Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich in einem Plenarsaal, dessen Möblierung noch
nicht ganz dem Üblichen entspricht, aber in dem die
Zahl der Stühle über Nacht auf die tatsächliche Zahl der
Mitglieder des Bundestages zurückgeführt worden ist;
damit werden wir vermutlich bei der Abwicklung der
heutigen Tagesordnung gut auskommen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich dem Kollegen Rainer Arnold zu seinem 60. Geburtstag gratulieren.
({0})
Der Kollege Rainer Brüderle hat seinen 65. Geburtstag
gefeiert, wozu ich besonders herzlich gratuliere.
({1})
Alle guten Wünsche für die nächsten Jahre!
Der zunächst vorgesehene Tagesordnungspunkt 1 mit
Anträgen zur Religionsfreiheit wird für heute abgesetzt.
Wir beginnen gleich mit einer Regierungserklärung des
Bundesministers für Wirtschaft und Technologie.
Darüber hinaus ist beabsichtigt, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Aufschwung für Deutschland
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 23
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag bei der Reform der
Umsatzsteuer beteiligen
- Drucksache 17/2333 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
- Drucksache 17/1580 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 3 Befragung der Bundesregierung
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Ich mache auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz
und Energiedienstleistungen
- Drucksachen 17/1719, 17/2280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie damit einverstanden?
({5})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
- Das ist gut so; das erspart uns weitere Verzögerungen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Aufschwung für Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Rainer Brüderle.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist wieder da, nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich und politisch.
({0})
Die Bundesbank sieht das Wachstum für dieses Jahr bei
1,9 Prozent, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag sogar bei 2,3 Prozent. Auch 2011 wird sich die
Erholung allen Prognosen zufolge fortsetzen. Das alles
geschieht bei historisch niedrigen Zinsen und hoher
Geldwertstabilität.
({1})
Die Auftragsbücher der Industrie haben sich im Frühjahr deutlich gefüllt. Die Produktionstätigkeit hat sich
kräftig belebt. Die Auslastung der Kapazitäten nimmt
wieder zu. Die Perspektiven für den Welthandel, die
Weltwirtschaft haben sich deutlich aufgehellt. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit einer Zunahme
des Welthandelsvolumens um 7 Prozent in diesem Jahr
und 6 Prozent im nächsten Jahr. Wir müssen dabei sein,
und wir werden dabei sein.
({2})
Das sind ermutigende Signale. Das ist genau die Entwicklung, die wir mit unserer wachstums- und arbeitsplatzfreundlichen Politik erreichen wollen. Die Wachstumsbeschleunigung findet statt, so wie wir sie im
gleichnamigen Gesetz zum Jahresanfang angedacht haben.
({3})
Davon haben die Bürger konkret etwas. Die Nettoreallöhne steigen seit Jahren erstmals wieder.
Die Zahlen zeigen auch: Wir sind eine exportorientierte Wirtschaft, und darauf können wir stolz sein. Wir
können stolz darauf sein, dass die ganze Welt unsere
hochwertigen Waren und Dienstleistungen nachfragt,
({4})
dass wir in Deutschland hochqualifizierte und hochmotivierte Arbeitskräfte haben, dass wir die Konjunkturlokomotive für die gesamte Europäische Union sind und dass
wir in vielen Zukunftsbranchen an der Spitze der technologischen Entwicklung stehen. Ich nenne beispielhaft:
Pharmabereich, Biotechnologie, Nanotechnologie, Medizintechnik, Umwelttechnologie, die erneuerbaren
Energien und Energieeffizienz. Vergessen wir auch nicht
die klassischen Stärken unserer Exportwirtschaft: den
Maschinen- und Anlagenbau, Chemie und Elektrotechnik. Auch bei der Automobilindustrie brummt es wieder.
Nicht nur bei Daimler, Audi und BMW gibt es Sonderschichten, auch viele Mittelständler fahren die Kapazitäten hoch.
Die internationalen Export- und Importströme sind
übrigens sehr viel komplexer, als mancher behauptet.
Der Anstieg des deutschen Exports geht vor allem auf
die starke asiatische Nachfrage zurück.
({5})
Diese Länder produzieren ihrerseits Exportüberschüsse.
Sie leiden also nicht unter der deutschen Exportstärke
und an ihren Importen, sondern sie nutzen den Import
hochwertiger deutscher Produkte, um wirtschaftlich erfolgreicher zu sein.
({6})
Auch die Vereinigten Staaten haben das offensichtlich
erkannt. Präsident Obama hat im Februar eine Außenwirtschaftsoffensive gestartet.
Nun gibt es einige, die unser erfolgreiches Exportmodell infrage stellen. Sie fordern: Erhöht drastisch die
Löhne, macht noch mehr Konjunkturprogramme! Aber
das ist der falsche Weg.
({7})
Das wäre eine Art schleichende „Griechenlandisierung“
der deutschen Wirtschaftspolitik. Das machen wir nicht.
({8})
Es werden hundertprozentige Sofortabschreibungen vorgeschlagen, sozusagen eine Abwrackprämie für alte Maschinen. Das ist kurzsichtig. Das ist kurzatmig. Das ist
aktionistische Strohfeuerpolitik.
Natürlich ist eine starke Binnenkonjunktur wichtig.
Natürlich sind die sie stärkenden Investitionen wichtig,
aber dafür brauchen wir eine klare Politik mit langen Linien und kein kurzes Denken.
({9})
Wir müssen die Unternehmen auch in Deutschland investieren lassen. Technologiefeindlichkeit und ein rückwärtsgerichtetes Denken schaden unserem Land. Die
Binnennachfrage wird stärker gefördert, wenn wir die
Selbstblockaden etwa bei der Kernenergie
({10})
oder der Gentechnik auflösen.
({11})
Ich verweise auf den Transrapid in der Vergangenheit.
Ich nenne die CCS-Technologie mit großen Chancen für
unsere Wirtschaft, aber auch für den Klimaschutz.
Wer nicht in Deutschland investieren darf, wird zum
Export gezwungen. Im schlimmsten Fall geht er ganz.
So stärkt man die Binnennachfrage nicht. Man stärkt sie,
indem man Beschäftigung schafft. Jeder Arbeitslose, der
einen Job bekommt, macht sein eigenes Konjunkturprogramm. Er hat mehr Einkommen und damit mehr
Konsummöglichkeiten. Sie kennen die Faustformel:
100 000 Arbeitslose weniger bedeuten allein für den
Staat rund 2 Milliarden Euro mehr. Die gestiegenen privaten Konsumausgaben, die damit verbunden sind, sind
hierbei nicht eingerechnet. Ich will lieber Hunderttausende kleine private Konjunkturprogramme haben als
staatlichen Dirigismus.
({12})
Wir erleben in Deutschland ein gar nicht so kleines
Jobwunder. Die Erwerbstätigkeit nimmt zu, die Arbeitslosigkeit nimmt ab. Wir können bald die Marke von
3 Millionen Arbeitslosen unterschreiten. Im Juni gab es
noch 3,15 Millionen Arbeitslose. Das sind fast 260 000 weniger als im Vorjahr. Erfreulich ist auch die Lage in Ostdeutschland. Dort ist die Arbeitslosigkeit das erste Mal
seit Jahren unter 1 Million gefallen.
({13})
In ganz Deutschland hat sich die Zahl der Kurzarbeiter seit dem Höhepunkt im Mai letzten Jahres etwa halbiert. Die Bundesagentur für Arbeit sieht hierin Signale
für weitere Entspannung. Es gibt erste Schätzungen, dass
wir Ende des Jahres die Zahl auf 100 000 zurückführen
können.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit einer ILO-Arbeitslosenquote von 7,1 Prozent deutlich besser da als die Vereinigten Staaten mit 9,9 Prozent und
liegt unter dem Durchschnitt des Euro-Raums mit über
10 Prozent. Für dieses Jobwunder gibt es eine Formel:
Flexibilität und Sicherheit. Diese Entwicklung haben zu
zwei Dritteln betriebliche Bündnisse und flexible Strukturen ermöglicht - und nur zu einem Drittel die staatliche Arbeitsmarktpolitik.
Meine Damen und Herren, wir können die Weichen
für weiteren wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland stellen. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die
Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die christlich-liberale Koalition hat diesen Kompass. In der sozialen Marktwirtschaft geht es um die richtige Balance von
Staat und Markt, von eigenverantwortlichen Entscheidungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und
kollektiven Entscheidungen des Staates.
In diesem Zusammenhang ist das Prinzip von Eigenverantwortung und Haftung von zentraler Bedeutung.
Der Einzelne haftet für die Folgen seines Handelns im
Positiven wie im Negativen. Das heißt, er muss die
Früchte seiner Leistung ernten können, aber er muss
auch für die Verluste, von Fehlentscheidungen ausgelöst,
einstehen und dafür haften.
({14})
Im Zuge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise
ist dieses Prinzip durch zahlreiche Rettungsschirme für
Banken und Unternehmen und sogar für Staaten notgedrungen verletzt worden. Wir hatten eine heftige
keynesianische Situation mit großer Deflationsgefahr
und der Gefahr der Liquiditätsfalle, was bedeutet, dass
selbst weitere Liquidität nicht zu Impulsen führt. Karl
Schiller sagte es einmal so: Wenn die Pferde nicht saufen, dann funktioniert das nicht.
({15})
Aber jetzt kommt der Unterschied zu den Politikansätzen der Opposition. Es lohnt sich immer, auch das
zweite Kapitel von Keynes zu lesen: Im Aufschwung
müssen staatliche Programme zurückgefahren werden.
({16})
Im Aufschwung müssen die Staatsschulden wieder reduziert werden.
({17}) -
Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann macht mal!)
Wir müssen also wieder zu einer bewussten Gestaltung
des Ordnungsrahmens kommen. Wir bezeichnen das als
Exit-Strategie.
Der Fall Opel ist ein Beleg dafür, dass wir es mit der
sozialen Marktwirtschaft ernst meinen. Wir haben uns die
Entscheidung nicht leicht gemacht; aber General Motors
hat wenige Tage nach unserer Entscheidung alle Anträge
auf Staatshilfen in Europa zurückgezogen. General Motors übernimmt die volle unternehmerische Verantwortung - übrigens mit einem historischen Börsengang im
Rücken. Dort stehen Zahlen von 80 bis 90 Milliarden USDollar im Raum. Wir haben dem deutschen Steuerzahler
einen Haufen Geld gespart.
({18})
Auch in anderen europäischen Staaten wird man mit der
Entwicklung in Deutschland, was dieses Thema angeht,
nicht unzufrieden sein.
Der Fall Opel zeigt auch: Die Unternehmen sollten
ihren Gehirnschmalz und ihre Ressourcen in neue Ideen
und Produkte stecken. Viel Zeit und viel Geld für Subventionsberater, Anwälte und Lobbyisten auszugeben,
ist weder marktwirtschaftlich noch unternehmerisch.
({19})
Zum konsequenten Rückzug des Staates aus den Krisenmechanismen gehört, dass wir den Wirtschaftsfonds
Deutschland nicht willkürlich verlängern; sonst drohen
Gewöhnungseffekte. Bis zum 31. Dezember 2010 können noch Anträge gestellt werden. Derzeit sehe ich kei5250
nen Grund, den Fonds darüber hinaus weiterlaufen zu
lassen.
Die Euro-Krise hat uns gezeigt: Wettbewerbsfähigkeit
und klare, saubere ordnungspolitische Grenzen sind
auch in Europa unabdingbar. Auch in Europa brauchen
wir eine ordnungspolitische Diskussion. Denn in Europa
gibt es unterschiedliche Philosophien und Ansätze, etwa
das skandinavische Wohlfahrtsmodell, das zentralistische Modell der Franzosen, die Freihandelstradition der
Engländer und die soziale Marktwirtschaft in Deutschland.
Diese unterschiedlichen Kulturen müssen im Bereich
der Wirtschaftspolitik wirkungsvoll koordiniert werden.
Dabei kann es nicht um eine zentrale Detailsteuerung
von Einzelmaßnahmen der Mitgliedstaaten durch einseitige Vorgaben der EU gehen; so verstehen jedenfalls wir
den Begriff „Wirtschaftsregion“ nicht. Wir brauchen
vielmehr ein strukturpolitisches Frühwarnsystem.
Die tiefer liegenden strukturellen Fehlentwicklungen
müssen früher, klarer, wirkungsvoller erkannt und angegangen werden.
({20})
Letztlich steht hinter den Fehlentwicklungen und den
Defiziten mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Die tiefe
Ursache der griechischen Misere ist mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.
({21})
Nicht nur der Blick auf die finanzpolitischen Indikatoren wie Defizitquote und Schuldenstand ist wichtig,
um Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zukünftig muss auch die Entwicklung weiterer Kennzahlen
sorgfältig beobachtet werden, zum Beispiel die Entwicklung von Löhnen, Preisen und Produktivität. Wir brauchen ein neues, effektiveres Verfahren der wirtschaftspolitischen Begleitung und Überwachung. Es müssen
rechtzeitig die richtigen politischen Signale gesendet
und die notwendigen Reformprozesse angestoßen werden. Dazu gehört auch der notwendige Nachdruck.
Ein solches Verfahren muss über klare Strukturen,
Regeln und eventuell auch Sanktionsmöglichkeiten verfügen. Wir sollten dabei auf vorhandene Strukturen - ich
denke etwa an den Wettbewerbsfähigkeitsrat - aufbauen. Ein solcher Rat - Stichwort „ECO-COMP“ könnte die Mitgliedstaaten sturkturpolitisch begleiten
und zusätzlich als Frühwarnsystem dienen.
Als überzeugter Europäer sage ich: Wir müssen unsere eigenen Hausaufgaben machen. Unsere Zusage zur
Öffnung des Arbeitsmarktes ab April nächsten Jahres
werden wir einhalten. Wir sollten auch nicht durch neue
Schutzzäune neue Barrieren durch die Hintertür aufbauen, nur weil sich einzelne Branchen vor Wettbewerb
fürchten.
