Deutschland handelt dabei fortschrittlich, und ich bitte
dringend darum, bei der Vergabe der Mittel und bei der
Zweckbindung die sektorenübergreifenden Projekte der
GTZ stärker zu unterstützen. Immer neues Geld für den
Global Fund ist möglicherweise nicht im gleichen Maße
effektiv.
({1})
Fakt ist: Sollte die internationale Gemeinschaft die
derzeit meist multilaterale HIV/Aids-Politik weiterverfolgen, dann sind die bisherigen kleineren Erfolge im
Kampf gegen Aids schnell obsolet. Dies ist nicht im
Sinne einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik.
Meine Damen und Herren, im Süden Afrikas ist inzwischen mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung infiziert. In Simbabwe und Botsuana sind es derzeit
knapp 40 Prozent - fast jeder Zweite. In einem solchen
Umfeld ist die gesamte Entwicklungsstrategie ohne direkten Bezug auf HIV/Aids nicht mehr erfolgreich. Wir
benötigen vor allen Dingen übergreifende Antworten,
und ich kann noch einmal sagen: Wir halten diese Antworten im Rahmen der deutschen bilateralen EZ vor.
Es ist kein Geheimnis, dass die Epidemie in Afrika
besonders drastische Auswirkungen hat. Nur wenige
wissen jedoch, dass sich in Zukunft Ähnliches auch in
anderen Regionen dieser Welt abspielen könnte. Aids ist
nicht nur ein afrikanisches Problem; das stellen wir immer mehr fest. Es ist ein Problem ganzer Gesellschaften ob in Osteuropa, im Iran oder auch in vielen asiatischen
Staaten. In Asien sind bereits 5 Millionen Menschen infiziert. Länder wie Kambodscha, Myanmar oder Laos
haben weltweit die größten Zuwachsraten, vor allem
auch in der heterosexuellen Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, schlimmer noch: Schon
jetzt gibt es in Ländern wie China oder Indien Infektionsraten wie in Afrika vor 20 Jahren. Und dort sind aktuell
fast 20 Prozent der Bevölkerung infiziert.
Was müssen wir tun? Wir müssen erstens Programme
dazu entwickeln, wie wir den Verlust des Humankapitals
umgehen können. Wir müssen Strategien entwickeln, damit Schulen und Universitäten auf die Situation reagieren können und insbesondere ältere Menschen im Arbeitsleben gehalten werden können. Jugendliche müssen
in der Breite eine qualifizierte Ausbildung erhalten.
Wir müssen versuchen, die Waisen anzusprechen,
sonst zerstören Kriminalität und andere Strukturen ihre
Zukunft. Die Budgethilfe ist oftmals nicht zielgerichtet
genug. Wir müssen Korbfinanzierung im Gesundheitssystem anbieten. Vor allem müssen wir sicherstellen,
dass die Sicherheit und Stabilität ganzer Regionen durch
die hohe Infektionsrate in den afrikanischen Armeen
nicht gefährdet werden. Denn in diesem Bereich gibt es
eindeutig hohe Zuwachsraten. Die Folgekosten von
Kriegen und der direkten Ausbreitung der Krankheit
werden sonst unabsehbar sein.
Der tragische Zyklus beim Thema HIV/Aids-Bekämpfung scheint sich weiter fortzusetzen. Deswegen ist
es wichtig, weltweit über neue Strategien nachzudenken
und sie in die Tat umzusetzen. Die deutsche Strategie hat
den Anspruch, HIV/Aids als Querschnittsaufgabe zu definieren. Die sektorübergreifenden Konzepte sind Lösungsansätze, die weltweit eingesetzt werden sollten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Beim Tagesordnungspunkt 13 a wird interfraktionell
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2135 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 13 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2465,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1581 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
({1})
- Drucksachen 16/12560, 17/790 Nr. 35, 17/1807
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Michael Kauch
Dorothea Steiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
und sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und darf nun um Aufmerksamkeit für den ersten Redner in dieser Debatte bitten, den Kollegen Marcus Weinberg für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der Bericht ist gut also können auch diejenigen, die jetzt eigentlich gehen
wollen, noch bleiben. Denn ich glaube, einem guten Bericht folgt auch gute Arbeit.
({0})
Nun weiß ich zwar nicht, ob die fußballgetrübten Augen jetzt erhellt werden, aber Nachhaltigkeit ist ja längerfristig angelegt und nicht kurzfristig. Insofern will ich
bei dem Bericht Dinge - nicht ganz auf der inhaltlichen
Ebene - herausstellen, die, glaube ich, wichtig sind.
Denn ich glaube, wir haben vieles gemacht, was wichtig
und richtig war - Stichworte dazu: demografischer Wandel, Indikatoren für Nachhaltigkeit, Stellungnahme zum
Fortschrittsbericht, Generationengerechtigkeit. Auch die
Diskussion über die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung und die Planung einer nachhaltigen Infrastruktur betraf wichtige und richtige Themen,
deren inhaltliche Breite jetzt nicht darstellbar ist.
Der Bericht macht noch einmal deutlich, dass wir
beim Thema Nachhaltigkeit die Bretter deutlich schneller und besser gebohrt haben als in den Jahren davor.
Aber ich glaube, wir müssen jetzt auch mit Blick auf die
aktuelle Legislaturperiode diskutieren, ob wir beim Bohren auch die richtigen Mechanismen benutzt haben oder
ob wir den Bohrer hier und da verändern sollten.
Zurück zum Einsetzungsbeschluss, der deutlich
macht, was vom Beirat erwartet wird. Zu seinen Aufgaben gehört die Begleitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Des Weiteren kann sich der Parlamentarische Beirat Schwerpunkte setzen und Berichte und
Empfehlungen vorlegen. Auf der Ebene der Bundesregierung geschaffene Institutionen werden parlamentarisch begleitet. Es können Empfehlungen zu mittel- und
langfristigen Planungen abgegeben werden. Weitere
Aufgaben sind die Kontaktpflege und Beratungen mit
anderen Parlamenten, die parlamentarische Begleitung
der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie und die Unterstützung der gesellschaftlichen Diskussion in diesem Bereich.
Das alles ist wichtig und richtig. Ich glaube, wir haben in der letzten Legislaturperiode bewiesen, dass wir
das alles gut gemacht haben, um der Nachhaltigkeit einen neuen Impuls zu geben. Trotzdem möchte ich zwei
Punkte ansprechen, mit denen wir uns in der aktuellen
Legislaturperiode befassen sollten.
Der erste Punkt ist die Federführung bei der Nachhaltigkeitsstrategie. Die Arbeit des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung hat auch gewisse
Schwächen der Konstruktion aufgezeigt. Problematisch
bei der Arbeit des Parlamentarischen Beirats waren die
fehlende formale Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren und die fehlende Möglichkeit des Beirats, eigenständig Initiativen einzubringen. Jeder Parlamentarier ist
aufgerufen, sich aktiv zu beteiligen - das machen wir
auch in den Fachausschüssen -, allerdings konnten wir
als Beirat keine parlamentarischen Initiativen einbringen. Ich glaube, dieser Punkt ist zu diskutieren.
Gutachterliche Stellungnahmen sind wichtig und richtig, aber wie man weiß, erntet man mit zu vielen Stellungnahmen hier und da möglicherweise die Kritik der
Kolleginnen und Kollegen. Wir haben die Mechanismen
der Empfehlungen auch sehr dosiert genutzt, finde ich.
Trotzdem bleibt die Frage, wie federführend Beteiligung
möglich ist.
({1})
Dass das ureigenste Thema der Nachhaltigkeit, nämlich die nationale Nachhaltigkeitsstrategie, nicht federführend in unserer Zuständigkeit liegt, ist sicherlich
nicht unproblematisch. Ich muss allerdings in diesem
Zusammenhang feststellen, dass die Federführung für
nachhaltigkeitsrelevante Themen beim Umweltausschuss liegt. Herzlichen Dank an die Kolleginnen und
Kollegen, insbesondere aus dem Umweltausschuss, die
uns gut unterstützt haben. Für diese Kooperation können
wir uns nur bedanken. Trotzdem bleibt der Wunsch, dass
auch wir eines Tages die Federführung für diesen Bereich bekommen werden.
Das haben wir auch in unserer Stellungnahme zum
Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie deutlich gemacht. Darin haben wir den Wunsch
geäußert, dass, da die Nachhaltigkeit eine übergeordnete
Bedeutung hat und eine wichtige Querschnittsaufgabe
darstellt, die Zuständigkeit vielleicht am besten dem
Bundeskanzleramt zu übertragen wäre. Wie wir in der
letzten Beiratssitzung gehört haben, gibt es Länder, in
denen die Präsidenten das Thema an sich gezogen haben.
Wie es funktionieren kann, wird man in Zukunft sehen müssen. Ich glaube aber, dass es ein wichtiger Impuls wäre, wenn solche Themen, die Querschnittsaufgaben darstellen und auch in der politischen Betrachtung
eine neue Dimension bedeuten, an einer entsprechenden
Stelle angesiedelt sind.
Das können wir zwar alles von der Bundesregierung
fordern, aber die Frage ist, wie wir im parlamentarischen
Bereich die Bedeutung der Nachhaltigkeit verstärken
können. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit wünschen
wir uns, dass wir nicht hinter der Entwicklung in ande5714
Marcus Weinberg ({2})
ren Ländern zurückstehen. Im Koalitionsvertrag von
CDU, CSU und FDP ist deutlich formuliert worden, dass
wir uns die Federführung für die Nachhaltigkeit wünschen. Das wird auch im zweiten Halbjahr ein wichtiges
Thema sein. Ich glaube, wir sind auch argumentativ so
gut aufgestellt, dass wir das erreichen können. Ich
denke, wir können auch ein wenig stolz darauf sein, dass
wir das nächste Brett gebohrt haben.
({3})
Der zweite Punkt, der für uns wichtig sein sollte, ist
die Kontinuität und die Funktion im parlamentarischen
Geschehen. In der 16. Legislaturperiode erfolgte die
Einsetzung des Parlamentarischen Beirats im April 2006
und damit deutlich zu spät. Das hat sich deutlich verbessert. In der laufenden Legislaturperiode erfolgte der Einsetzungsbeschluss im Dezember 2009. Im April 2006
war es aber nicht ganz so einfach, weil der Übergang
von der guten Arbeit in der 15. Legislaturperiode problematisch war.
Im Grunde ist der Beirat für nachhaltige Entwicklung
nichts anderes als ein Ausschuss. Wir sollten nicht über
die Formulierung streiten, sondern wir sollten sehen,
dass wir die Rechte eines Ausschusses wahrnehmen
können. Ob das Gremium „Beirat“ oder „Ausschuss für
nachhaltige Entwicklung“ heißen wird, sei dahingestellt.
Ich glaube, dass wir uns mit Blick auf die Erfahrung der
Vergangenheit Gedanken darüber machen sollten, wie
wir im Parlament stärker Kontinuität wahren können und
wie der Parlamentarische Beirat noch weiter in der parlamentarischen Normalität ankommen kann.
({4})
Das waren zwei leicht formalkritische Anmerkungen.
Unter dem Strich bleibt das Fazit: Die Wahrnehmung
der Nachhaltigkeit wird durch die Arbeit des Parlamentarischen Beirates deutlich gesteigert. Die inhaltliche
Schwerpunktsetzung wird im Bericht deutlich. Ich
glaube, wir haben alles abgedeckt, was als Querschnittsaufgabe anzusehen ist. Jetzt wünschen wir uns für die
Beratungen in den nächsten Wochen und Monaten, dass
wir bei der Wahrnehmung im Parlament, aber auch bei
der Frage der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie neue
Schwerpunkte setzen können. Ich freue mich, wenn wir
in vier Jahren den nächsten Bericht haben und wir, was
gewisse Verfahrensfragen angeht, einen Schritt weiter
sind.
Herzlichen Dank für die Arbeit und herzlichen Dank
für die Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Miersch
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung“ - ich frage mich, was eigentlich die Zuschauerinnen und Zuschauer denken, was ein Beirat für
nachhaltige Entwicklung leisten soll. Das Wort „Nachhaltigkeit“ wird von diesem Pult mit Sicherheit in fast
jeder zweiten Rede von einem oder einer Abgeordneten
verwendet. Der Begriff ist - das ist die Gefahr - inzwischen fast beliebig geworden. Das Spannende ist, den
Begriff zu definieren und zu schauen, woher er eigentlich kommt. Wenn man erkennt, dass er, aus der Forstwirtschaft kommend, eigentlich beinhaltet, dass man nur
so viele Bäume fällen kann, wie man gleichzeitig neu
pflanzt, dann erschließt sich der Sinn dieses Begriffs.
Wenn man diesen Sinn an viele Debatten hier als Messlatte anlegen würde, dann würde man feststellen: Das ist
ein Thema, das alle anderen Themen in den Schatten
stellt. Es geht nämlich um die Frage, ob wir es schaffen,
die großen Herausforderungen, denen wir alle miteinander gegenüberstehen, zu meistern und die Probleme der
heutigen Generation, aber auch der künftigen Generationen - das ist das Entscheidende; ich sehe nämlich viele
jüngere Personen auf der Tribüne - zu lösen.
Um bei dem Bild des Brettes, das Sie, Herr Weinberg,
gewählt haben, zu bleiben: Das Brett ist noch lange nicht
gebohrt. Vielmehr ist das, was wir die letzten vier Jahre
miteinander gemacht haben, vielleicht eine kleine Einkerbung gewesen, aber es war noch lange nicht der
Durchbruch. Die großen Themen haben wir besprochen,
zum Beispiel die demografische Entwicklung. Unsere
Gesellschaft wird sich in den nächsten Jahrzehnten rasant ändern. Welche Folgen hat das für unsere sozialen
Sicherungssysteme? Welche Auswirkungen hat das für
die Infrastruktur, von der Wasserleitung, die plötzlich
nicht mehr genutzt wird, weil die Leute in der Region
nicht mehr leben, bis hin zum Arzt, zu dem keiner mehr
geht und der deswegen schließen muss?
Ich nenne das große Thema der Haushaltsverschuldung. Was hat es mit Generationengerechtigkeit zu tun,
wenn wir den nachfolgenden Generationen immer mehr
Schulden aufbürden? Ich nenne das Thema Energie. Wir
hinterlassen Müll von Atomkraftwerken und wissen
heute noch nicht, wo er eigentlich gelagert werden soll.
Aber wir produzieren immer weiter. Das sind die großen
Themen, die uns hier in diesem Parlament auf allen Gebieten beschäftigen. Entscheidend ist, so glaube ich, dass
wir jetzt an einem Punkt angekommen sind, an dem wir
sagen: Nachhaltigkeit muss durch den Parlamentarischen Beirat ein Gesicht bekommen. Wir müssen noch
deutlicher sichtbar werden als bisher.
({0})
All den Riesenherausforderungen, die wir vor uns haben, haben wir uns heute noch nicht zufriedenstellend gestellt. Sonst könnten wir sagen, wir können die Arbeit
auch einstellen. Ich habe den Eindruck, dass wir teilweise
in zwei Welten leben. Es gibt eine interessierte Fachwelt,
die uns sagt: Das, was ihr da macht, ist viel zu wenig; ihr
müsst viel mehr einsetzen. - Andere fragen: Warum soll
jetzt über einen Zeitraum von 20, 30 Jahren nachgedacht
werden? Jetzt sind die Probleme drängend. - Darüber
müssen wir in diesem Beirat reden. Wir haben aus meiner Sicht ein ganz entscheidendes Kriterium nach langem, schwerem Kampf eingeführt. Ich spreche Andreas
Jung an, mit dem ich als Berichterstatter damals für die
Nachhaltigkeitsprüfung gestritten habe. Es war richtig
schwer, in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien zu verankern, dass sie bei ihren Gesetzesvorhaben eine Nachhaltigkeitsprüfung vornehmen
müssen.
Heute, wo dies in der Gemeinsamen Geschäftsordnung verankert ist, sehen wir, wenn wir einen Gesetzentwurf lesen, keine Ausführungen dazu, inwieweit er
nachhaltig ist. Somit können wir die entsprechende Bewertung, die ja im politischen Raum vorzunehmen ist,
heute noch nicht vornehmen.
({1})
Wir können als Parlamentarier nicht sagen: Die Regierung hat sich dieses Thema vorgeknöpft und sich mit der
Interessensabwägung beschäftigt. Wir finden keine ausreichenden Ausführungen, die es uns als Parlamentarischem Beirat ermöglichen, den Ausschussmitgliedern,
die sich jetzt mit dem Gesetzentwurf beschäftigen, zu sagen: Guckt da noch einmal genauer hin. - Dies darf nicht
so bleiben, wenn wir als Beirat nicht ebenso der Beliebigkeit ausgesetzt werden wollen, wie es teilweise auf
den Begriff der nachhaltigen Entwicklung zutrifft.
Ich glaube, wir sind an einer ganz entscheidenden
Weichenstellung angekommen. Wenn es uns in dieser
Legislaturperiode nicht gelingt, dieses einzufordern,
dann wird die Glaubwürdigkeit unseres Gremiums - das
glaube ich jedenfalls - nicht größer werden. Es wird unter Umständen vielmehr dazu kommen, dass man sagt:
Das Parlament ist nicht in der Lage, die Gesetze auch an
einer solchen Messlatte auszurichten. Deswegen ist das
meines Erachtens - das ist auch die Haltung meiner
Fraktion - eine der entscheidenden Aufgaben in dieser
Legislaturperiode.
({2})
Das zweite Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, ist das große Thema Wachstum. Welchen
Begriff von Wachstum haben wir eigentlich? Neben
Nachhaltigkeit kommt auch Wachstum in jeder zweiten
Rede vor. Wohin wollen wir eigentlich wachsen? Ist die
Welt, die auf ein „immer höher, immer weiter“ setzt, eigentlich eine zukunftsfähige Welt? Denken wir nur an
die Endlichkeit von Ressourcen wie Öl und Gas. Denken
wir auch an die Finanzwelt. Wir haben in den letzten
Jahren erlebt, dass das „immer höher, immer weiter“
kläglich gescheitert ist. Das muss uns eigentlich zu denken geben. Wir müssen umdenken. Wir müssen aus der
Wachstumsfalle herauskommen, in die wir hineingelaufen sind und in der wir teilweise noch feststecken.
({3})
Wir brauchen einen neuen Begriff, hinter dem sich
Menschen versammeln können und der sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene als Leitbild
dienen kann. Das Motto der Konferenz der Vereinten
Nationen in Rio „Global denken, lokal handeln“ müssten
wir eigentlich wieder zum Leben erwecken. Das ist unsere Aufgabe. Ich wünsche mir, dass wir im Parlamentarischen Beirat den Menschen in Deutschland in den
nächsten Monaten und Jahren zeigen, dass es auch Entwürfe einer tatsächlich auch auf künftige Generationen
bezogenen Lebensweise gibt.
Wir müssen aber auch überlegen, ob das Weniger
nicht letztlich viel mehr ist. Das ist das Entscheidende.
Ich als heute Verantwortung tragender Politiker glaube,
dass wir das mit Jüngeren und mit Älteren diskutieren
müssen. Wir dürfen Generationen nicht auseinanderdividieren, sondern müssen überlegen, wie wir die großen
Herausforderungen, die ich anfangs skizziert habe, gemeinsam meistern. Ich bin mir sehr sicher, dass wir bei
dieser Suche gänzlich neue Lebensentwürfe finden werden. Das müsste eigentlich die über allem stehende Aufgabe dieses Parlaments sein. Ich wünsche mir deshalb,
dass wir irgendwann einmal hier in diesem Haus eine
Debatte führen, bei der dieser Saal voll besetzt ist und
bei der ganz viele Leute vor den Fernsehern sitzen und
sagen: Mensch, da sind die Impulse, für die es sich lohnt,
vor Ort zu streiten. - Wir haben ganz viel vor. Das Brett
ist ganz dick.
Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit mit
Ihnen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Gremium des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung ist darauf ausgerichtet - das kommt in diesem Parlament selten vor -, Konsens zu erzielen. Eine
gewisse Einigkeit jenseits von Fraktionsgrenzen ist für
nachhaltige Entwicklung von großer Bedeutung. Wir
müssen nämlich einen roten Faden entwickeln, der auch
über Legislaturperioden hinweg hält und nach einem
Wechsel von Regierungen dieses Landes nicht reißt. Es
ist also wichtig, dass es dieses Gremium gibt. Ich finde
es ausgesprochen angenehm, wie in diesem Gremium
gearbeitet wird. Dort gibt es eben nicht den üblichen Reflex, dass die Opposition einen Antrag stellt, die Regierung ihn ablehnt bzw. umgekehrt. Davon könnten wir
uns an der einen oder anderen Stelle, zumindest in den
Fachausschüssen - ich weiß, das ist ein frommer
Wunsch -, eine Scheibe abschneiden.
({0})
Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Generationengerechtigkeit; das ist unser Anliegen. Die Finanzkrise hat deutlich gemacht, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die Rechnung - sie ist das Ergebnis
der Rettungspakete, die geschnürt wurden - wird den
kommenden Generationen präsentiert werden. Diese Generationen werden die angehäuften Schulden abtragen
müssen. Wir haben unsere Sozialsysteme nicht ausreichend an den demografischen Wandel angepasst. Wir
schaffen eine Infrastruktur, die an die Perspektive einer
schrumpfenden und alternden Bevölkerung oft nicht angepasst ist. Aber das haben wir erkannt und versuchen
jetzt als Demokraten, Veränderungen vorzunehmen.
({1})
An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen: Es
gibt abschreckendere Beispiele in der deutschen Geschichte dafür, wie nachhaltige Politik nicht aussehen
sollte. Wir sind im 20. Jahr der deutschen Einheit. Nach
der Sommerpause werden die Einheitsfeierlichkeiten
stattfinden. Man muss einmal zurückschauen: Was war
denn in der DDR? Was war denn unter der SED-Diktatur? Da gab es nicht nur Menschenrechtsverletzungen.
Damals wurde auch die unnachhaltigste Politik betrieben, die ein deutscher Staat je erlebt hat. In die Gebäude
wurde nicht investiert; sie wurden heruntergewirtschaftet. Vor 20 Jahren war man auch finanziell am Ende. Es
gibt keine andere Region in Deutschland, die 1990 ökologisch so heruntergewirtschaftet war wie die Gebiete,
über die die SED geherrscht hat.
({2})
Ich freue mich schon auf den Beitrag der Linken.
Wahrscheinlich wird man wieder erklären, dass Generationengerechtigkeit nicht so wichtig ist wie die Gerechtigkeit zwischen Arm und Reich. Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist eine Grundvoraussetzung für
soziale Gerechtigkeit. Wer die Gerechtigkeit zwischen
den Generationen mit Füßen tritt, der wird keine soziale
Gerechtigkeit erreichen können.
Vielen Dank, meine Damen und Herren!
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Ralph Lenkert.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Demografische Entwicklung und nachhaltige Infrastrukturpolitik waren im Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in der 16. Wahlperiode
ein wichtiges Thema. Die Feststellung, dass die Betrachtung der Nachhaltigkeit bei der Infrastrukturentwicklung
bisher zu kurz gekommen ist und mehr Bedeutung erlangen muss, war wichtig und gut.
Infrastrukturentscheidungen benötigen Jahre und wirken Jahrzehnte. Straßenbauprojekte, Stromnetze, Schulgebäude, Altersheime usw. können optimal, zu knapp
oder zu groß geplant werden. Krasse Negativbeispiele
für falsche Annahmen finden sich beispielhaft bei der
völlig überdimensionierten Kläranlagenplanung in Ostdeutschland in der Mitte der 90er-Jahre.
({0})
Allerdings fand bei diesen eben keine Nachhaltigkeitsbetrachtung statt, sondern man verließ sich auf alte
Statistiken, Erfahrungswerte und Berater wie einen quirligen Professor, der mehr seinen Gewinn im Auge hatte
als eine optimale nachhaltige Projektabrechnung.
({1})
Ausbaden müssen diese Fehler jetzt Bürgerinnen und
Bürger sowie Unternehmen in Form von hohen Abwassergebühren und Kommunen in Form von dauerhaften
Lasten in ihren Haushalten.
In Kahla, ein Ort mit 8 000 Einwohnern, liegen die
Abwasserbeiträge bei über 15 Euro je Kubikmeter dank der Beratung dieses Professors, der übrigens einen
Honorarvertrag mit der beauftragten Baufirma hatte. Der
Freistaat Thüringen sprang subventionierend ein. Trotzdem musste die Stadt wegen der Kläranlagenschulden
jahrelang unter Zwangsverwaltung leben.
Zu Recht bemängelte der Parlamentarische Beirat in
der letzten Wahlperiode, dass gerade im Infrastrukturbereich im Bund, in den Ländern und in den Kommunen
der Nachhaltigkeitsgedanke fehlt. Jeder von uns weiß:
Politische Mehrheiten ändern sich während der Lebensdauer von Infrastruktureinrichtungen öfter. Deshalb begrüßt die Linke, dass der Beirat sich bemüht, seine Bewertungen im Konsens der Fraktionen zu treffen. Sicher
haben wir teilweise unterschiedliche Vorstellungen, aber
wenn wir im Beirat im Konsens bewerten, besteht die
Chance, dass entsprechende Entscheidungen auch lange
gelten.
({2})
Eine Schienennetzplanung, die von Schwarz-Gelb
2011 erfolgt, könnte dann 2015 zum Beispiel von RotGrün ergänzt statt rückgängig gemacht werden, und die
Linke könnte 2018 in Regierungsverantwortung auf den
vorherigen Konzepten aufbauen.
({3})
Gelingt es dem Beirat für Nachhaltigkeit, mit seiner Arbeit eine solche Politik zu erreichen, dann ist er unglaublich wertvoll. Sollte dann 2030 die Union die Opposition
vielleicht mal wieder verlassen können, wird sie es
schätzen, dass der Beirat auch unter linker Kontrolle im
Konsens wirkte.
Leider können wir Linken heute nur das Bemühen des
Parlamentarischen Beirats zur fraktionsübergreifenden
Arbeit feststellen. Die Weigerung der Unionsfraktion,
gemeinsam mit der Linken Anträge zu stellen, selbst
dann, wenn man gleicher Meinung ist, ist dumm.
({4})
Das ist ein Zeichen von Demokratieunfähigkeit und verachtet die freie politische Meinung jeder achten Wählerin und jeden achten Wählers. Liebe Unionisten, werfen
Sie Ihre Vorurteile über Bord! Wer Demokratiebekenntnisse einfordert, muss Demokratie vorleben; sonst gefährdet er selbst die Demokratie, und zwar nachhaltig.
({5})
Wenn die Linke 2017 die Bundeskanzlerin oder den
Bundeskanzler stellt, werden wir die Demokratie hochhalten, auch für Sie von der CDU/CSU.
({6})
Bis dahin arbeiten wir im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung konstruktiv mit.
Der Bericht des Beirats für Nachhaltigkeit für die
letzte Wahlperiode ist inhaltlich akzeptabel. Da aber das
Bemühen um nachhaltige Zusammenarbeit mit der
Union bisher umsonst war, will die Linke der Union die
Zustimmung zum Bericht erleichtern und enthält sich
deshalb der Stimme.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Valerie Wilms für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute schon eine ganze Menge zum Thema „nachhaltige Entwicklung“ gesagt worden. Sicherlich trifft das
zu, Herr Weinberg, was Sie als derjenige, der auch Erfahrung aus der letzten Wahlperiode hat - diese Erfahrung habe ich leider nicht unmittelbar -, gesagt haben:
Da sind sauber dicke Bretter gebohrt worden. Ich bin
aber jetzt in die Erstellung des Tätigkeitsberichts eingestiegen und mit Ihnen dabei.
Was ich zumindest feststellen kann, ist: Gegenüber
dem, was mir aus den letzten Wahlperioden berichtet
wurde, haben wir deutlich an Fahrt aufgenommen. Wir
sind schnell in Gang gekommen. Wir haben nach der
Einsetzung nur ein Vierteljahr gebraucht. Insofern
möchte ich das, was Sie zuerst gesagt haben, unterstützen. Wir müssen zukünftig deutlich anders aufgestellt
werden und dürfen nicht nur über einzelne Initiativen in
Gang kommen. Wir müssen tatsächlich wie ein Ausschuss behandelt werden.
({0})
Schauen wir mal, ob wir das in dieser Wahlperiode hinbekommen! Wenn uns das gelingt, hätten wir ein weiteres dickes Brett sauber gebohrt.
Vor einer Woche haben wir hier schon über das
Thema „Peer Review“ diskutiert, also darüber, wie die
externen Fachleute aus dem Ausland auf uns schauen.
Jetzt schauen wir einmal, was in den letzten vier Jahren
gemacht worden ist. Dazu ist in der letzten Wahlperiode
eine umfassende Stellungnahme eingebracht worden.
Wir können Folgendes feststellen: Die Bundesregierung
hat die Anregungen, die vom damaligen Parlamentarischen Beirat gegeben wurden, durchaus aufgenommen.
Denn - das ist auch für uns Grüne entscheidend - beim
Thema Nachhaltigkeit müssen wir alle an einem Strang
ziehen. Sonst erreichen wir wenig oder gar nichts.
({1})
Wenn wir etwas erreichen wollen, müssen wir uns interfraktionell aufstellen. Nur so schaffen wir es, unabhängig von Wahlperioden und wechselnden Mehrheiten Erfolge zu erzielen.
Volker Hauff, der ehemalige Vorsitzende des Rates
für Nachhaltige Entwicklung, hat es plastisch dargestellt: Würden wir die Zeit bis zum Erreichen des Ziels
der nachhaltigen Entwicklung in 24 Stunden einteilen,
dann wäre gerade einmal eine halbe Stunde vergangen.
Wir benötigen noch 23,5 Stunden. Das ist eine ganze
Menge Zeit. Wir müssen wirklich intensiv weiterarbeiten.
Eine sehr große Leistung, die der Beirat in der letzten
Wahlperiode vollbracht hat, ist das Etablieren einer
Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung. Kollege Miersch hat schon darauf hingewiesen,
welche Probleme es dabei gibt. Wir sind in dieses Thema
eingestiegen. Schauen wir einmal, ob sich die Regierung
bewegt und ob sie die entsprechenden Dokumente immer liefert. Denn jedes Ministerium ist verpflichtet, die
Auswirkungen von Gesetzesvorhaben auf zukünftige
Generationen zu überprüfen.
Schauen wir uns einmal das Beispiel Staatshaushalt
an. Wir nehmen Kredite auf ohne Ende, in jeder Wahlperiode wieder neu. Unabhängig davon, wer an der Regierung ist, werden neue Kredite aufgenommen. Wir alle
- nicht nur wir, die wir hier sitzen - müssen die Kosten
für Tilgung und Zinsen zahlen. Gerade unsere Kinder
und Kindeskinder und noch mehrere darauffolgende Generationen müssen dafür aufkommen. Wir müssen also
einen Weg aus der Verschuldung finden. Sonst bleibt
nichts mehr übrig für sinnvolle und wichtige Investitionen.
Sparen bedeutet, durch vernünftiges Handeln den finanziellen Gestaltungsspielraum, den wir haben, zu erhalten. Wir Grüne haben dafür eine lange Liste von Vorschlägen erarbeitet, die durchaus zügig umgesetzt
werden können. Einen entscheidenden Punkt möchte ich
in diesem Zusammenhang ansprechen. Es geht um das
Thema externe Kosten. Wir müssen uns damit sehr viel
intensiver beschäftigen. Denn bisher herrscht die Mei5718
nung vor, dass etwas, das nichts kostet, es nicht wert ist,
berücksichtigt zu werden. Was gibt es umsonst? Luft und
Umwelt, denn Schäden bezahlt der Steuerzahler. Das
geht so nicht weiter.
({2})
Wir brauchen dringend eine Lösung für dieses Problem
und müssen es schaffen, die Kosten von Umweltauswirkungen mit einzuberechnen. Herr Miersch, es ist daher
sicherlich sinnvoll, sich mit dem Thema Wachstum zu
beschäftigen und sich zu fragen, ob Kennzahlen wie das
Bruttoinlandsprodukt das richtige Maß sind.
Für mich ist entscheidend, dass wir als Parlamentarier
in diesem Hohen Hause dafür gewählt worden sind,
Leitplanken zu setzen. Diese Aufgabe sollten wir endlich angehen. Lassen Sie uns in Sachen Nachhaltigkeit
weiterhin an einem Strang ziehen! Die Menschen in unserem Lande erwarten, dass wir auch einmal über den
Tellerrand des täglichen Hickhacks hinausschauen.
Diese Art von Auseinandersetzung führen wir in den
Ausschüssen viel zu oft. Sorgen wir also dafür, dass wir
weiterhin in diesem Parlamentarischen Beirat so erfolgreich arbeiten und ihn auch noch institutionalisiert bekommen.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer sich mit Nachhaltigkeit beschäftigt, sollte
selbst auch nachhaltig handeln. Daher ist es richtig, dass
wir uns heute die Ergebnisse aus der letzten Wahlperiode
anschauen und uns fragen, wie wir sie für die aktuelle
und für künftige Wahlperioden nutzbar machen können.
Nachhaltiges Arbeiten des Ausschusses bzw. des Beirates heißt natürlich auch, Kontinuität zu wahren. Als Vorsitzender in der letzten Wahlperiode habe ich natürlich
ein besonderes Interesse daran, zu schauen, welche Erkenntnisse aus der letzten Wahlperiode wir sozusagen
retten können und welche Vorarbeiten wir jetzt umsetzen
können.
Wir haben in der vergangenen Wahlperiode - ich will
nur drei Stichworte nennen - eine Reihe spezieller, teilweise auch recht breit aufgestellter Themen in diesem
großen Bereich Nachhaltigkeit bearbeitet. Ich denke dabei an umfangreiche Anhörungen, die wir durchgeführt
haben, und an Anträge, die wir zum Bereich demografischer Wandel und Infrastruktur erarbeitet haben. Es
klang eben schon bei den Vorrednern an, dass es nicht
nur um Sozialversicherungen oder Geldfragen geht, sondern auch um die Fragen: Wie bauen wir unser Land?
Wie machen wir es fit für die Zukunft? Wie stellen wir
sicher, dass wir bei Infrastrukturentscheidungen nicht
nur an den Bedarf der nächsten 5, 10 Jahre denken, sondern auch an den Bedarf, soweit er absehbar ist, der
nächsten 30, 40, 50 Jahre?
Wir haben uns mit dem Thema Generationenbilanzen
beschäftigt.
Wir haben uns mit dem Megathema der Nachhaltigkeit im Umweltbereich, dem Klimawandel beschäftigt.
Zu diesem Thema haben wir eine gemeinsame Anhörung des Umweltausschusses und des Forschungsausschusses veranstaltet.
Vor allem haben wir uns in der vergangenen Legislaturperiode konzeptionell mit dem Thema Nachhaltigkeit
beschäftigt. Wir haben uns etwa angesehen, wie man
Nachhaltigkeitsprüfungen in der Gesetzgebung verankern kann. Wir haben es durchgesetzt - Herr Miersch ist
bereits darauf eingegangen -, dass es in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien verankert
wird.
Das klingt alles nicht besonders sexy, nicht nach einer
besonders tollen Aktion, die man plastisch darstellen
kann, aber es ist die Voraussetzung dafür, dass Nachhaltigkeit nicht nur in Sonntagsreden auftaucht, sondern
praktisch umgesetzt und methodisch abgearbeitet werden kann.
({0})
Jetzt kommt es darauf an - auch darin stimme ich
dem Kollegen Miersch zu -, dass wir in der aktuellen
Legislaturperiode des Deutschen Bundestages die Konzepte mit Leben füllen und umsetzen. Die Hauptaufgabe
wird dabei sein, die seit Jahren bestehende Nachhaltigkeitsstrategie - wir haben gute Ziele formuliert, aber in
manchen Bereichen kann man noch etwas verbessern in der konkreten Gesetzgebungsarbeit umzusetzen. Das
sind, wenn man so will, die beiden Welten, von denen
Sie gesprochen haben. Das eine ist die Welt einer Strategie, die man mit Fachleuten diskutieren kann, und das
andere ist das hier stattfindende Tagesgeschäft, die Gesetzgebung. Das muss etwas miteinander zu tun haben;
denn sonst ist das eine nur etwas Nettes für die Galerie,
das das andere aber nicht beeinflusst.
({1})
Aus diesem Grunde bin ich der pragmatischen Auffassung, dass nicht nur das Grundgesetz auf den Schreibtisch eines jeden Ministerialbeamten, der Gesetzentwürfe erarbeitet, gehört. Auf jeden Schreibtisch gehört
beispielsweise auch die Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung. Ich will nun nicht durch alle Büros der
Bundesregierung und der Ministerien gehen, um das zu
kontrollieren, aber ich kann jeden, der in einem Ministerium arbeitet, ermuntern, sich die Strategie durchzulesen
bzw. zu fragen, ob die Strategie bekannt ist; denn wie
können wir erwarten, dass die formulierten Ziele bei einem Gesetzgebungsvorhaben rückgekoppelt werden,
wenn die Strategie nicht bekannt ist? Insbesondere sollten sich alle, und zwar nicht erst, wenn sie an einem Gesetzentwurf arbeiten, schlau machen, was überhaupt in
der Nachhaltigkeitsstrategie steht, und fragen, was
Nachhaltigkeit bedeutet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der traditionelle Ansatz von Politik ist meines Erachtens oft nicht
strategisch, nicht zielorientiert, sondern inputorientiert.
Ein Minister bzw. eine Ministerin lässt sich eher dafür
feiern - daran kann man ja angeblich wunderbar das
Wirtschaftswachstum ablesen -, wie viel Geld er ausgeben darf bzw. wie viel er von seinem Haushalt gerettet
oder ihm hinzugefügt hat. Ich finde, das ist kein taugliches Mittel einer modernen Politik.
({2})
Richtig wäre ein erfolgsorientierter Ansatz, in dem bestimmte Ziele definiert werden, wie das in der Nachhaltigkeitsstrategie geschieht. Aufgabe müsste es also sein,
die Ziele mit möglichst wenig Mitteln zu erreichen. Die
Ziele sind das Entscheidende, nicht das Geld, das ausgegeben wird. Ich finde nicht, dass es besonders lobenswert ist, wenn ein Minister besonders viel Geld für einen
Etat ausgibt, sondern es ist lobenswert, wenn er die
Ziele, die man vorher gemeinsam definiert hat, besonders gut erreicht.
({3})
Neues Denken hat immer auch mit der Generationenfrage zu tun. Ich möchte niemanden zurücksetzen, aber
mir ist in der Spardiskussion über den Bundeshaushalt
der letzten Tage und Wochen schon aufgefallen, dass die
Minister unterschiedlich damit umgegangen sind. Ich
will inhaltlich nichts zum Sparpaket sagen, dazu gibt es
genug Debatten in diesem Haus. Mir hat es imponiert
- um ein Beispiel herauszugreifen -, dass unsere Familienministerin Schröder sehr früh überlegt hat - ihr Etat
hat an sich sehr viel mit Generationen, mit Jung und Alt,
zu tun -, welche Sparvorschläge sie machen kann. Sie
hat proaktiv und gestalterisch Ansätze gesucht. Ich
finde, das müsste Schule machen.
({4})
Generationengerechtigkeit drückt sich eben nicht nur darin aus, möglichst viele Einzelprojekte für Jung und Alt,
also für die verschiedenen Generationen, aufzulegen,
sondern Generationengerechtigkeit heißt eben auch
- Frau Wilms, Sie haben es eben gesagt -, dass man
möglichst viel Geld für zukünftige Generationen zusammenhält.
({5})
Zurzeit ist die Nachhaltigkeit ein mehr denn je drängendes Problem. Lassen Sie mich einige Stichpunkte
nennen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir erleben, hat maßgeblich mit mangelnder Nachhaltigkeit
beim Wirtschaften zu tun.
({6})
Nachhaltige Haushaltspolitik ist ein Postulat und in Zeiten der Finanzkrise nötiger denn je. Ich persönlich bin
der Auffassung - über die Einzelheiten kann man streiten -, dass wir diese Krise und ihre Konsequenzen besser durch Regulierung als durch Geldausgeben in den
Griff bekommen.
({7})
Wir müssen auch feststellen, dass der Klimawandel,
der uns in den letzten Jahren stärker beschäftigt hat,
keine Pause eingelegt hat, als die Finanzmarktkrise über
uns hereingebrochen ist. Wir müssen aufpassen, dass
diese langfristig wirklich wichtigen Themen nicht unter
die Räder der aktuellen Politik kommen.
({8})
Ich will zum letzten Punkt kommen und zwei Bemerkungen zur Rolle des Nachhaltigkeitsbeirats und zur
Verwirklichung des Nachhaltigkeitsgedankens machen:
Es ist gut und wichtig, dass wir, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, erste wichtige Schritte unternommen
haben - weitere werden folgen - und die Nachhaltigkeitsstrategie federführend beim dafür eingesetzten Gremium, dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung, verhandeln. Das war eine gute und wichtige Errungenschaft. Das werden wir durchsetzen. Der
zweite Punkt ist: Wir werden die Wachhundfunktion, die
oft angesprochen worden ist, stärker wahrnehmen.
Meine langfristige Vision beim Thema Nachhaltigkeit
ist - den Gedanken darf ich vielleicht noch sagen -, dass
dieser Nachhaltigkeitsbeirat irgendwann einmal überflüssig ist, weil der Gedanke der Nachhaltigkeit allen
Gremien dieses Hauses in Fleisch und Blut übergegangen ist. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg;
auch das ist deutlich geworden. Ich freue mich, diesen
Weg in der aktuellen Wahlperiode als einfaches Mitglied
dieses Beirates mitgehen zu können. Ich freue mich auf
weitere lebhafte Debatten und gemeinsame Ergebnisse.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/1807
zu dem Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis des Berichts auf Drucksache 16/12560 eine
Entschließung anzunehmen. Über diese Beschlussempfehlung werden wir nun abstimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Die Grünen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel
und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung
des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates
({0})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz
stärken
- Drucksache 17/2344 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Ute
Granold, Dr. Eva Högl, Jörg van Essen, Ulla Jelpke und
Jerzy Montag.
Wir beraten heute über einen Antrag der SPD-Fraktion, der eine Stellungnahme des Bundestages nach
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz zum Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung
von Menschenhandel und zum Opferschutz zum Gegenstand hat. Die besagte Richtlinie sieht vor, den EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels
aus dem Jahr 2002 abzuändern.
Bereits im März 2009 hatte die Kommission einen inhaltsgleichen Rahmenbeschluss eingebracht, diesen
dann aber wieder zurückgezogen. Sie hat stattdessen
eine Richtlinie auf den Weg gebracht, da nach ihrer Auffassung Änderungen der nationalen Strafvorschriften
nur mittels einer Richtlinie geregelt werden können. Im
Bereich des materiellen Strafrechts sieht diese insbesondere vor, das Schutzalter von 16 auf 18 Jahre hochzusetzen. Zudem sollen die gerichtliche Zuständigkeit und die
Strafverfolgung einheitlich geregelt werden. Der
Schwerpunkt des Richtlinienentwurfs liegt allerdings in
der Verbesserung der Opferrechte im Strafverfahren sowie der Unterstützung der Opfer. So soll die Unterstützung der Opfer künftig nicht von deren Bereitschaft abhängen, als Zeuge auszusagen. Außerdem sieht die
Richtlinie die Schaffung nationaler Berichterstatter vor.
Das Europäische Parlament hat in einer Entschließung die Zielrichtung des Richtlinienentwurfs und die
darin vorgeschlagenen Maßnahmen ausdrücklich begrüßt - diese betrifft vornehmlich die Verbesserung des
Opferschutzes. Zusätzlich zu den im Richtlinienentwurf
vorgesehenen nationalen Berichterstattern plädiert das
Europäische Parlament für die Schaffung einer neuen
Stelle, die die Bekämpfung des Menschenhandels europaweit koordinieren soll, ein sogenannter EU-Koordinator für die Bekämpfung des Menschenhandels. Von besonderer Bedeutung ist die Forderung des Europäischen
Parlaments, im Sinne einer wirksameren Prävention
auch die Nachfrageseite in den Fokus zu nehmen. Das
Parlament fordert hierzu explizit - ich zitiere Die weitere Prävention und das weitere Vorgehen
sollten sich auch an die Personen richten, die von
den Opfern des Menschenhandels angebotene
Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass sowohl
die Verhältnismäßigkeit als auch der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt sind. Auch im Unterausschuss Europarecht des federführenden Rechtsausschusses des Bundestages gab es diesbezüglich keine Bedenken. Von der
Möglichkeit einer Rüge wurde daher nicht Gebrauch gemacht.
Die SPD-Fraktion kann sich zwar mit der Zielsetzung
der Richtlinie identifizieren, will jedoch darüber hinaus
von der Bundesregierung in den weiteren Beratungen im
Rat verschiedene Ergänzungen und Klarstellungen
durchgesetzt sehen.
Auch wir begrüßen den Richtlinienvorschlag der
Kommission ausdrücklich. Der Kampf gegen Menschenhandel ist für uns seit Jahren ein wichtiges Anliegen. Wir
haben 2005 gemeinsam die Strafvorschriften gegen Menschenhandel umfassend neu geregelt und einen neuen
Straftatbestand „Menschenhandel“ in das Strafgesetzbuch eingeführt. In der letzten Legislaturperiode haben
wir dann die Richtlinie über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen
Behörden kooperieren, umgesetzt. Diese so genannte
Opferschutzrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zu
einer Reihe von Maßnahmen zugunsten jener Opfer, die
bereit sind, mit den Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten zusammenzuarbeiten und sich als Zeugen zur
Aufklärung und Verfolgung entsprechender Straftaten
zur Verfügung zu stellen. Zu diesen Maßnahmen zählen
insbesondere die Einräumung eines Aufenthaltsrechts
zumindest für die Dauer des Strafverfahrens, Zugang
zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten sowie die
medizinische Versorgung, Beratung und Betreuung.
Diese Vorgaben hat die Bundesrepublik mit dem
Richtlinienumsetzungsgesetz eins zu eins umgesetzt:
Nach § 25 Abs. 4 a Aufenthaltsgesetz steht den Menschenhandelsopfern aus Drittstaaten nunmehr ein Recht
zum vorübergehenden Aufenthalt für die Zeitdauer der
Mitwirkung im Strafverfahren unter Befreiung von allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu. Zudem wurde im
Aufenthaltsgesetz eine Ausreisefrist von mindestens vier
Wochen als Bedenkzeit für eine Kooperation mit den zuständigen Behörden festgelegt. Darüber hinaus wird den
Betroffenen für die Dauer des Aufenthaltstitels der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsangeboten eröffnet. Schließlich gewährleistet das Asylbewerberleistungsgesetz eine hinreichende medizinische Versorgung
sowie Beratung und soziale Betreuung.
Die Bundesrepublik erfüllt somit schon jetzt die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Akuter gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht demnach zumindest aus
europarechtlichen Gründen nicht. Im Übrigen ist die
konkrete Umsetzung des geltenden Gemeinschaftsrechts, also hier die von der SPD aufgeworfene Frage,
ob § 25 Abs. 4 a Aufenthaltsgesetz als Kann- oder Sollvorschrift ausgestaltet werden soll, gerade nicht Gegenstand der derzeit anhängigen Beratungen zur neuen
Richtlinie. In Fällen unzureichender Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben wäre es vielmehr zunächst Sache der Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einzuleiten. Wie ich
bereits ausgeführt habe, haben wir unsere Hausaufgaben
gemacht. Dahin gehende Überlegungen in der Kommission sind daher auch nicht zu erwarten.
Unabhängig davon sind wir als Union jedoch grundsätzlich dafür offen, auch über eine Verbesserung des
aufenthaltsrechtlichen Status der Menschenhandelsopfer
zu sprechen. Bereits gegen Ende der letzten Legislaturperiode waren wir auf einem guten Weg, gemeinsam mit unserem damaligen Koalitionspartner eine vielversprechende Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen. Bei
den Beratungen haben wir nicht nur über die sogenannte
Freierstrafbarkeit, sondern auch über konkrete Verbesserungen des aufenthaltsrechtlichen Status von Menschenhandelsopfern gesprochen. Zu unserem Bedauern hat
die SPD jedoch aus wahltaktischen Gründen keine Einigung gewollt.
Der jetzige Antrag erscheint allerdings auch aus anderen Gründen problematisch. Die SPD fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der
entsprechende Änderungen im Aufenthaltsgesetz zum
Gegenstand haben soll. Das heißt, die Bundesregierung
soll auf nationaler Ebene ein Gesetz vorlegen. Hierfür
ist eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz
das falsche Instrument. Eine solche Stellungnahme zielt
nämlich ausschließlich darauf ab, der Bundesregierung
ein Mandant für die Verhandlungen und die Gesetzgebung auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene zu geben. Mit
Blick auf die Forderungen, die Änderungen im deutschen Aufenthaltsrecht betreffen, hätte die SPD folglich
nicht eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz, sondern einen auf Vorlage eines entsprechenden
Gesetzentwurfs gerichteten Antrag einbringen oder gegebenenfalls einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen
müssen. Der vorliegende Antrag erscheint daher schon
aus formellen Gründen problematisch.
Ähnlich verhält es sich mit der Forderung an die Bundesregierung, das Übereinkommen des Europarates zur
Bekämpfung des Menschenhandels zeitnah zu ratifizieren. Besagtes Übereinkommen steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Richtlinienvorschlag.
Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention
auf der einen sowie Europäische Union und Gemeinschaftsrecht auf der anderen Seite bilden zwei unterschiedliche Ebenen bzw. Rechtsräume. Bei dem Übereinkommen handelt es sich um einen völkerrechtlichen
Vertrag, der nicht mit der Europäischen Union verwechselt werden darf. Der Europäischen Union fehlt nach
geltendem Gemeinschaftsrecht in diesem Bereich die
Kompetenz für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Diese liegt alleine bei den Mitgliedstaaten des
Europarates. Es wäre insofern irrelevant, wenn die Bundesregierung auf Gemeinschaftsebene im Rahmen der
Verhandlungen zum Richtlinienvorschlag eine zügige
Ratifizierung des Europaratsüberkommens fordern
würde. Auch insofern ist die Stellungnahme nun einmal
das falsche Instrument.
Nur am Rande sei erwähnt, dass nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung die Zuständigkeit für die
Ratifizierung dem Bundesgesetzgeber und nicht der
Bundesregierung zugewiesen ist. Der Antrag verkennt
also die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung - ein
weiterer formeller Grund, den Antrag abzulehnen. Nur
der Vollständigkeit wegen sei darauf hingewiesen, dass
die Bundesregierung das Übereinkommen bereits am
17. November 2005 gezeichnet hat. Eine Ratifizierung
soll nun in Kürze erfolgen.
Wir stimmen aber überein, dass europarechtliche
Vorgaben keine Regelungen enthalten sollten, die die
Kohärenz des nationales Sanktionssystem gefährden
können. Da jedoch die Bundesregierung wiederholt
klargestellt hat, dass sie diese Auffassung voll und ganz
teilt und somit ein eigenes Interesse hat, diese Position
in den weiteren Beratungen der Richtlinie zu vertreten,
bedarf es insofern auch keiner Stellungnahme des Bundestages. Wie in der Vergangenheit sind wir aber bereit,
bei diesem wichtigen Thema fraktionsübergreifend nach
guten Lösungen zu suchen, die uns im Kampf gegen
diese menschenverachtende Form der organisierten
Kriminalität weiterhelfen können. Dazu lade ich Sie alle
ein.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Aspekt ansprechen, der uns besonders am Herzen liegt: Alle Anstrengungen - sei es nun im Bereich der internationalen
Koordinierung, der Ausstattung von Polizei und Strafverfolgungsbehörden oder des Opferschutzes - sind notwendig und gleichermaßen wichtig. Wirkliche Erfolge
im Kampf gegen Menschenhandel werden wir allerdings
nur erzielen können, wenn es uns auch gelingt, die
Nachfrage nach den von den Opfern angebotenen
Dienstleistungen nachhaltig zu drosseln; denn ohne
Nachfrage kein Angebot. Ich begrüße daher ausdrücklich die Forderung des Europäischen Parlaments, dass
die weitere Prävention und das weitere Vorgehen sich
auch an jene Personen richten muss, die von den Opfern
des Menschenhandels angebotene Dienstleistungen in
Anspruch nehmen. Das ist eine Bestätigung unserer
Forderung, über einen Straftatbestand „Sexuelle Ausbeutung von Menschenhandelsopfern“ auch jene Freier
ins Visier zu nehmen, die wissentlich die Zwangslage
und Hilflosigkeit der Opfer ausnutzen. Ich habe die
Hoffnung, dass wir den Mut und die Kraft für einen
ganzheitlichen Ansatz finden, der den Opferschutz und
die Prävention gleichermaßen zum Gegenstand hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ganz ausdrücklich begrüße ich den Vorschlag der
Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel und zum
Opferschutz. Es ist richtig, über Menschenhandel in Europa intensiv zu diskutieren und wirksame Maßnahmen,
die in ganz Europa gelten, zu beschließen.
Menschenhandel ist nichts anderes als die moderne
Form der Sklaverei. Es handelt sich dabei um eine der
weltweit schwersten Straftaten. Besonders verwerflich
ist, dass dabei unter Verletzung der Menschenrechte der
Betroffenen ein äußerst gewinnbringendes Geschäftsfeld überwiegend im Bereich der organisierten Kriminalität betrieben wird.
Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Jugendliche zu Hungerlöhnen und unter schlimmen Bedingungen beschäftigt, Kinder zum Betteln genötigt. Sie alle
werden mit falschen Versprechungen in fremde Länder
gelockt und systematisch und gezielt ausgebeutet.
Die beständig hohen Zahlen der Fälle von Zwangsprostitution erschrecken uns ebenso wie die steigende
Zahl von Zwangsarbeit und wirtschaftlicher Ausbeutung. In allen Fällen ist von einer hohen Dunkelziffer
auszugehen. Hier ist dringender Handlungsbedarf! Wir
dürfen nicht länger zusehen!
In drei Viertel der Fälle finden die Straftaten grenzüberschreitend statt, im Bereich der Zwangsprostitution
etwa stammen zwei Drittel der Opfer aus osteuropäischen EU-Staaten. Es liegt daher auf der Hand, dass
eine wirksame Bekämpfung des Menschenhandels nur
international abgestimmt erfolgreich sein kann.
Deshalb ist es richtig und gut, dass die Europäische
Kommission eine Richtlinie vorschlägt.
Zwar existiert in Deutschland bereits ein großer Teil
der im Richtlinienentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen
und Straftatbestände, doch ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen. Deutschland ist Zielland des Menschenhandels. Das heißt, dass die Kette der Straftaten nicht
mit dem Menschenhandel im engeren Sinne hinter den
Grenzen im Inland endet, sondern die Straftaten in unserem Land überhaupt erst ermöglicht. Das erbarmungswürdige Schicksal in Bordellen, Restaurantküchen oder
auf Baustellen erleiden die Betroffenen nicht irgendwo
auf der Welt, sondern auch und gerade in unserer Nachbarschaft. Dies zeigt, dass wir Menschenhandel mit den
bisher existierenden Maßnahmen noch nicht in ausreichendem Maße begegnen konnten.
Der vorgelegte Richtlinienentwurf verpflichtet alle
EU-Mitgliedstaaten dazu, abgestimmte strafrechtliche
Mindeststandards zu verabschieden. Ebenfalls enthalten
ist die Notwendigkeit der engeren und besseren Zusammenarbeit aller Behörden sowohl auf nationaler als
auch internationaler Ebene. Dieser Ansatz ist zu begrüßen.
Wir brauchen aber weitergehende Maßnahmen, um
die der Richtlinienvorschlag ergänzt werden muss.
Diese haben wir in unserem Antrag dargestellt.
Das Vorgehen gegen Menschenhandel und - genauso
wichtig, wenn nicht sogar wichtiger - die Vermeidung
von Menschenhandel erfordern einen integrierten Ansatz. Denn die strafrechtliche Ahndung ist immer nur
das letzte zur Verfügung stehende Mittel. Neben den
strafrechtlichen Regelungen benötigen wir umfassende
Maßnahmen der Prävention und des Opferschutzes. Es
müssen alle betroffenen Politikfelder verzahnt und zivilgesellschaftliches Engagement einbezogen werden. So
sind etwa Nichtregierungsorganisationen oft die einzigen Ansprechpartner, denen ein vertrauensvoller Zugang zu den Opfern gelingt. Ihre Bedeutung ist sowohl
auf der Ebene der Europäischen Union als auch in den
Mitgliedstaaten noch stärker zu betonen. Hier greift der
Richtlinienvorschlag zu kurz, hier brauchen wir mehr
und bessere Regelungen!
Am Anfang aller Bemühungen muss die Prävention in
allen Herkunftsregionen der Opfer, zu denen übrigens
auch Deutschland selbst gehört, ansetzen, um Menschenhandel von Anfang an den Boden zu entziehen.
Hier sehe ich noch großen Nachholbedarf. Ferner muss
dafür Sorge getragen werden, dass die Opfer nicht nur
während der Dauer eines Strafverfahrens als Zeuginnen
und Zeugen, sondern auch darüber hinaus die Sicherheit
eines Aufenthaltstitels erhalten. Eine erfolgreiche Strafverfolgung ist ohne umfassenden Opferschutz nicht
möglich. Eines der Haupthemmnisse für die Strafverfolgung ist die mangelnde Aussagebereitschaft von Opfern,
die um ihre Existenz fürchten. So erhalten Betroffene in
Deutschland den Schutz eines Aufenthaltstitels nur für
die Dauer des Strafverfahrens. Deshalb müssen in ganz
Europa die einschlägigen Regelungen des Aufenthaltsrechtes verbessert werden. Wer in sein Herkunftsland
zurückkehrt, benötigt auch dort Sicherheit für einen
Neuanfang. Hier sind bei den örtlichen Behörden Strukturen zu schaffen, die das ermöglichen. Darüber hinaus
ist es dringend notwendig, dass Minderjährige speziell
auf sie abgestimmte Schutz- und Betreuungsprogramme
erhalten.
Das Europäische Parlament hat bereits in einer Entschließung vom Februar dieses Jahres mehr Prävention
und Opferschutz angemahnt. Diese Forderungen haben
wir als SPD-Bundestagsfraktion in unserem Antrag aufgegriffen. Wir sprechen uns für den auch vom Europäischen Parlament geforderten integrierten Ansatz aus
und schlagen weitere, sehr wirksame und sinnvolle
Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Menschenhandel vor. Ich werbe um Ihre Unterstützung dafür,
damit wir einem der abscheulichsten Verbrechen unserer Zeit wirksam den Kampf ansagen und die Menschenrechte europaweit durchsetzen.
Die Bundesregierung fordere ich auf, bei den weiteren Verhandlungen im Rat sowie mit der Europäischen
Kommission und dem Europäischen Parlament darauf
hinzuwirken, dass die noch zu verbessernden Punkte Berücksichtigung finden.
Schließlich weise ich darauf hin, dass es aus deutscher Sicht ausgesprochen unglücklich ist, andere Mitgliedstaaten und Parlamente auf ihre Bringschuld hinsichtlich der Umsetzung von Maßnahmen gegen
Zu Protokoll gegebene Reden
Menschenhandel hinzuweisen, solange auch Deutschland noch nicht alle seine Hausaufgaben in diesem Bereich gemacht hat. Deshalb fordere ich die Bundesregierung nachdrücklich dazu auf, das Übereinkommen des
Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels
endlich zu ratifizieren und umzusetzen.
Lassen Sie uns gemeinsam den Menschenhandel
wirksam bekämpfen und die vorgeschlagene Richtlinie
gezielt verbessern, um unseren Werten auch Taten folgen
zu lassen.
Das Thema Opferschutz liegt mir seit vielen Jahren
besonders am Herzen. In Verbindung mit dem besonders
abscheulichen Verbrechen des Menschenhandels - oder
um es deutlicher zu formulieren: der modernen Form
der Sklaverei - wird dieses Thema besonders brisant.
Gleichzeitig haben uns Vorschläge der Europäischen
Union zum Strafrecht und insbesondere zum Sexualstrafrecht in den letzten Jahren bereits mehrfach intensiv beschäftigt.
Zum einen ist nicht zu übersehen, dass es in vielfältiger Form sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel
gibt, dem wirksam begegnet werden muss. Menschen,
die Opfer einer solchen Ausbeutung geworden sind, verdienen Schutz und Anerkennung ihrer Opfersituation.
Zum anderen werden von europäischer Seite Vorschläge
eingebracht, die mit den Vorstellungen des Deutschen
Bundestages und der deutschen Rechtsordnung in einigen wesentlichen Punkten nicht in Übereinstimmung zu
bringen sind. Die wegweisenden Reformen des Sexualstrafrechts zu Beginn der 1990er-Jahre haben sich nach
Bekundung meiner staatsanwaltschaftlichen Kolleginnen und Kollegen bestens bewährt und bedürfen keiner
Änderung. Aus diesem Grund darf es auf dem Weg über
Europa auch nicht zu einem „Rollback“ in die Moralvorstellungen der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts
kommen.
In diesem Zusammenhang hat meine Fraktion es
schon immer kritisch gesehen und sieht es weiter kritisch, dass nach den Vorstellungen der Europäischen
Union alle Personen, die 18 Jahre und jünger sind, als
Kinder gesehen werden. Dies wird der Wirklichkeit der
sexuellen Entwicklung und dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen nach ihrer Pubertät nicht
einmal ansatzweise gerecht. Die FDP legt deshalb großen Wert darauf, dass es bei dem differenzierten System
mit dem absoluten strafrechtlichen Schutz von Kindern,
also Personen bis zum 14. Lebensjahr, ebenso bleibt wie
bei dem hohen Schutz von Jugendlichen in der Pubertät.
Bei Jugendlichen nach der Pubertät, also nach dem
16. Lebensjahr, bedarf es - wie in den Reformgesetzen
vom Anfang der 90er-Jahre - generell nur noch des notwendigen Schutzes, um dem sexuellen Selbststimmungsrecht der Jugendlichen gegenüber Übergriffen von Erwachsenen, aber auch anderen Jugendlichen gerecht zu
werden.
Die FDP hat sich auch immer dagegen gewandt, dass
Mindest- und Höchststrafen festgesetzt werden. Die von
europäischer Ebene vorgesehenen Strafrahmen passen
nicht in die Systematik des deutschen Strafrechts und
würden Anhebungen des Strafmaßes erforderlich machen, die zu grotesken Fehlbewertungen gegenüber anderen schweren Straftaten führen würden. Außerdem haben wir uns fraktionsübergreifend zu Recht immer
wieder gegen die Strafmöglichkeit gegenüber juristischen Personen gewandt, die dem deutschen Recht
fremd ist und weiter aus guten Gründen auch fremd bleiben sollte.
Heute fordert die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem
Antrag einen umfassenden Ansatz bei der Bekämpfung
des Menschenhandels und seinen Folgen für das Opfer.
Es sind sowohl die menschenrechtlichen als auch die innen- und rechtspolitischen Ansätze miteinander zu verzahnen. Dabei ist sicherzustellen, dass nach den bewährten Regeln des Strafrechts und des Aufenthaltsrechts eine
Aussagebereitschaft und Hilfe bei der Aufklärung dieser
schweren Delikte durch die Rechtsordnung honoriert
wird.
Ein Schwerpunkt für die FDP-Bundestagsfraktion bei
der Bekämpfung des Menschenhandels ist die Prävention in den Herkunftsländern. Insbesondere Jugendliche
und junge Frauen müssen mit Unterstützung der Europäischen Union gegen die Verlockungen, mit denen die
Menschenhändler arbeiten, stark gemacht werden.
Der in EU-Dokumenten immer wieder verwendete
Begriff der Cyberkriminalität ist weiterhin unscharf und
bedarf dringend einer Präzisierung.
Bereits diese Beispiele zeigen, dass der Bundestag
gut beraten ist, sich mit den Vorschlägen der EU, aber
auch mit denen dieser Vorlage intensiv auseinanderzusetzen. Meine Fraktion wird sich entsprechend in die Beratungen mit einbringen.
Wir debattieren heute über einen Antrag der SPD zur
Bekämpfung des Menschenhandels, mit dem sie sich auf
einen Richtlinienvorschlag der EU-Kommission bezieht.
Die Bundesregierung soll bei den weiteren Verhandlungen zur Verabschiedung dieser Richtlinie eine Reihe von
Forderungen berücksichtigen, die in diesem Antrag aufgelistet sind. Die SPD-Fraktion versucht, mit diesem
Antrag von den neuen Instrumentarien des Deutschen
Bundestages Gebrauch zu machen, über die Bundesregierung auf die Politik der EU einzuwirken.
Die Bekämpfung des Menschenhandels ist ein ernstes
Anliegen, das sicherlich von allen hier geteilt wird.
Umso ärgerlicher ist die fehlende Ernsthaftigkeit, mit
der die SPD dieses Thema bearbeitet. Sie waren sich
doch wirklich nicht zu schade, einfach einen guten Teil
von Forderungen aus einer Entschließung des Europäischen Parlaments abzuschreiben, und zwar wortwörtlich, und dann sind Sie auch noch so dreist, diese Vorlage des Europäischen Parlaments mit keinem Wort zu
erwähnen. Vielleicht wäre es Ihnen ja peinlich gewesen,
wenn man darüber gleich gemerkt hätte, dass Sie hier
aus reiner Profilsucht ein Plagiat vorlegen. Vielleicht
war Ihnen aber auch peinlich, was Sie aus dieser guten
Vorlage nicht abgeschrieben haben. Es sind zwei ganz
wesentliche Punkte, die ich Ihnen nennen werde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum einen ist es ein ganz allgemeiner Punkt: Das Europäische Parlament fordert, einen auf die Opfer ausgerichteten Ansatz zu wählen. In erster Linie soll es also
um den Schutz der Opfer gehen, um Zugang zu Betreuung und rechtlicher Beratung, also weniger um die repressiven Aspekte der Bekämpfung des Menschenhandels. Denn nur mit einer hohen Strafandrohung, wie sie
der Richtlinienvorschlag enthält, ist den Opfern noch
nicht geholfen.
Zum anderen geht es mir um einen ganz konkreten
Punkt, den die SPD-Fraktion in ihrem Antrag einfach
unter den Tisch fallen lässt: das Aufenthaltsrecht für die
Opfer von Menschenhandel, die aus Ländern außerhalb
der EU kommen. In der Entschließung des EP wird gefordert, dass diese Menschen mindestens - ich betone:
mindestens - einen befristeten Aufenthaltstitel erhalten
sollten, unabhängig von ihrer Bereitschaft, in Strafverfahren zu kooperieren. Bei der SPD bleibt von dieser
Forderung nur das übrig, was ohnehin im Richtlinienvorschlag der EU-Kommission steht, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, den Opfern von Menschenhandel nach ihrer Aussage in einem Strafverfahren
noch einen längeren Aufenthalt zu gewähren. Diese
Gnade müssen sie sich aber erst mit einer Aussage in einem Strafverfahren verdienen. Damit bleibt die SPD der
Linie der Kommission, des Bundesinnenministeriums
und der Unionsfraktion treu, Opfer von Menschenhandel lediglich für Strafprozesse instrumentalisieren zu
wollen und sie gleich darauf in ihr Herkunftsland abzuschieben - eine Politik, die die SPD übrigens in der Großen Koalition mitgetragen hat, als sie auf weitergehende
Regelungen bei der Änderung des Aufenthaltsgesetzes
im Sommer 2007 verzichtet hat. Auch diese Peinlichkeit
lässt die SPD-Fraktion nicht aus: Sie fordert in ihrem
Antrag eine korrekte Umsetzung der bereits bestehenden
Richtlinie der EU zur Erteilung von Aufenthaltstiteln an
die Opfer von Menschenhandel, ganz so, als ob sie das
in der Koalition mit der Union in den vergangenen Jahren nicht selbst verbockt hätte.
Die Linke hat schon in den damaligen Debatten ganz
klar gefordert, Opfern von Menschenhandel einen Aufenthaltstitel zu gewähren, ob sie sich nun als Zeugen für
Strafverfahren zur Verfügung stellen oder nicht. Gerade
Opfern sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution
droht in ihren Herkunftsländern soziale Ausgrenzung
und damit ökonomisches Elend. Dazu kommt, dass sie in
ihren Herkunftsländern wieder ins Visier jener kriminellen Netzwerke geraten, deren Opfer sie bereits geworden
sind. Das gilt auch für andere Opfergruppen von Menschenhandel, ob sie nun als Haushaltshilfen oder auf
dem Bau arbeiten. Eine Abschiebung ist deshalb unzumutbar und gerade das Gegenteil von Opferschutz. In
diesem Sinne fordern auch wir die Bundesregierung zu
einer Revision ihrer bisherigen Verhandlungsposition
auf.
Gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche Vorbemerkung: Ihr Antrag ist ein Antrag gemäß Art. 23
Abs. 3 Grundgesetz. Der Bundestag wirkt mit diesen
Anträgen an der europäischen Gesetzgebung mit. Ihr
Antrag enthält jedoch überwiegend eine Aufzählung
von - wie ich finde - vielen guten und unterstützungswürdigen allgemeinen Forderungen zur Bekämpfung
des Menschenhandels und zum Opferschutz.
Der Sinn und Zweck eines Antrags nach Art. 23 Abs. 3
Grundgesetz ist es indessen, im Rahmen eines konkreten
Gesetzesvorhabens auf europäischer Ebene Forderungen zu formulieren, die die Bundesregierung bei den
Verhandlungen im Rat zu berücksichtigen hat. Dieses
wichtige Instrument, das es dem Bundestag erlaubt, aktiv an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken,
sollte zielgerichtet eingesetzt werden und nicht allgemeine Forderungen enthalten, die im Rahmen des konkreten Gesetzgebungsverfahren irrelevant und vor allem
auch gar nicht umsetzbar sind.
Das Instrument der Stellungnahme nach Art. 23 GG
ist das „schärfste Schwert“, das der Bundestag im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsprozesses besitzt.
Es wird zu einem „stumpfen Schwert“, wenn die Stellungnahmen Forderungen im Allgemeinen enthalten, die
die Bundesregierung im Allgemeinen beachten soll, im
Konkreten aber gar nicht beachten kann.
Nach dieser allgemeinen Vorbemerkung möchte ich
nun noch zu einzelnen Punkten des Antrags Stellung
nehmen:
Unter II.2. wird gefordert, die Gewährung eines Aufenthaltstitels für Opfer von Menschenhandel, die in einem Strafprozess als Zeugen aussagen, aufgrund einer
Ermessensentscheidung im Einzelfall auch über den
Strafprozess hinaus zu ermöglichen. Wir unterstützen
diese Forderung, jedoch ist es notwendig, Kriterien für
eine solche Ermessensentscheidung, wie zum Beispiel
Gefahr für Leib und Leben für die Betroffenen und ihre
Familienangehörigen in ihrer Heimat, aufzustellen.
Den in II.3. beschriebenen allgemeinen Opferschutzansatz begrüßen wir, allerdings wird nicht deutlich, inwiefern weitergehender Schutz denn konkret noch notwendig ist. Angesichts vielfacher Verbesserungen der
Regelungen des Opferschutzes in den letzten Jahren
können und müssen weitere Reformschritte konkret benannt werden.
Die Forderung, wonach FRONTEX sowie die einzelstaatlichen Grenzschutzbehörden angehalten werden
sollen, Opfer des Menschenhandels von illegalen Einwanderinnen und Einwanderern zu unterscheiden,
klingt gut - aber ist sie auch gut? Anhand welcher Kriterien sollte denn eine solche Unterscheidung an den
Grenzen vorgenommen werden können?
Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Prävention
sind zu begrüßen. Sie müssen sich jedoch - sollen sie europäisch geregelt werden - an die Kompetenzgrenzen
des Lissabon-Vertrags halten. So sieht Art. 84 AEUV im
Bereich der Kriminalprävention lediglich Maßnahmen
zur Förderung und Unterstützung der Mitgliedstaaten
vor.
Die unter II.4. gestellte Forderung nach einer neuen
Koordinationsstelle der EU für die Bekämpfung des
Menschenhandels sehen wir ebenfalls skeptisch. Der
Zu Protokoll gegebene Reden
Menschenhandel ist zweifellos ein weltumspannendes
Phänomen, das typischerweise grenzüberschreitend ist
und daher allein im nationalen Kontext nur sehr bedingt
wirksam bekämpft werden kann. Daher ist Informationsaustausch und eine intensivere Zusammenarbeit und
Koordination notwendig. Die Frage ist allerdings, ob
hierfür eine neue Stelle geschaffen werden sollte oder ob
dies nicht bereits hinreichend in bestehenden Strukturen
verwirklicht werden kann, wie etwa durch Eurojust und
das Justizielle Netz für Strafsachen.
Mit einer gewissen Verwunderung nehme ich die in
II.5. enthaltene Forderung nach neuen Straftatbeständen für mit dem Menschenhandel zusammenhängende
Cyberkriminalität zur Kenntnis. Gerade von Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, hätte ich
den Ruf nach weitergehenden Straftatbeständen in diesem Zusammenhang nicht erwartet, da ja gerade Sie den
Begriff der Cyberkriminalität in anderem Kontext - und
zwar bei den Deliktsgruppen - wegen seiner Unbestimmtheit vehement kritisiert haben. Wir Grüne jedenfalls sind und bleiben grundsätzlich skeptisch bezüglich
der Einführung neuer Straftatbestände im Allgemeinen
und bezüglich Straftatbeständen im Zusammenhang mit
dem unbestimmten Begriff der Cyberkriminalität im Besonderen.
Die unter I.8. und II.5. geäußerte Kritik bzw. Sorge,
dass die Richtlinie die strafrechtliche Systematik durch
Mindesthöchststrafen aus dem Gefüge bringt, teilen wir
Grünen - jedenfalls aus deutscher Sicht - nicht. Im Vergleich zum Rahmenbeschlussentwurf zur Bekämpfung
des Menschenhandels, den die Kommission im vorherigen Jahr noch vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags vorgelegt hat, wurden die Mindesthöchststrafen im
vorliegenden Richtlinienentwurf gesenkt, sodass jedenfalls im deutschen Recht kein Eingriff in die Strafrechtssystematik zu befürchten ist.
Auch die unter I.9. und II.5. geäußerte Kritik erscheint uns unbegründet. Zum einen kennt das deutsche
Recht bereits die Verantwortlichkeit juristischer Personen. So sieht § 30 OWiG die Verhängung von Geldbußen
gegen juristische Personen vor. Zum anderen liegt hier
auch keine isolierte Einführung vor, denn im Richtlinienentwurf der Kommission zur Bekämpfung der Kinderpornografie ist ebenfalls die Verantwortlichkeit juristischer Personen vorgesehen - Art. 11 und 12 des
Entwurfs.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir Grünen die Bekämpfung des Menschenhandels ausdrücklich unterstützen und insbesondere auch einen umfassenden und praktikablen Opferschutz und damit den
Tenor dieses Antrags. Was jedoch das Instrument angeht
- ein Antrag nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz -, sind wir
äußerst skeptisch, ebenso aufgrund der vorstehend angesprochenen Kritikpunkte.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2344 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Vereinbarte Debatte
Legislativ- und Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2010
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Oliver Luksic für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Wirtschaftskrise und die daraus resultierende Währungskrise in der EU stellen uns, aber auch die Kommission vor große Herausforderungen. Die Kommission
muss jetzt erforderliche Impulse geben. Ich betrachte es
mit Sorge, dass immer mehr Entscheidungen im Rat
oder aufseiten der Staats- und Regierungschefs getroffen
werden. Ich glaube, die Kommission muss ihre Position
als Motor der europäischen Integration verteidigen und
sich offensiv positionieren. Wir als FDP wollen eine
starke Kommission mit einem ambitionierten Arbeitsprogramm.
({0})
Natürlich läuft das Tagesgeschäft der EU auch in Zeiten der Krise weiter. Ich bin zuversichtlich, dass das
auch unter belgischer Ratspräsidentschaft trotz der dort
vorhandenen innenpolitischen Turbulenzen der Fall sein
wird. Jetzt endlich muss der EAD eingerichtet werden.
Die Erweiterungsverhandlungen insbesondere mit Kroatien müssen weitergeführt und im Jahre 2010 zum Abschluss gebracht werden. Das ist nicht nur für die EU
und Kroatien wichtig, sondern auch ein entscheidendes
Zeichen für den gesamten westlichen Balkan.
({1})
Zu Recht nimmt die Bewältigung der Finanz- und
Wirtschaftskrise den größten Raum des Programms der
Kommission ein. Europa ist in den letzten Jahren weniger
gewachsen als die USA. Asien ist die Wachstumslokomotive im 21. Jahrhundert. Wir in der Euro-Zone haben auch
jetzt, nach der Krise, nur ein geringes Wachstum zu verzeichnen. Deswegen können wir uns ein Scheitern der
Strategie „Europa 2020“, wie das beim Lissabon-Vertrag
der Fall war, nicht leisten. Ich bin hier allerdings nicht
sehr optimistisch.
Jetzt steht die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in den Mitgliedstaaten an, ebenso vonseiten der EU
eine Neuausrichtung der Politik. Denn immer noch fließt
zu viel Geld in Agrar- und Strukturfonds und zu wenig
in Zukunftsinvestitionen. Deswegen ist es jetzt bei der
finanziellen Vorausschau wichtig, dass wir hier neue
Prioritäten setzen, weniger umverteilen und konsumtive
Ausgaben tätigen, aber mehr in Innovation und Wachstum investieren.