Meine Damen und Herren, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in geordnete Staatsfinanzen gehört zu
den unverzichtbaren Voraussetzungen für nachhaltiges
wirtschaftliches Wachstum. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist kein Selbstzweck. Die Beschlüsse des G-20-Gipfels vom vergangenen Wochenende zeigen, dass die Einsicht in die Zusammenhänge
auch international gewachsen ist.
({22})
Die Industriestaaten haben sich bei diesem Treffen verpflichtet, ihre Defizite bis 2013 zu halbieren. Die Bundesregierung ist also keineswegs international isoliert,
wenn wir ab dem kommenden Jahr den Ausstieg aus den
in der Krise angewachsenen Staatsdefiziten einleiten.
Die sogenannten nichtkeynesianischen Effekte der
Haushaltskonsolidierung können ihre Wirkung entfalten.
Die Menschen können darauf vertrauen, dass die Schulden von heute nicht die Steuern von morgen sind. Deswegen setzen wir an der Ausgabenseite an.
({23})
Für den Etat des Wirtschaftsministeriums bedeutet
das zum Beispiel weniger Subventionen für die Steinkohle. Bemerkenswert ist, dass die Grünen einen Antrag
zu diesem Thema auf die heutige Tagesordnung haben
setzen lassen, allerdings ohne Aussprache.
({24})
Schade! Dazu hätte man nämlich manches sagen können.
({25})
Mit ihrem Sparpaket sendet die Bundesregierung ein
Signal der Stabilität und Klarheit. Wir kommen ohne Erhöhung der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer
aus. Wir wollen durch Sanieren wachsen.
({26})
Stoltenberg und Lambsdorff ist es Anfang der 80er-Jahre
gelungen, gleichzeitig die Nettokreditaufnahme zu halbieren, die Staatsquote zu senken und dabei auch noch
neues Wachstum zu produzieren.
Im zweiten Schritt wollen wir durch Wachstum die
Haushalte sanieren. Mit unserem Sparpaket schaffen wir
den Spielraum für zukünftig niedrigere Steuern und Abgaben. Wir schaffen den Spielraum für bessere Kreditbedingungen. Nimmt sich der Staat bei der Kreditaufnahme zurück, haben die Unternehmen ein größeres
Kreditangebot zur Verfügung. Eine steuerliche Entlastungsperspektive hilft Wachstumskräften. Ein einfaches
Steuerrecht, Strukturreformen und Entlastungsperspektive gehören zusammen.
Wir werden nicht den Fehler von Grün-Rot wiederholen und ein monströses Steuervergünstigungsabbaugesetz vorlegen, das die Entlastungsperspektive vollkommen außer Acht lässt.
({27})
Das ist damals ökonomisch und politisch gescheitert.
Die Bevölkerung war tief verunsichert und die Wirtschaft gelähmt.
({28})
Heute heißt es Maßhalten, damit morgen die Entlastung
kommen kann.
Um Maß und Mitte geht es auch bei der Energiepolitik. Die christlich-liberale Koalition sorgt für eine verlässliche, klimafreundliche und kostengünstige Energieversorgung. Deshalb werden wir die Laufzeiten für
Kernkraftwerke verlängern. Kernenergie ist eine Brücke
ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.
({29})
Im Herbst werden wir dazu die Eckdaten vorlegen.
Der Bundestag wird in der Folge über die Änderung des
Atomgesetzes abstimmen. Die Verfassungsressorts prüfen das gerade, übrigens auch im Blick auf die kürzlich
ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Luftsicherheitsgesetz. Ich persönlich gehe davon
aus, dass das ohne Beteiligung des Bundesrats geht, da
auch der Ausstieg aus der Kernenergie ohne Beteiligung
des Bundesrats möglich war.
({30})
Bezahlbare Energie ist für Wirtschaft und Verbraucher wichtig. Mindestens genauso wichtig sind bezahlbare Rohstoffe. Das wird ein Megathema der nächsten
Jahre werden. Die großen Aktivitäten der Investmentbanken auf diesem Feld geben erste Hinweise. Die Kartellbildung nach Vorbild der OPEC setzt jetzt etwa auch
bei Eisenerz an. In zwölf Monaten haben sich die Preise
für Eisenerz mehr als verdoppelt. Uns muss es darum gehen, dass Deutschland weiterhin verlässliche und kostengünstige Rohstoffe zur Verfügung hat.
Klar ist: Der Staat wird nicht selbst in den Markt eingreifen und etwa Rohstoffe einkaufen. Wir helfen dort,
wo Kooperation von Wirtschaft und Politik einen Mehrwert bringt. Die Bundesregierung baut derzeit in der
Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
eine Rohstoffagentur auf. Sie wird der Wirtschaft helfen können, konkrete Informationen über Vorkommen zu
erlangen und Möglichkeiten anzupacken.
Auf dem Rohstoffgipfel im Wirtschaftsministerium
- die zweite Runde hat schon stattgefunden - haben wir
vereinbart, dass gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt,
dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung Rohstoffpartnerschaften mit Entwicklungsländern auf den Weg gebracht werden können. Die
Wirtschaft selbst wird bis Mitte Juli Vorschläge dazu
vorlegen. Die Märkte werden jetzt weltweit neu verteilt.
Da muss Deutschland als Exportnation dabei sein.
Wir sind auf einem guten Weg. Der Aufschwung geht
weiter. Der Kurs der Regierung hat sich bestätigt.
({31})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Brüderle, das hatten Sie
sich so schön gedacht, als Sie - ich glaube, für das ganze
Haus überraschend - diese Regierungserklärung zum
Thema Aufschwung für den heutigen Morgen auf die
Tagesordnung gesetzt haben. Ihre Vorstellung war so:
Ich verkünde am Montag, dass der Aufschwung da ist,
am Mittwoch führen wir eine glanzvolle Bundespräsidentenwahl durch, und am Donnerstagmorgen kann ich
hier noch einmal kraftvoll sagen, wie erfolgreich diese
Bundesregierung ist.
({0})
Das hat nicht ganz funktioniert: Nachdem Sie angekündigt hatten, wie groß der Aufschwung ist, ist der
DAX um 1,5 Prozent eingebrochen.
({1})
Der gestrige Tag hat eines gezeigt: Ihnen von der Koalition ist es gestern nicht gelungen, in der regulären Spielzeit einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen nicht gelungen,
in der Verlängerung einen Sieg zu erringen; es ist Ihnen
erst im Elfmeterschießen gelungen - unter tätiger Mithilfe der Linken in diesem Parlament -, einen Sieg zu erringen. Das ist die Wahrheit.
({2})
Diese Regierung geht auf dem Zahnfleisch. Das wird leider gerade in der Wirtschaftspolitik deutlich.
({3})
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, eines will ich
noch sagen, bevor ich auf die Rede des Herrn Bundeswirtschaftsministers eingehe. Wir hatten in der vergangenen Woche einen Weltwirtschaftsgipfel, nämlich den
G-20-Gipfel. Vorher gab es einen G-8-Gipfel. Wenn uns
in diesem Hause und die deutsche Öffentlichkeit insgesamt - jeden Bürger und jede Bürgerin - in den letzten
eineinhalb bis zwei Jahren eine Frage beschäftigt hat,
dann ist es die: Wie kriegen wir es hin, die richtigen
Lehren aus dieser Finanzmarktkrise, die eine reale
Wirtschaftskrise geworden ist, zu ziehen? Sehr verehrte
Frau Bundeskanzlerin, ich hätte erwartet, dass Sie nach
Ihrer Rückkehr aus Toronto eine Regierungserklärung
darüber abgeben, wie Sie gedenken, weltweit gegen die
Finanzmarktakteure vorzugehen und sie an den Kosten
dieser Krise zu beteiligen. Das wäre heute hier Ihr Platz
gewesen. Stattdessen kümmern Sie sich nur darum, Ihre
Koalition mit Ach und Krach zusammenzuhalten.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Herr Wirtschaftsminister hat gesagt, der Aufschwung sei da und
diese Bundesregierung habe so viel dafür getan. Es wäre
ja schön, wenn der Aufschwung tatsächlich selbsttragend wäre. Davon sind wir aber leider noch ein gutes
Stück entfernt, weil die Akteure auf den Märkten auch
nach wie vor verunsichert sind. Das gilt ganz besonders
für den Binnenmarkt.
Wenn Sie sich vor Augen führen, dass das Ifo-Institut
die Geschäftsentwicklung in den kommenden sechs Monaten sehr zurückhaltend einschätzt, wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass das IMK sagt, dass die Wirtschaftsdynamik bereits in der zweiten Jahreshälfte deutlich
nachlassen wird, wenn Sie sich den Konjunkturbericht
des Bankenverbandes anschauen, in dem ebenfalls steht,
dass es viele Gründe gibt, die gegen die Erwartung sprechen, dass es im zweiten Halbjahr ein deutlich positiveres Gesamtbild geben wird,
({5})
dann ist es notwendig, mehr zu sagen als der Bundeswirtschaftsminister. Er hat heute nur gesagt: Wir machen
eine Exit-Strategie. - Das kann nicht die Antwort auf
diese Herausforderung sein.
Lassen Sie uns doch endlich eine Debatte darüber beginnen, welche Instrumente, die wir unter anderem mit
den beiden Konjunkturpaketen auf den Weg gebracht haben und die sehr hilfreich waren - das wird inzwischen
auch von der FDP nicht mehr bestritten, auch wenn sie
damals laut dagegen vorgegangen ist -, über das Ende
dieses Jahres hinaus fortbestehen müssen, damit wir
einen dauerhaften, selbsttragenden Aufschwung in
Deutschland bekommen können. Warum kommen Sie
überhaupt auf die Idee - es ist wirklich aberwitzig -, das
erfolgreichste Programm, das wir in den letzten Jahren
gehabt haben, nämlich das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, so einzudampfen, wie Sie das vorhaben?
({6})
Das ist der größte Fehler, den man überhaupt machen
kann, weil doch gerade durch dieses Programm den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit eröffnet wird, die
eigenen Energiekosten zu senken. Auch für das Handwerk war es sehr erfolgreich, weil es ihm viele Aufträge
verschafft hat.
Wie kann man in einer solchen Situation denn nicht
wenigstens einmal darüber nachdenken, ob man die Regelung, die wir für die Absetzbarkeit der Handwerkerrechnungen in der letzten Wahlperiode gemeinsam
getroffen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, noch einmal fortsetzt, weil sie so eine
positive Wirkung gehabt hat und weil mit ihr vermieden
wurde, dass Arbeit wieder in der Grauzone, also in der
Schwarzarbeit, verschwindet? Dass ordentlich abgerechnet wurde, war gut für die Bürgerinnen und Bürger und
für die Handwerksbetriebe in unserem Land.
({7})
Es gäbe also eine ganze Reihe von Punkten, die man
ganz konkret anfassen könnte. Aber das ist natürlich von
diesem Wirtschaftsministerium, von dieser Bundesregierung nicht zu erwarten.
Über einige Themen sind Sie heute locker hinweggegangen, zum Beispiel darüber, dass die Zahl der Insolvenzen in Deutschland trotz der konjunkturellen Erholung gestiegen ist. In den ersten sechs Monaten des
laufenden Jahres haben 17 360 Unternehmen einen Insolvenzantrag gestellt. Das sind 7,1 Prozent mehr als im
Vorjahreszeitraum. Sie haben kein Wort zu dieser Entwicklung gesagt.
In der letzten Woche haben wir eine sehr schwerwiegende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum
Grundsatz der Tarifeinheit zur Kenntnis nehmen
müssen. Ich hätte erwartet, dass sich der Bundeswirtschaftsminister hier und heute, in einer solchen Regierungserklärung, wenigstens ansatzweise zu diesem
Thema geäußert und gesagt hätte: Wir müssen gemeinsam mit dem DGB und der BDA das weiterführen, was
diese beiden hierzu schon entwickelt haben. - Sie glauben noch immer an das seligmachende Instrument der
betrieblichen Bündnisse. Nein, es kommt darauf an, dass
wir Frieden in den Betrieben haben, und das geht nur
über die Tarifeinheit in Deutschland. Deswegen wäre es
eine Herausforderung für dieses Parlament, gemeinsam
mit der BDA, dem DGB und anderen Partnern dafür zu
sorgen, dass wir das nach diesem Urteil auch in Zukunft
sicherstellen können, Herr Fuchs. Durch die Bewältigung dieser Aufgabe könnten wir gemeinsam etwas voranbringen.
({8})
Sie setzen stattdessen auf eine völlig falsche Sparstrategie ohne jeglichen Impuls für ein wirklich nachhaltiges
Wachstum in Deutschland. Das, was Sie hierzu vorlegen,
ist zu wenig. Sie verzetteln sich in Kleinigkeiten, anstatt
eine klare Linie für Deutschland auch mit Blick auf die
internationalen Verflechtungen der deutschen Wirtschaft zu entwickeln. All das gibt es bei Ihnen nicht.
Deswegen bin ich genötigt, Herr Bundestagspräsident Lammert, mit Ihrer Genehmigung, die ich jetzt einmal voraussetze, auf das zurückzukommen, was Sie
gestern gesagt haben. Sie haben es natürlich auf das
Amt des Bundespräsidenten bezogen, als Sie, wie ich
fand, sehr nachvollziehbar gesagt haben: Man muss in
einer Demokratie kein Amt übernehmen; aber wenn
man denn gewählt ist, dann muss man das Amt mit aller
Kraft ausüben und ausführen. - Sehr geehrter Herr Bundeswirtschaftsminister Brüderle, das und nicht mehr verlangen wir auch von Ihnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aufgrund eines spürbaren Aufschwungs in der Wirtschaft
und ganz besonders - und das ist sehr erfreulich - auf
dem Arbeitsmarkt erleben wir momentan ein Sommermärchen. Nein, es ist kein Märchen, es ist real. Gott sei
Dank ist das so. Wir sind aus der Krise heraus, und zwar
schneller, als wir alle uns das gedacht haben.