({2})
Die Kommission betont in ihrem Programm zu Recht
die Bedeutung von Forschung und Entwicklung sowie
des Ausbaus von innovativen Technologien. Sie möchte
auch eine industriepolitische Initiative starten. Das kann
man begrüßen, auch wenn man hier genau hinschauen
muss, was damit gemeint ist. Im Programm steht unserer
Meinung nach zu wenig über bessere Rahmenbedingungen für kleinere und mittlere Unternehmen, die auch in
Europa den größten Anteil an Beschäftigung und Ausbildung haben. Ich glaube, hier muss vonseiten der Europäischen Union und der Kommission mehr kommen.
Was eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung angeht, brauchen wir in der Debatte mehr Klarheit.
Ob Wirtschaftsregierung, Economic Governments oder
Gouvernement Économique - es gilt, diese Begriffe mit
Inhalten zu füllen. Das ist jetzt an der Zeit. Auch wenn
viele anzugehende Maßnahmen nationale Kompetenzen
betreffen, ist klar, dass viele Probleme nur mit einer verstärkten Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in Europa lösbar sind. Unserer Meinung nach soll das zentral
vor allem im Wettbewerbsfähigkeitsrat stattfinden; denn
wir kommen nicht mit weniger Wettbewerbsfähigkeit
aus der Krise heraus.
Wer im Inland oder auch im Ausland den Abbau des
deutschen Exportüberschusses fordert, der nimmt den
Abbau von Arbeitplätzen in Kauf. Diesen Weg werden
wir als Koalition nicht mitgehen. Wir müssen nicht
schlechter werden, alle in Europa müssen besser werden,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Die Herausforderung besteht darin, in Europa den
Teufelskreis aus zu hoher Staatsverschuldung und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu durchbrechen. Dies hat
im Kern zur Griechenlandkrise und damit auch zur Währungskrise geführt. Wir begrüßen ausdrücklich die Vorschläge von Kommissar Rehn, die eine Stärkung des Stabilitätspaktes zum Ziel haben, und wollen als Koalition
auch weiterhin die Van-Rompuy-Gruppe konstruktiv begleiten. Denn die Verabschiedung des Rettungspakets
bzw. des Rettungsschirms war eine schwierige, aber unverzichtbare Entscheidung. In der Zukunft gilt es, genau
darüber zu wachen, dass alles umgesetzt wird.
Der aktuelle Bericht der Kommission zur Lage in Griechenland bzw. zur Umsetzung der notwendigen Reformen zeigt, dass dies erfolgreich angepackt wird. Gerade
vor dem Hintergrund der Sparbemühungen in Deutschland müssen wir der griechischen Regierung unseren Respekt dafür zollen, dass die richtigen Reformen auf den
Weg gebracht wurden und dass sie sich nicht vom Weg abbringen lässt.
({4})
Lassen Sie mich aber auch sagen, dass es unserer
Meinung nach für die Zukunft klar sein muss, dass es
sich bei Hilfspaketen um Ausnahmen handeln muss, die
nicht zur Regel werden dürfen. Die Entfristung von Rettungspaketen sowie die Institutionalisierung von Finanzhilfen halten wir als Liberale für falsch, egal ob man das
„permanenter Krisenmechanismus“ oder „Europäischer
Währungsfonds“ nennt. Wir wollen keine Transferunion.
Wir wollen keinen Länderfinanzausgleich auf europäischer Ebene.
({5})
Die Position der Kommission, aber auch die der Zentralbank kann ich in diesem Zusammenhang nicht ganz
teilen; denn allzu oft hat sich die Kommission in der
Vergangenheit bei der Durchsetzung des Stabilitätspaktes dem politischen Druck des Rates gebeugt. Sie befürwortet jetzt die Institutionalisierung von Finanzhilfen,
was die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspaktes schwächt.
Auch die EZB ist jetzt dafür. Das halte ich - gerade nach
der fragwürdigen Entscheidung über den Ankauf von
Anleihen - für bedenklich.
Ich glaube, die EZB muss, wie in der Vergangenheit
auch, Garant eines stabilen Euros sein; denn der Euro ist
eine Erfolgsgeschichte. In Deutschland und Europa können wir uns sein Scheitern nicht leisten. Deswegen müssen wir jetzt Wachstumskräfte stärken und dafür sorgen,
dass die Währungsunion in Europa nicht zur Transferunion wird. Für diese Grundüberzeugung muss die Bundesregierung das Ruder wieder in die Hand nehmen und
den richtigen Kurs bestimmen, auch wenn nicht alle in
Europa das so sehen. Dafür lohnt es sich, zu kämpfen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPDFraktion.
({0})
Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission ist eine Chance für den Bundestag, frühzeitig Initiativen aus der Mitte Europas zu bewerten und sich
möglichst frühzeitig und umfassend mit ihnen zu beschäftigen. Es ist deshalb ein bisschen schade, dass wir
erst jetzt zu diesem späten Zeitpunkt kurz vor Beginn der
parlamentarischen Sommerpause, nachdem die Kommission das Arbeitsprogramm für dieses Jahr am 31. März
2010 beschlossen hat, die Zeit finden, uns damit auseinanderzusetzen. Natürlich ist der späte Zeitpunkt auch
der späten Amtseinsetzung der EU-Kommission geschuldet. Dennoch sollten wir uns dieses Programm sehr genau
anschauen.
Es gibt zumindest eine Besserung; das will ich durchaus an den Anfang meiner Ausführungen stellen. Während die Kommission ihr Legislativ- und ArbeitsproMichael Roth ({0})
gramm in den vergangenen Jahren immer nur für ein
Jahr festgestellt und präsentiert hat, wird jetzt ein Stückchen mehr Wert auf Kontinuität gelegt. Es werden auch
schon Initiativen, Maßnahmen und Projekte aufgezeigt,
die erst in den nächsten Jahren auf die Tagesordnung der
Europäischen Union gesetzt werden. Aber machen wir
uns nichts vor: So wichtig es ist, dass die Europäische
Kommission die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten gerückt
hat, so sehr fällt wieder auf, dass es ein Sammelsurium
von Projekten und Initiativen ist. Es ist recht schwer, angesichts der Fülle von Projekten einen roten Faden zu erkennen.
Dafür gibt es natürlich Gründe; darüber sollten wir reden. Jeder der Kommissarinnen und Kommissare - zwischenzeitlich haben wir 27 mit mehr oder weniger bedeutenden Zuständigkeiten - will sich natürlich in seinem
bzw. ihrem Aufgabenbereich profilieren. Profil meint
man dadurch gewinnen zu können, indem man in jedem
Bereich einen Vorschlag unterbreitet. Ob das dem politischen Gewicht der EU-Kommission als Ganzes zuträglich ist, daran habe ich meine Zweifel. Denn wir alle spüren: Die EU ist insgesamt im Wandel und nicht nur zum
Guten.
Wir müssen uns fragen, welche EU-Kommission wir
eigentlich wollen und welche Erwartungshaltung wir an
die Arbeit der Europäischen Kommission anlegen. Traditionell hat sich der Bundestag immer als ein ganz enger und verlässlicher Partner der EU-Kommission verstanden, weil uns eines klar war: Die Kommission ist
Motor der Integration, Hüter der Verträge, und sie wahrt
das europäische Gemeininteresse. Das ist schwieriger
geworden. Daran sind wir auch selbst schuld.
({1})
Die schleichende Intergouvernementalisierung der
Europäischen Union schwächt die Kommission. Das ist
nicht gut. Wer profitiert davon? Angesichts der 27 Kommissarinnen und Kommissare profitiert erst einmal der
Kommissionspräsident davon. Wir haben es im Prinzip
mit einem Präsidialsystem zu tun. Er hat die Fäden in der
Hand. Je schwächer die einzelnen Kommissarinnen und
Kommissare, desto stärker der Kommissionspräsident.
Der Kommissionspräsident wird wiederum am Gängelband der nationalen Regierungen, insbesondere der großen, geführt. Die nationalen Regierungen als Ganzes
profitieren natürlich auch von einer möglichst schwachen Europäischen Kommission. Der neu ins Amt gekommene Vorsitzende des Europäischen Rates, der nun
für zweieinhalb Jahre bzw. fünf Jahre im Amt ist, profitiert auch. Ich sehe das mit Sorge, meine Fraktion sieht
das mit Sorge.
Mitverantwortlich für diesen Weg ist auch die Bundesregierung. Ich kann Ihnen das bei aller Wertschätzung, Herr Staatsminister Hoyer, heute Abend nicht ersparen. Das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft im
Jahr 2007 war: „Europa gelingt gemeinsam.“ Wo ist dieser Gemeinsinn eigentlich hingekommen? Es ist nicht
mehr viel davon übrig geblieben. Das ist schade und
politisch hochgefährlich. Dazu haben sich in den vergangenen Wochen viele geäußert, die nicht im Verdacht stehen, sich auf irgendeine Weise nur kritisch oder destruktiv mit der Bundesregierung auseinandersetzen zu
wollen, ob es Habermas - um ganz oben anzufangen oder Helmut Schmidt ist.
Die Bundeskanzlerin führt nicht. Es gibt keine wegweisenden Impulse, die von der Bundesregierung in Sachen Europa ausgehen. Der deutsch-französische Motor
stottert. Auch das belastet die Arbeit der Gemeinschaftsinstitutionen und natürlich zuvorderst der Kommission.
Es gibt ein Kompetenzgerangel zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt. Die Spatzen pfeifen
es von den Dächern: Es gibt viele Reibungsverluste und
nicht wenige Konflikte zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt.
Es gibt nationale Interessen und weniger gemeinsame
Interessen.
({2})
- Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören; aber ich
möchte es Ihnen dennoch nicht ersparen. Denn all das
hat auch etwas mit der Arbeit der Europäischen Kommission zu tun. Wenn wir uns eine schwache Kommission wünschen, können wir auch kein starkes, innovatives, pointiertes Arbeitsprogramm der EU-Kommission
erwarten. - Die nationalen Interessen stehen nun einmal
in den letzten Wochen leider im Vordergrund. Das haben
wir auch bei der Bewältigung der globalen Finanz- und
Wirtschaftskrise auf europäischer Ebene gespürt: Oftmals wurde nur bis zum nationalen Tellerrand gedacht
und gearbeitet; das gemeinsame Interesse wurde vernachlässigt.
Eine schwache Kommission liegt weder im deutschen
noch im europäischen Interesse. Wir sollten uns für eine
starke Kommission einsetzen, die sich auf das Wesentliche konzentriert und von einem selbstbewussten Europäischen Parlament kontrolliert und begleitet wird. Insofern
habe ich auch an Sie, die Vertreter der Bundesregierung,
entsprechende Erwartungen. Bislang sind Sie - das darf
ich für meine Fraktion sagen - hinter diesen Erwartungen
zurückgeblieben. Sie sollten da einfach noch einen Zahn
zulegen.
Ich erwarte von der Europäischen Kommission als
Ganzes, dass sie sich ernster nimmt und sich in noch
stärkerem Maße von den nationalen Regierungen emanzipiert. Vor allem ist das in unserem Interesse: Eine
starke Kommission ist gut für Deutschland, nicht nur gut
für die Europäische Union.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Kudla für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir behandeln heute das Arbeitsprogramm
der Europäischen Kommission für das Jahr 2010. Nachdem der Beginn dieses Jahres von der Beratung und Beschlussfassung der Strategie „Europa 2020“ geprägt war,
wird der Schwerpunkt der kommenden Monate und Jahre
darauf liegen, die Folgen der aktuellen Wirtschafts- und
Finanzkrise zu überwinden. Die Kommission hat dazu
strategische Maßnahmen mit den drei folgenden Zielen
veranlasst: erstens die verstärkte wirtschaftspolitische
Überwachung und Abstimmung im Euro-Raum, zweitens einen Beitrag zur nachhaltigen Stabilisierung der öffentlichen Finanzen zu leisten, indem eine Bewertung
der nationalen Stabilitäts- und Konvergenzprogramme
vorgenommen wird, und drittens die Gewährleistung stabiler, verantwortungsvoller Finanzmärkte im Dienste der
Gemeinschaft.
Lassen Sie mich auf alle drei genannten strategischen
Schwerpunkte kurz eingehen:
Zum ersten Ziel. Die Kommission kündigt an, Vorschläge
vorzulegen, wie die Kontrolle der öffentlichen Finanzen
verbessert und makroökonomische Ungleichgewichte,
darunter Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit, behoben werden sollen. Es ist positiv zu bewerten, dass die
Kontrolle der öffentlichen Finanzen entsprechend verbessert sowie verstärkt auf die Einhaltung der Kriterien des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes geachtet werden soll.
Eine Ursache der Euro-Krise ist, dass man im Wesentlichen einen Verstoß gegen die Maastricht-Kriterien
hingenommen hat, ohne entsprechende Konsequenzen
zu ziehen. Die Folgen dieses Vorgehens belasten die gesamte EU und die Nationalstaaten gleichermaßen. Die
geplante wirtschaftspolitische Überwachung sollte jedoch nur dazu dienen, Fehlentwicklungen wie beispielsweise Spekulationsblasen auf dem Immobilienmarkt
frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Zweifellos
sollte der Binnenmarkt gestärkt werden. Keinesfalls darf
dies dazu führen, dass marktwirtschaftliche Grundprinzipien außer Acht gelassen werden.
Die Kommission nimmt auch auf den Monti-Bericht
Bezug. Dieser beinhaltet im Bereich der Steuerpolitik als
Teil der Wirtschaftspolitik einige gute Vorschläge, zum
Beispiel zur Bekämpfung steuerlichen Missbrauchs.
Gleiches findet sich auch in dem aktuell vorgelegten
Programm der belgischen Präsidentschaft des Rates der
Europäischen Union.
Abzulehnen sind jedoch die im Monti-Bericht enthaltenen Forderungen nach einer steuerlichen Angleichung
zwischen den Nationalstaaten, um den steuerlichen
Wettbewerb zu regulieren. Wettbewerb zwischen den
Regionen hat immer zu positiven Wirtschaftsimpulsen
und damit zu Wohlstandsmehrungen geführt. In
Deutschland gehört es zu den Grundfesten unseres Wirtschaftssystems, dass zum Beispiel die Kommunen zumindest in einem Teil ihres Einnahmebereichs durch das
Hebesatzrecht ihr Steueraufkommen beeinflussen und
Standortpolitik betreiben können. Eine verbesserte steuerliche Koordinierung innerhalb der EU ist zu begrüßen,
eine steuerliche Angleichung ist abzulehnen.
({0})
Zum zweiten strategischen Ziel. Der Kommissionsbericht über die Bewertung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme von 14 EU-Mitgliedstaaten hat verdeutlicht, dass fast alle Euro-Länder - teils erheblich - gegen
die Kriterien des Stabilitätspaktes verstoßen. Aus diesem
Bericht sind Schlussfolgerungen für die Haushaltskonsolidierung für jeden Nationalstaat zu entnehmen. Für die
Bewertung der Haushaltsdaten von Deutschland stellt
die Kommission fest - ich zitiere -:
Wachsender Schuldenstand, Ad-hoc-Änderungen
an der Rentenanpassungsformel und Finanzbedarf
des Sozialversicherungssystems unterstreichen, wie
wichtig die Sicherung der langfristigen Tragfähigkeit ist. … Deutschland wird folglich aufgefordert,
die Haushaltsstrategie mit konkreten Maßnahmen
für die Korrektur des übermäßigen Defizits und die
Senkung des Schuldenstands zu unterlegen und die
neue Schuldenregel einzuhalten.
Wohlgemerkt, der Bericht ist vom März dieses Jahres;
das war noch vor der Vorlage des Konsolidierungspaketes der Bundesregierung. Nun gilt es, das Konsolidierungspaket umzusetzen.
Die richtige Schlussfolgerung aus der Wirtschaftsund Finanzkrise ist: Nur wenn wir den Bundeshaushalt
konsolidieren, werden wir die Folgen der Wirtschaftskrise überwinden. Das ist eine klare Haltung der Kommission, und sie gilt für alle EU-Staaten, sowohl für die
Euro-Länder als auch für die Nicht-Euro-Länder.
Übrigens, der ebenfalls aktuelle Konvergenzbericht
für die Nicht-Euro-Staaten vom Mai dieses Jahres hat im
Grunde ein erschreckendes Bild gezeigt, was die Eignungskriterien bezüglich der Einführung des Euros betrifft.
Nun zur dritten strategischen Maßnahme gegen die
Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, nämlich zur
Stabilität der Finanzmärkte. Die Kommission hat allein
dazu acht Einzelinitiativen aufgelistet. Im Hinblick auf
die Regulierung der Finanzmärkte gilt es, die Ergebnisse
des G-8- und des G-20-Gipfels des vergangenen Monats
umzusetzen. Die beiden Gipfel haben gezeigt, dass das
ursprüngliche Ziel der Bundesregierung, eine Finanzmarkttransaktionsteuer international, also weltweit, einzuführen, nicht durchsetzbar ist. Gleichwohl halten wir
die Finanzmarkttransaktionsteuer für eines der wichtigsten Instrumente zur Eindämmung von Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten.
({1})
Folglich gilt es, die Finanzmarkttransaktionsteuer auf
europäischer Ebene einzuführen.
({2})
Die Kommission sollte dieses Thema mit Nachdruck angehen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einem Dreivierteljahr bin ich jetzt Bundestagsabgeordneter. Wenn ich mir die Berichte über die letzten Tagungen
des Europäischen Rates in Erinnerung rufe, war es stets
so, dass die Teilnehmer ins Flugzeug stiegen und beim
Aussteigen die Tagesordnung der Beratung in der Regel
eine andere war als kurz zuvor. Ich kann also aus vollem
Herzen dem Satz in der Einleitung des Arbeitsprogramms der Kommission zustimmen: „Weitermachen
wie bisher ist ausgeschlossen.“ Ein kluger Satz. Wenn
ich aber das Programm lese, dann stelle ich fest, dass die
politischen Folgen dieses Satzes darin weitgehend ausgeblendet sind. Der größere Teil des Arbeitsprogramms
ist der Konkretisierung der Strategie „Europa 2020“ gewidmet. Diese ist eine Fortsetzung der Lissabon-Strategie. Hier im Plenum waren sich alle Fraktionen einig:
Diese ist gescheitert. Uneinigkeit bestand doch nur darüber, warum sie gescheitert ist.
Die Koalition und Teile der Opposition sind der Meinung: Die Strategie war überfrachtet und unverbindlich.
Die Linke ist der Auffassung: Lissabon war ein grundlegend falscher Weg.
({0})
Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung sind
die falschen Mittel für ein dauerhaft friedlich geeintes
Europa. Ohne die Deregulierung der Finanzmärkte der
letzten Jahre wäre die Krise, so wie wir sie jetzt haben,
gar nicht möglich gewesen. Mit ihr wurden die Banken
und die Spekulanten doch geradezu zu ihrem Handeln
animiert. In der Folge - mit den Folgen hatten wir in den
letzten Wochen viel zu tun - hatten wir eine Bankenund Finanzkrise. Die Staaten mussten dann massiv finanzpolitisch intervenieren; auch damit haben wir uns
hier ausführlich befasst. Die Folge ist, dass wir heute
eine Krise vieler europäischer Staaten haben. Die Lissabon-Strategie ist nicht nur ökonomisch, sondern auch
politisch gescheitert.
({1})
Das gilt ebenso für viele Vertragsgrundlagen der Europäischen Union.
Die Wettbewerbsfixierung des Binnenmarktes, der
Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die strikte Bindung der EZB an Preisstabilität statt an Wachstum und
Beschäftigung haben die Krise verschärft und nicht geholfen, sie zu lösen. Im Arbeitsprogramm der Kommission findet sich gerade hierzu kein kritisches Wort. Die
Diskussion über eine europäische Wirtschaftsregierung,
über solidarische Ausgleichsmechanismen in einer Währungsunion und über Mindeststandards zur Beschränkung des Lohn- und Steuerdumpings findet in diesem
Arbeitsplan nicht statt. Die Kommission sieht die Lösung der Krise - genauso wie die Bundesregierung - im
Sparen. Bis 2013 soll das Staatsdefizit der entwickelten
Industrienationen halbiert werden. Ab 2016 soll es mit
dem Abbau der Schulden losgehen. Dann steht der
Schuldenstand für Deutschland etwa bei 2 Billionen
Euro. Selbst wenn die Bundesregierung jedes Jahr
10 Milliarden Euro zurückzahlen würde - das sind gut
3 Prozent des Haushaltsplans 2011 -, dauerte das ohne
Berücksichtigung von Zins und Zinseszins etwa
2000 Jahre. Das sehen wir alle doch wohl eher als unrealistisch an.
({2})
Wir brauchen endlich eine grundsätzliche Veränderung der Einnahmesituation. Die Krisenprofiteure müssen zur Sanierung der Staatskassen beitragen, auch wenn
das der FDP nicht passt.
({3})
Auch davon steht nichts im Arbeitsprogramm, weder davon, wie Geldinstitute und Spekulanten an der Finanzierung der Bewältigung der Krisenfolgen beteiligt werden,
noch von einer Finanzmarkttransaktionsteuer. Die Kommission legt das Arbeitsprogramm auf, als gäbe es eine
Perspektive der Normalität. Die Realität sieht jedoch anders aus: Generalstreik in Griechenland, Generalstreik in
Rumänien, Generalstreik in Spanien, Generalstreik in
Ungarn, Generalstreik in Italien. Europaweit ist der Widerstand gegen die Sparpolitik zu hören. Dieser Widerstand ist nicht nur hinsichtlich der persönlichen Betroffenheit nachvollziehbar. Er ist auch ökonomisch sinnvoll
und absolut notwendig.
({4})
Das Sparen führt zu einem Schrumpfen der Nachfrage
und damit zu einer Verschärfung der Krise, nicht zu ihrer
Überwindung.
Ich komme zum Schluss.
({5})
Das Arbeitsprogramm der Kommission 2010 beschreibt
eine Normalität, die so nicht in Sicht ist. Die Kommission stellt die Frage nach den Ursachen für die jetzige
Situation nicht. Daher gibt sie darauf auch keine Antworten, entwickelt keine tragfähigen Lösungen. Die teils
sinnvollen Einzelinitiativen schweben im Raum. Ihnen
fehlt ein Fundament.
Danke schön.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Manuel Sarrazin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine
neue Zeit - so hat die EU-Kommission das Arbeitsprogramm sozusagen genannt. Am Anfang des Arbeitspro5730
gramms hat sie nämlich noch einmal die Feststellung getroffen: Wir leben in einer neuen Zeit.
Der Kollege Roth hat schon darauf hingewiesen, dass
sich gerade etwas Gewichtiges verschiebt. Das beobachten wir alle. Wir erleben, dass Entscheidungen mehr und
mehr vom Europäischen Rat und so schnell getroffen
werden, dass wir als Deutscher Bundestag oftmals „hinterherhecheln“ und sich die Frage stellt, wie gewährleistet werden kann, dass die verschiedenen Kompetenzen,
die in der Bundesregierung vorhanden sind, auch weiterhin in diese Entscheidungen einfließen können. Ich
denke, wir als Deutscher Bundestag müssen uns dieser
Verschiebung stellen.
Ich möchte mich der Kritik des Kollegen Roth an der
Bundesregierung ausdrücklich anschließen, aber auch
dazu sagen: Ich glaube, dass das Auswärtige Amt Kompetenzen hinsichtlich Europa hat, die wir in der Europapolitik und auch im Europäischen Rat weiterhin brauchen, auch wenn die Außenminister selber dort nicht
regelhaft dabeisitzen.
({0})
Ich denke aber auch, dass wir als Deutscher Bundestag
Debatten gerade auch mit dem Kanzleramt gezielt früher
führen müssen, um unsere Meinung einzubringen. Wir
haben deswegen einen Antrag vorgelegt, mit dem wir
uns diesem Thema widmen und der auch eine Anregung
für die anderen Fraktionen sein soll, darüber zu diskutieren, wie wir diesem neuen Anspruch besser gerecht werden können, weil es richtig ist, was Herr Roth gesagt hat:
Wir brauchen die Europäische Kommission aus verschiedenen Gründen.
Natürlich haben wir als Deutscher Bundestag zunächst die Aufgabe, die Bundesregierung zu kontrollieren, zu noch besseren Ideen zu bringen und falsche Ideen
zu skandalisieren und zu verhindern. Wir haben aber
natürlich auch die Aufgabe, im Sinne der parlamentarischen Solidarität zu gucken, wie das Europäische Parlament weiterhin eine wichtige Funktion in der Europäischen Union ausüben, seinen Kontrollrechten
nachkommen und seiner demokratischen Legitimation
entsprechen kann.
({1})
Dafür ist es wichtig, dass man bei den Themen, die
jetzt zur Diskussion anstehen, immer betont: Nur wer
der EU-Kommission eine gewisse Rolle zubilligt, wird
auch das Europäische Parlament am Ende mit im Boot
haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir über die Strategie „EU 2020“ und darüber reden, wie die wirtschaftspolitische Koordinierung mit Schlüsselrollen für das EP
und die EU-Kommission erfolgen kann - dann natürlich
auch in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat.
Eines ist auch wichtig - das möchte ich hier ebenfalls
betonen -: Leider ist diese EU-Kommission nicht immer
die, für die man als Grüner sozusagen mit besonders viel
Überzeugung und Verve in die Bresche springt. Weder
ist Herr Barroso sozusagen unser liebstes Kind noch versteht die EU-Kommission, wie sie dafür sorgen kann,
dass sie diesen Ansprüchen gerecht wird, nämlich einerseits durch entschiedeneres Handeln und mehr Konzentration, andererseits aber auch dadurch, dass für die EUKommission immer außer Frage stehen sollte, dass man
die Rechte der Parlamente achtet - das gilt für die nationalen Parlamente, zum Beispiel bei Übersetzungen, das
gilt aber auch für das Europäische Parlament, beispielsweise bei der Konstruktion des 60-Milliarden-EuroSchirms -, sodass man die nationalen Parlamente und
das Europäische Parlament ebenfalls als Motor betrachtet.
Meine Damen und Herren, Wolfgang Proissl hat kürzlich eine Denkschrift mit dem Titel „Why Germany fell
out of love with Europe“ herausgegeben. Ich denke, dass
wir auch hier im Hause die Debatte darüber führen müssen, warum die Europabegeisterung nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter uns nicht mehr so selbstverständlich ist, wie wir alle das vielleicht noch bis zum
1. Dezember 2009 glaubten. Ich denke, hier müssen wir
zusammenstehen.
Dafür brauchen wir an erster Stelle aber eine starke,
entschiedene und vernünftige Europäische Kommission, die von einer deutschen Bundesregierung unterstützt wird, die eben Triebfeder, Motor und zum Teil
auch Tandem für die europäische Integration und nicht
nur Bedenkenträger sein will.
Danke sehr.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Matthias Lietz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen
und Herren! Die letzte Debatte zum Arbeitsprogramm
der EU-Kommission liegt inzwischen mehr als anderthalb Jahre zurück. Inzwischen haben wir - das ist hier
bereits erwähnt worden - eine neue EU-Kommission
und ein neu gewähltes Europäisches Parlament. Der Vertrag von Lissabon ist in Kraft getreten. Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil zum Lissabon-Vertrag gesprochen; und die Griechenland-Krise sowie der
Rettungsschirm für den Euro haben uns seitdem beschäftigt.
Aber die Krise hat uns auch eines deutlich gemacht,
nämlich dass Europa es schaffen kann, wenn es gemeinsam handelt. Nationale Alleingänge bei Themen, die alle
betreffen, waren und sind nicht erfolgversprechend. Mit
Blick auf langfristige Herausforderungen, die vor uns
stehen - ich denke an die Globalisierung, den Klimaschutz oder den demografischen Wandel -, ist ein gemeinsames Handeln der Union aktueller denn je. Wir haben schon von den Vorrednern gehört, dass es vielleicht
auch kritikwürdig ist, dass diese Debatte zu diesem späten Zeitpunkt in diesem Hause stattfindet.
Meine Damen und Herren, das vorgelegte Arbeitsprogramm der EU-Kommission konzentriert sich auf vier
Aktionsbereiche: zum Ersten die Bewältigung der Krise
und die Bewahrung der sozialen Marktwirtschaft in
Europa, zum Zweiten eine Agenda für mehr Bürgernähe,
die den Menschen in den Mittelpunkt der EU-Maßnahmen stellt, zum Dritten die Entwicklung einer ehrgeizigen und kohärenten außenpolitischen Agenda globaler
Reichweite und zum Vierten die Modernisierung der
Instrumente und der Arbeitsweise der Europäischen
Union.
Den größten Raum nehmen sinnvollerweise die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die
weitere Ausarbeitung der Wachstums- und Beschäftigungsstrategie Europa 2020 ein. Diese Schwerpunktsetzung im Arbeitsprogramm ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings muss bei den geplanten Europa-2020Leitinitiativen ganz klar der europäische Mehrwert zu
erkennen sein. Ebenso müssen die Leitinitiativen einer
genauen Subsidiaritätsprüfung unterzogen werden.
Mit Blick auf die Agenda für mehr Bürgernähe ist die
Schwerpunktlegung auf die Umsetzung des Stockholmer
Programms ebenfalls zu begrüßen. Im Zentrum der Umsetzung muss hier auf jeden Fall der stärkere Schutz der
Bürgerrechte liegen.
Was die Modernisierung der Instrumente und die Arbeitsweise der EU betrifft, ist das verstärkte Bestreben
der Kommission, Bürokratie abzubauen und neue
Rechtsakte einer besseren Folgenabschätzung zu unterziehen, ein Punkt, zu dem nicht nur die europäischen,
sondern alle staatlichen Ebenen aufgerufen sind. Effiziente Verwaltung und Regulierung müssen Ziel der gesamten staatlichen Verwaltungen sein.
({0})
Hinsichtlich der Arbeitsweise der Europäischen
Union warten wir übrigens noch immer auf die dringend
überfällige Übersetzungsstrategie.
({1})
In diesem Punkt weist das Arbeitsprogramm der Kommission eine wesentliche Lücke auf. Gerade wegen der
stärkeren Einbindung auch des Deutschen Bundestages
durch die Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon erhält dieser Punkt eine besondere Dringlichkeit.
Künftig muss sichergestellt sein, dass Schriftstücke der
Europäischen Union frist- und formgerecht mit der Originalfassung in deutscher Sprache vorliegen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch in
wenigen Punkten auf die im Zusammenhang mit der
Schwerpunktsetzung angelaufenen Gespräche zur Gestaltung der künftigen Gemeinsamen Agrarpolitik nach
2013 eingehen.
Die Kommission und die belgische Präsidentschaft
planen für das Jahr 2010, einen umfangreichen und ambitionierten Maßnahmenkatalog im Bereich der Landwirtschaft abzuarbeiten. Im Zentrum dieses Maßnahmenkatalogs stehen in diesem und in den kommenden
Jahren die Weichenstellungen für eine grundlegende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Zur Zukunft dieser Agrarpolitik wird die Kommission
im vierten Quartal eine Mitteilung vorlegen, der im Jahr
2011 konkrete Gesetzgebungsvorschläge folgen sollen.
Die Gespräche werden auch unter der Prämisse geführt,
welchen Beitrag sie zur Strategie „Europa 2020“ leisten
kann und wie eine nachhaltige, produktive und wettbewerbsfähige Landwirtschaft sichergestellt werden kann.
Einen wesentlichen Schwerpunkt für die kommende
Finanzierungsperiode in der Agrarpolitik muss deren
Vereinfachung sein. Der bereits beschrittene Weg ist hier
konsequent fortzusetzen. Rund 80 Prozent der Bürokratiekosten für die Wirtschaft in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung und Lebensmittelsicherheit gehen auf
das europäische Recht zurück. Die Überprüfung der Instrumente hinsichtlich ihres vermeidbaren bürokratischen Aufwandes sollte daher auf jeden Fall weitergehen.
({2})
Vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht sein
Urteil zum Vertrag von Lissabon gesprochen. Das Gericht hat dem Deutschen Bundestag mehr Verantwortung
im Prozess der europäischen Integration auferlegt. Es hat
eine stärkere Rolle des Parlaments in der Europapolitik
gefordert. Wir als Abgeordnete dieses Hohen Hauses
sind dazu aufgefordert, uns dieser Verantwortung zu
stellen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen umfassend erleichtern
- Drucksache 17/2351 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer sich
auf Dauer in einem Staat niederlässt, zumal wenn sich
dieser als Demokratie versteht, hat Anspruch auf politische und soziale Rechte. Dieser Anspruch kann im Prinzip auf zwei Arten erfüllt werden: über einen unkomplizierten Zugang zur Staatsangehörigkeit oder über das
Wahlrecht auch für die im Land lebenden Menschen
ohne deutschen Pass.
Das, was wir von der Bundesregierung erleben, ist
aber genau das Gegenteil. Sie schafft weder die Möglichkeit eines entsprechenden Wahlrechts - noch nicht
einmal auf kommunaler Ebene -, noch versucht sie, Einbürgerungen tatsächlich zu ermöglichen und zu vereinfachen. Stattdessen erschwert und verhindert sie Einbürgerungen. Das konnten wir letzte Woche aus den aktuellen
Einbürgerungszahlen des Statistischen Bundesamtes erfahren, denen zufolge immer weniger Menschen deutsche Staatsangehörige werden, weil die geltende Rechtslage und die schlimme Einbürgerungspraxis zu hohe
Hürden darstellen.
Vor 20 Jahren, 1990, legte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in einem Grundsatzurteil nahe,
eine demokratische Lücke zu schließen. Denn Millionen
Menschen, die dauerhaft in der Bundesrepublik lebten,
waren von allen Ebenen der politischen Mitbestimmung
ausgeschlossen. Gemeint waren damals 5,5 Millionen
Menschen in Deutschland, die keinen deutschen Pass
hatten, aber im Durchschnitt bereits mehr als zwölf Jahre
hier lebten. Das war ein richtiger und wichtiger Hinweis
des Verfassungsgerichts, was die Linke unterstützt.
({0})
Die bisherigen Regierungen haben sich aber leider
nicht an die Empfehlungen des höchsten Gerichts gehalten. Nein, das vom Bundesverfassungsgericht kritisierte
Demokratiedefizit hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verschärft. Heute leben über 7 Millionen Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland, und ihre
durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt sogar fast
19 Jahre. Die Einbürgerungszahlen befinden sich auf einem Tiefstand. Unter dem alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 1913 wurden 1999 noch
über 143 000 Menschen eingebürgert. Damals galt noch
das Abstammungsrecht.
Zehn Jahre danach, 2009, lagen wir mit knapp über
96 000 Einbürgerungen deutlich darunter. Seit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes unter Rot-Grün
im Jahr 2000 und den Verschärfungen unter der Großen
Koalition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 haben
wir bei den Einbürgerungen einen kontinuierlichen
Rückgang zu verzeichnen. Für dieses Jahr ist schon wieder mit einem Sinken der Zahlen zu rechnen, worauf die
aktuell zurückgehenden Zahlen der Einbürgerungstests
hindeuten.
Die Linke will das ändern. Mit unserem Antrag wollen wir das vom Bundesverfassungsgericht angesprochene Demokratiedefizit in Deutschland beseitigen. Wir
wollen deutlich machen, dass der Schlüssel zur politischen Integration und Chancengleichheit in der rechtlichen Gleichstellung liegt. Diese Gleichberechtigung
wiederum schaffen wir mit einem radikal vereinfachten
und erleichterten Einbürgungsverfahren. Wir wollen damit den Menschen, die in Deutschland leben, ein Signal
geben, nämlich das Signal, dass die Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, als fester
und gleichberechtigter Teil in unserer Gesellschaft angesehen werden.
({1})
Wer in diesem Land seit fünf Jahren seinen Lebensmittelpunkt hat, soll unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltstitel einbürgungsberechtigt sein. Wir wollen, dass
Einbürgerung und politische Gleichberechtigung nicht
vom sozialen Status und Einkommen abhängig sind.
Deshalb wollen wir die Einbürgerungsgebühren auf einen symbolischen Betrag senken. Gleiche Rechte sollten
nicht vom Bildungsstand abhängig gemacht werden.
Deshalb sollten einfache Sprachkenntnisse ausreichen.
Wir wollen keine Einbürgerungstests, um Menschen auf
eine vermeintliche Einbürgerungsfähigkeit zu testen.
Wir wollen die Staatsangehörigkeit per Geburt und die
Abschaffung des absurden Prinzips der Optionspflicht.
Wir wollen Mehrfachstaatsangehörigkeiten, die in einem
Großteil der EU-Mitgliedstaaten erlaubt sind, grundsätzlich zulassen. Wir wollen Ihnen mit unserem Antrag die
Möglichkeit geben, den hier in Deutschland dauerhaft
lebenden Menschen Rechte zu geben und ihre andauernde Ausgrenzung zu beenden. Das können Sie, wenn
Sie unserem Antrag zustimmen und nicht nur in Ihren
Sonntagsreden über Willkommenskultur in Deutschland
sprechen.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Helmut
Brandt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Dağdelen, die Aussage, dass die Linke uns
die Demokratie bringen wird, ist das, was ich in Ihrer
Rede am wenigsten vermutet habe, aber auch das, was
Ihnen in diesem Hause keiner abkauft.
({0})
- Über meine Vergangenheit können wir gerne reden;
über Ihre zu reden, fangen wir besser nicht an. - In ihrem Antrag „Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen
umfassend erleichtern“ kritisiert die Fraktion Die Linke
unter Hinweis auf vermeintlich kontinuierlich zurückgehende Zahlen der Einbürgerungen zum einen, dass die
Bundesregierung ungeachtet dessen Einbürgerungserleichterungen ablehne. Zum anderen fordert sie die
Bundesregierung auf, das Staatsangehörigkeitsgesetz mit
dem Ziel umfassender Einbürgerungserleichterungen zu
ändern.
Gestatten Sie mir gleich zu Beginn, Folgendes dazu
zu sagen: Schon der Titel Ihres Antrags hat mich irritiert.
Es ist doch tatsächlich so, dass wir uns in den letzten
Jahren mehr als alle Regierungen zuvor um die Integration hier lebender Migranten bemüht haben. Ich will an
dieser Stelle einige Stichworte nennen: Integrationsgipfel, Integrationsplan, erfolgreiche Integrationskurse.
Lassen Sie mich noch eines erwähnen. Ich weiß nicht, ob
Sie sich für Fußball interessieren. Die Zusammensetzung der deutschen Nationalmannschaft ist der beste Beweis dafür, dass wir in Deutschland keine Ausgrenzung
betreiben, sondern Migranten optimal integrieren.
({1})
Wie kann man in einer solchen Situation von Ausgrenzung sprechen? Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall.
Die Frage, weshalb die Einbürgerungszahlen tatsächlich zurückgegangen sind, ist sicherlich zu stellen. Nun
muss man dazu sagen, dass die Einbürgerung eine individuelle und freiwillige Entscheidung eines jeden Ausländers ist, der die Voraussetzungen dafür erfüllt. Auf
diese persönliche Entscheidung kann und sollte die Politik nur begrenzt Einfluss nehmen.
Zudem sollten die Ergebnisse des inzwischen von der
Bundesregierung eingeleiteten längerfristigen Forschungsprojektes über die Motive von Ausländern, sich
einbürgern zu lassen oder auch darauf zu verzichten, zunächst einmal abgewartet werden. Das ist ein Grund,
weshalb wir Ihren Antrag ablehnen.
({2})
Der zweite Grund ist, dass die von Ihnen geforderten
Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes den bisherigen bewussten und auch richtigen Festlegungen des
Deutschen Bundestages überwiegend zuwiderlaufen.
Beginnen wir mit Ihrer Forderung, auf die Teilnahme
an Staatsbürgerschaftskursen als Einbürgerungsvoraussetzung zu verzichten. Stattdessen sollen die Kurse freiwillig und kostenfrei sein. Ich persönlich betrachte es als
selbstverständlich und eine absolut unabdingbare Voraussetzung, dass sich ein Mensch, der beabsichtigt, dauerhaft in einem Land zu leben, Kenntnisse über dieses
Land, seine politischen und gesellschaftlichen Strukturen sowie seine Geschichte und seine Werte verschafft.
Dies ist in meinen Augen ein unverzichtbarer Teil eines
notwendigen Integrationsprozesses, ohne den Integration gar nicht möglich ist.
Wir reden hier doch von Menschen, die aus völlig anderen Kulturkreisen stammen. Wir alle haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass sich viele der
Migrantinnen und Migranten diese Kenntnisse eben
nicht freiwillig aneignen. Ich finde Ihre Forderung deshalb wirklich absurd. Sie haben eben auch von den Einbürgerungstests gesprochen. Diese wirken Ihrer Auffassung nach abschreckend. Das kann von der Sache her
nicht stimmen. 98,5 Prozent der Einbürgerungstests werden bestanden, und zwar in allen Bundesländern. Wie
soll ein solcher Test dann abschreckend wirken? Ich
kann auch Ihre Forderung nicht nachvollziehen, dass
Einbürgerungsberechtigte nicht auf ihre innere Anschauung und ihre Gesinnung überprüft werden sollen.
({3})
- Weil sich nicht alle dem Test unterziehen, die diese
Gesinnung vielleicht nicht haben. In diesem Fall macht
es Sinn; denn nicht jeder, der hier lebt, will die deutsche
Staatsbürgerschaft haben oder sich dieser Frage unterwerfen.
({4})
Integration kann nur gelingen, wenn Ausländer, die
hier leben möchten, bereit sind, unsere Verfassung und
unsere Grundwerte zu akzeptieren. Wer in Deutschland
lebt, muss diese zentralen Werte und Normen kennen
und sie akzeptieren und annehmen. Das ist für mich eine
unabdingbare Voraussetzung, um die Staatsbürgerschaft
zu erlangen. Nur so macht das auch Sinn.
Schließlich muss ich Ihnen noch eines sagen: Die bisher vorliegenden Erkenntnisse darüber, warum viele die
Einbürgerung nicht für sich beantragt haben, fußen darauf, dass sie es nicht als notwendig empfinden. Bringen
wir es doch einmal auf den Punkt: Abgesehen von all
den Rechten, die ihnen das Ausländerrecht sowieso gibt,
ist das Recht zur Beteiligung an der Wahl das Einzige,
was die Einbürgerung hier langfristig lebenden Ausländern zusätzlich bringt. Auf der anderen Seite steht die
mit einer Einbürgerung verbundene Pflicht, die sie möglicherweise scheuen. Ich bin deshalb gar nicht sicher, ob
die Zahl derer, die die Einbürgerung beantragen, die
Zahl jener, die eingebürgert werden, tatsächlich übersteigt.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Daniela
Kolbe.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren auf den Tribünen, Sie haben sich heute eine
spannende Debatte zum Thema Staatsangehörigkeitsrecht ausgesucht. Die Linke bemerkt zu Recht, dass wir
in den letzten Jahren sinkende Einbürgerungszahlen zu
beobachten haben. Ich persönlich finde das beunruhigend. Erhielten auf dem Allzeithoch im Jahre 2000 nach
der rot-grünen Reform der Staatsangehörigkeit noch
etwa 190 000 Menschen einen deutschen Pass, so sind es
heute, zehn Jahre später, nur noch etwa 90 000 Menschen.
Damit liegen wir leider wieder fast auf dem Niveau von
vor der Reform. Dabei war es doch das Ziel von RotGrün, dass mehr Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben und auch erhalten.
({0})
Daniela Kolbe ({1})
- Ich denke darüber nach. Die SPD-Fraktion hat einen
entsprechenden Antrag vorgelegt.
Die SPD hält an ihrem Ziel fest: Wir wollen, dass
möglichst viele zugewanderte Menschen, die langfristig
in unserem Land leben, die deutsche Staatsbürgerschaft
anstreben, sie bekommen und damit alle Rechte und
Pflichten als Bürger dieses Landes erhalten.
({2})
Wenn es stimmt, was der gestern vorgelegte Integrationsbericht besagt - das bestätigt eigentlich auch der gesunde Menschenverstand -, dass Integration besonders
dann gelingt, wenn Menschen eine Zukunftsperspektive
und einen sicheren Aufenthalt haben, wenn sie sich zu
Hause fühlen, dann ist es doch geradezu plausibel, dass
wir als Politikerinnen und Politiker eine Kultur anstreben sollten, die Menschen ermuntert, die deutsche
Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Wir brauchen in Deutschland eine echte Willkommenskultur, die Menschen, die hier schon sehr lange leben, dazu einlädt, wirklich alle Rechte und Pflichten anzunehmen. Außerdem benötigen wir die rechtlichen
Rahmenbedingungen, dass sie das auch tun können. Leider ist von einer solchen Willkommenskultur zu wenig
zu spüren. Wir konfrontieren hier geborene junge Menschen, die mit der Geburt eine doppelte Staatsbürgerschaft erhalten, in der Phase des Erwachsenwerdens, in
der sie mitunter auch andere Dinge zu tun haben, damit,
dass sie sich für eine Staatsangehörigkeit bzw. gegen einen Teil ihrer Identität entscheiden müssen. Wir bauen
mit unserem Staatsangehörigkeitsrecht Hürden auf, die
für viele Menschen unüberwindbar erscheinen oder unüberwindbar sind.
Auf der anderen Seite blitzt diese Willkommenskultur, die ich mir so sehr wünsche, aber auch auf, sei es in
unserer wirklich toll spielenden Fußballnationalmannschaft
({3})
- ja! - oder sei es in der Niedersächsischen Staatskanzlei.
({4})
- Sie haben recht. Sie dürfen sich darüber freuen. - Da
sitzt mit David McAllister von der CDU ganz selbstverständlich der erste Ministerpräsident mit Migrationshintergrund in diesem Land. Ganz nebenbei hat er auch
noch eine doppelte Staatsbürgerschaft: die deutsche und
die britische. Die Welt dreht sich weiter; sie ist nicht untergegangen.
({5})
Mit dieser Situation können wir alle ganz locker und
leicht umgehen; wir können uns darüber freuen. Diese
Leichtigkeit und diese Gelassenheit stehen uns gut und
sind berechtigt; denn doppelte Staatsbürgerschaft gehört auch in Deutschland längst zur Realität. Auch
Ole von Beust von der CDU, Hamburgs Erster Bürgermeister, hat am Anfang dieses Jahres das Zulassen der
doppelten Staatsbürgerschaft gefordert. Das sind Stimmen aus dem 21. Jahrhundert. Davon wünsche ich mir
mehr auch in diesem Haus.
({6})
Wenn wir über Willkommenskultur reden, dann geht
es um viel und um viele: Es geht um 5 Millionen Menschen, die länger als acht Jahre in Deutschland leben,
ohne die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen zu
haben.
({7})
Ein kleines Rechenbeispiel: Wenn wir bei den jetzigen
Einbürgerungszahlen blieben, dann bräuchten wir
50 Jahre und mehr, um diese Menschen einzubürgern.
Das sind Zahlen, mit denen wir uns als SPD keineswegs
zufriedengeben; denn wir wollen, dass Menschen, die
lange hier leben, sich wirklich zu diesem Land bekennen
und deutsche Staatsbürger werden.
({8})
Ganz offensichtlich bestehen aber weiterhin große
Hemmnisse, die die Menschen davon abhalten; darüber
wurde schon gemutmaßt. Es braucht aus meiner Sicht
deshalb zweierlei:
Erstens. Es braucht die Debatte. Schon deshalb finde
ich es gut, dass wir heute - wenn auch relativ spät - erneut über dieses Thema hier im Plenum diskutieren.
Schon die Debatte hilft, Signale in die Bevölkerung zu
senden, dass hier im Hohen Haus der Wunsch besteht,
dass sich mehr Menschen zur Annahme der deutschen
Staatsbürgerschaft entschließen. Das Signal muss lauten:
Nicht nur da, wo es um Prestige geht, gibt es eine solche
Willkommenskultur, nicht nur auf dem Fußballfeld und
in der Niedersächsischen Staatskanzlei existiert sie, sondern sie muss überall in der Gesellschaft existieren.
Spiegel Online hat dazu gestern im Zusammenhang mit
der Fußballnationalmannschaft und der Integration getitelt: „Aus dem Traum muss Alltag werden“. Das ist doch
sehr treffend.
({9})
Zweitens. Wir brauchen konkrete Gesetzesänderungen, die es mehr Menschen ermöglichen, vom Staatsangehörigkeitsrecht zu profitieren. Aus diesem Grunde haben wir als SPD-Fraktion bereits Anfang des Jahres
einen wirklich sehr guten, sehr konkreten und angemessenen Gesetzentwurf vorgelegt. In manchen Punkten gehen wir mit dem Antrag der Linken konform, in anderen
Punkten halten wir den Antrag der Linken für zu weitreichend bzw. meinen wir, dass er aus der Systematik des
Aufenthaltsrechts herausfällt.
Daniela Kolbe ({10})
Ein Beispiel dafür, wo wir übereinstimmen: In der
Frage der Optionsregelung stimmen wir überein. Doppelte Staatsbürgerschaften sind auch ohne Optionsmodell außerhalb der Niedersächsischen Staatskanzlei
schon längst geübte Praxis. In Deutschland wird im Moment bei circa 53 Prozent der Einbürgerungen eine doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert. Es gibt deshalb aus
meiner Sicht keinen Grund, da einen Unterschied zu machen. Das Optionsmodell für hier geborene Menschen
sollte abgeschafft werden.
({11})
An anderen Stellen widersprechen wir dem Antrag
der Linken. Ich freue mich schon auf eine spannende
Debatte im Ausschuss dazu. Aus unserer Sicht macht es
überhaupt keinen Sinn, bei den Voraussetzungen für die
Beantragung einer Staatsangehörigkeit noch unter denen
für eine Niederlassungserlaubnis zu bleiben. Das bezieht
sich auf die Frage der Dauer des Voraufenthalts und auf
die Frage der Erwerbstätigkeit. Wir schlagen zur Dauer
des Voraufenthalts eine Absenkung auf sieben Jahre vor,
bei besonderen Integrationsleistungen auf sechs Jahre.
Bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts schlagen wir Ausnahmen für junge Erwachsene vor. Wir berücksichtigen damit, dass sie sich noch in der Ausbildung befinden. Junge Leute sollen ja auch eine
Ausbildung absolvieren.
Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich persönlich irritiert. Es geht um Ihre Ansicht, dass es für den Erwerb
der Staatsangehörigkeit ausreichen soll, sich einfach
mündlich verständigen zu können. Das sehen wir anders.
Wir möchten gern bei dem geforderten höheren Sprachniveau bleiben. Gleichwohl setzen wir uns für Ausnahmen ein, etwa für Analphabeten und ältere Menschen.
Bei diesen halten wir das für angemessen.
Zum Thema Spracherwerb noch eines. Wenn wir
Sprachkenntnisse voraussetzen, dann muss es natürlich
auch die Möglichkeit geben, Sprachkenntnisse zu erwerben. Das Mittel der Wahl - darüber sind wir uns mittlerweile einig - sind die Integrationskurse. Lassen Sie mich
an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Es beunruhigt mich
schon, dass es die Bundesregierung bisher noch nicht in
Angriff genommen hat, die sich in diesem Jahr auftuende Lücke von 30 Millionen Euro bei den Integrationskursen zu schließen.
({12})
Frau Böhmer hat gestern 15 Millionen Euro angekündigt. Das ist ein erster Schritt, ein erster Schritt von zwei
gleich großen Schritten. 30 minus 15 sind 15. Es fehlen
also noch 15 Millionen Euro.
({13})
Frau Kollegin, ich muss Sie auf das Ende der Redezeit aufmerksam machen.
Das betrifft vor allem Menschen, die schon lange hier
leben und die gern einen Integrationskurs belegen würden. Bitte werden Sie da tätig!
Im Übrigen freue ich mich auf spannende Diskussionen im Ausschuss zu einem spannenden Thema.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hartfrid Wolff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die aktuellen Einbürgerungszahlen und die
Konsequenzen daraus ist wichtig, aber dieser Antrag der
Linken ist keine ernsthafte Diskussionsgrundlage.
({0})
Was Sie diesem Hohen Hause hiermit schon wieder vorlegen, ist nichts anderes als ideologischer Ballast. Auf
der Basis Ihres Antrags kann nicht ernsthaft eine vernünftige Diskussion geführt werden.
({1})
Die Linken fordern eine Einbürgerung unabhängig
vom Aufenthaltstitel. Das heißt im Klartext: Einbürgerung auch für Illegale.
({2})
Was ist denn das für eine neue Gemeinschaft von Deutschen, die wir hier kreieren sollen? Was ist denn das für
eine Wertegemeinschaft?
Die Linken fordern eine Abschaffung des Optionsmodells. Dieses Optionsmodell war ein wichtiger Einstieg
in eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts hin zu
einem Jus Soli.
({3})
Aber es gibt noch keine weiteren Erkenntnisse über die
Wirkungen dieses Optionsmodells, lieber Kollege. Aus
meiner Sicht gilt es, erst die Wirkungen eines Rechts zu
evaluieren, bevor man an diesem Recht schon wieder herumschraubt.
({4})
Genau diese Evaluierung hat die Koalition vor. Dies ist
so vereinbart. Dies werden wir auch so durchführen.
Aber es geht noch weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Linken fordern, die Mehrstaatigkeit generell zu
akzeptieren.
Hartfrid Wolff ({5})
({6})
- Richtig, es sind nur zwei Linke. - Wie wäre es denn da
mit einer vierten, fünften oder sechsten Staatsangehörigkeit? Es gibt dagegen nicht nur juristische Bedenken.
Was die Linken hier vorhaben, ist das Verramschen der
deutschen Staatsangehörigkeit. Das können wir nicht
mitmachen.
({7})
Richtig entlarvend in dem Antrag ist Folgendes: Der
generelle Einbürgerungsanspruch soll unabhängig vom
Einkommen und unabhängig von der Frage nach dem
Sozialleistungsbezug bestehen.
({8})
Das heißt im Klartext: Es soll nach dem Willen der Linken eine Zuwanderung in die deutschen Sozialversicherungssysteme geben.
({9})
Das heißt auch, liebe Kolleginnen von den Linken, weniger Geld für die, die in Deutschland schon Sozialleistungen bekommen und darauf angewiesen sind. Es wäre anständig, wenn Sie dazusagen würden, wem Sie dieses
Geld, das Sie anderweitig zur Verfügung stellen wollen,
wegnehmen wollen - offensichtlich den Sozialhilfeempfängern.
({10})
Interessant ist - der Kollege Brandt sagte schon einige richtige Worte dazu ({11})
- viele richtige Worte, Herr Hofmann -, dass die Linken
auf die Forderung nach ausreichenden Deutschkenntnissen verzichten wollen.
({12})
Dabei weiß jeder, der Integrationspolitik betreibt, dass
das Beherrschen der deutschen Sprache für das gegenseitige Verstehen, für die gegenseitige Akzeptanz und
auch für die Wertevermittlung wichtig ist. Natürlich
sieht es den Linken ähnlich, dass sie kein Interesse mehr
an den Staatsbürgerkursen haben.
Linke sind in der Integrationsdebatte nicht ernst zu
nehmen. Sie fangen nicht einmal bei null an; sie liegen
bei unter null. Fortschritt heißt Gleichberechtigung, freie
Kommunikation und Wertevermittlung sowie Religionsfreiheit - wir haben heute eine sehr gute Debatte darüber
gehabt -, Demokratie und Meinungsfreiheit. Was die
Linken hier präsentieren, ist Vorbeirutschen an der Aufklärung und finstere Reaktion. Dieser Forderungskatalog
der Linken ist absurd und deswegen aus meiner Sicht
keine vernünftige Diskussionsgrundlage.
({13})
Viele Menschen haben die Einbürgerung in Deutschland geschafft. Es sollen mehr die Einbürgerung in
Deutschland schaffen. Wir sind stolz auf diejenigen, die
sich in Deutschland haben einbürgern lassen. Aus meiner Sicht müssen wir verhindern, dass die Leistung derjenigen, die die Einbürgerungsprozedur auf sich genommen haben und die gerne Deutsche werden wollten,
aufgrund der Forderungen der Linken entwertet wird.
Einbürgerungsregeln, die nicht von weiten Teilen der
Bevölkerung akzeptiert werden, schaden der Akzeptanz
von Migranten. Die Forderungen der Linken sind kontraproduktiv für den Erfolg der Integration und auch
kontraproduktiv für eine möglicherweise spätere Anpassung des Staatsangehörigkeitsrechts.
({14})
Die Einbürgerungspolitik der Linken ist skurril, negativ konsequent und keiner intakten Gesellschaft zuzumuten. Es geht darum, eine Willkommenskultur zu schaffen;
({15})
es geht darum, Offenheit zu schaffen und für die Akzeptanz von Kriterien zu sorgen. Integration heißt fördern
und fordern. Integration heißt Klarheit über die Kriterien
für die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit. Integration heißt auch, für Werte zu werben. Integration
heißt, die Zukunft zu gestalten, und nicht ideologisches
Laufenlassen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann mit dem südländischen Temperament von Herrn Wolff nicht Schritt halten; aber ich
werde mein Bestes geben.
({0})
Die demokratische Gesellschaft ist eine Gemeinschaft
in Vielfalt; das hat uns der Bundespräsident in seiner Antrittsrede vor Augen geführt. Dass wir eine Gemeinschaft in Vielfalt geworden sind, hat auch zu Veränderungen des Einbürgerungsrechts geführt. Eingewanderte
sollen leichter die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen
können. Menschen, die auf Dauer in Deutschland leben,
sollen der Staatsgewalt nicht nur unterworfen sein, sondern auch daran teilhaben können.
({1})
Diesem Interesse wird unser derzeit geltendes Staatsangehörigkeitsrecht aber kaum gerecht. Von den bundesweit etwa 6,7 Millionen Menschen mit ausländischer
Staatsangehörigkeit leben fast 5 Millionen seit mehr als
acht Jahren in Deutschland und erfüllen somit eine der
wesentlichen Einbürgerungsvoraussetzungen.
({2})
Dennoch erlangen pro Jahr nur rund 90 000 die deutsche
Staatsangehörigkeit. Seit 2004 sind die Einbürgerungszahlen sogar um rund ein Fünftel zurückgegangen. So
kommt es, dass Deutschland im europäischen Vergleich
eine der schlechtesten Einbürgerungsquoten hat. Prozentual ist die Einbürgerungsrate in Schweden fast dreimal
höher als in Deutschland. Wir Grüne wollen daher die
Einbürgerungsvoraussetzungen erleichtern. Wir möchten Hindernisse abbauen, die die hier lebenden Einwanderer davon abhalten, die deutsche Staatsangehörigkeit
anzunehmen. An dieser Stelle möchte ich nur einige Forderungen nennen, die wir noch in einem eigenen Antrag
in den Bundestag einbringen werden.
Die Fristen für eine Einbürgerung sollen verkürzt
werden. Hierfür sehe ich eine reelle Möglichkeit. Nicht
nur die SPD und die Linke befürworten eine Verkürzung
der erforderlichen Aufenthaltsdauer auf sechs bzw. fünf
Jahre, sondern auch die FDP ist für eine Einbürgerung
nach fünf Jahren. Das finde ich richtig. Ich gratuliere der
FDP zu dieser Forderung. Turboeinbürgerung nennt man
das; das finde ich gut.
({3})
Wir sind dafür, den Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatigkeit aufzugeben. Auch hierin stimmen wir
mit der SPD, der Linken und der FDP überein. Zahlreiche Untersuchungen haben bestätigt, dass, wenn ausländische Staatsangehörige ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten dürfen, die Bereitschaft zur Einbürgerung
um ein Vielfaches steigt. Eine nachvollziehbare Begründung, an dem Verbot der Mehrstaatigkeit festzuhalten,
gibt es nicht.
({4})
Wie meine Kollegin von der SPD bereits gesagt hat, hat
auch der Ministerpräsident von Niedersachsen neben
der deutschen eine ausländische Staatsangehörigkeit.
Keiner sieht deswegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Gefahr.
Der Einbürgerungstest hat seine abschreckende Wirkung bereits gezeigt. Wir brauchen eine Einbürgerungspolitik, die einer modernen Einwanderungsgesellschaft
gerecht wird. Zu einer einladenden Einbürgerungspolitik
gehört auch, dass Rentnerinnen und Rentner, die ihre Jugend in den Aufbau unseres Landes investiert haben,
ohne Sprachtest und Lebensunterhaltssicherung eingebürgert werden können.
({5})
Schließlich wollen wir die Einbürgerung von jungen Migrantinnen und Migranten vereinfachen und die Einbürgerungsgebühren senken.
Einbürgerung ist weder Beginn noch Krönung der Integration, sondern ein wesentlicher Schritt dorthin und
ein wunderbares Mittel, um den Eingewanderten ein Zugehörigkeitsgefühl zu geben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst möchte ich die
Gelegenheit nutzen - ich glaube, heute darf man das
noch -, Ihnen, sehr verehrte Frau Präsidentin, sehr herzlich zu Ihrem gestrigen Geburtstag zu gratulieren und Ihnen für die Zukunft alles Gute zu wünschen.
({0})
Der Antrag der Linkspartei, den wir heute debattieren, ist sowohl integrationspolitisches als auch gesellschaftspolitisches Harakiri.
({1})
Die Forderungen, die Sie stellen, sind völlig realitätsfern
und weltfremd. Zu Ihrem Antrag fällt mir nur eines ein:
alter Wein in neuen Schläuchen. Vor vier Jahren haben
Sie exakt die gleichen Forderungen in einem ähnlichen
Antrag gestellt; Sie haben lediglich die Begründung ausgewechselt. Am Forderungskatalog haben Sie nichts geändert. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mir kommt der Antrag der Fraktion Die Linke vor wie das Ungeheuer von
Loch Ness - in unregelmäßigen Abständen taucht er immer wieder auf. Aber ich bin zuversichtlich, dass Ihr Antrag das gleiche Schicksal wie das Ungeheuer von Loch
Ness erfahren wird: Es ist nie Realität geworden.
Weil Sie immer behaupten, die Einbürgerungszahlen
seien im Vergleich zu den 90er-Jahren dramatisch zurückgegangen, muss ich sagen: Sie verwechseln hier Äpfel mit Birnen. In den 90er-Jahren hat das Statistische
Stephan Mayer ({2})
Bundesamt sämtliche Spätaussiedler, die aus Kasachstan
oder Russland zu uns gekommen sind, hinzugezählt.
Deswegen kann man die Einbürgerungszahlen der 90erJahre nicht mit den Einbürgerungszahlen dieses Jahrzehnts vergleichen. Da besteht ein diametraler Unterschied.
Die Zahl der Einbürgerungen ist zurückgegangen; das
ist ein Faktum.
({3})
Man kann sich natürlich darüber Gedanken machen, worauf dies zurückzuführen ist. Das mag vielleicht ganz
profan daran liegen, dass viele derjenigen, die Anspruch
auf eine Einbürgerung haben, schon längst eingebürgert
sind. Es kann auch daran liegen - auch das gilt es zu bedenken -, dass viele derjenigen, die an sich anspruchsberechtigt sind, überhaupt kein Interesse daran haben, die
deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen.
({4})
- Sehr verehrte Frau Kollegin Kolbe, Sie haben erwähnt,
dass über 5 Millionen Ausländer seit mehr als acht Jahren in Deutschland leben. Schon nach dem heute geltenden Staatsangehörigkeitsrecht könnten diese sofort einen
Antrag auf Einbürgerung stellen.
({5})
Ich denke, man sollte sich eher die Frage stellen, weshalb diese über 5 Millionen Ausländerinnen und Ausländer kein Interesse daran haben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen.
({6})
Dem Antrag der Linksfraktion wohnt aus meiner
Sicht - das ist ganz deutlich - der folgende Grundgedanke inne: Deutsche Staatsbürgerschaft! Wer hat noch
nicht? Wer will noch mal? - Sie wollen die deutsche
Staatsbürgerschaft auf dem Jahrmarkt feilbieten. Dies
wird in keiner Weise dem Wert der deutschen Staatsangehörigkeit gerecht; denn sie ist ein hohes Gut.
({7})
Ich bin sehr froh, dass wir es in der Großen Koalition geschafft haben, den Akt der Ausreichung der deutschen
Staatsbürgerschaft zu heben. Viele Landratsämter und
viele kreisfreie Städte veranstalten wunderschöne, sehr
angemessene und sehr würdige Feierlichkeiten, in deren
Rahmen die deutsche Staatsbürgerschaft erworben wird.
({8})
Ich glaube, das ist ein schönes Zeichen, ein schönes
Symbol für gelungene Integration.
({9})
Eine weitere Fehlauffassung von Ihnen, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke:
Sie sind der Auffassung, dass das Ausreichen der deutschen Staatsbürgerschaft die Integration in die deutsche
Gesellschaft erleichtert.
({10})
Das Gegenteil ist der Fall: Das Ausreichen der deutschen
Staatsbürgerschaft kann nur am Ende eines erfolgreichen
Integrationsprozesses stehen.
({11})
Das ist der grundlegende Fehler, den Sie machen.
Die deutsche Staatsbürgerschaft ist ein hohes Gut,
und es gilt, dies immer wieder klarzumachen. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist mit Rechten verbunden, aber
genauso auch mit Pflichten. Deswegen halten wir es für
fatal, dass Sie den diametralen Wechsel vom Jus Sanguinis zum Jus Soli fordern. Sie fordern, dass jeder, der in
Deutschland geboren wird und von dem nur ein Elternteil ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland hat,
automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhält, unabhängig davon, wie gut und erfolgreich die Eltern in
Deutschland integriert sind. Das ist ein großer Fehler.
({12})
Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass es Ihr einziges Bestreben ist, sich ein anderes Staatsvolk zu schaffen.
({13})
Sie wollen sich ganz bewusst ein neues, ein anderes
Staatsvolk schaffen. Dazu sage ich ganz deutlich: Da
machen wir nicht mit.
Die Sprach- und Orientierungskurse, die wir in der
Zeit der Großen Koalition geschaffen haben, sind ein Erfolg. Insgesamt stehen in diesem Jahr 233 Millionen Euro
dafür zur Verfügung. Fast eine viertel Milliarde Euro
steht in diesem Jahr für Sprachkurse und Integrationskurse zur Verfügung.
({14})
In den letzten fünf Jahren haben insgesamt ungefähr
500 000 Menschen mit Migrationshintergrund erfolgreich an diesen Sprach- und Orientierungskursen teilgenommen. Ich glaube, darauf können wir alle in Deutschland stolz sein. Das ist ein schönes Zeichen.
({15})
Stephan Mayer ({16})
Ich sage auch ganz offen: Trotz aller Konsolidierungsbestrebungen und Sparnotwendigkeiten macht die
christlich-liberale Koalition vollkommen klar, dass an
diesem Punkt nicht gespart wird.
({17})
Wenn Sie in den Entwurf des Haushaltes für das
Jahr 2011 blicken, der gestern vom Kabinett verabschiedet wurde, sehen Sie, dass dort wiederum 233 Millionen
Euro für Sprach- und Orientierungskurse eingestellt
sind.
({18})
Das ist ein sehr ehrgeiziges und sehr mutiges Zeichen.
Es wird an vielen Stellen - teilweise sehr leidvoll und
mit unbequemen Einschnitten - gespart. Aber bei diesem wichtigen Punkt „Sprach- und Orientierungskurse“
wird nicht gespart. Ich glaube, das ist ein schönes Zeichen. Darauf kann die christlich-liberale Koalition stolz
sein.
({19})
Ein weiterer Erfolgsschlager sind meines Erachtens
die Einbürgerungstests. Es ist schon erwähnt worden:
Die Erfolgsquote liegt bei fast 99 Prozent. Ich halte es
für außerordentlich subtil, wenn jetzt behauptet wird:
Wenn 99 Prozent den Einbürgerungstest bestehen, dann
brauchen wir ihn doch gar nicht. - Auch das ist eine
Fehlauffassung, sehr geehrter Herr Kollege Winkler;
denn es ist doch schön, wenn sich alle bemühen, nicht
nur entsprechend Deutsch zu lernen, sondern sich auch
mit der deutschen Geschichte, der deutschen Soziallehre
und dem deutschen Staatsaufbau auseinanderzusetzen,
um den Einbürgerungstest erfolgreich abzuschließen.
Dieser Einbürgerungstest schließt niemanden aus.
Ganz im Gegenteil, er ist ein wichtiger Beitrag zur Integration. Deswegen kann ich Ihnen, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke,
nur zurufen: Stampfen Sie endlich diese Forderungen,
stampfen Sie endlich dieses Ungeheuer von Loch Ness
ein. Diese Forderungen umzusetzen, wäre schlecht für
Deutschland und die in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer und schlecht für einen erfolgreichen Integrationsprozess.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2351 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Joachim Günther ({2}), Dr. Lutz Knopek,
Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Europa in Bewegung - Mit Kompetenz und
Verantwortung für einen europäischen
Mehrwert im Sport
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Den Sport in Europa voranbringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Viola von
Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker
Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sport in der Europäischen Union - Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen
- Drucksachen 17/2129, 17/1406, 17/1420,
17/2468 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Joachim Günther ({4})
Viola von Cramon-Taubadel
In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Klaus Riegert, Stephan Mayer ({5}), Martin
Gerster, Axel Schäfer ({6}), Joachim Günther
({7}), Jens Petermann und Viola von CramonTaubadel.
Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am
1. Dezember 2009 und mit dem Art. 165 AEUV erhielt
die Europäische Union eine ausdrückliche, unterstützende Zuständigkeit und Kompetenz für den Bereich
Sport. Der erwähnte neue Sportartikel bietet auf der
Grundlage des „EU-Weißbuchs Sport“ und des „Aktionsplans Pierre de Coubertin“ nachhaltige Chancen
für den Sport in Europa. Eine ziel- und zweckgerichtete
Ausgestaltung dieser neuen EU-Kompetenz findet in Abgrenzung zu nationalen Aktivitäten und Maßnahmen einen notwendig, begrenzenden Rahmen. Im Mittelpunkt
eines gemeinsamen Interesses in diesem Bereich steht
demnach das Erzielen eines europäischen Mehrwertes.
In Form von EU-Sportforen, bilateralen Treffen und
eines Konsultationsprozesses gilt es, fortführend für die
EU-Kommission mit den 27 EU-Mitgliedstaaten und bedeutenden Sportorganisationen inhaltliche Vorschläge
zur Ausgestaltung des neuen Sportartikels zu finden.
Gleichwohl vielfältiger Aspekte weist die EU-Kommission in ihrem Non-Paper auf eine Priorisierung der angestrebten Ziele nach Größe des Mehrwertes und Handlungsbedarfs hin. Zudem wird auf ihre lediglich
unterstützende Kompetenz für eine Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten und auf die begrenzten finanziellen Mittel hingewiesen. Es soll nicht um die Auflistung eines
möglichst breiten Ziel- und Forderungskataloges gehen,
sondern um den Fokus auf gut begründbare und gewichtete Ziele mit einem Wertzuwachs auf europäischer
Ebene. Eine Missachtung dieses grundlegenden Hinweises der EU-Kommission durch Aufführen von mehr als
25 Punkten weckt Unverständnis - nicht nur im Blick auf
die zukünftige Konsensfindung und inhaltlichen Überschneidungsbereiche der 27 EU-Mitgliedstaaten. Aber
genau dies findet man in den Anträgen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion, wobei
die Grünen geschickterweise ihre 25 Punkte in fünf Unterpunkte gepackt haben. Das Initiativrecht für Maßnahmen im Sport verbleibt jedoch schließlich bei der Europäischen Kommission. Es genügt zusammenfassend
demnach nicht der undifferenzierte Wahlspruch „Den
Sport in Europa voranbringen“, sondern es bedarf der
Beachtung der strukturellen, institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie einer Abwägung der
sportpolitischen Inhalte. Auch die wohl gemeinte Idee,
„den Lissabon-Vertrag mit Leben zu füllen“, darf mit einem breiten Forderungskatalog nicht einer inhaltlich,
thematischen Zerstreuung oder Überforderung gleichkommen. Eine nachhaltige EU-Sportagenda bedarf
eines angemessenen Entwicklungsprozesses und nicht
einer überstürzten Anhäufung oder vorschnellen Überfrachtung.
Trotz diverser durchaus interessanter Vorschläge zur
EU-Sportagenda können sportpolitische und vor allem
EU-rechtliche Rahmenbedingungen nicht ignoriert werden. So kann von einer Harmonisierung der nationalen
Rechtsvorschriften in weiten Teilen nicht ausgegangen
werden. Weiterhin sollen die Chancen für den Sport und
für Europa in gemeinsamer Verantwortung wechselseitig genutzt werden, ohne dabei gleichzeitig einer bürokratischen Überregulierung mit Überwachungs-, Prüfungs- und Koordinationsmechanismen zur Umsetzung
der EU-Leitlinien zu verfallen. Letztlich steht der Wertzuwachs für den europäischen Sport mit dessen Agenda
im Vordergrund und nicht unnötiges Behördenhandeln.
Zu beachten ist ebenfalls, dass trotz des Lissabon-Vertrages im Sport auf Europaebene auch zukünftig keine
Rechtsakte erlassen, sondern nur Empfehlungen ausgesprochen und daraufhin finanzielle Zuwendungen gesteuert werden. Legitimieren lassen sich diese Zuwendungen und Maßnahmen im Sport weiterhin nur durch
einen eindeutig transnationalen Bezug und Mehrwert
auf EU-Ebene. Denn nur vor dem Verständnis einer reflektierten und zielgerichteten Unterstützung durch die
EU kommt man einem aufgeklärten Verständnis des
Sports in Europa nach - jedoch nicht mit einer allein
wohlgemeinten Alimentation und letztlichen Bevormundung. Dieses Verständnis sollte jedoch nicht nur hinsichtlich finanzieller Förderprogramme, sondern für
alle Maßnahmen der Sportagenda als Grundsatz gelten.
Dabei ist der Sport mit dessen sozialer Wirklichkeit und
Besonderheit in Abgrenzung zur Wirtschaft in angemessener Weise zu berücksichtigen. Basale Prinzipien wie
zum Beispiel das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sports sichern daran anknüpfend ein nachhaltiges Sportmodell in Europa mit zukünftig sinnvollen,
konzentrierten und vor allem realisierbaren Maßnahmen.
Die Potenziale des Sports in Europa erhalten ihre Gestaltungskraft und Signalwirkung erst durch eng definierte und rational-nachvollziehbare Ziele. Dabei beschränken sich diese Zielvorstellungen längst nicht
mehr auf rein wirtschaftliche oder rechtliche Verbindungslinien und Implikationen des Sports in der EU,
sondern reichen ebenfalls hin zu sozialen Funktionen,
zum Beispiel im Sinne von Integrationsleistungen für ein
„Europa der Bürger“. In Anschluss an das erwähnte
EU-Weißbuch des Sports und den „Aktionsplan Pierre
de Coubertin“ sollen auf europäischer Ebene verbindende Werte und Ziele, wie Fairness, gegenseitige Achtung und Respekt im und durch den Sport gefördert werden. In Analogie zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion
werden unter Berücksichtigung der genannten Prinzipien daher zielgerichtete Vorschläge aus vier Themenfeldern benannt, die zudem auch bei wichtigen Partnern
Deutschlands in der EU auf breite Zustimmung treffen:
Die Förderung des Antidopingkampfes, die Verbesserung der dualen Karrieremöglichkeiten und der Mobilität von im Sport Beschäftigten, die Bedeutung von körperlicher Aktivität und des Sports für Gesundheit und
Prävention sowie das bürgerschaftliche Engagement.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich in
der EU für eine maßvolle Fortentwicklung der EUSportpolitik einzusetzen:
Erstens. Durch die Einrichtung eines Netzwerkes der
europäischen Antidopingorganisationen, NADOs, sowie
einer „Monitoring-Task-Force“ kann der Kampf gegen
Doping im Sport maßgeblich unterstützt und weiterentwickelt werden.
Zweitens. Die Möglichkeiten einer dualen Karriere
sollen durch die Anerkennung von Trainerlizenzen und
äquivalenten Ausbildungsinhalten auf EU-Ebene sowie
durch die Unterstützung der Mobilität von im Sport beschäftigten Personen deutlich verbessert werden. Die
erfolgreiche, berufliche Eingliederung von Athleten
steht im Mittelpunkt dieses Anliegens.
Drittens. Im Blick auf die Bedeutung des Sports und
der Bewegung für Gesundheit und Prävention sollen
Programme in Verbindung zu den EU-Leitlinien für körperliche Aktivität ohne bürokratische Überregulierungen fortgeführt werden. Hierbei sind vielfältige Aktivitäten in Anlehnung an den Nationalen Aktionsplan „IN
FORM“ unter Berücksichtigung der regionalen, nationalen Gegebenheiten sowie des europäischen Kontextes
zu erschließen bzw. durchzuführen. Ziel ist es, durch eine
verbesserte Aufklärung und Sensibilisierung der Menschen das Ernährungs- und Bewegungsverhalten in
Deutschland und in der EU nachhaltig zu verbessern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viertens. In Bezug auf die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ist es das Ziel, dies im und
durch den Sport zu fördern sowie die grenzüberschreitende Mobilität von Ehrenamtlichen in der EU zu erleichtern. Hierbei sollen die Programme „Jugend in
Aktion“ sowie der Europäischen Freiwilligendienste
weitergeführt und die Ergebnisse der Studie zur Freiwilligenarbeit in der EU mit deren Maßnahmen zur Gewinnung von Ehrenamtlichen im Sport umgesetzt werden.
Zusammenfassend und umrahmend ist bei den genannten Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass zur Erzielung eines europäischen Mehrwertes im Sport die genannten Leitlinien und grundlegenden Prinzipien
gewahrt werden, sodass Sport in Europa letztlich das ist
und zukünftig wird, was in Vielfalt die sporttreibenden
und sportbegeisterten EU-Bürger bewegt und vereint.
Europa befindet sich in Bewegung - Sport in Europa bewegt! Mit Kompetenz und Verantwortung für einen europäischen Mehrwert im Sport wird man diesem Verständnis gerecht.