({0})
Wir haben die Folgen dieser Krise gut gemeistert.
Dazu haben alle Programme, die wir in diesem Hohen
Hause gemeinsam erarbeitet haben, beigetragen. Herr
Duin, ich gebe Ihnen recht: Die Konjunkturprogramme
haben gewirkt. Alles andere, was Sie zur Wirtschaftspolitik von sich gegeben haben, waren aber eher Klein
Fritzchens Wirtschaftsweisheiten, die nicht ganz nachvollziehbar sind.
Auch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat
gewirkt. Zum 1. Januar dieses Jahres haben wir die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in einem Gesamtumfang von rund 23 Milliarden Euro entlastet. Ein Konjunkturprogramm in dieser Größenordnung hat es selten
gegeben. In allen Bereichen wurden Wirkungen erzielt.
Mit Sicherheit ist das einer der Gründe dafür, dass die
Wirtschaft mittlerweile wieder boomt und dass neu eingestellt wird. Bei einer Konjunkturumfrage des Ifo-Instituts haben alle befragten Unternehmen gesagt, dass sie
davon ausgehen, dass sich der Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte eher verstetigen und verstärken wird.
Herr Duin, Sie haben hierzu etwas Falsches gesagt. Man
sollte die entsprechenden Statistiken eben lesen, bevor
man etwas behauptet.
({1})
Wir haben mit den Rettungsschirmen für Griechenland und den Euro auch auf dem europäischen Finanzmarkt richtig reagiert. Der Euro steht heute bei
1,23 Dollar. Das ist überhaupt kein Drama. Im Gegenteil: Die deutsche exportierende Wirtschaft ist nicht unzufrieden damit, weil dadurch unsere Chancen im dollarabhängigen Ausland, in das immerhin rund 40 Prozent
unserer Exporte gehen, verstärkt werden. Das sollte man
in diesem Zusammenhang sehen. Der Euro hat schon
einmal bei 85 Cent und auch bei 1,55 Dollar gestanden.
Das war jeweils zu handhaben; auch das gehört zur
Wahrheit.
Ich denke, dass die Bundesregierung richtig gehandelt
hat, als sie diese Krise jetzt für beendet erklärt hat. Ich
bin dem Bundeswirtschaftsminister für diese Aussage
dankbar. Es ist völlig richtig, dass wir die Lehre von
Keynes vollständig betrachten müssen. Der Keynesianismus muss so verstanden werden, wie er von Keynes
gedacht war: Im Aufschwung müssen Maßnahmen sofort zurückgefahren und Sparmaßnahmen eingeleitet
werden, damit die Kosten der deflatorischen Phase wieder ausgeglichen werden können. Ich bin davon überzeugt, dass die Sparpakete, die wir bis jetzt beschlossen
haben, richtig sind.
Dass wir nicht so stark in das Soziale einschneiden,
will ich an zwei Beispielen klarmachen. Der Bereich Soziales macht ungefähr 55 Prozent des Bundesetats aus,
aber der Anteil des Bereichs Soziales an unserem Sparpaket beträgt rund 30 Prozent. Er ist also unterproportional, weil wir uns unserer Verantwortung gegenüber den
sozial Schwächeren in der Republik bewusst sind. Das
zeigt unser Sparpaket sehr deutlich.
({2})
Ich halte es für richtig, dass wir in bestimmten Bereichen Einsparungen vorgenommen haben. Ich will einen
Bereich nennen: Wenn wir beim Elterngeld Einsparungen
vorgenommen haben, dann haben wir das deswegen getan, weil das Elterngeld bei Hartz-IV-Familien falsch angesetzt ist. Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Das
Elterngeld war und ist eine Lohnersatzleistung und nichts
anderes. Wenn heute eine Hartz-IV-Familie mit zwei Kindern inklusive Elterngeld rund 1 870 Euro netto erhält,
dann führt das dazu, dass sich sehr viele dem ersten Arbeitsmarkt nur relativ zögerlich zur Verfügung stellen.
Das muss korrigiert werden, und das wollen wir tun.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Haßelmann?
Warum nicht?
Na, also. - Bitte schön, Frau Haßelmann.
Herr Fuchs, da Sie dankenswerterweise ausgeführt
haben, dass das Elterngeld für Hartz-IV-Berechtigte gestrichen werden soll, weil es sich dabei um eine Lohnersatzleistung handelt und das nicht der Intention des Elterngeldes entspricht, frage ich Sie: Wenn Sie diese
Argumentation durchgängig beibehalten wollen, warum
kürzen Sie bei Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern das Elterngeld, nicht aber bei Studierenden und bei
Hausfrauen bzw. Hausmännern, die in einer Familienkonstellation leben, wo eine Person ein volles Gehalt bezieht und die andere Person nicht arbeitet? Ich finde das
insgesamt nicht richtig. Wo aber greift das Argument der
Lohnersatzleistung bei diesen beiden Gruppen?
Ich bin der Meinung, dass die Lohnersatzleistung gerade bei Hartz-IV-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt ja
nicht zur Verfügung stehen - jedenfalls zurzeit nicht -,
nicht angebracht ist. Es ist richtig, dass wir das Elterngeld dort kürzen. Ich habe des Weiteren gesagt, dass jemand, der Hartz IV bezieht und Elterngeld empfängt,
rund 1 870 Euro netto hat. Wissen Sie, wie viel das
brutto ist? Das sind knapp 3 000 Euro brutto.
({0})
Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass der Hartz-IVEmpfänger dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung
steht. Das ist einer der Gründe, warum wir diese Maßnahme ergriffen haben.
({1})
Die Situation unseres Landes hat sich deutlich verbessert. Der Außenhandel gewinnt an Fahrt. Ich habe eben
schon gesagt, dass dazu der Euro-Kurs beiträgt. Die Auftragsbücher der Industrie füllen sich. Der Bundeswirtschaftsminister hat vollkommen recht: Das gilt für fast
alle Branchen. Vor allen Dingen beim Maschinenbau,
der im letzten Jahr eine unserer kritischen Branchen war,
geht es jetzt wieder nach oben. Der IWF rechnet damit,
dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4 Prozent
wächst. Wir müssen sehen, dass wir davon unseren Teil
abbekommen. Dafür müssen wir kämpfen, dafür müssen
wir alles einsetzen. Ich glaube, dass wir dazu in der Lage
sind.
Es ist richtig, wenn wir uns auf den asiatischen Raum
fokussieren. China wird in diesem Jahr um annähernd
10 Prozent wachsen. Da werden unsere Hightechprodukte gebraucht. Das zeigt sich gerade in der letzten
Zeit. Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar dafür, dass er China in den Fokus genommen hat. Dass
seine erste Auslandsreise dorthin führte, hat sicherlich
dazu beigetragen.
Viele Maßnahmen, die wir ergriffen haben, sind richtig. So haben wir das Kurzarbeiterprogramm verlängert. Allerdings kann man die Frage stellen, ob es aufgrund der wesentlich verbesserten Situation auf dem
Arbeitsmarkt nicht unter Umständen schon früher zurückgeführt werden kann, um Kosten zu sparen, damit
wir in unseren Sparprogrammen vorankommen. Herr
Duin, es ist festzustellen, dass die von uns umgesetzten
Programme richtig waren. Wenn sie allerdings auf dem
Arbeitsmarkt in dieser Form nicht mehr benötigt werden, dann ist eben Sparen angesagt.
Das Sparpaket - lassen Sie mich das noch einmal betonen - war richtig. Die Bundeskanzlerin hat in der jetzigen Weltmeisterschaftsphase das wichtige Auswärtstor
geschossen, indem sie Herrn Obama dazu gebracht hat,
zu erkennen, dass zusätzliche Maßnahmen falsch sind
und dass Sparen angesagt ist. Dazu möchte ich ihr herzlich gratulieren. Es war alles andere als einfach, das in
Toronto umzusetzen und durchzusetzen.
({2})
Auf dem G-20-Treffen in Toronto wurde beschlossen,
die Neuverschuldung bis zum Jahre 2013 zu halbieren
und bis zum Jahre 2016 auf null zu setzen.
({3})
Ich hoffe erstens, dass das umgesetzt wird, und zweitens,
dass dadurch ein neues Denken in der Welt einsetzt, das
dazu führt, dass endlich wirklich mit dem Sparen begonnen wird, und zwar in allen Bereichen; denn nur eine
Politik, die dazu führt, dass die Haushalte sich nicht
mehr neu verschulden, sondern im Gegenteil in die Lage
versetzt werden, Schulden abzutragen, wird eine langfristige und nachhaltige Politik - daran müsste gerade
den Grünen gelegen sein - sein. Dafür kämpfen wir.
({4})
Dazu gehört für mich, dass die Wirtschaft ein wenig
umdenken muss. Ich finde es schon bedenklich, wenn
immer wieder neue Forderungen an die Politik gestellt
werden. Einige dieser Forderungen aus den letzten Wochen will ich einmal aufzählen.
Zum Beispiel erklären die Airlines: Da war Asche
am Himmel; jetzt brauchen wir Asche von der Politik. „Asche für Asche“ ist eine Politik, die ich nicht besonders amüsant finde. Dabei handelt es sich um ein originäres Risiko einer Airline. Das kann nicht von der Politik gelöst werden.
({5})
Ich habe auch ein Problem damit, dass wir jetzt eine
Anschubfinanzierung für den Kauf von Elektromobilitätsfahrzeugen leisten sollen. Es ist wiederum eine Aufgabe der deutschen Industrie und der deutschen Automobilwirtschaft, solche Dinge ohne staatliche Hilfen zu
machen. Der Staat kann nicht an allen Stellen eingreifend wirken und versuchen, die Fehler, die in der Vergangenheit in den Unternehmen vielleicht gemacht worden sind, überall zu korrigieren.
Im Übrigen finde ich es hervorragend, dass der Bundeswirtschaftsminister verhindert hat, dass Opel zusätzliches Geld bekommt. Dass General Motors in der Lage
ist, das alles selbst zu finanzieren, hat uns dieses Unternehmen drei Tage nach dem Entscheid des Bundeswirtschaftsministers bestätigt.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, eigentlich ist es
schon eine ziemlich große Unverschämtheit, das Ministerium über Monate mit allen möglichen Anträgen zu beschäftigen - ich wüsste gerne einmal, wie viele Manntage dafür draufgegangen sind - und anschließend zu
sagen: April, April! Wir brauchen euch gar nicht; wir
können es alles selber. - Das ist schon höchst ärgerlich.
So sollte man mit der Bundesregierung und dem Bundeswirtschaftsministerium nicht umgehen.
({7})
Einen letzten Punkt will ich erwähnen. Ich halte es für
richtig, dass wir uns sehr intensiv mit dem Thema Energiepolitik beschäftigen. Dazu gehört für mich, dass die
Kernenergie eine Brückentechnologie in das Zeitalter
der erneuerbaren Energien ist.
({8})
Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass
bei den erneuerbaren Energien nicht alle Wünsche in
Erfüllung gehen können. Wenn in der Zeitschrift Photon
- wahrlich kein Parteiblatt der CDU/CSU - jetzt festgestellt wird, dass der Strompreis nächstes Jahr nur aufgrund der Fotovoltaik um bis zu 12 Prozent steigen wird,
dann ist das mehr als bedenklich. Nächstes Jahr wird es
im Rahmen des EEG mit Sicherheit zu einer Verdoppelung der Sätze kommen. Heute ist ein Aufschlag auf den
Strompreis von ungefähr 2,04 Cent pro Kilowattstunde
erforderlich; nächstes Jahr werden es über 4, annähernd
5 Cent pro Kilowattstunde sein. Was bedeutet das? Das
bedeutet für einen Vierpersonenhaushalt, der ungefähr
3 500 Kilowattstunden im Jahr verbraucht, dass er allein
im Rahmen des EEG bis zu 200 Euro zahlen muss. In
die Richtung wird das gehen.
Jeder, der da zusätzliche Forderungen aufstellt, sollte
genau wissen, was er tut. Er sollte wissen, dass er damit
die Wirtschaft und natürlich auch die Familien, die
Haushalte überbelastet. Das ist meines Erachtens gefährlich. Da müssen wir jetzt einschreiten. Ich wünsche mir,
dass der Bundesrat in der nächsten Woche eine kluge
Entscheidung trifft, damit das Gesetz endlich in Kraft
treten kann. Wir müssen schnell absenken. Das ist absolut notwendig.
Für mich gehört noch etwas dazu: Bei dem Sparpaket
müssen wir darauf achten, dass im Bereich der Stromsteuer keine Fehler gemacht werden; denn wir wollen
die Industrie in Deutschland behalten. Meines Erachtens
ist Deutschland ein Industrieland. Wir sind nur deshalb
so gut aus der Krise herausgekommen, weil die Industrie
in Deutschland schnell wieder angepackt hat, weil es
schnell wieder vorangegangen ist. Ich möchte nicht in
einem Land leben, in dem 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der City of London erzeugt werden. Nicht in
der Finanzwelt liegt die Chance für unser Land, sondern
in der deutschen Industrie.
({9})
Gregor Gysi erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen sehr genau zugehört,
auch Ihren Ausführungen zur Atomenergie. Ich habe an
Sie die Bitte, einmal ganz im Ernst über Folgendes nachzudenken: Eine Technologie muss man beherrschen.
({0})
Man muss sie auch im Falle eines Unfalls beherrschen
können. Wenn uns je ein Atommeiler um die Ohren
fliegt, können Sie - wie wir alle - nichts einschätzen. Sie
wissen nicht, wie viele Tote es gibt. Sie wissen nicht, ob
man unser Land noch bewohnen kann. Sie wissen nicht,
wie viele Generationen das betrifft. Ich sage Ihnen: Lassen Sie die Finger von einer Technologie, die wir alle
nicht beherrschen! Kein Mensch in unserem Land hat
verdient, dass Sie da umgekehrt vorgehen.
({1})
Sie haben mit Stolz verkündet, dass die Wirtschaft
wächst. Ich sage: trotz der Politik der Bundesregierung,
nicht etwa wegen dieser Politik. Dann schauen wir uns
einmal die drei Gründe dafür an:
Der erste Grund ist, dass die Exporte nach China
und Südostasien steigen. Warum? Weil die Chinesen
ein gewaltiges Konjunkturprogramm gestartet haben,
also das tun, was Sie für Deutschland gerade ablehnen.
Dadurch können wir dorthin natürlich mehr exportieren.
Der zweite Grund liegt in der Abwertung des Euro
gegenüber dem Dollar und anderen Währungen. Dadurch werden unsere Produkte billiger. Das hat noch
nichts mit Qualität zu tun; sie werden erst einmal billiger
und lassen sich leichter verkaufen.
Der dritte Grund ist, dass die Löhne in Deutschland
in den letzten zehn Jahren real um 11 Prozent gesunken
sind. Dadurch haben Sie den Export erhöht. Das Problem ist nur, dass die anderen Länder das merken. China
will jetzt nicht mehr wie Deutschland das Land mit dem
berühmten Exportüberschuss sein. China versucht, das
zum Ende des Jahres hin zu korrigieren. Aber die Bundesregierung hier in Deutschland korrigiert das überhaupt nicht. Sie von der Bundesregierung haben nicht
begriffen, wie wichtig der Binnenmarkt, die Binnenwirtschaft für Deutschland sind; Sie setzen allein auf den Export, was falsch ist.
({2})
Im Übrigen ist das Ganze eine Ausnahme im Jahr
2010. Das setzt sich im Jahr 2011 nicht fort, und das hat
einen Grund. Als die Krise begann, hatten Sie eine andere Logik. Da hat Frau Merkel gesagt: Ich will auf gar
keinen Fall ein Sparprogramm; ich will ein Konjunkturprogramm. - Jetzt, mitten in der Krise, ändern Sie Ihre
Logik. Sie haben übrigens nie erklärt, warum, warum
also damals das Konjunkturprogramm richtig gewesen
sein soll und warum es jetzt plötzlich richtig sein soll,
dramatische Sozialkürzungen - ich werde darauf noch
eingehen - vorzunehmen.
({3})
- Ja, ja.
Der Punkt ist, dass Sie auch andere Länder zu solchen
Kürzungsprogrammen, die Sie fälschlich immer „Sparpaket“ nennen - da wird nichts gespart; Sie kürzen
schlicht und einfach -, gezwungen haben, nämlich Grie5256
chenland, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien und
Frankreich. Was ist Ihres Erachtens die Folge, wenn dort
all diese Kürzungsprogramme durchgeführt sind? Die
Folge ist, dass Deutschland dorthin weniger exportieren
kann; denn die Kaufkraft nimmt ab, und deshalb werden
weniger Produkte verkauft. Schon damit ist Ihr Boom beendet.
Da Sie selbst in Deutschland ein solches Sparprogramm, ein solches Kürzungsprogramm, durchführen,
wird es hier entsprechende Folgen geben, worauf ich
noch eingehen werde. Ich sage Ihnen: Die reine Exportorientierung muss weg. Wir brauchen eine deutlich stärkere Binnenwirtschaft.
({4})
Sie sagen in dem Zusammenhang, Herr Brüderle,
dass es falsch wäre, wenn wir höhere Löhne in Deutschland hätten und ein Konjunkturprogramm durchführten.
Ich habe an der Stelle auf zwei Sätze gewartet, in denen
Sie das erklären oder begründen. Sie kamen nicht. Sie
sagen einfach, es sei falsch. Wieso ist das falsch? Wieso
ist es eigentlich falsch, unsere Binnenwirtschaft zu stärken? Wieso ist es falsch, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen? Wieso ist es falsch, die Löhne endlich wieder
an die Produktivitätsentwicklung anzupassen und damit
zu steigern? Wieso ist es falsch, diejenigen, die Werte
schaffen, daran finanziell zu beteiligen? Dafür habe ich
von Ihnen keine Erklärung bekommen.
({5})
Was machen Sie jetzt? Sie schlagen ein Kürzungsprogramm vor. Ein erster Vorschlag ist die Umwandlung
von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen bei Arbeitslosen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß doch der
Slogan „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll jetzt
gestrichen werden, wenn ich das richtig verstehe.
Schließlich wollen Sie 16 Milliarden Euro bis 2014 einsparen. Das heißt, die ganzen Ausbildungsprogramme
und die Trainingsprogramme, all das, was es sonst noch
gibt, müssen von den Jobcentern gestrichen werden. Was
bieten Sie denn dann den Arbeitslosen? Alle Programme
sollen doch jetzt Ermessensleistungen werden. Ich weiß
gar nicht, nach welchem Ermessen entschieden wird.
Entscheidet dann ein Angestellter oder eine Angestellte
darüber, je nachdem, ob er oder sie Lust hat oder nicht?
Ermessen ist für mich Willkür. Nein, diese Leistungen
müssen Pflichtleistungen bleiben. Das ist für mich ganz
entscheidend.
({6})
Ein anderer Punkt ist die geplante Streichung des Zuschlages beim Übergang von Arbeitslosengeld I in
Arbeitslosengeld II. Das ist grob ungerecht. Stellen Sie
sich einmal Folgendes vor: Ein erwerbsloser Ingenieur
bekommt Arbeitslosengeld I. Bisher war es so: Bevor
dieser Ingenieur ALG II erhielt, bekam er ein Übergangsgeld, damit er sich auf diesen Bruch, auf diese Veränderung seines Lebensstandards einstellen konnte. Jetzt
aber wollen Sie diesen Zuschlag einfach streichen. Sie
weigern sich, vom Millionär einen halben Cent mehr zu
nehmen; aber dem ALG-II-Empfänger streichen Sie das
Übergangsgeld. Das können Sie nicht erklären. Mit der
Vokabel „Gerechtigkeit“ hat das Ganze überhaupt nichts
zu tun.
({7})
Jetzt komme ich zum Elterngeld; darüber hat auch
Herr Fuchs gesprochen. Beginnen wir der Ehrlichkeit
halber ganz von vorne: Am Anfang war die Große Koalition. Was hat diese Große Koalition beim Elterngeld
gemacht, auch Sie, meine Damen und Herren von der
SPD? Stellen Sie sich doch einmal selbstkritisch hierhin
und erklären Sie: Das war ein Fehler. - Bis dahin bekam
die ALG-II-Empfängerin bzw. der ALG-II-Empfänger
zwei Jahre lang Elterngeld in Höhe von monatlich
300 Euro.
({8})
- Ja, Sie haben es anders genannt. Aber faktisch gab es
dieses Geld, und zwar 24 Monate lang. - In der Großen
Koalition ist entschieden worden, die Dauer des Bezugs
zu halbieren, also 12 Monate zu streichen, und zwar nur
aus dem einen Grund, damit man in der Regel der besserverdienenden Frau - gelegentlich auch dem besserverdienenden Mann - nicht mehr 300 Euro, sondern bis
zu 1 800 Euro zahlt. Das heißt, die Sozialdemokratie
Deutschlands hat zugestimmt, für ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger die Dauer des Bezugs von Elterngeld zu halbieren,
({9})
damit die Bestverdienenden einen Betrag von 1 800 Euro
bekommen können. Das ist völlig antisozialdemokratisch. Sagen Sie doch einmal ehrlich, dass das ein Fehler
war.
({10})
Dass die Union das macht, passt zu ihrer ideologischen
Logik. Aber bei der SPD kann ich es nicht nachvollziehen.
Jetzt passiert das, was immer passiert und was mich
wirklich ärgert. Sie haben einen Schritt gemacht und die
Dauer des Bezugs für ALG-II-Empfänger halbiert. Jetzt
sagen Union und FDP: Gut, wenn die Tür schon einen
Spalt geöffnet ist, dann machen wir sie ganz auf und streichen das Geld für ALG-II-Empfänger gänzlich. - Das ist
die Folge. Ich sage Ihnen: Sie hätten sich das nicht getraut, wenn die SPD in der Großen Koalition nicht zugestimmt hätte, die Dauer des Bezugs zu halbieren. Sie hätten sich nicht getraut, das Geld für diese Menschen ganz
zu streichen. Aber genau das machen Sie jetzt.
Logisch, Herr Brüderle und Herr Fuchs, ist Ihre Argumentation überhaupt nicht. Sie erklären, man könne den
ALG-II-Empfängern das Geld nicht zahlen, weil es eine
Lohnersatzleistung sei. Es ist doch ganz egal, was es ist.
Die Menschen bekamen dafür, dass sie Kinder haben,
zusätzliches Geld - das war entscheidend und wichtig -,
und zwar über einen bestimmten Zeitraum. Dieses Geld
nehmen Sie ihnen jetzt einfach weg.
Der Gattin des Millionärs, die ständig zu Hause ist
und auch keine Lohnersatzleistung bekommt, sagen Sie,
dass sie weiterhin Elterngeld bekommt; denn für sie wird
es nicht gestrichen. Erklären Sie das einmal der ALG-IIEmpfängerin! Gehen Sie zu ihr und erklären Sie, warum
die Frau des Millionärs Elterngeld bekommt und sie
nicht! In beiden Fällen soll es doch keine Lohnersatzleistung sein. Sie bringen keine Logik in Ihre Politik hinein.
({11})
Es gibt 7 Millionen Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger. Es geht also um sehr viele Menschen.
Dann wollen Sie die Heizkostenpauschale für Geringverdiener streichen. Was sagen Sie diesen Menschen,
wovon sie die Heizkosten bezahlen sollen?
Herr Kollege Gysi, Herr Geis möchte Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Herr Kollege, würden Sie mit mir die Unterscheidung
zwischen Elterngeld auf der einen Seite und Erziehungsgeld auf der anderen Seite machen? Erziehungsgeld
wurde seit 1986 gezahlt, unabhängig davon, ob nun eine
Frau zur Arbeit gegangen ist oder nicht. Das wurde als Erziehungsleistung abgegolten, weil die Frau eine bestimmte Erziehungsleistung erbracht hat. Diese Erziehungsleistung erbringt sie nach wie vor, unabhängig
davon, ob sie arbeitet oder nicht. Wegen dieser Erziehungsleistung bekommt sie die 300 Euro. Diese sollen erhalten bleiben. Was haben Sie dagegen?
({0})
Ich habe etwas dagegen, dass Sie die Erziehungsleistung der ALG-II-Empfängerin nicht anerkennen. Das ist
mein Problem. Diese leistet doch auch Erziehungsarbeit.
Warum bekommt sie kein Geld? Das können Sie nicht
erklären.
({0})
- Er möchte noch eine Frage stellen, Herr Präsident.
Sie möchten offenkundig auch, dass er eine weitere
Frage stellt.
({0})
Dann stehe ich dem nicht im Wege. - Bitte schön.
Stimmen Sie mit mir überein, dass es dadurch, dass
die ALG-II-Empfängerin in Form von aufgestuftem Kindergeld eine Ersatzleistung bekommt
({0})
- lassen Sie mich doch meine Frage beenden -, möglich
ist, die 300 Euro zu streichen, weil in diesem Fall das Erziehungsgeld über das Kindergeld läuft?
({1})
Nein. Das kann ich Ihnen deshalb nicht zubilligen,
weil ja das Kindergeld, von dem Sie hier sprechen, jetzt
nicht erhöht wird. Sie streichen vielmehr 300 Euro, weil
Sie sagen, es sei eine Leistung, die nicht gerechtfertigt
ist. Es ist ja nicht so, dass Sie zugleich das Kindergeld
um 300 Euro erhöhen. Wenn das der Fall wäre, dann
könnten wir darüber diskutieren. Aber genau das machen Sie ja nicht. Deshalb handelt es sich um eine
Schlechterstellung, und es bleibt dabei: Die Hausfrau
des Millionärs bekommt weiterhin Geld - Sie nennen es
hier nun Erziehungsgeld -, aber die ALG-II-Empfängerin bekommt nichts.
({0})
- Richtig, es kommt noch hinzu, dass das Kindergeld bei
Hartz-IV-Empfängern verrechnet wird. Diese bekommen gar kein Kindergeld, weil sie den Zuschlag für Kinder bekommen. Darüber haben wir uns schon immer
aufgeregt. Wir halten das für eine völlig falsche Herangehensweise.
({1})
Jetzt möchte ich gerne fortsetzen. Das Problem ist
doch folgendes: Wir haben eine Krise. Es gibt einige, die
die Schuld für diese Krise tragen. Die Schuldigen sind
nämlich die Banker, die Spekulanten und diejenigen, die
für bestimmte politische Entscheidungen verantwortlich
sind. Als Ergebnis Ihres sogenannten Sparpaketes kommt
nun heraus, dass weder die Banker noch die Spekulanten
noch die Verantwortlichen in der Politik die Folgekosten
dieser Krise bezahlen; vielmehr sollen diese die ALG-IIEmpfänger und die Geringverdiener in Deutschland bezahlen. Erklären Sie denen einmal, was daran gerecht sein
soll. Nichts haben Sie bisher unternommen, damit die tatsächlich Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen
werden.
Die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit werden
übrigens im nächsten Jahr um 7,1 Prozent steigen. Ihr
Vorgehen hat, wenn Sie schon nicht sozial denken, auch
wirtschaftliche Auswirkungen: Eine ALG-II-Empfängerin gibt all das Geld aus, das sie bekommt. Wenn Sie jedoch Herrn Ackermann 100 Euro mehr geben, dann kauft
er nicht für 100 Euro mehr ein, sondern er spekuliert mit
diesen zusätzlichen 100 Euro. Wenn Sie einer ALG-IIEmpfängerin 10 Euro mehr geben, kauft sie dafür ein.
Das heißt, die ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger
wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Geringverdiener würden die Binnenwirtschaft
stärken, wenn sie mehr Geld hätten. Die wirklich Reichen
und Vermögenden spekulieren bloß, wenn sie mehr Geld
bekommen, aber stärken nicht die Binnenwirtschaft. Dieser Unterschied muss doch einmal deutlich hervorgehoben werden.