In diesem Sinne fordere ich Sie auf, unserem Antrag
zuzustimmen.
Fairness, Achtung und Respekt - das sind Tugenden,
die weltweit Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene
im Sport mit am besten verinnerlichen können. Deshalb
begrüße ich es einerseits, dass die Europäische Union
mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und mit
Art. 165 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union den Sport unterstützen will. Andererseits
möchte ich ausdrücklich bedenken: Ich sehe durchaus die
Gefahr, dass Sportler und Beschäftigte im Sport plötzlich unnütz hohe bürokratische Hürden auf EU-Ebene
mit komplizierten Überwachungs-, Prüfungs- und Koordinationsmechanismen erklimmen müssen.
Das Prinzip der Subsidiarität muss deshalb unbedingt gewahrt bleiben. Es muss Aufgabe der Bundesregierung sein, die Autonomie des Sport, die grundlegend
für ein Engagement der Bürger ist, zu wahren. Nur wenn
wir das schaffen, fördern wir das sportliche Engagement
der Bürger weiterhin effektiv und nachhaltig. Deshalb
fordern die CDU/CSU und die FDP eine klare, verständliche und zielgerichtete Regelung.
Darum kann ich es auch nicht verstehen, dass die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen schwammig formulierte Anträge stellen. Damit leisten Sie einem undurchsichtigen Regelwerk doch geradezu Vorschub.
Die EU-Kommission forderte mit ihrem Non-Paper
auf, zu priorisieren und zu konzentrieren. Mit ihrem Antrag erfüllt die SPD-Fraktion diese Aufgabe nur bedingt. Sie listen zwar 19 Aspekte auf, setzen aber keine
Schwerpunkte. Die verehrten Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen setzen ebenfalls keine Prioritäten.
Hinzu kommt, dass beide Parteien die Autonomie des
Sports, die im Spannungsfeld zum EU-Recht steht, nur
unzureichend schützen. Die SPD fordert eine stärkere
Unterstützung des Sports auf EU-Ebene in Bereichen
wie Bildung oder Entwicklungspolitik. Prinzipiell begrüße ich das natürlich. Aber ich bezweifle, dass ihr Anliegen in dieser Form auch durchführbar ist. Eine Harmonisierung des EU-Rechts in diesen Bereichen ist doch
eher unwahrscheinlich und auch nicht erstrebenswert.
Die Grünen beziehen in ihrem Antrag gar keine Stellung
dahin gehend, wo die Autonomie des Sports sinnvoll erscheint. Sie thematisieren das Spannungsfeld zum EURecht nicht einmal.
Sowohl die SPD als auch das Bündnis 90/Die Grünen
zielen mit ihren Forderungen zu ungenau darauf ab, die
Kompetenzen der Mitgliedstaaten und damit auch die
Kompetenzen von Deutschland zu wahren. Wenn die
SPD mehr Unterstützung der EU beim Sport im Bereich
der Bildung fordert, dann laufen Sie Gefahr, eine der
wichtigsten Aufgaben der Bundesländer zu beschneiden.
Auch die Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen fordern
zum Beispiel EU-Projekte zur Integration von Frauen
und Gesundheit. Dabei vergessen sie anscheinend, dass
diese Bereiche in die nationale Zuständigkeit fallen. Damit nicht genug: Sie bleiben vage und benennen noch
nicht einmal den Gewinn, den Sie wohl erwarten.
Die CDU/CSU und die FDP fordern in ihrem Antrag,
den Fokus auf gut begründbare und gewichtete Ziele zu
legen. Zudem muss der Mehrwert auf europäischer
Ebene ersichtlich sein. Der Antrag von CDU/CSU und
FDP respektiert und schützt die Autonomie des Sports.
Wir warnen vor einer Bevormundung durch die EU.
Wenn die Akteure auf EU-Ebene allerdings die Autonomie des Sportes anerkennen und reflektiert sowie zielgerichtet unterstützen, können wir mit einem aufgeklärten
Verständnis von Sport in Europa gewinnen.
Vor allem beim Kampf gegen Doping ist der Mehrwert ersichtlich. Der Markt für Dopingmittel, der sich
leider nicht nur an Profisportler, sondern zunehmend
auch an Breitensportler richtet, kümmert sich nicht um
Ländergrenzen. Deshalb ist es unsere Pflicht und auch
unser Wunsch, die Dopingbekämpfung auf EU-Ebene
besser zu koordinieren. Die Gründung eines EU-Netzwerkes der nationalen Antidopingorganisationen ist hier
eine große Chance.
Ich bin mir sicher: Mit dem Antrag der CDU/CSU
und der FDP schaffen wir eine Basis sowohl für den
Breiten- als auch für den Spitzensport. Die Bürgerinnen
und Bürger bekommen mit uns bessere duale Karrieremöglichkeiten. Darüber hinaus schaffen wir für Beschäftigte im Sport mehr Mobilität. Das Wichtigste
bleibt aber, dass wir bessere Bedingungen schaffen, mit
Sport die Gesundheit und Prävention sowie das bürgerschaftliche Engagement zu stärken.
Wir diskutieren heute drei Anträge zum Thema „Sport
und Europa“. Der Vertrag von Lissabon bringt neue
Kompetenzen Europas für die Förderung des Sports mit
sich, der Art. 165 legt fest, dass die Union zur Förderung der europäischen Dimension des Sports beiträgt.
Die Chancen, die sich daraus ergeben, muss die Politik
nutzen. Die europäische Sportpolitik wird zukünftig ein
Zu Protokoll gegebene Reden
wichtiger Bereich der Gemeinschaftspolitik sein, den die
Koalition, wie allerdings so viele andere Dinge auch,
beinahe verschlafen hätte. Erst unser Antrag, den wir im
Vorfeld des ersten formellen Sportministertreffens am
10. Mai 2010 eingebracht haben, um unsere Vorstellung
von Schwerpunkten europäischer Sportpolitik deutlich
zu machen, war für die Koalition der Weckruf. Allerdings hat es bis zum 16. Juni 2010 gedauert, bis die Koalition ihren - aus unserer Sicht inhaltlich dürftig gehaltenen - Antrag formuliert hatte. Ich will der Koalition
keine Unlust unterstellen. Wahrscheinlich lag es vielmehr daran, dass für die Koalition nach den Vorschlägen aus unserem fast zwei Monate vorher eingebrachten
Antrag keine weiteren guten Ideen mehr übrig waren.
Diese Annahme wird noch deutlicher, wenn man den Inhalt des Koalitionsantrages „Europa in Bewegung - Mit
Kompetenz und Verantwortung für einen europäischen
Mehrwert im Sport“ genauer betrachtet. Dieser enthält
nur wenig konkrete Vorstellungen für eine moderne europäische Sportpolitik. Statt Chancen und Herausforderungen zu suchen, bremst sich die Koalition im Antragstext selbst aus: Was bitte verstehen Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, denn unter einer nicht wünschenswerten „wohlgemeinten Alimentation“ bei gleichzeitig „hoch zu achtender Autonomie des Sports“, der „der Politik selbstverständlich wie
bisher einen begrenzenden Rahmen vorgeben“ wird?
Der Bund ist der wichtigste Förderer des Spitzensportes, und er alimentiert nur dann nicht, wenn er auch
zukünftig willens und ermächtigt ist, gewisse Entscheidungen des autonomen Sports zu hinterfragen oder im
begründeten Einzelfall auch kritisch zu widersprechen.
Ansonsten gölte das Prinzip: „zahlen und schweigen“.
Das mag der fromme Wunsch des Gesundheitsministers
an die Bürgerinnen und Bürger sein - nicht nur in der
Sportpolitik sieht meine Fraktion dies jedoch ein wenig
anders.
Die Koalition lehnt unseren Antrag ab, da er Priorisierung und Konzentration vermissen lasse - eine wenig überzeugende Begründung! Wir haben in unserem
Antrag sehr deutlich gemacht, dass sportpolitische
Konsequenzen aus dem Lissabon-Vertrag breit und vielschichtig sein müssen. Die Bekämpfung von Doping,
Manipulation und Rassismus im Sport muss auch auf europäischer Ebene Thema sein. Die Relevanz des Sports
als Instrument der Begegnung und damit europäischer
Integration und die Wichtigkeit von Ehrenamt im und für
den Sport und der Wunsch nach Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in Europa sollten unstrittig
sein. Die europäische Dimension des Sports geht aber
darüber hinaus, es gibt wichtige Überschneidungen
auch in andere Politikfelder. Darum finden Sie in unserem Antrag auch Forderungen in Richtung Entwicklungs-, Medien-, Gesundheits- und Bildungspolitik.
Dazu müssen Finanzmittel zur Verfügung stehen - daher
unsere Forderung nach einer sinnvollen und ausreichenden Ausgestaltung des geplanten EU-Sportförderprogramms.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, auch
wenn Sie es bestreiten, unser Antrag hat sehr wohl eine
klare Ausrichtung - daher hätte er Ihre Zustimmung verdient! Auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilt
viele unserer Ideen und macht sinnvolle Vorschläge; daher werden wir deren Antrag auch zustimmen. Der Koalitionsantrag hingegen ist nichtssagend; mehr als Floskeln sind nicht erkennbar. Glauben Sie in der Tat, dass
der Kampf gegen Doping nur gewonnen werden kann
durch Netzwerke zwischen den europäischen Antidopingorganisationen? Was ist denn aus dem Versprechen der
Bundeskanzlerin am Rande der Leichtathletik-WM 2007
in Osaka geworden, sich auf internationaler Ebene für
eine konsequente Bekämpfung des Dopings einzusetzen?
Ich hoffe, dass die anderen europäischen Regierungen
tiefergehende Vorschläge machen werden als die von Ihnen angeregte Anerkennung von Trainerlizenzen auf europäischer Ebene. Das ist sicher wichtig, aber es gibt
größere sportpolitische Projekte in Europa.
Der Vertrag von Lissabon ist ein Meilenstein für den
europäischen Einigungsprozess - und für die Sportpolitik in Europa. Denn mit dem Vertrag erlangt die Europäische Union erstmals Kompetenzen für die Förderung
der europäischen Dimension des Sports. Einher mit dieser neuen Kompetenz geht eine Verantwortung für die
inhaltliche Gestaltung der sportpolitischen Zukunft.
Diese Verantwortung liegt nicht alleine bei der Europäischen Kommission, sie liegt vor allem bei den Regierungen der Mitgliedstaaten und somit auch bei unserer
Bundesregierung. Dieser Verantwortung scheint die
schwarz-gelbe Koalition aber nicht gerecht werden zu
können oder zu wollen. Ihr Antrag jedenfalls ist kaum
zielgerichtet, wenig progressiv und weist gar keinen
Mehrwert auf. Wer so Sport betreibt, wird nicht weit
kommen, und dasselbe gilt auch für die Sportpolitik von
Schwarz-Gelb.
Fünf Punkte umfasst der Forderungsteil Ihres Antrages, und den wenigen Gestaltungsideen, die er enthält,
fehlt es leider an jeder Ambition. Mit dem „Kampf gegen
Doping“, der Förderung „Dualer Karrieren“ und bürgerschaftlichen Engagements sowie einer diffusen Idee
zur Gesundheitsförderung durch Sport in Europa bleiben Ihre Forderungen hinter dem Potenzial des Lissabon-Vertrages für den Sport zurück. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP, machen Sie sich bis
zum nächsten Sportministertreffen ein paar zusätzliche
Gedanken, damit Deutschland bei den Beratungen im
Rat nicht verfrüht wegen Einfallslosigkeit und mangelnder Motivation ausscheidet. Welche Arbeitsaufträge
wollen Sie der von Ihnen getragenen Regierung für die
europäische Sportpolitik mitgeben? Sie haben, das wissen Sie hoffentlich, seit dem Inkrafttreten des Vertrags
von Lissabon und der entsprechenden Begleitgesetze die
Möglichkeit, ja die Verantwortung, an der deutschen
Politik in Europa mitzuwirken. Das Knüpfen neuer Antidopingnetzwerke und die Einrichtung einer MonitoringTask-Force können doch nicht im Ernst Ihre finalen
Ideen einer europäischen Strategie in der Dopingbekämpfung sein. Wir, die SPD-Fraktion, haben Ihnen mit
unserem Antrag eine gute Vorlage für eine breite inhaltliche Diskussion mit den Sportministerinnen und Sportministern gegeben. Wir sind Ihnen sicher nicht böse,
Zu Protokoll gegebene Reden
Axel Schäfer ({0})
wenn die deutschen Regierungsvertreterinnen und -vertreter diese Ideen mit in die nächsten Gesprächsrunden
auf europäischer Ebene einfließen lassen.
Wir leiten aus der neu geschaffenen Kompetenz des
Art. 165 des Lissabon-Vertrages Verantwortung ab. Wir
wollen neben der nationalen Sportpolitik europäische
Sportpolitik gestalten. Dazu haben wir 19 Vorschläge
gemacht. Sie fordern eine „Begrenzung auf inhaltlich
realistische Vorschläge“. Nach erneuter Prüfung unseres Antrages kann ich Ihnen sagen, dass wir Ihre Forderung - salopp gesagt - oppositionsuntypisch erfüllen alle 19 Vorschläge sind sehr realistisch. Sie sind klar
und zielgerichtet formuliert. Aus unserem Antrag wird
deutlich, wie die Ausgestaltung eines EU-Sportförderprogrammes aussehen könnte, wie europäische Dopingbekämpfung funktionieren kann, welchen Wert Sport als
Instrument in der Bildungs-, Integrations- und Gesundheitspolitik hat und welchen Gefahren im Sport, zum
Beispiel Rassismus, Manipulation und Gewalt, gemeinsam begegnet werden muss. Wir sehen die Mitgliedstaaten als die zentralen Akteure in der Sportpolitik. Aus Ihrem Antrag schimmert einmal mehr die Dominanz der
Autonomie des Sports hervor. Glauben Sie uns und unserem Antrag: Man kann Sportpolitik sehr wohl gestalten,
ohne die Selbstverwaltung des Sports und seiner Organisationen zu umgehen oder auszuhebeln.
Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen haben das in ihrem Antrag ebenfalls deutlich
gemacht. In vielen Ideen und Herausforderungen stimmen unsere Vorstellungen überein. Daher werden wir zu
diesem Antrag, der den Lissabon-Vertrag mit Leben erfüllen will, ebenfalls Ja sagen.
Zum Antrag der Koalition sagen wir Nein. Zu oberflächlich sind die Gestaltungsideen, zu konzeptionslos
ausgewählt die Maßnahmen. Ich hoffe aber, dass Union
und FDP erst am Beginn einer positiven Entwicklung
stehen. Das ist auch in der gemeinsam zu tragenden
Sportpolitik und den EU-Kompetenzen so.
Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dass
mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine unterstützende Kompetenz auf europäischer Ebene für den Sport
geschaffen wurde. Mit der Verankerung im Primärrecht
fällt der Sport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union, ohne dass die nationale Verantwortung aufgegeben wird.
Der Sport hat jetzt neben leistungssportlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Merkmalen vor allem auch
einen sozialen Aspekt für die Bürger von Europa! Begriffe wie „Integration“, „Toleranz“ und „Zusammenhalt“ gibt es in der Welt von sportlich Aktiven nicht nur
theoretisch, dort werden sie gelebt! So ist der Sport auch
Sinnbild für ein gedeihliches Miteinander. Dieser Tatsache wird mit dieser neuen Kompetenz auch Rechnung
getragen.
Dies bietet eine Reihe von Chancen für den Sport,
wenn man die Kompetenz im Hinblick auf einen Mehrwert für den Sport sinnvoll, aber maßvoll einsetzt.
Da sind zunächst natürlich die besseren finanziellen
Möglichkeiten zu nennen, zum Beispiel das für 2012 geplante erste EU-Sportförderprogramm, die eine gute Ergänzung zu den nationalen Mitteln darstellen.
Die neue Kompetenz eröffnet uns weiterhin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körperlichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Jugendlicher, und
bessere Möglichkeiten von Gewaltbekämpfung durch
grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Es wird auch zu einer verbesserten Koordinierung
der Dopingbekämpfung auf internationaler Ebene kommen. So erwarten wir von der Gründung eines EU-Netzwerkes der nationalen Antidopingorganisationen, NADOs, neue Impulse, um Synergieeffekte für alle
Mitgliedstaaten nutzbar zu machen. Bei der Implementierung neuer, gemeinsamer Antidopingmaßnahmen,
zum Beispiel im Hinblick auf die Einrichtung von Melderegistern, ist uns dabei eines ganz besonders wichtig:
Die Persönlichkeitsrechte unserer Spitzensportler müssen angemessen berücksichtigt und unbedingt geschützt
werden.
Die Rolle des Sports für ein gesundes und fittes Leben
in Verbindung mit richtiger Ernährung, der Kampf gegen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Adipositas, eine effektivere Zusammenarbeit mit der WHO, verbesserte Möglichkeiten der Bekämpfung von Wettbetrug,
die Förderung und Unterstützung des Antidopingkampfes, die Verbesserungen der dualen Karrieremöglichkeiten und der Mobilität von im Sport Beschäftigten, die
Stärkung des Ehrenamts, die Breitensportförderung und
der Erhalt unserer einzigartigen Vereinsstruktur - all
diese Ziele lassen sich in einem europäischen Rahmen
noch besser verfolgen und koordinieren.
Doch bei allem Positiven, was vom Lissabon-Vertrag
für den Sport zu erwarten ist, muss ein Hinweis erlaubt
sein: Es handelt sich beim Art. 165 AEUV lediglich um
eine unterstützende Kompetenz. Wir müssen unbedingt
auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips achten.
Außerdem darf die hoch einzuschätzende Autonomie des
Sports nicht erodieren. Dort, wo die neue EU-Kompetenz einen wirklichen Mehrwert für den Sport verspricht, soll sie auch maßvoll genutzt werden.
Im Hinblick auf den umfangreichen Forderungskatalog, der in den Anträgen der Opposition zu finden ist
- wie immer ohne genaue Vorstellung davon, wo das
Geld dafür eigentlich herkommt -, sollte man auch eines
nicht aus dem Blick verlieren: Unterstützung heißt nicht
automatisch finanzielle Hilfe, sondern auch ideelle
Hilfe, positive Aufmerksamkeit und das Fördern von
Engagement und Eigenverantwortung. Bürokratischer
Überregulierung ist dies in jedem Falle vorzuziehen.
Vier Wochen waren die Blicke der Sportwelt auf
Afrika gerichtet. Zwischenzeitlich schien es, als würden
die Europäer ihre Vormachtstellung im Fußball verlieren. Wie hätte Europa reagiert, wenn plötzlich nur noch
eine Mannschaft aus der „alten Welt“ im Wettbewerb
gewesen wäre? Es ist kaum vorstellbar, dass sich ganz
Zu Protokoll gegebene Reden
Europa hinter dieses eine Team gestellt hätte - wie ganz
Afrika hinter Ghana stand.
Sport ist identitätsstiftend, und unsere europäische
Identität steckt noch in den Kinderschuhen - nicht nur
im Sport, aber hier ganz besonders.
Was ist dann also europäischer Sport, wie lassen sich
hier Gemeinsamkeiten herausbilden - ohne dass sie
einfach von oben zu solchen erklärt werden? In den Anträgen aller Fraktionen werden verschiedene Problemstellungen durchaus treffend aufgezeigt. Aber die Wegbeschreibungen zu möglichen Lösungen fehlen. Und die
allzu kurze „Debatte“ im Sportausschuss hat gezeigt,
dass es dazu aus der Regierung auch wenig Ideen gibt.
Die Linke hat dazu Ideen, die sich vor allem auf den
Breitensport konzentrieren. Wir haben es auch bereits
mehrfach gesagt: Um Schul-, Freizeit- und Vereinssport
sinnvoll zu fördern, brauchen wir ein Sportfördergesetz
des Bundes. Was bringt es, wenn die Länder und Kommunen alleine vor sich hin fördern, die Maßnahmen
aber nicht sinnvoll miteinander verzahnt werden?
An einem Beispiel lässt sich die Notwendigkeit, die
verschiedenen Ebenen der Sportförderung zu verbinden,
gut darstellen: Am Sportgymnasium in Oberhof - in meinem Thüringer Wahlkreis - gibt es ein Nachwuchsproblem bei den Rodeltrainern: Zum einen sind da die
Anforderungen einer pädagogischen Ausbildung und
der leistungssportlichen Erfahrung. Das allein ist schon
sehr anspruchsvoll. Auf der anderen Seite gibt es die Arbeitsverträge für Lehrer, die stets für ein Jahr auf geringstmöglichem Tarifniveau befristet sind. Sowohl
sportlich als auch persönlich ist auf dieser Basis eine
wenigstens mittelfristige Planung unmöglich. Irgendwie
kann man da schon verstehen, dass es eigentlich keine
Anwärter für den Job gibt. Aber der Bund am Olympiastützpunkt Oberhof und das Land, das den Lehrer bezahlen muss, haben halt unterschiedliche Vorstellungen.
Wer so agiert, stellt die Zukunft des Sportnachwuchses
in Frage.
Sowohl das „Weißbuch Sport“ als auch die Entschließung des Europäischen Parlaments haben dem
Breitensport eine herausgehobene Rolle zugeschrieben.
Aber der Bund ziert sich weiterhin, hier eine Verschiebung der Schwerpunkte vorzunehmen. Die schwarz-gelben Koalitionäre haben dem vor wenigen Monaten gar
noch die Krone aufgesetzt. Das Sportstättenprogramm
„Goldener Plan Ost“ wurde gestrichen, statt es auf marode Sportanlagen auch in den alten Ländern auszudehnen - wie von der Linken gefordert. Die Bundesregierung überlässt die Plätze und Hallen allein den leeren
Kassen der Kommunen. Das ist gesellschaftspolitischer
Unsinn.
Dem Antrag der Koalition können wir aus mehreren
Gründen nicht zustimmen. Allerdings möchte ich einen
ganz besonders hervorheben. Schwarz-Gelb ist stolz,
dass sich ihr Vorhaben „Sport in Europa“ auf fünf
Punkte konzentriert und nicht so eine Ansammlung von
Aufgaben aufzählt wie die Anträge von SPD und Grünen. Aber in diesen Ansammlungen wird ein Problem
wenigstens benannt, das ein wirkliches Problem darstellt, das der Koalitionsantrag schlicht negiert: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Das ist nicht nur fahrlässig, das ist gefährlich und
ignorant.
Mithilfe der neuen Kompetenzen auf der europäischen Ebene muss jetzt die Chance genutzt werden, um
den Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus voranzutreiben - das gilt für den
Spitzensport, aber insbesondere für den Breitensport.
Inzwischen lässt sich zwar im Fußball, bei den Fans
der einzelnen Nationalmannschaften in Europa, ein
Rückgang der sichtbaren rechtsextremen Äußerungsformen feststellen. Bei Auswärtsspielen aber haben massive rassistische und/oder rechtsextreme Verhaltensweisen Konjunktur. Ich will hier nur an die Spiele der
Deutschen Nationalmannschaft in Celje im März 2005
und Bratislava im September 2006 erinnern.
Allerdings sind das keine neuen Erscheinungen, sondern konstatieren eine sogenannte „Wellenbewegung“
von gewalttätigen Ausschreitungen, vor allem bei Spielen in Osteuropa. Der bereits angedeutete Rückgang von
problematischen Verhaltensweisen, bedeutet nicht unbedingt einen Rückgang von problematischen Einstellungsmustern. Interviews von Fans und Experten weisen
darauf hin, dass problematische Einstellungsmuster
- insbesondere im Rechtsextremismus - unsichtbarer
geworden sind. Genau hier muss die Idee von einem gemeinsamen Europa ansetzen, um diesen europafeindlichen Strömungen entgegenzuwirken.
Auffallend auf nationaler Ebene ist, dass es eine Verlagerung von rassistischen und rechtsextremen Verhaltensweisen von der Bundesliga in die unteren Ligen gibt.
Die Hauptursache hierfür, liegt im Fehlen von Fanprojekten und der mangelnden finanziellen Ausstattung unterklassiger Vereine. Dieser Fehlentwicklung könnte
man mit einem bundesweiten Sportfördergesetz entgegenwirken, um sozialpräventive Fanarbeit der Vereine
mit finanziellen Mitteln zu unterstützen. Dabei sollte Antirassismus als Querschnittsaufgabe und nicht als
Pflichtprogramm in einer europaweiten und internationalen Debatte verstanden werden. Ausgangspunkt muss
dabei eine kontinuierliche Arbeit mit unterschiedlichen
Ansätzen und einer konstruktiv-vernetzenden Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure sein.
Und noch etwas möchte ich hier anmerken: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus werden im Fußballstadion durchaus wahrgenommen und
zum Teil kritisch diskutiert. Schwulenfeindlichkeit und
Sexismus hingegen werden immer noch nahezu totgeschwiegen. Es hat sich so etwas wie eine Hierarchie von
Diskriminierungen entwickelt. Homophobe Fangesänge
gehören zum Standardrepertoire in vielen Fußballstadien, die nicht weiter infrage gestellt werden. Gleichzeitig gehört Fußball zu einer der letzten gesellschaftlichen
Bastionen, in denen Homosexualität weitgehend ein
Tabu ist. Sexistische Merchandising-Artikel sind weit
verbreitet und gelten als „normaler“ Bestandteil der
Fankultur.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mir ist unverständlich, wie die Koalition solche Entwicklungen ignorieren kann und den Kampf gegen fremdenfeindliches Verhalten nicht in ihren Maßnahmenkatalog aufnimmt.
Vielleicht ist es ja auch vermessen, von einem „Maßnahmen“-Katalog zu sprechen. Ich lese in diesem Antrag Absichtsbekundungen. Aber mehr oder weniger
wohlformulierte Sätze haben noch selten etwas bewirkt.
Es braucht aber mehr als lauwarme Worte, um im Sport
hierzulande wie auch in Europa etwas zu bewegen.
Die Linke im Deutschen Bundestag wird sich dem annehmen und entsprechende parlamentarische Initiativen
einbringen.
Was die Koalition im Bereich der europäischen Sport-
politik bietet, das würde man im Fußball einen langsa-
men Spielaufbau nennen. Vielleicht sogar einen sehr
langsamen. Zur Erinnerung: Unser Antrag und der der
SPD lagen am 21. April 2010 im Sportausschuss vor.
Das ist gute zwölf Wochen her. Der Lissabon-Vertrag
trat Ende 2009 in Kraft und das erste offizielle Sport-
ministertreffen fand am 10. Mai 2010 statt. Viel Zeit für
die Koalition für eigene Initiativen. Aber, Schwarz-Gelb
ist eben die Farbkombination der Langsamkeit. Auch in
der europäischen Sportpolitik.
Nun zum Inhalt des Antrags, den Sie angesichts des
eben von mir kritisierten Tempos auch noch „Europa in
Bewegung“ nennen. Sie beziehen sich auf den Art. 165
AEUV, in dem der Sport „vor allem auch in seiner sozia-
len Funktion für ein Europa der Bürger gesehen“ wird.
Außerdem betonen Sie, dass „bei der Ausgestaltung der
neuen Zuständigkeiten ein europäischer Mehrwert
gegenüber nationalen Aktivitäten im Mittelpunkt des In-
teresses“ stehen müsse. Weiter führen Sie aus: „Unab-
hängig vielfältiger Aspekte weist die Europäische Kom-
mission auf eine Priorisierung der angestrebten Ziele
nach Größe des Mehrwertes und Handlungsbedarfs
hin.“ Sie wollen auch eine „bürokratische Überregu-
lierung mit Überwachungs-, Prüfungs- und Koordina-
tionsmechanismen zur Umsetzung der EU-Leitlinien“
verhindern. Auch die Autonomie des Sports und das
Subsidiaritätsprinzip sehen Sie in Gefahr und betonen
diese deswegen deutlich. Sie wehren sich gegen eine
wohlgemeinte Alimentation und letztlich Bevormundung
des Sports seitens der EU. Und weiter: „Die Potentiale
des Sports in Europa erhalten ihre Gestaltungskraft und
Signalwirkung erst durch eng definierte Ziele.“
Bis hierhin hat es den Anschein, als würde in Ihrem
Antrag nur stehen, was Sie alles nicht wollen. Er ist of-
fensichtlich durch die Sorge gekennzeichnet, dass die
Autonomie des Sports, das Subsidiaritätsprinzip und die
Bemühungen der Länder und Kommunen untergraben
werden könnten.
Sie strapazieren in Ihrem Antrag und Ihren Redebei-
trägen im Sportausschuss den „europäischer Mehr-
wert“ für meinen Geschmack zu sehr und maßen sich
auch noch die alleinige Definitionsmacht über dessen
Bedeutung an. Dann beklagen Sie auch noch die Viel-
zahl der Forderungen in unserem Antrag und dem der
SPD-Fraktion. Sie dürfen sich aber nicht formal, son-
dern müssen sich vor allem inhaltlich mit unseren For-
derungen auseinandersetzen.
Nun zu Ihren Forderungen, die da wären: Erstens:
Einrichtung eines Netzwerkes der europäischen Antido-
pingorganisationen und einer „Monitoring-Task-
Force“. Zweitens: Anerkennung von Trainerlizenzen
und äquivalenten Ausbildungsinhalten und Verbesse-
rung der Rahmenbedingungen für duale Karrieren auf
EU-Ebene. Drittens: Programme in Verbindung zu den
EU-Leitlinien für körperliche Aktivitäten fortzuführen
sowie Aktivitäten in Anlehnung an den Nationalen Ak-
tionsplan „IN FORM“ zu erschließen und durchzufüh-
ren. Viertens: Bürgerschaftliches Engagement im Sport
und grenzüberschreitende Mobilität von Ehrenamtlichen
in der EU fördern. Fünftens: Den durch Autonomie des
Sports und Subsidiaritätsprinzip vorgegebenen Hand-
lungsrahmen nicht überschreiten.
Das sind ja alles ganz schöne, brave Forderungen,
von denen ich die Punkte eins, zwei und vier grundsätz-
lich für unterstützenswert halte. Allerdings bleiben Fra-
gen offen: Wie wollen Sie eine Antidoping-„Monitoring-
Task-Force“ ausgestalten? Wo soll diese Agentur ange-
siedelt werden? Wie soll deren Arbeit aussehen, etwa in
der Art der kürzlich verkündeten Kooperation der
WADA mit der Pharmaindustrie?
Es würde mich auch interessieren, was Sie denn wirk-
lich unter „Antidopingorganisationen“ alles verstehen.
In Ihrer Rede zur ersten Lesung der Anträge der Op-
position hieß es noch „Antidopingagenturen“. War das
nur ein Versehen oder zeigt dies, dass Sie tatsächlich im-
mer noch nicht wissen, was Sie eigentlich wollen? Auf
Punkt fünf bin ich vorher schon eingegangen. Ich stelle
mir schon die Frage, wofür sie eigentlich so lange ge-
braucht haben. Zumal Ihnen mit unserem Antrag - und
in weiten Teilen dem der SPD - doch schon einige sehr
wichtige Punkte für eine europäische Sportpolitik vorla-
gen.
„Europa in Bewegung“ haben sie Ihren Antrag ge-
nannt. Nur leider ist eben keine Bewegung zu erkennen.
Ganz offensichtlich ignorieren Sie die einzigartige Mög-
lichkeit, den Sport als Instrument zur europäischen Inte-
gration einzusetzen. Ein Punkt, der in ihrem Antrag
gänzlich fehlt. Ich kann hier nur an Sie appellieren: Nut-
zen wir in der EU der 27 Mitgliedstaaten die vielen
Chancen des Sports zur Entwicklung einer gemeinsamen
europäischen Identität. Die Kinder und Jugendlichen,
die heute andere europäische Kulturen und Menschen
kennenlernen, sind die Europäer und Europäerinnen
von morgen. Ihre ignorante Haltung schadet der euro-
päischen Idee.
Wenn das hier ein Tennismatch wäre, würde ich sa-
gen: „Der erste Aufschlag war klar im Aus. Versuchen
Sie mit dem zweiten Aufschlag, den Ball ins Feld zu spie-
len.“ Aber wir sind nicht auf dem Tennisplatz, sondern
im Parlament. Und wie ich schon erwähnte, müssen wir
wohl froh sein, dass Sie überhaupt einen gemeinsamen
Antrag vorlegen konnten. In diesen Tagen müssten wir
Zu Protokoll gegebene Reden
vonseiten der Regierungsparteien leider schon mit sehr
wenig zufrieden sein. Das sind wir aber nicht. Sie haben
nur einmal mehr gezeigt, dass Sie es nicht können.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Sportausschusses auf Drucksache 17/2468. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/2129 mit
dem Titel „Europa in Bewegung - Mit Kompetenz und
Verantwortung für einen europäischen Mehrwert im
Sport“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositions-
fraktionen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1406
mit dem Titel „Den Sport in Europa voranbringen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist
ebenfalls angenommen. Dafür haben gestimmt die Ko-
alitionsfraktionen, dagegen die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und die SPD-Fraktion. Enthalten hat sich die
Fraktion Die Linke.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1420
mit dem Titel „Sport in der Europäischen Union - Den
Lissabon-Vertrag mit Leben füllen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Ent-
haltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist ange-
nommen. Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktio-
nen, dagegen die SPD-Fraktion und die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich
enthalten.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen
- Drucksachen 17/1762, 17/2306 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Molitor
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen
- Drucksachen 17/1578, 17/1761, 17/2091 Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt ({2})
c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Erstellung des Berichts der Bundesregierung
auf Grundlage der UN-Konvention - Aktionsplan zur Umsetzung auf den Weg bringen
- Drucksache 17/2367 Interfraktionell wird vorgeschlagen, auch hierzu die
Reden zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Es geht um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Maria Michalk, Silvia Schmidt
({3}), Gabriele Molitor, Dr. Ilja Seifert und Markus
Kurth.1)
Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Bericht der Bun-
desregierung über die Lage behinderter Menschen und
die Entwicklung ihrer Teilhabe umfassender und detail-
lierter vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/2306, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1762 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben die
Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Die
Fraktion der SPD hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksa-
che 17/2091. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe
a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1578
mit dem Titel „Aktionsplan zur Umsetzung der UN-
Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen angenommen; dagegen gestimmt haben
die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.
Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 17 b. Unter
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1761 mit dem Titel „Handlungsaufträge aus
dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion der SPD und der Fraktion der Linken.
Tagesordnungspunkt 17 c. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2367 mit
dem Titel „Erstellung des Berichts der Bundesregierung
auf Grundlage der UN-Konvention - Aktionsplan zur
Umsetzung auf den Weg bringen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist abgelehnt. Dafür gestimmt haben die Fraktion
der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dagegen die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion die Linke hat
sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen
- Drucksachen 17/1719, 17/2280 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- Drucksache 17/2466 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es handelt
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Thomas Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil,
Dorothée Menzner und Ingrid Nestle.
Heute beraten wir abschließend über die Umsetzung
der EU-Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen. Lassen Sie mich gleich vorneweg
die im wahrsten Sinne des Wortes effiziente Arbeit der
Ministerien und der Regierungsfraktionen loben: Mit
dem vorliegenden Gesetz können wir alle sehr zufrieden
sein. Letzte Unstimmigkeiten konnten wir mit unserem
Änderungsantrag im Nachgang zu der öffentlichen Anhörung vergangene Woche noch ausräumen. Nun haben
wir das umgesetzt, was wir bereits im Koalitionsvertrag
angekündigt haben: eine marktwirtschaftliche Eins-zueins-Umsetzung der EU-Richtlinie.
Erstens Änderungen im Gesetzgebungsverfahren.
Nach der Anhörung letzte Woche zur Umsetzung der
Richtlinie haben wir in der Koalition noch kleine Änderungen in das Gesetz eingearbeitet. Dazu gehört die
sogenannte Sorgepflicht der Energieunternehmen. Zur
Bestimmung, ob ein ausreichendes Angebot an Energieaudits besteht, darf nicht allein auf die von den Energieunternehmen unabhängigen Anbieter abgestellt
werden. Vielmehr müssen alle potenziellen Anbieter berücksichtigt werden, soweit diese ihre Beratung zu wettbewerbsorientierten Preisen erbringen. Durch eine Änderung der Gesetzestextpassage im § 5 haben wir hier
entsprechend für mehr Klarheit sorgen können.
Ein weiterer Punkt ist der Bezug auf die Regionalität
im § 4 und im § 5 des Gesetzes. Die ursprüngliche Formulierung, dass Energielieferanten über Energieeffizienzmaßnahmen in „ihrer kreisfreien Stadt oder ihrem
Landkreis“ zu unterrichten haben, führt zu der Gefahr,
dass der Markt zu eng abgegrenzt wird. Auch hier haben
wir für bessere Marktbedingungen gesorgt.
Dienstleistungen werden heute nicht mehr allein von
lokalen Anbietern, sondern zu einem wesentlichen Teil
auch von überregionalen oder gar grenzüberschreitenden Anbietern erbracht. Diese müssen deshalb bei der
Bestimmung, inwieweit für den einzelnen Endverbraucher in seiner Region ein ausreichendes Angebot an
Energieaudits besteht, Berücksichtigung finden.
Ein letzter Punkt war noch die sogenannte Anbieterliste im § 7. Durch unseren Änderungsantrag haben wir
dafür gesorgt, dass die bei der Bundesstelle für Energieeffizienz geführte Anbieterliste allen Anbietern von
Energiedienstleistungen, Energieaudits und sonstigen
Energieeffizienzmaßnahmen offensteht, unabhängig davon, ob der einzelne Anbieter von den Energieunternehmen unabhängig ist oder nicht. Auf diese Weise wird für
den Verbraucher eine maximale Markttransparenz geschaffen, die es ihm erlaubt, von allen potenziellen Anbietern in seiner Region Kenntnis zu nehmen.
Zweitens IEKP und andere Maßnahmen. Ich möchte
an dieser Stelle auch gleich den Kritikern begegnen, die
uns vorwerfen, dass diese Eins-zu-eins-Umsetzung der
Richtlinie nicht weit genug gehe. Lassen Sie mich eines
klarstellen: Wir haben uns in Deutschland durch zahlreiche Energieeffizienzmaßnahmen in den letzten Jahren
bereits in die Position gebracht, dass diese Umsetzung
der Richtlinie nur aus dem Grund keine weitergehenden
Regelungen enthält, weil wir in Deutschland bereits viel
weiter gefasste Ziele haben, die wir auch schon erreicht
haben.
Lassen Sie mich aufgrund der Kürze der Zeit nur kurz
darauf eingehen. Herauszuheben ist natürlich das integrierte Energie- und Klimaprogramm der Bundesregierung, das viele Maßnahmen enthält, die Deutschland bei
der Energieeffizienz weltweit führend gemacht haben.
Mit dem IEKP setzen wir zum Beispiel auf den weiteren
Ausbau der gekoppelten Erzeugung von Strom und
Wärme, der sogenannten Kraft-Wärme-Kopplung.
Die Gebäudesanierung ist ein weiterer wichtiger Bereich, in dem es noch erhebliche Potenziale gibt und in
dem wir aber ebenfalls schon einige Erfolge erzielen
konnten. Durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm
haben wir seit dem Programmstart 2006 bis Ende 2009
insgesamt rund 6 Milliarden Euro Fördermittel für die
Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt. In demselben
Zeitraum hat die KfW rund 550 000 Kredite und Zuschüsse mit einem Volumen von fast 30 Milliarden Euro
bewilligt. Mit den Fördermitteln wurden in diesem Zeitraum knapp 1,42 Millionen Wohnungen saniert oder besonders energieeffizient errichtet, zudem rund 630 kommunale Einrichtungen.
Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. Der jährliche CO2-Ausstoß verringerte sich infolge
der geförderten Baumaßnahmen um fast 4 Millionen Tonnen. Zudem wurden jährlich bis zu 290 000 Arbeitsplätze
gesichert oder geschaffen.
Anfang des Jahres haben wir die Mittel zur Förderung von Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms nochmals um 400 Millionen Euro erhöht. Ich
werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass diesem
meines Erachtens sehr wichtigen Programm in den anstehenden Haushaltsberatungen angemessene Priorität
eingeräumt wird.
Drittens Stellenwert der Energieeffizienz. Ich denke,
wir sind auf einem sehr guten Weg, ruhen uns aber auf
dem Erreichten nicht aus. Bei der Energieeffizienz liegen noch erhebliche Potenziale; das gilt nicht nur für
die Seite der Energiebereitstellung, sondern vor allem
auch auf der Nachfrageseite. Dem Verbraucher kommt
hierbei eine Schlüsselrolle zu. Es gilt, die Verbraucher
zu überzeugen, selbst aktiv Energie einzusparen. Das
schont nicht nur den eigenen Geldbeutel, sondern vor
allem die Umwelt. Wir als Politik müssen verstärkt die
Rahmenbedingungen im Interesse der Verbraucher und
im Dialog mit allen Akteuren gestalten.
Was wir dabei allerdings nicht aus dem Blick verlieren dürfen, ist die Frage, inwieweit der Staat in die
Eigentumsrechte der Bürger eingreifen darf. Bei aller
Notwendigkeit der CO2-Gebäudesanierung dürfen wir
diesen wichtigen Aspekt nicht vergessen. Gerade für die
Häuslebauer in meiner schwäbischen Heimat ist das
Wohnungseigentum heilig.
Die Parole lautet daher: Anreizsetzung und nicht
Zwangsmaßnahmen. Auch hier vertraue ich ganz auf
das Funktionieren des Marktes. Wenn die Verbraucher
sehen, dass sich Investitionen lohnen, werden sie auch
entsprechend Geld in die Hand nehmen.
Voraussetzung dafür ist natürlich auch Transparenz,
für die der Staat als Rahmensetzer zu sorgen hat. Mit der
Verbesserung der Energiedienstleistungen leisten wir
mit der Umsetzung der EU-Richtlinie dafür einen wichtigen Beitrag.
Viertens weitere Maßnahmen: Energiekonzept. Die
Umsetzung der EU-Richtlinie ist nur ein Schritt, um
beim Thema Energieeffizienz weiter voranzukommen.
Klar ist auch, dass diese Richtlinie kein Meilenstein ist,
und zwar aus dem Grund, dass wir mit unseren Effizienzmaßnahmen zum größten Teil bereits viel weiter
sind, als es die Richtlinie fordert. Wir haben in den letzten Jahren bereits große Erfolge erzielt, auf denen wir
uns aber nicht ausruhen dürfen. Weitere Maßnahmen
werden daher schon in Kürze folgen.
Dabei spielt das für Ende des Jahres geplante Energiekonzept der Bundesregierung eine wichtige Rolle. Ich
will an dieser Stelle nochmals davor warnen, dass sich
die Diskussion um das Energiekonzept auf den Punkt
Kernenergie beschränkt. Dies ist sicherlich ein wichtiges Thema. Allerdings halte ich das Thema Energieeffizienz ebenfalls für essenziell. Bei dem Energiekonzept
werden wir deshalb darauf achten, klar herauszuheben,
mit welchen Mitteln wir unsere ambitionierten Ziele erreichen können.
Fünftens Fazit. Die Steigerung der Energieeffizienz
ist der Königsweg - nicht nur, um unsere ehrgeizigen
Klimaziele zu erreichen, sondern ebenso aus Gründen
der Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit.
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der EU-Energiedienstleistungsrichtlinie ist ein wichtiger Schritt getan. Das im
Herbst anstehende Energiekonzept wird unsere weitergehenden ambitionierten Ziele im Bereich der Energieeffizienz untermauern.
Ich denke, es herrscht Einigkeit in diesem Hohen
Hause darüber, dass die Energieeffizienz einer der
wichtigsten Grundpfeiler der Energiepolitik ist. Ein effizienter und sparsamer Einsatz von Energie bietet Privathaushalten und Unternehmen die Möglichkeit signifikanter Kostensenkungen. Darüber hinaus ist
Energieeffizienzpolitik ein wichtiger Teil der notwendigen Klimapolitik. Wenn wir die ökonomischen und ökologischen Potenziale der Steigerung der Energieeffizienz heben wollen, müssen wir - und darauf habe
ich schon in der ersten Lesung dieses Gesetzes hingewiesen - weitgreifende Umwälzungen in allen Energiesektoren anstoßen.
Umso mehr bedauere ich, dass wir hier und heute einen Gesetzentwurf abschließend beraten, der den Anforderungen an eine wirksame und nachhaltige Energieeffizienzpolitik in keiner Weise genügt. Es fehlt an
konkreten Zielen und Maßnahmen. Stattdessen ist der
vorliegende Entwurf eine Ansammlung von Verordnungsermächtigungen, anhand derer die Bundesregierung irgendwann in der Zukunft mögliche Effizienzziele,
die Art und Weise der Energieberatung sowie die Sorgepflicht der Energieanbieter definieren soll. Darüber hinaus setzt der Gesetzentwurf einseitig auf nachfrageseitige Maßnahmen. Eine Steigerung der Energieeffizienz
und eine damit verbundene Erhöhung der Energieproduktivität setzt aber auch Effizienzsteigerungen auf der
Erzeugerseite voraus. Vor gerade einmal zwei Jahren
hat sich die damalige Große Koalition unter der Führung von Kanzlerin Angela Merkel im Integrierten Energie- und Klimaprogramm mit breiter Unterstützung im
Deutschen Bundestag das Ziel gesetzt, die Energieproduktivität bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 zu verdoppeln und den Stromverbrauch um 11 Prozent zu senken.
Nach einem knappen Jahr schwarz-gelber Regierungsverantwortung ist von diesen als allgemein richtig und
wichtig anerkannten Zielen keine Rede mehr. Und genau
Zu Protokoll gegebene Reden
so kommt auch das seinen Namen zu Unrecht tragende
Energieeffizienzgesetz daher: ambitionslos, ziellos und
wirkungslos!
Meine Unzufriedenheit mit dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf teile ich mit vielen Vertretern von
Union und FDP aus der Länderkammer. Der Bundesrat,
in dem Union und FDP aktuell noch über eine Mehrheit
verfügen, hat in seiner Stellungnahme im Juni dieses
Jahres viele Verbesserungen eingefordert. So soll nach
dem Willen der Länderkammer im Gesetz das Energieeinsparziel von 9 Prozent festgelegt werden. Obwohl
dieses Ziel auch in der EU-Richtlinie, die mit dem Gesetz umgesetzt werden soll, klar definiert ist, lehnt die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung diese Forderung ab. Zudem sprechen sich die Länder für ein nationales Top-Runner-Programm aus, was von der Bundesregierung mit dem Hinweis auf entsprechende
Bemühungen auf europäischer Ebene ebenfalls zurückgewiesen wurde. Selbst wenn in der EU an einem solchen Programm gearbeitet wird, ist dies noch kein
Grund, in Deutschland keine Bemühungen in dieser
Richtung zu starten. Denn zum einen profitieren von der
Verfügbarkeit energiesparender Geräte und Anlagen
insbesondere private Haushalte und kleinere Unternehmen. Zum anderen hätte die Bundesregierung die hier
gesammelten Erfahrungen mit diesem Modell zum Nutzen aller beteiligten Länder bei der Initiierung des europäischen Top-Runner-Programms einbringen können.
Darüber hinaus würden sich die Länder gerne an der
Konkretisierung und Ausgestaltung der Einsparziele
und Maßnahmen, insbesondere der Energieberatung,
beteiligen. Dieses bleibt ihnen durch die vielen im Gesetz verankerten Verordnungsermächtigungen ohne Beteiligung des Bundesrates verwehrt. Die SPD-Fraktion
unterstützt eine Beteiligung der Länder, weil eine Einbeziehung der Länder eine reibungslose Umsetzung der
Effizienzmaßnahmen garantieren würde. Denn aufgrund
der föderalen Strukturen in unserem Land sollte auch
die Organisation der Energieberatung nach dem Subsidiaritätsprinzip erfolgen. Nur so könnten die Bundesländer auch die Bundesstelle für Energieeffizienz unterstützen und zu einer schnellen Umsetzung des Gesetzes
beitragen. Die Bundesregierung argumentiert, dass eine
Beteiligung des Bundesrates nicht nötig ist, da die Bundesländer keine individuellen Einsparziele erhalten.
Doch natürlich sind auch die Bundesländer - und im
Übrigen auch die Kommunen - von den Effizienzmaßnahmen betroffen. Deshalb wird hier und heute von der
Koalition eine Chance vergeben, das Thema Energieeffizienz im demokratischen Sinne auf eine möglichst
breite gesellschaftliche Basis zu stellen.
Bereits im Rahmen der ersten Lesung zu diesem Gesetz habe ich deutlich gemacht, dass auch der Deutsche
Bundestag an Entscheidungen über konkrete Maßnahmen beteiligt werden sollte. Leider ist dieser Appell bei
meinen Kollegen aus der Union und FDP auf taube Ohren gestoßen. Nach wie vor werden Entscheidungen zu
zentralen Maßnahmen anhand von Verordnungsermächtigungen für die Bundesregierung in die Zukunft verschoben. Ich verstehe nicht, warum Sie einer Entmachtung der Volksvertreter bei solch wichtigen Fragen
zustimmen.
Abschließend möchte ich noch auf einige weitere
Punkte eingehen, die wir in unserem Entschließungsantrag angesprochen haben. Neben der Festschreibung
konkreter Einsparziele muss ein Energieeffizienzgesetz
auch Wege aufzeigen, wie eine Steigerung der Effizienz
und der hierfür notwendige Umbau unseres Energiesystems gestaltet werden können. Insbesondere ist darauf
zu achten, dass alle Teile der Bevölkerung auf diesem
Weg mitgenommen werden. Deshalb machen wir uns
beispielsweise für die Einführung eines Energieeffizienzfonds stark. Mit den Mitteln aus diesem Fonds kann
die Energieberatung von privaten Haushalten unterstützt werden. Zudem könnten mit diesen Mitteln Mikrokredite für Effizienzmaßnahmen in privaten Haushalten
und Kleinunternehmen finanziert werden.
Zudem wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, durch Anreize die Energielieferanten besser dabei zu unterstützen, den Wandel hin zum Energiedienstleister zu vollziehen.
Der Gesetzgebungsprozess, den wir zumindest im
Bundestag heute abschließen, hat gezeigt, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen das Thema
Energieeffizienz nicht ernst nehmen und nicht bereit
sind, auf Vorschläge einzugehen. Die Ankündigung von
Kollegen aus den Regierungsfraktionen, in den nächsten
ein bis zwei Jahren ein neues Energieeffizienzgesetz vorlegen zu wollen, zeigt, dass auch in ihren eigenen Reihen
die Unzufriedenheit mit dem jetzt vorgelegten Gesetz
größer ist, als man aus parteitaktischen Gründen bereit
ist, zuzugeben.
Ich kann Ihnen schon heute ankündigen, dass wir als
SPD-Fraktion weiter an einem bezahlbaren, sicheren
und nachhaltigen Energiesystem arbeiten werden. In
diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und
bis bald!
Wie misst man eigentlich Energieeffizienz? Bezogen
auf die Produktion von Gütern bedeutet Energieeffizienz
entweder, mit gegebener Energie einen möglichst hohen
Output in der Wertschöpfung zu erreichen, oder aber,
mit minimalem Energieaufwand ein vorgegebenes Ziel
in der Wertschöpfung zu erreichen.
Auf beides darf die Politik keinen Einfluss haben. In
unserer heilen Welt bestimmt das immer noch der Markt.
Je größer die Relation zwischen Energieeinsatz und
Wertschöpfung in einem Sektor oder einer Gesamtwirtschaft, desto effizienter ist der Sektor oder die Gesamtwirtschaft aufgestellt.
Der Kehrwert von Energieeffizienz ist Energieintensität: Wie viel Energie muss für eine produzierte Einheit
aufgewandt werden? Die Energieintensität ist im weltweiten Durchschnitt in den letzten Jahrzehnten stetig gesunken. Sie ist in Industrieländern heute erheblich niedriger als in Entwicklungsländern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland liegt schon heute im internationalen
Vergleich gemeinsam mit Japan in der Gruppe derjenigen Staaten mit der geringsten Energieintensität oder
der höchsten Energieproduktivität. Seit 1990 wurde der
Primärenergieverbrauch bei wachsendem Inlandsprodukt in Deutschland absolut sogar gesenkt. Diese Entkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum ist die wichtigste globale Herausforderung,
um nachhaltige Fortschritte im Klimaschutz zu erzielen.
Sie ist aber auch eine Herausforderung für die deutsche Industrie. Trotz aller Fortschritte kann bei Energieeffizienz immer noch von einem „schlafenden Riesen“
gesprochen werden. Es ist einerseits richtig, dass effizienzsteigernde oder intensitätsmildernde Maßnahmen
einen immer größeren, insbesondere auch finanziellen
Aufwand erfordern. Andererseits kann sich die deutsche
Wirtschaft durch Investitionen in Energieeffizienzmaßnahmen besser international im Wettbewerb platzieren.
Das ist - neben höheren Qualitätsstandards - auch ein
Beispiel für die Chance, um sich gleichzeitig gegen den
vorhersehbaren Anstieg des Energiepreisniveaus auf
den Weltmärkten zu wappnen.
Stichwort „deutsche Industrie“: Unsere Unternehmen stehen bei „grünen“ Industrieprodukten in der ersten Startreihe. Sie haben sich auf den Weltmärkten einen
beachtlichen Anteil von über 16 Prozent erarbeitet.
Deutschland zeigt damit besonders den Emerging Markets, dass Energieeffizienz und Wirtschaftswachstum
auch bei sinkenden Elastizitäten kein Widerspruch, sondern - ganz im Gegenteil - nachhaltige Zukunftsinvestitionen in die Wettbewerbsfähigkeit sind. Daher begrüße
ich den jetzt gefundenen Kompromiss bei der Umsetzung
der EDL-Richtlinie sehr. Dieses Gesetz folgt auf eine
ganze Reihe erfolgreich in Kraft gesetzter Maßnahmen
zur Steigerung der Energieeffizienz in Deutschland. Es
ist ein wichtiger Baustein für mehr Energieeffizienz, mit
dem Deutschland die europäischen Anforderungen richlinienkonform umsetzt.
Die Richtlinie - das verkennen die Anträge der Opposition - verlangt jedoch nicht, dass in diesem Gesetz alle
Maßnahmen für mehr Effizienz enthalten sein müssten.
Sie lässt vielmehr den Mitgliedstaaten weitgehende
Freiheit, wie der Markt für Effizienzmaßnahmen vorangebracht wird. Eine Vielzahl von Maßnahmen, die für
das von der Richtlinie geforderte Einsparziel von Bedeutung sind, wurde bereits mit dem Integrierten Energieund Klimaprogramm ausgelöst. Ich erwähne hier nur
beispielhaft die Öffnung des Messwesens für Strom und
Gas einschließlich der Pflicht für die Installation neuer
intelligenter Zähler oder die Heizkostenverordnung.
Konkret bedeutet das: Messstellenbetreiber müssen
beim Einbau von Messeinrichtungen in neuen bzw. in umfangreich renovierten Gebäuden solche Messeinrichtungen einbauen, welche den tatsächlichen Energieverbrauch
sowie die tatsächliche Nutzungszeit widerspiegeln. Für
Letztverbraucher von Strom müssen Energieversorgungsunternehmen bis Ende dieses Jahres - soweit technisch machbar und wirtschaftlich zumutbar - einen Tarif
anbieten, der über lastvariable oder tageszeitabhängige
Parameter Anreize zur Energieeinsparung oder zur
Steuerung des Energieverbrauchs setzt. Wir haben auch
die Heizkostenverordnung novelliert und damit den verbrauchseigenen Anteil an der Heizkostenabrechnung bei
Mietwohnungen erhöht. Wenn diese Maßnahmen mal
nicht den Spargedanken auf der Nutzerseite wecken!
Zu guter Letzt wurde gestern vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages das Marktanreizprogramm in voller Höhe freigegeben. Die FDP hat lange
für diese Lösung gekämpft; das zahlt sich nun aus. Mit
den freigegeben Mitteln in Höhe von 115 Millionen Euro
können nun wieder Solarkollektoren, Biomasseheizungen und Wärmepumpen gefördert werden. Im Übrigen:
Die Verantwortung für den kurzfristigen Förderstopp
trägt der frühere SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel.
Es war seine Entscheidung, die Ausgaben des Marktanreizprogramms an die Versteigerungserlöse des Emissionszertifikatehandels zu koppeln, die aufgrund der
Wirtschaftskrise im letzten Jahr rückläufig waren.
Aber zurück zu Sache: Das Thema Energieeffizienz
ist lange noch nicht beendet und noch lange sind nicht
alle Potenziale ausgeschöpft. Wir, Union und FDP, werden daher gemeinsam im Herbst bei der Überprüfung
des Integrierten Energie- und Klimaprogramms weiter
untersuchen, welche zusätzlichen Maßnahmen im Bereich der Energieeffizienz sinnvoll sind. Auch mit dem
für September vorgesehenen Energiekonzept wird die
Bundesregierung weitere Leitplanken für mehr Energieeffizienz setzen.
Wenn man zu viel Weichspüler nimmt, dann hinterlässt das weiße Flecken. Genau das ist mit dem Gesetzentwurf zum Energieeffizienzgesetz passiert. Die Bundesregierung hat so vehement alle Dinge ausgelassen,
die im Hinblick auf Energieeinsparung richtig sinnvoll
und zielführend gewesen wären, dass der Gesetzentwurf
auch nach der Beratung im Wirtschaftsausschuss nichts
weiter ist als ein weichgespültes Stück Papier mit weißen Flecken und Auslassungen.
Die ganze Energiepolitik der Bundesregierung ist ein
Desaster, ausgerichtet auf für ihre Begriffe Altbewährtes
und jede Innovation blockierend. Das Problem an diesem Altbewährten ist nur, dass es fatale Folgen für
Klima, Natur und Menschen hervorgebracht hat. Um
aus dieser Klemme herauszukommen, sind Mut und der
Wille sich weiterzuentwickeln gefragt. Wenn sich wirklich etwas verändern soll, muss die Politik die Vorgaben
dafür machen und darf nicht auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie warten.
Meine Damen und Herren in der Koalition, Sie glauben doch nicht wirklich, Sie könnten durch hohle Andeutungen und Überbürokratisierungen, wie Sie sie hier im
Gesetzentwurf so eindrucksvoll niedergebracht haben,
zu einer nachhaltigen Energieeffizienzstrategie gelangen? Das wertvollste an dem Gesetz ist das Papier, auf
dem es steht, und es wird zu kaum mehr Energieeinsparungen führen, als die Produktion des Papiers erfordert
hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Selbst der schwarz-gelb dominierte Bundesrat bedauert in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf, dass
„von den in der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeiten
… nur unzureichend Gebrauch gemacht wurde“.
Schauen Sie sich doch endlich die Forderungen so
vieler Umweltverbände an, die mit Experten- und Sachverstand konkrete Instrumente in die Debatte gebracht
haben, mit denen wir wirklich etwas anfangen könnten.
Wir brauchen weitere Förderprogramme in Anlehnung an die KfW-Kredite für energetische Gebäudesanierung. Wir brauchen konkrete Einsparziele, Zahlen
und ambitionierte Zielmarken bei Treibhausgasemissionen!
Wir brauchen endlich eine Kennzeichnungspflicht für
Energieeffizienzklassen bei sämtlichen Elektrogeräten,
einen Energiesparfonds aus den Einnahmen aus dem
Emissionshandel und daraus Konjunkturprogramme für
Energieeffizienz.
Sie kennen die Vorschläge alle, mantraartig wiederholen wir sie hier seit Monaten, offensichtlich sind Sie
aber schwerhörig. Von Ihnen ist bis jetzt nicht eine einzige Erklärung gekommen, was Sie an diesen Vorschlägen auszusetzen hätten. Vielleicht weil sie ahnen, dass es
sich tatsächlich um sinnvolle Vorschläge handelt, sie
aber von der Opposition kommen und sie außerdem Ihren Kumpeln in den Aufsichtsräten und Vorständen der
deutschen Industrie nicht gefallen würden. So etwas
wird in diesem Haus ja immer abgelehnt.
Das ist absolut verantwortungslos. Sie tasten mit Ihrem Gesetzentwurf die riesigen Einsparpotenziale in
Privathaushalten und Industrie überhaupt nicht an. Warum wird klar, wenn man sich die beiden Atomkraftwerke ansieht, deren Laufzeit Sie jetzt auch noch verlängern wollen, die allein dafür gebraucht werden, um all
die Stand-By-Geräte im Aus-Zustand mit Strom zu versorgen.
Mit ihrer Phantasie- und Ideenlosigkeit, mit ihrer
Ignoranz und Starrsinnigkeit führen Sie das Land auf
der Überholspur in die Klimakrise. Spätestens die
nächste Generation wird die Folgen zu tragen haben.
Die Linke setzt sich dafür ein, die Impulse beim Ausbau erneuerbarer Energien aufzugreifen und vonseiten
der Politik vehement zu befördern. Wir brauchen ordnungspolitische Vorgaben an Wirtschaft und Länder, die
Energieeinsparung zum Ziel haben. Im Gegensatz zu anderen werden wir uns dabei nicht von Großkonzernen
auf der Nase rumtanzen lassen.
Mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf offenbart die
Bundesregierung erneut ihre Inkompetenz bei Energieund Effizienzfragen. Mit zweijähriger Verspätung und
einem laufenden Vertragsverletzungsverfahren im Nacken legen Sie uns nun ein Nichts vor.
Ich bezweifle auch stark, dass das Gesetz überhaupt
den Anforderungen der Energiedienstleistungs- und Effizienzrichtlinie entspricht. Wie ernst Sie das Thema
Energieeffizienz nehmen, zeigt doch schon die Debattenzeit: kurz vor Mitternacht ohne Aussprache, sodass die
Öffentlichkeit nichts von alldem mitbekommt.
Neben wenigen kleinen Begleitmaßnahmen wie zum
Beispiel dem Sammeln von Informationen bei der Bundesstelle für Energieeffizienz besteht das Kernstück Ihres Gesetzesentwurfs daraus, dass die Verbraucher einmal im Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf
eine Internetseite bekommen, auf der sich eine Liste von
Anbietern von Energiedienstleistungen befindet. Das ist
eine Schnitzeljagd, aber kein Energieeffizienzgesetz.
Dann verweisen Sie in Ihrem Gesetzentwurf auf die
Maßnahmen des Energie- und Klimaprogramms IEKP.
So steht in der Begründung des Gesetzes, dass die Effizienzziele mit Maßnahmen aus dem IEKP erreicht werden sollen. Aufgeführt wird dabei zum Beispiel die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes zur „Öffnung des
Messwesens bei Strom und Gas für den Wettbewerb“.
Doch es fehlen klare Standards, mit denen Innovation
tatsächlich zu Einsparungen führen könnte.
Förderprogramme zur energetischen Sanierung von
Gebäuden stehen ebenfalls im IEKP. Jedoch stellt die
Bundesregierung dieses Jahr weniger Gelder zur Verfügung als im letzten Jahr, und für das nächste Jahr ist nur
noch ein Bruchteil vorgesehen!
Die Kraft-Wärme-Kopplung führt die Bundesregierung ebenfalls zur Zielerfüllung ins Feld, doch ihre eigenen Experten rechnen jetzt nicht mehr damit, dass der
Ausbau die selbstgesteckten Ziele erreicht wird.
Die genannten IEKP-Maßnahmen werden jedoch
nicht annähernd ausreichen, und es ist in keinster Weise
nachvollziehbar, wie so die Effizienzziele erreicht werden sollen.
Energieeffizienz ist für die Bundesregierung bedeutungslos! Sogar den Rat ihrer eigenen Experten lässt die
Bundesregierung abblitzen. Waren es doch gerade auch
mehrere Experten der Koalitionsfraktionen, die sich in
der Anhörung des Wirtschaftsausschusses klar für einen
Energieeffizienzfonds ausgesprochen haben. Zu den Befürworten zählen die Prognos AG, der Zentralverband
Sanitär Heizung Klima, der Verband kommunaler Unternehmen, die Verbraucherzentrale Bundesverband, sowie der BUND und das IFEU Institut aus Heidelberg.
Selbst die Bundesvereinigung der Spitzenverbände der
Immobilienwirtschaft fordert stabile Rahmenbedingungen für die Förderung energieeffizienter Maßnahmen an
Gebäuden, die mit einem Energiesparfonds gegeben wären.
Auch der Bundesrat hatte dieses Instrument gefordert, das in der EU-Richtlinie vorgesehen ist. Dennoch
taucht der Effizienzfonds im Gesetzesentwurf nicht auf genau so wenig wie andere von der Richtlinie vorgeschlagene und in anderen Ländern erprobte Instrumente.
Ein von Haushaltskürzungen unabhängiges Finanzierungsinstrument für Energieeffizienz ist dringend geboten. Wer wie die Bundesregierung nur darauf besteht,
dass die Verbraucher einmal im Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf eine Internetseite bekomZu Protokoll gegebene Reden
men, nimmt das Thema Energieeffizienz nicht ernst. Die
Bundesregierung würgt die bisherigen Effizienzbemühungen ab und unterschätzt die Tragweite von Energieeffizienzmaßnahmen, und dies nicht nur im Strombereich,
sondern zum Beispiel bei der PKW-Energieverbrauchskennzeichnungsverordnung: Hier bevorzugt die Bundesregierung schwere Spritfresser, und setzt so falsche Anreize für die deutsche Automobilindustrie.
Oder aber bei den KfW-Mitteln für die Gebäudesanierung, die massiv gekürzt werden. Aber schlimmer ist
noch, dass Deutschland es abgelehnt hat, freigewordene
115 Millionen Euro aus dem EU-Wachstumspaket für die
Gebäudesanierung umzumünzen oder dass die Bundesregierung zur Verfügung stehende 680 Millionen Euro
aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung
ablehnt und somit verfallen lässt.
Schwarz-Gelb setzt lieber auf Lowtech wie Atom- und
Kohlekraftwerke als auf Hightecheffizienzanwendungen. Ohne eine klare Energieeffizienzstrategie wird die
deutsche Wirtschaft zum Spielball von steigenden und
hoch volatilen Energiepreisen. Hier entscheidet sich die
künftige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen.
Doch die Bundesregierung verharrt weiterhin in ihrer
alten Denke, Energiesparen belaste die Wirtschaft. Dabei ist Energieeffizienz ein Anreiz zur Modernisierung,
der Energieverschwendung stoppt und auf Dauer Geld
spart.
Wir haben in unserem Antrag gezeigt, wie ein Energieeffizienzgesetz aussehen kann. Für den Endkundenbereich fordern wir, konkret Verantwortliche zu benennen, die Energieeffizienzmaßnahmen durchführen
müssen. Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits und Energieberatung mit konkreten Energiesparvorschlägen sowie eine verlässliche Evaluation. Wir fordern dynamische Effizienzstandards. Wir fordern einen
Energieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden Euro, und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt,
der weniger Schulden aufweist als der Ihre.
Die fehlende Entschlossenheit der Bundesregierung
wird durch den Entwurf mehr als deutlich. Das Thema
Energieeffizienz rückt weiter ins Abseits. Die Bundesregierung traut sich nicht, seit langem diskutierte Ideen
für wirkungsvolle Instrumente aufzugreifen. Stattdessen
schlägt sie ein fast wirkungsloses Gesetz vor, weil sie
Angst vor ein paar Großunternehmen der Industrie hat.
Dabei würde die Gesamtwirtschaft von Energieeffizienz
profitieren.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2466, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/1719 und 17/2280 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist
nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2470. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Dafür gestimmt haben die Oppositionsfraktionen, dagegen die Koalitionsfraktionen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2471. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen; die Koalitionsfraktionen haben dagegen.
Die Fraktionen der SPD und der Linken haben sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/
214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über
die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen
- Drucksache 17/1288 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/2458 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, wurden die
Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von folgenden
Kolleginnen und Kollegen: Ansgar Heveling, Dr. Peter
Danckert, Jörg van Essen, Jens Petermann und Jerzy
Montag.
Europa ist in den letzten Jahren zusammengewachsen. Der gemeinsame Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung sind für uns seit vielen Jahren eine
Selbstverständlichkeit. Europa ist aber auch eine Wertegemeinschaft, und alle Staaten berufen sich natürlich
auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und dennoch
bestehen gerade in der Justizpolitik deutlich erkennbare
Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.
Die Harmonisierung von Vorschriften im Bereich der
Justizpolitik ist daher eine große Herausforderung. Die
EU-Mitgliedstaaten haben sich 1999 im finnischen Tampere entschieden, diese Herausforderung anzunehmen.
Dort wurde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
zum Eckstein der zukünftigen justiziellen Zusammenarbeit erklärt. Auf der Grundlage dieses Prinzips wurden mittlerweile durch die Europäische Union vier Rahmenbeschlüsse erlassen: zum europäischen Haftbefehl,
zur Sicherstellung von Beweismitteln, zur Anerkennung
von Einziehungsentscheidungen und zur gegenseitigen
Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen. Dieser
letztgenannte Rahmenbeschluss wird nun mit dem zur
heutigen Entscheidung anstehenden Gesetzentwurf in
nationales Recht umgesetzt.
Das Gesetz regelt die gegenseitige Anerkennung von
Geldstrafen und Geldbußen grundlegend und damit für
viele Deliktsgruppen. Insgesamt geht es um 39 Tatkomplexe, also Straftaten und Verwaltungsübertretungen
bzw. Ordnungswidrigkeiten. In diesen Fällen ist die beiderseitige Sanktionierbarkeit zukünftig nicht mehr zu
prüfen.
Auch wenn das Gesetz die gegenseitige Anerkennung
für 39 unterschiedliche Fallgruppen regelt, so wird insbesondere ein Bereich von großer praktischer Relevanz
sein: Verstöße im Straßenverkehr. Auch sie gehören zum
Katalog der gegenseitig anzuerkennenden Straftaten
bzw. Ordnungswidrigkeiten. Mit anderen Worten: Zukünftig werden Geldbußen aufgrund von Verkehrsverstößen im europäischen Ausland auch in Deutschland
einfacher vollstreckt werden können als bisher.
Wir stimmen dem Gesetz heute in zweiter und dritter
Lesung zu. Dem vorliegenden Entwurf ist es gelungen,
der Herausforderung, die die Umsetzung des Prinzips
der gegenseitigen Anerkennung mit sich bringt, gerecht
zu werden. Einerseits wird die gewünschte Harmonisierung erreicht, andererseits aber ist sie in grundrechtsschonender Weise und unter Berücksichtigung der nationalen Rechtsidentität geregelt worden.
In einzelnen Punkten ist der Gesetzentwurf im Zuge
der Beratungen intensiv diskutiert worden. Dies hat
auch zu Änderungen im Detail geführt.
Zum einen wurde die Frage der Halterhaftung debattiert. Anders als andere Rechtsordnungen, wie etwa Österreich oder die Niederlande, kennen wir in Deutschland die Halterhaftung nicht. Der Regierungsentwurf
sah als Ermessensentscheidung vor, dass die Bewilligung eines Vollstreckungsersuchens durch die deutschen
Behörden abgelehnt werden könne, wenn die betroffene
Person in dem ausländischen Verfahren keine Gelegenheit hatte einzuwenden, für die der Entscheidung zugrunde liegende Handlung nicht verantwortlich zu sein.
Auf Antrag der Koalitionsfraktionen soll dies nunmehr
nicht als Ermessensentscheidung, sondern als Zulässigkeitsvoraussetzung geregelt werden. Liegen die Voraussetzungen vor, ist künftig die Vollstreckung zwingend
nicht zulässig.
In diesem Zusammenhang hat ein weiterer Punkt in
der Diskussion eine Rolle gespielt. Es gibt EU-Staaten,
in denen für den Halter eines Fahrzeuges eine Auskunftspflicht hinsichtlich des Fahrers besteht, wobei ein
Verstoß mit Sanktionen belegt ist. Hierzu vertritt der
Rechtsausschuss ausdrücklich die Auffassung, dass ein
Verhalten, das Ausdruck der Selbstbelastungsfreiheit
oder eines Zeugnisverweigerungsrechtes ist, nicht unter
Verhaltensweisen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses fällt, die gegen die den Straßenverkehr
regelnde Vorschriften verstoßen. Dieses Verhalten ist mit
anderen Worten nach unserer Ansicht nicht vom Katalog
der durch die gegenseitige Anerkennung nicht mehr zu
prüfenden Verhaltensweisen gedeckt.
Ferner ist auch die Frage der Beistandspflicht diskutiert worden. Der Rechtsausschuss hat dabei zur Kenntnis genommen, dass mit § 87 e IRG-E die Beistandsregelung in § 53 IRG für entsprechend anwendbar erklärt
wird, ohne dass eine weitere Spezifizierung der Fälle erfolgt, in denen ein rechtlicher Beistand in Verfahren zur
Vollstreckung einer ausländischen Geldstrafe nach dem
9. Teil des IRG bestellt werden soll. Der Rechtsausschuss hat der Regelung in dem Verständnis zugestimmt,
dass nach § 87 e in Verbindung mit § 53 Abs. 2 Nr. 1 IRG
die Bestellung eines Rechtsbeistands wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten sein wird,
wenn Zweifel an der Einordnung als Katalogtat gemäß
§ 87 b Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 RB
Geldstrafen bestehen. Weiterhin geht der Rechtsausschuss davon aus, dass die Bestellung eines Beistands
regelmäßig auch dann geboten sein wird, wenn gegen
den Betroffenen eine Abwesenheitsentscheidung im
Sinne von § 87 b Abs. 3 Nr. 4 IRG-E über einen nicht nur
unerheblichen Geldbetrag vollstreckt werden soll.
Wir bringen heute das Gesetzgebungsverfahren zum
Abschluss. Europa wächst damit wieder ein Stück weiter
zusammen. Wir stimmen dem Gesetz zu.
Ein Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in
Strafsachen ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen, der auf die Sondertagung
des Europäischen Rates 1999 im finnischen Tampere zurückgeht. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen
Haftbefehl war die erste konkrete Maßnahme im Bereich
des Strafrechts, mit dem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zur Anwendung kam. Ein weiteres
Rechtsinstrument, das auf dem genannten Grundsatz beruht, ist der 2005 verabschiedete Rahmenbeschluss über
die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und
Geldbußen. Dieser wurde in der Öffentlichkeit als sogenannter Knöllchen-Beschluss bekannt, da der Rahmenbeschluss unter anderem die Vollstreckung von Geldsanktionen wegen Verstößen gegen Verkehrsvorschriften
über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg vorsieht
Für Deutschland ist die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrsverstößen insofern von Bedeutung,
als dass es mit seiner zentralen Lage und einer Grenze
mit neun Staaten von intensivem Transitverkehr betroffen ist. Ausländische Kraftfahrzeuge haben deshalb einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Verkehrssicherheit in Deutschland insgesamt. Daraus erklärt
sich das evidente Interesse an Instrumentarien, die es
Zu Protokoll gegebene Reden
erlauben, die deutschen Verkehrsregeln auch gegenüber
diesem Personenkreis wirksam durchzusetzen. Zugleich
sind die Deutschen privat reisefreudig und wirtschaftlich eine Exportnation, mit der Folge, dass auch sie mit
ihren Kraftfahrzeugen das Verkehrsgeschehen in anderen europäischen Mitgliedstaaten mitbestimmen. So haben die französischen Behörden festgestellt, dass etwa
25 Prozent der dort mit automatischen Überwachungsanlagen festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitungen von ausländischen Kraftfahrern begangen werden,
wobei deutsche Kraftfahrer den größten Teil ausmachen. Wird also ein deutscher Autofahrer in Frankreich
geblitzt, muss er damit rechnen, dass die deutschen Behörden den daraus folgenden rechtskräftigen Bußgeldbescheid auch vollstrecken. Solche Bußgeldbescheide
aus dem EU-Ausland sollen aber erst ab 70 Euro vollstreckt werden, um den Verwaltungsaufwand vergleichsweise gering zu halten. Da aber in einigen Nachbarländern die Bußgelder deutlich höher als in Deutschland
sind, stellt sich die Frage, ob die im Gesetzentwurf enthaltene Deckelung tatsächlich notwendig ist. In Italien
beispielsweise kann Telefonieren ohne Freisprechanlage
mit einer Strafe von 155 bis 624 Euro belegt werden. In
Großbritannien drohen Rasern, die deutlich schneller
fahren als erlaubt, sogar Geldbußen von bis zu 5 834
Euro, und in Dänemark können Alkoholsündern Strafen
von bis zu einem Monatsgehalt auferlegt werden.
Zweifellos stellt die Umsetzung des Rahmenbeschlusses einen starken Eingriff in die Grundrechte des Einzelnen dar, vor allem ist damit stets ein ethischer Schuldvorwurf verbunden. Da aber in Deutschland der
Grundsatz „keine Strafe ohne Schuld“ Verfassungsrang
hat, müssen diesbezügliche Regelungen genau geprüft
werden. Dies spielt vor allem bei der sogenannten Halterhaftung eine große Rolle. Demnach dürfte in
Deutschland künftig weder eine verschuldensunabhängige Halterhaftung eingeführt noch die Vollstreckung
ausländischer Entscheidungen ermöglicht werden, die
hierauf beruhen. Problematisch ist, dass die Halterverantwortlichkeit in Europa äußerst unterschiedlich ausgeprägt ist. So gibt es zahlreiche Länder, die ähnlich wie
Deutschland verfahren, etwa die skandinavischen Staaten sowie die Schweiz, Tschechien und die Slowakei. Die
klassische Halterhaftung haben unter anderem die Niederlande, Frankreich, Portugal und Ungarn normiert,
während weitere Länder wie Spanien und Großbritannien den Kfz-Halter mittelbar in die Pflicht nehmen. Zu
Letzteren gehört auch Österreich, dessen Behörden nach
§ 103 KFG vom Halter eine Lenkerauskunft verlangen
können, deren Nichtbefolgung mit bis zu 5 000 Euro bestraft wird. Da aber dort kein Zeugnis- und Aussageverweigerungsrecht besteht, werden österreichische Strafverfügungen, die auf dessen Nichtbeachtung beruhen,
von deutschen Behörden nicht vollstreckt. In diesem Zusammenhang spielt das Bewilligungshindernis in § 87 d
Abs. 2 eine große Rolle, da hier die Möglichkeit eröffnet
wird, Ersuchen zurückzuweisen, die mit dem Schuldprinzip unvereinbar sind. Aber wenngleich die Vorschrift des § 87 d Abs. 2 allgemein gehalten ist, kann sie
nur einen Teilaspekt lösen. Eben gerade bei der in Österreich mit Verwaltungsstrafe sanktionierten Lenkerangabe, welches ein eigenständiges echtes Unterlassungsdelikt bildet, hilft sie nicht weiter. Es ist schwer
ersichtlich, wie die Nichtvollstreckung diesbezüglicher
Bescheide durch die deutschen Behörden unter Geltung
der geplanten Neufassung! des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen erfolgen soll.