({2})
Ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine da. Der
Wirtschaftsrat der CDU hat verlangt, endlich einmal für
eine gerechtere Steuerbelastung zu sorgen. Millionäre
stellen sich hin und erklären sich bereit, höhere Einkommensteuern zu zahlen. Es ist doch wirklich grotesk: Nur
die FDP und die Union weigern sich und handeln konsequent dagegen.
({3})
- Ja, ich auch. Man sollte nur Politikern trauen, deren
Vorschläge dazu führen, dass auch sie selber mehr Steuern zahlen müssen. Sie dagegen machen immer Vorschläge, die dazu führen, dass Sie selber weniger Steuern
zahlen. Das macht mich ungeheuer stutzig.
({4})
Jüngst haben Sie zusammen mit der SPD die Schuldenbremse eingeführt. Aufgrund dieser Schuldenbremse
müssen bis 2014 knapp 96 Milliarden Euro eingespart
werden. Sagen Sie mir doch einmal, wie. Sie sagen, die
Hälfte solle durch Leistungskürzungen eingespart werden. Aber die Länder sind doch am Ende, und die Kommunen sind schon kaputt. Wohin soll das noch führen?
Schleswig-Holstein zum Beispiel hat die Schuldenbremse in die eigene Verfassung übernommen. Wozu
führt das dort? Um die Schuldenbremse einzuhalten,
muss man dort 5 300 Stellen, mehrheitlich im Schulbereich, streichen. An den Hochschulen werden bestimmte
Studiengänge dichtgemacht. Die Landeszuschüsse für die
Schülerbeförderung werden gestrichen. Es wird also in
allen Bereichen der Bildung gespart. Wenn das alles nicht
reichen sollte, dann sollen auch noch Schwimmbäder geschlossen und die Zahl der Kultureinrichtungen reduziert
werden. Ich frage Sie: Was ist das Ziel? Wohin soll das in
diesem Land noch führen?
({5})
- Ja, dass es Berlin schlecht geht, weiß ich. Im Unterschied zu Ihnen, Herr Lindner, kümmern wir uns darum.
({6})
Meine Frage an die in der Bundespolitik Verantwortlichen lautet: Wohin soll das in diesem Land führen?
Soll die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden
und Zwangsverwaltung eingeführt werden?
Wollen Sie keine Schwimmbäder und keine Kultureinrichtungen mehr haben? Das kann doch nicht der
richtige Weg sein. Wir brauchen endlich eine klare Kurskorrektur.
({7})
Sie sind stolz darauf, dass Sie die Zahl der Arbeitslosen reduzieren. Sagen Sie doch einmal die Wahrheit:
Der DGB hat ermittelt, dass wir 1,6 Millionen weniger
Vollzeitstellen haben und die Zahl der sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnisse um 1,7 Millionen zugenommen hat.
Herr Kollege.
Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, dass ich zum
Ende kommen soll.
Nein, Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen besonders
großzügig umzugehen pflege. Der Kollege Lindner
möchte ebenfalls durch eine Zwischenfrage Ihre Redezeit verlängern.
Na gut, Herr Lindner. Obwohl Sie mich schon in die
Psychiatrie schicken wollten, höre ich mir Ihre Frage an.
Sie können jetzt ja beweisen, dass Sie da nicht hingehören.
Ob ich Sie überzeugt bekomme?
Sie verweisen darauf, dass in Schleswig-Holstein
Stellen im Schuldienst abgebaut werden. Erklären Sie
uns doch einmal, wie es dazu kommen konnte, dass Ihre
Partei in der rot-roten Landesregierung von Berlin
insgesamt 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut hat, das gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen
GSW an die böse „Heuschrecke“ Cerberus und die Investmentbank Goldman Sachs verkauft hat und vor wenigen Monaten auch noch dem Börsengang der GSW zugestimmt hat, der von Goldman Sachs und Cerberus
betrieben wird. Wie kommt es, dass Sie hier in Berlin
das Blindengeld gekürzt haben? Wie kommt es, dass Sie
gerade im Bereich des Schuldienstes gekürzt haben?
Herr Gysi, wie kommt es dazu, dass Sie uns hier den puren Sozialismus predigen, aber dort, wo Sie mitregieren,
das vollkommene Gegenteil machen? Wie kommt es,
dass von Ihnen eine ganz andere Politik verantwortet
wird?
({0})
Beifall für eine Frage heißt ja, dass Sie gar keine Antwort hören wollen.
({0})
Im Klartext: Der Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft war meines Erachtens ein Fehler. Allerdings muss
ich sagen, dass FDP, Union und Grüne daran beteiligt
waren. Ich werde Ihnen auch sagen, warum.
({1})
- Ich werde es Ihnen erklären. Sie sind zum Landesverfassungsgericht gegangen und haben gesagt: Der Haushalt ist verfassungswidrig. Dann hat das Landesverfassungsgericht gesagt: Das stimmt. Es hat gesagt: Ihr
müsst entweder die Einnahmen erhöhen oder bei den
Leistungen kürzen. Weil man bei den Leistungen nicht
kürzen wollte, ist man diesen Weg gegangen. Trotzdem
sage ich: Er war falsch. Das war aber nicht in dieser Legislaturperiode, sondern in der vorigen. Dafür sind wir
schon ausreichend bestraft worden. In dieser Legislaturperiode machen wir das wesentlich besser.
({2})
Zweitens. Was die Stellenkürzung betrifft, können
Sie Schleswig-Holstein und Berlin nicht gut vergleichen.
Diese Politik wurde schon von der Union eingeleitet.
Das hing damit zusammen, dass zwei öffentliche
Dienste zusammengekommen sind, nämlich der öffentliche Dienst von Westberlin und der öffentliche Dienst
von Ostberlin. Dadurch bedingt war vieles doppelt vorhanden. Das war wirklich eine Sondersituation. Eine
solche Sondersituation hat Schleswig-Holstein nicht zu
bewältigen. Es hat in Berlin nicht eine einzige betriebsbedingte Kündigung gegeben, und dabei wird es auch
bleiben.
({3})
Mit dieser Ausnahme in Berlin streiten wir überall dafür,
dass wir mehr Stellen im öffentlichen Dienst bekommen.
({4})
Weiter mit dem Thema „prekäre Beschäftigung“.
Sie haben Vollzeitbeschäftigung abgebaut und stattdessen die Bereiche der Teilzeitarbeit, der Leiharbeit und
der 400-Euro-Jobs erweitert, und Sie haben den Kreis
der Aufstockerinnen und Aufstocker und vor allem der
befristetet Beschäftigten erweitert. Das war schon unter
SPD und Grünen so, ist von der Großen Koalition fortgesetzt worden und wird jetzt weiter fortgesetzt. Was
glauben Sie, wie dadurch das Land verändert wird? Immer weniger Vollzeitbeschäftigung bedeutet eine Schwächung der Gewerkschaften - das wissen Sie natürlich -,
aber das schwächt auch die Betroffenen. Es gibt immer
mehr 400-Euro-Jobs und immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse. Das, was Sie in diesem Zusammenhang organisieren, ist alles nicht hinnehmbar.
Zum Schluss muss ich kurz auf den G-20-Gipfel in
Toronto eingehen. Was haben Sie dort verkündet? Sie
haben gesagt: Die öffentlichen Schulden der Länder sollen bis 2013 halbiert werden. Das ist doch ein Scherz.
Die meisten Länder können das überhaupt nicht. Das ist
nichts weiter als das Verkünden einer Illusion.
US-Präsident Obama und sein Finanzminister haben
Frau Merkel dringend gebeten, ihren harten Sparkurs in
Deutschland einzustellen. Aber sie denkt gar nicht daran
und hat dem widersprochen. Warum? Obama will eine
Ankurbelung der Weltkonjunktur, während Sie organisieren, dass die Weltkonjunktur abstirbt. Dort ist ein tiefer Gegensatz entstanden.
({5})
Wenn ich an die Bankenabgabe und andere Dinge
denke, muss ich sagen: In letzter Zeit hat Obama in der
Regel recht und Sie unrecht. Es ist schon merkwürdig,
welche Entwicklung wir hier zu verzeichnen haben.
({6})
Jetzt frage ich Sie: Was haben Sie bei der Regulierung
der Finanzmärkte erreicht?
Mit dieser Fragestellung müssen Sie es dann auch fast
bewenden lassen. Die Antwort darauf müssen andere geben.
Das ist sehr bedauerlich. Herr Präsident, sehen Sie
einmal, was Sie versäumen.
Ja, Sie können mir das Manuskript Ihrer Rede gerne
zur Verfügung stellen.
Als Letztes sage ich Ihnen: Ihr Versuch, zulasten der
sozial Schwachen die Krise zu lösen, ist ungeheuerlich,
ist ungerecht und muss schiefgehen. Sie müssen endlich
einmal den Mut haben, bei den wirklich Vermögenden,
bei den Bestverdienenden die Steuern zu erhöhen oder
entsprechende Steuern einzuführen. Dafür stehen Sie
nicht. Deshalb setzt sich jetzt der schwarze Tag von gestern als schwarzer Tag für die Bevölkerung fort. Hoffen
wir, dass es bald einmal einen roten Tag gibt.
Danke schön.
({0})
Hermann Otto Solms ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Unterhaltungsleistung von Herrn Gysi lässt
nicht nach, die inhaltliche Substanz seiner Ausführungen
ist so dünn wie immer. Das beweist sich an den praktischen Beispielen: Als er in der Verantwortung stand,
konnte er nichts liefern.
({0})
Im Namen der FDP-Fraktion möchte ich dem Wirtschaftsminister für den ermutigenden Bericht, den er
hier vorgelegt hat, danken.
({1})
Die Bundesregierung, die ja für Fehler in der volkswirtschaftlichen Entwicklung haftbar gemacht wird, muss
belobigt werden, wenn es gut läuft. Denn es ist ja nicht
ganz ohne ihr Zutun, dass wir eine so positive wirtschaftliche Entwicklung haben.
({2})
Wenn Sie das in den Zusammenhang mit den sozialpolitischen Aufgaben stellen, die wir zu bewältigen haben, so ist es das ehrgeizigste, das vornehmste Ziel der
Sozialpolitik, Menschen, die von Transfereinkommen
abhängig sind, wieder in Lohn und Brot zu bringen, damit sie eigenständig und eigenverantwortlich handeln
können, ihre Familie ernähren können und nicht von anderen abhängig sind.
({3})
Gerade in diesem Bereich haben wir jetzt die größten Erfolge erzielt; das zeigen die Daten. Die Arbeitslosigkeit
geht unerwartet stark zurück. Wir stellen fest: Wir haben
schon wieder Knappheit an Facharbeitern. Wenn die
Prognosen stimmen, werden wir im nächsten Jahr im
Durchschnitt die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 1991,
also seit der deutschen Einheit, erreichen. Das hätte im
letzten Jahr niemand erwartet.
({4})
Die Maßnahme, die diese Bundesregierung gerade am
Anfang ihrer Tätigkeit geleistet hat, nämlich das Wachstumsbeschleunigungsgesetz gegen den geballten Widerstand der Opposition und der Journaille durchzusetzen,
hat wesentlich dazu beigetragen. 22 Milliarden Euro
wurden seit 1. Januar 2010 für die Bürger freigegeben.
Die Bürger nutzen das, wo immer sie können. Durch
Konsum und durch Investitionen stärken sie diesen
Wachstumsprozess und tragen dazu bei, dass der Wachstumsprozess ein dauerhafter ist.
Die Wirtschaftskrise ist überwunden. Deswegen müssen wir von kurzfristigen Wirtschaftskrisebekämpfungsmaßnahmen zu dauerhaften, ordnungspolitisch sauber
angelegten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik kommen.
Der Wirtschaftsminister hat hier an die Ordnungspolitik
deutscher Prägung erinnert; denn es ist ganz wichtig,
dass wir diese ordnungspolitischen Prinzipien wieder
einhalten. Der Staat setzt die Regeln und achtet darauf,
dass die Regeln eingehalten werden. Aber er darf nicht
mitspielen; denn wenn er mitspielt, verletzt er die marktwirtschaftlichen Prinzipien, verletzt er den Wettbewerb.
Das hat das Fußballspiel gegen Serbien gezeigt: Wenn
der Schiedsrichter einseitig eingreift und den besten
Spieler einer Mannschaft vom Feld stellt, kann kein neutrales Ergebnis, kein vernünftiges Wettbewerbsergebnis
erzielt werden.
({5})
Genau so muss der Staat in Zukunft vorgehen.
({6})
Das hat Rainer Brüderle in der Causa Opel genau vorgeführt. Gegen den Widerstand auch in der eigenen Regierung hat er ordnungspolitisch saubere Politik durchgesetzt. Binnen kürzester Zeit - das haben wir alle nicht
erwartet - hat sich gezeigt, dass das tatsächlich die richtige Maßnahme war.
({7})
Deswegen kann ich ihn nur ermutigen, genauso fortzufahren, also eine ordnungspolitisch saubere Wirtschaftsund Wettbewerbspolitik zu betreiben. Das wird allen in
Deutschland helfen.
Nun kommt es zu Aussagen wie von Herrn Gysi, die
Löhne seien gesunken. Sie sind nicht gesunken, aber die
Lohnstückkosten, auf die es im Wettbewerb ankommt,
sind in Deutschland sehr maßvoll gestiegen. Das beklagen nun unsere Wettbewerbsländer. Dazu kann man nur
sagen: Macht es doch nach!
({8})
Wir haben dadurch erreicht, dass wir unter allen Industriestaaten weltweit den höchsten Anteil des produzierenden Gewerbes am Sozialprodukt haben. Wir werden von allen Ländern beneidet. Bei uns beträgt der
Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt 22 bis 23 Prozent. Wenn wir die Bauwirtschaft
mit einbeziehen, sind es knapp 27 Prozent. Das liegt
noch über dem Niveau von Japan. In anderen europäischen Staaten dagegen ist der Anteil stark gesunken.