§ 87 d Abs. 2 passt auf diesen Fall nicht, und ein Verstoß
gegen den fortan maßgeblichen europäischen ordre public, § 73 IRG, wäre schwer zu begründen angesichts
dessen, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof
diese Strafbewehrung für verfassungskonform hält. Mit
dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit wird allerdings ein Weg vorgezeichnet, um die Vollstreckung
von Sanktionen abzulehnen, ohne dem Entscheidungsstaat eine ordre-public-Verletzung vorzuwerfen. Deshalb muss am Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit in
jedem Falle festgehalten werden.
Allerdings wird beim umzusetzenden Rahmenbeschluss die Anforderung gegenseitiger Strafbarkeit vernachlässigt. So werden im Regierungsentwurf 39 Straftaten aufgeführt, bei denen auf gegenseitige Strafbarkeit
verzichtet wird. Hierzu zählen unter anderem Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit oder auch die Cyberkriminalität. Unter letzterem könnte man also grob alle Straftaten, die mit einem Computer begangen werden,
zusammenfassen. Die große Anzahl und Vielfalt diesbezüglicher Straftaten lässt die Behauptung zu, dass es
sich bei der Cyberkriminalität eher um eine Deliktgruppe handelt. Dies lässt sich ohne Weiteres auf den
Begriff des Rassismus, zum Teil aber auch auf alle anderen genannten 39 Straftaten übertragen. Diese ungenauen Bezeichnungen tragen dem Bestimmtheitsgebot
unserer Verfassung nur unzureichend Rechnung und
müssen im Sinne der Rechtsklarheit dringend präzisiert
werden.
Auch wenn im Gesetzesentwurf der Bundesregierung
für die Vollstreckung von ausländischen Geldstrafen die
Ersatzfreiheitsstrafe ausgeschlossen ist, stehen auch die
nicht freiheitsentziehenden strafrechtlichen Eingriffe
unter strengen Legitimationsvoraussetzungen, sowohl
was die materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit
angeht als auch bezüglich der Verfahren, die eine Verurteilung tragen können. Vor diesem Hintergrund darf der
Rahmenbeschluss, wenn überhaupt, dann nur mit gewichtigen Vorbehalten umgesetzt werden. So muss mindestens der neue Rahmenbeschluss 2009/299/JI, der unter anderem Art. 7 des vorliegenden Rahmenbeschlusses
über Geldstrafen und Geldbußen modifiziert, in den Entwurf des Umsetzungsgesetzes noch eingearbeitet werden.!
Das Berichterstattergespräch vom 5. Juli 2010 hat
nach unserer Auffassung ergeben, dass nach wie vor
gravierende verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.
Neben der mangelnden Bestimmtheit der 39 Straftaten
gilt dies auch für die nach unserer Rechtsordnung geltenden Schweige- und Zeugnisverweigerungsrechte.
Wesentliche Probleme sehen wir auch bei den Abwesenheitsurteilen. Es darf nicht sein, dass hier eine vorschnelle Entscheidung getroffen wird, die dann, wie es
Fachleute voraussehen, in Zukunft vor dem Bundesverfassungsgericht landen und dort für verfassungswidrig
Zu Protokoll gegebene Reden
erklärt werden. Deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf
ab.
Wir verabschieden heute ein Gesetz, das den 1999 begonnenen kooperativen Weg der EU-Mitgliedstaaten im
Bereich der justiziellen Zusammenarbeit weiterschreibt.
Es basiert auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das sich bereits beim Auf- und Ausbau des europäischen Binnenmarktes bewährt hat. Dieses Prinzip
trägt als Schlüsselkonzept im Justizbereich dazu bei, die
Schwierigkeiten zu überwinden, die sich aus der Vielfalt
der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten ergeben.
Der hier umgesetzte Rahmenbeschluss von 2005 basiert auf einem Vorschlag aus dem Jahr 2001. Noch viel
länger allerdings dauern die Überlegungen an, in
Europa ein effizientes Instrument für die Vollstreckung
von Geldstrafen und Geldbußen einzuführen, mit dem
vor allem im Verkehrsbereich verhindert wird, dass in
Mitgliedstaaten begangene Ordnungswidrigkeiten ungesühnt bleiben. Nach bisherigem Recht waren auch bei
kleinen Strafen vor einer Vollstreckung im Nachbarstaat
regelmäßig Gerichtsverfahren nötig, um eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Nach der heutigen Änderung des
Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen werden nun unter anderem sämtliche Verstöße gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften mit
Geldbußen ab 70 Euro leichter auch im EU-Nachbarstaat zu vollstrecken sein.
Sehr wichtig war der FDP-Fraktion bei der Umsetzung dieser Vorschriften zur Erleichterung von Vollstreckungen die Einhaltung der rechtsstaatlichen Grundprinzipien. So kam es für uns nicht infrage, beim
Erfordernis der gegenseitigen Strafbarkeit Abstriche zu
machen. Wenn beispielsweise in anderen Mitgliedstaaten ein deutscher Fahrzeughalter eine dortige Strafe
verwirkt hat, indem er Auskünfte über den Fahrzeugführer verweigert, kommt eine Vollstreckung in Deutschland nicht in Betracht. Dieser Punkt ist nach den
Ausschussberatungen deshalb zu Recht von einem wahlweisen Grund zur Ablehnung des Vollstreckungsersuchens zu einem zwingenden Versagungsgrund hochgestuft worden.
Was die Rechtssicherheit aus Sicht der Bürger angeht, halten wir die im Entwurf enthaltene Stichtagsregelung für angemessen. Der Rahmenbeschluss sieht
zwar eine solche nicht vor; dennoch halten wir das Vertrauen unserer Bürger als für so schutzwürdig, dass für
eine Vollstreckung nach dem neuen Gesetz von aus der
Vergangenheit stammenden ausländischen Entscheidungen kein Raum bleibt. Anderenfalls würde man inländische Betroffene, die bislang auf das Ausbleiben der Vollstreckung vertrauten und daher keine Rechtsmittel
bemühten, im Nachhinein ihres Rechtsweges berauben.
Bei den Oppositionsfraktionen hatte der Entwurf der
Bundesregierung in manchen Punkten Klärungsbedarf
hervorgerufen. Dieser konnte jedoch nach Anhörung
von Sachverständigen im parlamentarischen Verfahren
zu großen Teilen ausgeräumt werden. Wir bitten Sie daher um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf als einem
sinnvollen Instrument auf dem Weg zu einer maßvollen
Politik europäischer Rechtsdurchsetzung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versucht die
Bundesregierung, einen Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen umzusetzen. Leider ist dieser Versuch aus Sicht der Linken missglückt.
Auch mit ihren zahlreichen nachgeschobenen Änderungsanträgen kann man den Gesetzentwurf noch nicht
als gelungen bezeichnen.
Es ist inakzeptabel, dass in der Bundesrepublik
Deutschland Strafen vollstreckt werden sollen, die die
eigene Rechtsordnung nicht kennt und die das Parlament bewusst für nicht strafwürdig befand. Dazu zählen
zum Beispiel Delikte wie „Sabotage“, „Cyberkriminalität“ oder „Nachahmung“. Die 39 aufgeführten Deliktsgruppen, welche zum Teil unpräzise und strukturlos beschrieben sind, können beim besten Willen nicht dem
hohen Bestimmtheitsstandard der deutschen strafrechtlichen Normen standhalten. Sie sind nicht konkret genug
formuliert, um die Tragweite und den Anwendungsbereich der einzelnen Tatbestände zu erkennen oder durch
Auslegung zu ermitteln. Das ist nicht nur für Juristen,
sondern auch für „Normalbürger“ eine Zumutung.
Zum wiederholten Mal müssen wir die Bundesregierung auf die Einhaltung der Verfassung hinweisen. Denn
die geplante Umsetzung des Rahmenbeschlusses ist mit
dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es besteht die Gefahr
einer gröblichen Verletzung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit des Art. 20 Grundgesetz und den Prinzipien
der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 unserer Verfassung.
Aber auch andere deutsche Verfahrensgarantien und
rechtsstaatliche Standards werden in zahlreichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht oder nicht in
vollem Umfang gewährleistet. Dazu gehört zum Beispiel
die Pflicht, den Beschuldigten am Tatort über sein
Schweigerecht zu informieren, sowie das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen. Die umstrittene
Frage, dass deutsche Staatsbürger im Ausland in Abwesenheit verurteilt werden können, ist nicht hinreichend
berücksichtigt. Auf die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in schwierigen Fällen, ähnlich wie beim Europäischen Haftbefehl wurde ebenfalls großzügig verzichtet.
Will denn die Koalition tatsächlich wieder einmal
durch ein „Durchwinken“ der Vorgaben des Rahmenbeschlusses durch den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess - wie damals bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl - riskieren, dass
ihr das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit ihres Umsetzungsgesetzes bescheinigen muss?
Vor allem die FDP, allen voran der Parteivorsitzende
und Außenminister Guido Westerwelle - auf dessen Internetauftritt liberale Argumente gegen das europäische
Haftbefehlsgesetz zu finden sind -, verleugnet heute ihre
Positionen von 2006. Sie müsste es doch besser wissen.
Denn hier gelten die gleichen Bedenken wie damals
Zu Protokoll gegebene Reden
beim sogenannten Europäischen Haftbefehl. Da Sie augenscheinlich Ihre eigenen Argumente vergessen haben,
möchte ich Ihnen diese noch einmal in Erinnerung rufen.
Sie sagten, dass durch eine Umsetzung sehr unterschiedliche Rechtsstandards und Rechtsgrundsätze in
Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaaten als
gleichwertig angesehen werden, obwohl unterschiedliche Anforderungen unter anderem beim Verfahren bestehen. Sie kritisierten weiter die Unbestimmtheit der Formulierung der Deliktsgruppen. Damals waren es 32,
heute sind es 39, wobei diese innerhalb von vier Jahren
nicht bestimmter geworden sind. Aber auch Ihr damaliger Hauptkritikpunkt, die fehlende beiderseitige Strafbarkeit, gilt heute unverändert fort. Dabei ist im Einzelfall ein im Ausland strafbares Verhalten in Deutschland
nicht strafbar, oder es bestehen hohe Abweichungen in
der Höhe der angedrohten Strafe.
Stellen Sie sich einmal vor, sie fahren mit Ihrem Pkw
innerhalb einer geschlossenen Ortschaft 10 km/h
schneller als erlaubt. In Deutschland kostet Sie das Vergehen 15 Euro, in Frankreich aber 900 Euro. Dieser Unterschied in der Höhe der Strafe ist vielen Reisenden
nicht bewusst. Im Moment kann Frankreich die
900 Euro noch nicht fordern, aber nach Inkrafttreten
dieses Umsetzungsgesetzes können die französischen
Behörden Deutschland um die Vollstreckung der
900 Euro Geldbuße bitten.
Als Lösung dieses Konflikts mit unserer Verfassung,
in den wir durch die von der Bundesregierung vorgeschlagene Umsetzung zwangsläufig kommen, sehe ich
die Weigerung Deutschlands zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses an, zumal ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegenüber der Bundesrepublik Deutschland sanktionsfrei nicht durchsetzbar wäre. Diesen Weg
haben Sie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl deutlich aufgezeigt bekommen. Darüber hinaus ist eine mögliche Vollstreckung von Straftaten im Ausland bereits nach
geltendem Recht, nämlich durch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, möglich. Dieses
Gesetz beinhaltet hohe rechtsstaatliche Standards und
Hürden zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor
unangemessener Strafverfolgung. Diese hohe Schutzanforderung wollen Sie nun durch die Umsetzung des
Rahmenbeschlusses aufweichen.
Eine Überprüfung jedes Einzelfalls durch ein deutsches Gericht unter dem Gesichtspunkt der beiderseitigen Strafbarkeit und Höhe der angedrohten Strafe,
würde auch zu einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Lösung beitragen, wäre aber sehr aufwendig und
teuer für die deutsche Justiz.
An Damen und Herren der CDU/CSU- und FDPFraktion gewandt: Seien Sie sich Ihrer Verantwortung
wenigstens diesmal bewusst: Sie haben im Moment die
Wahl! Hören Sie auf Ihr Gewissen! Entscheiden Sie sich
für unsere Alternativen und gegen ein weiteres verfassungswidriges Gesetz aus Ihrer Feder!
Der Deutsche Bundestag beschließt heute Regelungen, mit denen er in nationaler Umsetzung eines weiteren Rechtsakts der EU den Grundsatz der gegenseitigen
Anerkennung im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit anwendet. Diesmal betrifft es die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen
und Geldbußen.
Um es gleich vorweg zu sagen: Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, sondern uns enthalten, finden aber vieles an dem Entwurf, wie er jetzt in der geänderten Form vorliegt, gut und richtig. Wir haben uns in
einem Berichterstattergespräch mit Sachverständigen
vertieft mit der Materie befasst. Von allen Fraktionen
wurde dieses Gespräch als sehr produktiv empfunden.
Das freut mich umso mehr, als die Opposition den Koalitionsfraktionen zunächst doch erst etwas auf die
Sprünge helfen musste, sich Zeit für diese intensive Befassung zu nehmen. Aber am Ende gab es durchaus Gesprächsbereitschaft, was ich ausdrücklich anerkennen
will. So sind Probleme mit der sogenannten Halterhaftung im Straßenverkehr, über die bis zum Schluss diskutiert wurde, zufriedenstellend gelöst worden. In diesem
Bereich gibt es jetzt ein Vollstreckungshindernis, das in
jedem Fall zu achten ist.
Umso mehr bedaure ich, dass es nicht möglich war,
ganz auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Bevor
ich auf die Gründe hierfür eingehe, will ich mich zu dem
grundsätzlicheren Beratungsbedarf, den die SPD-Fraktion durch den von mir sehr geschätzten Kollegen
Danckert angemeldet hat, eingehen. Der Kollege
Danckert bezog sich auf die sehr kategoriale Kritik eines der Sachverständigen, mit der wir uns seit Jahren
ebenfalls beschäftigen. Die anderen drei Sachverständigen erteilten dem Gesetzentwurf jedoch im Grundsatz
sehr gute Noten und machten nur einige Vorschläge zur
besseren Ausgestaltung im Einzelnen.
Zu der kategorialen Kritik: Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung spinnt sich seit dem Programm
des Europäischen Rates von Tampere 1999 wie ein roter
Faden durch die europäische Rechtssetzung zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Er ist als
Grundansatz politisch nicht rückholbar. Wir Grüne wollen die europäische Integration gestalten und nicht in einer Abwehrhaltung nur begleiten. Wir müssen aber auch
ernst nehmen, dass dieser Grundsatz eine wichtige Voraussetzung hat: Das ist das Vertrauen - und zwar das
Vertrauen nicht nur der Staaten, sondern auch und besonders der Bürgerinnen und Bürger - in die Rechtsstaatlichkeit der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten.
Dieses Vertrauen darf man nicht als gegeben voraussetzen. Es muss erarbeitet werden. Dafür setzen wir uns
seit langem ein.
Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist
mit dem Verzicht auf beidseitige Strafbarkeit im Bereich
einer Liste von Deliktsgruppen verschränkt verbunden.
Mit dem umzusetzenden Rahmenbeschluss wird diese
Liste nochmals erheblich ausgeweitet. Teilen dieser
Liste mangelt es an der erforderlichen Präzision. Deswegen fordern wir Grüne und der Bundestag insgesamt
Zu Protokoll gegebene Reden
seit Jahren die Präzisierung dieser sogenannten Listendelikte.
Wir Bündnisgrüne haben die Bedenken gegen die Unbestimmtheit mancher Deliktsgruppen in der Weise aufgegriffen, dass wir - wie auch schon beim Europäischen
Haftbefehlsgesetz im ersten Durchgang - ausdrücklich
regeln wollten, dass dem Betroffenen ein Rechtsbeistand
beizuordnen ist, wenn im Einzelfall der Charakter der
Deliktsgruppen ein Problem darstellt. Entsprechend
wollten wir die Einhaltung der Vollstreckungsvoraussetzungen von Abwesenheitsurteilen absichern. Damit haben wir auch Anregungen der Sachverständigen aufgegriffen. Ich bedaure außerordentlich, dass die Koalition
dies nicht aufgreifen wollte. Das hindert uns an der Zustimmung. Wenn sich die Koalition auf die Verbesserungen beim Rechtsbeistand und auf ein paar weitere Klarstellungen im Detail eingelassen hätte, hätten wir dem
Gesetzentwurf zustimmen können.
Bedauerlich ist auch, dass die Voraussetzungen für
die Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen nicht gleich
nach den strengeren Maßstäben des neueren Rahmenbeschlusses 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 über Abwesenheitsurteile geregelt wurden. Hier muss bis zum
Ablauf der Umsetzungsfrist des sozusagen neueren Rahmenbeschlusses bis zum 18. März 2011 nachgebessert
werden. Dieser Rahmenbeschluss ist ja auch schon seit
fast eineinhalb Jahren in Kraft. Wir wollten im Kompromisswege wenigstens einen Auslegungshinweis in den
Bericht des Rechtsausschusses aufnehmen, um die Zeit
bis zur umfassenden Umsetzung des Rahmenbeschlusses
über Abwesenheitsurteile zu überbrücken. Aber auch
darauf wollte sich die Koalition letztlich nicht einlassen.
Das ist bedauerlich, weil es uns eine Zustimmung zum
Gesetz unmöglich macht.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/2458, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1288 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktionen der SPD und der Linken
und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in
der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sonja
Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen
- Drucksache 17/2411 Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Ute
Granold, Sonja Steffen, Stephan Thomae, Halina
Wawzyniak und Ingrid Hönlinger.
Wir beraten heute über einen Antrag der SPD-Fraktion, der sich mit der anstehenden Reform des Vormundschaftsrecht befasst.
In den vergangenen Jahren haben erschütternde Berichte über Eltern, die ihre Kinder misshandeln oder
vernachlässigen, merklich zugenommen. Nicht zuletzt
der schreckliche Tod des kleinen Kevin aus Bremen hat
uns sehr deutlich vor Augen geführt, welche Verantwortung wir als Gemeinschaft für diese Kinder tragen.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse hatte das
Bundesjustizministerium im Jahr 2006 die Expertengruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, die im November
2006 eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen für die
familienrechtliche Praxis vorgelegt hat. Auf Grundlage
dieser Empfehlungen haben wir 2008 das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls verabschiedet, das ein frühzeitigeres Eingreifen der Familiengerichte ermöglicht
und so den Kinderschutz effektiver macht.
Im Jahr 2008 ist die Expertengruppe erneut zusammengetreten. Sie sollte sich nunmehr vor allem mit der
Frage der Zusammenarbeit zwischen Familiengerichten
und Jugendämtern befassen und klären, ob und wie gesetzgeberische Maßnahmen diese Zusammenarbeit optimieren können. Der Bericht der Arbeitsgruppe enthält
verschiedene Empfehlungen. Diese betreffen die Themenkomplexe Fortbildung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Pflegefamilien. Darüber hinaus hat sich eine
eigene Unterarbeitsgruppe mit dem besonders wichtigen Komplex „Vormundschaft“ befasst und auch hierzu
zahlreiche Empfehlungen an den Gesetzgeber gerichtet.
Der tragische Fall des kleinen Kevin in Bremen hat
die Bedeutung des Vormundes für das Mündel gezeigt.
Der Vormund ist an der Stelle der Eltern zur umfassenden Sorge verpflichtet. Diese Pflicht ist zugleich mit einer großen Verantwortung verbunden, die der Staat für
das Kind übernimmt. Bereits die geltende Rechtslage
setzt daher den persönlichen Kontakt des Vormunds mit
dem Mündel voraus. Denn ohne diesen Kontakt kann der
Vormund das Kind weder erziehen, beaufsichtigen noch
seinen Aufenthalt bestimmen. So weit aber nur in der
Theorie. Die Praxis sieht leider häufig anders aus.
In den Jugendämtern gibt es zum Teil erhebliche finanzielle und personelle Engpässe, die eine ausreichende, den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Betreuung durch den Vormund nicht ermöglichen. Ein
Amtsvormund ist zuweilen - so auch im Fall des kleinen
Kevin - für über 200 Mündel zuständig und verantwortlich. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingungen dem
Vormund so gut wie unmöglich ist, sich dem einzelnen
Mündel in ausreichendem Umfang persönlich zuzuwenden. Nur bei zeitnaher und unmittelbarer Kenntnis der
Lebenssituation des Mündels könnte der Vormund aber
Fehlentwicklungen entgegenwirken und die erforderlichen Maßnahmen im Interesse des Mündels veranlassen.
Das Bundesjustizministerium hat vor diesem Hintergrund Anfang dieses Jahres einen Referentenentwurf
vorgelegt. Anknüpfend an die Empfehlungen der Expertengruppe sieht der Entwurf verbindliche Regelungen
zum persönlichen Kontakt zwischen Vormund und Mündel sowie Vorgaben zur persönlichen Überwachung von
Pflege und Erziehung des Mündels vor. Zudem sollen Berichtspflichten des Vormunds gegenüber dem Familiengericht festgelegt werden und Letztere ihrerseits verpflichtet werden, den persönlichen Kontakt zwischen
Vormund und Mündel zu überwachen. Die zentrale und
wichtigste Neuregelung sieht schließlich vor, die Zahl
der Amtsvormundschaften auf höchstens 50 pro Vormund zu begrenzen, wobei jeweils von einer Vollzeitstelle ausgegangen wird.
Zusätzlich zum aktuellen Gesetzgebungsvorhaben
planen wir in einem zweiten Schritt eine Gesamtreform
des Vormundschaftsrechts. Bekanntlich stammt die
Grundkonzeption des Vormundschaftsrechts noch aus
dem 19. Jahrhundert und bedarf daher in vielen Bereichen struktureller Anpassungen an die aktuellen Rechtsund Lebensverhältnisse. Bundesregierung und Koalition
planen, einen entsprechenden Gesetzesentwurf noch im
Laufe der Legislaturperiode zu erarbeiten und auf den
Weg zu bringen.
Ich denke, wir sind uns einig, dass dieser Weg - also
kurzfristig sicherstellen, dass die gesetzlichen Qualitätsvorgaben für die Vormundschaft gewährleistet sind, und
dann in einem zweiten Schritt die Strukturen anpassen der richtige ist.
Nun muss es darum gehen, den schon ausgearbeiteten Entwurf der Bundesregierung zügig auf den Weg zu
bringen. Nach derzeitigem Stand wird das Bundeskabinett noch im Sommer den entsprechenden Gesetzentwurf
beschließen, sodass wir dann nach der Sommerpause an
dieser Stelle intensiv und in aller Gründlichkeit darüber
beraten können.
Was die Einzelheiten angeht, so sehen auch wir noch
eine Reihe von Punkten, über die zu diskutieren sein
wird. Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Antrag bereits
eine Reihe richtiger und wichtiger Fragen angesprochen. Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielsweise die Obergrenze für Vormundschaften und die damit verbundene Frage, ob wir die neue Vorschrift als
Soll- oder Mussvorschrift ausgestalten.
Natürlich dürfen wir uns hier keinen Illusionen hingeben. Die allgemeine Haushaltslage in Deutschland ist
äußerst angespannt und dürfte sich in den nächsten Jahren eher noch weiter verschärfen. Vor allem Städte mit
sozialen Brennpunkten, in denen überdurchschnittlich
viele der gefährdeten Kinder leben, stehen finanziell mit
dem Rücken zur Wand und haben kaum Spielräume. Dabei ist es leider auch so, dass gerade die Kinder, die besonders schutzwürdig sind, eine - wenn überhaupt - nur
schwache Lobby genießen. Daher stehen gerade wir in
besonderer Verantwortung, hier im Interesse der betroffenen Kinder und Familien die richtigen Prioritäten zu
setzen. Ich lade Sie daher alle ein, gemeinsam mit uns
nach Lösungen zu suchen.
Der Referentenentwurf der Bundesregierung bildet
für die weiteren Beratungen eine gute Grundlage. Es
würde daher keinen Sinn machen, schon heute über den
Antrag der SPD-Fraktion abschließend zu entscheiden.
Dafür ist das Thema viel zu komplex. Wir werden in
Kürze hier und dann in den zuständigen Fachausschüssen über die Einzelheiten des Regierungsentwurfs beraten und dabei ausreichend Zeit und Gelegenheit haben,
auch über die von der SPD aufgeworfenen Fragen ausführlich zu diskutieren. Soweit es hier auch um ganz
praktische Fragen - etwa die Obergrenze für Amtsvormundschaften - geht, sollten wir auch in Erwägung ziehen, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung externes
Fachwissen in unsere Meinungsbildung einzubeziehen.
Wir halten also den vom Bundesjustizministerium
eingeschlagenen Weg für richtig, jetzt zunächst die
drängenden Probleme mit einem vorgezogenen Gesetzentwurf anzugehen. Angesichts des akuten Handlungsbedarfs wäre es falsch und schwerlich zu verantworten,
erst die Gesamtreform abzuwarten und dadurch unnötig
Zeit zu verlieren. Wir wissen alle, dass solche umfassenden Gesetzesvorhaben einer gründlichen Vorbereitung
bedürfen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang beispielsweise an die FGG-Reform in der letzten Legislaturperiode. Damals hatten wir uns ebenfalls bewusst dafür entschieden, die Erleichterung familiengerichtlicher
Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls abzutrennen und als eigenes Gesetz vorzuziehen.
Ich bin der Auffassung, wir sollten die kurzfristig zu
lösenden Probleme und die weitergehende Gesamtreform nicht vermengen. Im Interesse der betroffenen Kinder sollten wir uns daher zunächst auf die Themen im
Regierungsentwurf konzentrieren. Unabhängig davon
halte ich eine Reihe der angesprochenen Fragen durchaus für berechtigt.
Die Gesamtreform ist dann ein weiterer Aufgabenbereich, den wir noch in dieser Legislaturperiode angehen
werden. Ich sehe jedoch keinen Grund, uns schon heute
mit diesen Fragen abschließend zu befassen. Dies gilt
umso mehr angesichts der Tatsache, das der Antrag der
SPD-Fraktion auch einige äußerst sensible Bereiche
thematisiert - Stichwort „Pflegefamilie und Adoption“.
Im Interesse der Sache wäre es deshalb wünschenswert, wenn der heutige Antrag zur weiteren Beratung in
die Ausschüsse verwiesen wird.
In der letzten Legislaturperiode wurde zum Schutze
des Kindeswohls viel erreicht - dies war auch nötig,
denn immer häufiger war in den Zeitungen von Fällen zu
Zu Protokoll gegebene Reden
lesen, bei denen Kinder von den Eltern vernachlässigt
und misshandelt wurden. Dabei sind vor allem auch die
öffentlichen Einrichtungen und Verfahren zum Schutze
der Kinder in die Kritik geraten.
Der für den zweijährigen Kevin aus Bremen zuständige Amtsvormund betreute im Jahr 2006 200 Kinder,
als der kleine Junge durch Misshandlungen zu Tode
kam. Dieser Fall hat gezeigt, dass das Frühwarnsystem
und die präventiven Maßnahmen nicht ausreichten, um
eine Gefährdung des Kindeswohls rechtzeitig erkennen
und abwenden zu können.
Die Große Koalition hat daraufhin richtig gehandelt:
Unter Federführung der Bundesjustizministerin Brigitte
Zypries wurde die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche
Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ ins Leben gerufen. Dann traten das „Gesetz zur Erleichterung
familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des
Kindeswohls“ sowie die „Reform des Verfahrens in Familiensachen und in Angelegenheiten der Freiwilligen
Gerichtsbarkeit“ in Kraft.
Die Arbeitsgruppe hat im Nachgang erste Erfahrungen mit den neuen Gesetzen evaluiert und im Juli 2009
einen Abschlussbericht vorgelegt, in dem Empfehlungen
für die Weiterentwicklungen in dem Bereich ausgesprochen werden. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung einen Teil
dieser Empfehlungen aufgegriffen hat und demnächst einen Gesetzentwurf zur Änderung des Vormundschaftsrechtes im Kabinett verabschieden möchte. Auch die Intention des Entwurfs geht in die richtige Richtung. Und
doch bleibt er nur Stückwerk - eine halbe Sache.
Die Vorschläge der Arbeitsgruppe wurden nur teilweise aufgenommen und alles über den Themenkomplex
Vormundschaftsrecht hinausgehende wird außer Acht
gelassen. Hintergrund für dieses Vorgehen ist die Ankündigung, Sie würden das Vormundschaftsrecht insgesamt noch einmal reformieren.
Wir wollen Sie heute mit dem von uns vorgelegten Antrag darauf aufmerksam machen, welche Punkte unbedingt berücksichtigt oder überprüft werden müssen, um
den Schutz des Kindeswohls weiter voranzubringen.
Es ist notwendig, die Zusammenarbeit zwischen Familiengericht und Jugendamt zu verbessern, einerseits
durch eine konkrete Regelung für die verbindliche Teilnahme der Jugendämter an gerichtlichen Terminen, andererseits durch die Stärkung der fallübergreifenden interdisziplinären Zusammenarbeit. Fortbildungen und
Qualifikationen sollten in dem sensiblen Bereich des
Vormundschaftsrechtes stärker gefördert und gefordert
werden, sowohl bei den Richterinnen und Richtern als
auch bei den Vormündern. Zudem muss die Position der
Mündel bei der Auswahl des Vormundes sowie in Bezug
auf Beschwerdemöglichkeiten gestärkt werden. Ein weiterer Aspekt ist die Einzelvormundschaft. Sie sollte gezielt gefördert und das Potenzial der ehrenamtlichen
Vormundschaft stärker genutzt werden.
Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass wir die
im Referentenentwurf vorgesehene Begrenzung der Fallzahl in der Amtsvormundschaft begrüßen; wir halten es
aber für sinnvoll, die Obergrenze auf 40 Fälle pro Vormund festzulegen - und zwar für alle Formen der Vormundschaft. Diese Grenze darf nicht überschritten werden. Deshalb brauchen wir hier eine Muss-Regelung,
die Klarheit schafft.
Das bringt den betroffenen Kindern aber nur etwas,
wenn auch ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung
gestellt werden. Die von Ihnen getroffene Feststellung,
der durch die Änderung hervorgerufene Mehrbedarf bei
den Kommunen sei nicht bezifferbar, ist mehr als unbefriedigend. In Anbetracht der desolaten finanziellen Situation der Kommunen ist eine solche Aussage nicht
hinnehmbar. Deshalb fordern wir Sie auf, die durch die
Erhöhung der Anzahl der qualifizierten Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter entstehenden Mehrkosten konkret zu benennen und dementsprechende Ressourcen bereitzustellen.
Ich hoffe sehr, dass die in unserem Antrag angeführten Anregungen und sinnvollen Ergänzungen Eingang in
Ihre Überlegungen zum Vormundschaftsrecht finden
werden.
Von allen Unfällen und Straftaten, die unsere Wahrnehmung erreichen, gehen uns fast immer diejenigen am
nächsten, deren Opfer Kinder sind. Was man - leider
viel zu oft - von solch grauenvollen Fällen liest oder
hört, ist geeignet, uns kalte Schauer über den Rücken zu
jagen. Politik und Gesellschaft sind hier gefordert. Die
Aufmerksamkeit von Angehörigen, Nachbarn und Jugendämtern muss noch stärker geschärft werden. Der
Gesetzgeber muss die gesetzlichen Rahmenverhältnisse
verbessern.
Zu den spektakulärsten und tragischsten Ereignissen
der letzten Jahre zählt ohne Zweifel der Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen, der im Jahr 2006 tot im
Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters gefunden worden war. Kevin hatte unter der Vormundschaft des örtlichen Jugendamtes gestanden. Man tut
sich leicht, dem Amtsvormund den Vorwurf zu machen,
er habe nicht verhindert, dass Kevin misshandelt und
vernachlässigt wurde. Man muss aber aufmerksam
werden, wenn man liest, dass der zuständige Sachbearbeiter des Jugendamtes 230 Vormundschaftsfälle zu betreuen hatte; das sind fast zehn Schulklassen. Bei einer
40-Stunden-Woche kann ein solcher Vormund im Durchschnitt gerade einmal eine Dreiviertelstunde monatlich
für jedes Kind verwenden.
Als Gesetzgeber, der für das Vormundschaftsrecht zuständig ist, müssen wir uns fragen, ob nicht im Vormundschaftsrecht Korrekturen notwendig sind. Wie Sie alle
wissen, hat Frau Bundesjustizministerin LeutheusserSchnarrenberger deshalb sofort nach ihrem Amtsantritt
ein Gesetz zur Änderung des Vormundschaftsrechts auf
den Weg gebracht.
Das Ministerium hat bereits im Dezember 2009 einen
Referentenentwurf vorgestellt, der im Januar 2010 an
die Länder und an die Verbände zur Stellungnahme versandt worden ist. Das geplante Gesetz soll unter andeZu Protokoll gegebene Reden
rem sicherstellen, dass der persönliche Kontakt zwischen dem Vormund und seinen Mündeln gewährleistet
ist. Das soll insbesondere, aber nicht nur durch die zahlenmäßige Begrenzung der Mündel garantiert werden,
die ein einzelner Vormund höchstens betreuen darf.
Die gesetzliche Neuregelung wird das Erfordernis
des ausreichenden persönlichen Kontakts des Vormunds
mit dem Mündel ausdrücklich im Gesetz verankern, die
Pflicht des Vormunds zur Aufsicht über die Pflege und
Erziehung des Mündels im Gesetz stärker hervorheben,
den persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mündel ausdrücklich in die jährliche Berichtspflicht des Vormunds einbeziehen, den persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mündel in die Aufsichtspflicht des
Familiengerichts über die Amtsführung des Vormunds
ausdrücklich einbeziehen und die Fallzahlen in der
Amtsvormundschaft auf 50 Vormundschaften je Mitarbeiter begrenzen.
Es sei ganz offen und ehrlich darauf hingewiesen:
Diese Verbesserungen werden nicht zum Nulltarif zu haben sein. Einerseits darf auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten das Kindeswohl nicht unter die Disposition
der Kassenlage gestellt werden. Andererseits müssen
wir als Gesetzgeber die Finanzlage der Kommunen natürlich im Blick behalten. Der Bund sollte keine Versprechungen machen, von denen wir nicht wissen, wie die
Kommunen sie einhalten sollen. Wenn wir das Vormundschaftsrecht ändern, müssen wir auch die finanzielle
Seite mitbedenken, sonst verhalten wir uns wie Betrüger,
die ungedeckte Schecks ausstellen.
Trotzdem werden wir versuchen, die drängendsten
Fragen schnellstmöglich zu lösen, damit ein Fall Kevin
sich so nicht mehr wiederholen kann.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Bundestag
über den Schutz von Kindern debattieren. Oft gaben
schreckliche Fälle Anlass zur Debatte. Und auch der
Antrag der SPD-Fraktion, der heute zur Beratung steht,
hat den tragischen Tod des im Jahre 2006 in Bremen zu
Tode gekommenen Kevin zum Anlass.
Sicher ist es wichtig, dass solche schrecklichen Fälle
immer wieder diskutiert werden. Es ist auch wichtig, immer wieder nach neuen Lösungswegen zu suchen. Es ist
aber auch wichtig, dabei die Ursachen für das Handeln
von Eltern - wie im Falle Kevin - zu suchen, Ursachen,
die nur zum Teil bei den Eltern zu finden sind; viel öfter
liegen sie in gesellschaftlich zu verantwortenden Defiziten.
Genügend Gesprächs- und Klärungsbedarf gibt es
auch von unserer Seite, zum Beispiel bei der Rolle der
Jugendämter, deren Ausstattung auch im Antrag der
SPD eine Rolle spielt - leider ohne klar zu fordern, dass
bei der Finanzierung auch der Bund sehr viel mehr in
die Pflicht genommen werden muss. Wenn schon die
Bundesregierung darin keine Notwendigkeit sieht, sollte
wenigstens eine Oppositionsfraktion daran erinnern.
Viele der Forderungen des Antrags teilen wir als
Linke. Sie sind aus den Anhörungen zum Kindesschutz in
der letzten Legislaturperiode bekannt und dort - zumindest von den Sachverständigen - ausführlich erörtert
worden. Zu nennen sind hier insbesondere die dringend
notwendige Obergrenze für die Fallzahlen bei den Amtsvormundschaften. Die derzeitige Praxis ist unzumutbar
für die Vormunde und hat mit einer Arbeit im Sinne des
Kindeswohls nichts mehr gemein. In den vergangenen
Jahren hat der Personalmangel in den Jugendämtern
aber auch im Bereich der Amtsvormundschaften und der
Begleitung von Familiensachen zu erheblichen qualitativen Einschränkungen geführt, die in einem Gegensatz
zu den steigenden Fallzahlen stehen.
Wir unterstützen diese Forderung ebenso wie die
nach mehr Beteiligung für Mündel sowie die nach gesetzlichen Konkretisierungen der Pflichten des Vormundes gegenüber den Kindern und Jugendlichen, deren
Wohl und Willen im Mittelpunkt stehen müssen.
In vielen anderen Fragen besteht für uns aber noch
intensiver Redebedarf - sowohl aus fachpolitischer
Sicht als auch in Bezug auf die Folgenabschätzung der
vorgeschlagenen rechtlichen Veränderungen. Genannt
sei an dieser Stelle nur die Frage, inwieweit Pflegeeltern
eine Vormundschaft übernehmen können oder in welchem Umfang die Möglichkeit von Adoptionen durch
Pflegeeltern ausgeweitet werden soll. Pflegeeltern haben die ohnehin schwere Aufgabe, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern, die nicht selten schreckliche Dinge
erlebt haben. Hier besteht nicht nur die Gefahr der
Überforderung von Pflegeeltern, die vom Antragsteller
selbst im Feststellungsteil umschrieben wird. Eine solche Prüfung muss also unter äußerst sensibel ausgewählten Gesichtspunkten geschehen.
Auch der Prüfauftrag zur Frage der Ermöglichung
einer Adoption wird von uns eher kritisch gesehen. Er ist
derart unbestimmt formuliert, dass das Ergebnis dieses
Auftrages dazu führen kann, dass der eigentliche Zweck
des Pflegeverhältnisses, nämlich die Rückführung des
Kindes in die Herkunftsfamilie, konterkariert wird. Hier
hätte viel genauer formuliert werden müssen, unter welchen engen Voraussetzungen geprüft werden soll, ob
und, wenn ja, wie eine Adoption möglich sein soll.
Fragen des Vormundschafts- und des Familienrechtes
sind in vielerlei Hinsicht sehr sensibel. Wir sollten diesen Fragen die notwendige Aufmerksamkeit widmen und
sie in den zuständigen Fachgremien diskutieren. Darum
wendet sie die Fraktion Die Linke gegen eine sofortige
Abstimmung.
Wir befassen uns heute mit dem Antrag der SPD zu
Änderungen im Vormundschaftsrecht. Die SPD bezieht
sich zum einen auf den Referentenentwurf der Bundesregierung, den sie ergänzt haben möchte. Zum anderen
fordert sie, dass weiterführende Regelungen in die angekündigte Gesamtreform des Vormundschaftsrechts, die
von der Bundesregierung angekündigt ist, aufgenommen
werden.
Den Anstoß für dieses Thema hat der traurige Fall des
Kindes Kevin aus Bremen gegeben, das im Jahr 2006 zu
Zu Protokoll gegebene Reden
Tode gekommen ist. Der Amtsvormund, der für Kevin zuständig war, hatte zu diesem Zeitpunkt 200 Mündel in
seiner Betreuung. Aufgrund der großen Arbeitsbelastung
hatte er keinen persönlichen Kontakt zu Kevin. Deshalb
hatte er keine eigene Kenntnis von den katastrophalen
Verhältnissen, in denen sein Mündel lebte.
Wie können wir den Schutz von Mündeln realistisch
verbessern und die Qualität der Vormundschaft sichern?
Das sind die Kernfragen bei der Reform des Vormundschaftsrechts.
Ein Aspekt ist hierbei sicherlich, dass die Entwicklung und das Wohl des Mündels in den Vordergrund der
Amtsführung des Vormunds gerückt werden. Nur das
Kindeswohl kann den Maßstab für das Handeln des Vormunds darstellen. Das ist der Kristallisationspunkt.
Das beste Bild vom Wohlergehen seines Mündels kann
sich der Vormund machen, wenn er kontinuierlich den
persönlichen Kontakt zum Mündel hält. Dazu gehört
auch, dass der Vormund sein Mündel bei der Entscheidung über Angelegenheiten, die sie oder ihn betreffen,
einbezieht, gemäß dem jeweiligen persönlichen Entwicklungsstand.
Die SPD schlägt in ihrem Antrag darüber hinaus vor,
den Kontakt des Vormunds zu seinem Mündel nicht auf
die „übliche Umgebung des Mündels“ zu beschränken,
wie dies im Referentenentwurf vorgesehen ist. Das ist
richtig; denn das ermöglicht dem Mündel, mit dem Vormund offen über Probleme zu sprechen, die gerade in
seinem üblichen Umfeld, seinem Zuhause, ihren Ursprung haben.
Einen weiteren Punkt müssen wir diskutieren: Zur
Obergrenze der Anzahl von Vormundschaften pro Amtsvormund sieht der Referentenentwurf der Bundesregierung vor, dass diese auf 50 Vormundschaften pro Mitarbeiterin oder Mitarbeiter beschränkt werden soll. Das
geschieht in Form einer „Sollvorschrift“. Demgegenüber fordert die SPD, dass die Obergrenze für alle Formen der Vormundschaft auf 40 Vormundschaften pro
Mitarbeiterin oder Mitarbeiter festgelegt werden muss;
sie fordert also eine „Mussvorschrift“.
Das ist eine schöne Perspektive; allerdings stellen
sich Fragen. Die erste Frage ist: Wie finanzieren die
Kommunen, die bereits unter erheblichem finanziellem
Druck stehen, diese Aufstockung ihres Personalbestands?
Auch muss geklärt werden, wie die Jugendämter ausreichend qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in der Kürze der Zeit finden sollen. Klar ist, dass möglichst bald mit der Schulung und Qualifizierung potenzieller neuer Vormünder begonnen werden muss, aber
das geht nicht sofort. Auch hier muss geklärt werden,
wie die Kommunen die zusätzlichen Kosten stemmen
können.
Eine genaue Kalkulation ist hier vonnöten. Zu denken
wäre auch an die Einführung von Übergangsvorschriften.
Im Gesamten sind die Forderungen der SPD zu begrüßen. Sie haben immer das Wohl des Mündels und die
Qualitätssicherung der Vormundschaft im Blick. Der
persönliche Kontakt zwischen Vormund und Mündel, die
Gewährleistung von qualifizierter Vormundschaft und
die Kontrolle durch die Gerichte sind von elementarer
Bedeutung für ein gutes Vormundschaftsrecht. Diese Aspekte hat die SPD in ihrem Antrag berücksichtigt. Sie
muss allerdings hinsichtlich der konkreten Umsetzung
noch klarer werden.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2411. Die
Fraktion der SPD wünscht Abstimmung in der Sache.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung, und zwar federführend an den Rechtsausschuss
und mitberatend an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir heute
über den Antrag auf Drucksache 17/2411 nicht ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Fischer ({1}),
Arnold Vaatz, Volkmar Vogel ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Patrick Döring,
Oliver Luksic, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern
- Drucksachen 17/1574, 17/2456 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Kirsten Lühmann,
Oliver Luksic, Herbert Behrens und Winfried Hermann.
Wir beraten und beschließen heute in zweiter und dritter Lesung den Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem
Titel „Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern“.
Hierdurch setzen wir die 3. Europäische Führerscheinrichtlinie hinsichtlich des Zweiradbereichs in nationales
Recht um. Der Übergang zwischen den verschiedenen
Zweirad-Führerscheinklassen wird für den Bürger hierdurch deutlich vereinfacht. Bislang konnten langjährige
Kraftfahrer einen zusätzlichen Motorradführerschein
nur durch umfassende Theorieausbildungen und Theorieprüfungen erlangen. Trotz umfassender Praxiserfahrung im Straßenverkehr wurden sie Verkehrsneulingen
gleichgestellt.
Die 3. EU-Führerscheinrichtlinie schafft hier Abhilfe. Sie ist am 19. Januar 2007 in Kraft getreten. Vom
Gesetzgeber fordert die Richtlinie Veränderungen im
nationalen Führerscheinwesen. Die christlich-liberale
Koalition nutzt die gebotenen Spielräume, um die soeben beschriebenen Missstände in der Zweirad-Führerscheinausbildung zu beheben. Obwohl den Mitgliedstaaten auch ein breiter zeitlicher Spielraum eingeräumt
wurde, diese Richtlinie bis spätestens zum 19. Januar
2013 in nationale Regelungen umzusetzen, verfolgen wir
eine frühzeitige Umsetzung.
Im Bereich der Zweirad-Führerscheinklassen beschließen wir im Einzelnen folgende Punkte:
Erstens. Inhaber der Fahrerlaubnis der Klasse A1
werden zukünftig unter erleichterten Bedingungen die
Klasse A2 erwerben können. Die Klasse A1 umfasst
Leichtkrafträder bis maximal 125 ccm und bis zu einer
Fahrleistung von 15 PS. Bei der Klasse A2 steigert sich
die Fahrleistung dann auf maximal 34 PS. Nach zweijähriger Inhaberschaft der Klasse A1 bedarf es fortan
nur einer Einweisung sowie einer praktischen Prüfung,
um die Führerscheinklasse A2 zu erlangen. Die Theorieprüfung entfällt zukünftig. Nach zwei Jahren Fahrpraxis
können ausreichende theoretische Kenntnisse zum Verkehrsverhalten und zum Führen von Zweirädern vorausgesetzt werden. Der Wegfall des theoretischen Prüfungsteils ist somit sachgerecht. Bei den Zweiradfahrern stößt
diese Maßnahme auf große Zustimmung.
Zweitens. Gleichermaßen regeln wir den Übergang
von der Klasse A2 zur Klasse A neu. Nach zweijährigem
Besitz der Führerscheinklasse A2 ist für den Erwerb der
Klasse A eine Einweisung und eine praktische Prüfung
nötig. Auch hier wird auf eine theoretische Prüfung verzichtet. Bisher folgte der Erwerb der Führerscheinklasse A
automatisch nach zweijähriger Inhaberschaft der Klasse
A2. Die mitunter großen Leistungsunterschiede der entsprechenden Krafträder, die unter die Klassen A2 und A
fallen, rechtfertigen jedoch die zusätzliche Einführung
einer praktischen Prüfung. Denn die Führerscheinklasse A umfasst Motorräder jeglicher Art. Diesen Übergang
von A2 zu A gestalten wir unter Gesichtspunkten der Verkehrssicherheit neu.
Auf diese Weise schaffen wir ein System des stufenweisen Erwerbs der drei Zweirad-Führerscheinklassen
A1, A2 und A. Wer sich mit 16 Jahren dafür entscheidet,
die Klasse A1 zu erwerben, kann nach zweijähriger Praxiserfahrung erleichtert die Klasse A2 erlangen. Er
wäre dann 18. Nach weiteren zwei Jahren ist es dann
möglich, die Klasse A2 durch die Klasse A zu ersetzen.
Und das in einem Alter von 20 Jahren. Die Fahrer von
Motorrädern, die bewiesenermaßen ein erhöhtes Unfallrisiko aufweisen, würden auf diese Weise langfristiger
und schrittweise das Führen leistungsstarker Motorräder erlernen. Wer die Klasse A über dieses Stufensystem
erwirbt, hat bereits mindestens vier Jahre ZweiradFahrpraxis. Hierin sehen wir einen großen Gewinn für
die Verkehrssicherheit auf unseren Straßen.
Direkt kann die Klasse A weiterhin erst ab dem
25. Lebensjahr erworben werden. Ein Erwerb vor dem
Erreichen dieses Alters ist nur möglich, wenn zuvor eine
Fahrlizenz der Klasse A2 vorliegt. Es ist ein Trugschluss,
davon auszugehen, dass der 25-Jährige, der die Klasse A
direkt erwirbt, zwangsläufig verantwortungsvoller und
sicherer ein Zweirad führen kann als ein 20-Jähriger. Sicheres Fahren und Verkehrssicherheit sind keine Fragen
des Alters. Sicher fährt derjenige, der eine sorgfältige
Ausbildung genossen hat, schrittweise und bewusst an
die Verantwortung herangeführt wurde, ein Kraftrad zu
führen.
Drittens. Eine weitere Neuregelung sieht vor, dass Inhaber der alten Führerscheinklasse 3, die diese vor dem
1. April 1980 erworben haben, die Klasse A2 unter den
erleichterten Bedingungen der Inhaber von Klasse A1
erhalten. Zusätzlich ist lediglich eine spezifische theoretische Prüfung notwendig, die ausschließlich die Kenntnisse zum Führen von Zweirädern dieser Klasse abfragt.
Die Klasse 3 berechtigt zum Führen von Leichtkrafträdern bis maximal 125 ccm und 15 PS Motorleistung.
Dennoch wurden die Inhaber der Klasse 3 bislang Zweiradneulingen gleichgestellt. Die Vergleichbarkeit der
Klassen A1 und 3 macht eine Gleichbehandlung beider
Klassen jedoch sachgerecht.
Viertens. Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse B
- das ist der reguläre Pkw-Führerschein - können die
Klasse A1 leichter erwerben, sofern sie seit mindestens
15 Jahren im Besitz der Klasse B sind. In diesem Fall
sind eine spezifische theoretische Prüfung, eine praktische Einweisung und eine praktische Prüfung gefordert.
Schließlich fünftens. Wir senken das Mindestalter zum
Führen eines Zweirads der Klasse AM von bislang 16 auf
15 Jahre. Die Klasse AM löst nach dem Willen der 3. EUFührerscheinrichtlinie die bisherigen deutschen Klassen
M und S ab. M war bislang der klassische Mopedführerschein. Dieser konnte mit 16 Jahren erworben werden
und umfasste Zweiräder bis maximal 50 ccm Hubraum
und maximal 45 km/h Höchstgeschwindigkeit. Die
Klasse S berechtigte zum Fahren dreirädriger Kleinkrafträder bzw. vierrädriger Leichtkraftfahrzeuge, sogenannter Quads. Die neue Klasse AM vereinigt die Klassen M und S in sich. Wird in Deutschland zukünftig vom
Mopedführerschein gesprochen, ist die Klasse AM gemeint. Die 3. EU-Führerscheinrichtlinie lässt den Mitgliedstaaten dabei den Spielraum, das Mindestalter zum
Erwerb der Klasse AM zwischen 14 und 18 Jahren eigenständig festzusetzen.
Wir haben uns für eine Absenkung des Mindestalters
für den Moped-Führerschein auf 15 Jahre entschieden.
Dieser Punkt unseres Antrags hat in den vergangenen
Wochen die meiste Beachtung gefunden. Wir als CDU/
CSU-Fraktion stellen fest: Die Absenkung des Mindestalters ist ein Beitrag zu mehr Verkehrssicherheit.
Denn die derzeitige Situation ist folgende: Wir haben
überdurchschnittlich viele Unfälle im Bereich der Fahrräder und Motorräder. Das Motorrad ist das mit Abstand
gefährlichste Verkehrsmittel. Obwohl die motorisierten
Zweiräder nur 2 Prozent aller Verkehrsteilnehmer ausmachen, kommen aus diesem Bereich circa 14 Prozent
aller Verkehrstoten. Darüber hinaus beobachten wir,
dass insbesondere bei jungen Zweiradfahrern viele Maschinen frisiert werden und deutlich schneller unterwegs
Zu Protokoll gegebene Reden
sind als die erlaubten 25 km/h bei Mofas oder 45 km/h
bei Mopeds.
Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen diese Entwicklung nicht hinnehmen. Anstatt zuzuschauen, wie sich die
Unfallzahlen im Zweiradbereich auf unverändert hohem
Niveau halten, handeln wir mit unserem Antrag und der
Herabsenkung der Altersuntergrenze für den Mopedführerschein auf 15 Jahre. Von dieser Maßnahme versprechen wir uns ein gesteigertes Gefahrenbewusstsein
unter den jungen Zweiradfahrern. Denn der neue Mopedführerschein mit 15 stellt eine qualifizierte Ausbildung der Jugendlichen dar. Der Erwerb der Klasse AM
geht mit einer umfassenden theoretischen und praktischen Fahr- und Verkehrsausbildung einher. Die Intensität der Ausbildung wird die der derzeitigen Mofa-Ausbildung weit übersteigen. Dementsprechend mehr
werden die Fahrschüler für die Gefahren des Straßenverkehrs und die Verantwortung, die das Führen eines
Zweirads mit sich bringt, sensibilisiert. Das Risikobewusstsein der Altersklasse der unter 16-Jährigen wird
sich im Vergleich zum heutigen Stand deutlich erhöhen.
Für die CDU/CSU-Fraktion gilt: Es ist besser, wenn
die Jugendlichen bereits mit 15 Jahren beim Erwerb der
Klasse AM frühzeitig eine qualifizierte Ausbildung erhalten. Wir vertrauen auf die Professionalität unserer
Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer, die die Jugendlichen
optimal vorbereiten werden. Wir sind überzeugt, dass
hierdurch eine deutliche Verbesserung der Unfallzahlen
im Zweiradbereich erreicht wird, sowohl bei den 15-jährigen Fahranfängern, aber gerade auch in höheren Altersklassen. Gleichwohl ist es selbstverständlich, dass
wir die Entwicklung infolge der Absenkung des Mindestalters genau beobachten werden.
Bislang war es mit 15 Jahren ausschließlich möglich,
einen Mofa-Führerschein zu erwerben. Doch das Mofa
hat einige entscheidende Nachteile. So ist ein Mofa auf
eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h begrenzt. Ursprünglich sollten die Jugendlichen hierdurch davor geschützt werden, zu schnell zu werden und sich zu gefährden. Der Negativeffekt dabei ist jedoch, dass der
deutliche Geschwindigkeitsunterschied zum sonstigen
innerstädtischen Verkehr gefährliche Verkehrssituationen geradezu zwingend hervorruft. Die Mofafahrer können nicht im Verkehr „mitfließen“. Sie werden bevorzugt
überholt und dadurch erheblichen Gefahren ausgesetzt.
Das Absenken des Einstiegsalters des Mopedführerscheins würde diesem Effekt entgegenwirken. Die jungen Mopedfahrer könnten flüssiger am Verkehrsgeschehen teilnehmen. Darüber hinaus sehen wir in der
Absenkung des Einstiegsalters für den Mopedführerschein einen Beitrag zu mehr Mobilität im ländlichen
Raum. Insbesondere Auszubildende des Handwerks sind
früh auf ausreichende Mobilität angewiesen, ein früher
Mopedführerschein hilft ihnen, Arbeitsplatz und Berufsschule gut zu erreichen.
Aus den genannten Gründen unterstützt die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion die Absenkung des Einstiegsalters des Mopedführerscheins auf 15 Jahre. Die Änderungsanträge von SPD, Grünen und Linken lehnen wir
ab. Stattdessen fordern wir die Bundesregierung mit unserem Antrag auf, die genannten Regelungen umzusetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Antrag „Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern“
heute zustimmen.
Ich möchte Sie um Ihre Zustimmung für den Antrag
der Koalitionsfraktionen „Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern“ bitten.
Mit diesem Antrag soll ermöglicht werden, dass Jugendliche statt mit 16 Jahren bereits mit 15 den sogenannten Mopedführerschein erwerben; offizielle Bezeichnung: Führerschein der Klasse AM. Damit haben
sie die Berechtigung, Zweiräder bis 50 ccm Hubraum
bei einer Höchstgeschwindigkeit von bis zu 45 km/h zu
führen. Besonders in ländlich geprägten Gebieten ist die
individuelle Mobilität von entscheidender Bedeutung.
Denn der nächste Einkaufsladen ist selten fußläufig erreichbar, der nächste Fußballverein ist mehrere Kilometer entfernt, und der Schulkamerad oder die Freundin
wohnt weit entfernt. Es ist auch meist nicht so wie hier in
Berlin, das man nur zehn Minuten auf den nächsten Bus
warten muss.
Aber für die Stadt und das Land gilt gleichermaßen:
Nur wer individuell weite Strecken zurücklegen kann,
kann auch die von der Arbeitswelt geforderte Flexibilität an den Tag legen.
Mein erster Gedanke bei diesem Antrag war, dass wir
dadurch den jungen Auszubildenden unterstützen, eine
weit entfernte und durch öffentliche Verkehrsmittel nur
beschwerlich zu erreichende Ausbildung anzunehmen
oder ganz einfach den Schulbesuch selbstständig zu organisieren.
In der DDR konnte man eine Mopedfahrerlaubnis bereits mit 15 Jahren erwerben, auch wenn man eher an
die Erreichung den Arbeitsplatzes gedacht hat und weniger daran, den Jugendlichen mehr persönliche Freiheit
zu geben.
Damit komme ich noch zu einem weiteren Argument:
Die jungen Leute sollen die Möglichkeit haben, ihre
Freunde und Vereine zu besuchen, wann immer sie es
wollen. Ihre Selbstständigkeit und individuelle Freiheit
soll gefördert werden, aber auch das Verantwortungsbewusstsein. An diesem Punkt möchte ich noch einmal
deutlich machen, dass ich den Jugendlichen in unserem
Land Vertrauen entgegenbringe, verantwortlich mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen. Das bedeutet auch
Verantwortung für sich und andere. Besonders muss ihnen bewusst sein, dass sie zu den gefährdetsten Verkehrsteilnehmern gehören, wie alle, die ein Zweirad fahren, vom Mofa bis zum Bike.
Deshalb appelliere ich an die Jugendlichen, dass sie
durch ihr eigenes Fahrverhalten am meisten zu ihrer eigenen Sicherheit beitragen können, dass sie mit der
richtigen Kleidung, in Signalfarben und sturzsicher, ihr
eigenes Leben retten können, dass ein fahrtüchtiges und
nicht manipuliertes Moped der beste Garant für eine sichere Fahrt ist, dass einfach nur lebensmüde ist, ohne
Helm zu fahren. Ich bin mir sicher, dass die Eltern,
Zu Protokoll gegebene Reden
Volkmar Vogel ({0})
Freunde und Fahrlehrer in unserem Land nicht müde
werden, diese ebenso einfachen wie fundamentalen
Weisheiten immer wieder den jungen Fahrern zu vermitteln. Wenn die jungen Leute diese Regeln, gepaart mit
einer guten Fahrausbildung, beherzigen, ist das Risiko
gering, egal ob mit 15 oder 16.
Aufgrund dieser Argumente bitte ich Sie, dem hier
vorliegenden Antrag, auch unter Berücksichtigung der
positiven Beschlussempfehlung aus dem Verkehrsausschuss, zuzustimmen.
Junge Leute können es kaum erwarten, motorisiert zu
sein. Mobilität bedeutet auch für junge Menschen mehr
Selbstständigkeit und die Möglichkeit, besser am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das war so und wird
auch in Zukunft nicht anders sein. Der sächsische Verkehrsminister Sven Morlok hat daher recht, wenn er
sagt: „Jugendliche werden durch die Möglichkeit, früher Moped zu fahren, mobiler und selbstständiger“.
Die Frage, die wir uns jedoch in diesem Zusammenhang stellen müssen, ist: Wollen wir, dass unsere Kinder
mobiler und selbstständiger werden, um jeden Preis?
Auch, wenn es um ihre eigene Sicherheit oder um die allgemeine Verkehrssicherheit geht? Ich denke, da sind wir
uns einig, dass wir das nicht möchten. Warum sollten
wir also dem Antrag der Regierungskoalition folgen und
der Absenkung des Mindestalters auf 15 Jahre für Mopedführerscheine zustimmen?
Im vorliegenden Antrag fordern Sie, den Erwerb von
Zweiradführerscheinen zu erleichtern. Es geht dabei um
die Umsetzung der Dritten EG-Führerschein-Richtlinie.
Die in dem Antrag vorgeschlagenen Erleichterungen
beim Erwerb von Zweiradfahrerlaubnissen unter bestimmten Bedingungen bewerten wir positiv. Personen,
die im motorisierten Straßenverkehr Erfahrungen vorweisen können, unbürokratischer den Erwerb von weiteren Fahrerlaubnisklassen zu ermöglichen, ist sinnvoll
und birgt keine zusätzlichen Gefahren im Straßenverkehr.
Diese EU-Richtlinie führt auch eine neue Fahrerlaubnisklasse AM für das Führen zweiräderiger
Kleinkrafträder ein. Das entspricht dem Mopedführerschein, der zurzeit frühestens mit 16 Jahren erworben
werden kann. Die Richtlinie ermöglicht es, die Altersgrenze im Ausnahmefall auf 14 Jahre herabzusetzen
oder sie auf bis zu 18 Jahre anzuheben. Als Regelfall
empfiehlt die Europäische Union ein Mindestalter von
16 Jahren. Sie fordern die Herabsetzung auf 15 Jahre.
Wir wollen das nicht.
Jeder, der Kinder in dieser Altersstufe hat bzw. Studien zu diesem Thema oder die Briefe der Experten zur
Verkehrssicherheit, die uns alle in den letzten Wochen
erreicht haben, gelesen hat, weiß, dass die Risikobereitschaft, Selbstüberschätzung und vor allem die fehlende
Erfahrung der 14- bis 16-Jährigen einen gefährlichen
Risikomix ergeben. Die Folge davon ist eine erhöhte Unfallhäufigkeit meist aufgrund überhöhter Geschwindigkeit. Im Zweiradbereich ist dieses sogenannte Jugendlichenrisiko von wesentlich größerer Bedeutung als beim
Auto.
Mit der Absenkung des Mindestalters dürften 15-Jährige zweirädrige Kleinkrafträder ({0}), Quads oder
vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge mit einer Höchstgeschwindigkeit von maximal 45 km/h fahren. Sie dürfen
sogar einen Sozius mitnehmen, was die Fahreigenschaft
des Zweirads erheblich verändert. Statt also mit 25 km/h
und dem Mofa auf Radwegen zu fahren, werden Jugendliche sich zukünftig mit dem Moped oder dem geländetauglichen vierrädrigen Quad auf der Straße zwischen
Lkw und Autos behaupten müssen. Das ist nicht unsere
Vorstellung von Verkehrssicherheit.
Unserer Ansicht nach ist es nicht ratsam, Jugendliche
vom Fahrrad direkt aufs Moped zu locken. Das sieht
auch die Bundesanstalt für Straßenwesen, BASt, eine
Unterbehörde des Bundesverkehrsministeriums, so: Die
BASt empfiehlt, das Mindestalter für die Führerscheinklasse nicht auf 15 abzusenken. In der Studie heißt es: Je
jünger und je unerfahrener jugendliche motorisierte
Zweiradfahrer sind, desto größer ist ihr Unfallrisiko.
Das Ergebnis dieser Studie scheint Sie leider aber
nicht weiter zu interessieren. In einem voreiligen Referentenentwurf zur Umsetzung Ihres heutigen Antrages
stellt das BMVBS bereits fest: „Unabhängig von dem
Ergebnis der BASt-Studie wird - insbesondere zur Aufrechterhaltung der Mobilität Jugendlicher im ländlichen
Raum, die oft auf Fahrzeuge der neuen Klasse AM
angewiesen sind, um zu ihrem Ausbildungsplatz zu
gelangen - das Mindestalter auf 15 gesenkt.“ Sie ignorieren damit nicht nur die vom Verkehrsministerium in
Auftrag gegebene Studie. Sie zeigen außerdem Ihren
mangelnden Respekt für die heutige Debatte, die Sie in
Ihrem Gesetzesentwurf offensichtlich bereits vorwegnehmen.
Wenn Sie dafür sorgen wollen, dass Jugendliche in
ländlichen Räumen besser zur Arbeit kommen sollen, raten wir Ihnen: Stärken Sie den ÖPNV! Die Verkehrsunternehmen benötigen so schnell wie möglich Planungssicherheit und verlässliche Zusagen über die zukünftige
Finanzierung von Bussen und Bahnen. Wir brauchen
zeitnah Nachfolgelösungen für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und das Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs. Machen Sie
sich für Busse und Bahnen stark. Opfern Sie nicht die
Verkehrssicherheit dafür.
Ein Blick auf Österreichs Straßen hilft. Österreich hat
genau denselben Fehler gemacht. 1997 entschied man
dort, dass es in Ordnung sei, wenn 15-Jährige einen Mopedführerschein machen dürfen, wenn die Eltern schriftlich zustimmen, wenn die Schule oder der Lehrbetrieb
bescheinigt, dass es keine ÖPNV-Verbindung gibt und
wenn die Jugendlichen eine verkehrspsychologische
Untersuchung machen.
Diese stufenweise Einführung weniger Ausnahmefälle hat die Unfallzahlen in Österreich noch nicht verändert. Aber schließlich hat man das Mindestalter für
Mopedfahrer für alle auf 15 Jahre gesenkt, und die Unfallzahlen sind seitdem deutlich nach oben gegangen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mittlerweile steigen dort die Unfallzahlen der 15-jährigen Mopedfahrer kontinuierlich an. Allein im Jahr 2008
erhöhten sich in dieser Altersgruppe die Unfallzahlen im
Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent. Jetzt wird dort
ernsthaft wieder über eine Heraufsetzung des Mindestalters für das Führen von Kleinkrafträdern nachgedacht.
Wir benötigen in Deutschland keinen Probelauf dieser Art. Wir sind der Meinung, dass die Verkehrssicherheit an erster Stelle steht. Die Mofaausbildung, die bereits in vielen Bundesländern fester und wichtiger
Bestandteil der schulischen Verkehrserziehung ist, ist
aus Sicht der Verkehrssicherheit ausreichend und zielführend. Sie führt die Jugendlichen behutsam vom Fahrrad an den motorisierten Straßenverkehr.
Eine Fahrschulausbildung inklusive praktischer Ausbildung und Prüfung, die mit Herabsetzung des Mindestalters für den Erwerb der Klasse AM die Folge ist,
wirkt sich tatsächlich nicht unfallreduzierend aus. Die
BASt-Studie stellt fest, dass es keinen Nachweis dafür
gibt, dass die Ausbildung die Unfallzahl signifikant senken kann.
Jugendliche sind heutzutage mit Sicherheit reifer als
vor 20 Jahren. Dennoch müssen sie im Umgang mit dem
motorisierten Straßenverkehr erst ihre Erfahrungen
sammeln und behutsam an die unterschiedlichen Geschwindigkeiten herangeführt werden. 20 km/h machen
da einen großen Unterschied. Bildlich ausgedrückt: Erscheint ein Hindernis 10 Meter vor einem mit 25 km/h
fahrenden Mofafahrer, so prallt er trotzt eingeleiteter
Vollbremsung mit einer Energie auf das Hindernis, die
dem Sturz von einem Stuhl entspricht. Ein Mopedfahrender mit 45 km/h würde in vergleichbarer Situation aus
8 Metern Höhe stürzen.
Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat, der ADAC, die
Deutsche Verkehrswacht, der ACE, der AvD, der ACRD
und viele andere haben mehrfach größte Bedenken gegen dieses Gesetzesvorhaben geäußert. Aber die Regierungskoalition zeigt sich in alle Debatten bisher völlig
unbeeindruckt. Wir appellieren an die Regierungskoalition, die Risiken für die Herabsetzung des Mindestalters
nicht hinzunehmen.
Stimmen Sie für unseren Änderungsantrag und streichen Sie Punkt 4 Ihres Antrags zur „Erleichterung des
Erwerbs von Zweiradführerscheinen“, damit Jugendliche ab 16 Jahren eine Fahrerlaubnis der Klasse AM erwerben dürfen.
Kommt es tatsächlich zu einem Gesetzesänderungsverfahren, werden wir dafür werben, eine Sachverständigenanhörung zu diesem Thema im Verkehrsausschuss
zu beantragen.
Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu dem von uns eingebrachten Antrag. Wir wollen den Erwerb von Zweiradführerscheinen maßgeblich entbürokratisieren und
damit erleichtern. Insbesondere langjährigen, erfahrenen Fahrern soll der Erwerb eines Zweiradführerscheins bzw. der Aufstieg innerhalb der einzelnen
Motorradklassen erleichtert werden. Es ist nicht sachgerecht, sie in dieser Hinsicht mit Fahranfängern gleichzustellen.
Wir sind überzeugt, dass wir durch unseren Antrag
zwei wichtige Ziele der Verkehrspolitik miteinander verbinden können: die Stärkung der Mobilität junger Verkehrsteilnehmer vor allem in ländlichen Gebieten sowie
die Erhöhung der Verkehrssicherheit.
Dass sich ein erleichterter Erwerb von Zweiradführerscheinen und das uns am Herzen liegende Thema der
Verkehrssicherheit nicht gegenseitig ausschließen, haben wir mit dem vorliegenden Antrag deutlich gemacht.
Im Gegenteil: Sie bedingen einander.
Für erfahrene Fahrer etwa, also beim Aufstieg zwischen den neuen Klassen sowie beim Erwerb des Führerscheins der neuen Klasse A1 durch Inhaber des alten
Führerscheins der Klasse 3, sieht der Antrag in Zukunft
eine praktische Prüfung vor, die zum Ziel hat, die vermutete Praxiserfahrung zu belegen.
Bei der Führerscheinklasse AM, der neuen Mopedklasse, haben wir die Möglichkeit genutzt und sind vom
Mindestalter, das die Richtlinie vorschlägt, abgewichen.
Der Erwerb wird somit Jugendlichen schon ab 15 Jahren offenstehen.
Damit befinden wir uns europaweit in guter Gesellschaft. Österreich, Frankreich, Spanien, Slowenien, Ungarn, Estland, Schweden und Lettland: Sie alle haben
sich in diesem Sinne entschieden. Die Erfahrungsberichte aus einem Großteil dieser Länder fallen positiv
aus.
Besonders freuen wir uns natürlich auch, dass wir mit
unserem Vorschlag entsprechende Forderungen auch
aus manchen SPD-geführten Bundesländern wie etwa
Bremen und Mecklenburg-Vorpommern aufnehmen und
umsetzen konnten.
Vielleicht wird sich der ein oder andere Kollege daran erinnern, dass auch in der ehemaligen DDR das
Fahren von Kleinkrafträdern, die sogar bis zu
60 Kilometer pro Stunde schnell fahren konnten, schon
mit 15 Jahren erlaubt war. Warum soll dies jetzt nicht
auch in der Bundesrepublik möglich sein?
Es handelt sich also nicht - wie von manchem
kassandrahaft beschworen - um den Untergang der
Straßenverkehrssicherheit. Wir schicken keine jungen
Menschen ins Verderben; wir machen sie mobiler und
erhöhen damit nicht zuletzt ihre Chancen auf dem Bildungs- und Ausbildungssektor. Gerade die Kollegen, die
aus Flächenländern kommen, wissen doch selbst am
besten um die dort teilweise schlechte Lage des öffentlichen Nahverkehrs, insbesondere was für teilweise massive Erschwernisse sie für die jungen Menschen vor Ort
mit sich bringt. Gerade hier wird den Jugendlichen mittels des neuen AM-Führerscheins die Möglichkeit gegeben, auch mittellange Strecken alleine zu bewältigen,
was momentan mit Mofas, die nur 25 Kilometer pro
Stunde fahren können, nur schwerlich möglich ist. Im
Stadtverkehr wiederum stellt das Fahren mit einem
Mofa oft eine Behinderung des Verkehrsflusses dar. Es
Zu Protokoll gegebene Reden
besteht somit auf beiden Seiten - sowohl bei den Jugendlichen als auch den anderen Verkehrsteilnehmern - das
Bedürfnis nach der von uns vorgeschlagenen Neuregelung des AM-Führerscheins.
Gleichzeitig erhöhen wir mit den vorgeschlagenen
Änderungen sogar noch die Verkehrssicherheit sowohl
für die jungen Menschen als auch für die anderen Verkehrsteilnehmer. Wir verringern mit dem Führerschein
AM 15 insbesondere das Anfängerrisiko. Nun werden
endlich solide ausgebildete Fahrer auf die Straße gelassen.
Insbesondere die praktische Ausbildung wird gestärkt. Im Gegensatz zum Mofaführerschein, der nichts
anderes als ein besserer Fahrradführerschein ist, können 15-Jährige in Zukunft mit einer soliden Ausbildung
und Prüfung flüssiger am Straßenverkehr teilnehmen,
wenn die Eltern dies wollen. Deren Entscheidung darüber, ob ihr Kind reif genug ist, um am Straßenverkehr
teilzunehmen, soll ihnen vom Staat nicht abgenommen
werden. Der Staat hat jedoch die Aufgabe, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa durch
die Regelung einer entsprechenden qualitativen Fahrausbildung, was wir auch tun.
Ein gut ausgebildeter 15-Jähriger auf einem Zweirad
der Klasse AM stellt etwa im Vergleich zu einem 15-Jährigen auf einem Mofa einen Gewinn für die Verkehrssicherheit dar. Denn damit können wir gezielt die Ursachen bekämpfen, die gerade bei Fahranfängern auf dem
Zweirad in der Vergangenheit immer wieder zu Unfällen
geführt haben, wie etwa unangemessene Geschwindigkeit oder Fehler bei der Vorfahrt und beim Wenden und
Abbiegen.
Dieser positive Effekt auf die allgemeine Verkehrssicherheit wird sich meiner Überzeugung nach auch mittel- und langfristig auswirken. Wer bereits mit 15 Jahren
gut ausgebildet beginnt, am Straßenverkehr teilzunehmen, der wird aufgrund seiner Erfahrung auch in seinem
späteren Leben beim Erwerb der Fahrerlaubnisse anderer Klassen von dieser Erfahrung und Ausbildung profitieren und somit maßgeblich zur Verkehrssicherheit beitragen.
Ich bitte Sie daher im Interesse der jungen Menschen
und des Ziels einer Erhöhung der Verkehrssicherheit um
Ihre Zustimmung.
Die dritte EU-Führerscheinrichtlinie, die 2007 in
Kraft getreten ist, muss bis zum 19. Januar 2013 in nationales Recht umgesetzt werden.
Auf diese Umsetzung zielt der Antrag der CDU/CSUFDP-Koalition. Er enthält vier Forderungen. Die ersten
drei beziehen sich auf die Vereinfachung des Erwerbs
des großen Motorradführerscheins und Regelungen zur
Übertragung alter Führerscheine in die neue Zulassungspraxis. Diese ersten drei Punkte, die den Bürokratieabbau fördern und zudem die Verfahren für die Bürger vereinfachen, begrüßen wir.
Den Punkt vier aber lehnen wir ab. Es handelt sich
um die Altersabsenkung für Führerscheine für Motorroller mit kleinen Kennzeichen. Bereits 15-Jährigen soll es
erlaubt sein, mit kleinen Maschinen am motorisierten
Straßenverkehr teilzunehmen, auf Landstraßen genauso
wie auf unübersichtlichen Kreuzungen.
Die Linke steht für eine soziale Politik für die Menschen, und das schließt auch Verkehrssicherheit mit ein.
Wir meinen, Gesetzesänderungen im Straßenverkehr
müssen gut überlegt sein; denn hier geht es um Menschenleben, um die Leben jungendlicher 15-Jähriger,
aber auch um die Leben anderer Verkehrsteilnehmer.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Verkehrstoten
auf unseren Straßen glücklicherweise kontinuierlich zurückgegangen. Dieser positive Trend, der seit 2000 deutlich in den Statistiken zu lesen ist, sollte unbedingt fortgeführt werden.
Heranwachsende aber sind bis zum Alter von 19 Jahren leider besonders stark betroffen. Insbesondere motorisierte Zweiradfahrer sind aufgrund der fehlenden
Knautschzonen und der speziellen Fahrdynamik gefährdeter als andere Verkehrsteilnehmer.
Natürlich sind viele Geschichten über die Gefahren
des Motorradfahrers nur Geschichten. So wird die Motorradsaison im Mai jährlich mit Schlagzeilen über erschütternde Unfälle in den Regionalblättern eingeläutet.
Aber machen wir uns doch nichts vor: Es gibt Probleme!
Tatsächlich verunglückten 2008 insgesamt 30 640 Motorradfahrer; es gab 110 Tote, und 22 209 verunglückte
Motorrollerfahrer kamen noch dazu. 2008 starb alle
zehn Stunden ein motorisierter Jugendlicher auf deutschen Straßen. Das ist schon jetzt zu viel!
Von den 15- bis 17-jährigen unter den Verkehrstoten
starben 24 Prozent, als sie mit dem Motorrad unterwegs
waren, und 9 Prozent, als sie Roller fuhren. Das darf
doch nicht so bleiben!
Nun hat die FDP-CDU/CSU-Koalition auch noch die
Idee, das Führerscheinalter noch weiter herabzusetzen.
Wir brauchen gründliche Schulungen für den Eintritt
in den motorisierten Straßenverkehr.
Ich erinnere daran, dass in Österreich 1997 die
Altersgrenze auf 15 Jahre herabgesetzt wurde, genauso wie die Koalition das nun vorhat. Die Folge waren 14-mal so viele tote 15-Jährige und noch mehr Verletzte!
Unsere Jugendlichen werden nicht besser oder
schlechter fahren als die österreichischen Jugendlichen.
Wir können also schon voraussehen, was passieren
wird: Auch hier werden sich etliche Jugendliche totfahren.
Lernen wir doch von unseren Nachbarn! Denken Sie
noch einmal nach: Wollen Sie wirklich all diese Toten
auf dem Gewissen haben?
Gerne würden wir dem Antrag der Koalition zustimmen, da er bis auf ein wichtiges Detail die 3. EU-FühZu Protokoll gegebene Reden
rerscheinrichtlinie angemessen in nationales Recht umsetzt. Auch wir sind der Ansicht, dass der Erwerb von
Zweiradführerscheinen für Inhaber eines Führerscheins
einer anderen Fahrzeugklasse, die bereits über mehrjährige Fahrpraxis und gute Kenntnisse der Verkehrsregeln verfügen, erleichtert werden kann. Es ist nicht
angemessen, dass diese Gruppe mit Fahranfängern
gleichgestellt wird.
Leider haben Sie diesem „netten“ Antrag ein pseudonettes Geschenk beigepackt. Sie wollen jungen Leuten
bereits ab 15 Jahren den Moped-Führerschein geben.
Nach dem Motto „Tun wir der Jugend doch was Gutes“.
Aber das ist für die Fünfzehnjährigen und ihre Eltern ein
gefährliches Geschenk. Sie machen es, obwohl alle Sicherheitsexperten davon abgeraten haben. Es ist für uns
absolut unverständlich, warum Sie die nachdrücklichen
Appelle von wichtigen Verkehrssicherheitsexperten und
sogar die Ergebnisse der Studie der Bundesanstalt für
Straßenwesen ignorieren. Und das, obwohl das Bundesverkehrsministerium diese Studie doch eigens in Auftrag
gegeben hatte und die Ergebnisse keine Zweifel daran
lassen, dass es hochgefährlich, ja lebensgefährlich ist,
Jugendlichen bereits mit 15 Jahren eine Lizenz zum
Schnellfahren zu erteilen.
Sie sind uns die Erklärung noch schuldig, warum Sie
bei den motorisierten Zweirädern noch jüngere Menschen unbegleitet mit höheren Geschwindigkeiten losfahren lassen wollen, während wir im Pkw-Bereich beim
Begleiteten Fahren erfolgreich einer ganz anderen Philosophie folgen. Und dies gerade, um der Problematik
besser gerecht zu werden, dass sich die jungendlichen
Fahranfänger und Fahranfängerinnen häufig selbst
überschätzen und dazu neigen, in komplexen Situationen
unangemessen zu reagieren, weil Ihnen die nötige Erfahrung fehlt.
Sie sagen, sie wollen die Mobilität der jungen Leute
befördern, damit sie beispielsweise ihren Ausbildungsplatz im ländlichen Raum besser erreichen können. Dafür gibt es spezielle Angebote, wie den von den Bundesländern bestellten und finanzierten Schulbusverkehr,
den öffentlichen Nahverkehr, ein überregionales Radwegenetz und das Mofa. Wenn Sie diese Angebote für unattraktiv und nicht ausreichend halten, dann lassen Sie
uns hier ansetzen und gemeinsam bessere Konzepte dafür finden.
Und woher kommt eigentlich Ihr plötzlicher Gesinnungswechsel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition? Noch im März dieses Jahres auf dem 4. Sachverständigentag des TÜV zum Thema Verkehrssicherheit
ging jedenfalls keiner der geladenen Experten aus der
Verkehrssicherheitsarbeit, der Politik und der Wissenschaft von einer derartigen Regelung für Deutschland
aus.
Es ist schon pikant, dass Sie die Forderung für den
Moped-Führerschein ab 15 erst aufgestellt haben, nachdem die Zweiradindustrie im Frühjahr diesen Jahres
massiven Druck ausgeübt hat. Die sinkenden Verkaufszahlen können doch kein Argument für einen quasi
bundesweiten Feldversuch an jungen Leuten sein, wie
gestern von Vertretern der Regierungskoalition im Verkehrsausschuss ernsthaft vorgeschlagen wurde. Wollen
Sie wirklich erst ausprobieren, ob die Unfallzahlen bei
den fünfzehnjährigen Mopedfahrern in Deutschland
ebenso drastisch wie in unserem Nachbarland Österreich ansteigen?
Es ist unverantwortlich und zynisch, jungen Leuten
schon ab 15 Jahre die Lizenz zum Rasen zu erteilen,
wenn man weiß, dass diese Altersgruppe schon mit dem
Fahrrad und dem Mofa zu schnell fährt, wenn man weiß,
dass diese Altersgruppe in der Unfallstatistik eine Hochrisikogruppe ist, weil man in diesem Alter offenbar die
Geschwindigkeit und die Risiken unterschätzt und das
eigene Vermögen überschätzt.
Und deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab, in dem Sie
die Regierung auffordern, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu machen. In diesem Fall möchte man
hoffen, dass die Regierung diesen Antrag ignoriert und
auf die Sicherheitsexperten hört. Wir werden jedenfalls
alles daran setzen, dass dieser Koalitionsvorstoß nicht
Gesetz wird. Wenn Sie nach der Sommerpause einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundestag einbringen, werden wir Ihnen eine Expertenanhörung dazu
nicht ersparen.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2456, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/1574 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Barthel, Garrelt Duin, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Arbeitsbedingungen im Briefmarkt - Sozialklausel nach § 6 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3
Postgesetz und Verordnung über zwingende
Arbeitsbedingungen für die Branche Briefdienstleistungen auf Grund des ArbeitnehmerEntsendegesetzes
- Drucksache 17/1615 Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas
Lämmel, Dr. Georg Nüßlein, Klaus Barthel, Dr. Heinrich
Kolb, Sahra Wagenknecht und Beate Müller-Gemmeke.
Zur Debatte steht eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zu den Arbeitsbedingungen im Briefmarkt. Es verwundert mich doch, dass wir diese Debatte führen, bevor die Antworten der Bundesregierung vorliegen. Nun
richten Sie Ihre Fragen ja an die Bundesregierung und
nicht an mich oder die Unionsfraktion. Daher ist es
nicht meine Aufgabe, Ihre Fragen zu beantworten; das
wird die Bundesregierung schon ordnungsgemäß erledigen.
Die Thematik der Arbeitsbedingungen im Postmarkt
muss im Zusammenhang mit der Verfassung der gesamten Branche und dem ordnungspolitischen Rahmen, den
wir hier als Gesetzgeber vorgeben, diskutiert werden.
Das Ziel der schrittweisen Liberalisierung des Postwesens in Deutschland war die Gewährleistung eines Wettbewerbes auf dem Briefmarkt. Wettbewerb zwingt alle
Anbieter zur Kundenorientierung, zu besseren Produkten und Dienstleistungen, zu effizienteren Strukturen und
vielen Innovationen. Schließlich ist Wettbewerb der
beste Verbraucherschutz. Verbraucher sind dann in der
stärksten Position, wenn sie zwischen verschiedenen Anbietern wählen können.
Wir wollen diesen Wettbewerb auf dem Briefmarkt
auch weiterhin. Aber dieser Wettbewerb muss fair
ablaufen. Hier ist die Deutsche Post als ehemaliger Monopolist natürlich im Vorteil. Die Post hat bereits ein
Vertriebsnetz, entsprechende Infrastrukturen und Geschäftsbeziehungen. Dementsprechend hat sie auch
nach zehn Jahren Liberalisierung noch einen Marktanteil von 90 Prozent. Hier sind neue Wettbewerber klar im
Nachteil. Die Wettbewerbsbedingungen sind also verzerrt und eben nicht gleich.
Neue Wettbewerber müssen sich gegen ein marktbeherrschendes Unternehmen durchsetzen. Der Wettbewerb am Markt darf dabei natürlich nicht ausschließlich
über die Löhne der Arbeitnehmer geführt werden. Für
Erfolg am Markt sollten das Vertriebskonzept, effiziente
Kostenstrukturen der Unternehmen und die angebotenen Leistungen sowie die Zuverlässigkeit des Anbieters
entscheidend sein.
Aber die Frage der Entlohnung in der Branche darf
natürlich nicht ausgelassen werden. Es war absolut
wettbewerbsfeindlich, als die Deutsche Post AG versuchte, allein den Maßstab für die Entlohnung der ganzen Branche zu setzen. Denn dies kommt einem faktischen Ausschluss aller anderen Wettbewerber gleich. Es
ist daher zu begrüßen, dass die Postmindestlohnverordnung vom Bundesverwaltungsgericht aufgehoben
wurde. Denn das gewählte Verfahren war nicht sauber.
Der Haustarifvertrag des marktbeherrschenden Unternehmens wird für die gesamte Branche als allgemeingültig erklärt. Dies war ein wettbewerbspolitischer
Skandal, der nun glücklicherweise korrigiert wurde.
Dass der eigene Haustarifvertrag möglicherweise auch
für die Deutsche Post AG eine zu hohe Bezahlung beinhaltet, zeigt sich doch daran, dass die Deutsche Post
nun selbst mit First Mail eine Tochterfirma gründet, die
geringere Löhne zahlt.
Eine Angelegenheit betone ich unbedingt: Ich habe
nichts gegen Tarifverträge. Im Gegenteil: Ich begrüße es
außerordentlich, wenn wir einen Tarifvertrag für die gesamte Branche bekommen; dieser kann auch gern Lohnuntergrenzen definieren. Hier sind aber die Tarifpartner
gefordert, eine Lösung zu finden. Insbesondere auf Arbeitgeberseite muss dann die gesamte Branche - nicht
ein einzelnes großes Unternehmen - vertreten sein. Ein
Tarifvertrag für die gesamte Branche erlaubt dann auch
die angemessene Feststellung der Sittenwidrigkeit von
Löhnen - angemessen deshalb, da sich der zugrundeliegende Durchschnittslohn nicht aus alten Monopolstrukturen ableitet. Dann wird es auch einfacher, schwarze
Schafe, die Lohndumping betreiben, zu identifizieren
und zu sanktionieren. Dann ist ein fairer Wettbewerb
möglich, in dem die Leistung entscheidet und nicht der
geringste Stundensatz.
Schließlich noch ein paar Worte zur Aufgabe der
Bundesnetzagentur. Die Bundesnetzagentur ist eine
Wettbewerbsbehörde zur Regulierung der entsprechenden Märkte. Im Zusammenhang mit dem Postgesetz,
welches ein Wettbewerbs- und kein Sozialgesetz ist,
überprüft die Bundesnetzagentur bei der Lizenzerteilung
primär die Leistungsfähigkeit, Zuverlässigkeit und
Fachkunde der Anbieter. Es ist der Arbeitsfähigkeit der
Agentur sicher nicht dienlich, ihr auch noch die Aufgaben der flächendeckenden und ständigen Lohnprüfung
zu übertragen. Dafür gibt es bereits Behörden wie den
Zoll oder die Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesnetzagentur ist weder Tarifpartner noch Lohnfindungsstelle.
Ich fasse zusammen: Wettbewerb ja, Lohndumping
nein, Lohnfindung innerhalb der Branche als Lösungsweg.
In der großen Anfrage der SPD-Fraktion zu den Arbeitsbedingungen im Briefmarkt beklagt sich die SPD
über die bisherige Entwicklung des Wettbewerbs und der
sozialen Standards im Briefsektor. Ich zitiere: „Ein Teilarbeitsmarkt, der bislang durch existenzsichernde Einkommensbedingungen gekennzeichnet war, droht insgesamt zu einem Niedriglohnsektor zu werden, bei dem
prekäre Beschäftigungsbedingungen dominieren …“.
Ich halte es hier mit Walther Rathenau und möchte antworten: „Die Klage über die Schärfe des Wettbewerbs
ist in Wirklichkeit meist nur eine Klage über den Mangel
an Einfällen.“ Die Klagen haben in letzter Zeit allerdings merklich abgenommen. Es scheint die Konkurrenten der Deutschen Post AG hätten einen Weg gefunden,
im Wettbewerb mit der Deutschen Post AG zu bestehen.
Zu klären ist, ob dies auf Kosten der bei ihnen beschäftigten Menschen geht.
Uns ging es bei der Liberalisierung des Postmarkts
um den Wettbewerb, um mehr Qualität, um Leistungssteigerung, um günstigere Preise und um die Nähe zum
Kunden. Mir liegt als Abgeordneter eines ländlich geprägten Wahlkreises ganz besonders die flächendeckende Versorgung mit Briefdienstleistungen am Herzen.
Wir wollen einen Wettbewerb, der den Kunden - also unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern - etwas bringt.
Die Maxime bei der Verabschiedung des Postgesetzes
war: Wettbewerb im Bereich der Briefbeförderung darf
nicht zulasten der Beschäftigten oder des ländlichen
Raumes erfolgen. Keinesfalls wollen wir einen Wettbewerb um die schlechtesten Arbeitsbedingungen provozieren. Wettbewerb und die Berücksichtigung sozialer
Zu Protokoll gegebene Reden
Belange dürfen sich in einer sozialen Marktwirtschaft
grundsätzlich nicht widersprechen.
Die Situation stellt sich heute - im dritten Jahr nach
der Verabschiedung des Postgesetzes - wie folgt dar:
Der Postmarkt ist - insbesondere beim Briefgeschäft mit
Privatkunden - ein schrumpfender Markt. Immer mehr
Menschen schreiben E-Mails statt Briefe. Seitdem das
letzte Teilmonopol im Briefmarkt gefallen ist, wetteifern
somit immer mehr Anbieter um eine stetig schrumpfende
Nachfrage.
Für die überwiegende Anzahl der Beschäftigten in
der Briefbeförderung bei der Deutschen Post gelten
auch weiterhin Arbeitsbedingungen, die sich deutlich
von denen der Konkurrenzunternehmen unterscheiden.
Die Deutsche Post AG hat als ehemaliges staatliches
Monopol noch jede Menge Beschäftigte mit Arbeitsverträgen, die für einen Arbeitgeber unter den heutigen Bedingungen kaum zu bezahlen sind. Die Wettbewerber
wie TNT und PIN tendieren auch weiterhin dazu, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Teilweise
liegt der Anteil an Beschäftigten, die auf ergänzende Sozialtransfers angewiesen sind, in diesen Unternehmen
bei über 60 Prozent. Laut eigener Auskunft sind die Unternehmen nicht in der Lage, höhere Löhne zu zahlen.
Ein Anlauf, dieses Ungleichgewicht in den Griff zu
bekommen, ist jetzt gescheitert: Nach zähen Verhandlungen wurde die Postbranche in das ArbeitnehmerEntsendegesetz aufgenommen. Ein Postmindestlohn
trat im Januar 2008 in Kraft. Der Arbeitgeberverband
Postdienste und die Gewerkschaft Verdi hatten ihn ausgehandelt. Der erzielte Kompromiss liegt zwischen
8,00 Euro und 9,80 Euro pro Stunde für Briefzusteller.
Vielfach wurde der Post AG vorgeworfen, mithilfe des
ausgehandelten Mindestlohns einen Verdrängungswettbewerb gegen mittelständische und kleine Unternehmen
zu führen. Von der Hand weisen kann man das nicht,
weil es unter solchen Umständen schwer sein dürfte, in
einem lohnintensiven Bereich Strukturen aufzubauen.
Das Bundesministerium für Arbeit hatte diesen Mindestlohn - damals noch unter SPD-Führung - mit einer Verordnung schlussendlich für die gesamte Branche für allgemeinverbindlich erklärt. Die Konkurrenten der
Deutschen Post AG klagten gegen diesen Tarifvertrag.
Die klagenden Arbeitgeber erbringen mit den von ihnen beschäftigten Zustellern Briefdienstleistungen. Sie
sind Mitglied in einem im September 2007 gegründeten
Arbeitgeberverband. Dieser und der klagende Arbeitgeberverband haben jeweils im Dezember 2007 mit der
beigeladenen Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste einen Tarifvertrag für das Gebiet der Beklagten abgeschlossen. Der darin vereinbarte Bruttomindestlohn liegt unter den in der streitigen Verordnung
bestimmten Beträgen.
Ende Januar dieses Jahres ist nun der vereinbarte
Mindestlohn in der Postbranche vom Bundesverwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt worden. Allerdings
begründet das Bundesverwaltungsgericht diese Entscheidung lediglich mit Verfahrensfehlern. Den Konkurrenten der Deutschen Post AG sei nicht ausreichend Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme gegeben
worden. Somit sei die Verordnung für sie nicht rechtswirksam.
Sei’s drum: Die Verordnung wäre sowieso am 30. April
2010 außer Kraft getreten. Die Verhandlungen gehen
also in eine zweite Runde. Gelernt haben wir eines: Wenn
wir das Angebot der Briefdienstleistungen in Deutschland verbessern wollen, brauchen wir profitablen Wettbewerb. Wir brauchen leistungsfähige Wettbewerber zur
Deutschen Post, diese Wettbewerber brauchen ihrerseits
qualifizierte und motivierte Mitarbeiter. Solche Mitarbeiter lassen sich aber nicht dauerhaft mit niedrigsten
Löhnen abfinden.
Wir brauchen Mindestbedingungen für die rund
220 000 Beschäftigten der Briefdienste, die aber keine
Wettbewerbshürde aufbauen dürfen. Das ist so etwas
wie die Quadratur des Kreises. Auch brauchen wir Ideen
für die weitere Aufrechterhaltung eines flächendeckenden Universaldienstes. Wenn das Aufkommen für Postdienstleister auf dem Land zu gering ist, dann wird sich
unter Umständen ein Postanbieter aus der Fläche zurückziehen.
Das heißt aber nicht, dass wir uns als Politik künftig
in die Lohnfindung einmischen wollen. Tarifautonomie
ist auch weiterhin ein hohes grundrechtlich garantiertes
Gut. Ich setze darauf, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch im Bereich der Postdienstleistungen ohne
staatliches Diktat in der Lage sind, Tarifverträge für
ihre Branche auszuhandeln. Hier ist der Staat gefordert,
sich zurückzunehmen. Die Regierung und das Parlament, als übergeordnete politische Ordnungseinheit, haben nicht die Aufgabe, konkrete Lohn- und Arbeitsbedingungen festzusetzen. Dies bleibt den mit der Materie
vertrauten Tarifvertragsparteien vorbehalten.
Ich habe die Erwartung, dass sich alle beteiligten Tarifparteien in naher Zukunft auf eine Folgeregelung einigen. Wir brauchen einen zukunftsfähigen, leistungsstarken und vor allem flächendeckenden Universaldienst,
der außerdem zu für die Beschäftigten der Branche sozial abgesicherten Bedingungen erbracht werden kann.
Ziel muss es sein, dafür zu sorgen, dass sich die Betroffenen in der üblichen Weise miteinander verständigen,
dass sich die Tarifparteien in naher Zukunft zu einem ordentlichen Ergebnis durchringen, dass dieses Ergebnis
niemandem schadet und dass die Briefdienstleistungen
im Ergebnis besser und nicht schlechter werden. Notfalls müssen wir mehr Druck über die Lizenzvergabe
ausüben, wenn soziale Mindeststandards von einzelnen
Unternehmen nicht erfüllt werden.
Die Liberalisierung des deutschen und europäischen
Postmarktes erfüllt bisher keine der in sie gesetzten
Hoffnungen, aber fast alle Befürchtungen. Seit der völligen Marktöffnung gingen die Umsätze, die Zahl der
Wettbewerber und der Arbeitsplätze deutlich zurück.
Die Wettbewerber der Deutschen Post und die Liberalisierungsanhänger behaupten nun, dass nicht ihre
Fehleinschätzung eines schrumpfenden Marktes und
ihre Liberalisierungsphilosophie, sondern der gesetzliZu Protokoll gegebene Reden
che branchenspezifische Mindestlohn für diese Negativentwicklung verantwortlich ist. Daraus hatte die FDP
schon in der letzten Legislaturperiode die Forderung
abgeleitet, sämtliche sozialen Standards und die Garantie der branchenüblichen Arbeitsbedingungen aus dem
Postgesetz zu streichen. Wir sind gespannt, ob sich diese
Forderungen bei der im Bundeswirtschaftsministerium
noch für dieses Jahr angekündigten Änderung des Postgesetzes in der Koalition durchsetzen lassen.
Die Fakten sprechen eine klare Sprache: Die Löhne
bei den Wettbewerbern der Deutschen Post AG liegen
nach der bisher einzigen veröffentlichten Vollerhebung
der Arbeitsbedingungen durch die Bundesnetzagentur
aus dem Jahre 2007 um mehr als ein Drittel unter denen
des Exmonopolisten. Wettbewerber, CDU/CSU und FDP
wurden nicht müde, dies als notwendige Markteintrittschance zu verteidigen, da es keine anderen Möglichkeiten gebe, in einen wirksamen Wettbewerb zur DPAG
überhaupt einzutreten.
Die SPD hat in der Großen Koalition durchgesetzt,
durch einen branchenspezifischen Mindestlohn von
8,40 Euro in den alten und 8 Euro in den neuen Bundesländern sowie von 9,80 Euro bzw. 9 Euro für Briefzusteller dieses Lohndumping deutlich einzuschränken, nachdem die Bundesnetzagentur fast 10 Jahre lang darin
versagt hatte, die verbindlichen Lizenzauflagen des
Postgesetzes, die branchenüblichen Arbeitsbedingungen
nicht wesentlich zu unterschreiten, auch wirksam durchzusetzen.
Mit wenigen Ausnahmen wurde der Mindestlohn allerdings nie befolgt, weil er von Anfang an vor den Verwaltungsgerichten angefochten wurde und deshalb
Sanktionen nicht ergriffen wurden.
Mit unterschiedlichen, aber sehr kreativen Begründungen hoben die Verwaltungsgerichte in drei Instanzen
den Mindestlohn im Postsektor auf, in letzter Instanz das
Bundesverwaltungsgericht wegen angeblicher Formfehler bei der seinerzeitigen Verordnung durch das Bundesarbeitsministerium, weil das Beteiligungsverfahren nicht
eingehalten worden sei. Geklagt hatten Arbeitgeber des
Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste
e. V., AGV-NBZ, und des Bundesverbandes der KurierExpress-Post-Dienste, BdKEP, die jeweils mit der Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste, GNBZ,
einen Tarifvertrag über einen wesentlich niedrigeren
Mindestlohn vereinbart hatten. Während das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Januar 2010 gegen
den Post-Mindestlohn allergrößte Aufmerksamkeit fand,
blieb eine Mitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom
15. April 2010 bezeichnenderweise weitgehend unbeachtet, die rechtskräftig feststellt, „dass die GNBZ keine tariffähige Gewerkschaft ist“ und bei Abschluss ihrer sogenannten Tarifverträge mit dem AGV-NBZ und dem
BdKEP im Dezember 2007 „auch keine tariffähige Gewerkschaft war.“
In der Folge des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts aber senkte zum Beispiel die Berliner PIN AG als
eines der wenigen Unternehmen, die den Mindestlohn
zwischenzeitlich angewandt hatten, ihre Stundenlöhne
von 9,80 Euro um rund 1,50 Euro wieder ab. Wer von so
wenig Geld leben muss, weiß, was eine Lohnkürzung um
rund 15 Prozent bedeutet.
Alle Anzeichen sprechen dafür, dass der Mindestlohn
zwar vorübergehend eine leichte Besserung der Einkommenssituation bei den alternativen Briefzustelldiensten
gebracht hatte. Die Öffentlichkeit soll aber nichts über
die sich jetzt noch stärker ausbreitenden skandalösen
Zustände erfahren. Die Bundesregierung braucht vier
Monate, um unsere Große Anfrage zu beantworten. Und
das, obwohl ihr längst die Ergebnisse einer zweiten
Vollerhebung der Bundesnetzagentur über die Arbeitsbedingungen vorliegen. Über die Gründe dieses Verhaltens, auch des ansonsten sehr publicityträchtigen Vorgehens der Bundesnetzagentur, kann man nur spekulieren.
Aus vielen Beschwerden Betroffener wissen wir, was
gespielt wird: Da werden mit Stücklohnmodellen Stundenlöhne von unter 2 Euro - im Westen - nur dürftig
kaschiert. Da werden mit massenhaftem Einsatz von
Subunternehmern jegliche überprüfbaren Regeln ausgehebelt. Da werden Minijobs ausgeweitet. Da werden
massenhaft Aufstocker mit solcherart Beschäftigungsverhältnissen anschließend mit Steuergeldern subventioniert.
Auch die Deutsche Post AG arbeitet immer mehr mit
Subunternehmen, baut eine eigene Billigtochter ({0}) auf und droht der Gewerkschaft Verdi mit flächendeckendem Outsourcing.
Pseudogewerkschaften wie die GNBZ, der rechtswirksam der Charakter als Gewerkschaft abgesprochen
wurde, und Arbeitgeberverbände, die offenbar für niemanden sprechen, bringen jeden Versuch, zu einem Flächentarifvertrag zu kommen, zum Scheitern.
Deshalb würde uns interessieren, ob die Bundesregierung bereit ist, ihre durchaus gegebenen Möglichkeiten
zu nutzen, den Mindestlohn neu zu verordnen. Mindestens aber sollte sie für eine rechtskonforme Anwendung
der Sozialklausel aus dem Postgesetz durch die Bundesnetzagentur sorgen, die ungeachtet der Mindestlohndebatte rechtswirksam ist.
Der Problemdruck nimmt zu: Immer mehr Unternehmen und öffentliche Auftraggeber versuchen, beim Postversand Kosten zu sparen.
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist derzeit umstritten, ob dank des Fehlens einer praktisch angewandten Lohnnorm - sei es nach Postgesetz; diese besteht
nach Recht und Gesetz, wird aber nicht durchgesetzt,
oder nach AEntG, die die Bundesregierung noch durchsetzen - es zulässig oder gar erforderlich ist, bei der öffentlichen Vergabe von postalischen Dienstleistungen
die Einhaltung von Lohnstandards zu verlangen oder
andere soziale Belange zu berücksichtigen. In der Praxis führt das dazu, dass Kommunen oder die Bundesagentur für Arbeit Aufträge für Postdienstleistungen an
solche „wirtschaftlich arbeitenden“ - sprich: billigen Postdienstleister vergeben, die Lohndumping am konsequentesten durchsetzen; anschließend kommen dann die
Beschäftigten dieser Billiganbieter zum Jobcenter und
beantragen die Aufstockung ihres Dumpinglohnes, weil
sie von ihrer Arbeit nicht leben können. Diese Fälle zeiZu Protokoll gegebene Reden
gen auf, wie absurd die Auswirkungen der Untätigkeit
der Bundesregierung und oberster Bundesbehörden
sind. Es handelt sich um nichts anderes als um die Subvention von Ausbeutung zulasten der Steuerzahler und
letztlich aller Beschäftigten im Postsektor.
Wir sind auch sehr gespannt darauf, wie die Bundesregierung sicherstellen will, dass das Postgesetz auch
für Subunternehmen der Branche, die sogenannten Erfüllungsgehilfen, gilt. Oder sollen diese vor allem Erfüllungsgehilfen für Lohndrückerei im Namen des Wettbewerbs sein, weil sie außerhalb jeglicher Kontrolle tätig
sind?
Zwar ist mittlerweile rechtlich eindeutig geklärt - Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 2009 zur Auskunftsanordnung der Bundesnetzagentur -, dass auch die
Erfüllungsgehilfen an die Lizenzauflagen des Postgesetzes gebunden sind, also beispielsweise an das Postgeheimnis und an die branchenüblichen Arbeitsbedingungen. Nach unseren Erkenntnissen geht aber bisher
niemand - auch nicht die eindeutig zuständige Bundesnetzagentur - von Amts wegen der Frage nach, ob und
inwieweit die Subunternehmer im Postsektor diese Auflagen einhalten. Und dies, obwohl die weitaus überwiegende Mehrheit aller Lizenznehmer mit Erfüllungsgehilfen arbeitet - viele von ihnen sogar ausschließlich.
Fragen über Fragen also, hinter denen sich eine bittere Realität verbirgt. Wer die Augen davor verschließt,
trägt die Verantwortung. Deshalb unsere dringende Aufforderung an die Bundesregierung: Antworten Sie schnell,
und handeln Sie unverzüglich! Im September sprechen
wir uns wieder.
Gegenstand der heutigen Beratung ist die Große Anfrage der Fraktion der SPD zur sogenannten Sozialklausel im Postgesetz, die die Erteilung einer Lizenz an die
vom Lizenznehmer gewährten Arbeitsbedingungen
knüpft.
Mehr als zwei Jahre nach dem Wegfall der Exklusivlizenz für die Deutsche Post AG zur Beförderung bestimmter Briefsendungen müssen wir feststellen, dass
auf dem deutschen Postmarkt kein echter Wettbewerb
herrscht. Der Markt ist im Postbereich nach wie vor
stark reguliert. Das gilt insbesondere hinsichtlich der
angesprochenen Lizenzpflicht. Es verwundert deshalb
nicht, dass der Marktanteil der Wettbewerber innerhalb
des lizenzpflichtigen Bereichs zurückgegangen ist und
sich die Marktdominanz der Deutschen Post AG verstärkt hat.
Man muss sich dann entscheiden: Will man das Monopol der Deutschen Post stärken oder will man Wettbewerb ausbauen? Wenn man sich mit dem Auslaufen der
befristeten gesetzlichen Exklusivlizenz nach § 51 des
Postgesetzes dazu entschieden hat, den Postmarkt dem
Wettbewerb zu öffnen, dann muss man das allerdings in
der Folge auch konsequent tun.
Dies hat die christlich-liberale Koalition begonnen,
indem wir die Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen
Post AG abgeschafft haben. Damit haben künftig alle
Postunternehmen, die ein flächendeckendes Angebot haben, die Möglichkeit, von der Umsatzsteuer befreit werden zu können. Mit dem Gesetz hat die Regierung das
deutsche Recht den europäischen Richtlinien angepasst.
Bis dato war allein die Deutsche Post als Anbieter eines
flächendeckenden Angebots, eines sogenannten Universaldienstes, für die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze - etwa das Porto - von der Steuer befreit.
Nach diesem Beschluss können nun auch andere
Postdienstleister von der Regelung profitieren, wenn sie
ein entsprechendes Angebot leisten. Die Befreiung von
der Umsatzsteuer gilt allerdings nur noch für Briefe von
Verbrauchern - auf Geschäftspost wird die Umsatzsteuer
hingegen jetzt fällig. Um als Universaldienstleister zu
gelten, muss der Postdienstanbieter bislang beispielsweise im Jahres- und Bundesdurchschnitt 80 Prozent der
Briefe binnen eines Werktages nach Aufgabe zustellen.
95 Prozent müssen nach zwei Werktagen zugestellt werden. Für diesen Dienst ist ein besonders großes Netz
notwendig, das Deutschland von den Halligen im Norden bis zu den Almen im Süden abdeckt.
So wird echter Wettbewerb auf dem Markt für Postdienstleistungen möglich.
Weil wir einen funktionsfähigen Wettbewerb im Interesse der Verbraucher, Arbeitnehmer, Unternehmen und
nicht zuletzt des Fiskus wollen, müssen wir alles daran
setzen, negative Wettbewerbseffekte zu verhindern. Wir
müssen verbraucher- und wettbewerbsschädliche Regulierung verhindern und die Vorgaben auf wirtschaftlich
vertretbare und regulatorisch notwendige Maßnahmen
begrenzen.
Unser Ziel ist, dass alle Postunternehmen ihre Leistungen zu Wettbewerbspreisen anbieten und ihr Personal zu marktkonformen Arbeitsbedingungen beschäftigen. Dabei muss selbstverständlich klar sein, dass die
arbeitsrechtlichen Vorschriften eingehalten werden
müssen. Es ist aber Aufgabe der Tarifvertragsparteien,
die Arbeitsbedingungen für die Branche auszuhandeln,
wie dies dem Grundsatz der Tarifautonomie entspricht.
Die Überwachung von Arbeitsbedingungen ist nicht
Aufgabe der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde.
Unser Ziel bleibt, so wie es auch das erklärte Ziel des
Bundesministers für Wirtschaft und Technologie ist, auf
dem deutschen Postsektor weiterhin nachdrücklich die
politischen Voraussetzungen für einen vollständigen und
chancengleichen Wettbewerb herzustellen und den erfolgreichen Marktzutritt von Postunternehmen zu ermöglichen. Die Sozialklausel läuft diesem Ziel zuwider
und bildet damit einen Fremdkörper in einem Gesetz,
dass der Förderung des Wettbewerbs dienen soll.
Ich kann natürlich nicht auf jede einzelne Ihrer Fragen eingehen, aber eine, nämlich die Frage 5, kann ich
Ihnen beantworten: Es wird keine weiteren Initiativen
der Koalition zur Durchsetzung eines Postmindestlohns
geben. Die FDP war schon immer gegen einen Mindestlohn in dieser Branche, und die Realität hat uns Recht
gegeben. Denn in all Ihren Überlegungen, wie man die
Zu Protokoll gegebene Reden
Beschäftigten der Post so weit wie möglich schützen und
ihre Arbeitsbedingungen perfektionieren kann, kam eine
Gruppe nie vor: die Arbeitslosen. Leider müssen wir Ihnen das immer wieder vorwerfen: Sie vertreten ausschließlich die Beschäftigten, vergessen dabei aber,
Konzepte zur Verringerung von Arbeitslosigkeit vorzulegen. Schlimmer noch - Ihre Forderungen würden bei
Umsetzung die bestehende Arbeitslosigkeit eher noch
steigern.
Der - für rechtswidrig erklärte - Mindestlohn für
Postdienstleistungen hat schon wenige Wochen nach
seiner Einführung zahlreiche Unternehmen in die Insolvenz getrieben und zum Verlust von rund 10 000 Arbeitsplätzen bei den Konkurrenten der Deutschen Post AG
geführt. Um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, aber auch,
um Menschen in Deutschland Chancen auf dem ersten
Arbeitsmarkt zu bieten, sprechen wir uns daher ganz
klar gegen einen Mindestlohn für Postdienstleistungen
aus. Sollte seitens der Post ein neuer Antrag für einen
Mindestlohn gestellt werden, gilt das in der Koalition
verabredete Verfahren: Einstimmigkeit im Tarifausschuss und einvernehmliche Regelung im Kabinett.
Es ist schon ein wenig ungewöhnlich, dass wir eine
Große Anfrage debattieren, ohne dass die Antworten der
Bundesregierung überhaupt vorliegen. Dass die SPD es
gar nicht abwarten kann, die Debatte zu führen, dürfte
vor allem in ihrer Oppositionsrolle begründet sein. Es
ist schließlich nicht auszuschließen, dass die eine oder
andere Antwort auch ein negatives Schlaglicht auf so
manchen problematischen Aspekt aus eigener Regierungstätigkeit geworfen hätte. Da ist es doch besser,
man befasst sich erst gar nicht mit den Antworten, sondern geriert sich lieber nur als große Kritikerin der ungebremsten Postliberalisierung und als Kämpferin
gegen Sozialdumping und den Niedriglohnsektor. Wohlgemerkt, als Kritikerin einer Politik, die man selbst jahrelang vorangetrieben hat!
Ein Beispiel: In Frage 6 will die SPD-Fraktion wissen, ob auch die Bundesregierung davon ausgeht, dass
unter „wesentlichen Arbeitsbedingungen“ insbesondere
die Höhe der Löhne, die Arbeitszeit und die Dauer des
Jahresurlaubs zu verstehen sind. Hintergrund ist, dass
die Bundesnetzagentur laut Postgesetz verpflichtet ist,
Post-unternehmen die Lizenz zu verweigern, wenn sie
die wesentlichen Arbeitsbedingungen nicht einhalten.
Die Gewerkschaft Verdi hat bereits vor drei Jahren darauf hingewiesen, dass die Bundesnetzagentur das Gesetz offenbar falsch auslegt und dass viele Postunternehmen Lohn- und Sozialdumping betreiben.
Die Linke hat deshalb bereits 2007 einen Gesetzentwurf eingebracht, der das Postgesetz konkretisiert und
die Bundesnetzagentur klar verpflichtet hätte, Löhne,
Arbeitszeit und Urlaubsanspruch bei der Zulassung von
Postunternehmen zu prüfen. Das wurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Damals waren Sie in
der Regierung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD! Da hätten Sie einmal die Möglichkeit gehabt,
wirklich etwas gegen das Sozialdumping im Postbereich
zu unternehmen.
Aber immerhin schwenken Sie jetzt als Opposition auf
den Kurs der Linken ein und zeigen sich endlich bereit,
anzuerkennen, wie katastrophal die Arbeitsbedingungen
im Postbereich nach wie vor sind. Die Pin Mail AG zahlt
ihren Beschäftigten laut Verdi mittlerweile wieder weniger als den bis vor kurzem gültigen Mindestlohn von
9,80 Euro. Das Unternehmen TNT zahlt seinen Zustellern ohnehin weniger - laut Verdi zum Teil nur 6,75 Euro
pro Stunde. Doch es sind nicht nur diese Anbieter, die
Löhne drücken. Zwar liegen bei ihnen nach Gewerkschaftsangaben die Löhne zwischen 33 und 54 Prozent
unterhalb der Tarifeinkommen bei der großen Post AG,
doch auch der gelbe Marktführer versucht zunehmend,
Löhne zu drücken, zuletzt mit der Gründung der Billigtochter First Mail. Diesem Lohndumping muss endlich
ein Riegel vorgeschoben werden!
In Anbetracht dessen, dass auch der alte Postmindestlohn unterlaufen werden konnte, muss es darum gehen, endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro pro Stunde einzuführen.
Wenn in einer Branche der unterste Tariflohn über dem
gesetzlichen Mindestlohn liegt, soll außerdem dieser Tariflohn für allgemeinverbindlich erklärt werden. Das
wären wirksame Maßnahmen gegen Lohndumping und
Sozialabbau!
Mindestlöhne und eine verschärfte Überwachung der
sozialen Bedingungen im Briefmarkt sind wichtig. Aber
man darf nicht vergessen: Sie packen das Problem nicht
an der Wurzel. Die eigentliche Ursache der Misere liegt
in der Privatisierung und Liberalisierung des Postbereichs. Dass die SPD nun langsam anfängt, die Frage
der unerträglichen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auch in diesen Kontext zu stellen, ist schön. Noch
schöner wäre es allerdings gewesen, sie hätte sich in ihrer Regierungszeit aktiv gegen die Privatisierung eingesetzt. Aber da war sie eine treibende Kraft der Liberalisierung, mit allen katastrophalen Folgen für Verbraucher und Beschäftigte. Wer eine grundlegende und
nachhaltige Verbesserung der Situation im Postbereich
für Beschäftigte - und Verbraucher - erreichen will,
kommt nicht darum herum, auch die Frage der Privatisierung des Postbereichs auf die Tagesordnung zu setzen. Es muss jetzt darum gehen, die von der SPD mitverantworteten Entwicklungen zu revidieren und eine
grundlegende Kurskorrektur herbeizuführen. Die Forderung ist klar: Das Postwesen darf nicht dem skrupellosen Profitstreben privater Betreiber überlassen werden. Postdienstleistungen sind eine öffentliche Aufgabe.
Sie gehören in öffentliche Hand.
Ich begrüße, dass die SPD diesen Anlauf startet, um
die unfairen Arbeitsbedingungen auf dem Briefmarkt zu
debattieren. Ich finde, die SPD stellt in ihrer Großen Anfrage die richtigen Fragen, und hoffe, dass die Regierung diese beantwortet und dadurch wachgerüttelt wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch wir Grüne wollen einen fairen Wettbewerb auf
dem Briefmarkt, denn der Wettbewerb darf nicht über
die Löhne ausgetragen werden. Deswegen ist ein PostMindestlohn unbedingt notwendig, und wir fordern die
Regierung auf, endlich einen neuen Anlauf zu unternehmen, um eine neue Post-Mindestlohnverordnung in
Kraft zu setzen.
Uns ist bewusst, dass der Konkurrenzkampf auf dem
Briefmarkt hart ist, aber diese Situation darf kein Grund
dafür sein, dass die Geschäftsmodelle bei Briefdienstleistungen primär auf niedrigen Löhnen aufbauen. Es
besteht die Gefahr, dass damit die Arbeitsbedingungen
einer ganzen Branche deutlich verschlechtert werden.
Es muss verhindert werden, dass am Ende auch viele Beschäftigte der Deutschen Post AG auf ergänzendes
Arbeitslosengeld II angewiesen sind oder Briefdienstleistungen primär nur noch von Beschäftigten im Nebenjob erbracht werden.
Ich bleibe dabei: Ein Mindestlohn ist immer sinnvoll
und vor allem notwendig. Der Punkt ist doch, dass man
von seiner Arbeit auch leben können muss. Ein Wettlauf
um die niedrigsten Löhne zulasten der Beschäftigten und
schlussendlich auch auf Kosten des Staates durch aufstockende Transferleistungen kann nicht hingenommen
werden. Aber genau in diese Richtung entwickelt sich
der Briefmarkt, denn viele Anbieter hatten nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts drastische Lohnsenkungen angekündigt. Als Konsequenz muss die Politik
ihre Schutzfunktion für Beschäftigte ernst nehmen Wettbewerb braucht soziale Leitplanken.
Ich fordere die Bundesregierung auf, zügig eine neue
Post-Mindestlohnverordnung zu erlassen, mit der faire
Arbeitsbedingungen im Hinblick auf Löhne, Urlaubsansprüche und Arbeitszeit garantiert werden. Die FDP
muss endlich ihre permanente Blockadehaltung bei Mindestlöhnen aufgeben und endlich auch die Beschäftigten
mit niedrigen Einkommen in den Mittelpunkt stellen.
Allerdings bringt selbst der beste Mindestlohn nichts,
wenn er nicht kontrolliert wird und sich die Unternehmen nicht dran halten. Zu einer Post-Mindestlohnverordnung gehört daher unbedingt auch die Aufstockung
der Kontrolleure beim Zoll. Schon heute ist offensichtlich,
dass die Kontrolle der acht ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommenen Branchen nicht gewährleistet
werden kann. Der Pflege-Mindestlohn, der am 1. August
in Kraft tritt, wird die Kontrolleure - bei gegebener Personalausstattung - zweifellos überfordern.
Natürlich ist auch die Bundesnetzagentur gefragt, die
Einhaltung der wesentlichen Arbeitsbedingungen in der
Branche zu überprüfen, bevor eine Lizenz erteilt wird.
Sie hat nach § 6 Abs. 3 Nr. 3 Postgesetz den Unternehmen unverzüglich die Lizenz zu versagen, wenn die wesentlichen Arbeitsbedingungen erheblich unterschritten
werden. Insofern sind die Fragen in der Großen Anfrage
der SPD nach der Kontrolle der Arbeitsbedingungen
durch die Bundesnetzagentur absolut berechtigt und
notwendig.
Ich appelliere an die Regierung - setzen Sie sich endlich mit der Situation auf dem Briefmarkt auseinander!
Handeln Sie endlich! Erlassen Sie erneut eine Post-Mindestlohnverordnung, und sorgen Sie dafür, dass es wenigstens für alle Branchen, die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz stehen, verbindliche Mindestlöhne gibt, die
auch ausreichend kontrolliert werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Änderungen im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon
- Drucksache 17/2394 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Hartmann ({1})
Alexander Ulrich
Volker Beck ({2})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch hier die Reden zu Protokoll genommen, und
zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Bernhard Kaster, Dr. Eva Högl, Jörg van Essen,
Alexander Ulrich und Jerzy Montag.
Der Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember 2009 in
Kraft getreten. Bundestag und Bundesrat haben im September 2009 in Deutschland die Voraussetzungen für die
Ratifizierung des Vertrages von Lissabon geschaffen.
Dieser Vertrag stärkt besonders die Rechte der nationalen Parlamente. Diese stärkere Mitwirkung des Deutschen Bundestages in europäischen Angelegenheiten
haben wir bereits in den sogenannten Begleitgesetzen
zum Lissabonner Vertrag zur Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch den Bundestag und den
Bundesrat beschlossen.
Für alle Fraktionen war es selbstverständlich, diese
gravierenden europapolitischen Änderungen auch in einer Vielzahl von Regelungen unserer Geschäftsordnung
entsprechend umzusetzen. Die Geschäftsordnung ist die
gemeinsame Arbeitsgrundlage für uns als Volksvertretung. Der Begriff „Geschäftsordnung“ gibt eigentlich
gar nicht so richtig wieder, wie bedeutsam es ist, dass
ein Parlament sich selbst in einem großen Einvernehmen gemeinsame Arbeitsregeln gibt. Auch unabhängig
von noch eingebrachten Änderungsanträgen möchte ich
daher die Gelegenheit nutzen, allen Fraktionen für die
sehr umfangreichen und konstruktiven Beratungen im
Geschäftsordnungsausschuss zu danken, die wie auch
jene im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und allen weiteren mitberatenden Aus5774
schüssen von dem Ziel geprägt waren, zu einvernehmlichen Ergebnissen zu kommen.
Bei aller Kritik, die die Politik oft sehr pauschal bei
allen denkbar strittigen Themen trifft, muss an dieser
Stelle auch einmal betont werden, dass die Gemeinsamkeit aller Demokraten bei der Festlegung auch der parlamentarischen Spielregeln hier aufs Beste funktioniert
hat.
Die große Palette der notwendigen Änderungen - ob
bei den plenarersetzenden Möglichkeiten des Europaausschusses, ob bei der Subsidiaritätsrüge oder Subsidiaritätsklage, ob bei Fragen zur Handhabung der Prozessführung beim Europäischen Gerichtshof -, all dies
erforderte viel unterstützende Zuarbeit durch das Sekretariat des Geschäftsordnungsausschusses. Das, was dieses Sekretariat angesichts des Umfangs der Geschäftsordnungsänderungen geleistet hat, übersteigt das sonst
Übliche bei weitem. Deshalb sei an dieser Stelle ein großer Dank an Herrn Dr. Paschmanns und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übermittelt. Sie haben uns Parlamentariern sehr geholfen.
Die Europäische Union, mehr noch die europäische
Politik, steht immer wieder auch in der Kritik der Bürgerinnen und Bürger. Trotzdem ist festzuhalten: Die Europäische Union und ihre Entwicklung in den letzten Jahren ist im Empfinden der Menschen, beispielsweise auch
in der Lebensweise und Lebenswirklichkeit der jungen
Leute, zu einer nicht mehr wegzudenkenden Selbstverständlichkeit geworden - ein wirklicher Glücksfall unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.
Die europäische Politik muss vor allem freilich immer auch die Menschen mitnehmen. Der Lissabonner
Vertrag und die darin verankerte Subsidiarität mit der
gestärkten Mitwirkung der nationalen Parlamente leistet dazu einen wesentlichen Beitrag.
Diese Möglichkeiten des Lissabonner Vertrags müssen wir nun in der parlamentarischen Praxis nutzen.
Das geht aber nur, wenn wir auch arbeitstechnisch, verfahrensmäßig, entsprechend gut gerüstet sind. In der
Neufassung unserer Geschäftsordnung standen daher
diese Fragen im Mittelpunkt. Wir sind dabei geblieben:
Einerseits bleiben die jeweiligen Fachausschüsse bei
den verschiedenen Themen federführend, jedoch erhält
der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union entsprechend der Verfassung und den Begleitgesetzen auch plenarersetzende Befugnisse.
Zwar können die Entscheidungen im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik und beim sogenannten Notbremsemechanismus an den EU-Ausschuss delegiert werden. Wir haben jedoch in den
Beratungen letztlich von dieser Möglichkeit ganz bewusst nicht Gebrauch gemacht. Es steht doch gerade
hier das gesamte Parlament in einer besonderen Verantwortung, wie sie etwa auch im Parlamentsbeteiligungsgesetz zum Ausdruck kommt.
Neu in die Geschäftsordnung aufgenommen wurden
Bestimmungen zur Subsidiaritätsklage und Subsidiaritätsrüge. Mit der Subsidiaritätsrüge kann der Bundestag
binnen acht Wochen nach Übermittlung eines Entwurfs
eines europäischen Rechtssetzungsaktes gegenüber Rat,
Europäischem Parlament und Kommission darlegen,
weshalb dieser Entwurf nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Es handelt sich um ein sehr notwendiges „Frühwarnsystem“, das es uns ermöglicht, zu
Beginn des Gesetzgebungsverfahrens auf Bedenken hinzuweisen.
Die Durchführung einer Subsidiaritätsklage des
Deutschen Bundestages vor dem Europäischen Gerichtshof haben wir auf den Ausschuss für Europäische
Angelegenheiten übertragen. Dafür sprachen besonders dessen Erfahrung im Hinblick auf das Thema Subsidiarität und die Tatsache, dass nur dieser Ausschuss
plenarersetzende Kompetenzen hat. Zudem wird so auch
ein einheitliches Verfahren vor dem EuGH sichergestellt.
Beachtenswert: Für die Subsidiaritätsklage wird
durch die Möglichkeit für ein Viertel der Mitglieder des
Bundestages, eine solche Klage auch gegen den Willen
der großen Mehrheit durchzusetzen, ein neues Minderheitenrecht in der Geschäftsordnung verankert.
Letztlich wird die Praxis zeigen, ob die notwendige
Verzahnung europäischer und nationaler Politik auch
im Alltag auf der Grundlage dieser Geschäftsordnung
gelingt.
Der Lissabonner Vertrag und diese Geschäftsordnung ermöglichen es, dass europäische Themen viel
stärker als bisher über den Deutschen Bundestag der
deutschen Öffentlichkeit zugeführt werden. Wir müssen
die Möglichkeiten nutzen, europäische Themen insbesondere auch unter dem Blickwinkel der Subsidiarität in
unserem Parlament zu behandeln. Mit den vielfältigen
Änderungen der Geschäftsordnung haben wir uns damit
die Arbeitsgrundlage geschaffen.
Der Vertrag von Lissabon wird sehr zu Recht als ein
„Vertrag der Parlamente“ bezeichnet. Die neu formulierten Rechte für die nationalen Parlamente sind eine
große Chance und eine wichtige Verantwortung des
Deutschen Bundestages. Wir ergreifen diese Chance und
nutzen unsere Rechte im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsprozesses.
Durch den Vertrag von Lissabon und die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
zum Vertrag von Lissabon formuliert hat, sind eine
Reihe von wichtigen Änderungen unserer Verfahren im
Deutschen Bundestag notwendig geworden.
Teilweise ergeben sich diese Änderungen aus dem Integrationsverantwortungsgesetz und dem Gesetz über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen
Union, mit denen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden. Mit der Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages passen wir
unsere parlamentarischen Verfahren und Abläufe bei
der Behandlung europäischer Dossiers an diese neuen
Grundlagen an. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich
an dieser Debatte von Beginn an engagiert beteiligt und
Zu Protokoll gegebene Reden
frühzeitig und fortlaufend eigene Vorschläge eingebracht. Wir begrüßen das nun vorliegende Ergebnis.
Mit der Novellierung wird sowohl der deutlich
gestärkten Rolle des Deutschen Bundestages Rechnung
getragen als auch der verantwortungsvollen und selbstbewussten Ausübung seiner Rechte. Wir haben präzise
Regelungen formuliert, mit denen unser Recht auf Information, unsere Beteiligung an europäischen Rechtsetzungsvorhaben sowie unsere Möglichkeit, Stellungnahmen abzugeben, in unserer täglichen Parlamentspraxis
umfassend verwirklicht und gut umgesetzt werden.
Besonders hervorheben möchte ich die Subsidiaritätsprüfung. Hier haben die nationalen Parlamente eine
neue, besondere Aufgabe im Verfahren der europäischen
Gesetzgebung. Die nationalen Parlamente werden damit
zum Akteur auf der europäischen Ebene.
Im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung können die nationalen Parlamente ihre Bedenken frühzeitig vortragen, was sogar dazu führen kann, dass Vorschläge für
europäische Rechtsetzung überarbeitet werden müssen.
Diese starke Stellung, die wir als Deutscher Bundestag
damit erhalten haben, müssen wir nutzen und wirksam
einsetzen. Dafür benötigen wir die geeigneten Verfahren
der internen Organisation unserer Arbeit und unserer
Abläufe, die wir mit der geänderten Geschäftsordnung
formulieren. Diese Änderungen tragen dazu bei, dass
wir unsere Rechte wirksam wahrnehmen und dass darüber hinaus Europa in der täglichen Arbeit des Deutschen Bundestages eine größere Rolle einnimmt. Das
begrüße ich ganz ausdrücklich.
Bezogen auf die Ausschüsse gilt dies nicht nur für den
Europa-Ausschuss, sondern auch und gerade für die
Fachausschüsse. Es ist richtig, dass wir uns entschieden
haben, dass die Fachausschüsse federführend bei der
Subsidiaritätsprüfung sind. Sie sind der richtige Ort, um
aus fachpolitischer Sicht die Kriterien der Subsidiarität
zu prüfen.
Diese gestiegene Bedeutung europäischer Gesetzgebung spiegelt sich in der hervorgehobenen Stellung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union wider, die wir in den Änderungen der Geschäftsordnung formuliert haben. Deshalb freue ich mich, dass
der Vorschlag der SPD aufgegriffen wurde und wir uns
darauf verständigen konnten, dass im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung, wenn beabsichtigt ist, die Verletzung
des Grundsatzes der Subsidiarität zu rügen, der EuropaAusschuss unverzüglich zu informieren und ihm zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist. Das
sichert den europäischen Blick auf die Subsidiaritätsprüfung, der richtig und wichtig ist.
Auch die Zuständigkeit des Europa-Ausschusses für
die Subsidiaritätsklage ist eine richtige Entscheidung.
Hinweisen möchte ich bei dieser Gelegenheit darauf,
dass wir bei der Subsidiaritätsprüfung die Frist von acht
Wochen einhalten müssen. Das stellt für uns und unsere
Abläufe im Deutschen Bundestag durchaus eine Herausforderung dar. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir in unserer geänderten Geschäftsordnung darauf hinweisen,
dass die Ausschüsse bei ihrer Beschlussfassung über die
Subsidiaritätsprüfung die auf der Ebene der Europäischen Union maßgeblichen Fristvorgaben berücksichtigen.
Ich hätte mir hier auch eine stärkere Verpflichtung
der Ausschüsse vorstellen können, nämlich dass Anträge
auf Erhebung der Subsidiaritätsrüge unverzüglich auf
die Tagesordnung der damit befassten Ausschüsse zu
setzen und zu behandeln sind. Dies wäre vor dem Hintergrund, dass die Subsidiaritätsprüfung vor allem für
die Fraktionen, die keine Mehrheit im Deutschen Bundestag haben, ein wichtiges Instrument ist, eine sinnvolle Regelung gewesen. Ich hoffe daher, dass wir die
formulierte Pflicht zur Berücksichtigung der europäischen Fristvorgaben in diesem Sinne auslegen und in
den Ausschüssen entsprechend verfahren. Ansonsten
könnte durch Nichtaufsetzung oder Absetzung eines Tagesordnungspunktes eine wichtige Debatte über die
Subsidiarität verhindert werden. Das kann nicht im Interesse des Deutschen Bundestages sein.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion hätten uns darüber
hinaus gewünscht, dass plenarersetzende Beschlüsse
des Europaausschusses auch im Rahmen des sogenannten Notbremsemechanismus gelten. Sinn und Zweck der
Notbremse ist es, bei Bedenken wegen der Auswirkung
von EU-Rechtsetzungsakten auf grundlegende Aspekte
der nationalen Strafrechtsordnung oder auf wichtige Aspekte der sozialen Sicherungssysteme eines Mitgliedstaates das Gesetzgebungsverfahren zu unterbrechen
und den Europäischen Rat anzurufen. Der Bedarf, dieses Instrument anzuwenden, kann kurzfristig auch in der
sitzungsfreien Zeit wegen der fortlaufenden Verhandlungen im Rat auftreten. Der Bundestag hat aufgrund des
Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts die Befugnis erlangt, die Bundesregierung zur Anwendung des
Notbremsemechanismus anzuweisen. Das Urteil ist in
dieser Hinsicht unmissverständlich und auch eine klare
Verpflichtung, spricht es doch vom „notwendigen Maß
demokratischer Legitimation“. Gerade für den Notbremsemechanismus wäre deshalb aus unserer Sicht die
Möglichkeit eines plenarersetzenden Beschlusses notwendig gewesen. Es ist schade, dass wir uns mit diesem
Vorschlag bei den Beratungen der Änderung der Geschäftsordnung nicht haben durchsetzen können.
Fazit: Mit den Änderungen der Geschäftsordnung
stärken wir die Europakompetenz des Deutschen Bundestages, werden unserer Rolle als wichtiger Akteur bei
der Gesetzgebung auf europäischer Ebene gerecht und
tragen dazu bei, dieses in unserer parlamentarischen
Praxis zu verwirklichen und umzusetzen - ein wichtiger
Schritt hin zu mehr Europa im Deutschen Bundestag. Ich
bin fest davon überzeugt, dass die formulierten Regelungen sich in unserer täglichen Arbeit als tauglich erweisen und wir damit eine gute Grundlage für die Beratung
und Behandlung europäischer Dossiers haben.
Nach dem Inkrafttreten der Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon haben wir uns im 1. Ausschuss viel
Zeit genommen, um die umfangreichen Änderungen der
Geschäftsordnung intensiv und ausführlich zu diskutieZu Protokoll gegebene Reden
ren. Über ein halbes Jahr lang haben wir gute Debatten
im Ausschuss geführt, und ich bin froh, dass wir unseren
Zeitplan einhalten konnten, die Beschlussempfehlung
und den Bericht zur Änderung der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages im Hinblick auf den Vertrag
von Lissabon dem Plenum noch vor der Sommerpause
vorzulegen. Für die interessanten und konstruktiven
Diskussionen möchte ich mich bei den Kollegen ebenso
bedanken wie beim Ausschusssekretariat für die hervorragende Vorbereitung und Begleitung des Diskussionsprozesses.
Durch das Integrationsverantwortungsgesetz sind
neue Rechte und Aufgaben des Bundestages in Bezug auf
die Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung festgeschrieben worden. Das jeweilige Verfahren hier im
Bundestag ist bislang noch nicht geregelt. Dies gilt besonders für die Erhebung der Subsidiaritätsrüge und der
Subsidiaritätsklage. Außerdem war die Frage zu klären,
welche Aufgaben der Bundestag im Plenum behandelt
und welche durch die Ausschüsse, insbesondere den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union, erledigt werden können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein sehr
ausgewogenes Regelwerk geschaffen haben, das sowohl
die Rolle des Plenums als auch die Rolle der Ausschüsse
berücksichtigt. Auch im Hinblick auf die Wahrung der
Rechte der einzelnen Fraktionen sind wir zu einem guten
Ergebnis gekommen. Lassen Sie mich auf drei Aspekte
genauer eingehen:
Erstens. Es ist richtig, dass ein Teil der Aufgaben plenarersetzend an den EU-Ausschuss delegiert wird. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung und die Vielfalt der
Zuständigkeiten des europäischen Gesetzgebers ist es
unverzichtbar, dass der Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union jederzeit - auch kurzfristig handlungsfähig ist. Dieser Gedanke liegt auch Art. 45
Grundgesetz zugrunde. Wichtig ist aber, dass diese
Übertragung nicht ausnahmslos gilt. Dies ist selbstverständlich nur da möglich, wo die Aufgabenwahrnehmung nach dem Integrationsverantwortungsgesetz nicht
durch Gesetz erfolgt. Denn ein Gesetz müssen wir im
Plenum verabschieden.
Außerdem haben wir Ausnahmen im Bereich der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und beim
sogenannten Notbremsemechanismus nach § 9 Integrationsverantwortungsgesetz festgeschrieben. Der
Notbremsemechanismus ermöglicht es dem Deutschen
Bundestag, die Befassung des Europäischen Rates mit
einem Thema zu fordern, und ist auf besonders sensible
Politikfelder wie das Strafrecht und die soziale Sicherung begrenzt. Ein solch scharfes Schwert sollte dem
Plenum vorbehalten bleiben. In Fällen der Eilbedürftigkeit ist es weiterhin möglich, im Einzelfall den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
mit der Wahrnehmung dieses Rechts zu betrauen. Nicht
zuletzt ist es unverzichtbar, dass der Bundestag über
eine Rückholbefugnis für seine Entscheidung gegenüber
dem EU-Ausschuss verfügt.
Die Position der Fachausschüsse wird dadurch gestärkt, dass eine stillschweigende Wahrnehmung der
Rechte des Deutschen Bundestages durch den EU-Ausschuss mit einem Widerspruchsrecht der beteiligten Ausschüsse verbunden ist.
Zweitens. Über die Behandlung der Subsidiaritätsrüge haben wir im Ausschuss lange diskutiert. Der Umstand, dass die Grünen dazu einen Änderungsantrag
eingebracht haben, lässt erahnen, dass wir in diesem
Punkt keine Einigkeit erzielen konnten. Entgegen der
Forderung der Grünen ist es aber richtig, die frühzeitige
Beteiligung des EU-Ausschusses nicht nur an einen Antrag einer Fraktion auf Erhebung der Subsidiaritätsrüge
zu binden; denn es ist nicht allein eine Fraktion, die eine
Subsidiaritätsrüge initiieren kann. Eine solche Initiative
kann zum Beispiel auch von einem Ausschuss ausgehen.
Dies berücksichtigt die gewählte Formulierung.
Genauso sollte es auch den Ausschüssen überlassen
bleiben, wann sie einen Antrag auf Erhebung einer Subsidiaritätsrüge behandeln. Die Subsidiaritätsrüge ist ein
Instrument des gesamten Bundestages, sodass für einen
Eingriff in die Geschäftsordnungshoheit der Ausschüsse
kein Bedarf besteht. Die Ausschussmehrheit wäre auch
in der Lage, einen gestellten Antrag abzulehnen. Dann
muss er aber auch entscheiden können, wann er sich mit
dem Antrag befasst.
Für die von den Grünen begehrte Änderung besteht
also kein Bedürfnis.
Drittens. Einen sehr ausgewogenen Kompromiss haben wir in der Diskussion um die Subsidiaritätsklage erzielt. Die Erhebung einer Subsidiaritätsklage ist nach
Art. 23 Grundgesetz als Minderheitenrecht ausgestaltet.
Es reicht, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestages die Erhebung der Subsidiaritätsklage verlangt.
Gleichzeitig ist aber der gesamte Bundestag Partei des
Klageverfahrens. Dies kann zu widerstreitenden Interessen, insbesondere bei der Benennung des Prozessbevollmächtigten, bei der Formulierung der Klageschrift und
der Durchführung des Klageverfahrens führen. Daher
müssen die Verfahrensregeln der Geschäftsordnung so
ausgestaltet sein, dass sie Interessen der antragsberechtigten Minderheit einerseits und die Interessen der Bundestagsmehrheit andererseits berücksichtigen. Ich
meine, dass wir diesen Konflikt sehr gut aufgelöst haben.
Der vorliegende Entwurf verlangt, dass bei der Benennung eines Prozessbevollmächtigten Einvernehmen
zwischen den Antragstellern und dem Bundestag erzielt
werden muss, um der Gefahr zu begegnen, dass die Bundestagsmehrheit einen Prozessbevollmächtigten benennt, der die Subsidiaritätsklage nicht hinreichend befördert, und damit das Minderheitenrecht leerläuft.
Im Hinblick auf die Formulierung der Klageschrift
sowie die Durchführung des Klageverfahrens erscheint
es dagegen aus Praktikabilitätsgründen kaum möglich,
in jedem Punkt Einvernehmen herzustellen. Im Gegenteil: Auch hier droht eine Blockade des Verfahrens, wenn
Einigkeit nicht erzielt wird. Daher ist es sachgerecht, in
diesen Punkten sicherzustellen, dass die Antragsteller
angemessen beteiligt werden, die Federführung aber
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Bundestag als Partei der Subsidiaritätsklage zu
übertragen.
Mit dem Ergebnis der Arbeit im 1. Ausschuss können
wir sehr zufrieden sein. Nach Ihrer Zustimmung kann
mit diesen Änderungen auch in der parlamentarischen
Praxis gearbeitet werden, damit wir die Rechte des
Deutschen Bundestages aus den Begleitgesetzen zum
Vertrag von Lissabon hier im Hause lebendig und umfangreich wahrnehmen können. Ich freue mich, dass wir
heute dafür die Grundlage in unserer Geschäftsordnung
legen.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum
Vertrag von Lissabon sind die Kontroll- und Mitentscheidungsrechte des Bundestags in EU-Angelegenheiten bestätigt und gestärkt worden. Das ist auch Ergebnis
unserer kritischen Politik und unserer Verfassungsklage.
Wir sehen das Urteil selbst, die auf seiner Grundlage
neu geschaffenen Begleitgesetze und die Änderung der
Geschäftsordnung insgesamt als Erfolg unserer Politik.
Die anderen Fraktionen hatten weniger Rechte des Bundestags gewollt oder sich doch damit zufrieden gegeben.
Wenn heute wesentliche Änderungen der Geschäftsordnung beschlossen werden, dient das nach den Begleitgesetzen der Umsetzung des Lissabon-Urteils. Wir
werden den Vorschlägen des Geschäftsordnungsausschusses zustimmen. Über ein Jahr nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts ist es an der Zeit, ihre
Inhalte in die Regeln über die tagtägliche parlamentarische Praxis umzusetzen. Daran wollen wir durch unser
Abstimmungsverhalten keinen Zweifel aufkommen lassen.
Unsere Zustimmung bedeutet allerdings nicht, dass
wir die zur Abstimmung stehende Vorlage für ideal, für
nicht weiter zu verbessern halten. Wir hatten ja selbst
Änderungsanträge in die Ausschussberatungen eingebracht, die leider nicht berücksichtigt wurden. Bedenken
gegen einzelne der vorgeschlagenen Regelungen bestehen fort. Wenn wir der Vorlage gleichwohl zustimmen,
geschieht das in der sicheren Voraussicht, dass vor uns
eine Phase der praktischen Erprobung der neuen Regelungen liegt. Dass sich alle Regelungen in der Praxis
voll bewähren werden, glauben wir nicht. Wir sind deshalb sicher, dass wir noch vor Ende dieser Wahlperiode
erneute Änderungen vornehmen werden - als Konsequenz aus den zu erwartenden praktischen Erfahrungen.
Und ich denke, das wird dann auch einvernehmlich geschehen.
Sicher werden wir das Verhältnis von federführenden
Ausschüssen und Europaausschuss im Zusammenhang
mit der Erhebung von Subsidiaritätsbeschwerde kritisch
überprüfen müssen. Dabei geht es zum einen um die
Achtwochenfrist des Lissabon-Vertrages und ihre optimale Nutzung durch Ausschüsse, Fraktionen und Plenum. Dabei ist immer auch zu bedenken, dass in dieser
Frist auch eine Koordinierung mit anderen mitgliedstaatlichen Parlamenten erfolgen muss.
Noch wichtiger ist die Frage, wie wir als Bundestag
Stellungnahmen nach Art. 23 des Grundgesetzes rechtzeitig abgeben können, wenn sich die Entscheidungslagen auf EU-Ebene manchmal fast täglich ändern. Neuestes Beispiel ist hier die neue Verabredung zu SWIFT,
in der Europol zur Datenschutzbehörde erklärt wird.
Die Bundesregierung stimmt dem zu und wir können das
im Plenum vorher nicht einmal diskutieren. Da werden
wir ganz sicher noch weitere Änderungen unserer eingefahrenen Verfahrensweisen konzipieren und durchsetzen
müssen.
Wenn wir als Parlament wirklich Einfluss auf wesentliche Entscheidungen der EU-Organe nehmen wollen,
wird sich noch einiges andere ändern müssen. Das gilt
nicht nur für den Bundestag insgesamt. Das gilt auch für
die Fraktionen. Auch für meine eigene.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch darauf
hinweisen, dass wir in der Praxis auch die Begleitgesetze auf den Prüfstand stellen müssen. Wir werden immer kritisch, auch selbstkritisch, prüfen müssen, ob sie
sich als praktikabel erweisen und ob sie den Anforderungen des Lissabon-Urteils in der Praxis wirklich umfassend gerecht werden.
All diese Bemerkungen ändern aber nichts daran:
Das Lissabon-Urteil, die Begleitgesetze und auch die
jetzt abzustimmenden Vorschläge zur Änderung der Geschäftsordnung sind wichtige und im Wesentlichen richtige Schritte in Richtung auf eine demokratischere Europäische Union. Wir haben als Fraktion Die Linke nicht
unerheblichen Anteil daran. Heute werden wir den zur
Abstimmung stehenden Vorschlägen zustimmen. Wir
werden aber weiter daran arbeiten, dass wir auf diesem
Weg zu einem demokratischeren Europa noch weiter vorankommen.
Durch den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen
Vertrag von Lissabon ist die Europäischen Union demokratischer, transparenter und effizienter geworden. Der
Vertrag hat einige Änderungen mit sich gebracht, und
insbesondere aus dem Blickwinkel des Bundestages begrüßen wir, dass die nationalen Parlamente wesentlich
intensiver in den europäischen Rechtsetzungsprozess
mit eingebunden werden.
So erhalten die Parlamente nun die Möglichkeit, Gesetzgebungsvorschläge direkt auf ihre Vereinbarkeit mit
dem Subsidiaritätsprinzip zu untersuchen und bei Verletzung der Subsidiarität dies direkt zu rügen. Wird das
Gesetz dennoch in der Form erlassen, so können die
Parlamente Klage vor dem Europäischen Gerichtshof
erheben. Bei uns kann dies sogar eine Minderheit von
25 Prozent erreichen. Damit diese Rechte aber auch ihre
volle Wirksamkeit entfalten können, müssen sie praktikabel umgesetzt werden und dürfen nicht durch die Art
und Weise des Verfahrens behindert oder gar unmöglich
gemacht werden.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat nach intensiven Diskussionen und
unter enger Einbindung des Ausschusses für die AngeleZu Protokoll gegebene Reden
genheiten der Europäischen Union eine Beschlussempfehlung und einen Bericht verabschiedet, der die durch
den Lissaboner Vertrag notwendigen Änderungen der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vornimmt.
Die nun gefundenen Lösungen werden den Bundestag
ein gutes Stück europafähiger machen. Auf der anderen
Seite hätten wir uns noch eine weitere Stärkung und Klarheit der Verfahrensregelungen insbesondere hinsichtlich
der Erhebung der Subsidiaritätsrüge gewünscht.
Die Regelung in § 93 a Abs. 1 Satz 2 GO-BT zur Erhebung der Subsidiaritätsrüge reicht unseres Erachtens
nicht aus. Dort wird Folgendes geregelt: Wird beabsichtigt, insoweit eine Verletzung zu rügen, ist unverzüglich
der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu informieren, um diesem zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Es bleibt aber unklar, was mit „wird beabsichtigt“
genau gemeint ist. Ist hierfür bereits die Absicht eines
einzelnen Abgeordneten ausreichend, oder muss eine
Fraktion beabsichtigten oder der federführende Ausschuss? Es bleibt auch im Unklaren, inwieweit sich
diese Absicht bereits manifestiert haben muss. Wird erst
beabsichtigt, wenn bereits ein Antragstext schwarz auf
weiß vorliegt, oder reicht es bereits, kundzutun, eine solche Rüge erheben zu wollen? Leider wurde hier die
Möglichkeit verpasst, deutlich zu machen, zu welchem
Zeitpunkt konkret der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu befassen ist und welchen
Konkretisierungsgrad die Rüge zu diesem Zeitpunkt haben muss.
Die Grünen haben daher folgenden Änderungsantrag
eingebracht:
Wird ein Antrag auf Erhebung der Subsidiaritätsrüge eingereicht, so ist dieser dem Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union unverzüglich zuzuleiten, um ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Hierdurch würde die vorstehend dargestellte Unsicherheit behoben, und es würde dem Bundestag erleichtert, die knapp bemessene Frist von acht Wochen zur Erhebung der Subsidiaritätsrüge einzuhalten.
Einen zweiten, nicht weniger wichtigen Punkt betrifft
unser zweiter Änderungsantrag:
Anträge auf Erhebung der Subsidiaritätsrüge sind
auf Antrag einer Fraktion unverzüglich auf die Tagesordnung der damit befassten Ausschüsse zu setzen und zu behandeln.
Hiermit wollen wir sicherstellen, dass Anträge auf
Erhebung der Subsidiaritätsrüge innerhalb der achtwöchigen Frist auch tatsächlich behandelt werden. Es geht
dabei keinesfalls um die Schaffung eines weiteren Minderheitenrechts oder gar die Möglichkeit, die Erhebung
der Subsidiaritätsrüge zu erzwingen, sondern lediglich
darum, dass sich die nach § 93 a Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zuständigen
Ausschüsse auch mit einem Antrag auf Erhebung der
Subsidiaritätsrüge fristgerecht inhaltlich auseinandersetzen.
Wir mussten nämlich die leidvolle Erfahrung machen,
dass ein solcher Antrag der Fraktion auf Erhebung der
Subsidiaritätsrüge in der letzten Sitzung des Rechtsausschusses vor Ablauf der Subsidiaritätsfrist von der
Mehrheit von der Tagesordnung genommen wurde, und
das ohne Begründung. Es kam daher nicht einmal zu einer inhaltlichen Debatte über den Antrag und den zugrunde liegenden Richtlinienentwurf, von einer Entscheidung ganz zu schweigen.
Eine solche Nichtbehandlung ist inakzeptabel und
wird auch dem Geiste des Lissabon-Vertrags nicht gerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Lissaboner Vertrag mahnend darauf hingewiesen, dass der Bundestag die ihm zustehenden Rechte
nutzen muss. Voraussetzung dafür ist aber auch die inhaltliche Debatte und Entscheidung zu europäischen
Themen.
Mit der Zustimmung zu unseren Anträgen würden Sie
der Wirksamkeit des Lissabon-Vertrags und der Bedeutung der Rechte des Deutschen Bundestags im europäischen Rechtsetzungsprozess zweifellos dienen. Darüber
hinaus stimmen wir Grüne den Änderungen der Geschäftsordnung zu.
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/2394.
Zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, über den wir zuerst abstimmen. Wer
stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/2461? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2394? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden
aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren
- Drucksache 17/2416 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Johannes Selle, Martin Dörmann, Claudia Bögel, Katrin
Kunert und Tabea Rößner.
Uns liegt ein Antrag der Fraktion Die Linke vor mit
dem Anliegen, die Bundesregierung möge vollumfänglich Kostenersatz leisten. Dieser Antrag ist typisch für
diese Fraktion; denn er fragt nicht danach, ob die Kosten auch notwendigerweise entstehen. Das Problem,
welches hier angesprochen wird, verdient es allerdings
schon, behandelt zu werden. Es wurde durch die Bundesregierung am 4. März 2009 die Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung verändert. Dies geschah als
Anpassung an die Beschlüsse der Weltfunkkonferenz
2007 der Internationalen Telekommunikationsunion.
Mit der Verordnung wird unter anderem der bisher
dem Rundfunkdienst zugewiesene Frequenzbereich
790 bis 862 Megahertz dem Mobilfunkdienst zugewiesen. Die sogenannte digitale Dividende, nämlich der Zugewinn an Nutzungsmöglichkeiten des genannten Frequenzspektrums aus der Umstellung von analogem auf
digitales terrestrisches Fernsehen für Internetbreitbandversorgung zu nutzen, wollen wir als Koalitionsfraktionen vorantreiben.
Für die Entwicklung des ganzen Landes brauchen wir
schnellste Internetverbindungen im ganzen Land. Dies
können wir kurzfristig nur durch Mobilfunk erreichen.
Gerade in den letzten Wochen habe ich eine Kampagne
mit diesem Inhalt in Thüringen unterstützt. Die kommunalen Vertreter, die Privatbürger und die regionale Wirtschaft erwarten, dass der ländliche Raum Perspektiven
behält. Ohne das Angebot schneller Datenverbindungen
im ländlichen Raum werden sich demografische Tendenzen noch schneller durch Abwanderung verschärfen.
Solche Datenverbindungen lassen sich durch die Frequenzen herstellen. Die genannten Frequenzen werden
durch Allgemeinzuteilung aktuell für Anwendungen der
drahtlosen Produktionstechnik - sogenanntes Professional Wireless Microphone System abgekürzt PWMS - auf
sekundärer Basis mit genutzt, zum Beispiel bei drahtlosen Mikrofonen im Veranstaltungsbereich und bei der
Filmproduktion.
Allgemeinzuteilung - das war den Nutzern bekannt ist eben nicht die Zusicherung störungsfreien Betriebs,
wie es aus dem Antrag der Linken zu entnehmen ist.
Es ist davon auszugehen, dass die bei der Versteigerung erfolgreichen Unternehmen kurzfristig mit dem
Ausbau ihrer Funknetze beginnen werden und dadurch
der Betrieb zunehmend gestört werden könnte. Wegen
der bevorrechtigten Frequenznutzung im Mobilfunk
konnte die Allgemeinzuteilung nicht verlängert werden.
Im Hinblick auf die Frequenznutzungsbedingungen
der drahtlosen Mikrofonanwendungen gelten die bisherigen Regelungen der Allgemeinzuteilung selbstverständlich auch bis zu deren Ablauf am 31. Dezember
2015 weiter.
Eine Verlagerung der Nutzung in alternative Frequenzbereiche ist vorbereitet. Die Bundesnetzagentur
hat - und das dürfte auch der Fraktion Die Linke bekannt sein - bereits Alternativfrequenzen zur Verfügung
gestellt. Diese wurden am 3. März 2010 im Amtsblatt
der Bundesnetzagentur veröffentlicht, Mitteilung
Nr. 107/2010.