Wir überwinden diese Krise deswegen besser und
nachhaltiger, weil wir uns in Deutschland eine so gute
Struktur mit kleinem und mittelgroßem Gewerbe, produzierendem Gewerbe, Dienstleistungsgewerbe und Ähnlichem erhalten haben. Darum werden wir beneidet. Dies
hat Paul Volcker vor kurzem in einem Zeitungsbeitrag
festgestellt. Er hat gesagt, es wäre gut, wenn sich die
Vereinigten Staaten an Deutschland orientieren und größeren Wert auf das produzierende Gewerbe gelegt hätten.
Auf Großbritannien will ich jetzt gar nicht eingehen.
Dort ist es noch viel dramatischer.
Jetzt kommt es darauf an, die Aufgaben, die sich uns
stellen, möglichst schnell und klar zu lösen. Wir brauDr. Hermann Otto Solms
chen klare Konzepte in der Energiepolitik. Die Bundesregierung hat angekündigt, das bis zum Herbst zu
leisten. Ich bitte auch darum, dass die unterschiedlichen
Ansichten innerhalb der Bundesregierung selbst geklärt
werden statt in der Öffentlichkeit, sodass wir dann gemeinsam handeln können.
({9})
Wir brauchen klare Konzepte in der Gesundheitspolitik. Wir alle wissen, dass Gesundheit durch den medizinischen Fortschritt und die längere Lebenserwartung
der Bevölkerung immer teurer wird. Das ist unvermeidlich. Nun müssen wir dafür sorgen, dass das System so
effizient wie möglich arbeitet. Deswegen brauchen wir
in diesem Bereich mehr Wettbewerb - daran führt kein
Weg vorbei -,
({10})
um die Effizienzreserven zu heben. Aber die steigenden
Kosten müssen auch getragen und verteilt werden. Hier
geht es darum, mehr Eigenverantwortung und Mitwirkung der Betroffenen, der Patienten, aber selbstverständlich auch der Dienstleister im Gesundheitssystem zu erreichen. Wir brauchen endlich Entscheidungen, die nach
vorne gerichtet sind, statt an der überkommenen, aber
nicht mehr tragfähigen Gesundheitspolitik festzuhalten,
wie wir sie erlebt haben.
({11})
Ich empfinde die Wahl des Bundespräsidenten gestern als eine symbolische Handlung.
({12})
- Ich werde es Ihnen erläutern. Zugegeben, die Koalition
hat am Anfang geschwächelt. Sie hat sich im zweiten
Wahlgang deutlich gesteigert und dann, als es darauf ankam, die absolute Mehrheit erreicht.
({13})
Die linke Seite konnte sich bis zum letzten Wahlgang
nicht einigen. Die SPD schiebt nun die Verantwortung
auf die Linken. Das ist völlig grundlos; denn man hat
sich vorher nicht einigen können. Außerdem ist es auch
noch mathematisch falsch. Die Linken sind nicht verantwortlich, sondern wir haben unsere Mehrheit selbst erreicht.
({14})
Die Bundesregierung hat in ihrer Arbeit in allen Bereichen am Anfang etwas geschwächelt. Jetzt nimmt sie
Fahrt auf. Wir sind mitten in der Wahlperiode. Ich sage
Ihnen voraus: Je näher wir der nächsten Bundestagswahl
kommen, desto stärker werden wir. Machen Sie sich darauf gefasst.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meiner wirtschaftspolitischen Rede beginne,
will ich kurz auf Sie eingehen, Herr Solms. Wenn Sie
den Verlauf der Wahl gestern so darstellen, wie Sie es
gerade getan haben, dann hätte ich auch gerne eine Erklärung, warum die FDP in den Umfragen inzwischen
bei 4 Prozent gelandet ist. Ich zitiere gern die taz, die,
wie ich finde, sehr deutlich getitelt hat: „Einfach, niedrig
und gerecht“. Das beschreibt, wo Sie gerade stehen.
({0})
Herr Brüderle, der Aufschwung ist nicht Ihr Verdienst. Sie haben in den letzten Monaten nichts dafür getan, dass dieser Aufschwung kommt. Das Schlimme ist:
Die Maßnahmen, die Sie jetzt ergreifen, werden diesen
Aufschwung abwürgen. Ich werde das im Einzelnen darlegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2 Prozent. Aber schon im kommenden Jahr soll das
Wirtschaftswachstum nur noch 1,5 Prozent betragen.
Jetzt werden die Weichen gestellt: Entweder wir schaffen es, diesen Aufschwung zu verstetigen, oder aber wir
würgen ihn ab.
Der Aufschwung steht auf zwei Beinen. Viele meiner
Vorredner haben über die Auslandsnachfrage gesprochen. Die Auslandsnachfrage ist in weiten Teilen abhängig von einem schwachen Euro. Das kann sich wieder
ändern. Die Stabilität des Euros können wir nur wenig
beeinflussen. Aber der Wirtschaftsminister muss durchaus die Entwicklung des Euros beobachten. Auf dem
Bein „Stabilität des Euros“ allein können wir nicht stehen.
Allein auf dem zweiten Bein können wir aber auch
nicht stehen. Der Aufschwung ist in weiten Teilen verursacht durch die Konjunkturprogramme. Weltweit sind
über 1 Billion Euro in Konjunkturprogramme investiert
worden. Diese Programme laufen aus. Das heißt, auch
dieses Bein bricht weg.
Wir von den Grünen sind der Ansicht, dass diese
Konjunkturprogramme ein Ende haben müssen. Staatliche Stützungsprogramme in dieser Größenordnung können wir gar nicht dauerhaft finanzieren. Über die eine
oder andere Maßnahme muss man reden; aber in dieser
Größenordnung kann nicht weiter finanziert werden.
Wir haben heute eine Rekordneuverschuldung von
65 Milliarden Euro. Eines der Worte, die ich in den letzten Monaten bei Ihnen, aber auch in der Debatte insge5262
samt völlig vermisst habe, ist das Wort „Generationengerechtigkeit“. Diese Neuverschuldung ist ein Angriff auf
die Generationengerechtigkeit, und da machen die Grünen nicht mit.
({1})
Was ist jetzt zu tun? Drei Sachen: Sie müssen sparen,
ohne den Aufschwung abzuwürgen. Sie müssen die Einnahmen verbessern, und vor allem müssen Sie in die Zukunft investieren - in Klima, in Effizienz bei Ressourcen
und in Bildung.
({2})
Auf die damit verbundenen Fragen können Sie die richtigen oder die falschen Antworten geben. Sie geben die
falschen Antworten. Ich erkläre Ihnen das im Einzelnen.
Was wäre denn „richtig sparen“? Sparen Sie endlich
unsinnige Verkehrsprojekte ein. Bei mir in Süddeutschland gibt es eines der unsinnigsten Verkehrsprojekte
überhaupt: Stuttgart 21. Sie verbuddeln dort Milliarden
Euro, indem Sie einen Bahnhof unter die Erde legen. Beerdigen Sie dieses Projekt! Das wäre eine sinnvolle
Sparmaßnahme.
({3})
Aber Sie sollten auch einmal Ihre Förderprogramme
durchforsten; allein das Wirtschaftsministerium hat 55.
Wir Grüne werden eines machen: Wir werden uns Stück
für Stück jedes einzelne dieser Förderprogramme anschauen und im Hinblick auf seine ökologische Ausrichtung - die fast nicht vorhanden ist - untersuchen. Wir
werden Ihnen sagen: Wir können mit weniger und mit
klareren Programmen mehr erreichen als mit dieser verstückelten Wirtschaftsförderungspolitik. Wir werden zeigen, wo Sie Geld sparen können und wie Sie das eingesparte Geld richtig einsetzen können.
({4})
Dass Sie falsche Antworten geben, zeigt sich auch daran, dass Sie bei den Ärmsten sparen. Teilweise verstehen Sie gar nicht, was man Ihnen vorwirft. Der Disput
zwischen Herrn Gysi und Herrn Geis war ziemlich interessant. Auf einmal wurde klar, welche fachlichen Lücken
({5})
in der Koalition zuweilen vorhanden sind. Sie wissen ja
gar nicht, worüber Sie reden.
({6})
Dennoch treffen Sie auf diesem Gebiet Entscheidungen.
Wenn das eine Standbein „Auslandsnachfrage“ und
das andere Standbein „Konjunkturprogramme“ zumindest nicht ganz auf festen Füßen stehen und der Aufschwung daher gefährdet ist, dann brauchen wir ein drittes Standbein. Dieses dritte Standbein sind die
Binnennachfrage und die Binnenkonjunktur. Notwendig ist also eine Investitionsoffensive im Inland im Bereich Bildung und im Bereich Klima. Notwendig ist natürlich auch, die Binnennachfrage derjenigen zu stärken,
die wenig Geld haben.
Sie haben gesagt: Wir wollen zahlreiche Konjunkturprogramme auflegen, um Arbeitslose wieder in Arbeit
zu bringen. D’accord; das klingt gut. Warum kürzen Sie
dann aber 16 Milliarden Euro bei Qualifizierung und
Umschulung, also bei genau denjenigen Maßnahmen,
durch die Arbeitslosen geholfen wird, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren?
({7})
Natürlich müssen Sie die Einnahmen verbessern. Mit
Sparen allein werden Sie nicht hinkommen; das wissen
Sie aber auch. Ich fand es niedlich, dass das Nachdenken
über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes in der FDP
als Steuerrebellion empfunden wird. Ich weiß nicht, was
Sie unter Rebellion verstehen. Über eine solche Anhebung ist nur nachgedacht worden. Entsprechende Überlegungen sind gleich wieder eingesammelt worden, an
vorderster Front von Ihnen von der FDP, wie wir haben
lesen dürfen. Dabei werden Sie zum Jagen getragen. Die
Leute sagen Ihnen: Erhöhen Sie den Spitzensteuersatz!
({8})
Wir alle, die wir hier sitzen, sind von Ihrem Sparprogramm in keiner Weise betroffen. Im Gegenteil: Durch
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben diejenigen
von uns, die Kinder haben, noch mehr bekommen. Das
ist sozial ungerecht; das schafft eine Schieflage. So geht
es nicht.
({9})
Es wäre auch richtig, klimaschädliche Subventionen
zu streichen. Das Umweltbundesamt spricht von Subventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro jedes Jahr.
Wenn Sie anfangen, klimaschädliche Subventionen zu
streichen, machen Sie dreierlei: Erstens helfen Sie der
Wirtschaft, umzusteuern - das ist notwendig -, zweitens
machen Sie etwas für das Klima, drittens machen Sie etwas für die Haushalte. Streichen Sie Steuervorteile für
große Dienstwagen! Schaffen Sie Ökosteuersubventionen für energieintensive Unternehmen sukzessive ab!
({10})
Sie sagen natürlich, dass Sie bei der Steinkohle streichen. Machen Sie aber einmal einen konkreten Vorschlag! Wir bringen einen konkreten Vorschlag ein, der
in die Ausschüsse geht.
({11})
Ich bin sehr gespannt, wie Sie von der Koalition sich
dazu verhalten.
({12})
Ihre Antworten reichen nicht aus. Ihre Politik ist unsozial und ökologisch blind.
Warum müssen wir uns jetzt Einnahmen und Ausgaben anschauen? Warum müssen wir darauf achten, dass
der Staat handlungsfähig bleibt? Weil wir in die Zukunft
investieren müssen. Wie lautet die richtige Antwort? Sie
sagen, die Krise sei vorbei. Die Kanzlerin hat immer gesagt, es sei wichtig, dass wir nach der Krise wieder so
dastehen wie vor der Krise. Das ist ganz gefährlich. Entscheidend ist doch, dass wir jetzt die Weichen richtig
stellen. Die Weichen liegen bei der Ökologie: Die Ökologie ist die beste Ökonomie des 21. Jahrhunderts.
({13})
In zehn Jahren - wir alle werden es hoffentlich erleben - werden vier von zehn neu zugelassenen Autos in
Europa einen Elektromotor haben. Gestern schrieb das
Handelsblatt, dass die Börse das Elektroauto feiert. Die
Börse feiert aber in Amerika; nicht bei uns. Wenn wir
die Chancen auf diesem Markt nicht nutzen, dann verschlafen wir einen Riesenmarkt.
Was machen Sie? Sie lassen sich für Ihren Umgang
mit Opel feiern. Helfen Sie lieber der Automobilindustrie, auf neuen Pfaden zu gehen! Schaffen Sie ein Marktanreizprogramm für schadstoffarme Autos! Geben Sie
mehr Forschungsmittel für Speicher, Werkstoffe und Antriebe aus! Entwickeln Sie intelligente Verkehrskonzepte! Dann bewegen Sie sich in einem Zukunftsmarkt;
das wäre richtig. Vielleicht werden Sie dann dafür gefeiert.
({14})
Wir haben in Deutschland 18 Millionen Wohnungen.
Wir fordern eine Sanierungsquote von 3 Prozent. Das
heißt: 540 000 Wohnungen sollen jedes Jahr saniert werden.
({15})
Das ist dringend notwendig, für das Klima, aber auch für
die Arbeitsplätze im Handwerk. Was glauben Sie, welch
enormen Impuls Sie geben können, wenn Sie ein gescheites, vernünftiges Gebäudesanierungsprogramm
auf den Weg bringen! Das lohnt sich auch noch, weil jeder Euro doppelt und dreifach zurückkommt, zum einen
durch Steuern und Abgaben, zum anderen, weil öffentliche Investitionen private Investitionen nach sich ziehen.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, die Mittel für das
Gebäudesanierungsprogramm zu erhöhen. Was macht
die Koalition? Sie hat es abgelehnt. Das ist ökonomisch
blind. Die Zukunft der Wirtschaft - ({16})
- Ach! Ich bin mir sicher, dass ganz schön viele im Saal
klatschen werden, wenn ich sage, dass die Koalition
ökologisch blind ist.