Sollte eine Verlagerung der Frequenzen für Unternehmen notwendig werden, und sollten dadurch Kosten
entstehen, so gibt es die Zusage des Bundeswirtschaftsministeriums einer angemessenen Entschädigung.
Im Bundesministerium der Finanzen und im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ist zwischenzeitlich eine Arbeitsgruppe gebildet worden. Diese
entwickelt zurzeit eine Verwaltungsvorschrift mit dem
Ziel, die Höhe der anrechenbaren Kosten sowie das Verfahren zur Abwicklung festzulegen. Die betroffenen Frequenznutzer müssten sich über den zuständigen Dachverband, die Association of Professional Wireless
Production Technologies, APWPT - http://www.apwpt.org/
-, auf dem Laufenden über den Fortgang der Arbeiten
halten.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollumfänglicher Aktionismus.
Wir, die Mitglieder der Koalitionsfraktionen, werden
diese Problematik im Auge behalten und selbstverständlich darauf achten, dass tatsächlich entstehende und
nicht zu vermeidende Kosten angemessen entschädigt
werden.
Am 20. Mai 2010 konnte die Bundesnetzagentur die
Versteigerung von Frequenzen erfolgreich abschließen.
Sie betrafen die Bereiche 800 Megahertz, 1,8 Gigahertz,
2 Gigahertz und 2,6 Gigahertz. Alle vier großen Mobilfunkunternehmen in Deutschland haben Frequenzen ersteigert. Insgesamt beträgt der erzielte Erlös für die
Bundeskasse 4,38 Milliarden Euro. Viele TK-Unternehmen und Branchenverbände begrüßen das Ergebnis der
Auktion. So weist der BITKOM darauf hin, dass die flächendeckende Versorgung ganz Deutschlands mit
schnellen mobilen Internetzugängen einen großen
Schritt näher gerückt sei. Nun müssen die sich bietenden
Möglichkeiten konsequent genutzt werden. Die Versteigerung des bislang größten Frequenzpaketes in
Deutschland bietet große Chancen für den notwendigen
Netzausbau im Mobilfunk und eine bessere Breitbandversorgung auch in ländlichen Regionen.
Die Nachfrage nach mobilem Internet wächst stetig.
Die Mobilfunkunternehmen, die entsprechende Frequenzen ersteigert haben, können nun die Einführung
der LTE-Technologie, Long Term Evolution, vorantreiben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zudem bieten vor
allem die Frequenzen der sogenannten digitalen Dividende im Bereich von 790 bis 862 Megahertz die Möglichkeit, „weiße Flecken“ zu schließen und ländliche
Regionen endlich ans schnelle Internet anzuschließen.
Denn gerade in diesem Bereich ist der Ausbau aus technischen Gründen mit vertretbaren Kosten möglich.
In den Frequenznutzungsbedingungen wurden - auch
auf hartnäckiges Drängen der SPD - Ausbauverpflichtungen festgelegt, nach denen nun schrittweise in unterschiedlichen Stufen jeweils mindestens 90 Prozent der
Bevölkerung angeschlossen werden müssen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Nutzung der Frequenzen für die flächendeckende
Versorgung ganz Deutschlands mit schnellen mobilen
Internetzugängen ist ein wesentlicher Bestandteil der
Breitbandstrategie der Bundesregierung, die Anfang
letzten Jahres noch von der Großen Koalition verabschiedet wurde - und zwar insbesondere auf Anregung
und Drängen des damaligen Vizekanzlers Frank-Walter
Steinmeier. Ohne Nutzung der digitalen Dividende können die dort genannten Ziele nicht verwirklicht werden.
Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass durch die
neue Frequenznutzung auch Probleme entstehen, die es
zu lösen gilt. Betroffen sind hiervon insbesondere die
bisherigen Nutzer, die nun in andere Frequenzbereiche
„umziehen“ müssen. Zum einen entstehen den Rundfunksendernetzbetreibern, die bislang einen Teil der
ersteigerten Frequenzen genutzt haben, Kosten aus
technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder
Umrüstungen. Vor allem aber sind auch Kultur- und Bildungseinrichtungen betroffen, die den betroffenen
Frequenzbereich bislang für Datendienste und Funkmikrofone nutzen. Dabei geht es beispielsweise um Bühnenproduktionen, Fernsehaufzeichnungen und sonstige
öffentliche Veranstaltungen in Opernhäusern, Theatern
aber auch in Kirchen.
Die SPD hat stets darauf gedrängt, dass für alle Betroffenen angemessene Lösungen gefunden werden müssen. Wie ist insofern der Sachstand?
Als es im vergangenen Jahr im Bundesrat darum
ging, die Frequenzbereichzuweisungsplanverordnung zu
ändern, um die Voraussetzungen für die Auktion zu
schaffen, wurden zwischen dem Bund und den Ländern
Vereinbarungen getroffen. Der Bund sagte zu, die Kosten aus notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende
2015 bei denjenigen ergeben, die die Frequenzen
790 bis 862 Megahertz nutzen, in angemessener Form
zu tragen. Es darf nicht sein, dass betroffene Kommunen, Länder oder kulturelle Einrichtungen finanziell
überfordert werden. Deshalb haben auch die SPD-geführten Länder auf entsprechende Zusagen des Bundes
gedrängt. Zurzeit besteht aber noch große Unsicherheit
darüber, wie diese vom Bund umgesetzt werden.
Ich habe deshalb bereits am 18. Juni 2010 zwei
schriftliche Fragen an die Bundesregierung gerichtet,
um zu erfahren, wann und mit welchem Verfahren die
Bundesregierung die gegenüber den Bundesländern eingegangene Zusage umsetzen will und mit welchen Umstellungskosten die Bundesregierung rechnet. Leider
waren die Antworten der Bundesregierung hierauf zum
Teil unbefriedigend, insbesondere im Hinblick auf das
Verfahren und die Problematik der drahtlosen Mikrofone.
Bezüglich der Rundfunksendernetzbetreiber ist danach eine pauschale Erstattung der Kosten aus technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Umrüstungen angeboten worden. Die Erstattung sei unmittelbar
nach der vollzogenen Frequenzumstellung vorgesehen.
Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendiger
Umstellungskosten drahtloser Mikrofone erfolge - so
die Bundesregierung - in Abhängigkeit vom tatsächlichen Ausbau der neuen Mobilfunkanwendungen bis
maximal 2015 und solle durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entsprechend einer in Vorbereitung befindlichen Verwaltungsanweisung erfolgen.
Da die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung
und den Rundfunksendernetzbetreibern noch andauerten, sei eine Aussage zur Höhe der Erstattung der Kosten nicht möglich.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, es muss
nun zügig Klarheit und Planungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen werden. Insofern teilen wir im Kern
die Zielsetzung, die in dem Antrag der Fraktion Die
Linke zum Ausdruck kommt, den wir heute in erster Lesung beraten. Allerdings ist der Text an einigen Stellen
zu undifferenziert. Unser weiteres Vorgehen werden wir
davon abhängig machen, wie die nächsten Wochen von
der Bundesregierung dazu genutzt werden, die notwendige Klarheit herbeizuführen.
Sicher ist die Ermittlung der notwendigen Kosten
nicht unproblematisch. Das Verfahren zur Kostenerstattung muss gerecht und einfach zu handhaben sein. Dabei
brauchen alle Beteiligten aber nun möglichst schnell
Planungssicherheit. Die Länder haben einen vom Bund
zu speisenden Fonds ins Spiel gebracht, was mir prinzipiell sinnvoll erscheint. Streitig ist in erster Linie, welchen Betrag der Bund zum Ausgleich der Umstellungskosten bereitstellen sollte. Sicherlich sind die bisher
vom Bund genannten Zahlen, die sich im zweistelligen
Millionenbereich bewegen, deutlich zu gering. Ein höherer dreistelliger Millionenbetrag wird es in jedem
Falle werden müssen.
Es muss auch zügig geklärt werden, was im Einzelfall
unter welchen Kriterien ein angemessener Entschädigungsbetrag ist. Es muss transparent und nachvollziehbar ein Anspruch definiert werden, der durchaus in Abhängigkeit von den Ausbauplänen der Unternehmen und
damit den Umstellungsfolgen bestimmt werden kann.
Dabei kann aber nicht abgewartet werden, bis konkrete
Störungen eingetreten sind.
Es sei darauf hingewiesen, dass - jedenfalls indirekt ein Teil der Erlöse aus der Frequenzversteigerung für
die entstehenden Kosten genutzt werden kann. Zwar
können die Erlöse aus der Frequenzversteigerung aus
haushaltsrechtlichen Gründen nicht von vornherein
zweckgebunden werden. Dies ist jedoch nur ein formaler
Gesichtspunkt. Der Bund hat nun einmal bedeutende
Mehreinnahmen erzielt, durch die er finanziellen Handlungsspielraum gewonnen hat. Es ist naheliegend und
durchaus sachangemessen, wenn dies hier Berücksichtigung findet. Denn es geht ja gerade um die Folgen der
Versteigerung. Und der Bereich aus der digitalen Dividende, der betroffen ist, hat den Großteil der Erlöse ausgemacht, nämlich rund 3,5 Milliarden Euro.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf das
Thema Breitbandausbau zurückkommen. Der zügige
Ausbau mobiler Breitbandanwendungen ist richtig und
notwendig. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, dass auch der weitere Ausbau des Festnetzes - insbesondere der Glasfaserausbau - weiter vorangetrieben
werden muss, da dieser höhere Bandbreiten ermöglicht
und auch dort die Nachfrage stetig wächst. Die BundesZu Protokoll gegebene Reden
regierung fordern wir auf, die Breitbandstrategie konsequenter als bisher umzusetzen und weiterzuentwickeln.
Die anstehende Novellierung des Telekommunikationsgesetzes muss hierfür genutzt werden.
Ein Teil der erzielten Versteigerungserlöse in Höhe
von rund 4,4 Milliarden Euro, die in den Bundeshaushalt fließen, sollte für den Breitbandausbau genutzt werden. Die bereits bestehenden Förderprogramme dürfen
nicht gekürzt, sondern sollten aufgestockt werden. Sie
müssen jedoch noch zielgenauer als bisher ausgestaltet
werden. Bund und Länder sollten im Hinblick auf den
Infrastrukturausbau abgestimmt vorgehen und zusätzliche gesetzliche Regelungen ins Auge fassen, um einheitliche und bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa
für die Verlegung von Leerrohren und den Anschluss von
Gebäuden.
Schließlich kann die Bundesnetzagentur durch eine
innovations- und investitionsfreundliche Regulierung,
die Rechts- und Planungssicherheit ermöglicht, einen
entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die notwendigen zweistelligen Milliardenbeträge für den Glasfaserausbau auch tatsächlich investiert werden. Dazu gehört
beispielsweise, nun zügig die Bedingungen zu klären,
unter denen angesichts der hohen Kosten eine Kooperation von unterschiedlichen TK-Unternehmen ermöglicht
wird.
Sie sehen, es sind noch einige Baustellen zu bewältigen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, endlich konsequent zu handeln, sowohl beim Breitbandausbau als
auch zur angemessenen Entschädigung der notwendigen Umstellungskosten im Rahmen der digitalen Dividende.
Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der Fraktion Die Linke „Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren“.
Den Kulturschaffenden kommt in unserem Land eine
große, sehr wichtige Aufgabe zu. Zum einen gilt es, das
kulturelle Erbe Deutschlands zu bewahren, die Zukunft
in diesem Bereich zu gestalten und für eine maximale
Vielfalt zu sorgen.
Ein anderer wichtiger Aspekt in unserer Gesellschaft
sind die hohen Anforderungen an eine moderne Kommunikation. Weder Bürgerinnen und Bürger noch Unternehmen können in unserer Zeit auf schnelle Datenverbindungen bzw. -austausch verzichten. Hier liegt ein
hohes Wachstumspotenzial.
Der Bedarf an zusätzlichen Frequenzen für den mobilen Datenverkehr steigt rasant, und vonseiten der Bundesregierung wurde mit der Zielsetzung ihrer Breitbandstrategie dem Rechnung getragen. So wurden in diesem
Jahr vom 12. April bis zum 20. Mai 2010 unter anderem
der Frequenzbereich 790 bis 862 Megahertz versteigert.
Dies war ohne Zweifel ein wichtiger Punkt in der Weiterentwicklung der modernen Kommunikation.
Es ist aber gar keine Frage, dass durch diese Entwicklung die Kulturschaffenden unseres Landes nicht
benachteiligt werden dürfen. Deren Arbeit wird zwar zumeist nach dem ideellen Wert bemessen, aber natürlich
ist allen in der FDP-Fraktion, den Kulturpolitikern,
aber auch uns Wirtschaftspolitikern, mehr als bewusst,
dass es sich auch hier um einen immer härteren Wettbewerbsmarkt handelt und damit um Umsätze und Gewinne.
Mit 237 000 Unternehmen steht die Kultur- und
Kreativwirtschaft im Jahr 2009 für 7,4 Prozent der Gesamtwirtschaft. Auch im Bereich der Beschäftigtenzahlen sind positive Zahlen zu vermelden: 787 000 abhängig Beschäftigte und damit 1,8 Prozent mehr als im
Vorjahr erwirtschafteten 2009 einen Umsatz von
131,4 Milliarden Euro. Ich finde, diese Zahlen sprechen
für sich und können sich sehen lassen. Es ist also keine
Frage, dass diese Branche unterstützt werden muss!
Die Bundesregierung steht weiter uneingeschränkt zu
ihrer Erklärung vom 12. Juni 2009 gegenüber dem Bundesrat, die Kosten, die sich nachweislich aus der notwendigen Umstellung bis Ende des Jahres 2015 bei denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Megahertz
bisher nutzen, also Rundfunksendeunternehmen und Sekundärnutzer, insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen, in angemessener Form zu tragen.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium
der Finanzen ein Kostenerstattungskonzept entwickelt.
Kern der Überlegungen war, dass Kosten die in einem
direkten kausalen Zusammenhang mit dem Erfordernis
der Frequenzumstellung stehen, berücksichtigungsfähig
sind und erstattet werden sollen.
Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendiger Umstellungskosten für drahtlose Produktionstechniken erfolgt daher in Abhängigkeit vom tatsächlichen
Ausbau der neuen Mobilfunkanwendungen bis längstens
2015. Dies gilt insbesondere, wenn die Nutzungen der
drahtlosen Produktionstechniken durch die neuen Frequenznutzer im Frequenzband 790 bis 862 Megahertz
nachweislich gestört werden und Neuanschaffungen
notwendig werden.
Aus meiner Sicht lässt sich also festhalten, dass ein
ausgewogenes Gleichgewicht der Interessen und Ziele
der Kulturschaffenden auf der einen und der Kommunikationsbranche auf der anderen Seite gewährleistet ist.
Dieses Gleichgewicht gilt es, vonseiten der Politik
mit allen Kräften zu unterstützen, und ich sehe diesen
Punkt in dem Kostenerstattungskonzept erfüllt.
Kürzlich hat die Bundesnetzagentur Frequenzen in
den Bereichen 790 bis 862 Megahertz, 1,8 Gigahertz,
2 Gigahertz und 2,6 Gigahertz an verschiedene Mobilfunkunternehmen versteigert. Ermöglicht wurde die
Freigabe dieser Frequenzbereiche durch die Umstellung
der terrestrischen Fernsehübertragung von analog zu
digital. Es handelt sich bei den versteigerten Frequenzbereichen also um einen Teil der sogenannten digitalen
Zu Protokoll gegebene Reden
Dividende. Der Erlös, der durch die Versteigerung erzielt werden konnte, beträgt insgesamt 4,38 Milliarden
Euro.
Dieser Sachverhalt erweckt den Anschein, dass alle
Beteiligten gleichermaßen davon profitieren. Die Nutzerinnen und Nutzer von Smartphones und anderen mobilen Endgeräten werden in Zukunft über eine noch besseren Netzversorgung mit zum Teil deutlich erhöhter
Bandbreite verfügen, und der Bundeshaushalt kann ansprechende Einnahmen verbuchen. Allerdings tragen
die freigewordenen Frequenzen nicht dazu bei, die leider immer noch bestehenden weißen Flecken bei der
Breitbandversorgung zu schließen.
Bei näherem Hinsehen muss zudem festgestellt werden, dass die mit der Versteigerung verbundene Neuzuordnung von Frequenzen auch Folgekosten produziert.
Ein Teil der versteigerten Frequenzen wurde bisher in
der Kultur- und Medienlandschaft für drahtlose Mikrofonanlagen benutzt. Diese Einrichtungen sind nun infolge der Umwidmung dieses Frequenzbereichs gezwungen, ihre Anlagen umzurüsten und in manchen Fällen
komplett zu ersetzen. Konkret betroffen sind insbesondere Theater, Konzertsäle, Kirchen, Konferenzzentren,
viele Kleinunternehmen der Veranstaltungsbranche sowie Produzenten und Dienstleister aus der Film- und
Fernsehbranche.
Gerade bei Theatern ist häufig ein Komplettumbau
erforderlich. So rechnet beispielsweise allein das Theater Erfurt infolge der Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen mit Zusatzkosten in Höhe von etwa
100 000 Euro, und auch das Nationaltheater in Weimar
geht von einer ähnlichen Größenordnung aus. Vor dem
Hintergrund dieser Kostenentwicklung hatte der Deutsche Bühnenverein bereits einen Stopp der Versteigerung der Frequenzen gefordert. Nach ersten Schätzungen werden die Folgekosten für den Ersatz von
Drahtloseinheiten im Kulturbereich zwischen 2,5 Milliarden und 3 Milliarden Euro betragen. Verantwortlich
für die Übernahme der Kosten sind zunächst die Träger
der Einrichtungen. Bei den Theatern sind das in den allermeisten Fällen Kommunen und Länder, die sich, wie
wir alle wissen, selbst in einer äußerst angespannten
Haushaltslage befinden. Insbesondere bei den hoch verschuldeten Kommunen könnten die Umrüstungskosten,
die zu den regulären Betriebskosten hinzukommen,
schlimmstenfalls dazu führen, dass Theater geschlossen
werden müssen. Wir haben es also auch mit einem typischen Beispiel dafür zu tun, wie durch Entscheidungen,
die auf Bundesebene getroffen werden, Kosten für die
Kommunen entstehen.
Einigkeit werden wir in diesem Haus sicherlich darüber erzielen können, wie wichtig gerade Theater als
kulturelle Einrichtungen in unseren Kommunen sind,
und dass Kosten, auf deren Entstehung weder die Theater noch die Kommunen Einfluss haben, nicht dazu führen dürfen, dass Theater ihren Betrieb nur noch eingeschränkt aufrechterhalten können oder sogar geschlossen werden müssen. Aus diesem Grunde müssen
wir dafür Sorge tragen, dass die Folgekosten der Frequenzversteigerung auch von demjenigen getragen werden, der sie verursacht hat, und das ist der Bund.
Die Bundesregierung hat den Ländern zwar zugesichert, unter bestimmten Bedingungen einen Teil der Umrüstungskosten zu übernehmen. Die vom Bund angesetzten Kriterien führten aber nur in Einzelfällen zu einer
minimalen Erstattung. Auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke hat die Bundesregierung zudem erklärt,
dass jegliche Kostenerstattung in diesem Zusammenhang unter Finanzierungsvorbehalt steht.
Die Linke ist der Auffassung, dass der Bund die Kosten in vollem Umfang tragen muss. Ich bitte daher um
Zustimmung für unseren Antrag.
Frequenzen sind die unsichtbare Infrastruktur vieler
Medien: So wie die Bahn Schienen braucht, um ihre
Züge darauf fahren zu lassen, brauchen Fernsehen und
Radio Frequenzen, um ihre Programme senden zu können. Die Frequenzen der jüngsten Auktion sollen für
schnelle Internetanbindungen genutzt werden. Das ist
eine Chance, das Internet in ländliche Regionen zu tragen. Denn es ist teuer, Breitbandkabel bis an jede Haustür zu verlegen. Bis heute sind immer noch Tausende von
Haushalten vom schnellen Internet - wenn sie überhaupt einen Zugang haben - ausgeschlossen. Gerade in
ländlichen Regionen ist das ein gravierender Standortnachteil für die Bevölkerung und vor allem auch für die
regionale Wirtschaft.
Wir haben im Zuge der Frequenzversteigerung aber
jetzt tatsächlich ein Problem. Die Bundesregierung hat
in ihrer Euphorie über die Breitbandstrategie offenbar
vergessen oder einfach ignoriert, dass die neue Zuteilung der Frequenzen Folgen hat. Bei dem Frequenzbereich, der jetzt an die Mobilfunkhersteller versteigert
wurde, handelt es sich um die Kulturfrequenzen, die alle
drahtlosen Mikrofone nutzen.
Die versteigerten Frequenzen sind nicht zusätzlich
da, sondern sie sind freigemacht worden, weil die analoge Rundfunkübertragung abgeschaltet wurde. Innerhalb dieses Frequenzbereichs funken aber noch immer
die drahtlosen Mikrofone und der digital-terrestrische
Rundfunk. Die neue Nutzung wird für sie und DVB-T
Störungen erzeugen, weil die neuen Nutzer sehr „nah“
an genutzten Frequenzen dran sind. Wo es eng wird im
Äther, überschneiden sich Frequenzen und stören sich
gegenseitig. Dann piept und quietscht es. Deshalb bekommen die Funkmikrofone eine neue Frequenz zugewiesen; der Umstieg dahin kostet aber. Denn ein Mikrofon kann nicht einfach die Frequenz wechseln, sondern
muss dafür ausgetauscht werden.
Die geräumten Frequenzen wurden für viel Geld an
die Mobilfunkunternehmen versteigert. An die bisherigen Nutzer wurde aber nicht gedacht. Das sind alle Nutzerinnen und Nutzer moderner drahtloser Mikrofone.
Das mag zunächst nach einem Randproblem klingen;
das ist es aber nicht. Man muss sich nur mal klar machen, wer alles diese Technik nutzt: Theater, Musikveranstalter, Bands, Kirchen und Fernsehsender. Drahtlose
Zu Protokoll gegebene Reden
Mikrofone sind beim Auftritt von Bands, bei der Sommerfestansprache des Bundespräsidenten, beim Fußballspiel, der Ausstellungseröffnung und dem Gottesdienst nicht mehr wegzudenken. Diese Mikrofone
müssen alle ausgetauscht werden, weil sie vom Handyfunk gestört werden und deshalb auf eine andere Frequenz ausweichen müssen. Hier geht es also nicht um
Kleckerbeträge; hier geht es um Millionen, wenn nicht
sogar Milliarden.
Wir Grünen setzen uns für einen schnellen Ausbau
von Breitband im ländlichen Raum ein. Deshalb haben
wir es begrüßt, dieses Ziel mit der Vergabe von Frequenzen an den Mobilfunk zu verknüpfen. Es war sinnvoll
und erfolgversprechend, den Erwerb der Frequenzen
durch die Auktion an einen Ausbau zu koppeln.
Allerdings haben wir Grünen ein Problem damit, dass
sich der Bund die Einnahmen aus der Versteigerung in
die Tasche steckt und die Leidtragenden der Frequenzumstellung allein im Regen stehen lässt. Durch die
Rechtsnorm mit dem sperrigen Namen „Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung“ wurde zwar auf
Nachdruck des Bundesrates festgelegt, dass der Bund
sich an der Entschädigung beteiligen muss, nicht aber in
welcher Form und welcher Höhe. Folgekosten sind nicht
ausreichend gedeckt.
Ein Theater wie das Hamburger Schauspielhaus
muss mit Kosten in Höhe von mindesten 150 000 Euro
für eine neue technische Ausrüstung rechnen. Der Bund
muss für diese Kosten aufkommen und darf sie nicht einfach auf die Kommunen abschieben. Denn die müssten
sonst für die Ausstattung der städtischen Theater und
Bühnen sorgen.
Auf die finanzielle Situation der Kommunen muss ich
hier nicht eingehen. Aber sie sind derart ausgeblutet,
dass an allen Ecken und Enden gespart werden muss.
Aus einem ausgewrungenen Lappen bekommt man
nichts mehr raus. In der Folge können die Kultureinrichtungen die nötigen Gelder für die neue Technik nur
von den Besucherinnen und Besuchern bekommen. Dies
hätte eine Erhöhung der Eintrittspreise zur Folge. Wir
aber wollen nicht, dass sich nur Eliten die Eintritte in
Theater und Konzerte leisten können, und dies nur, weil
der Bund seiner Verantwortung nicht gerecht wird.
Es ist absurd, dass all die, die ihren Platz im Äther
räumen werden, am Ende die Leidtragenden sind. Der
Bund hat knapp 4,4 Milliarden Euro durch die Versteigerung der Frequenzen eingenommen. Da ist es nicht zu
viel verlangt, dass er dafür sorgt, dass durch die Umstellung am Ende niemand auf den Kosten sitzenbleibt. Der
Bund muss als Nutznießer der Versteigerung den Theatern, aber auch dem Rundfunk und allen anderen, die
Störungen ihrer Technik erfahren, bei der Umrüstung
helfen. Das bedeutet aber auch - das ist wichtig -, dass
der Bund die Folgekosten trägt. Es nützt uns nichts,
wenn der Bund zwar die Kosten für neue Sendemasten
an die Rundfunksender zahlt, die elf Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, die DVB-T nutzen, mit ihren
Geräten aber keinen ungestörten Empfang mehr haben.
So jedenfalls begeistern wir niemanden für die Digitalisierung. Wer so vorgeht, der kann es völlig in den
Wind schreiben, dass sich irgendwer irgendwann für digitales Radio stark macht. Bei der Digitalisierung muss
immer auch an die Nutzerinnen und Nutzer gedacht werden. Die Koalition hat dazu eine - begrüßenswerte Enquete-Kommission ins Leben gerufen. Das entbindet
aber nicht von der Aufgabe, dem Tagesgeschäft ordentlich nachzugehen.
Wir fordern von der Bundesregierung deshalb, dass
sie eine Rechtsgrundlage schafft, die all denen einen Anspruch auf Entschädigung gibt, die die Leidtragenden
der Neuzuteilung der Frequenzen sind.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin
Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
„Soforthilfeprogramm Kultur“ zum Erhalt
der kulturellen Infrastruktur einrichten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Undine Kurth ({1}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kulturelle Infrastruktur sichern - Substanzerhaltungsprogramm Kultur auflegen
- Drucksachen 17/552, 17/789, 17/2320 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Reiner Deutschmann
Agnes Krumwiede
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden auch hier die Reden zu Protokoll gegeben, und
zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen: Marco
Wanderwitz, Siegmund Ehrmann, Reiner Deutschmann,
Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes Krumwiede.
Die beiden heute zur Debatte stehenden Anträge der
Opposition zeichnen ein Bild der Kulturlandschaft in
Deutschland, das so nicht real ist, jedenfalls nicht in der
vorgetragenen Homogenität. Die Lage der kulturellen
Infrastruktur der Kommunen ist differenziert und hat oft
auch mit gewollter Prioritätensetzung vor Ort zu tun.
Die finanzielle Not einiger Kommunen ist auch kein kulturspezifisches Problem.
Richtig ist, dass viele Kommunen als Folge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise mit besonderen
Haushaltsproblemen zu kämpfen haben. Das geht Bund
und Ländern und den meisten Staaten der Welt genauso.
Aber längst nicht alle Kommunen kürzen deshalb radikal auf dem kulturellen Sektor.
Die Forderungen der PDS nach Bundesmilliarden für
den kommunalen Kulturbereich zeugt von Unkenntnis
unserer Verfassung. Nach der Anhörung kann man aber
nicht mehr von gutem Glauben sprechen. Der Antrag ist
verfassungswidrig; das sagen alle Experten. Der Bund
hat hier keine Zuständigkeit. Unsere föderale Struktur,
die die Hoheit für die Kultur in die Länder und Kommunen legt, lässt keinen Spielraum für einen Nothilfefonds
des Bundes.
Ich verweise an dieser Stelle auf das Subsidiaritätsprinzip als politische und gesellschaftliche Maxime. Die
Länder müssen alle Anstrengungen unternehmen, um
Städte und Gemeinden beim Erhalt des kulturellen Angebotes zu unterstützen. Die historisch gewachsene Kulturhoheit der Länder hat sich bewährt. Länder und
Kommunen investieren jährlich circa 7 Milliarden Euro
in die Kulturförderung - ein europäischer Spitzenwert!
Den Freistaat Sachsen, meine Heimat, möchte ich an
dieser Stelle als Positivbeispiel besonders hervorheben:
Gesetzlich geregelt im deutschlandweit einmaligen Kulturraumgesetz, leisten die sächsischen Kommunen und
der Freistaat die höchsten Ausgaben für Kultur pro Einwohner in ganz Deutschland, und das als Pflichtaufgabe!
Der Bund ist seiner Mitverantwortung zur Sicherung
der deutschen Kulturlandschaft mehr als gerecht geworden. Fünfmal in Folge wurde der Kulturhaushalt des
Bundes in den letzten Jahren um insgesamt über 10 Prozent erhöht. Hinzu kommen zahlreiche Maßnahmen, von
denen in besonderem Maße auch die Kultur profitiert:
das Konjunkturprogramm II in Höhe von 10 Milliarden
Euro, das Denkmalschutzsonderprogramm von Staatsminister Bernd Neumann in Höhe von 40 Millionen
Euro, das Investitionsprogramm für städtebauliche Infrastruktur in Höhe von 100 Millionen Euro und Sondermaßnahmen für die Kultur über das Weltkulturerbe-Paket in Höhe von 150 Millionen Euro. Der gerade
vorgelegte Haushaltsentwurf 2011 hält im Angesicht der
richtigen Sparanstrengungen der Bundesregierung den
Kulturhaushalt konstant. Das alles kann sich mehr als
sehen lassen, und ich erwarte, dass die Opposition das
endlich zur Kenntnis nimmt, statt die Leute aufzuhetzen.
Mit der Einsetzung der Gemeindefinanzkommission
arbeitet die christlich-liberale Koalition bereits an einem
Konzept zur langfristigen Konsolidierung der kommunalen Finanzen, so wie es in unserem Koalitionsvertrag
vorgesehen ist. Das kommt auch den Kulturhaushalten
der Kommunen zugute. Es ist wichtig, die kommunale
Selbstverwaltung zu stärken und Städte und Gemeinden
auf ein sichereres finanzielles Fundament zu stellen.
Die Forderung der Grünen nach einem KfW-Sonderprogramm, welches Überbrückungskredite für kulturelle
Einrichtungen gewährt, findet ebenfalls nicht unsere Zustimmung. Ein bisschen lebensfremd mutet Ihr Antrag
schon an, wenn man weiß, wie derzeit die Zinssituation
von Kommunalkrediten ist. In Ihrer Fraktion sollte es
doch zumindest ein paar Stadt- oder Gemeinderäte geben, meine Damen und Herren. Das Problem liegt nicht
bei den Zinsen - die gibt es faktisch nicht -, sondern darin, dass manche Kommunen haushaltsrechtlich schlicht
keine weiteren Kredite von den Kommunalaufsichtsbehörden genehmigt bekommen, weil der Schuldenstand
dies nicht hergibt.
Wir haben in den vergangenen Monaten viel über die
Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise und vor
allem der kurzsichtigen Steuerpolitik von Union und
FDP für unsere Kulturlandschaft gesprochen. Jetzt liegen belastbare Daten auf dem Tisch. Leider haben sich
unsere Befürchtungen bestätigt:
Eine aktuelle Umfrage der Unternehmensberatung
Ernst & Young bei 300 Kommunen in Deutschland vom
Juni dieses Jahres hat ergeben, dass fast jede zweite
Kommune in Deutschland die Zuschüsse zu Kultureinrichtungen reduziert hat. Zwischen 8 und 15 Prozent der
Kommunen wollen sogar Kultureinrichtungen schließen. 44 Prozent der Kommunen wollen die Eintrittspreise für Kultureinrichtungen deutlich erhöhen. Während die Qualität der Angebote sinkt, steigen die Kosten.
Bibliotheken etwa können keine neuen Bücher mehr anschaffen, verlangen aber deutlich höhere Gebühren für
das Ausleihen von alten Werken. Das ist das Ergebnis
von „mehr Netto vom Brutto“. Das Gegenteil ist der
Fall: Die Bürger müssen für kommunale Leistungen tiefer in die Tasche greifen. Besonders trifft es aber die sozial Schwachen in unserem Land. Höhere Eintrittspreise
für Bibliotheken, Theater oder Museen können sich viele
Bürgerinnen und Bürger nicht leisten. Sie sind es, die in
Zukunft an kulturellen Angeboten nicht teilhaben können. Schwarz-Gelb bleibt sich hier treu: Die schwachen
und nicht die starken Schultern tragen die negativen
Folgen der Krise und vor allem der schwarz-gelben
Steuerpolitik.
Daher stellt sich die Frage: Was tun angesichts der
alarmierenden Befunde? Die Regierungskoalition hat
bisher keine Antwort auf diese Fragen. Es wird auf eine
eingesetzte Gemeindekommission verwiesen, die sich
mit diesen Problemen befassen soll. Bisher höre ich von
dort nichts Gutes. Auch die Abschaffung der Gewerbesteuer soll dort diskutiert worden sein. Eine echte Hilfe
sieht anders aus. Eine Idee hätte ja auch sein können,
die Gewerbesteuerquellen zu verbreitern und zu verstetigen. Im Koalitionsvertrag wird dagegen die private
Kulturförderung beschworen. Aber meine Damen und
Herren von der Koalition: Wer auf die unsichtbare Hand
des Marktes baut, steht am Ende mit leeren Händen da,
und von Hotels allein kann die Stadt nicht leben.
Von anderer Seite wurde der Ruf nach einem Nothilfefonds des Bundes für die Kultur laut. Das Argument
Zu Protokoll gegebene Reden
„Wenn Geld für Banken da ist, muss auch Geld für die
Kultur da sein“, kann ich nachvollziehen. Die Idee ist so
einfach wie verlockend: Der Bund legt einen Fonds auf,
um der Kultur in den finanzschwachen Kommunen unter
die Arme zu greifen. Die Linke hat sich diesen Vorschlag
zu eigen gemacht und fordert, dass der Bund circa 1 Milliarde Euro für ein „Soforthilfeprogramm Kultur“ bereitstellen soll. Die Grünen wollen ein Sonderprogramm
der KfW Bankengruppe „Kulturförderung“ als Überbrückungsmaßnahme für die in ihrer Existenz bedrohten
kommunalen Kultureinrichtungen. Diese Forderungen
sind grundsätzlich nicht verkehrt. Kurzfristig hätten wir
uns als SPD eine Aufstockung der Mittel für die Kulturstiftung des Bundes gewünscht, um kleinere Projekte in
der Fläche zu unterstützen.
Zusätzliche Nothilfeprogramme des Bundes für Kultureinrichtungen in kommunaler Trägerschaft greifen
jedoch zu kurz und bergen die Gefahr von Verteilungsdebatten. Denn warum sollte es nicht auch eine Bundesnothilfe für Jugendeinrichtungen oder Sportstätten geben? Diese sind nach der oben zitierten Umfrage sogar
noch stärker von den Sparmaßnahmen betroffen als die
Kultureinrichtungen.
Eine Sonderlösung des Bundes für die Kultur ist der
falsche Weg. Wie es richtig geht, zeigt der Koalitionsvertrag von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen: erstens
keine Kürzungen bei den Kulturausgaben des Landes
und zweitens Konsolidierungshilfen für überschuldete
Kommunen, um Städte und Gemeinden wieder handlungsfähig zu machen. Das ist der richtige Weg. Die
Kommunen müssen über ausreichend Einnahmen verfügen, um ihren Aufgaben auch im Kulturbereich nachzukommen.
Diesen Weg sollten wir auch im Bund einschlagen.
Wir als SPD fordern als kurzfristige Maßnahme einen
Rettungsschirm für die Kommunen. Dieser Rettungsschirm umfasst die kommunalen Steuerausfälle in Höhe
von 1,6 Milliarden Euro, die den Kommunen durch das
sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz entstanden sind. Ferner soll sich der Bund über zwei Jahre mit
jährlich 400 Millionen Euro an den Unterbringungskosten beteiligen. Diese kurzfristigen Maßnahmen müssen
durch mittelfristige ergänzt werden. Hier ist die Steuerpolitik des Bundes in der Pflicht. Wir müssen die Kommunen wieder in die Lage versetzen, ihren Aufgaben
nachzukommen. Denn nur über solide Haushalte der
Kommunen sichern wir auch die öffentliche Kulturförderung und damit die kulturelle Infrastruktur der Kommunen.
Auch bei der Bundeskulturförderung besteht Handlungsbedarf. Die bisherige Fördersystematik - vor allem
der institutionellen Förderung durch den Bund - birgt
einige Unklarheiten. Abhilfe könnte die Empfehlung der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ schaffen. Sie empfiehlt dem Bund, das sogenannte Blaubuch
Ost auf das gesamte Bundesgebiet auszuweiten. Das
Blaubuch Ost wurde nach der Wiedervereinigung auf
der Grundlage von Art. 35 des Einigungsvertrages eingeführt. Es identifiziert Kultureinrichtungen in Ostdeutschland von nationaler Bedeutung, die in der Folge
vom Bund mit bis zu 50 Prozent gefördert werden. Ich
halte diesen Ansatz für richtig und glaube, dass dieser
noch ausbaufähig ist. Das Blaubuch müssen wir über
Ostdeutschland hinaus ausweiten und auf die westlichen
Bundesländer übertragen. Ich könnte mir eine institutionelle Bundeskulturförderung vorstellen, die auf Vorschlag einer Expertenkommission in Ost- und Westdeutschland Kultureinrichtungen von nationaler
Bedeutung fördert. Damit würde der Bund seine Verantwortung für Einrichtungen von nationaler Bedeutung
stärker wahrnehmen, die Transparenz seiner Kulturförderung erhöhen und Ländern und Kommunen größere
finanzielle Spielräume für die kulturelle Arbeit vor Ort
schaffen.
Letztlich geht es uns um den Erhalt der kulturellen
Vielfalt und des kulturellen Reichtums in unserem Land.
Dafür tragen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam
Verantwortung.
Deutschland ist zu Recht stolz auf sein reichhaltiges
kulturelles Leben. Nicht umsonst wird Deutschland national und international als Kulturnation von besonderer Bedeutung wahrgenommen. Mit großen Veranstaltungen und Veranstaltungsreihen wie der Kulturhauptstadt Ruhr 2010, der seit 2008 laufenden Lutherdekade
oder den jährlich stattfindenden Bayreuther Festspielen
setzt Deutschland Maßstäbe.
Als langjähriger kommunaler Kulturpolitiker kenne
ich die Tücken und Fallstricke kommunaler Haushalte.
Gerade die Kommunen tragen einen großen Teil der
Kosten für kulturelle Angebote. Dabei muss die Kultur
in den Kommunen leider oftmals mit Verwaltungsaufgaben, Kosten für Sportstätten oder allgemeinen Personalausgaben konkurrieren.
Kultur ist das, was einen Ort besonders macht. Kultur
macht das Leben an einem Ort lebenswert. Ohne kulturelle Angebote sind und wären viele Orte von der Abwanderung der Bevölkerung und dem mangelnden Interesse an Wirtschaftsansiedlungen noch stärker
betroffen. Nicht umsonst hatten sich vor einigen Jahren
die Geschäftsführer namhafter Automobilhersteller und
deren Zulieferer in Thüringen gegen eine dortige drastische Kürzung der Kulturförderung ausgesprochen. Man
fürchtete, dass die Produktionsstandorte im Falle der
Abschmelzung der Kulturförderung und der damit einhergehenden Schließung von Theatern und Orchestern
unter einer Abwanderung von Führungskräften und
Fachpersonal zu leiden haben würden.
Aus meiner Sicht sind es zwei Probleme, die für die
kommunale Kulturfinanzierung grundlegend sind:
Zum einen ist Kulturförderung auch eine Frage der
Prioritätensetzung. Oft muss die Kulturförderung für
Ausgaben in anderen Bereichen weichen. Dass Kultur in
den allermeisten Fällen nur als freiwillige Aufgabe der
Länder und Kommunen definiert ist, macht die Sache
nicht leichter. Leider muss ich immer wieder feststellen:
Lediglich in Sachsen ist die Kultur auch Pflichtaufgabe
des Landes und der Kommunen. Auch bedingt durch das
Zu Protokoll gegebene Reden
sächsische Kulturraumgesetz, das die Finanzierung der
Kultur regelt, kommt der Kultur dort ein besonders hohes Gewicht zu. Nicht umsonst gibt der Freistaat Sachsen, verglichen mit den anderen Bundesländern, pro
Kopf am meisten für die Kultur aus.
Zum anderen hat sich in der Wirtschaftskrise die Abhängigkeit von Gewerbesteuereinnahmen als besonders
problematisch herausgestellt. Das zyklische Auf und Ab
der Einnahmen macht eine konstante Haushaltsplanung
in den Städten und Gemeinden nicht einfach oder teilweise unmöglich. Laufende Verbindlichkeiten müssen
bedient werden. Da scheint es oft einfach, den Rotstift
zuerst bei der Kultur anzusetzen. Dabei ist noch kein
kommunaler Haushalt durch Einsparungen in der Kulturförderung saniert worden.
Die christlich-liberale Koalition hat dieses Problem
erkannt und handelt. Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble hat bereits im Februar eine Kommission eingesetzt, die die Reform der kommunalen Finanzen auf
den Prüfstand stellt. Dieser Ansatz ist auch richtig, statt
Millionen ohne Konzept über den Städten und Gemeinden ausschütten zu wollen, wie dies die Anträge von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken vorsehen. Mit
dem Geld der Steuerzahler bzw. der Belastung künftiger
Generationen sollten wir wirklich verantwortungsbewusster umgehen.
Wie schwierig die Neuordnung der kommunalen Finanzen wird, zeigt die gemeinsame Stellungnahme des
Deutschen Städtetages und des Deutschen Städte- und
Gemeindebundes, die an der Gewerbesteuer festhalten
möchten. Wir nehmen diese Stellungnahmen ernst. Man
wird sicherlich verschiedene Modelle diskutieren müssen, so zum Beispiel auch ein Kombimodell, das unterschiedliche Einnahmequellen beinhaltet. Dazu sollten
wir der Gemeindefinanzkommission aber auch die nötige Zeit lassen, um ein tragfähiges Konzept zu entwickeln.
In der Diskussion um Finanzhilfen zur Kulturförderung in den Städten und Gemeinden durch den Bund
dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass dies schlicht
und ergreifend verfassungsrechtlich nicht zulässig ist.
Dies hat das öffentliche Expertengespräch zum Thema
„Lage der Kulturfinanzierung in der Finanz- und Wirtschaftskrise“, das am 24. Februar 2010 im Kultur- und
Medienausschuss des Deutschen Bundestages stattfand,
klar zum Ausdruck gebracht. Keiner der anwesenden
Experten hat eine Rechtsgrundlage für die Aufsetzung
eines Kulturnothilfefonds ausmachen können. Damit
hält der Antrag der Linken nicht einmal dem Grundgesetz stand. Unhaltbar ist die Forderung nach pauschaler
Bereitstellung von 1 Milliarde Euro. Welche Berechnungsgrundlage dieser Zahl zugrunde liegt, lässt die
Linke offen. So kann man keine Haushaltspolitik machen, zumal es um das Geld der Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler geht. Diese haben ein Anrecht zu erfahren,
warum eine bestimmte Summe benötigt wird.
Zuständig sind nun einmal die Länder. Diese wären
folgerichtig auch der richtige Adressat für Forderungen
nach Aufstockung der Kulturförderung in den Städten
und Gemeinde, auch für Notprogramme. Der Bund kann
nur in absoluten Ausnahmesituationen oder in Sachverhalten, die den Aufbau Ost betreffen, Abhilfe schaffen.
Auch hier hilft ein Blick in das Grundgesetz. Wie ich bereits in meiner Rede vom 25. Februar 2010 gesagt habe,
fordert deswegen auch der Kulturrat NRW folgerichtig,
die Kommunen durch höhere Landeszuweisungen, zum
Beispiel in Form von zweckgebundenen Zuweisungen
für die Kulturhaushalte der Kommunen, im Bereich der
Kulturförderung zu entlasten.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sieht den
Kern des Problems, nämlich die grundlegende Schieflage der kommunalen Finanzierung. Aber die KfW Bankengruppe mit der Betreuung von Kultursonderprogrammen zu betrauen, entspricht nicht den Aufgaben
dieser unter anderem mit der Förderung des Mittelstandes betrauten Bank. Wir können auch nicht dazu übergehen, alle Probleme bei der KfW abzuladen. Eine Ausweitung der Aufgaben wäre zudem nur ein Notpflaster auf
die klaffende Wunde. Richtiger ist es, wenn man die Finanzen und damit auch die Kulturfinanzen der Kommunen wieder auf solide Beide stellt. Diesen Weg geht die
Koalition. Außerdem würde dies dazu führen, dass die
kommunale Selbstverwaltung auch tatsächlich wieder
ihrem Namen gerecht werden könnte. Die Stadt- und Gemeinderäte müssen die Möglichkeit haben, selbst über
die Prioritätensetzung in ihren Orten zu entscheiden.
Die Koalitionsfraktionen werden deshalb aus den
oben genannten Gründen die Anträge von Bündnis 90/
Die Grünen und der Linken ablehnen.
Wollte man bestimmen, was Europa von anderen
Weltregionen unterscheidet, so ist es sein Ursprung: die Stadt. Die europäische Kultur ist eine
Kultur der Städte, des urbanen Lebens und immer
wieder des demokratischen Gemeinwesens.
So beginnt eine Resolution der 19 nordrhein-westfälischen Theaterintendanten zwischen Aachen und Wuppertal, Bielefeld und Paderborn, die auf die derzeitige
Situation der so unterschiedlichen großen und kleinen
Bühnen aufmerksam machen soll. Die derzeitige Situation, das weiß man inzwischen überall in NRW und auch
außerhalb, heißt: akute Bedrohung der Theaterlandschaft und schrittweise Zerstörung der Städte in ihrer
Substanz und damit eine nicht zu unterschätzende Bedrohung der Demokratie.
Was ist neu an dieser Situation? Nach Ansicht aller
NRW-Theater-Intendanten:
Neu an der aktuellen Situation ist, dass die Konfliktlinien nicht mehr zwischen Theaterleitungen
und städtischen Verwaltungen laufen. Auch das
wechselseitige Aufrechnen der Förderung von
Stadttheatern, Festivalstrukturen und freier Theaterszene wird damit obsolet. Vor dem Hintergrund
der desaströsen Finanzsituation der meisten Städte
bleibt der Kommunalpolitik kein Handlungsspielraum. Vom Gesetzgeber eingestuft als „freiwillige
Leistung“, bleiben die Ausgaben für kulturelle Einrichtungen oft der einzige Haushaltsbereich, in dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Lukrezia Jochimsen ({0})
Einsparungen angeblich überhaupt noch möglich
seien. Dass dies keine kurzfristige, bald überwindbare Krise ist, sondern der Kollaps des Systems öffentlicher Haushalte bevorstehe, belegen die Szenarien der Experten.
Genau deswegen fordert die Fraktion Die Linke die
Bundesregierung auf, ein „Soforthilfeprogramm“ Kultur zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur zu entwickeln. Wir haben das im Einzelnen immer wieder begründet, im Kulturausschuss, in der 1. Lesung im
Parlament und können es heute nur wiederholen: Kultur
ist das Fundament unserer Gesellschaft als demokratisches Gemeinwesen. Es ist Aufgabe der Politik, dieses
Fundament zu sichern und zu stärken. Die Auswirkungen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise
bedrohen auch und gerade die Kulturstrukturen. Es ist
höchste Zeit, umzusteuern und Maßnahmen zur finanziellen Stärkung von Ländern und Kommunen zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur in der Krisensituation
zu ergreifen. Kurzfristig geht es vor allem darum, einen
kulturellen Kahlschlag in den Städten und Gemeinden in
der aktuellen Haushaltslage zu verhindern.
Das ist eine nationale Aufgabe, eine Pflicht des Bundes. Die Theaterleute schreiben: „Theater muss nicht
sein. Es geht auch ohne. Aber wie?“ Man könnte ergänzen: Museen müssen nicht sein und es geht auch ohne
Bibliotheken, Orchester, Musikschulen, Kultureinrichtungen aller Art. Aber wie? Verödet, verwahrlost, verroht wären die Städte, ob groß oder klein. Geschlossen
ist schnell, wieder aufgemacht wird so gut wie nie mehr.
Im Art. 104 GG heißt es klipp und klar, dass der Bund
im Fall von außergewöhnlichen Notsituationen, die sich
der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche
Finanzlage erheblich beeinträchtigen, auch ohne Gesetzgebungsbefugnisse Finanzhilfen gewähren kann.
Diese Situation ist durch die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Steuerpolitik der vergangenen der jetzigen Bundesregierung eingetreten. Hier gilt es Abhilfe zu
schaffen. Wer diese Hilfe unterlässt, macht sich schuldig
am Niedergang der traditionellen kulturellen Substanz
unseres Landes.
Viele Menschen in unserem Land funktionieren nur
noch unter Leistungsdruck und Stress in einem System,
an das sie nicht mehr glauben und für das sie sich nicht
mehr engagieren wollen oder können. Motivation zur
Eigeninitiative und Spaß am Mitgestalten kommen nicht
von allein, sondern können gelernt und vermittelt werden, zum Beispiel und gerade durch die Kultur, durch
kreatives Mitgestalten. Deswegen ist die Kulturförderung ein notwendiges Element unserer Demokratie. Die
Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise belasten die
kommunalen Haushalte. Eine verfehlte Finanzpolitik
schnürt den Kommunen zusätzlich die Luft zur Selbstverwaltung ab. Die kulturelle Teilhabe, die Förderung
und die Entfaltung von Kultur, sind massiv bedroht. Ich
halte die momentane Sparwelle im Kulturbetrieb für
sehr gefährlich.
Wir befinden uns auf einem sinkenden schwarz-gelben
Schiff. Viele Kultureinrichtungen auf diesem Schiff stehen vor dem Ertrinken. Was macht der „Kultur-Kapitän“
Neumann? Er sieht tatenlos zu und hat keine Rettungsboote für die Kultur parat. Eine Kommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung unter Ausschluss der
Öffentlichkeit bedeutet keine Rettung für die Kulturbetriebe, weil die konkrete Umsetzung zu lange auf sich
warten lässt.
Bauanleitungen für Rettungsboote kommen aus der
Opposition, zum Beispiel von der SPD: So sehr wir den
Vorschlag eines Rettungsschirms für die Kommunen
auch begrüßen - für die Kultur auf unserem sinkenden
Schiff bedeutet der Antrag der SPD ein durchlöchertes
Gummiboot. Denn die Formulierung „im Rahmen der
bestehenden Möglichkeiten des Bundes“ im Antrag der
SPD heißt nichts anderes als: nichts. Denn der Bund hat
zur Kulturfinanzierung kaum Möglichkeiten. An der Verfassung scheitert auch der Antrag der Linken.
Aber Bauvorschläge für Rettungsboote sind immer
noch besser als gar keine Vorschläge; deshalb haben
wir uns bei der Abstimmung im Ausschuss für Kultur
und Medien zu den Anträgen der SPD und der Linksfraktion enthalten.
Mir kommt es so vor, als würde unser „Kultur-Kapitän“ Neumann angesichts des drohenden Untergangs
unserer Kulturlandschaft in Tatenlosigkeit erstarren.
Wir Grünen haben einen realistischen Vorschlag für
den Bau eines „Kultur-Rettungsbootes“ ohne Löcher:
Die Einführung von „Kulturkrediten“ über ein besonders zinsgünstiges KfW-Programm. Eine Vergabe von
„Kulturkrediten“ über die KfW an die Kommunen wäre
verfassungskonform, so könnte der Bund trotz des Kooperationsverbots Unterstützung bei der kommunalen
Kulturfinanzierung anbieten. Viele Kultureinrichtungen
haben keine Zeit mehr, auf einen Sinneswandel der Regierung zu warten. Eine langfristige Neuordnung der
Gemeindefinanzierung kommt für viele Kulturinstitutionen und Kulturprojekte einfach zu spät.
Unser grüner Vorschlag, „Kulturkredite“ über ein
KfW-Sonderprogramm anzubieten, wäre eine kurzfristige Übergangslösung. Die KfW hat bereits Bereitschaft
zu dessen Umsetzung signalisiert und vorgeschlagen,
wie Kulturförderung für die Kommunen innerhalb eines
Programms „Zukunftsfähige Infrastruktur“ berücksichtigt werden könnte:
Erstens hat die KfW die Ausdehnung des Förderprogramms „Energieeffizient Bauen und Sanieren“ auf öffentliche Gebäude vorgeschlagen. Dies würde Kultureinrichtungen einschließen. Viele Kultureinrichtungen
können sich Sanierung und Instandhaltung ihrer Gebäude nicht leisten und müssen schließen, weil die
Räumlichkeiten nicht mehr den Funktionsvorschriften
entsprechen. Gerade im Hinblick auf nachkommende
Generationen müssen Kultureinrichtungen nachhaltig
saniert oder gebaut werden, also im Sinne baubiologischer Kriterien, damit sie auch „nach uns noch halten“ - anders als zum Beispiel die Elbphilharmonie das
im Moment verspricht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zweitens würde das Programm der KfW die Einbeziehung von Kultureinrichtungen in eine besonders zinsgünstige Kommunalfinanzierung bedeuten, und zwar für
ausgewählte Verwendungszwecke.
Drittens könnte unser Vorschlag nach Angaben der KfW
auch ein Stadtentwicklungsprogramm zur Eigenkapitalfinanzierung von Stadtentwicklungsprogrammen mit einem Schwerpunkt „Berücksichtigung von Kultureinrichtungen in benachteiligten Städten und Stadtteilen“
beinhalten.
Leider hat die Koalition unseren Prüfauftrag abgelehnt und somit die Chance vertan, den Kommunen einen
attraktiven Vorschlag zur Kulturfinanzierung als Überbrückungsmaßnahme anzubieten. Wie unser „KulturKapitän“ und seine Mannschaft grundsätzlich zu Hilfestellungen des Bundes bei der Kulturfinanzierung stehen, beweist auch die Antwort der Regierung auf unsere
Frage, welche konkreten Maßnahmen die Regierung beabsichtigt, um in ihrer Existenz bedrohte kommunale
Kultureinrichtungen von Bundesseite auch kurzfristig zu
unterstützen. Die Regierung antwortete: „Mit einer …
„Ausfallförderung“ durch den Bund würden Länder und
Kommunen aus ihrer grundsätzlichen Verantwortung für
den Kulturbereich entlassen. Dies wäre ein falsches Signal.“
Diese Aussage ist vergleichbar mit einem Schiffskapitän, der seinen Passagieren weder Rettungsringe noch
Rettungsboote anbietet, weil er befürchtet, seine Mannschaft könne dadurch das Schwimmen verlernen. Aber
die Wellen des Sparzwangs schlagen zu hoch, als dass
eine Vielzahl der Kulturinstitutionen ohne Rettungsmaßnahmen darin überleben könnte. Lieber Herr Neumann,
bitte überdenken Sie unseren Prüfauftrag, gehen Sie auf
die KfW zu oder leiten Sie andere Maßnahmen ein, um
Ländern und Kommunen bei der Kulturfinanzierung unter die Arme zu greifen. Aber bitte: Handeln Sie, bevor
es zu spät ist und irreversibler Schaden für unsere Kulturlandschaft entsteht!
Damit kommen wir zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 17/2320.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/552. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/789.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen der SPD und
der Linken.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüssen im Internet
- Drucksache 17/2409 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Marco
Wanderwitz, Lucia Puttrich, Kerstin Tack, Stephan
Thomae, Caren Lay und Nicole Maisch.
Manchmal geht es ganz schnell: Ein verlockendes
Internetangebot, ein kurzer Klick. Was man tatsächlich
angeklickt hat, merkt man erst Monate später, wenn eine
Rechnung ins Haus flattert. Was folgt, kann eine monatelange Plage sein, Inkasso-Stalking mit offenem Ende,
Kosten von Hunderten Euro oder sogar mehr stehen im
Raum.
Sogenannte Internetkostenfallen sind ein finanzstarkes Übel. Circa 750 000 Opfer allein im Jahre 2007 in
Deutschland. Sämtliche dieser Seiten sind mittlerweile
so professionell gestaltet, dass ohne Weiteres nicht erkennbar ist, dass es sich um kostenpflichtige Angebote
handelt. Häufig wird mit den Worten „gratis“ oder
„kostenlos“ hervorgehoben geworben. Gerade die Erwartungshaltung der Verbraucherinnen und Verbraucher, das Angebot sei entgeltfrei, wird ausgenutzt. In
Teilnahmebedingungen oder in unscheinbar gestalteten
Fußnoten findet sich dann aber irgendwo der gut versteckte Hinweis, dass man mit der Anmeldung zu dem
Angebot einen langfristigen Vertrag abschließt und der
Betrag bereits im Voraus fällig sein soll. Der klassische
Fall der Abofalle.
Die Antragsteller haben unsere politischen Aktivitäten rund um den Verbraucherschutz in den letzten
Jahren selbst aufgezählt: Das Gesetz zur Bekämpfung
unerlaubter Telefonwerbung, die Unterstützung der
Verbraucherzentralen, die entwickelten Softwareprogramme als Schutz vor Abzocke. Bürgerinnen und Bürger werden hier nicht allein gelassen.
In unserer Koalitionsvereinbarung haben wir uns als
christlich-liberale Koalition auf die Fahnen geschrieben, speziell im Bereich des Internets die erfolgreiche
Verbraucherschutzpolitik der letzten Jahre fortzuentwickeln. Unser Ziel ist es, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher mit vertretbarem Aufwand erkennen können, welcher Nutzen und welche Folgen mit einer Kaufentscheidung verbunden sind. Information und TranspaZu Protokoll gegebene Reden
renz sind Grundvoraussetzungen für funktionierende
Märkte.
Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner macht sich
schon seit einiger Zeit in Europa für die von der nun
SPD vorgeschlagene Button-Lösung, eine Schaltfläche,
über die der Verbraucher bestätigt, dass er den entsprechenden Kostenhinweis gelesen hat, stark. So würden
dem Verbraucher vor Abgabe einer bindenden Vertragserklärung die Kostenfolgen komprimiert und deutlich
vor Augen geführt werden. Zudem soll gesondert dokumentiert werden, dass der Verbraucher diesen Hinweis
zur Kenntnis genommen hat. Es bedarf einer solchen gesetzlichen Vorgabe, um die Preistransparenz im Internet
zu erhöhen. Dass ein Angebot Geld kostet, muss für jedermann erkennbar sein, etwa durch ein solches, deutlich sichtbares Abfragefeld.
Wir sind aber der Auffassung, dass zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher im Internet ein europaweites Vorgehen gegen Kostenfallen geboten ist.
Genau deshalb hat Ilse Aigner das Thema auch bei den
laufenden Verhandlungen zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher
thematisiert und in Brüssel einen Formulierungsvorschlag unterbreitet.
In Anbetracht des globalen Internets und der ausufernden Internationalität dieser Kostenfallen kann und
muss es eine europaweite Harmonisierung dieser Regelungen geben. Im Ausland sitzende Anbieter erreicht
man mit einer nationalen gesetzlichen Vorschrift schwer.
Allerdings ist unser Interesse an einer europaweiten
Regelung in Anbetracht der steigenden Zahlen betrogener Verbraucher endlich. Just in dem Moment, in dem
die Verbraucherschutzministerin nun erklärte, eine nationale Regelung im Herbst als Ultima Ratio notfalls im
Alleingang durchzusetzen, schwingt sich die SPD nun
zum großen Verbraucherschützer auf und schießt schnell
einen Regelungsvorschlag raus. Auch wenn sie nun angeblich ausgemachte Tendenzen in Brüssel zum Anlass
nimmt, schnell zu einer Regelung kommen zu wollen, unterstützen wir den genannten Zeitplan von Ilse Aigner,
sich bis zum Herbst weiter für eine europäische Regelung zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher
einzusetzen.
Solange letztlich ein solches Gesetz nicht verabschiedet ist, müssen wir unserem Informationsauftrag verstärkt nachkommen: Die grundsätzlich fehlende Einigung über die essentialia negotii - hier: den Preis verhindert die Wirksamkeit des Vertrages, der unterlassene ausdrückliche Hinweis auf die AGB die Zahlungspflicht. Zudem sind Bestimmungen von AGB
unwirksam, wenn sie zu einer unangemessenen Benachteiligung des Vertragspartners, des Verwenders führen.
Den Betroffenen bleibt die Anfechtung wegen Täuschung oder Irrtums oder auch der Widerruf entsprechend des im letzten Jahr in Kraft getretenen Gesetzes
zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur
Verbesserung des Verbraucherschutzes.
Dies soll nur eine kurze Zusammenfassung einschlägiger Begrifflichkeiten sein, die aufzeigen: Die Mängel
dieser Kostenfallen sind offensichtlich, die rechtlichen
Abwehrinstrumentarien sind vorhanden.
Heute beraten wir den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zu Vertragsabschlüssen im Internet. Abofallen sollen der Vergangenheit angehören. Verbraucherinnen
und Verbraucher sollen künftig deutlich auf das Zustandekommen eines Vertrages und daraus entstehende
Kosten hingewiesen werden müssen. Um es vorwegzunehmen, werte Kolleginnen und Kollegen: Dieses Ziel
teilen wir. Allerdings wollen wir eine weitreichendere
Lösung. Wir wollen, dass die Button-Lösung nicht nur
national, sondern EU-weit gilt. Dafür setzen sich Verbraucherschutzministerin Aigner und Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger in den Verhandlungen
engagiert ein.
Beim Lesen Ihres Gesetzentwurfes zeigt sich Ihr Verbraucherbild, das ernüchternd wirkt. Gestatten Sie mir
den Hinweis: Viel trauen Sie den Menschen nicht zu!
Wer glaubt, dass Dienstleistungen und Service im Internet meistens kostenlos sind, irrt sich! Auch im Internet müssen diese meistens bezahlt werden. Deshalb gilt
auch hier: Preise und Vertragsbedingungen müssen klar
erkennbar sein. Transparenz und Information sind
oberstes Gebot. Leider gibt es aber immer wieder unseriöse Anbieter, die Verbraucherinnen und Verbraucher
auf ihre Seiten locken und einen Vertrag untermogeln.
Für uns steht die Verbraucherbildung an erster Stelle.
Gerade im Internet muss der Verbraucher kritisch und
vorsichtig sein. Die Verbraucherinnen und Verbraucher
müssen im Internet mit der gleichen Sorgfalt und Genauigkeit Geschäfte tätigen wie auf anderen Wegen. Genauigkeit bei Geschäftsabschlüssen gilt am Bildschirm genauso wie im echten Leben. Es ist auch die Aufgabe der
Politik, dieses Bewusstsein zu stärken.
In der Tat kommt es allerdings leider immer wieder
vor, dass Kunden getäuscht werden. Um dies zu verhindern, muss die sogenannte Button-Lösung realisiert
werden. Hier reicht es allerdings nicht, sich allein auf
die Button-Lösung zu konzentrieren, um den Verbraucherschutz im Bereich des Onlinehandels zu verbessern.
Wir wollen darüber hinaus auch eine Positivbewertung
der vorbildlich agierenden Unternehmen in Form eines
Siegels. Bereits im April dieses Jahres haben die Verbraucherschützer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
klar Position bezogen. Unser Maßnahmenpaket trägt
den Titel „Chancen der digitalen Welt nutzen - Faire
Kernprinzipien umsetzen“.
In kaum einem anderen Bereich stehen Fragen nach
Vertrauenswürdigkeit und Seriosität so im Vordergrund
wie beim Umgang mit dem Internet. Nicht allein der
faire Zugang zum Internet, die Sicherheit von Daten, der
Schutz vor Belästigungen und Betrügereien sind Aspekte, die gewährleistet werden müssen. Dazu zählt
auch die Sicherheit bei dem Abschluss von Verträgen
und Geschäften im Internet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben einige Schwerpunkte formuliert, die wir in
diesem Bereich umsetzen wollen: Allen voran steht die
Vermeidung der stark steigenden Zahl der Internetabzocke! Aber auch die Verbesserung des Datenschutzes im
Sinne des Verbraucherschutzes muss realisiert werden.
Denn Verbraucher sind sowohl Kunden als auch vielfältige Nutzer, zum Beispiel für die Pflege sozialer Kontakte und zur Veröffentlichung von Kommentaren oder
Bildern. Dies in der Gesamtheit zu sehen, ist wichtig;
denn Vorsicht, Transparenz und Schutz sind bei jeder
Aktivität im Internet geboten. Dazu gehört, dass Verbraucher bewusst agieren und die Vorzüge des Internets
- Schnelligkeit, grenzüberschreitender Austausch und
Informationsfluss - sie nicht zur Leichtsinnigkeit verführen. Hier sind alle, gerade bei Jugendlichen, gefragt:
Eltern, Schule und Gesellschaft!
Für uns ist klar: Im Zentrum steht der selbstbestimmte Verbraucher. Verbraucher müssen vor Abzocke
geschützt werden. Auch die Weiterleitung und Kommerzialisierung privater Daten darf nur mit Zustimmung der
betroffenen Personen erfolgen.
Bei aller gebotenen Vorsicht möchte ich auch darauf
hinweisen, dass sich im Internet nicht allein nur
schwarze Schafe tummeln. Es gibt zahlreiche seriöse
Anbieter, denen man vertrauen kann. Wir wollen dem
Verbraucher helfen, diese leichter zu finden. Deshalb ist
es wichtig, Unternehmen, die eine seriöse und kundenfreundliche Strategie im Internet verfolgen, die Möglichkeit zu geben, sich im Wettbewerb positiv hervorzuheben. Wir brauchen eine Art „Online-Engel“ als
Positivwerbung für verbraucherfreundliche Unternehmen im Netz. Die Kriterien für einen solchen „OnlineEngel“ müssen sein: Der Einsatz von einfachen, datensparsamen Voreinstellungen, Preistransparenz, faire
Allgemeine Geschäftsbedingungen auf einer DIN-A4Seite und kundenfreundliche Bezahlsysteme.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass der Schutz vor
Kostenfallen und Abzocke im Internet durch das sogenannte Button-Verfahren erheblich verbessert werden
kann. Der Verbraucher sollte den endgültigen Vertragsabschluss im Onlinehandel nochmals bestätigen müssen, vorher darf kein Vertrag oder Abonnement zustande
kommen. Dafür setzen sich die Bundesministerinnen
Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger schon lange
ein.
Darüber hinaus stärkt eine breite Informationskampagne des Ministeriums, begleitet von den Informationen der Verbraucherverbände, das Bewusstsein der
Verbraucherinnen und Verbraucher, im Bereich des Internets und des Onlinehandels mit Sorgfalt zu entscheiden.
Wir wollen einen umfassenden Schutz der Menschen
und eine europäische Lösung. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab, da die Verhandlungen auf EU-Ebene derzeit
nicht abgeschlossen sind. Die EU-weite Lösung muss
angesichts grenzüberschreitenden Onlinehandels weiterhin so energisch verfolgt werden, wie es Bundesministerin Aigner und Bundesministerin LeutheusserSchnarrenberger tun. Sollte es allerdings bis zum Herbst
nicht dazu kommen, werden wir selbstverständlich die
zweitbeste Lösung, nämlich eine nationale Regelung,
vorantreiben.
Worum geht es? Viele Verbraucherinnen und Verbraucher werden immer häufiger Opfer von sogenannten Kostenfallen im Internet. Das Prinzip ist einfach:
Über Anzeigen auf Suchmaschinen locken unseriöse Unternehmen Internetnutzerinnen und -nutzer auf ihre Seiten. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher rechnen
dort nicht damit, für Dienste oder Software zahlen zu
müssen, die es im Internet im Normalfall kostenlos gibt,
wie zum Beispiel Kochrezepte. In gutem Glauben geben
sie ihren Namen und ihre Adresse für eine vermeintliche
Kundenregistrierung an - und haben ein teures Abo
oder einen kostenpflichtigen Zugang abgeschlossen.
Dabei werden die Verbraucherinnen und Verbraucher
mittels unklarer, irreführender Gestaltungsweisen über
die Kostenpflichtigkeit getäuscht. Der Hinweis auf die
Kosten ist in den AGBs bzw. im Kleingedruckten versteckt oder wird erst sichtbar, wenn der Bildschirm heruntergerollt wird.
Im Nachgang erhalten Betroffene dann einschüchternde Drohbriefe der Betreiber, und nicht wenige zahlen aus Angst die haltlosen Forderungen. Laut Verbraucherschützern liegt der Schaden in Deutschland jährlich
im mehrstelligen Millionenbereich. Seit Jahren gewinnt
der Verbraucherzentrale Bundesverband ein Gerichtsverfahren nach dem anderen gegen unseriöse Onlineanbieter. Allerdings geht danach die Abzocke weiter, denn
mit geringer Anpassung starten die Betreiber einfach ein
neues Angebot.
Bei den Verbraucherzentralen nehmen die Beschwerden der Menschen zu, und dies ist sicher auch der Bundesregierung bekannt, aber gehandelt wird nicht! Frau
Aigner prangert die unseriösen Machenschaften zwar
an, hat sich bisher aber darauf zurückgezogen, eine Lösung im Rahmen der zurzeit diskutierten europäischen
Verbraucherrechterichtlinie herbeizuführen. Diese Richtlinie wird es in naher Zukunft aber noch nicht geben.
Jetzt sagt Frau Aigner: „Sollte bis zum Herbst nicht erkennbar sein, dass sich die Button-Lösung auf EUEbene durchsetzen wird, werden wir uns um eine nationale Regelung bemühen …“, das heißt, die Verbraucherinnen und Verbraucher werden noch länger allein gelassen.
Dabei ist eine Lösung schnell und einfach möglich,
und wir legen sie jetzt vor: Mit einer Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch § 312 e, Abs. 1, und durch Einfügen eines Abs. 1 a mit dem Inhalt: „Der auf eine entgeltliche Gegenleistung gerichtete Vertrag im elektronischen
Geschäftsverkehr wird nur wirksam, wenn der Verbraucher vor Abgabe seiner Bestellung vom Unternehmer
einen Hinweis auf die Entgeltlichkeit und die mit dem
Vertrag verbundenen Gesamtkosten in deutlicher, gestaltungstechnisch hervorgehobener Form erhalten und die
Kenntnisnahme dieses Hinweises in einer von der Bestellung gesonderten Erklärung bestätigt hat“ wird den Verbraucherinnen und Verbrauchern sofort geholfen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dieser sogenannten Button-Lösung kann ein im
elektronischen Geschäftsverkehr geschlossener Vertrag
nur dann wirksam werden, wenn die Verbraucherin/der
Verbraucher vom Unternehmen vorab über die Entgeltlichkeit und die Gesamtkosten des Vertrages informiert
wird und dies auch durch einen gesonderten Button bestätigt. Das heißt, vor Abschluss eines Vertrages im Internet wird deutlich aufgezeigt, dass ein Angebot kostenpflichtig ist. Der Kunde muss durch Anklicken einer
Schaltfläche, Button, bestätigen, dass er den Kostenhinweis zur Kenntnis genommen hat.
Seriöse Onlineanbieterinnen und -anbieter und Internetshops haben ihre Internetauftritte bereits so gestaltet,
dass Verbraucherinnen und Verbraucher vor Vertragsschluss über den Inhalt und den Gesamtpreis des elektronischen Warenkorbes informiert werden und zu einer
endgültigen Bestellung ein gesonderter Klick notwendig
ist.
Unseriösen Anbietern kann die neue Regelung das
Handwerk legen.
Selbst der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien
sagt: „Wir brauchen ein verpflichtendes Bestätigungsfeld für alle Vertragsabschlüsse im Internet. Mit dem
verpflichtenden Preisangabefenster können wir Internetabzocke minimieren“, und die Bundesregierung hat
einen mit unserem Vorschlag im Wortlaut identischen
Beschluss des Bundesrates zur Einführung einer sogenannten Button-Lösung in die Verhandlungen über die
EU-Verbraucherrechte-Richtlinie eingebracht. Ob die
Regelung übernommen wird, ist unklar, und, wie bereits
gesagt, mit einem Beschluss über die EU-Richtlinie ist in
naher Zukunft nicht zu rechnen. Bei den Verhandlungen
in Brüssel zeigt sich, dass eine Vollharmonisierung des
Verbraucherrechts, das heißt für alle Länder einheitliche Regeln, immer weniger Anhang findet und auch von
uns nicht gewollt wird. Die zuständige EU-Kommissarin
Reding tritt inzwischen lediglich für eine „gezielte Harmonisierung“ ein, die spanische Ratspräsidentschaft hat
sich für einen „gemischten Harmonisierungsansatz“
ausgesprochen.
Vor diesem Hintergrund ist ein nationales Gesetz gegen die Abzocke im Internet jetzt dringend erforderlich,
um die bestehende Regelungslücke zu beseitigen und
Verbraucherinnen und Verbraucher zügig vor unseriösen
Anbieterinnen und Anbietern zu schützen. In Frankreich
besteht eine solche Regelung übrigens schon länger, und
eine europäische Lösung kann die Bundesregierung ja
auch mit einem eigenen nationalen Gesetz weiterverfolgen
Also handeln Sie jetzt, und setzen Sie unseren Gesetzentwurf um!
Der Markt braucht Regeln, und die Marktteilnehmer
müssen darauf vertrauen können, dass diese Regeln eingehalten werden und Regelverstöße nicht ohne Folgen
bleiben. Zu den wichtigsten Regeln gehört, dass niemand, salopp gesprochen, übers Ohr gehauen wird. In
diesen Zusammenhang gehören die sogenannten Kostenfallen im Internet zu den Ärgernissen, bei denen der
Gesetzgeber nicht einfach zuschauen darf.
Der Vorschlag der SPD-Fraktion greift die Verhandlungsposition der deutschen Delegation bei den Verhandlungen über eine europäische VerbraucherrechteRichtlinie auf. Der Antrag der SPD bevorzugt eine nationale Lösung mit dem Argument, dass eine europäische Lösung nicht zu erreichen und in Deutschland eine
Regelungslücke zu beseitigen sei.
Eine rein nationale Lösung löst aber das Problem
nicht. Jedermann weiß, wie leicht ein Anbieter mit unredlichen Absichten bei Geschäften im Internet sein Geschäftsmodell mit Kostenfallen vom Ausland aus betreiben kann. Die Bundesregierung befindet sich daher auf
dem richtigen Weg, wenn sie eine europäische Lösung
anstrebt.
Die Befürchtungen der SPD, dass es zu einer europäischen Regelung nicht kommen werde, möchte ich gerne
zerstreuen: Die Chancen, dass es zu einer Regelung für
die binnenmarktrelevanten Fernabsatzgeschäfte kommen wird, stehen keineswegs so schlecht. Das Problem
besteht selbstverständlich nicht nur in Deutschland, sodass auch die anderen Mitgliedstaaten der EU ein vitales Interesse daran haben, eine gemeinsame Regelung
zu schaffen.
Der Entwurf der SPD-Fraktion ist von daher voreilig
und könnte dazu führen, dass ein nationales Gesetz
schon bald wieder geändert und an eine europäische
Richtlinie angepasst werden muss. Das sollten wir vermeiden.
Im Übrigen darf ein derartiger nationaler Alleingang
ohnehin nicht gegen den unionsrechtlichen Grundsatz
der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV
verstoßen. Es müsste also eine frühzeitige Rücksprache
mit der Europäischen Kommission gehalten und ein entsprechender nationaler Gesetzentwurf gegenüber der
Kommission notifiziert werden. Anschließend müsste
eine Stillhaltefrist von 3 bis 18 Monaten eingehalten
werden, innerhalb derer die Kommission reagieren
kann.
Im Hinblick auf eine mögliche Regelungslücke im
deutschen Recht kann ich dem Antrag der SPD, der
durchaus in die richtige Richtung zielt, nicht ganz folgen. Die Begründung des Antrags der SPD lässt vermuten, dass Verträge aus Internetkostenfallen immer wirksam zustande kommen würden und Verbraucher nur
dann geschützt wären, wenn sie gegen solche vermeintlichen Verträge rechtzeitig Widerspruch einlegen würden. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen. Es ist
bereits nach aktueller Rechtslage so, dass Verträge nur
dann wirksam zustande kommen, wenn beide Parteien
übereinstimmende Willenserklärungen abgeben. Dazu
gehört auch, dass beide Parteien sich vorher über die
essentialia negotii, die wesentlichen Vertragsmerkmale,
einig geworden sind. Zu diesen gehören auch die mit
dem Vertrag verbundenen Kosten. Ein Vertrag kann
demnach nicht wirksam durch einen Mausklick zustande
kommen, wenn der Verbraucher bis zu diesem Mausklick
nicht auf mögliche Kosten hingewiesen wurde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir Liberale fordern zur Lösung des hier zu erörternden Problems, dass sich auf den Internetseiten der Unternehmen ein separates Fenster öffnen muss, bevor es
zu einem eventuellen Vertragsschluss im Internet kommen kann. Nur so kann der dadurch verfolgte Zweck,
den Verbraucher vor überraschenden Vertragsabschlüssen zu schützen, gewährleistet werden. Dieses Ziel geht
aus der von der SPD vorgeschlagenen Formulierung
nicht eindeutig genug hervor. Der Antrag spricht von einem deutlichen, in gestaltungstechnisch hervorgehobener Form erteilten Hinweis auf die Entgeltlichkeit und
die Gesamtkosten eines möglichen Vertrages. Dieser
Wortlaut würde Unternehmern die Umgehung der von
uns geforderten Form des Hinweises ermöglichen.
Der Vorschlag der SPD, wenn auch inhaltlich diskussionswürdig, ist deshalb einesteils voreilig, anderenteils
inhaltlich noch nicht in allen Punkten bis zu Ende gedacht.
Abofallen im Internet sind kein neues Phänomen. Seit
Jahren verdienen skrupellose Abzocker Geld mit Kostenfallen im Internet, siehe: http://www.computer
betrug.de/abzocke-im-internet/
Versteckte Kosten und arglistige Täuschung sind
nach geltendem Recht eigentlich verboten. Doch die Geschäftemacher sind findig und die Masche funktioniert:
Die Täter stellen Internetseiten online, auf denen sie attraktive und scheinbar kostenlose Dienste wie Hausaufgabenhilfen, Kochrezepte oder Software anbieten. Um
die Dienste nutzen zu können, müsse man sich lediglich
anmelden und die AGBs akzeptieren. Die böse Überraschung für Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich
arglos auf solchen Seiten anmelden, folgt auf dem Fuß;
denn wenig später erhalten sie eine Mail mit einer Rechnung. Durch das Eintragen seiner Daten habe man angeblich einen kostenpflichtigen Vertrag geschlossen,
heißt es darin. Wer nicht sofort bezahlt, wird von den
Abzockern und ihren Helfershelfern massiv unter Druck
gesetzt. Mahnungen, Drohbriefe und sogar Anrufe sollen dazu führen, dass zumindest ein gewisser Prozentsatz der Abgezockten die ungerechtfertigten Forderungen bezahlt. Übler wird es, wenn die beauftragten
Inkassounternehmen scheinbar amtliche Zahlungsaufforderungen schicken. Nicht wenige zahlen aus Angst
die haltlosen Forderungen der windigen Unternehmen.
Die Bundesregierung sieht diesem üblen Treiben untätig zu. CDU/CSU und FDP haben dazu bisher gar
nichts anzubieten. Aber auch die schwarz-rote Vorgängerregierung hat Verbraucherinnen und Verbraucher
bei der Abzocke im Internet im Regen stehen lassen. In
der Debatte um unerwünschte Telefonanrufe in der letzten Legislaturperiode haben die Linke und Verbraucherverbände immer wieder darauf hingewiesen, dass Abofallen ein drängendes Problem sind. Es gab konkrete
Lösungsvorschläge. Aber das SPD-geführte Justizministerium hat das alles in den Wind geschlagen und auf
kleine Verbesserungen im Widerrufsrecht gesetzt. Heute
zeigt sich, dass diese Regelung weit an der Realität und
an den skrupellosen Methoden der Betrüger vorbeigeht.
Das Internet ist ein internationaler Raum. Wir wissen
alle, dass deshalb manche Probleme mit nationaler Gesetzgebung schwer in den Griff zu bekommen sind. Interessanterweise tritt die Masche mit den angeblichen kostenlosen Downloads und Kochrezepten aber vor allem in
Deutschland auf. Das deutet doch stark auf eine national begrenzte rechtliche Grauzone hin. Es macht also
gar keinen Sinn, dass die Bundesregierung auf die EURichtlinie über die Rechte der Verbraucher wartet und
bis dahin nichts unternimmt. Denn es ist ja schon absehbar, dass die Richtlinie nationale Spielräume offen lassen wird. Die Bundesregierung kann und muss deshalb
umgehend auf nationaler Ebene Regelungen zum Schutz
der Internetnutzerinnen und -nutzer vor unseriösen Angeboten treffen.
Seit Jahren gewinnt der Verbraucherzentrale Bundesverband ein Verfahren nach dem anderen gegen unseriöse Onlineanbieter. Trotzdem nimmt die Abzocke im Internet weiter zu. Mit kleinen Veränderungen starten die
Betreiber solcher Seiten einfach ein neues Angebot Gerichtsurteil hin oder her. Strafen fallen ja nicht an
und Schadenersatz für die geschädigten Verbraucherinnen und Verbraucher müsste individuell zivilrechtlich
eingeklagt werden. Die Erfahrung zeigt, dass das so gut
wie niemand macht. Und so summieren sich die Gewinne der Internetbetrüger, der beteiligten Inkassounternehmen und Rechtsanwälte immer weiter.
Die Linke fordert deshalb:
Erstens. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen
über ein gut sichtbares Feld auf der Internetseite über
den Preis eines Angebots informiert werden. Der Button
dazu muss immer separat bestätigen werden. Das ist in
Frankreich so üblich. Kostenfallen sind dort daher kein
Thema.
Zweitens. Internetnutzer sollen den Vertrag kündigen
und Schadenersatz verlangen können, wenn ihnen unwissentlich ein Abonnement untergeschoben wurde.
Drittens. Die Linke fordert darüber hinaus wirksame
Strafen gegen Aboabzocke im Internet. Außerdem sollten unrechtmäßige Gewinne der Firmen eingezogen
werden.
Das Internet bietet viele Möglichkeiten - politisch,
sozial und auch ökonomisch. Hier können sich viele
Menschen einbringen, im Guten wie im Schlechten. Es
ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, die
Freiheit im Netz zu bewahren. Gleichzeitig liegt es in unserer Verantwortung, Verbraucherinnen und Verbraucher vor Abzocke und Betrug zu schützen. Es ist deshalb
dringend an der Zeit, auch im Internet Abofallen und untergeschobenen Verträgen einen Riegel vorzuschieben.
Heute beraten wir einen Gesetzesentwurf zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei Vertragsabschlüssen im Internet. Wenn die Bundesregierung den Verbraucherschutz ernst nehmen würde, hätte der Entwurf
eigentlich aus ihrer Feder stammen müssen und nicht
aus den Reihen der Opposition.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es geht um die sogenannte Button-Lösung für Vertragsabschlüsse im Internet. Danach wären im Internet
geschlossene Verträge nur dann wirksam, wenn der Verbraucher einen grafisch hervorgehobenen Hinweis auf
den Preis erhält und diesen zur Vertragsbestätigung
„aktiv“ anklicken muss. Dies wurde auch von uns Grünen immer wieder gefordert.
Internetabzocke ist kein neues Thema. Erkundigen
Sie sich bei den Verbraucherzentralen in Ihren Wahlkreisen, die können Ihnen ein Lied davon singen, wie viele
Verbraucher sich regelmäßig bei ihnen melden, weil sie
auf Abofallen im Internet reingefallen sind. Daher fordern wir Grüne schon seit langem eine Pflicht zur Bestätigung von Verträgen im Internet. Leider wurde unser
Vorschlag zu Zeiten der Großen Koalition weder von der
SPD noch von der CDU/CSU unterstützt.
Zwar stand die Button-Lösung schon in der letzten
Legislatur auf der Agenda der Union, aber sie scheiterte
an ihrem eigenen Wirtschaftsflügel. Hier hat offensichtlich mal wieder die Lobbyarbeit diverser Unternehmen
über den gesunden Menschenverstand und vor allem
über den Verbraucherschutz triumphiert.
Auch im aktuellen Koalitionsvertrag der schwarzgelben Bundesregierung heißt es: „Wir brauchen ein
verpflichtendes Bestätigungsfeld für alle Vertragsabschlüsse im Internet. Mit dem verpflichtenden Preisangabefenster können wir Internetabzocke minimieren.“
Und auch aus dem Verbraucherministerium hören wir,
dass Ilse Aigner den Abofallen und Abzockseiten im Internet den Kampf angesagt hat. „Sollte bis zum Herbst
nicht erkennbar sein, dass sich die Button-Lösung auf
EU-Ebene durchsetzen wird, werden wir uns um eine nationale Regelung bemühen“, sagte sie jüngst dem „Tagesspiegel“.
Aber aus der Vergangenheit wissen wir: In der Regel
bleibt es bei bloßen Ankündigungen der Verbraucherministerin, und die Verbraucher werden bis zum Sankt
Nimmerleinstag vertröstet. Ob beim Thema kostenlose
Warteschleifen bei Servicerufnummern, beim Verbot von
Giften in Kinderspielzeugen oder bei längst überfälligen
Verbraucherschutzmaßnahmen auf dem Finanzmarkt:
Die Ministerin macht vollmundige Versprechen in den
Medien, aber setzt nichts um, sondern wartet lieber auf
die oft genug unzureichenden Vorgaben aus Brüssel. Bedauerlich für die Verbraucher.
Im Kampf gegen die Abzocke im Internet hätte die
Verbraucherministerin schon längst eine nationale Button-Lösung auf den Weg bringen müssen. Jetzt hängt es
auch von Brüssel ab. Denn hier stehen derzeit die Verhandlungen zur EU-Richtlinie über die Rechte der Verbraucher an. Wir hoffen, dass der verbraucherpolitische
Verstand in Brüssel siegt und es zu keiner Vollharmonisierung kommt, damit die Button-Lösung nicht generell
vom Tisch ist. Dafür muss Ilse Aigner auf EU-Ebene
kämpfen. Denn nur eine gezielte Teilharmonisierung
kann die bewährten Verbraucherschutzstandards in
Deutschland sicherstellen und lässt Spielraum für nationale Regelungen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2409 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Befugnis des Bundeskriminalamtes zur Online-Durchsuchung aufheben
- Drucksache 17/2423 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden, und zwar sind
das die folgenden Kollegen: Armin Schuster, Frank
Hofmann, Jimmy Schulz, Jan Korte und Wolfgang
Wieland.
Ich zitiere aus dem Kapitel Islamismus/Islamistischer
Terrorismus des Verfassungsschutzberichts 2009:
„Deutschland liegt weiterhin im Fokus islamistisch-terroristischer Gruppierungen. Die Internetpropaganda
ausländischer jihadistischer Gruppierungen weist zunehmend Deutschlandbezüge auf.“ Die Bedrohung durch
den internationalen Terrorismus ist also nach wie vor
hoch und real - auch wenn die Täter in den letzten Jahren glücklicherweise über Anschlagsplanungen in
Deutschland nicht hinauskamen.
Um dieser Bedrohung zu begegnen, haben wir 2008
das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen
Terrorismus durch das Bundeskriminalamt beschlossen
und damit die Möglichkeiten des BKA bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus deutlich verbessert. Die Entscheidung, dem BKA diese zentrale Kompetenz auf Bundesebene zuzuordnen, geht übrigens auf die
Föderalismusreform zurück. Im BKA-Gesetz wurde in
diesem Zusammenhang eine Reihe von Befugnissen zur
Gefahrenabwehr festgeschrieben. Die meisten davon
sind übrigens in den Polizeigesetzen der Länder schon
seit Jahrzehnten verankert. Eine dieser Befugnisse ist
der verdeckte Eingriff in informationstechnische Systeme nach § 20 k BKA-G, die sogenannte Onlinedurchsuchung. Sie ist in der Tat neu und war zuvor nur im Verfassungsschutzgesetz NRW aufgeführt. Die Regelung zur
Onlinedurchsuchung in NRW wurde vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 27. Februar 2008
gekippt. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner
Entscheidung aber gleichzeitig klare Leitlinien und Vorgaben für die Einführung einer Onlinedurchsuchung
gegeben. Genau an diesen Vorgaben hat sich die
schwarz-rote Koalition in der letzten Legislaturperiode
orientiert - und zwar strikt. Die Onlinedurchsuchung ist
rechtlich als Ultima Ratio ausgestaltet, also mit beson5794
Armin Schuster ({0})
ders hoch angesetzten Anwendungsvoraussetzungen versehen.
Der vorliegende Antrag der Linken zu diesem komplexen Thema ist inhaltlich leider nicht einmal dünne
Suppe. Auf eineinhalb Seiten äußern Sie in altbekannter
Weise Bedenken und schüren Ängste vor einem übergreifenden Staat, angesichts Ihrer ansonsten unkritischen
Haltung gegenüber der Staatssicherheit der DDR ein
ausgesprochen interessantes, wenn nicht sogar bemerkenswertes Verhalten. Aber selbst Ihrem Antrag kann
man durchaus etwas Positives abgewinnen. Da Sie gegen die aktuelle Gesetzeslage keine stichhaltigen rechtlichen Argumente gefunden haben, beschäftigt sich Ihr
Antrag sinnloser Weise zur Hälfte ausschließlich mit der
Rechtslage vor der BKA-Gesetzesnovelle. Ich werte diesen hilflosen Akt gerne als Anerkenntnis von Ihnen, dass
das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt genau
und sehr restriktiv regelt, unter welchen Bedingungen
eine Onlinedurchsuchung stattfinden darf, so restriktiv,
dass dieses Instrument bisher nicht zur Anwendung
kommen musste, und auch so restriktiv, dass Sie keine
Argumente gegen dieses Gesetz, sondern nur gegen die
Rechtslage vor dieser Zeit gefunden haben.
Die Tatsache, dass es bisher keine Onlinedurchsuchung gab, zeigt aber auch, dass sich die von der Opposition und besonders der Linken heraufbeschworenen
Horrorszenarien, wie von uns vorausgesagt, in keiner
Weise bewahrheitet haben. So führte Frau Jelpke in der
Debatte zur zweiten und dritten Lesung des BKA-Gesetzes aus, dieses Gesetz atme den Geist des Obrigkeitsstaats, „eines Staates, der einen allmächtigen, alles wissenden Polizei- und Geheimdienstapparat anstrebt, also
ein deutsches FBI“. Bei der ersten Lesung prophezeite
sie, dass nicht nur Terroristen von Onlinedurchsuchungen betroffen werden, sondern - ich zitiere - „wir alle,
sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes“. Von der Vorhersage, diese Maßnahmen würden
nur höchst selten ergriffen, ließ sich Frau Jelpke nicht
überzeugen, Zitat: „Die Erfahrung zeigt, dass die Ermittlungsbehörden ihre Rechte eher überplanmäßig ausschöpfen.“ Eine denkwürdige, wenn auch völlig falsche
Prognose. An welchen Staat Sie bei derartigen falschen
Prognosen gedacht haben, ist uns allen klar. Nicht klar
ist uns, wann Sie auch gedanklich im Jahr 2010 in unserer Bundesrepublik Deutschland ankommen werden.
Seit Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. Januar 2009
hat es insgesamt sechs Fälle terroristischer Bedrohung
gegeben, in denen die Zuständigkeit des BKA begründet
war. Diese Fälle boten jedoch keinen hinreichend geeigneten Ansatzpunkt für die Durchführung einer Onlinedurchsuchung. Die Tatsache, dass sich ein solcher Einsatzfall bislang nicht ergeben hat, ändert nichts daran,
dass die Norm angesichts der latenten Bedrohungslage
gleichwohl erforderlich werden kann. Und dann wird sie
einen maßgeblichen Beitrag zur erfolgreichen Bewältigung einer brisanten Gefahrenlage leisten. Anstatt zu
fordern, dass wir dieses wichtige Instrument wieder abschaffen, sollten Sie anerkennen, dass die hervorragende Arbeit unserer Sicherheitsbehörden dazu beiträgt,
dass diese Instrumente auch tatsächlich nur in UltimaRatio-Fällen zum Einsatz kommen. Und wir dürfen auch
von Glück sagen, dass wir bisher nicht in eine Situation
gekommen sind, in der eine Onlinedurchsuchung notwendig war.
Das Instrument der Onlinedurchsuchung ist auch
weiterhin unverzichtbar. Gerade beim internationalen
Terrorismus beobachten wir zunehmend, dass sich Personen modernster Technologien bedienen, um nicht entdeckt zu werden. Ziel muss es sein, auf Daten, die etwa
zur Vorbereitung von Anschlägen auf privaten Rechnern
und Servern gespeichert sind, zugreifen zu können. Dies
ist notwendig, weil sich die Kommunikation von Terrorverdächtigen und Terrornetzwerken in den letzten Jahren verändert hat. Die Datenmengen steigen, der mobile
Internetzugang ist Normalität und immer häufiger werden Informationen verschlüsselt verschickt. Mit der Onlinedurchsuchung ist es zum Beispiel möglich, auf derartige Daten zuzugreifen, bevor sie verschlüsselt und
verschickt werden. Es wäre daher schlichtweg unverantwortlich, dem BKA bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus diese Spezialbefugnis zu nehmen.
Wie sich die Onlinedurchsuchung in der Praxis bewährt, ist Gegenstand der gesetzlich vorgeschriebenen
Evaluierung. Danach werden wir gegebenenfalls über
möglichen Änderungsbedarf beim BKA-Gesetz sprechen. Unhaltbare Misstrauensbekundungen oder voreilige Schlüsse sind deshalb jetzt nicht angebracht. Daher
lehnen wir den Antrag der Linken natürlich ab.
Der Antrag der Linken ist wirklich eine Zumutung.
Eine überflüssige Mischung aus „copy and paste“ und
Ahnungslosigkeit.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Frage nach
der Erforderlichkeit der Onlinedurchsuchung ist richtig
und wichtig. Es ist die regelmäßige Aufgabe des Gesetzgebers, im Rahmen seiner fortwährenden Gesetzesbindung die Wirksamkeit bzw. Notwendigkeit bestimmter
Rechtsinstrumente zu kontrollieren. Gerade deshalb hat
die SPD erfolgreich für die Evaluierung und Befristung
der neuen Maßnahmen im BKA-Gesetz, insbesondere
der Onlinedurchsuchung, gekämpft und diese auch
durchgesetzt. Damit haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass der Gesetzgeber auf aktuelle Entwicklungen
reagieren und überprüfen kann, ob Änderungsbedarf
vorliegt. Ich selber habe die Information der Bundesregierung, dass seit Inkrafttreten des BKA-Gesetzes
keine Onlinedurchsuchung durchgeführt wurde, zum
Anlass genommen, nochmals über die Erforderlichkeit
dieser Maßnahme nachzudenken. Die Schlussfolgerung,
die die Linke aus dieser Tatsache zieht, ist jedoch einfach absurd, sodass ich an der Ernsthaftigkeit zweifeln
muss.
Die Tatsache, dass keine Onlinedurchsuchung durchgeführt wurde, zeigt, dass sehr sparsam und verantwortungsbewusst mit diesem Instrument umgegangen wird.
Sie soll nur dann eingesetzt werden, wenn andere Mittel
der Ermittlungsmöglichkeiten des BKA nicht ausreichen, um zum Beispiel Attentatspläne von Terroristen
offenzulegen und die Hintermänner zu identifizieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Frank Hofmann ({0})
Onlinedurchsuchungen werden auch nicht flächendeckend durchgeführt. Das BKA ging damals von bundesweit fünf bis zehn Maßnahmen pro Jahr aus.
Umso besser ist es, wenn es bis jetzt nicht notwendig
war, auf dieses Ermittlungsinstrument zurückzugreifen.
Die Onlinedurchsuchung soll schließlich letztes Mittel
sein und nicht ein Allerweltsinstrument. Hier zeigt sich
auch, dass das Bundeskriminalamt besonderes sensibel
ist, wenn es um schwerwiegende Grundrechtseingriffe
geht. Die bisherige Arbeit des BKA im repressiven Bereich bestätigt diesen Befund. In den letzten zehn Jahren
hat das BKA ganze zwei Rasterfahndungen durchgeführt. Von 2001 bis zum zweiten Quartal 2007 gab es nur
sieben Wohnraumüberwachungen, also im Schnitt eine
Wohnraumüberwachung pro Jahr.
Daraus jedoch auf die Überflüssigkeit der Maßnahme
zu schließen, ist absurd. Die Bedrohungslage in
Deutschland durch den internationalen Terrorismus besteht nach wie vor auf hohem Niveau. Entscheidendes
Kriterium kann daher nicht sein, dass bisher keine
Onlinedurchsuchung durchgeführt wurde, sondern dass
man aufgrund der Bedrohungslage eine derartige Maßnahme bereithalten muss.
Die Bezugnahme der Linken auf das Urteil des Bundesgerichtshofs, das „verdeckte Onlinedurchsuchung“
mangels einer besonderen Ermächtigungsgrundlage als
unzulässig ansieht, geht völlig an der Sache vorbei. Gerade wegen dieses Urteils haben wir damals die Durchführung von Onlinedurchsuchungen gestoppt und auf
die Schaffung einer spezifischen Ermächtigungsgrundlage gedrungen. Die Ermächtigungsgrundlage steht
deshalb nun im BKA-Gesetz und entspricht den hohen
Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Gerade die SPD hat damals mit großem Aufwand
eine rechtsstaatliche einwandfreie Regelung gegenüber
der Union durchgesetzt. Es gibt keinen Grund, jetzt davon abzuweichen.
In der Bekämpfung des Terrorismus ist es äußerst
wichtig, dass unsere Grundrechte niemals untergraben
werden. Andernfalls ist der Kampf bereits durch eigenes
Tun verloren. Das Bundeskriminalamtgesetz, das Ende
2008 verabschiedet wurde, hat dem Bundeskriminalamt
erhebliche und nie dagewesene Kompetenzen zur Terrorabwehr eingeräumt, inklusive des verdeckten staatlichen
Zugriffs auf fremde informationstechnische Systeme über
Kommunikationsnetze: die Onlinedurchsuchung. Bekanntermaßen ist die FDP überaus skeptisch auf diesem
Gebiet; denn wie von dem ehemaligen FDP-Bundesinnenminister Baum erwähnt, besteht die Gefahr einer
schleichenden Erosion der Grundrechte.
Tatsächlich bestehen bei der Onlinedurchsuchung
aus unserer Sicht erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Insbesondere bei dieser Maßnahme wird der
Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in
unerträglicher Weise eingeschränkt. Unsere Beschwerden zur Änderung des BKA-Gesetzes und insbesondere
gegen die Onlinedurchsuchung haben wir bereits in unserem Entschließungsantrag, Drucksache 16/10851, in
der letzten Wahlperiode erwähnt, und wir haben die Onlinedurchsuchung sehr deutlich abgelehnt. In der letzten
Wahlperiode war aber eine Mehrheit der Mitglieder des
Bundestags für diese Praxis, und zur Demokratie gehört
es auch, Mehrheitsentscheidungen des Bundestages zu
respektieren.
Die Bürgerrechte liegen uns sehr am Herzen, deswegen war es uns wichtig, die Reform dieser Befugnisse für
das BKA im Koalitionsvertrag festzuschreiben. Das haben wir getan. Es ist vereinbart, Regelungen zu treffen,
die den Schutz des Kernbereichs privater Gestaltung optimieren und das Maß an Grundrechtsschutz durch Verfahren zu erhöhen. Daher werden wir auf Grundlage der
verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das BKA-Gesetz daraufhin überprüfen, ob und inwieweit der Schutz
des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu verbessern ist.
Die drängende Forderung der Linken, jetzt die Befugnisse des Bundeskriminalamtes zur Onlinedurchsuchung
aufzuheben, ist momentan allerdings nicht notwendig.
Denn es hat bis heute, und dies ist der Linken auch voll
bewusst, noch keine Onlinedurchsuchungen gegeben.
Dies wurde in einer Antwort der Bundesregierung auf
eine Kleine Anfrage am 21. Mai 2010 bestätigt. Wir sind
sehr froh, dass bis jetzt keine Verstöße gegen unsere
Grundrechte durch diese Maßnahme stattgefunden haben, und wir werden, zusammen mit der Union, den
Kernbereichsschutz im Bundeskriminalamtgesetz verbessern und die verfahrensrechtlichen Absicherungen
erhöhen. Auf diese Weise werden wir sicherstellen, dass
die Grundrechte unserer Bürger auch in Zukunft in keiner Weise untergraben werden.
Weiterhin ist wichtig, zu bemerken, dass Ärzte und
Journalisten, insbesondere aber Rechtsanwälte, unter
ihnen Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, Verfassungsbeschwerde gegen das BKA-Gesetz und gegen die heimliche Ausspähung von Computern eingereicht haben.
Wir warten noch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sollte das Bundesverfassungsgericht
entscheiden, dass die Onlinedurchsuchung nicht verfassungskonform ist, dann müssten natürlich Konsequenzen gezogen werden. Dann wäre eine Abschaffung der
Onlinedurchsuchung konsequent.
Der Antrag der Linken zur Aufhebung der Befugnis
des Bundeskriminalamtes zur Onlinedurchsuchung hat
durchaus unsere Sympathie, aber wir können ihn nicht
unterstützen. Eine Mehrheit im Bundestag hat sich für
die Onlinedurchsuchung entschieden. Das müssen wir
momentan akzeptieren. Wenn das Bundesverfassungsgericht deutlich in eine andere Richtung weist, müssen
Konsequenzen gezogen werden. Sicher ist aber, was wir
im Koalitionsvertrag vereinbart haben: Wir werden die
Befugnisse des BKA sehr kritisch beobachten und evaluieren. Mit der FDP in der Regierung werden die Bürgerrechte nicht hintenangestellt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Onlinedurchsuchung, einst als wichtiges und unerlässliches Instrument im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gepriesen, ist schlicht überflüssig. Zu
diesem Ergebnis muss jeder kommen, der sich ernsthaft
mit der Entstehung und Entwicklung dieser Maßnahme
beschäftigt hat. Spätestens die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage unserer Fraktion zur „Bilanz der Online-Durchsuchung“ vom 21. Mai dieses
Jahres verdeutlicht überaus anschaulich den kompletten
Unsinn dieses Instruments. Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen sprechen für sich, und ich wiederhole sie hier an dieser Stelle deshalb ganz besonders
gerne, vor allem für all diejenigen, die sich weiter und
scheinbar unerschütterlich als Apologeten der Onlinedurchsuchung outen. Vielleicht können Argumente etwas
bewirken. Als Linker gibt man ja die Hoffnung nie auf.
Was also hat die Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage geantwortet? Folgendes: Zwar wurden in den
vergangenen anderthalb Jahren rund 700 000 Euro investiert, um Onlinedurchsuchungen überhaupt durchführen zu können. Aber das entpuppte sich als glatte
Fehlinvestition; denn bis Mitte Mai hatte das Bundeskriminalamt keine einzige Onlinedurchsuchung angeordnet. Ich wiederhole: keine einzige! Einstmals als
Wunderwaffe entwickelt und in einem Klima der Verunsicherung vorschnell an den Start gebracht, konnte die
Onlinedurchsuchung ihre angebliche sicherheitspräventive Wirkung bis heute nie entwickeln. Stattdessen hat sie
eine komplette Bruchlandung hingelegt. Von angeblichen Sicherheitslücken, die durch diese Maßnahme geschlossen werden sollten, ist schon längst keine Rede
mehr. Dennoch wird stumpf an der Onlinedurchsuchung
festgehalten.
Die von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen zeigen überdeutlich die Sinnlosigkeit der Onlinedurchsuchung. Das Argumentieren dafür ist unseriös. Auch deshalb sollte sie ebenso schnell wieder aus dem BKAGesetz verschwinden, wie sie darin gelandet ist. Die fadenscheinige Ausrede, es handele sich bei der Onlinedurchsuchung um eine sogenannte Ultima-Ratio-Maßnahme, verschleiert nur den wahren Kern und
eigentlichen Sinn der Onlinedurchsuchung: Menschen
werden auf Datensätze reduziert, über die sie selbst
keine Kontrolle mehr haben. Das ist nicht nur ein weiterer Baustein in dem dichter werdenden Mosaik Deutschlands auf dem Weg zu einer Totalüberwachung, sondern
zudem verfassungsrechtlich höchst bedenklich.
Es gibt mittlerweile nichts mehr, was nicht gespeichert werden kann! Längst werden auch hochsensible,
personenbezogene Daten von Bürgerinnen und Bürgern
dieses Landes erfasst, die sich nichts zuschulden kommen ließen. Sie sind nicht einmal bei Rot über die Ampel
gegangen. Speicherlimits gibt es ebenfalls nicht mehr.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird
sowohl durch die Onlinedurchsuchung als auch durch
andere datenpolitische Maßnahmen der letzten Jahre
Schritt für Schritt ausgehebelt. In der Konsequenz bedeutet das nichts anderes als das Verschwinden der Privatheit - ein schlimmes Szenario!
Die Onlinedurchsuchung fügt sich also gut ein in die
unendlich lange Liste von Maßnahmen, die - in einen
Deckmantel der Kriminalitätsbekämpfung gewandet immer öfter und vor allem schamloser daherkommen.
Erst wurde die Vorratsdatenspeicherung eingeführt,
dann Pässe und Personalausweise mit biometrischen
Merkmalen versehen, dann kamen ELENA und andere
Gesetze hinzu. Als neueste Errungenschaft in dieser
Reihe des datenschutzpolitischen Horrors wurde heute
im Europäischen Parlament das SWIFT-Abkommen verabschiedet. So unterschiedlich diese Gesetzesinitiativen
auch sind, gemein ist ihnen vor allem eines: In Sachen
Datensammelei werden in diesem Land kaum noch
Grenzen gesetzt.
Die ohnehin prekäre Balance zwischen Freiheit und
Sicherheit ist aus dem Lot geraten und wurde langsam,
aber stetig einseitig in Richtung Sicherheit ausgependelt. „Wir müssen uns wehren gegen die schleichende
Erosion unserer Grundrechte und gegen unsere Entmündigung“, hat der ehemalige Bundesinnenminister
Gerhart Baum in einem Artikel für die „Stuttgarter Zeitung“ am letzten Montag in Sachen Datenschutz formuliert. Er hat recht damit.
Denn Datenschutz ist und bleibt ein elementares
Grundrecht. Es muss jedoch, wie andere Grundrechte
auch, immer wieder aufs Neue verteidigt werden! Wer
sich dieser Meinung anschließen kann, dem wird also
nichts anderes übrig bleiben, als unserem Antrag „Befugnis des Bundeskriminalamtes zur Onlinedurchsuchung aufheben“ zuzustimmen. Von der CDU/CSU erwarte ich zugegebenermaßen nicht mehr sonderlich viel
in Sachen Datenschutz oder zumindest nichts Gutes; von
der FDP leider immer weniger. Dennoch böte die Zustimmung zu unserem Antrag eine gute Brücke, um endlich wieder auf den Pfad des Datenschutzes und der
Sicherung von Bürger- und Grundrechten zurückzukommen. Der Weg lohnt sich. Auch deshalb appelliere ich
hier nachdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen von
SPD und FDP, uns bei unserem Anliegen, die Onlinedurchsuchung aufzuheben, die Zustimmung nicht zu verweigern. Das kann Ihnen bei den hier dargelegten Zahlen und Fakten sowie Argumenten doch eigentlich gar
nicht so schwerfallen.
Zu Jahresbeginn hatte Bundesjustizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger eine Überprüfung der Sicherheitsgesetze auf ihre Notwendigkeit angekündigt.
Daraus ist bislang nichts geworden. Genauso fehlt nach
wie vor jegliche Überprüfung der Sicherheitsgesetze auf
ihre Verhältnismäßigkeit und auf Bürgerrechtskonformität. Die Linke erneuert daher ihre alte Forderung nach
einem sofortigen Moratorium für Sicherheitsgesetze und
eine umfassende unabhängige Überprüfung der vorhandenen Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Bürger- und
Freiheitsrechten.
Wir wollen aber nicht wieder bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten müssen. Zur fehlenden Notwendigkeit
und der Unverhältnismäßigkeit der Onlinedurchsuchung ist eigentlich alles gesagt. Unser Antrag ist die logische Konsequenz. Die massiven Eingriffsbefugnisse
von staatlichen Institutionen in die Freiheitsrechte der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bürgerinnen und Bürger müssen zurückgefahren werden. Die Ablehnung der Onlinedurchsuchung ist dafür
ein erster wichtiger Schritt, für die ich um Ihre Unterstützung bitte.
Vorweg sei gesagt: hier geht es um die Aufhebung
bzw. Änderung von zwei Paragrafen eines Gesetzes. Da
wäre es doch schöner, wenn der Bundestag - beziehungsweise hier die antragstellende Linksfraktion - als
Gesetzgeber sich den entsprechend kurzen Gesetzentwurf selbst zutraute und nicht die Bundesregierung
aufforderte, entsprechend tätig zu werden. Bei diesem
Vorhaben ist die Komplexität doch wohl noch überschaubar.
Zur Sache: Die Onlinedurchsuchung ist überflüssig
und richtet bürgerrechtlichen Flurschaden an. Sie hat
im BKA-Gesetz nichts zu suchen. Wir haben das immer
gesagt, und wir bleiben dabei.
Die FDP wird jetzt wieder hektisch rufen „Ihr wart es
doch, angefangen hat es mit Otto Schily!“. Mit der zweiten Aussage hat sie recht, der ehemalige Bundesinnenminister hat den Geheimdiensten ohne gesetzliche
Grundlage diese Maßnahme gestattet. Und er hat dafür
das bekommen, was er sich verdiente, nämlich eine gerichtliche Abfuhr und politischen Widerstand, auch von
uns und wahrlich nicht nur von uns.
Gesetz geworden ist die Onlinedurchsuchung nur
dort, wo die FDP mitentscheiden konnte - in Bayern, in
NRW - und nun mitentscheiden kann: eben im Bund. Ich
kann im Koalitionsvertrag nicht erkennen, dass diese
Befugnis des BKA wieder abgeschafft werden soll. So
hörte man die FDP noch im Wahlkampf. Aber als im November 2009 der Bundesinnenminister dem BKA unter
großem Beifall zusagte, dass sich am BKA-Gesetz nichts
Wesentliches ändern werde, habe ich von der FDP keinen Widerspruch gehört. Die Zeiten als Bürgerrechtspartei sind offenbar vorbei. Die wirklich liberalen ExMinister klagen heute gegen die Gesetze ihrer nicht
mehr besonders liberalen Nachfolger. Und das ist auch
nötig.
Geklagt wird so - auch von unserer Fraktion - gegen
das BKA-Gesetz, nicht zuletzt wegen der Onlinedurchsuchung. Denn dieses Instrument ist ein tiefer Eingriff in
die Privatsphäre. Da wird auf dem privaten PC eine
Spionagesoftware installiert. Danach wird mitgelesen,
unterschiedslos von der E-Mail an die Großmutter bis
zum Brief an das Finanzamt. Die Privatsphäre ist nicht
ausreichend geschützt, die Aufzeichnung kann auch Personen treffen, die nicht im Visier des BKA stehen, aber
den beschnüffelten Computer mitbenutzen.
Und das alles passiert nicht etwa dann, wenn jemand
dringend terrorverdächtig ist - sondern im Rahmen der
Gefahrenabwehr. Ja, es gibt im BKA-Gesetz ein paar
Kautelen, die versuchen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes gerecht zu werden. Aber das reicht
nicht aus. Diese Art der heimlichen Komplettdurchleuchtung des elektronischen Teils der Privatsphäre darf
nicht gegen Menschen eingesetzt werden, gegen die
noch nicht einmal ein Tatverdacht besteht!
Und nun kommt etwas Erstaunliches hinzu. Nach eigenen Angaben hat das BKA in den knapp eineinhalb
Jahren, in denen es diese Kompetenz hat, nicht eine einzige Onlinedurchsuchung auch nur versucht.
Mir sind noch die Warnungen von BKA-Präsident
Ziercke und von Herrn Schäuble in Erinnerung, dass
ohne sofortige Einführung der Onlinedurchsuchung
Deutschlands Sicherheit praktisch nicht mehr zu garantieren sei, dass wir ohne dieses Instrument dem Terrorismus beinahe schutzlos ausgeliefert seien.
Ich glaube kaum, dass der Terrorismus auf der Welt
verschwunden ist, und ich bin sicher, dass die Beamtinnen und Beamten des BKA aktiv dagegen vorgehen.
Wenn also der Terrorismus noch existiert und das BKA
ihn erfolgreich bekämpft, aber gleichzeitig keine Onlinedurchsuchungen gemacht werden, dann bleibt nur eine
Schlussfolgerung: Das BKA braucht keine Onlinedurchsuchung zur Terrorbekämpfung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Katja Dörner, Fritz Kuhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung realisieren - Kostenkalkulation für Kinderbetreuung
überprüfen
- Drucksache 17/1778 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
Auch hier wurde in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden,
diesmal folgender Kolleginnen und Kollegen: Dorothee
Bär, Marcus Weinberg ({1}), Caren Marks,
Miriam Gruß, Diana Golze und Britta Haßelmann.
Die Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung und einer frühen Förderung für alle Kinder gehören zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in unserem Land. Damit junge Paare ihren Kinderwunsch
unbesorgt verwirklichen können, müssen wir bedarfsgerechte Betreuungsangebote in guter Qualität und eine
Vielfalt in der Trägerlandschaft gewährleisten. Neben
staatlichen und privat-gewerblichen Angeboten spielt
auch die besonders flexible und familiennahe Betreuung
der Kinder in der Tagespflege eine zentrale Rolle. Wir
wollen und werden die Attraktivität der Tagespflege er5798
höhen und haben dazu schon wichtige Schritte unternommen. Deutschland verfügt heute bereits über ein
gutes Angebot an Kinderbetreuung für die drei- bis
sechsjährigen Kinder. Der Rechtsanspruch auf Betreuung für diese Kinder ist realisiert.
Durch die Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar
2007 und den Wunsch vieler junger Eltern, nach einer
einjährigen Familienpause tatsächlich wieder in die Erwerbsarbeit zurückzukehren, wurde der Mangel an Betreuungsplätzen für die unter dreijährigen Kinder offenkundig. Schnell war klar, dass die Ausbauvorgaben im
Tagesbetreuungsausbaugesetz den Bedarf an Plätzen
nicht würden decken können.
Zwar fallen die Finanzierung und die Bedarfsplanung
der Kinderbetreuung im föderalen System der Bundesrepublik in die Zuständigkeit von Ländern und Kommunen.
Doch wegen der großen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung hat sich der Bund bereiterklärt, Länder und
Kommunen beim massiven Ausbau der Betreuungsplätze
zu unterstützen, um so möglichst viele Kinder schon früh
zu fördern und eine bessere Vereinbarkeit von Familie
und Erwerbsleben zu ermöglichen.
Beim sogenannten Krippengipfel haben Bund, Länder und Gemeinden dann im Jahr 2007 gemeinsam einen Bedarf von 750 000 Betreuungsplätzen für das Jahr
2013 errechnet. Bis zum Jahr 2013 wird es bundesweit
im Durchschnitt für jedes dritte Kind unter drei Jahren
einen Betreuungsplatz geben, ein Drittel der neuen
Plätze soll in der Kindertagespflege geschaffen werden.
Im gleichen Jahr wird jedes Kind mit Vollendung des
ersten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kinderbetreuungseinrichtung oder in der
Kindertagespflege haben.
An den errechneten Mehrkosten von 12 Milliarden
Euro bis 2013 wird sich der Bund mit 4 Milliarden Euro
zu einem Drittel beteiligen, ab 2014 dauerhaft mit
770 Millionen Euro jährlich an den Betriebskosten. Er
unterstützt dadurch die Kommunen weiterhin. Auch der
Zwang, zu sparen, hat an dieser Bundesbeteiligung
nichts geändert.
Es ist Aufgabe der Länder, dafür Sorge zu tragen,
dass die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel den
Kommunen und Trägern auch tatsächlich und zusätzlich
zur Verfügung gestellt werden. Ebenso ist es Aufgabe
der Länder, ihrerseits finanzielle Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass die vereinbarten Ziele erreicht werden.
Mit dem Beschluss der Bund-Länder-Arbeitsgruppe
zum Betreuungsausbau, der dann auch gesetzlich umgesetzt wurde, wurde ein Meilenstein für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit gesetzt, für
mehr Bildung für alle Kinder und für bessere Zukunftsperspektiven in Deutschland. Inzwischen haben viele
Kommunen den Stellenwert frühkindlicher Bildung erkannt und den Aufbau entsprechender Kinderbetreuungsstrukturen vorangetrieben. Die Kommunen, die bislang den Ausbau noch eher stiefmütterlich behandelt
haben, müssen umdenken. Der Bund jedenfalls steht zu
diesen Vereinbarungen und wird am Rechtsanspruch auf
einen Betreuungsplatz für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres ab 2013 festhalten, unabhängig davon,
ob vor Ort eine bestimmte Betreuungsquote erreicht
wird.
Über die Frage, wie groß der Bedarf sein wird, den
Eltern in den nächsten Jahren geltend machen werden,
sind derzeit nur Spekulationen möglich. Das Deutsche
Jugendinstitut hat zahlreiche Faktoren identifiziert, die
Elternwünsche beeinflussen. Vor allem aber werden Betreuungsangebote in verschiedenen Altersstufen sehr
unterschiedlich in Anspruch genommen. Vordringlich ist
es daher jetzt erst einmal, die bislang vereinbarte Zielvorgabe einer Versorgungsquote von bundesweit durchschnittlich 35 Prozent zu erreichen. Entwicklungen nach
2013 müssen dann bewertet werden. Der Bund begleitet
diese Bedarfsplanung der Länder mit der regelmäßigen
Evaluation des KiföG.
Für CSU und CDU zielen die Forderungen im Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen daher in die falsche Richtung und sind abzulehnen. Da wir uns aber fraktionsübergreifend jedenfalls darüber einig sind, dass die Ausgaben für die frühkindliche Bildung die wichtigste
Zukunftsinvestition sind, müssen Länder und Kommunen
ihre Prioritäten anders setzen und ihre Aufgaben hier
ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung des Bundes
erfüllen.
Für mich kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass der Ausbau der Krippenplätze auch vor der
Beitragsfreiheit Vorrang haben muss: Für geringverdienende Eltern ist es sinnvoll und angemessen, im Interesse der frühen Förderung ihrer Kinder bezahlbare
oder auch beitragsfreie Betreuungsplätze zu gewährleisten; alle anderen Eltern sind aber sehr wohl bereit, eine
qualitativ hochwertige Kinderbetreuung auch mit einem
finanziellen Beitrag zu unterstützen. Hier können Länder und Kommunen in Zeiten knapper Kassen ihre Ausgabenlast begrenzen und nach dem erfolgten Ausbau
prüfen, ob eine schrittweise Reduzierung oder gar eine
Streichung der Elternbeiträge angezeigt ist.
Dass es auch ohne den gebetsmühlenhaft wiederholten Ruf nach weiterer finanzieller Unterstützung durch
den Bund möglich ist, ausreichend Betreuungsplätze zur
Verfügung zu stellen, zeigt der Freistaat Bayern: Sozialministerin Christine Haderthauer hat wegen der schwierigen Finanzlage der Kommunen zugesichert, dass sie
den weiteren Ausbau auch dann mit Landesmitteln sichern wird, wenn die Mittel des Bundes aufgebraucht
sind. Auch bei den Betriebskosten hat sie den Kommunen Unterstützung zugesagt.
Daher appelliere ich an die Oppositionsfraktionen
- besonders an unseren ehemaligen Koalitionspartner,
der den Bedarf an Betreuungsplätzen und deren Finanzierung zusammen mit den Bundesländern und gemeinsam mit der Union ermittelt hat -, nicht immer nur den
Bund zum Adressaten beständiger Forderungen nach
zusätzlichem Geld zu machen, sondern bei den Ländern
die Umsetzung der gemeinsamen Beschlüsse anzumahnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist unbestritten: Kinderbetreuung ist eine Investition in die Zukunft. Auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sollten endlich zugeben: Die Familienpolitik der christlich-liberalen Koalition ist an
dieser Zukunft orientiert. Das haben wir bisher auch
deutlich gezeigt. So vielen Kindern wie möglich ein Betreuungsangebot zur Verfügung zu stellen, haben wir zur
zentralen Aufgabe und zu einem unserer vordringlichsten Projekte der Zukunft gemacht.
„Unser Ziel sind faire Startchancen für alle Kinder.
Aufstieg durch Bildung erreichen wir durch höhere Bildungsinvestitionen und das enge Zusammenwirken von
Bund und Ländern. Bildung darf keine Frage der Herkunft oder des Einkommens sein.“ So haben wir es im
Koalitionsvertrag vereinbart und so werden wir es auch
umsetzen.
Wir wollen gute Bildung und Betreuung mit gerechten
Chancen von Anfang an ermöglichen. Der Ausbau der
Kinderbetreuung gehört deshalb zu den wesentlichen
Maßnahmen, um mittel- und langfristig Innovationsfähigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft sowie Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu erzielen. Die Entscheidung von Bund, Ländern und Kommunen, bis 2013
Betreuungsplätze für 35 Prozent der unter Dreijährigen
zu schaffen, war und bleibt wichtig und richtig.
Bereits in der Großen Koalition haben wir das Gesetz
zum Ausbau der Kinderbetreuung verabschiedet und
ebenfalls einen Rechtsanspruch ab dem ersten Lebensjahr festgesetzt. Der Bund stellt für die Erweiterung der
Angebote, für Neubau-, Ausbau-, Umbau-, Sanierungs-,
Renovierungs-, Modernisierungs- und Ausstattungsmaßnahmen in Einrichtungen und für die Kindertagespflege, 2,15 Milliarden Euro zur Verfügung. Unser Ziel
ist es, damit eine möglichst flächendeckende Kinderbetreuung zu erreichen. Diese schafft die infrastrukturellen
Voraussetzungen für die Eltern, um Familie und Beruf
miteinander zu vereinbaren. Die Einführung des Elterngeldes und steuerlicher Begünstigungen sind weitere
wichtige Schritte auf dem Weg, jungen Familien mehr
Wahlmöglichkeiten zu eröffnen. Diese Maßnahmen sind
Erfolgsprojekte. Allen Unkenrufen zum Trotz werden sie
in Anspruch genommen. Wir verstehen die Förderung
und Unterstützung beider Elternteile in ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Fortkommen als gesamtstaatliche Aufgabe und werden diese gemeinsam schultern, mit der Unterstützung aller Akteure auf allen
Ebenen.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist der Ausbau der Kinderbetreuung bereits gut vorangekommen. Die Kernmarke
für den Ausbau hatten wir uns gemäß den Vorgaben des
Barcelona-Gipfels von 2002 gesetzt. Danach sollen in
drei Jahren EU-weit für mindestens 33 Prozent der Kinder unter 3 Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung stehen. Diese Vorgabe will die Bundesrepublik sogar um
2 Prozentpunkte übertreffen.
Wie weit die Länder mit ihren Anstrengungen vorangeschritten sind, untersuchte die Europäische Kommission vor 2 Jahren. Nach dem Bericht der Kommission
befindet sich Deutschland dabei auf einem mittleren Niveau und zeigt eine gute Positionierung innerhalb der
Europäischen Gemeinschaft. Der Dritte Nationale Bildungsbericht, der Mitte Juni veröffentlicht wurde, bestätigt ebenso, dass sich positive Entwicklungen für den
qualitativen und quantitativen Ausbau festmachen lassen. So standen 2009 rund 47 000 Tageseinrichtungen
für Kinder zur Verfügung, und das Personal in den Kindertagesstätten wurde um 42 000 Personen erhöht. Bei
den unter Dreijährigen stieg die Quote der Bildungsbeteiligung im Westen auf 15 Prozent in 2009, im Jahr
2006 waren es noch 8 Prozent. Folglich wurden hier
innerhalb von 3 Jahren 100 000 Plätze geschaffen. Damit haben wir nicht nur politische Signale gesendet, sondern bereits erreicht, dass mehr Frauen in Erwerbstätigkeit sind. Sogar die Vätermonate stoßen auf immer mehr
positive Resonanz.
Ohne Zweifel besteht weiterhin noch Bedarf an zusätzlichen Betreuungsangeboten. Dessen sind wir uns
bewusst. Aus dem Grund werden wir bei den Anstrengungen nicht nachlassen, auch wenn man laut Prognosen mit demografiebedingten Rückentwicklungen rechnen muss.
In dem vorliegenden Antrag fordern die Kollegen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nunmehr die unverzügliche aktualisierte Ermittlung des Bedarfs an Kinderbetreuungsplätzen zur Realisierung des Rechtsanspruchs ab dem Jahr 2013. Hierzu kann ich nur
Folgendes erwidern: Liebe Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, Sie haben anscheinend das Prinzip der Subsidiarität in diesem Zusammenhang übersehen. Die
Länder und Kommunen sind für die Bedarfsplanung im
Bereich der Kinderbetreuung zuständig, nicht der Bund.
Ihre Intention dabei wird mir hier nicht deutlich: Weshalb soll der Bund diese Erhebung durchführen? Vor allem ist eine pauschale Schätzung weder möglich noch
angebracht. Vielmehr erscheint es angemessen, Länder
und Kommunen in der laufenden Evaluation der Umsetzung des Kinderförderungsgesetzes dabei zu unterstützen, in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedarfsgerechte Konzepte zu entwickeln.
Auch in der Frage der Finanzen bleibt der Bund in
den ihm gesetzten Grenzen. Sie fordern eine Überprüfung der Verteilung über Umsatzbeteiligungen an die
Kommunen. Mich verwundert diese Forderung, zu der
sich nur Folgendes sagen lässt: Die Kompetenz für den
Ausbau der Kindertagesbetreuung liegt bei Ländern und
Kommunen, die somit auch die Finanzierungsverantwortung tragen. Der Bund unterstützt Kommunen und
Länder im Wege der Entlastung und muss diesen Weg
wählen, weil die Finanzierungslast eben in den Aufgabenbereich der Kommunen gestellt ist. Eine direkte Finanzbeteiligung zwischen Bund und Kommunen ist deshalb ausgeschlossen. Mich interessiert, wie Sie in dieser
Frage anders verfahren wollen.
Sie sehen: Ihr Antrag wirft leider mehr Fragen auf,
als er Antworten findet, geschweige denn haltbare Forderungen aufstellt. Eine inhaltliche Nachbesserung
wäre sicherlich angebracht. Ich bin mir sicher, dass wir
uns in der Sache und im Ziel einig sind. Wir beschreiten
Zu Protokoll gegebene Reden
Marcus Weinberg ({0})
somit denselben Weg. Allerdings sind Ihre Vorschläge
nicht zielführend.
Wir halten uns an unser Vorhaben, bestmögliche Betreuung für die einzige Ressource zu erzielen, die
Deutschland besitzt: unsere Kinder.
In den letzten Wochen haben wir mehrere Debatten
über die frühkindliche Bildung von Kindern und den
Ausbau des Betreuungsangebots geführt. Die SPD wiederholt heute erneut ihre Forderung: Frau Bundesministerin Schröder, blicken Sie endlich den Tatsachen
ins Gesicht, und ignorieren Sie nicht länger, dass der
bislang geschätzte Bedarf an Betreuungsplätzen nicht
ausreichen wird! Handeln Sie jetzt!
Wenn es die Bundesregierung mit Bildung von Anfang
an und mit der von Frau Merkel ausgerufenen „Bildungsrepublik“ ernst meint, muss sie alle Kräfte bündeln, um entsprechende Angebote der frühkindlichen
Bildung und Betreuung auszubauen. Kinder haben ein
Recht auf Bildung, und das nicht erst ab der Einschulung. Und Eltern haben ein Recht darauf, Familie und
Beruf miteinander zu vereinbaren. Wie soll das gelingen,
wenn es keine bedarfsgerechte Infrastruktur für Familien gibt?
In der heutigen Debatte geht es erneut darum, wie die
Kommunen in die Lage versetzt werden können, den
Rechtsanspruch ab 2013 zu realisieren und ein ausreichendes Angebot an Krippenplätzen zu schaffen. Dabei
mache ich zum wiederholten Male darauf aufmerksam,
dass wir ein Verfahren brauchen, um den tatsächlichen
Bedarf an Betreuungsplätzen zu messen. Ein solches
Verfahren fordern nun auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
Doch ein solches Instrument will die Bundesregierung nicht einführen. Auf meine mündliche Frage vom
7. Juli 2010 teilt sie nämlich mit, dass sie keine unabhängige regelmäßige Erhebung der Bedarfsentwicklung
von frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangeboten
plane. Sie begründet dies damit, dass die Bedarfsplanung im Bereich der Kinderbetreuung allein in der Zuständigkeit von Ländern und Kommunen liege. Die Länder haben demgegenüber eine solche Bedarfsprognose
gerade vom Bundesfamilienministerium erbeten!
Auch der jährlich von der Bundesregierung zu erstellende Bericht über den aktuellen Stand des Ausbaus, der
bereits für März 2010 angekündigt war, liegt immer
noch nicht vor. Wir haben Juli, und die Sommerpause
steht bevor. Das heißt nichts anderes als: Die Bundesregierung drückt sich vor ihrer Verantwortung. In dem
Antrag der SPD „Frühkindliche Bildung und Betreuung
verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion von
Anfang an“ fordern wir einen nationalen Bildungspakt
zwischen Bund und Ländern zur Steigerung der Ausgaben für frühkindliche Bildung. Wenn festgestellt wird,
dass mehr Eltern als bisher angenommen Betreuungsplätze für ihre Kinder in Anspruch nehmen werden, muss
finanziell nachgesteuert werden. Im Antrag der Grünen
wird zu Recht angemerkt, dass der kalkulierte Bedarf
von Kinderbetreuungsplätzen nicht überall ausreichend
sein wird.
Aber auch hier drückt sich die Bundesregierung vor
ihrer Verantwortung: In der Antwort auf meine mündliche Frage vom 7. Juli 2010 heißt es, die Bundesregierung plane keine weiteren verbindlichen Vereinbarungen mit den Ländern, um die Steigerung der Ausgaben
für frühkindliche Bildung zu gewährleisten und den weiteren bedarfsgerechten Ausbau der frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur voranzubringen.
Bund und Länder haben sich 2007 auf den bedarfsgerechten Ausbau der Krippenplätze geeinigt. Die später vom Bundesfamilienministerium zugrunde gelegte
35-Prozent-Quote war eine Orientierungsmarke für diesen Ausbau, nicht mehr und nicht weniger. Es war meines Erachtens damals schon ein Fehler der früheren
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, diese
Orientierungsmarke in Stein zu meißeln. Es wird immer
deutlicher, dass der Bedarf größer ist, dies zeigen auch
die jüngsten Ergebnisse des Ländermonitors „Frühkindliche Bildungssysteme“. Inzwischen besucht durchschnittlich jedes fünfte Kind im Alter von einem Jahr
eine frühkindliche Bildungseinrichtung oder wird in Tagespflege betreut, bei den Kindern im Altern von zwei
Jahren sind es fast 40 Prozent.
Daraus muss die neue Bundesfamilienministerin
Frau Schröder dringend Konsequenzen ziehen.
Es kommen noch andere Gründe hinzu, warum
schnelles Handeln erforderlich ist: Die Finanz- und
Wirtschaftskrise hat zu massiven Einnahmeausfällen in
den Kommunen geführt. Das schwarz-gelbe „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ belastet die Kommunen
zusätzlich. Wir fordern daher: Die Bundesregierung
muss die durch die schwarz-gelbe Steuerpolitik verursachten Einnahmeausfälle der Kommunen kompensieren! Hotels statt Krippenplätze zu fördern, ist der falsche Weg!
Aktuell zeigt sich beim Elterngeld, dass die Bundesfamilienministerin keine gute Anwältin der Familien ist:
Vorschnell hat sie das Elterngeld zur Disposition gestellt
und unsoziale Kürzungen für Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II durchgepeitscht.
Als ob dies nicht genug wäre, äußert sich die Ministerin in einer Pressemitteilung vom 7. Juli in sehr merkwürdiger Weise: Sie stellt es als Erfolg für Familien dar,
dass das Sondervermögen für den Kitaausbau von den
Sparbemühungen ausgenommen wird. Zum einen ist es
ein Ausdruck von Hilflosigkeit, längst beschlossene
Maßnahmen als eigenen Erfolg zu verkaufen. Zum anderen lässt diese Pressemitteilung Spielraum für Interpretationen, dass Frau Schröder ernsthaft überlegt hat, die
Mittel für den Kitaausbau zu kürzen. Wäre dem so, frage
ich mich, welches Verständnis von Familienpolitik diese
Ministerin hat. Dies bestätigt einmal mehr, dass sie sich
nicht als Anwältin der Familien versteht.
Die SPD nimmt die Ministerin aber als Anwältin der
Familien in die Pflicht. Daher fordern wir sie auf, die
Initiative für einen neuen Krippengipfel zu ergreifen. Bei
einem solchen Krippengipfel muss es vor allem um die
Zu Protokoll gegebene Reden
Klärung der Frage gehen, wie hoch der tatsächliche Bedarf an Krippenplätzen ist und was schnell getan werden
muss, um diesen Bedarf - aber auch die Betreuungsqualität in Kitas - abzudecken.
Wir fordern konkrete Verabredungen zwischen Bund
und Ländern, damit der Ausbau der Plätze und der Qualität der frühkindlichen Bildung vorangetrieben wird.
Wir fordern einen Rettungsschirm für Kommunen, damit diese finanziell in der Lage sind, den Betreuungsausbau zu stemmen.
Wir fordern eine Fachkräfteoffensive, damit mehr Erzieherinnen und auch Erzieher gewonnen werden.
Eine Bundesfamilienministerin, die all diese Maßnahmen abwehrt und die Hände selbstzufrieden in den
Schoß legt, setzt die Zukunftschancen von Kindern und
damit der Gesellschaft aufs Spiel.
Damit muss endlich Schluss sein.
Die Ergebnisse der aktuellen Entwicklungsforschung
verdeutlichen die zentrale Bedeutung der ersten Lebensjahre für die körperliche und geistige Entwicklung der
Kinder. Ohne Zweifel müssen Verfügbarkeit und Qualität frühkindlicher und vorschulischer Bildungs- und Betreuungsangebote der Wichtigkeit der ersten Lebensjahre Rechnung tragen. Für die Bundesregierung ist die
Verfügbarkeit eines bedarfsgerechten Betreuungsangebots für die frühkindliche Entwicklung von Anfang an
eine der Hauptprioritäten in dieser Legislaturperiode.
Eine besondere Rolle kommt hierbei den Kindertagesstätten zu. Ihr Beitrag hinsichtlich der späteren Schulund Karrierebildung ist immens: Nach einer Studie der
Bertelsmann Stiftung erhöht sich für den Durchschnitt
der Kinder die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu
besuchen, von 36 Prozent auf rund 50 Prozent, wenn sie
eine Krippe besucht haben. Krippen und Kindertagesstätten sind Bildungseinrichtungen, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung, Förderung und Unterstützung von Kindern leisten. Frühkindliche Bildung ist
nämlich ein entscheidender Faktor für Chancengerechtigkeit und kann helfen, die Armutsspirale zu durchbrechen. Kindertagesstätten sollten daher verstärkt als
Orte der Bildung, Erziehung und Betreuung anerkannt
und genutzt werden, da sie einen Beitrag zu mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit leisten. Gerade dieser
Aspekt ist für uns von besonderer Bedeutung; denn wir
wollen, dass alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen
Herkunft, die Chance auf eine gute Bildung erhalten.
Aber auch vom Standpunkt einer erfolgreichen Vereinbarung von Familie und Beruf ist der bedarfsgerechte
Ausbau der Kindertagesbetreuung ein wesentlicher Faktor. Echte Wahlfreiheit beider Eltern, wie sie ihre berufliche Tätigkeit mit familiären Aufgaben vereinbaren
wollen, kann es nur geben, wenn auch eine ausreichende
Zahl an qualitativ hochwertigen Betreuungsplätzen existiert.
Mit dem im Dezember 2008 beschlossenen Kinderförderungsgesetz wurde der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige eingeführt. Anvisiert
wurde hierbei eine Betreuungsquote von 35 Prozent.
Während Kritiker diese Zahl anfänglich als viel zu hoch
eingestuft hatten, zeigen jüngste Berechnungen, dass
dies nicht der Fall ist. Der Bedarf an Betreuungsplätzen
steigt. Der aktuelle Ländermonitor „Frühkindliche Bildungssysteme 2010“ der Bertelsmann Stiftung belegt
eindrucksvoll: Immer mehr Eltern nutzen frühkindliche
Betreuungsangebote. Die steigende Nachfrage bestätigt
die Richtigkeit des im Kinderförderungsgesetz verankerten Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz bis
2013. Die Studie zeigt aber auch, dass wir in unseren
Anstrengungen beim Ausbau jetzt nicht nachlassen dürfen. Beispiele von Kommunen aus Ostdeutschland, wo
die Betreuungsquote bei teilweise über 60 Prozent liegt,
zeigen, dass es durchaus möglich ist, ein entsprechendes
Angebot für die Kleinkindbetreuung bereitzustellen. Es
gilt nach wie vor: Alle Kommunen müssen sich weiterhin
individuell auf den ab 2013 geltenden Rechtsanspruch
vorbereiten. Ziel muss sein, für die Kinder ein flächendeckendes Angebot an frühkindlichen Bildungseinrichtungen bereitzustellen und damit auch allen arbeitswilligen Müttern und Vätern die Möglichkeit zu bieten, Beruf
und Familie zu vereinbaren. Dies muss im Sinne einer
modernen Gesellschaft Priorität haben.
Für die FDP ist aber auch klar: Ein zügigerer Ausbau
der Kindertagesbetreuung wird nur dann erreicht werden, wenn private Initiativen wie Elternvereine, privatgewerbliche Einrichtungen und Betriebe verstärkt Kindertagesbetreuung, vor allem im Krippenbereich, anbieten. Private und privat-gewerbliche Träger sollten daher
einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlicher Förderung haben. Die unterschiedliche Behandlung privatgewerblicher und frei-gemeinnütziger Träger ist ein Hindernis beim Erreichen der im KiföG gesteckten Ziele. Es
ist das erklärte Ziel dieser christlich-liberalen Koalition,
diese Ziele zu erreichen. Dabei kommen verschiedene
Faktoren zum Tragen. Ein Teil des Mehrbedarfs kann
durch Betreuungsplätze gedeckt werden, die frei werden,
weil in Folge des demografischen Wandels die Zahl der
Kinder sinkt. Dennoch werden zahlreiche zusätzliche
Einrichtungen benötigt, um den Bedarf zu decken und
ein möglichst wohnortnahes Angebot zu gewährleisten.
Die Kosten des Ausbaus belaufen sich auf ein Gesamtvolumen von 12 Milliarden Euro. Bund, Länder und
Kommunen haben vereinbart, jeweils ein Drittel der
Kosten zu übernehmen. Die Bundesregierung hat gemäß
dieser Vereinbarung 4 Milliarden Euro als Beteiligung
an den Gesamtkosten des Ausbaus bereitgestellt. Weiterhin werden ab 2013 jährlich 770 Millionen Euro zur
Deckung der laufenden Betriebskosten zur Verfügung
gestellt.
Es besteht ein breiter Konsens in dieser Koalition
über die Notwendigkeit eines besseren Betreuungsangebotes in Deutschland. Diese Notwendigkeit wird deutlich durch die Priorisierung, die der Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige in den laufenden Haushaltsverhandlungen hat: Nicht nur wurde das Sondervermögen für den Kitaausbau von den Sparbemühungen ausgenommen, es sollen auch in den nächsten 4 Jahren zusätzlich in die Verbesserung der Qualität der
frühkindlichen Bildung investiert werden. Eine bessere
Zu Protokoll gegebene Reden
Qualifizierung des Personals, Maßnahmen für eine Erhöhung der Anzahl von männlichen Erziehern und eine
intensivere Sprachförderung sind dabei wesentliche
Ziele, die wir aktiv verfolgen werden.
Wir stehen zu dem im KiföG beschlossenen Ziel beim
Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige, und gemeinsam mit den Ländern und Kommunen werden wir
dieses Ziel bis 2013 auch erreichen.
„Bundeskabinett beschließt Bundeshaushalt. Bundesfamilienministerium investiert mehr als 400 Millionen
Euro zusätzlich in die frühkindliche Bildung“ titelte das
Familienministerium in seiner gestrigen Pressemitteilung. In der gleichen Pressemitteilung heißt es dann
auch, „dass in den nächsten vier Jahren zusätzlich insgesamt rund 400 Millionen Euro in die Qualität der
frühkindlichen Bildung investiert werden“. Das klingt
schön - aber nur so lange, wie man die Realitäten in
puncto Ausbau von Kindertagesbetreuung in den Größenordnungen ausblendet, wie es die Bundesregierung
nun schon seit einigen Jahren und auch weiterhin tut.
Die Mittel, die hier vollmundig als „zusätzlich eingestellt“ angekündigt werden, sind sicher gut, aber leider
alles andere als zusätzlich. Den Kinderbetreuungsausbau bezahlen nach Rechenart der Bundesregierung
nämlich die, die eigentlich ohnehin schon nichts haben:
Familien, die von ALG II leben müssen, denen sie nun
das Elterngeld auf diese Leistung anrechnen. Diese Anrechnung aber bedeutet für die Betroffenen eine faktische Streichung dieser familienpolitischen Leistung.
Hier ist nicht nur etwas faul im Staate. Das ist eine
schreiende Ungerechtigkeit.
In der Bundesrepublik wird die Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige ausgerechnet von denen bezahlt, die die volle Wucht des Sozialabbaus der letzten
Jahre am meisten zu spüren bekommen haben, deren
Kinder außerdem derzeit bis zum dritten Lebensjahr
häufig noch nicht einmal einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Kita haben und möglicherweise auch 2013 die größten Verlierer sein werden.
Denn die Plätze werden voraussichtlich nicht für alle
reichen. Eine solche Politik macht einmal mehr deutlich,
dass Kindertagesbetreuung und deren bitter notwendiger Ausbau nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
betrachtet wird und die öffentliche Hand in persona der
Bundesregierung sich immer mehr aus ihren Aufgaben
stiehlt.
Ich bin den Grünen sehr dankbar dafür, dass sie mit
ihrem Antrag der Debatte um die Finanzierung des Ausbaus der Kinderbetreuung mehr Gewicht geben und sich
der Bundestag nun wiederholt mit dieser Frage befassen
muss. Vor allem bin ich dankbar, dass neben der Linken
eine weitere Bundestagsfraktion Wege aus der unsozialen Politik der vergangenen Jahre sucht, indem sie fordert, dass der Staat für einen ausgewogenen Finanzausgleich sorgt und nicht die Bürgerinnen und Bürger
immer wieder zur Kasse gebeten werden. Auch die Linke
fordert seit langem, dass der Bund sich endlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an der Finanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligt. Er darf
Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht länger
alleinlassen.
Es ist nicht nur selbstverständlich, dass der Bund sich
mit 4 Milliarden Euro an dem Sondervermögen, dass für
den Ausbau der Kinderbetreuung eingerichtet wurde,
beteiligt. Gleiches wird von den Ländern und Kommunen ja auch verlangt. Der Umfang des Sondervermögens
reichte von Beginn an vorn und hinten nicht aus, um die
Mammutaufgabe zu bewältigen, vor der viele Kommunen stehen. Von dort kommen seit längerem deutliche
Signale, die zu überhören ein sträflicher Fehler wäre.
Wenn es vom Vorsitzenden des Deutschen Städtetages,
Stephan Articus, heißt: „Uns geht es nicht darum, den
Rechtsanspruch ab 2013 infrage zu stellen, aber es fehlen noch Milliardenbeträge, um ihn zu verwirklichen“,
sollte man diesen Hilferuf ernst nehmen. Denn die Bundesregierung hat mit einem zu begrüßenden Rechtsanspruch Fakten geschaffen. Die Kommunen sollen offenbar am Ende die Rechnung begleichen; denn dort
werden die Eltern 2013 ihre berechtigte Forderung nach
einem Kita-Platz aufmachen.
Mit der Frage, wie Umsatzsteueranteile gerechter
verteilt werden, um Kommunen endlich die nötigen finanziellen Mittel zur Bewältigung ihrer Aufgaben zu geben, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung gemacht. Dass dies auch mit einer spürbaren Erhöhung
dieses Steueranteils für die Kommunen einhergehen und
dass man auch noch nach weiteren Finanzierungsmodellen suchen muss, werden wir hoffentlich in der nun
folgenden Debatte diskutieren und ausloten. In den
Kommunen wir dies schon lange getan.
Kinder sind die Zukunft unseres Landes. Ein Satz: oft
zitiert, viel zu selten gelebt. Das Kinderförderungsgesetz
ist der späte Versuch, der Lebenswirklichkeit junger Familien gerecht zu werden und Chancengerechtigkeit zu
schaffen. Dafür ist der Rechtsanspruch auf Betreuung
für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein
erster kleiner Schritt.
Doch dieser Schritt kann nur gelingen, wenn der Ausbau solide finanziert ist. Hier hätte die Bundesregierung
beweisen können, dass sie es ernst meint mit einer aufgabengerechten Kostenausstattung der Kommunen. Die
Basis für eine solide Finanzierung ist allerdings eine
Kalkulation, die sich am tatsächlichen Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen orientiert und der finanziellen
Realität der Kommunen gerecht wird - eine solide Finanzierung, die den Ausbau der Kinderbetreuung fördert und Zukunft garantiert. Aber das Gegenteil ist passiert.
Doch gerade weil es so wichtig ist, dass der Rechtsanspruch realisiert wird, müssen wir uns jetzt darum
kümmern, dass Städte und Gemeinden, vor allem die
notleidenden, auch in die Lage versetzt werden, den notwendigen Kitaausbau zu finanzieren. Deshalb muss der
erste Blick dem tatsächlichen Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen gelten. Denn was viele Bürgermeisterinnen
und Bürgermeister längst ahnten, hat sich nun in
Zu Protokoll gegebene Reden
schwarze Zahlen gegossen: Einer aktuellen Bertelsmann-Studie zufolge liegt der Anteil betreuter Zweijähriger heute bereits bei 40 Prozent. Der angenommene
Bedarf von 35 Prozent, der den Kostenberechnungen zugrunde liegt, ist absehbar zu niedrig und die Berechnungsgrundlage der Bundesregierung damit unsolide.
In vielen Städten und Gemeinden wird der Bedarf an
Kinderbetreuungsplätzen voraussichtlich über das
Platzangebot hinausgehen. Natürlich werden viele Eltern von ihrem Recht Gebrauch machen und ihren
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung bei den Kommunen einklagen. Der Handlungsbedarf besteht jetzt.
Wenn die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und Kommunen nicht den tatsächlichen Bedarf an
Kinderbetreuungsplätzen erhebt und auf dieser Grundlage ein solides Finanzierungskonzept mit Ländern und
Kommunen vereinbart, lässt sie sowohl die Kinder als
auch die Kommunen im Stich.
Bisher ist es doch so: Trotz der desaströsen finanziellen Lage vieler Kommunen besteht die ursprünglich
vereinbarte Drittelfinanzierung der Ausbaukosten von
12 Milliarden Euro zwischen Bund, Ländern und Kommunen nur auf dem Papier. Es wird viele Länder geben,
die die Mittel des Bundes nicht vollständig weiterleiten
und zudem Landesmittel aus der Finanzierung abziehen
werden.
Also: Überprüfen Sie den tatsächlichen Bedarf an
Kinderbetreuungsplätzen! Überprüfen Sie die tatsächlich anfallenden Kosten und sorgen Sie für eine ausreichende Finanzierung! Überprüfen Sie, ob die eingesetzten Mittel auch wirklich da ankommen, wo sie gebraucht
werden: in den Not leidenden Kommunen. Handeln Sie
jetzt! Sorgen Sie für eine aufgabengerechte Kostenausstattung der Kommunen und für die Realisierung des
Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr, heute und morgen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1778 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mittel des Nationalen Stipendienprogramms
für eine Erhöhung des BAföG nutzen
- Drucksache 17/2427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben, und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan Kaufmann, Marianne
Schieder ({1}), Swen Schulz ({2}), Patrick
Meinhardt, Nicole Gohlke und Kai Gehring.
Der Bildungsaufstieg junger Menschen darf nicht an
finanziellen Hürden scheitern, dies ist eine Kernbotschaft der Union. Um das zu gewährleisten, setzen wir die christlich-liberale Koalition - auf BAföG, Bildungsdarlehen und Stipendien. Diese drei Instrumente ergänzen sich gegenseitig. Das Nationale Stipendienprogramm trägt zu einem Aufstieg durch Bildung bei. Dies
verkennt die Linke in ihrem Antrag. Das Nationale Stipendienprogramm ist auch ein höchst bürgerliches Projekt, denn es setzt auf Leistung, Eigenverantwortung und
Subsidiarität. Das Nationale Stipendienprogramm dient
zudem nicht nur der Studienfinanzierung, es setzt auch
Anreize für Spitzenleistungen. Wir wollen junge Menschen fördern, damit sie sich nach ihren Begabungen
und Fähigkeiten entfalten können. Mit der Förderung
besonders Begabter stärken wir zugleich den Wettbewerb im internationalen Kampf um Fachkräfte.
Annette Schavan weist in der „Financial Times“ von
heute zu Recht darauf hin, dass wir unseren Wohlstand
einer großen Zahl von Fachkräften ebenso wie dem Erfindungsreichtum exzellenter Studierender verdanken.
Diese Talente müssen wir ermutigen, ein Studium aufzunehmen. Ich habe letzte Woche an der Universität Stuttgart im Bereich Nanooptik Diplomanden und Doktoranden kennengelernt, die bereits heute - vor Abschluss
ihrer Ausbildung - als Forscher international begehrt
sind. Die Förderung eben dieser jungen Menschen muss
unser Ziel sein! Denn auch darum geht es: Wir möchten
jungen Menschen das Signal geben, dass sich Leistung
und Engagement lohnen - und auch finanziell bezahlt
machen. Die Stipendien in Höhe von 300 Euro pro Monat sollen von privaten Geldgebern wie Unternehmen,
Verbänden, Privatpersonen und Alumni einerseits und
dem Staat andererseits gemeinsam finanziert werden.
Die Stipendien werden von den einzelnen Hochschulen
unter Einbindung der Stipendiengeber nach Leistung
und Begabung vergeben. Doch neben der erbrachten
Leistung zählen auch gesellschaftliches Engagement,
die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, oder
besondere persönliche Gründe, die sich beispielsweise
aus der familiären Herkunft oder einem Migrationshintergrund ergeben können. Dies ist ein wichtiger Einstieg
in die Mobilisierung neuer Begabungsreserven und die
Erschließung bisher unterrepräsentierter Studierendengruppen. Hiergegen kann man nun wirklich nichts einwenden.
In Ihrem höchst oberfläch begründeten Antrag, der
nichts als Beschäftigungstherapie vor der Sommerpause
zu sein scheint, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, nehmen Sie Bezug auf eine der zahlreichen HISStudien - diesmal über „Das soziale Profil in der Begabtenförderung“ aus dem Jahre 2009. Ihre Ablehnung
des Nationalen Stipendienprogramms begründen Sie mit
dem HIS-Ergebnis, wonach unsere Begabtenförderungswerke überwiegend Studierende aus reichen Elternhäusern fördern. Damit versuchen Sie einmal mehr, ein völlig falsches Bild in der Gesellschaft zu etablieren: hier
die böse Koalition aus CDU/CSU und FDP, die nur die
Reichen und Privilegierten fördert - dort die vereinigte
Linke, die sich als Interessenwahrer der Armen und Unterprivilegierten ausgibt. Dieses verzerrte Bild vor Augen gehen andere so weit, im Zusammenhang mit Stipendien von einer „Inzucht der Eliten“ zu sprechen. Doch
ist es richtig, den Förderern vorzuwerfen, dass angeblich die Falschen bei ihnen vorsprechen? Niemand ist
gehindert, sich bei einem der Begabtenförderungswerke
oder später im Rahmen des Nationalen Stipendienprogramms an einer der Hochschulen um ein Stipendium zu
bewerben. Je mehr wir aber das Klischee von einer abgeschotteten Elite bemühen, umso eher werden Kinder
aus sozial schwächeren Elternhäusern von einer Bewerbung abgeschreckt. Auch dies sollten wir bedenken.
Im Übrigen haben auch die Begabtenförderungswerke selbst längst erkannt, dass mehr soziale Mischung
guttut. Allein die Konrad-Adenauer-Stiftung investiert in
2010 circa 7 Millionen Euro, um Nachwuchs aus Migrantenfamilien und Nicht-Akademiker-Haushalten für
eine Bewerbung um ein Stipendium zu gewinnen. Die
Verfasser der HIS-Studie zeigen zudem selbst auf, dass
für die Frage der Bewerbung um ein Stipendium nicht
nur das Bildungsniveau der Eltern entscheidend ist, sondern ebenso das Anregungsniveau im Elternhaus. Somit
haben wir auch und vor allem ein Problem fehlender Informationen über die Möglichkeiten einer Studienfinanzierung über das BAföG hinaus - nicht aber ein Problem
sozialer Ungerechtigkeit bei der Vergabe der Stipendien.
Über das Nationale Stipendienprogramm sehe ich im
Übrigen eine gute Chance, die Informationslücke in den
sozial schwächeren und bildungsfernen Familien zu
schließen. Durch die Beteiligung privater Mittelgeber,
wie zum Beispiel Unternehmen, wird der Kreis der Wissenden auch aus hochschulfernen Familien über die
Möglichkeit eines Stipendiums zwangsläufig größer.
Lassen Sie uns also die Chancen einer neuen Stipendienkultur in den Vordergrund rücken. Lassen Sie uns Stipendien als sozialen Kitt für unsere Gesellschaft begreifen wie dieser Tage der Ex-Stipendiat Christian Fuchs in einem Beitrag für „Spiegel Online“. Freuen wir uns los
über das große gesellschaftliche Engagement vieler Stipendiaten. Und ermuntern wir die Stipendiengeber, insbesondere aus der Wirtschaft, über ihre Bildungswerke ich nenne beispielhaft Südwestmetall in BadenWürttemberg - eine ideelle Förderung für die Stipendiaten anzubieten und so deren Horizont zu erweitern. Darum muss es doch gehen: Die jungen Menschen zu ermuntern, den Blick über den Tellerrand zu wagen - in
der Gemeinschaft mit anderen jungen Stipendiaten aus
den unterschiedlichsten Fachbereichen. Genau dies ist
doch die große Leistung und Errungenschaft der bestehenden Begabtenförderungswerke.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, die Mittel des
Nationalen Stipendienprogramms für eine Erhöhung des
BAföG zu nutzen, ist auch vor diesem Hintergrund einmal mehr blanker Populismus. Er hilft uns nicht weiter
bei unseren Bemühungen, Deutschland nach vorne zu
bringen und Solidarität zwischen den Generationen und
zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft aufzubauen. Das BAföG ist eben nur ein - zugegeben wichtiges - Instrument. Aber es kann nicht das einzige Instrument bleiben. An dieser Stelle noch ein Wort zur
aktuellen Debatte über Studiengebühren. Im Jahr 2009
haben 43 Prozent eines Jahrgangs ein Studium begonnen. Das sind 7 Prozent mehr als im Jahr 2005. Es
stimmt also nicht, wenn Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen in einem Antrag vom 6. Juli behauptet, dass Studiengebühren eine höhere Bildungsbeteiligung verhindern.