({17})
Vor 20 Jahren betrug der Ölpreis 18 Dollar pro Barrel.
Damals ist prognostiziert worden, dass er in 20 Jahren
50 Dollar pro Barrel beträgt. Heute liegen wir bei
76 Dollar pro Barrel. Dieser Preis ist relativ niedrig; vor
zwei Jahren war der Preis schon deutlich höher. Wenn
wir es nicht schaffen, den Unternehmen zu helfen, sich
auf sinkende Rohstoffmengen und steigende Rohstoffpreise einzustellen, dann haben wir nicht begriffen, wie
wir unsere Wirtschaft umstellen müssen. Deswegen sagen wir: Sie geben in diesem zarten Aufschwung die
falsche Antwort, weil Sie den Unternehmen nicht helfen, sich umzustellen. Wir geben die richtigen Antworten. Die Effizienzrevolution im Bereich der Materialeffizienz und der Energieeffizienz ist einer der
entscheidenden Punkte. Da müssen wir hin: unsere
Kreativität, unser Mut und unsere Entschlossenheit.
({18})
Ich komme zum Schluss. Nietzsche hat gesagt: „Den
Stil verbessern, das heißt den Gedanken verbessern“. Ihr
Stil steht seit Monaten zu Recht in der Kritik. Der Grund
sind Ihre Ideen und der Streit, den Sie aufgrund dieser
Ideen haben. Ich sage Ihnen: Grüne Ideen sind besser
und, glauben Sie mir, unser Stil ist es auch!
({19})
Klaus Barthel ist der nächste Redner für die SPDFraktion. - Nein, das ist gar nicht wahr. Zuerst ist der
Kollege Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion
dran und dann der Kollege Barthel. Das entspricht offenkundig auch den beiderseitigen Erwartungen, sodass wir
Irritationen vermeiden sollten. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Mittelpunkt der heutigen Regierungserklärung
steht das Thema Aufschwung. Es ist in der Tat sinnvoll,
sich zu vergegenwärtigen, was hinter uns liegt. Es wurde
bereits angesprochen: Es ist noch keine zwei Jahre her,
dass wir in den Abgrund geblickt haben.
({0})
Es wurden 5 Millionen Arbeitslose prognostiziert. Im
letzten Jahr hatten wir einen noch nie da gewesenen
Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5 Prozent, von
den Turbulenzen auf den Finanzmärkten ganz zu
schweigen. Keiner wusste genau, was zu tun ist, weil
diese Situation kein historisches Vorbild hatte.
Die Politik hat national, auf europäischer Ebene und
international gehandelt. Die Finanzmärkte wurden mit
Rettungsschirmen stabilisiert. Weltweit wurden Konjunkturprogramme initiiert. In Deutschland wurden Konjunkturpakete mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden
Euro geschnürt, was in der Krise zu Stabilität, Sicherheit und Vertrauen geführt hat. In diesem Jahr - wir
hatten bereits die Hoffnung, dass es aufwärts geht - haben wir die Bürger mit dem Bürgerentlastungsprogramm
und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nochmals
um rund 23 Milliarden Euro entlastet. Das ist die größte
Entlastung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland je gab. Das sind die Fakten, die man sich
vergegenwärtigen sollte.
({1})
Die Fakten sprechen eine klare und deutliche Sprache. Die Finanzmärkte sind wieder stabiler. Am heutigen Tag wird das von der Europäischen Zentralbank
gewährte Jahresgeld in Höhe von 442 Milliarden Euro
- das war die größte Summe, die jemals für ein Jahr gewährt wurde -, geräuschlos zurückgezahlt werden können. Das zeigt: Es ist wieder Vertrauen in die Märkte
vorhanden. Die Banken leihen sich gegenseitig wieder
Geld. Wir können also hoffen, dass die Finanzmärkte
wieder stabiler sind. Wir müssen und werden nun mit
weiteren Instrumenten dafür sorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt.
Auch auf den Gütermärkten, die vor allem durch
staatliche Aktivitäten stabilisiert wurden - Stichwort:
Umweltprämie; zu nennen sind auch die Bereiche energetische Sanierung und Handwerk -, wurde das Vertrauen gefestigt und Umsatz geschaffen. Das ist nicht allein auf staatliche Stimulanzien zurückzuführen, sondern
wir haben einen selbsttragenden Aufschwung, der dazu
führt, dass sich die Wirtschaft weiter stabilisiert. Die Automobilindustrie und die Maschinenbauindustrie sind erfreulicherweise wieder gut ausgelastet. Aufträge sind
vorhanden. Zum Teil werden wieder Sonderschichten
gefahren. Wir können also von einem selbsttragenden
Aufschwung sprechen.
Das Szenario von 5 Millionen Arbeitslosen ist nicht
eingetreten. Erfreulicherweise bewegt sich die Arbeitslosigkeit auf einem Niveau von 3 Millionen.
({2})
Keiner hat uns das zunächst zugetraut. Nun spricht die
ganze Welt vom „German Jobwunder“.
({3})
2 Millionen weniger Arbeitslose zu haben, bedeutet
- die Zahlen wurden eben genannt -, dass mehr in die
Sozialkassen eingezahlt wird. 100 000 Arbeitsplätze
bringen mehr als 80 Millionen Euro an zusätzlichen Einnahmen für die Bundesagentur für Arbeit. Wären sie
weggefallen, wären Kosten für Arbeitslosengeld I usw.
in Höhe von 1,6 Milliarden Euro angefallen.
Uns ist insgesamt ein Betrag von 40 Milliarden Euro
erspart geblieben. Und „uns“ heißt in dem Fall dem
Steuerzahler, weil er keine Steuern dafür aufbringen
muss, und dem Beitragszahler, weil er keine höheren Sozialversicherungsbeiträge aufbringen muss. Das ist die
beste Art und Weise, dieses selbsttragende Wachstum
weiter zu beschleunigen und anzuheizen.
({4})
Was werden wir weiter tun? Wir werden das Wachstum stabilisieren und beschleunigen, und wir werden intelligent sparen und konsolidieren.
({5})
Wie wollen wir das Wachstum beschleunigen? Wir wollen mehr Wettbewerb durch moderne und wettbewerbsfördernde Regulierungen in den Gütermärkten. Beispielsweise werden wir das Telekommunikationsgesetz
und das Postgesetz novellieren und dafür sorgen, dass es
mehr Wettbewerb gibt, der dann auch mehr Arbeitsplätze schafft, und dass wir einen Infrastrukturwettbewerb bekommen. Bei den vor- und nachgelagerten
Diensten in diesen Bereichen wollen wir neue Dienstleistungen ermöglichen und damit neue Arbeitsplätze
schaffen, wodurch zusätzliches Wachstum entsteht.
Wir werden weiter entbürokratisieren. Das bringt der
Wirtschaft etwas und kostet nichts. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Wir haben uns vorgenommen, Schwellenwerte zu vereinheitlichen und Aufbewahrungsfristen
zu verkürzen. Jeder Freiberufler, jeder Unternehmer
muss heute seine Rechnungen zehn Jahre lang aufbewahren. Die elektronische Rechnungserstellung funktioniert noch nicht richtig. Der Normenkontrollrat hat ausgerechnet, dass allein diese Aufbewahrungsfristen fast
7 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Wenn wir vernünftige
Regelungen umsetzen und beispielsweise die Aufbewahrungsfristen halbieren, dann können wir auch hier
Wachstum schaffen und sinnvolle neue Ansätze bringen,
ohne dass wir uns deswegen verschulden müssten.
Wir werden auch im Energiebereich Wachstumspotenziale mobilisieren. Energieeffizienz ist in der Tat unser Thema. Wir wollen die Energieeffizienz bis zum Jahr
2020 noch einmal verdoppeln. Wir hatten das schon einmal - von 1970 bis 1990 - geschafft. Das ist eine große
Herausforderung; aber wir werden es angehen, die entsprechenden Instrumente zu schaffen.
({6})
Wir werden einen Energiemix schaffen und die Potenziale, die dort vorhanden sind, heben. Wir wollen den
massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Gegenüber
heute wollen wir sie im Strombereich bis zum Jahre
2020 auf über 30 Prozent, vielleicht sogar 35 Prozent
steigern. Der Strom muss dann aber immer noch zu 60,
65 oder 70 Prozent von irgendwo anders kommen. Der
kommt ja nicht vom Mond, Herr Kuhn, auch bei Ihnen
nicht.
({7})
- Oder aus der Steckdose. - Die volkswirtschaftlichen
Folgen der Fotovoltaik hat der Kollege Fuchs vorhin
schon angesprochen. Deshalb werden wir auch die
volkswirtschaftlichen Potenziale der Kernenergie nutzen. Nicht wir, sondern das Öko-Institut und das RWI
haben ausgerechnet, dass dort ein volkswirtschaftlicher
Nutzen in einer Höhe von 250 Milliarden Euro verloren
gehen würde. Deshalb werden wir die Laufzeiten substanziell verlängern und dafür sorgen, dass dieses nicht
allein den großen Vier zugute kommt. Vielmehr werden
wir eine den Wettbewerb stimulierende Lösung finden,
sodass der Wettbewerb weiter vorankommt. Diese Potenziale werden der gesamten Wirtschaft und letztlich
auch dem Bürger zugute kommen.
({8})
Ich möchte, weil das auch heute wieder erwähnt
wurde, das Thema Binnennachfrage und Lohn ansprechen. Es wurde gesagt, die Löhne würden zurückgehen.
Das stimmt überhaupt nicht. Wir haben immer noch mit
die höchsten Lohnkosten in Europa. Es ist in der Tat aber
so: Wenn man den Unterschied zwischen Lohnstückkosten und Lohnkosten nicht kennt, wird es schwierig.
({9})
Herr Solms hat ja versucht, Ihnen das darzulegen.
Es hat sich in den letzten 20 Jahren empirisch erwiesen: Jedes Prozent Reallohnanstieg führt zu einer Steigerung der Binnennachfrage von 0,3 Prozent. Jedes Prozent Beschäftigungsanstieg dagegen führt zu einer
Steigerung der Binnennachfrage von 0,8 Prozent. Das
heißt, die beste Förderung der Binnennachfrage besteht
in einer guten Beschäftigungspolitik bzw. in der Erweiterung des Arbeitsvolumens.
({10})
Wir haben dazu einiges in Bezug auf den Arbeitsmarkt
getan. Es ist beispielsweise gelungen, vom Jahr 2000 bis
zum Jahr 2008 die Erwerbsbeteiligung der Älteren - der
55- bis 64-Jährigen - von unter 40 Prozent - 37,6 Prozent - auf 54 Prozent konsequent zu steigern. Daran
werden wir auch weiterhin arbeiten.
Beim Elterngeld - es ist vorhin schon angesprochen
worden - wollen wir Wahlfreiheit für Familien und Alleinerziehende. Wir können es uns auch angesichts der
demografischen Situation nicht leisten, zukünftig auf
dieses volkswirtschaftliche Asset zu verzichten.
Dieses Jahr werden wir am Ausbildungsmarkt einen
Wendepunkt erleben. Der Ausbildungspakt wird neu gestaltet werden. Bisher ging es darum, genug Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Das wird zukünftig nicht mehr die Herausforderung sein. Es wird
zukünftig mehr Ausbildungsplätze geben, als Bewerber
vorhanden sind. Die Facharbeiter- bzw. Fachkräftelücke
zeichnet sich schon ab. Diese Entwicklung ist der Demografie geschuldet.
({11})
Unser Ziel ist, vor allem die Bereiche, in denen noch
etwas zu tun ist, besser zu fördern. Als Beispiele nenne
ich Migranten und Menschen, die schlecht ausgebildet
sind oder keinen Abschluss haben; beide Gruppen sind
häufig identisch.
({12})
Diese Klientel müssen wir ganz besonders in den Blick
nehmen und effektiver fördern. Das werden wir beispielsweise beim Ausbildungspakt tun.
Wenn wir all dies machen, dann gelingt es uns tatsächlich, stärker aus der Krise hervorzugehen, als wir in
die Krise hineingegangen sind. Das ist unser Ziel. Abgerechnet, meine Damen und Herren, wird zum Schluss.
Ich bin mir sicher: Wir haben einen klaren ordnungspolitischen Kompass - das ist heute schon vorgetragen worden -, unsere Instrumente werden wirken, und am Ende
dieser Legislaturperiode wird Deutschland durch die Arbeit dieser bürgerlichen Koalition von CDU, CSU und
FDP besser dastehen,
({13})
als Deutschland nach sieben Jahren Rot-Grün dagestanden hat, und es wird auch besser dastehen als nach vier
Jahren Großer Koalition. Davon bin ich überzeugt. Lassen Sie uns die entsprechenden Zahlen, Daten und Fakten dann zusammentragen. Dem sehen wir gelassen entgegen.
Vielen Dank.
({14})
Nun hat der Kollege Klaus Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe
es ja gerne zu: Wir haben zumindest zwei Dinge nicht
erwartet. Wir haben das, was gestern passiert ist, nicht
erwartet,
({0})
und wir haben nicht erwartet, dass es auf dem Arbeitsmarkt einen so starken Aufschwung gibt. Das geben wir
unumwunden zu. Wir freuen uns über beides. Über den
Aufschwung am Arbeitsmarkt freuen wir uns allerdings
mehr. Zwischen beiden Dingen gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Für das, was gestern passiert
ist, konnten Sie etwas. Aber für den Aufschwung am
Arbeitsmarkt kann diese Koalition nichts.
({1})
Wir müssen uns einmal mit den Ursachen dieser Entwicklung befassen. Binnenwirtschaftlich betrachtet zehren wir im Moment von den Rettungsschirmen für das
Finanzsystem, die Stabilisierung des Geldkreislaufs, die
Kreditversorgung und die Unternehmen. All das hat die
Große Koalition gemacht. Herr Brüderle - Sie werden
sich an Ihre Reden vielleicht nur ungern erinnern -, wer
war dagegen? Die FDP. Das Konjunkturprogramm mit
einem Volumen von 81 Milliarden Euro für 2009 und
2010 entfaltet in diesem Jahr seine volle Wirkung. Wer
war dafür, und wer war dagegen, Herr Brüderle?