Im Studiengebührenland Baden-Württemberg ist die
Zahl der Studienanfänger in den letzten Jahren sogar
deutlich gestiegen. Und auch beim Nationalen Stipendienprogramm funktioniert die Schwarz-weiß-Malerei von
Rot-Grün und den Linken nicht. Die Stipendien werden
nämlich nicht auf das BAföG angerechnet. Begabte Studierende aus einkommensschwachen Familien profitieren also gleich doppelt von der Förderung. Es geht uns
auch um einen Paradigmenwechsel. In Deutschland
stammen derzeit nur 15 Prozent der Finanzierung des
Bildungssystems aus privaten Mitteln. Der Durchschnitt
der OECD-Länder beträgt 27,4 Prozent. Die USA, Japan und Korea schöpfen sogar jeweils mehr als zwei
Drittel der Bildungsfinanzierung aus privaten Quellen.
Dies muss uns nachdenklich stimmen. Denn die Gesellschaft kann ihre Verantwortung für Bildung und Erziehung nicht alleine an den Staat delegieren. Auch hierauf
hat Annette Schavan in der „Financial Times“ zu Recht
hingewiesen. Wir dürfen in diesem Zusammenhang sehr
gespannt sein, ob die neue rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen die durch die Streichung
der Studiengebühren wegfallenden 250 Millionen Euro
durch entsprechende staatliche Mittel für die Hochschulen ersetzen wird. Die Erfahrungen aus anderen rotgrün regierten Ländern lassen Schlimmes befürchten.
Am Ende sind die Bekenntnisse der linken Parteien zur
Bildung und deren Bedeutung nämlich immer nur Lippenbekenntnisse; das zeigen alle Ländervergleiche mehr
als deutlich. Wer so agiert wie Rot-Grün in NordrheinWestfalen, handelt fahrlässig - und setzt die Zukunft unseres Landes aufs Spiel!
Zurück zum Stipendienprogramm: Derzeit erhalten in
Deutschland nur 1 Prozent der Studierenden Gelder aus
privater Hand, ein weiteres Prozent über die staatlich
bezuschussten Begabtenförderungswerke. In der letzten
Wahlperiode hat die Bundesregierung die Zuschüsse für
die 12 Begabtenförderungswerke von 80 Millionen Euro
auf 120 Millionen Euro erhöht. Nach dieser Erhöhung
ist die Zahl der Geförderten von 13 000 auf 21 000 gestiegen. Das Nationale Stipendienprogramm wird uns
ermöglichen, die Zahl der Geförderten weiter zu erhöhen. Das Zusammenspiel aus privaten und staatlichen
Geldern macht deutlich, dass Unternehmen, Stiftungen
und vermögende Privatpersonen eine besondere Verantwortung für die Ausbildung junger Menschen haben.
Die Vernetzung zwischen der Wirtschaft und den Hochschulen wird gestärkt. In anderen Teilen der Welt, insbesondere in den USA, ist die Vergabe von Stipendien ganz
selbstverständlich. Dies soll uns gutes Beispiel sein.
Leistung und gesellschaftliches Engagement junger
Menschen muss belohnt und gefördert werden. Hoffen
wir also darauf, dass das Nationale Stipendienprogramm im Bundesrat am 9. Juli 2010 eine Mehrheit finZu Protokoll gegebene Reden
det. Falls nicht, setzen wir auf die Vernunft im Vermittlungsausschuss. Es sollte alles getan werden, spätestens
hier einen tragfähigen Kompromiss zu schmieden.
Bei den Verhandlungen zum Nationalen Stipendienprogramm legte die schwarz-gelbe Koalition wenig Sinn
für demokratische Prozesse und den Wert parlamentarischer Diskurse um Gesetzesentwürfe an den Tag. Blindlings wurde wieder einmal ein Vorschlag durchgepeitscht, der nicht nur bei der Opposition, sondern bei
zahlreichen Experten auf heftige Kritik gestoßen ist.
Man darf gespannt sein, wie morgen der Bundesrat
trotz der noch vorhandenen schwarz-gelben Mehrheit im
Bundesrat entscheiden wird. Eine Ablehnung scheint
sehr wahrscheinlich zu sein. Frau Schavan, Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, was muss noch
passieren, damit Sie endlich einlenken?
Bereits bei den Haushaltsberatungen 2010 haben wir
von der SPD gefordert, das Nationale Stipendienprogramm sein zu lassen und das dafür notwendige Geld in
einen nennenswerten Ausbau des BAföG zu stecken. Wir
haben diese Forderung in unserem Antrag zur BAföGNovelle und in einem Entschließungsantrag im Rahmen
der Debatten um das Nationale Stipendienprogramm
mehrfach wiederholt. Näheres dazu in der Ausschussdrucksache 17({0})20, Änderung Haushalt 2010, und
den Bundestagsdrucksachen 17/884, BAföG-Novelle,
und 17/2217, Entschließungsantrag zum Nationalen Stipendienprogramm.
Daher ist der Antrag der Fraktion Die Linke in seinem Grundanliegen zwar zu begrüßen, allerdings muss
man sich fragen, warum er gerade jetzt kommt. Einerseits ist die grundlegende Forderung schon älter. Andererseits wird er mit einer Bundesratsentscheidung begründet, die noch gar nicht gefallen ist. Vonseiten des
Bundesrates gibt es zwar derzeit zwei Voten der zuständigen Ausschüsse, das Stipendienprogramm abzulehnen.
Es fehlt allerdings noch der endgültige Beschluss, der
morgen erst fallen wird. Aus Respekt vor demokratischen Gepflogenheiten und den darin involvierten Institutionen wäre es sinnvoll, Entscheidungen abzuwarten.
Trotzdem noch ein paar Worte zum Grundanliegen,
das Geld für eine nennenswerte Ausweitung des BAföG
zu verwenden. An erster Stelle steht für mich die Frage
nach einer sozial gerechten Studierendenfinanzierung.
Hinzu kommt die Tatsache, dass das Stipendienprogramm ein gewaltiges bürokratisches Monster nach sich
ziehen würde. Besonders schwerwiegend finde ich allerdings die einhellige Meinung aller Experten in der Anhörung zum Gesetzentwurf, dass es als völlig utopisch
erscheine, 8 Prozent aller Studierenden über das Stipendienprogramm finanzieren zu können. Viele waren der
Ansicht, dass 2 Prozent realistischer seien.
Alleine diese Tatsache würde ausreichen, um 75 Prozent der für das Stipendienprogramm veranschlagten
Mittel umzuwidmen, insbesondere wenn es der Bundesregierung ernst ist, den Etat für Bildung und Forschung
signifikant zu erhöhen und mehr für die Bildung in diesem Land zu tun. Andernfalls bleibt es bei Luftbuchungen, die zwar geplant, aber nie realisiert werden. Sagt
der Bundesrat morgen Nein bzw. scheitert auch der Vermittlungsausschuss, falls er denn überhaut angerufen
wird, so bleiben 100 Prozent der geplanten Mittel, um
sie anderweitig zu verwenden.
Gerade die enormen Verwaltungskosten, die von den
Ländern zu tragen wären, waren ein nicht unerheblicher
Faktor, der den Finanzausschuss des Bundesrates zu einer nahezu einstimmigen Ablehnung bewegte.
Rechnet man alle Kosten, die für das Stipendienprogramm in seiner Endausbaustufe erforderlich gewesen
wären, zusammen, so kommt man auf rund eine halbe
Milliarde Euro: 300 Millionen Euro öffentlicher Anteil
für die Stipendien, 100 Millionen Steuerausfälle durch
die steuerliche Abzugsfähigkeit der privaten Gelder sowie rund 90 Millionen Euro an Verwaltungsaufwand.
Damit könnte man das BAföG in einem Umfang ausbauen, von dem bisher viele nur träumen.
Neben der Umwidmung der Stipendiengelder wäre es
eine mindestens genauso wichtige Aufgabe für die Bundesregierung, nach Wegen für eine bessere Finanzausstattung der Länder und Kommunen zu sorgen. Sonst
bringt es nämlich nichts, wenn die sogenannte christlich-liberale Koalition zwar vollmundig mehr Geld im
Bundeshaushalt für Bildung verspricht, den eigentlich
Verantwortlichen - den Bundesländern - durch Aktionen wie dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Einnahmequellen beschneidet.
Ich hoffe, dass Schwarz-Gelb zur Vernunft kommt und
sich - geleitet von Sachargumenten - vom Nationalen
Stipendienprogramm verabschiedet und endlich nennenswert mehr Geld in eine sozial gerechtere Studierendenförderung steckt. Lassen Sie sich aber zumindest davon überzeugen, dass es mehr als ein Warnschuss ist,
wenn der Bundesrat das Stipendienprogramm ablehnt,
obwohl dies morgen vermutlich die letzte Sitzung des
Bundesrates mit schwarz-gelber Mehrheit sein wird.
Innerhalb von vier Monaten debattieren wir zum wiederholten Mal das Thema BAföG und Stipendien. Das
zeigt, wie wichtig das Thema Ausbildungsfinanzierung
und Studienfinanzierung ist und wie ernst die Fraktionen es nehmen. Wir können nicht häufig genug darüber
reden, wie wichtig es ist, ein Finanzierungssystem zu
schaffen, das es allen ermöglicht, ihren Wünschen und
Fähigkeiten entsprechend Bildungsangebote wahrzunehmen, unabhängig vom Geldbeutel und der sozialen
Herkunft. Doch Reden allein genügt natürlich nicht. Es
müssen nach allen Worten dann auch endlich Taten folgen. Und vor allem müssen, wenn alle Fakten auf dem
Tisch liegen, die richtigen Taten folgen. Leider haben
die letzten Wochen etwas anderes gezeigt. Sie haben gezeigt, dass sowohl die Bundesregierung als auch die Koalitionsfraktionen sich zwar gerne selbst reden hören,
aber nicht in der Lage sind, konstruktive Kritik anzunehmen und umzusetzen. Doch statt zuzuhören, versuchten
Union und FDP, verbissen und verkniffen ihr Stipendienprogramm zu verteidigen. Als hübsches Beiwerk
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
wurden kleine Verbesserungen im BAföG-Gesetz dargeboten. Kritik hagelte es von allen Seiten: Studierende,
Hochschulen, Wirtschaftsunternehmen- und verbände,
unabhängige Experten. Selbst die Länder formulierten
in ihren Stellungnahmen zu beiden Gesetzentwürfen Vorbehalte. Insgesamt fiel die Beurteilung nicht gut aus.
Das BAföG-Gesetz erhielt die Note mangelhaft; das Stipendiengesetz fiel komplett durch.
Die SPD hat immer betont, dass der vorgelegte Entwurf zum BAföG-Änderungsgesetz richtige Ansätze,
aber keine wirklichen Verbesserungen oder gar eine
Ausweitung enthält. In mehreren Anträgen wurden konstruktive Vorschläge wie die Förderung von Teilzeitausbildungen, eine mutigere Anhebung der Altersgrenze
oder eine Förderung durch Anhebung der Einkommensgrenzen, die eine echte BAföG-Novelle ausgemacht hätten, vorgelegt. Abgelehnt wurden diese und weitere Vorschläge mit der Begründung, dass die finanziellen Mittel
hierfür im Haushalt des Bundes nicht vorhanden wären.
Stattdessen werden aber für ein überteuertes, unsinniges
Stipendienprogramm, das kaum jemand will, Millionen
Euro verschleudert. Bereits in einem Entschließungsantrag hat die SPD die Koalitionsfraktionen aufgefordert,
das Stipendienprogramm aufzugeben und die frei werdenden Mittel für die Ausweitung und Weiterentwicklung
in der Ausbildungsförderung zu nutzen. Auch dieser Antrag wurde vehement zurückgewiesen. Erneut sind im
Haushaltsentwurf für das Jahr 2011 10 Millionen Euro
für das Programm eingestellt.
Mit Oppositionsvorschlägen mag die Bundesregierung so umgehen können. Tragisch ist nur, dass auch die
oftmals gleichen Vorschläge von unabhängigen Sachverständigen und Experten komplett ignoriert wurden.
Zudem kann man als Opposition nur staunend zuschauen, welchen Umgang die Union und FDP mit ihren
eigenen Leuten aus den Ländern pflegen. So haben die
Länder mit absoluter Mehrheit bereits signalisiert, dass
sie in der morgigen Sitzung des Bundesrates beim
BAföG-Gesetz den Vermittlungsausschuss anrufen wollen sowie das Stipendienprogramm ablehnen werden.
Damit drohen auch die wenigen noch zu diesem Wintersemester 2010/2011 vorgesehenen BAföG-Verbesserungen auszufallen. Das Festklammern am Stipendienprogramm wird auf Kosten der Schüler und Studierenden
ausgetragen.
Die finanziellen Belastungen der Länder waren für
den Bund abzusehen. Die unseriöse Finanzpolitik der
Regierungskoalition hat den Ländern schwer zugesetzt.
Darum haben die Bundesländer den Bildungsgipfel zum
Scheitern gebracht. Darum steht die BAföG-Novelle vor
dem Scheitern. Es wird Zeit, dass CDU, CSU und FDP
endlich einen Kurswechsel vollziehen: vernünftige Finanzpolitik, Abkehr vom Stipendienprogramm und deutliche Verbesserungen des BAföG. Davon können auch
die Länder überzeugt werden.
Dieser Antrag der Linken ist durch und durch unsozial, er geht an den Interessen der Studierenden vorbei
und zeigt den Bildungsinteressen Abertausender Studierender die eiskalte Schulter. So entsteht nicht mehr
Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Deutschland
braucht ein Nationales Stipendienprogramm - und wer
sich verweigert, ist mit bildungspolitischer Blindheit geschlagen. Bekennen Sie sich offen zu Ihrer bildungsegoistischen Haltung: Sie wollen nicht, dass weitere
160 000 Studierende eine Talentförderung erhalten. Sie
wollen, dass die Begabungen von Studierenden nicht
stärker gefördert werden. Sie wollen, dass Arbeiterkinder nicht besser nach ihrer Begabung gefördert werden.
Sagen Sie doch offen, dass Sie mit Ihrer verquasten
Bildungsideologie allen talentierten jungen Menschen
die Rote Karte zeigen, und verhalten Sie sich nicht so,
als ob das etwas mit einer sinnvollen Bildungspolitik zu
tun hätte. Fragen Sie sich bitte selbst, ob Sie diesen Antrag - ich wiederhole: diesen unsozialen Antrag - aufrechterhalten wollen. Ziehen Sie ihn zurück, und Sie
würden damit zeigen, dass Sie die soziale Spaltung in
diesem Land nicht vorantreiben wollen.
Mit unserem Konzept der Bildungsgerechtigkeit leiten wir eine Trendwende für begabte junge Menschen
ein. Und genau das braucht Deutschland. In einem ersten Schritt erhalten alle Studierenden der Begabtenförderungswerke künftig statt eines Büchergeldes von
80 Euro den Betrag von 300 Euro. Dies ist ein richtiger
Schritt, der die wirklich gute Arbeit der Begabtenförderungswerke stärkt. Und wir wollen diese Arbeit stärken
und ausbauen.
Darüber hinaus ist es gut, eine zweite Säule der Begabtenförderung aufzubauen - unbürokratisch, dezentral und nah bei den Studierenden und Professoren, direkt an der Hochschule. Denn genau das ist nötig: ein
System, bei dem die Hochschule vor Ort über den Studierenden vor Ort entscheidet.
Es ist eine bildungspolitische Schande, dass gerade
einmal 1,9 Prozent der Studierenden in Deutschland ein
Stipendium erhalten. Das heißt: 98,1 Prozent erhalten
diese Chance nicht. Wer sich damit zufrieden gibt, der
macht eine Politik an den Interessen der Studierenden
vorbei. Alle anderen Wirtschafts- und Wissenschaftsnationen ziehen an uns in der Begabungsförderung vorbei.
Wir lassen uns in der wichtigen Frage der Talentförderung einfach abhängen und schauen zu. Oh nein, das
wird es mit uns nicht geben! Dies ist eine Frage der Bildungsgerechtigkeit.
Unser Ziel ist es, Schritt für Schritt die Zahl der Stipendiaten zu verfünffachen. Das ist eine große Herausforderung, aber entweder wollen wir Talente endlich
richtig fördern oder nicht. Sie jedenfalls wollen die Studierenden böse hängen lassen. Wer in Deutschland den
BAföG-Höchstsatz erhält, kommt aus einem Elternhaus,
das sich das Studium nur ganz schwer leisten kann. Deswegen hat es etwas mit gesellschaftlicher Fairness zu
tun, dass das Stipendium von 300 Euro noch dazu
kommt. Kein einziger Cent vom BAföG wird abgezogen.
Denn wir wollen gerade diejenigen fördern, die das
Geld zum Studium wirklich brauchen.
Ein weiteres Ziel ist es, die Förderung zu verbreitern.
Bislang sind bei den geförderten Studierenden von 100
Zu Protokoll gegebene Reden
gerade einmal acht aus den Fachhochschulen. Wir wollen mehr Fördergerechtigkeit, die wir mit unserem Nationalen Stipendienprogramm erreichen. Neben Universitätsstudierenden brauchen wir deutlich mehr Stipendien für Fachhochschulen, pädagogische Hochschulen
und Duale Hochschulen. Das ist ein großes Ziel dieses
Programms. Und - vergessen wir alle nicht, dass gerade
an Fachhochschulen deutlich mehr Studierende aus
Nichtakademikerfamilien sind. Und genau deswegen
müssen wir hier ansetzen.
Außerdem ist das Nationale Stipendienprogramm ein
Bildungsprogramm, in dem der Staat mit Privaten zusammenarbeitet. Wir wissen doch alle, dass wir eine höhere private Bildungsbeteiligung brauchen. Hier bekommen wir sie. Seien Sie deswegen nicht so fahrlässig
und setzen das so einfach aufs Spiel!
Und letztlich erreichen wir endlich eine noch stärkere
Ehemaligen-, eine Alumni-Kultur. Nordrhein-Westfalen
hat gerade gezeigt, dass 40 Prozent der Finanzen von
Alumni kommen. Dies ist ein goldrichtiger Schritt für
Deutschland, um endlich eine Alumni-Kultur aufzubauen.
So erreichen wir einen akademischen Generationenvertrag für unser Land. Wer gegen das Nationale Stipendienprogramm ist, verhält sich unsozial. Wer gegen
mehr Begabungsförderung ist, verhält sich unsozial.
Wer jungen Menschen ihre Förderung vorenthalten will,
verhält sich unsozial.
Sie, die Linken, stehen für eine unsoziale Bildungspolitik. Deswegen meine Bitte: Lehnen Sie alle diesen Antrag ab! Damit dieses Land bei der Talentförderung endlich bildungsgerechter wird!
Die Bundesregierung ist mit ihrem Nationalen Stipendienprogramm gescheitert. Sowohl Finanzausschuss als
auch Kulturausschuss des Bundesrates haben Ende Juni
mit deutlichen Mehrheiten dieses schwarz-gelbe Elitenförderungsprogramm abgelehnt - eine Ohrfeige für
Frau Merkel und Frau Schavan. Die Linke begrüßt es
ausdrücklich, dass das Stipendienprogramm nicht zustande kommt, denn dieses Programm würde die soziale
Schieflage im Bildungs- und Hochschulsystem der BRD
weiter verschärfen. Aus dem vagen Ausblick, ein Stipendium zu bekommen, das zudem an den Hochschulstandort gebunden ist, entsteht keine Sicherheit in der Studienfinanzierung. Die Bereitschaft von Jugendlichen aus
finanziell schlechter gestellten Familien, ein Studium
aufzunehmen, wird dadurch nicht gesteigert. Im Gegenteil zeigt jede bislang vorgelegte Statistik, dass gerade
diese Jugendlichen durch die leistungsbezogene Vergabe
von Stipendien übergangen werden - zugunsten von Studierenden aus höheren sozialen Schichten, die weniger
finanzielle Probleme haben.
Der Finanzausschuss des Bundesrates konnte sich jedoch auch nicht durchringen, die kleine BAföG-Erhöhung zu befürworten, die auf Druck der Bildungsproteste zustande gekommen ist. Der Ausschuss hat die
Anrufung des Vermittlungsausschusses empfohlen, weil
die Länder kein Geld für die Kofinanzierung ausgeben
wollen. Ein Verzicht auf diese Mini-BAföG-Erhöhung,
die der Ministerin von den streikenden Studierenden
abgetrotzt worden ist und die gerade einmal einen Inflationsausgleich darstellt, wäre de facto eine Bildungskürzung und verantwortungslos gegenüber den Betroffenen.
Wer aber - wie diese Regierung und ihre Vorgängerregierung - Bildung zur alleinigen Ländersache erklärt
und gleichzeitig die Haushalte der Bundesländer systematisch austrocknet, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn die Bildung insgesamt in Not gerät. Das alberne
und würdelose Schwarzer-Peter-Spiel um die Finanzierung der Bildung hat die Regierung mindestens genauso
zu verantworten wie die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, die die Vorhaben der Regierung jetzt
blockieren! Ich sage es immer wieder: Erhöhen Sie endlich den Spitzensteuersatz wenigstens auf das Niveau
der 90er-Jahre, führen Sie wieder eine Erbschaft- und
eine Vermögensteuer ein, die den Namen auch verdienen, dann können Sie - und die Bundesländer - auch
mehr Geld für Bildung ausgeben.
1972 hat das BAföG als Instrument gegen die soziale
Selektion im Bildungssystem noch 44 Prozent der Studierenden gefördert, heute sind es gerade noch 17 Prozent.
Angesichts dieser Entwicklung muss doch jede Bildungspolitikerin und jeder Bildungspolitiker aufschreien. Wer
da nicht gegensteuert, wälzt die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Abiturientinnen, Abiturienten und Studierenden ab, statt sie zu ermutigen und zu unterstützen! Im
Gegensatz zu dem, was Sie uns in Wahlkampfreden immer erzählen, machen Sie Politik gegen gute Bildung;
das ist doch die Wahrheit, und das haben die Betroffenen
auch längst begriffen. Daher ist es auch richtig, wenn
sich Schülerinnen, Schüler und Studierende dagegen
wehren und demonstrieren.
Nach drei vertanen Bildungsgipfeln ist mit dem
Scheitern des Stipendienprogrammes jetzt die Chance
da, einen ordentlichen BAföG-Ausbau durchzusetzen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, das Stipendienprogramm endgültig sein zu lassen und die dafür vorgesehenen Gelder in die Absicherung des BAföG und einen
umfassenden Ausbau zu stecken. Das wäre soziale Bildungspolitik und würde den tatsächlichen Bedürfnissen
und Forderungen der Studierenden entgegenkommen.
Nutzen Sie die Gelegenheit und stimmen Sie unserem
Antrag zu.
Es ist gut, dass der Bundestag am Vorabend der entscheidenden Bundesratssitzung über das schwarz-gelbe
Studienfinanzierungspaket diskutiert und damit den
Bundesländern ein weiteres klares Signal mit in ihre Beratungen geben kann.
Für die grüne Fraktion sage ich ganz klar: Die lange
verkündete BAföG-Erhöhung muss jetzt kommen. Sie
darf weder torpediert noch verzögert werden; sie darf
keinesfalls scheitern. Bund und Länder müssen aufhören, ihren zugespitzten Streit über Finanzierungsfragen
auf dem Rücken der Studierenden auszutragen. An dieZu Protokoll gegebene Reden
ser Stelle rächt sich der dritte gescheiterte Bildungsgipfel in Folge; die Bildungsrepublik droht endgültig zur
Farce zu werden.
Wir alle - da bin ich mir sicher - teilen die Haltung,
dass auch die Bundesländer gegenüber ihren Studierenden in der Pflicht und in der Finanzierungsverantwortung stehen - und sie deshalb den Weg für die BAföGNovelle frei machen sollten.
Die nur kleine, aber dennoch wichtige BAföG-Erhöhung mit Sparargumenten zu stoppen, würde ein fatales
Signal an die Studierenden senden, wäre eine Düpierung
von Merkel und Schavan sowie eine Blamage für die
Landesminister.
Wir sagen: Eine bessere Studienfinanzierung durch
ein stärkeres BAföG ist eine dringend notwendige Zukunftsinvestition - in kluge Köpfe, gegen Akademikermangel und Wirtschaftsflaute. Daher ist es notwendig,
die BAföG-Novelle spätestens im Vermittlungsausschuss
zu beschließen.
Wir Grüne fordern den Bundesrat zugleich dazu auf,
das ungerechte, überdimensionierte und unausgegorene
Nationale Stipendienprogramm zu kippen und nicht weiter zu verfolgen. Das mit großem Tamtam angekündigte
Programm ist ein reines Prestigeprojekt von FDP und
Ministerin Schavan, das kein Problem der Lebensunterhaltsfinanzierung Studierender löst. Nicht nur die Studierenden und die Mehrheit der Länder lehnen dieses
Programm ab und kritisieren es, sondern auch Stipendiaten der Begabtenförderungswerke, die Hochschulen
sowie Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände.
Wir sagen: Elitestipendien für wenige sind der falsche Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit; stattdessen bedarf es eines BAföG-Ausbaus für viele. Statt Stipendienlotterie braucht es klare Rechtsansprüche.
Ein mögliches Scheitern des Stipendienmurkses im
Bundesrat ist übrigens seit Monaten absehbar. Aber die
schwarz-gelbe Koalition wollte trotzdem daran festhalten und mit dem Kopf durch die Wand. Damit sind die
Bundesbildungsministerin und die schwarz-gelbe Koalition von Anfang an das hohe Risiko eingegangen, dass
ihre eher halbherzige BAföG-Novelle zum Spielball eines Bund-Länder-Kuhhandels im Vermittlungsausschuss
wird.
Die Koalition darf die Studierenden und das BAföG
nicht länger als Faustpfand für ein sinnloses Stipendiengesetz instrumentalisieren. Sie müssen endlich die einzig
richtige Schlussfolgerung ziehen und das Nationale Stipendienprogramm noch heute zurückziehen.
Die von Bund und Ländern für das Stipendienprogramm vorgesehenen 160 Millionen Euro Steuermittel
dürfen aber nicht in Haushaltslöchern verschwinden,
sondern sollten in einen echten und deutlicheren Ausbau
des BAföG investiert werden. Dann kann das Zurückziehen des Stipendienprogramms zum großen Wurf für die
Studierenden werden. Ein solches konstruktives Angebot
des Bundes wäre ein genereller Fortschritt im festgefahrenen Bund-Länder-Streit um die Bildungsfinanzierung.
Mit der Etablierung des Nationalen Stipendienprogramms würde eine der größten Gerechtigkeitslücken
geschlossen, behauptet zum Beispiel FDP-Bildungssprecher Patrick Meinhardt. Das sehe ich komplett anders. Was ist das für ein Gerechtigkeitsverständnis? Das
Stipendiengesetz ist ein schwarz-gelbes Exklusivprogramm für ohnehin chancenreiche Akademikerkinder.
Anstatt gezielt in die Bildungspotenziale von Nichtakademikerkindern zu investieren, verhindert das Programm eine soziale Öffnung der Hochschulen und verschärft die soziale Schieflage beim Campuszugang.
Bei nur zwei Semestern Förderverpflichtung können
Studierende keine verlässliche Studienfinanzierung erwarten. Zudem ist nach einem Studienortwechsel das
Stipendium futsch - mobilitätsfeindlicher geht es kaum.
Auch wird die Wahl des Studienortes die entscheidende
Größe bei der Chance auf ein Stipendium sein. Diese
Fehlentwicklungen lassen sich bereits in NordrheinWestfalen beobachten. Die Hochschulen haben die komplette Organisation des Programms selbst zu schultern
und zu finanzieren. Es ist kein grünes Verständnis von
Hochschulautonomie, dass die Bundesregierung hehre
Ziele setzt, die vor Ort praktisch unerreichbar sind.
Wenn Herr Meinhardt vom „fairen Zugang zur Begabtenförderung“ spricht, dann sollte er sich einmal
Studien zur Stipendienvergabe vor Augen halten: Daraus geht hervor, dass Habitus und Herkunft mit darüber
entscheiden, ob man in den Genuss eines Stipendiums
gelangt. Es ist eine der großen schwarz-gelben Lebenslügen, dass sich die Stipendienvergabe nur an Leistung
und Begabung orientiere.
Wichtig ist: Wir sagen nicht Nein zu Stipendien, sondern Nein zu diesem schwarz-gelben nationalen Stipendienmurks. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert,
ein Konzept für ein zielgenaues Stipendiensonderprogramm vorzulegen, das die Belange von Studierenden
aus bisher hochschulfernen und unterrepräsentierten
Gruppen besonders berücksichtigt: aus Nichtakademikerhaushalten, Bildungsaufsteiger mit Migrationsgeschichte, ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung sowie ferner chronisch Kranke, studierende Eltern
und pflegende Studierende. Ein solches Stipendiensonderprogramm würde dazu beitragen, die Bildungsbeteiligung insgesamt zu erhöhen.
Im Vordergrund muss aber stehen, zu einem tatsächlich ambitionierten Ausbau des BAföG zu kommen auch, weil sich schon durch die letzte Novelle der Kreis
der Geförderten kaum erweitert hat. Daher brauchen
wir unter anderem eine Erhöhung der Freibeträge und
Fördersätze um mindestens 5 Prozent und ein Absenken
der BAföG-Verschuldungsobergrenze. Diese und weitere
Änderungsanträge haben wir hier im Bundestag eingebracht und zudem mit unserem Zwei-Säulen-Modell eine
mittelfristige Reformperspektive aufgezeigt. Das ZweiSäulen-Modell brächte eine gerechtere, bessere, verlässlichere und leistungsfähigere Studienfinanzierung
als heute und endlich die überfällige soziale Öffnung der
Hochschulen, die wir uns wünschen. Für den morgigen
Bundesrat wünschen wir uns, dass er grünes Licht für
eine BAföG-Erhöhung gibt und die Länder dem StipenZu Protokoll gegebene Reden
dienmurks ein Stoppschild verpassen. Nur so kann die
richtige Priorität Realität werden und das BAföG zum
kommenden Wintersemester erhöht werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2427 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
EU-Fördermittel aus dem Emissionshandel
für erneuerbare Energien und zur Verringerung prozessbedingter Emissionen
- Drucksache 17/2430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden der
Kollegen Jens Koeppen, Frank Schwabe, Michael
Kauch, Eva Bulling-Schröter und Oliver Krischer.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2430 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 32 sowie die
Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
32. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele
Fograscher weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
zu dem Entwurf der Europäischen Kommission für das Verhandlungsmandat eines
neuen Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten
von Amerika über die Verarbeitung von
Zahlungsverkehrsdaten und deren Übermittlung für die Zwecke des Programms der
USA zum Aufspüren der Finanzierung des
Terrorismus ({2}),
Ratsdok. 7936/10 vom 24. März 2010
hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
desregierung gemäß Artikel 23 Ab-
satz 3 des Grundgesetzes
1) Anlage 10
Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte,
Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einstellung der Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika um ein neues
SWIFT-Abkommen und Verzicht auf ein europäisches Abkommen über ein Programm
zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus
- Drucksachen 17/1407, 17/1560, 17/2469 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl
Gisela Piltz
Dr. Konstantin von Notz
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Manuel Höferlin, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datenschutz bei der transatlantischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus
- Drucksache 17/2431 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({3}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu einem Vorschlag für einen Beschluss des
Rates über den Abschluss des Abkommens
zwischen der Europäischen Union und den
Vereinigten Staaten von Amerika über die
Verarbeitung von Zahlungsverkehrsdaten und
deren Übermittlung aus der Europäischen
Union an die Vereinigten Staaten für die Zwecke des Programms zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus ({4})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit
§ 9 EUZBBG
Finanzdaten der Bürgerinnen und Bürger Europas schützen - SWIFT ablehnen
- Drucksache 17/2429 Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar folgender Kollegin und Kollegen: Dr. Hans-Peter Uhl, Gerold
Reichenbach, Gisela Piltz, Jan Korte und Dr. Konstantin
von Notz.
Das Europäische Parlament hat heute mit großer
Mehrheit ein SWIFT-Abkommen angenommen, welches
das Ergebnis eines langen und sorgfältigen Verhandlungsprozesses ist. Dieses neue Abkommen war nötig
geworden, nachdem das europäische Parlament im Februar 2010 das SWIFT-Interimsabkommen abgelehnt
hatte, über das wir zuvor auch im Deutschen Bundestag
leidenschaftlich debattiert hatten.
Bereits bei der damaligen Debatte wurden zwei
Dinge klargestellt:
Erstens ist Kontodatenabfrage ein taugliches Mittel
zur Terrorbekämpfung. Die Datenströme zur Finanzierung von Terrorismus zu erkennen, ist ein nützliches
Mittel, um gegen Terroristen vorzugehen. Ein Beispiel
für die erfolgreiche Nutzung von Finanztransaktionsdaten in Deutschland ist das Verbot des Hamas-Spendensammelverein al-Aqsa, das tragend auf solchen Informationen beruhte. In Großbritannien konnten geplante
Terroranschläge auf Transatlantikflüge verhindert werden und auf dieser Grundlage drei Personen zu hohen
Haftstrafen verurteilt werden.
Zweitens steht aber auch fest, dass Kontodaten hochsensible persönliche Daten sind, die ein hohes Datenschutzbedürfnis mit sich bringen. Zwar war eindeutig,
dass ein SWIFT-Abkommen beiden Seiten ein höheres
Maß an Rechtssicherheit geben würde als die Datenweitergabe in der Folgezeit des 11. September 2001 und
auch besser wäre als die brieflichen Abmachungen zur
Datenweitergabe des SPD-Ministers Steinbrück aus dem
Jahr 2007, welches die ursprüngliche Grundlage des
SWIFT-Abkommens darstellte. Trotzdem muss ein
höchstmögliches Maß an Daten- und Rechtsschutzmöglichkeiten für den Bürger im Mittelpunkt stehen.
Deswegen habe ich bereits damals betont, dass es an
den Parlamentariern des Europäischen Parlaments und
des Bundestages wäre, in diesem Spannungsverhältnis
zwischen Sicherheit und Datenschutz auf einen gangbaren Kompromiss bei einem dauerhaften SWIFT-Abkommen hinzuwirken.
Neben den Abgeordneten des Bundestages und der
deutschen Regierung haben sich die Abgeordneten des
Europäischen Parlaments in dieser Frage als strenger
Prüfstein erwiesen. Wegen Bedenken beim Daten- und
Rechtsschutz haben sie das Interimsabkommen zu
SWIFT am 11. Februar abgelehnt. Jedoch wurden wegen der unbestreitbaren Wichtigkeit des Abkommens alsbald Neuverhandlungen mit den USA aufgenommen, in
denen die Vorbehalte thematisiert wurden.
Das vorgelegte neue SWIFT-Abkommen stellt ein respektables Ergebnis dieser Verhandlungen dar, was
nicht zuletzt auch durch die breite Unterstützung von
Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten bei
der heutigen Annahme im Europäischen Parlament dokumentiert wurde.
Das Abkommen enthält insbesondere im Hinblick auf
den Rechtsschutz und auf den Datenschutz deutliche
Verbesserungen gegenüber dem Interimsabkommen.
Hervorzuheben sind besonders folgende Verbesserungen:
Jedes US-Ersuchen muss auch in Bezug auf die Datenarten spezifiziert und eingeschränkt werden. Die
Menge der zu übermittelnden Daten ist möglichst gering
zu halten. Eine noch im Interimsabkommen enthaltene
Ausnahmeregelung, die es bei technischen Schwierigkeiten erlaubte, unspezifische Daten, die dem Ersuchen
nicht entsprechen, im Paket zu übermitteln, ist nunmehr
entfallen. Europol wird als zuständig erklärt, die US-Ersuchen auf Übereinstimmung mit dem Abkommen zu
überprüfen. Europol besitzt dabei die Fachkunde, nötigenfalls mit den USA auf Augenhöhe die dem Ersuchen
zugrunde liegende Gefährdungsbewertung und den daraus abgeleiteten Übermittlungsumfang zu diskutieren.
Weiterhin wird eine Drittstaatenübermittlung nun
grundsätzlich nur bei Zustimmung des jeweiligen Ursprungsstaats zulässig. Ausnahmen bestehen nur bei
Gefahr im Verzug und bei dringenden schweren Gefahren. Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsrechte
können künftig - betroffenenfreundlich - jeweils über
die Datenschutzbehörde des jeweiligen Mitgliedstaats
geltend gemacht werden, die die Anfrage an das US-Finanzministerium weiterleitet.
Das Abkommen sieht in Art. 2 Abs. 1 vor, dass die
Kommission binnen eines Jahres einen Entwurf hinsichtlich der Einrichtung eines EU-Systems zur Extrahierung spezifischer Daten vorlegen soll. Durch die
Schaffung technischer und rechtlicher Möglichkeiten für
die Extrahierung spezifischer Daten durch die EU selbst
könnte der Übermittlungsumfang auf Verdachtsfälle reduziert werden. Die Kommission wird dazu aufgefordert,
drei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens einen Bericht über den Fortgang der Einrichtung des EU-TFTP
abzuliefern. Falls das vergleichbare EU-System fünf
Jahre nach dem Inkrafttreten des Abkommens noch nicht
aufgebaut worden ist, prüft die Union, ob das Abkommen in Übereinstimmung mit Art. 21 Abs. 2 zu kündigen
ist.
Trotz dieser und weiterer Verbesserungen konnten leider nicht alle Verhandlungsleitlinien umgesetzt werden.
Die Höchstspeicherdauer beträgt weiterhin fünf Jahre.
Allerdings ist ein ausgefeilter Evaluierungsmechanismus vorgesehen, der die Speicherdauer laufend kritisch
hinterfragt und gegebenenfalls revidiert. Beim gerichtlichen Rechtsschutz ist es nach wie vor lediglich bei einer
Verweisung auf US-Recht geblieben. Angesichts des
sehr dichten Netzes administrativen Rechtsschutzes und
der auch verfahrensmäßig starken Position der EU bei
der Kontrolle der Vertragsdurchführung wird dies aber
praktisch kompensiert.
Zur weiteren Verbesserung der berechtigten Datenschutzbedürfnisse des Einzelnen begrüßen wir ausdrücklich die Bemühungen der Europäischen Union um
ein allgemeines Datenschutzabkommen zwischen der
EU und den USA für polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Das allgemeine Datenschutzabkommen kann dazu beitragen, dass diesseits und jenseits des Atlantiks ein hohes Datenschutzniveau bei der
behördlichen Zusammenarbeit geschaffen wird und die
Zu Protokoll gegebene Reden
bereichsspezifischen Regelungen des SWIFT-Abkommens damit in ein umfassendes Datenschutzregime eingebettet werden. Wir bitten die Bundesregierung deswegen in unserem Antrag, ihre bisherigen Bemühungen in
Richtung auf ein datenschutzfreundliches und dem Bundesrecht Rechnung tragendes Datenschutzabkommen
der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten von
Amerika fortzusetzen.
Das vorliegende SWIFT-Abkommen, insbesondere in
Verbindung mit unserer fortgesetzten Arbeit und Aufmerksamkeit auf diesem Gebiet, ist ein Kompromiss zwischen Sicherheit und Datenschutz, der alle Seiten angemessen berücksichtigt. Die Zustimmung im Rat und im
Europäischen Parlament kann auch der Deutsche Bundestag mit gutem Gewissen unterstützen.
Lassen Sie mich eines vorab zu dem nun auch vom
Europaparlament mitgetragenen SWIFT-Abkommen sagen: Meine Fraktion und ich waren doch sehr verwundert darüber, wie einfach es sich die Bundesregierung
aus CDU/CSU und FDP bei den Verhandlungen zu
SWIFT gemacht hat. Teilweise hatte man nicht das Gefühl, dass die Bundesregierung ein nachdrückliches Interesse daran hat, hier deutsche Datenschutz- und
Rechtsschutzstandards zu implementieren. Nicht einmal
den Versuch konnte man erkennen, man hat sich im doppelten Wortsinne „enthalten“.
Beim Bundesinnenminister hatte man eher das Gefühl, dass er vor sich hin trudelte, frei nach dem Motto:
Halb zog man ihn, halb sank er dahin. Und auch die
Bundesjustizministerin und ihre FDP, die noch vor der
Wahl und in der Opposition tönten, keine Zugeständnisse bei SWIFT machen zu wollen und die Wahl im September 2009 abzuwarten, frei nach dem Motto: Wir verhindern das dann!, war während der Verhandlungen
komplett auf Tauchstation gegangen. Von ihr habe ich in
den letzten Wochen und Monaten nicht viel zu diesem
Thema gehört.
Die gleiche Strategie hatte die Frau Bundesjustizministerin bereits im ersten Anlauf bei dem am 30. November 2009 von den europäischen Innen- und Justizministern unterzeichneten SWIFT-Abkommen gefahren. Am
Beginn der Verhandlungen wurde noch einmal kurz ein
kleines Hin und Her bemüht zwischen den Ressorts Innen und Justiz, doch am Ende durfte der Bundesinnenminister schalten und walten und sich einfach in Brüssel
enthalten, um so den Weg für den ersten Anlauf SWIFTAbkommen zu ebnen. Und da frage ich Frau
Leutheusser-Schnarrenberger: Warum haben Sie denn
Ihrem federführenden Kollegen im Bundesinnenministerium nicht genauer auf die Finger gesehen?! Bei dem
ganzen Streit, der zwischen der Koalition herrschte, wäre
es auf diesen einen Punkt auch nicht mehr angekommen.
Außerdem wäre Ihnen zumindest damit ein bisschen
Glaubwürdigkeit erhalten geblieben.
Sie müssen sich deshalb als Bundesregierung auch
bei dem jetzt vorliegenden Ergebnis schon die Frage der
Opposition gefallen lassen: War da wirklich nicht mehr
möglich? Wenn Sie mir jetzt mit dem Gegenargument
kommen, mit den Amerikanern war ja nicht mehr auszuhandeln: Ja das haben Sie zu dem ersten, im EU-Parlament gescheiterten Abkommen auch behauptet. Wie Sie
jetzt selbst im Antrag der Regierungskoalition feststellen, war sehr wohl mehr in den Verhandlungen „herauszuholen“, und dass aufgrund der Intervention des Europaparlaments noch einmal nachgebessert wurde, zeigt
doch, dass auch da noch mehr möglich war.
Nicht zuletzt auch deshalb lässt sich die SPD-Bundestagsfraktion ihre immer noch erheblichen Bedenken gegen die nun verabschiedete Version des Abkommens
nicht nehmen. Nach wie vor enthält das Abkommen Regelungen, die unseren rechtsstaatlichen, verfassungsund datenschutzrechtlichen Grundsätzen nicht entsprechen. Wir erachten die Speicherungs- und Löschungsfristen immer noch als zu lang. Die allgemeine fünfjährige Speicherfrist für übermittelte Daten ist
unangemessen und nicht erforderlich für Ermittlungen
im Bereich der Terrorismusabwehr, zumal hier ganze
Datenpakete, auch die von nicht Betroffenen, sozusagen
auf Vorrat über fünf Jahre gespeicherte werden.
Wir kritisieren die Einsetzung von Europol als Kontrollbehörde. Es widerspricht dem Prinzip der unabhängigen Kontrolle, dass eine Behörde, die ein eigenes Interesse an den von ihr freigegebenen Daten hat, als
letztgültige Kontrollinstanz eingesetzt wird. Wir bezweifeln stark, dass eine solche Behörde nach Rechtsstaatlichkeitsgrundsätzen Kontrollinstanz sein kann. Es ist
nicht mit unserem Rechtsstaatsempfinden vereinbar,
dass eine Behörde, die selbst Daten oder deren Ergebnisse für Ermittlungen nutzt, gleichzeitig auch die
Rechtmäßigkeit der Weitergabe und Speicherung der
Daten überprüfen darf.
Dies stellt keine unabhängige Kontrolle im Sinne des
Datenschutzrechts und unter anderem auch im Sinne der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dar,
der erst in diesem Jahr geurteilt hatte, dass eine Datenschutzkontrolle im Sinne des Gemeinschaftsrechts unabhängig von Behörden und der Aufsicht der jeweiligen
Regierung zu erfolgen hat. Der Europäische Gerichtshof
stellte in seinem Urteil nämlich fest, dass die Datenschutzaufsichtsbehörden für den nichtöffentlichen Bereich in Deutschland nicht völlig unabhängig sind und
die Bundesrepublik Deutschland damit gegen die Verpflichtung aus Art. 28 der Datenschutzrichtlinie verstößt.
Europarechtswidrig ist nicht nur die organisatorische
Einbindung zahlreicher Datenschutzaufsichtsbehörden
für den nichtöffentlichen Bereich in die Innenministerien, sondern auch die Aufsicht der Regierungen über
die Datenschutzbehörden. Das gilt aber auch im übertragenen Sinne für Europol. Wir sehen es ebenso als
höchst problematisch an, dass der Zuständigkeitsbereich von Europol über den Umweg eines internationalen Abkommens erweitert wird, ohne dass dies im Europäischen Parlament und im Bundestag ausreichend
debattiert worden ist.
Wir bemängeln weiter, dass große Datenpakete immer noch übermittelt werden können, ohne dass vorher
eine Extraktion stattfindet. Wir verweisen hier auf die
Zu Protokoll gegebene Reden
engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung, welches bereits eine sechsmonatige Speicherfrist für den Fall der Telekommunikationsdatenspeicherung als unzulässig erachtete. Nach dem
Urteil wurde der Gesetzgeber dazu verpflichtet, „anspruchsvolle und normenklare Regelungen“ unter dem
Gebot von Datenschutz, Datensicherheit, Transparenz
und Rechtsschutz zu schaffen. Wir hegen große Zweifel,
ob das SWIFT-Abkommen in seiner derzeitigen Form
mit den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten
Grundsätzen vereinbar ist.
Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich nicht
grundsätzlich gegen ein Abkommen aus. Wir halten die
Zusammenarbeit zur Terrorismusbekämpfung für wichtig und unabdingbar. Aber wir können einem entsprechenden Abkommen nur zustimmen, wenn Freiheits- und
Bürgerrechte ausreichend berücksichtigt und entsprechende Schutzmechanismen für die Betroffenen geschaffen worden sind.
Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte Peter
Hustinx sowie der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter
Schaar bezweifeln in ihren Stellungnahmen zu dem Abkommen die Rechtmäßigkeit der vorgesehenen Übertragung von großen Datenmengen sowie der fünfjährigen
Speicherfrist. Wir befinden uns mit unserer Kritik also in
guter Gesellschaft und überziehen keineswegs oder betreiben ein Wunschkonzert.
Man muss der Bundesregierung am Ende vorwerfen,
Freiheits- und Bürgerrechte nicht in Einklang mit dem
Bedürfnis nach Terrorismusabwehr und Sicherheit gebracht zu haben. Wir halten daran fest, dass das nunmehr
ausgehandelte Abkommen im Ergebnis unter datenschutzrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ausreichend ist.
Wir honorieren sehr wohl die Arbeit der Parlamentarier im Europaparlament, insbesondere die der SPEFraktion, denn ohne sie wäre es nie zur Verhinderung
des ursprünglichen Abkommens und zu Neuverhandlungen gekommen. Die hier nun vorliegenden Verbesserungen sind nicht das Ergebnis der guten Verhandlungen
der Bundesregierung, sondern allein dem rigorosen Einschalten des Europaparlaments geschuldet. Dies müssen wir noch einmal hervorheben.
Noch eine Anmerkung an die Kolleginnen und Kollegen der FDP: Sie können sich in Ihrer Verantwortung
nicht damit herausreden, was Rot-Grün oder Sozialdemokraten vorher angeblich alles gemacht oder nicht gemacht haben. Das reicht nicht als Begründung dafür
aus, dass Sie jetzt einem Abkommen sang und klanglos
zustimmen, das wesentliche Forderungen, die Sie in Ihrer Oppositionsarbeit und die Ihre Justizministerin aufgestellt haben, nicht erfüllt. Hier hätten wir gerade auch
von einer „Möchtegern-Bürgerrechts- und -Freiheitsrechte-Partei“ mehr erwartet.
Zwar können wir heute über das Abkommen selbst
nicht mehr abstimmen, aber unser Votum zu den vorliegenden Anträgen macht deutlich: Wir stimmen dem ausgehandelten Abkommen nicht zu.
Im Frühsommer 2006 wurde bekannt, dass mit Wissen des damaligen SPD-Bundesfinanzministers US-Behörden Zugriff auf SWIFT-Daten von europäischen Bürgerinnen und Bürgern erhalten hatten. Von einem
Abkommen, von rechtlichen Absicherungen, von Datenschutz und Rechtsschutz für die Menschen in Deutschland und Europa war da nicht die Rede.
Es ist übrigens bezeichnend, dass heute am lautesten
die schreien, die beim internationalen Datenaustausch
nicht immer an den Datenschutz gedacht haben. Ich
möchte hier einmal die Grünen daran erinnern, dass zu
ihrer Regierungszeit ihr Außenminister dem PNR-Abkommen zugestimmt hat. Nur, um Ihrem Gedächtnis ein
wenig auf die Sprünge zu helfen: Darin sind 15 Jahre
Speicherfrist vorgesehen. Die Daten in 34 Datenkategorien über Essensgewohnheiten, Kreditkartendaten bis
hin zu Gepäckinformationen oder Mietwagenreservierungen können ohne weitere Kontrolle, geschweige denn
Genehmigung an alle US-amerikanischen Behörden wie
auch Drittstaaten weitergegeben werden. Es gibt keine
Regelung, die besonders sensible Daten schützt; sondern Daten zum Beispiel mit Bezug zu Religion und
Glauben können genutzt werden. Beim Zugang zu administrativem oder gerichtlichem Rechtsschutz sind NichtUS-Bürger gerade nicht mit US-Bürgern gleichgestellt.
Da, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, würde ich
mich an Ihrer Stelle jetzt mal nicht so aus dem Fenster
lehnen. Gewiss könnte in einer perfekten Welt auch beim
SWIFT-Abkommen alles noch besser sein, aber in der
realen Welt haben Kommission, Rat und Europaparlament im Rahmen des Möglichen aufgrund des geltenden
amerikanischen Rechts ziemlich viel herausgeholt.
Erst wegen des Umzugs der SWIFT-Server nach Belgien wurden Verhandlungen über ein SWIFT-Abkommen
aufgenommen und so überhaupt erstmalig Datenschutzund Rechtsschutzvorgaben mit den USA angesprochen.
Mit dem Interimsabkommen, das zunächst verhandelt
worden war, konnten aber keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielt werden. Es ist daher richtig und gut gewesen, dass das Europäische Parlament das Interimsabkommen abgelehnt hatte.
Die darauffolgenden neuen Verhandlungen brachten
ein Ergebnis hervor, das schon besser war. Aber „besser“ ist nicht „gut“. Das Europäische Parlament hat
hier erneut dafür gesorgt, dass aus „besser“ nun
schließlich „annehmbar“ geworden ist.
Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Antrag,
den wir heute hier debattieren, ihre Erwägungen dargelegt. Wir sind nicht blind gegenüber den Punkten, die
vielleicht noch nicht perfekt sind. Aber wir sind auch
nicht blind gegenüber den vielen Punkten, bei denen
jetzt die Vorgaben für Datenschutz und Rechtsschutz umgesetzt wurden. Die Bundesregierung hat dies im Rat genauso dargelegt: Datenschutzniveau und Rechtsschutzniveau im neuen Abkommen sind so erheblich verbessert
worden, dass dieses Abkommen die Bürgerinnen und
Bürger in ihren Rechten besser schützt.
Besonders hervorzuheben ist, dass nunmehr grundlegende Ansprüche, die aus dem Recht auf informationelle
Zu Protokoll gegebene Reden
Selbstbestimmung folgen, namentlich Rechte auf Auskunft, Richtigstellung, Sperrung und Löschung persönlicher Daten, ausdrücklich im Abkommen enthalten sind.
Dabei können diese Rechte von EU-Bürgerinnen und
EU-Bürgern über die jeweiligen Datenschutzbeauftragten ihres Herkunftslandes geltend gemacht werden. Dies
birgt eine positiv zu bewertende Verfahrenserleichterung für die Geltendmachung grundlegender Rechte.
Die Beschränkungen bei der Weitergabe an Drittstaaten, die nunmehr von der Genehmigung des Herkunftslandes des Betroffenen abhängt, tragen dafür Sorge,
dass an Drittstaaten, in denen ein angemessenes Schutzniveau beim Daten- und Rechtsschutz nicht vorhanden
ist, die Datenweitergabe verweigert werden kann.
Die strikte Begrenzung auf Daten mit Bezug zu internationalem Terrorismus und die klare Eingrenzung
durch die Übernahme der allgemein anerkannten Definition des internationalen Terrorismus der Vereinten
Nationen ist ebenfalls zu begrüßen.
Es wäre vermessen, zu behaupten, dass das SWIFTAbkommen nun ohne jeden Fehl und Tadel ist. Wenngleich nunmehr innerhalb der EU durch Europol alle
Anfragen verifiziert werden, bevor SWIFT die Daten im
Push-Verfahren an das US Treasury Department übermittelt, werden doch nach wie vor Massendaten übermittelt. Die Extrahierung der tatsächlich relevanten Daten erfolgt nach wie vor in den USA. Auch wenn das
Europaparlament dankenswerterweise erreicht hat, dass
der Zugriff und die Auswertung in den USA durch einen
europäischen Beamten überwacht und gegebenfalls
auch blockiert werden können, liegt hier der größte Kritikpunkt. Es ist daher gut, dass das Europaparlament
weiterhin erreicht hat, dass die EU-Kommission innerhalb eines Jahres ein Konzept vorlegen wird, um die Datenextrahierung innerhalb der EU selbst vorzunehmen.
Hierzu müssen die technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen geregelt werden. Die Übergangslösung mit
der Überwachung durch einen europäischen Beamten in
den USA ist jedoch hinnehmbar, da durch die Jahresfrist
in absehbarer Zeit die Massendatenübertragungen beendet sein werden.
Mit dem SWIFT-Abkommen wurde also schon viel erreicht, was Datenschutz und Rechtsschutz bei der transatlantischen Zusammenarbeit, die für die Bekämpfung
des internationalen Terrorismus unverzichtbar ist, angeht. Aber natürlich ist die Debatte nicht beendet. Es
gibt noch viel zu tun. Daher ist es besonders zu begrüßen, dass die EU und die USA nunmehr Verhandlungen
über ein generelles Rahmenabkommen aufnehmen werden, um bei jedem Datenaustausch ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten.
Insbesondere müssen die Rechte des Betroffenen auf
Auskunft, Löschung, Richtigstellung oder Sperrung verankert werden, ebenso wie ein starker Rechtsschutzmechanismus, der eine unabhängige Prüfung ermöglicht.
Der Grundsatz der Datensparsamkeit muss generell verankert werden und auch das Prinzip, dass generell Daten möglichst kurz gespeichert werden und nicht oder
nicht mehr benötigte Daten umgehend zu löschen sind.
Die Weitergabe von Daten muss an strikte Bestimmungen geknüpft werden, insbesondere an einen Zustimmungsvorbehalt des Herkunftsstaates bei Weitergabe an
Drittstaaten. Auch müssen Haftungsregelungen für
rechtswidrige Datenverarbeitung oder Pflichtverstöße
enthalten sein.
Es ist meine feste Überzeugung, dass gerade die
SWIFT-Debatte in Deutschland und Europa insgesamt
entscheidend dazu beigetragen hat, dass nun endlich
Bewegung in die Verhandlungen über ein solches Rahmenabkommen gekommen ist und auf beiden Seiten des
Atlantiks die Erkenntnis stärker geworden ist, dass
Datenschutz als grundlegendes Menschenrecht nicht unter den Tisch fallen darf, auch dann nicht, wenn es um
das gemeinsame Ziel der Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht.
Die Verhandlungen über SWIFT sind nun abgeschlossen. Die Verhandlungen über das allgemeine Datenschutzabkommen beginnen erst. Es wird nun die Aufgabe auch Deutschlands sein, bei den Verhandlungen
der Kommission mit den USA über den Rat darauf zu
drängen, dass das Abkommen ein Erfolg für den Datenschutz und für den Rechtsschutz wird.
Am heutigen Nachmittag hat die Mehrheit des Europäischen Parlaments den zweiten Anlauf für ein Abkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten
- USA - über die Übermittlung von internationalen
Bankdaten und Bankkundendaten durchgewinkt. Lediglich die Linksfraktion und die Fraktion der Grünen im
EP haben geschlossen gegen dieses Abkommen gestimmt.
Von den datenschutz- und bürgerrechtlichen Bedenken bei Sozialdemokraten und Liberalen vom vergangenen Februar ist heute in Straßburg nichts mehr übrig geblieben. Dabei sind die Veränderungen des aktuellen
Abkommens zu dem ersten Entwurf Anfang des Jahres
- anders als es Union und FDP in ihrem Antrag behaupten - reine Kosmetik. Noch immer können Millionen Datensätze an das US-Heimatschutzministerium und dessen angeschlossene Geheimdienste übermittelt und von
diesen für fünf Jahre gespeichert werden.
Zuständig für die Verarbeitung US-amerikanischer
Begehrlichkeiten ist künftig die europäische Polizeibehörde Europol. Doch weder das Europol-Übereinkommen noch die interne Struktur der europäischen Polizeibehörde sehen derartige Befugnisse vor. Im Kern soll
also eine Polizeibehörde eine Polizei- und Geheimdienstbehörde kontrollieren. Das ist das glatte Gegenteil
einer unabhängigen Kontrollinstitution; das ist keine
Kontrolle durch das Europäische Parlament oder einen
Richter. Rechtsstaatliche Verfahren sehen anders aus.
Nun hören wir als starke Oppositionskraft immer
sehr aufmerksam zu, wenn in den Beratungen des Bundestages die Bundesregierung Stellung zu politischen
Vorhaben bezieht. Und in Bezug auf SWIFT und die
Rolle von Europol haben wir daraus vernommen - so
deren Innenstaatssekretär Ole Schröder, CDU dass auch
die Bundesregierung mit dieser Konstruktion zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Lösung des Übermittlungsproblems mehr als unzufrieden ist.
Nur stellt sich dann doch die Frage, warum Innenminister de Maizière im zuständen EU-Rat dem Abkommen dann seinen Segen gegeben hat. Vielleicht hat er
auch nur auf eine inhaltliche Hilfestellung seitens des
Bundestages gewartet. Diesem Wunsch wären zumindest
Linke und SPD sehr gerne nachgekommen. Gerne hätten
wir Ihnen unsere Vorgaben zur Verhandlungsführung
und den Verhandlungszielen mit auf den Weg gegeben.
Leider aber hat die Bundesregierung alles getan, um die
Verhandlungen selbst, aber auch die internen Verhandlungslinien im Verborgenen zu halten und Ergebnisse im
Innenministerium zu privatisieren. Gleichzeitig mühten
sich die europäischen Innenminister, ein neues Abkommen nach dem Scheitern des ersten im Europäischen
Parlament so schnell wie möglich unterschriftsreif zu
bekommen. Vor diesem Hintergrund konnten Anträge
der Opposition in Bezug auf die Aufnahme neuer Verhandlungen mit den USA erst am gestrigen Tage im
Innenausschuss debattiert werden - und dies, obwohl
die Linke als auch die SPD-Fraktion ihre Stellungnahmen vor Beginn der zweiten Verhandlungsrunde eingereicht hatten.
Aber mit Stellungnahmen des Deutschen Bundestages
zu wesentlichen Unionsdokumenten scheint es die Koalition sowieso nicht besonders zu haben. So wurde ebenfalls am gestrigen Mittwoch im Innenausschuss ein
entsprechender Entwurf für eine Stellungnahme des
Bundestages zum neuen SWIFT-Abkommen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Stattdessen liegt dem Plenum des Bundestages
heute ein Antrag der Koalition vor, in dem die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen der EU und den USA
in den siebten Himmel gelobt werden.
Das alles ist wahrlich eine Farce. Peinlich ist in diesem Zusammenhang das Agieren der FDP-Fraktion zu
nennen. Tönte deren Justizministerin noch Anfang des
Jahres, ein solches Abkommen würde es mit ihr nicht
geben, ist Frau Leutheusser-Schnarrenberger nun vollends verstummt. Der FDP blieb letztlich nur, einige kritische Anmerkungen im benannten Koalitionsantrag auf
den hinteren Seiten in weichgespülter Pose unterzubringen.
Um eines ganz deutlich zu sagen: Ohne die Linksfraktion im Bundestag würden wir heute gar nicht über dieses Abkommen debattieren. Die Linke hatte gefordert,
endlich das Thema auch hier im Plenum zu behandeln,
um es aus nichtöffentlichen Innenausschusssitzungen
herauszuholen und eben nicht nur auf der Grundlage
von als vertraulich eingestuften Dokumenten zu debattieren.
Wenn aber das neue Abkommen so ein großer Fortschritt ist, warum wollte die Koalition oder der Innenminister dieses den Bankkunden nicht auch mitteilen?
Liegt es vielleicht daran, dass Bankkunden, die ins Visier von US-Terrorfahndern geraten sind, auch zukünftig kaum über Informations- und Widerspruchsrechte
verfügen? Oder liegt es daran, dass durch dieses
Abkommen Bankkunden bereits als verdächtig angesehen werden können, wenn sie humanitären Organisationen in Afghanistan, Jemen oder Irak Geld zum Jahresende spenden? Oder liegt es daran, dass die Bundesregierung in einer öffentlichen Debatte hätte zugeben
müssen, dass die Weiterleitung von Bankdaten in außereuropäisches Ausland bereits seit 2001 und teilweise
ohne Rechtsgrundlage und somit illegal stattfand? Oder
liegt es doch eher daran, dass die Bundesregierung mit
ihrer Zustimmung zum neuen SWIFT-Abkommen womöglich gegen das Grundgesetz verstößt? Oder schließlich und endlich - liegt es daran, dass man bewusst eine Beurteilung des Abkommens zur Kontrolle
des Bankdatentransfers durch Europol durch den juristischen Dienst des EP nicht abwarten wollte, weil Ihnen
klar war, was im Ergebnis dieser Prüfung festgestanden
hätte?
Bitte vergessen Sie nicht, dass die Legislative das
Handeln der Exekutive bestimmt und kontrolliert - und
nicht umgekehrt. Kehren Sie auf Ihrem Weg der Wattebauschkontrolle der Regierung um. Nehmen Sie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ernst, achten Sie endlich konsequent das Grundgesetz und die
darin verbrieften Grund- und Freiheitsrechte. Hören Sie
auf, unliebsame Sicherheitsprojekte über die europäische Bande in Deutschland durch die Hintertür einzuführen. Achten Sie endlich die im Vertrag von Lissabon
festgelegten Mitbestimmungsrechte der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsprozess. Und
folgen Sie den Anträgen der Linksfraktion im Bundestag
und fordern Sie damit die Bundesregierung auf, dem
neuen SWIFT-Abkommen in der Schlussabstimmung im
EU-Ministerrat die Zustimmung zu verweigern.
Zentrale Kritikpunkte des EP am ersten Vertragsentwurf sind eben nicht in den Folgeverhandlungen oder
dem heute vorliegenden Abkommen berücksichtigt worden. Dieser Fakt wird auch dadurch nicht verändert,
weil nun die Mehrheit der Mitglieder des EPs - vor allem in den Reihen der Liberalen und Sozialdemokaten unter dem Druck der USA und der europäischen Innenminister von ihrer ursprünglichen Haltung abgewichen
ist. Sowohl der Sinneswandel vieler Abgeordneter auf
europäischer Ebene und im Bundestag als auch die Art
und Weise der Debatte im Bundestag haben beiden Parlamenten wie auch der Demokratie und den Grundrechten insgesamt keinen Dienst erwiesen.
Die heute im Europäischen Parlament von Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen beschlossene
Zustimmung zum SWIFT-Abkommen markiert einen
Tiefpunkt europäischer Grundrechts- und Datenschutzpolitik. Wir Grüne sind besorgt, wie leichtfertig eine
Mehrheit des Europäischen Parlaments sein gerade in
der Haltung zum ersten SWIFT-Abkommen erreichtes
- zugegebenermaßen noch zartes - bürgerrechtliches
Profil wieder verspielt. Noch besorgter macht uns, wie
in diesem Zusammenhang die schwarz-gelbe Bundesregierung die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidung betont, dem nun ausgehandelten Abkommen zuzustimmen.
Alternativlosigkeit wird in diesen Tagen immer öfter zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Mantra derjenigen, die mit einer Geste des Achselzuckens ihre fehlende innere Überzeugung und ihren fehlenden politischen Gestaltungswillen offenbaren.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses zu Recht darauf
hingewiesen, welche Spielräume für Verhandlungen es
tatsächlich gab. Denn sehr schnell waren die amerikanischen Verhandlungsführer von ihrer Drohung eines unilateralen Vorgehens und der völligen Ablehnung von
Neuverhandlungen abgerückt, als sie merkten, dass der
Widerstand der EU gegen ihr Vorgehen in Sachen
SWIFT auch nach der Entscheidung des Europäischen
Parlaments Bestand hatte. Ganz im Gegensatz zum
transatlantischen Streit um die Fluggastdaten - eine
weitere bürgerrechtliche Leiche im Keller der EU - verfügen die USA im Fall von SWIFT auch nicht mehr über
das Druckmittel des unmittelbaren Zugriffs auf die fraglichen Server. Der Druck der Datenschützer hatte nach
Bekanntwerden der heimlichen Datenweitergabe an USBehörden ja gerade dazu geführt, dass die in den USA
befindlichen Server des Unternehmens SWIFT dort abgebaut und nach Europa gebracht wurden. Die damit eröffneten Verhandlungsspielräume sind von der Kommission jedoch leider nicht genutzt worden, um die hohen
europäischen Datenschutzstandards zu wahren und
durchzusetzen und die Bürgerinnen und Bürger vor einem Ausverkauf ihrer Daten zu schützen.
Deshalb lehnen wir auch das nunmehr zustande gekommene zweite SWIFT-Abkommen ab. Mit unserem Antrag, den wir hier gleich abstimmen werden, appellieren
wir an die Bundesregierung, sich die bestehenden datenschutz- und verfassungsrechtlichen Bedenken zu Herzen
zu nehmen und gegen das Abkommen in der noch offenen Abstimmung des Rates zum EP-Beschluss zu stimmen. Nur so kann die Bundesregierung ihrer Verantwortung für den Schutz der Grundrechte ihrer Bürgerinnen
und Bürger gerecht werden.
Besondere Aufmerksamkeit in diesem Kampf um Bürgerrechte verdient erneut die FDP. Denn heute wissen
wir: Die jüngsten Ankündigungen der zumindest einstmals Liberalen, sich angesichts des desolaten Zustands
der Partei und der eigenen Programmatik wieder verstärkt auf den Bereich der Bürgerrechtspolitik zu konzentrieren, war reine Rhetorik.
Noch auf ihrem Parteitag im April beschloss die FDP
mit Blick auf das SWIFT-Abkommen, die Datenübermittlung „in Paketen“ auszuschließen. Wörtlich heißt es in
dem von Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
vorbereiteten Antrag: „Die FDP lehnt einen präventiven Datenaustausch ab.“ Denn in der Tat handelt es sich
bei dem nun vereinbarten Datenaustausch um eine
Vorratsdatenspeicherung, weil circa 97 Prozent der zu
übermittelnden Bankdaten unbescholtene und unverdächtige Bürgerinnen und Bürger betreffen. Das SWIFTAbkommen wäre für die FDP eine ideale Gelegenheit
gewesen, ihren bürgerrechtlichen Ankündigungen auch
tatsächlich Taten folgen zu lassen. Doch geschehen ist
zu wenig. Noch nicht einmal von einer koalitionsinternen Debatte war der leiseste Ton zu hören.
Zu Beginn der Legislatur erweckte die Bundesjustizministerin wenigstens noch den Anschein, das SWIFTAbkommen tatsächlich zu Fall bringen zu wollen - um
es dann mit einer deutschen Enthaltung im Ministerrat klammheimlich durchzuwinken. Nun lässt Frau
Leutheusser-Schnarrenberger dem Innenminister vollkommen freie Hand nach dem Motto „Wer nicht wagt,
der kann auch nicht verlieren“. Sie versucht noch nicht
einmal, den bürgerrechtlichen Anspruch der FDP zu untermauern, geschweige denn, die vollmundigen Parteitagsbeschlüsse umzusetzen.
Dass der für das SWIFT-Abkommen zuständige liberale Berichterstatter im Europaparlament nun auch
noch versucht, das jetzt ausgehandelte Abkommen als
einen „Durchbruch“ zu verkaufen, spottet angesichts
der massiven nach wie vor bestehenden Bedenken, die
im Übrigen auch der europäische Datenschutzbeauftragte teilt, jeder Beschreibung.
Genauso bedenklich ist der Versuch der Bundesregierung, die nun durch die USA gemachten Zugeständnisse
bei SWIFT als ihre ureigenen Verhandlungserfolge zu
verkaufen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP, nur um das noch einmal klarzustellen:
Ihre Regierung war es doch, die das erste Abkommen
mit ihrer Enthaltung durch den Rat gewinkt hat. Wenn es
nach Ihnen gegangen wäre, hätten wir überhaupt keinen
Spielraum für Nachverhandlungen gehabt. Wir hätten
ein noch viel schlimmeres Abkommen bekommen als
das, das wir jetzt vorliegen haben. Wäre es nach Ihnen
gegangen, würden die hochsensiblen Bankdaten von
über 500 Millionen Europäerinnen und Europäern weiter ohne Rechtsschutz und Kontrolle an die USA geliefert werden. Wäre es nach Ihnen gegangen, hätte man
die mühsam erkämpften europäischen Datenschutzstandards noch weiter aufgeweicht und das Europäische
Parlament seiner gerade erst durch das Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon neu gewonnenen Rechte beraubt.
Nur durch das beherzte Eingreifen des Europäischen
Parlaments, meine Damen und Herren aus den Reihen
der Bundesregierung, wurde neuer Verhandlungsspielraum gewonnen. Alleine dem Europäischen Parlament
ist es zu verdanken, dass im Zuge der Neuverhandlungen
über ein zweites Abkommen gewisse Verbesserungen
hinsichtlich des Daten- und Rechtsschutzes ermöglicht
wurden. Nur so wurde unter anderem eine engere Definition des Zwecks der Terrorbekämpfung erreicht und
verhindert, dass die Daten zur allgemeinen Ressource
für Sicherheitsinteressen aller Art missbraucht werden
können. Nur dem Europäischen Parlament ist es zu verdanken, dass die innereuropäischen Zahlungsverkehrsdaten im neuen Abkommen komplett aus dem übermittelten Datenbestand herausgenommen wurden. Und nur
dem beherzten Ablehnen des ersten SWIFT-Abkommens
durch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments
ist es geschuldet, dass auch die Verpflichtung, den Zugriff auf die übermittelten Daten ohne Einsatz von Rasterfahndungsmethoden durchzuführen, in das neue Abkommen aufgenommen wurde, wodurch das Risiko, dass
unbescholtene Bürgerinnen und Bürger womöglich Opfer pauschaler Verdächtigungen werden, minimiert
wurde. Wäre es nach dem Willen der Bundesregierung
Zu Protokoll gegebene Reden
gegangen, hätten diese Selbstverständlichkeiten bei der
Übermittlung von SWIFT-Daten an die USA keinerlei
Rolle gespielt.
Meine Fraktion bedauert, dass Konservative, Sozialdemokraten und Liberale im Europäischen Parlament
dem Abkommen, obwohl dieses nach wie vor erhebliche
datenschutzrechtliche Mängel aufweist und seine Verfassungsmäßigkeit nach wie vor insgesamt infrage gestellt werden muss, nun vorschnell zugestimmt haben.
Viel zu früh gibt das EU-Parlament seinen Anspruch
auf, einen substanziell höheren Grundrechteschutz auf internationaler Ebene zu verankern. Stattdessen schwenkt
die EU nun auf das niedrige Niveau des US-Rechts ein.
Ohne wenigstens eine verbindliche Befristung der Datenübertragung in Hinblick auf das geplante Datenschutzrahmenabkommen festzusetzen, wird die noch in
der letzten Parlamentsresolution als EU-rechtswidrig
bezeichnete Massendatenweitergabe nun durchgewinkt.
Geradezu absurd und wohl auch rechtswidrig ist, dass
nun ausgerechnet Europol als Genehmigungsbehörde
für die Anfragen der US-Ermittler eingesetzt wird.
Schließlich hat die europäische Polizeibehörde ein eigenes Interesse an den Auswertungsergebnissen. Hier
scheint es in der Tat so, als werde der Bock zum Gärtner
gemacht.
In dem jetzt ausgehandelten Abkommen werden nach
wie vor sogenannte Bulk Data, also ganze Datenpakete,
übermittelt. Damit sind völlig wahllos alle Personen betroffen, die zum Beispiel an einem bestimmten Tag von
einer bestimmten Bank eine Überweisung in einen ausländischen Staat getätigt haben. Spätestens an diesem
Punkt wird das Abkommen zu einem Vertrag zulasten
unverdächtiger Dritter. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum eine Vorauswahl der zu übermittelnden
Daten nicht auch von europäischem Boden aus hätte erfolgen können, um so eine Gesamtübermittlung der Daten in die USA zu verhindern.
Der zweite Punkt betrifft die nun vereinbarte Speicherdauer von fünf Jahren. Der eherne datenschutzrechtliche Grundsatz der Erforderlichkeit gebietet die
Löschung der Datenbestände nach Wegfall des Speicherungsgrundes. Ist nun - wie nach dem Abkommen vorgesehen - aufgrund eines Tatverdachts die Durchsicht
eines Datenpakets mit den Daten unverdächtiger Personen erfolgt, so hat sich der Speichergrund erledigt.
Selbst bei Einräumung einer großzügigen Frist zur erneuten Prüfung bleibt eine fünfjährige Frist absolut unhaltbar. Diese Speicherung von Daten auf Vorrat genügt
sicherlich nicht den jüngst vom Bundesverfassungsgericht hierfür aufgestellten hohen Hürden.
Die grüne Fraktion im Europäischen Parlament, allen voran mein Kollege Jan Philipp Albrecht, aber auch
meine Fraktion hier im Bundestag, hätten sich einen
couragierteren Kampf für einen höheren Schutz der
Daten der Bürgerinnen und Bürger Europas gewünscht.
Hinsichtlich zukünftiger Abkommen müssen wir uns
zwingend der Frage stellen, welche Eingriffsschwellen
grundsätzlich für notwendig erachtet werden, um ein
kontinuierliches Ausweiten staatlicher Ermittlungen auf
alle Bürgerinnen und Bürger, also den Generalverdacht
und Ermittlungen ins Blaue hinein, zu verhindern.
Aus meiner Sicht ist vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit jedem Versuch, auf Datenbestände,
von denen wir von vornherein wissen, dass diese praktisch vollumfänglich die Finanztransaktionsdaten völlig
unbescholtener Bürgerinnen und Bürger enthalten, eine
glasklare Absage zu erteilen - auch und vor allem vor
dem Hintergrund, dass das derzeitige US-Recht weder
im öffentlichen noch im nichtöffentlichen Bereich Datenschutzstandards vorsieht, die annähernd unseren verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Ich denke
dabei an den nach wie vor in Kraft befindlichen Patriot
Act, der umfängliche Umgehungen des Richtervorbehalts ermöglicht, aber auch an die im Privatbereich völlig fehlenden datenschutzrechtlichen Regelungen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, vor dem Hintergrund der zahlreichen rechtsstaatlichen, auch verfassungsrechtlichen Bedenken ist
die von Ihnen in Ihrem jetzt vorgelegten Antrag gewählte
Formulierung, wonach das SWIFT-Abkommen „ein respektables Ergebnis darstelle“, ein rechtspolitischer Offenbarungseid. In der nun gleich folgenden Abstimmung
haben Sie noch einmal die Gelegenheit, sich als
gewählte Volksvertreter dieses Hohen Hauses Ihrer
Verantwortung für den Schutz der Daten von vielen
Millionen völlig unbescholtener und unverdächtiger
Menschen zu erinnern und zusammen mit uns die Bundesregierung aufzufordern, die daten- und verfassungsrechtliche Notbremse zu ziehen und dem nun ausgehandelten Abkommen im Rat in letzter Sekunde eine Absage
zu erteilen.
Damit kommen wir zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 32. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 17/2469. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1407 mit dem Titel „Neues
SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechtsund Datenschutzmaßstäben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 32. Unter
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1560
mit dem Titel „Einstellung der Verhandlungen mit den
Vereinigten Staaten von Amerika um ein neues SWIFTAbkommen und Verzicht auf ein europäisches Abkommen über ein Programm zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Zusatzpunkt 6. Es geht um die Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/2431 mit dem Titel „Datenschutz bei der
transatlantischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung des
internationalen Terrorismus“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/2429 mit dem Titel „Finanzdaten der
Bürgerinnen und Bürger Europas schützen - SWIFT ablehnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt. Dafür haben gestimmt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und die Fraktion Die Linke, dagegen die
Fraktionen von CDU/CSU und FDP. Enthalten hat sich
die Fraktion der SPD.
Jetzt haben wir es schon geschafft. Wir sind am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Ich danke Ihnen herzlich für die lange Konzentration
und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 9. Juli 2010, 9 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen noch einen schönen und angenehmen Abend.