({2})
Den betrieblichen Bündnissen hat die FDP zugegebenermaßen zugestimmt. Aber was ist bei der Arbeitsmarktpolitik? Kurzarbeitergeld, betriebliche Bündnisse
und Arbeitszeitkonten, das alles funktioniert auf der
Grundlage sicherer Arbeitsverhältnisse und starker Betriebsräte und Gewerkschaften. Das funktioniert aber
nicht auf der Grundlage Ihrer Vorstellungen vom Arbeitsmarkt, von „Hire and Fire“ und von sogenannter
Flexibilität, der Sie seit Jahren das Wort reden.
({3})
Einen weiteren Beitrag zu dieser Entwicklung leistet
die Niedrigstzinspolitik der EZB, gegen die die FDP
auch immer heftig polemisiert hat.
Außerdem hilft uns im Moment die Entwicklung,
dass die Weltwirtschaft doppelt so schnell wächst wie
die Wirtschaft in Deutschland, nämlich um über 4 bis
5 Prozent. Woher kommt dieses Wachstum, das das Volumen unserer Exporte in diesem Jahr um 8 bis 9 Prozent
nach oben treiben wird? Es kommt aus Ländern, die in
der Wirtschaftspolitik das genaue Gegenteil von dem
machen, was diese schwarz-gelbe Koalition seit einem
halben Jahr predigt. In Ländern wie China und Brasilien
zum Beispiel wird sozialer Ausgleich betrieben. In
China unterstützt die Regierung streikende Arbeiter gegen internationale Konzerne. In Brasilien wird seit Jahren eine binnenwirtschaftlich orientierte Nachfragepolitik gemacht. Im Weltmaßstab ist Deutschland als eine
der größten Volkswirtschaften leider nicht die Lokomotive, sondern eher der Bremsklotz des Aufschwungs;
auch das weisen die aktuellen Zahlen aus. Sie schmücken sich also mit fremden Federn. Dieser Aufschwung
kommt aus Quellen, mit denen Sie überhaupt nichts zu
tun haben; vielmehr haben Sie alles bekämpft.
({4})
Das heißt bei all unseren Erfolgen aber auch: Die
schwarz-gelbe Wirtschaftspolitik ist nun wirklich kein
Exportartikel. Statt Investitionsförderung zu betreiben,
sparen Sie. Bei der Gebäudesanierung, die dem Mittelstand helfen würde, sparen Sie. Bei der Solarförderung
kürzen Sie. Ich weiß nicht, was Atomwerke mit Mittelstand zu tun haben.
({5})
Sie machen Steuergeschenke statt Modernisierung. Und
das nennen Sie Mittelstandspolitik. Sie schwächen die
Binnenkonjunktur durch Abkassieren bei den kleinen
Einkommen und durch Kürzungen bei den Sozialleistungen; dazu haben wir heute schon etwas gehört.
Sie versagen bei der europäischen Politik und bei
G 20. Es gibt keine verbindlichen Verabredungen zur
Regulierung. Es gibt keine Refinanzierungsinstrumente
gegen die Krise wie die Finanztransaktionsteuer. Da
stellt sich Frau Merkel, kurz bevor sie nach Toronto
fliegt, hin und sagt: Wahrscheinlich haben wir keine
Mehrheit für die Finanztransaktionsteuer. Aber es ist gut
so. Wir führen die Entscheidung herbei; dann wissen wir
wenigstens, woran wir sind. - Es ist doch politischer
Masochismus pur, zu sagen: Schlagt uns; dann wissen
wir, dass wir auf dem falschen Dampfer sind. Denn eigentlich wollten wir es ohnehin nicht.
({6})
Das heißt - das ist das eigentliche Problem -, die
Lunte für die nächste Krise ist gelegt. Die Krise ist eben
nicht überwunden, Herr Solms. Die weltweiten Ungleichgewichte im Handel erfahren jetzt einen neuen
Schub; das weisen die Zahlen aus. Die Überschüsse in
Deutschland und in China steigen weiter, und die Defizite der Schuldnerländer gehen weiter in den Keller. Die
Geldvermögen sind schon wieder so groß wie vor der
Krise und treiben die Spekulation an. Gegen Finanzblasen gibt es keine Regelungen. Deswegen sind auch die
Institute für 2011 äußerst skeptisch. Wenn Sie den Instituten nicht glauben, dann schauen Sie sich einfach an,
wie es an den Börsen jeden Tag rauf und runter geht.
Dies zeigt eine hochgradige Nervosität, und die hat mit
dieser Situation zu tun. Wir sind längst nicht durch die
Krise durch.
Wir brauchen eine Strategie für die Euro-Zone. Hier
ist nichts gelöst. Die Ungleichgewichte bestehen in der
Euro-Zone bzw. in der EU fort. Wir brauchen eine Finanzierung der Krisenlasten, die nicht nur im sozialen
Sinne gerecht, sondern auch volkswirtschaftlich sinnvoll
ist. Das heißt, man darf nicht da kürzen, wo mit dem
Geld Binnenkaufkraft gestärkt wird, sondern muss die
belasten, die das große Geld haben und bei denen etwas
zu holen ist. Belastet werden müssen also Finanztransaktionen und große Vermögen.
Schließlich brauchen wir eine Umkehr bei der Lohnentwicklung, das heißt eine Bekämpfung der Prekarisierung. Ich fordere die Koalition dringend auf - da gab es
unterschiedliche Äußerungen; ich bin gespannt darauf,
wie Sie das angehen -: Tun Sie gesetzlich etwas, um die
Auswirkungen der verheerenden Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts einzugrenzen! Wir müssen das
Prinzip „ein Betrieb, eine Branche, ein Tarifvertrag“ retten. Sonst wird der Druck auf die Löhne zunehmen, und
das können wir in der jetzigen wirtschaftlichen Situation
überhaupt nicht gebrauchen.
({7})
Herr Solms und Herr Pfeiffer, das, was Sie hier über
Lohnstückkosten erzählen, ist purer Unsinn. Herr
Pfeiffer sagt, Löhne schaden eher; wir brauchen Beschäftigung. - Wenn man das von der Logik her zu Ende
denkt, dann hieße das: Am besten wäre es, alle arbeiten
und bekommen kein Geld dafür. - Das wäre der volkswirtschaftliche Gipfel der Erkenntnis.
({8})
Herr Pfeiffer, Sie sagen, die Lohnstückkosten bei uns
stärken die Wettbewerbsfähigkeit im Export. Schauen
Sie sich doch einmal die Stundenlöhne und die Lohnstückkosten in der Exportwirtschaft an. Sie sind, volkswirtschaftlich gesehen, relativ hoch. Das Problem ist
nur: Es gibt andere Sektoren, in denen die Löhne immer
weiter sinken. Dazu gehören der Dienstleistungsbereich
und andere nicht exportstarke Sektoren. Daher hat die
Anhebung der Löhne im Dienstleistungsbereich mit der
Wettbewerbsfähigkeit unserer Exportartikel - Maschinen usw. - überhaupt nichts zu tun.
Sie sind dabei, dem Aufschwung, über den wir hier
reden, die Grundlage zu entziehen.
Herr Brüderle, Sie haben bisher das Richtige bekämpft. Was andere Regierungen getan haben, bekämpfen Sie.
Das können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen
darstellen.
Was die frühere Bundesregierung auf diesem Gebiet
getan hat, bekämpfen Sie. Sie haben das Falsche gefordert, und Sie nennen das Ordnungspolitik. Herr
Brüderle, ich kenne Sie ja schon länger. Sie sind als
durchaus pragmatisch und flexibel bekannt. Mein Appell
zum Schluss ist: Wenden Sie sich von dieser Art von
Wirtschafts- und Ordnungspolitik ab, und machen Sie etwas ganz anderes!
({0})
Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Herr
Kollege Barthel, ich glaube, das wird der Bundeswirtschaftsminister ganz sicher nicht machen. Er wäre auch
verrückt.
({0})
Jedes größere Wirtschaftsinstitut attestiert, dass hier eine
vernünftige Wirtschaftspolitik gemacht wird. Sich davon
abzuwenden, wäre vollkommen wahnsinnig.
Wenn man Führungskräfte der Wirtschaft fragt, was
für nachhaltigen Aufschwung und nachhaltige Wirtschaftspolitik entscheidend sei, nennen sie überwiegend
alle als einen der wichtigsten Punkte,
({1})
dass eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von
elementarer Bedeutung ist. Da hat die Bundesregierung
mit dem Entwurf eines Sparpakets einen richtigen und
wegweisenden ersten Schritt gemacht:
({2})
sozial ausgewogen, mit klaren Schwerpunkten - Bildung
und Forschung.
({3})
Wenn, auch unter Berücksichtigung dieser Sparanstrengungen, 55 Prozent der Ausgaben des Bundes für
Soziales getätigt werden und Sie, Herr Kollege Barthel,
uns für Sozialpolitik China und Brasilien als Vorbild
empfehlen, zeigt das, wie ver-rückt Ihr Koordinatensystem in sozialpolitischen Belangen ist.
({4})
Das geht doch völlig an der Realität vorbei. Es gibt
kaum ein Land, das so unbeschränkt und nachhaltig Sozialleistungen gewährt wie Deutschland.
({5})
Zu den anderen Themen. Natürlich ist Forschung etwas, was mittelfristig wirtschaftspolitische Bedeutung
hat. Deswegen ist es vernünftig, dort nicht zu sparen, sondern auf dem Wachstumspfad zu bleiben. Bildung ist natürlich auch ganz elementar. Das wirkt langfristig. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung hier nicht
spart. Die Konsolidierungsanstrengungen, die sich ja
hauptsächlich auf den Bereich Luftverkehrsabgabe, Bankenabgabe und auf das zusätzliche Belasten von Kernkraftwerksbetreibern beziehen, müssten genau in Ihrem
Sinne sein. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier
nicht viel deutlicher Beifall klatschen, als wir das tun.
({6})
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Steuern sagen, weil auch von Kollegen Gysi das einfache Motto
ausgegeben wird: Man muss nur bei den Stärkeren ein
wenig zugreifen. - Schauen Sie sich doch einmal die
steuerpolitische Entwicklung der letzten 40 Jahre an.
1958 hat ein Lediger eine Eingangssteuer von 20 Prozent, umgerechnet etwa 860 Euro pro Jahr, bezahlt. Den
Spitzensteuersatz von 53 Prozent hat ein Lediger mit
Dr. Martin Lindner ({7})
110 000 DM im Jahr - heute umgerechnet 56 000 Euro bezahlt.
({8})
Wenn Sie das inflationsbereinigt fortschreiben würden,
dann müssten Sie heute als Lediger bei etwa 2 400 Euro
20 Prozent Steuern bezahlen und den Spitzensteuersatz
mit 160 000 Euro pro Jahr. Tatsächlich aber zahlen Sie
den Spitzensteuersatz bereits bei 53 000 Euro und den
Eingangssteuersatz von 14 Prozent bei 8 000 Euro.
({9})
Daran sehen Sie doch ganz deutlich, wenn Sie nicht
ideologisch verblendet sind, dass die starken Schultern
und vor allen Dingen die mittleren Einkommen immer
mehr belastet wurden. Darum geht es dieser Bundesregierung: Wir müssen die mittleren und auch die kleinen
Einkommen entlasten, um den Sozialstaat, den wir hier
alle wollen, finanzieren zu können. Deswegen ist es vernünftig, wie hier vorgegangen wird.
({10})
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen
wird auch entscheidend davon abhängig sein, inwieweit
wir die Anforderungen an die Wirtschaft in sozialpolitischer, arbeitsrechtlicher und ökologischer Hinsicht optimieren.
({11})
Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Ich halte nichts
davon, die hohen Standards, die wir in Deutschland haben, blind nach unten zu ziehen. Ich glaube auch, dass
viele deutsche Produkte ihre Geltung in der Welt und ihr
hohes Niveau auch dadurch erhalten haben, dass wir in
Deutschland höhere Standards haben als beispielsweise
in China, Korea oder sonst irgendwo. Ich glaube, dass
man hier das Optimum erreichen muss, denke aber, dass
wir uns in vielen Bereichen weg vom Optimum und hin
zu einem Maximum an Anforderungen bewegen, wodurch deutsche Produkte national und international
schlechter wettbewerbsfähig sind.
Mit der pharmazeutischen Industrie haben wir ein
gutes Beispiel dafür. Wir waren einmal die Apotheke
der Welt. Im Laufe der Jahre haben wir uns über Ethikkommissionen, andere Anforderungen, das Verbot von
Tierversuchen und Ähnlichem von dem Optimum an
Produktsicherheit und Ethik hin zu einem solchen Maximum bewegt, dass für die Entwicklung eines Produkts eine Investition von mindestens 1 Milliarde Euro
nötig ist, wodurch die Unternehmen mit ihren Produkten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir müssen hier
- das ist die Anforderung an diese Bundesregierung und
diese Koalition - zu einem vernünftigen Level kommen.
(Garrelt Duin [SPD]: Sollen die ethischen Fragen bei Ihnen künftig keine Rolle mehr spielen?
Ich glaube, man muss unter dem Begriff „Bürokratieabbau“ versuchen - das greift ja in der Regel zu kurz -, das
in den nächsten Jahren vernünftig zu erreichen.
Dazu gehören auch die Exportvorschriften. Natürlich
müssen wir auch diese überprüfen. Es ist wichtig, die
Exportwirtschaft in Deutschland weiter zu stärken. Ich
verstehe überhaupt nicht, warum die Linke des Hauses
das jedes Mal in einen Gegensatz zur Binnennachfrage
stellt. Wir brauchen eine starke Exportwirtschaft. Alles
andere ist verrückt.
({12})
Wir werden weiter daran arbeiten müssen, und natürlich
müssen auch die Löhne und Gehälter international konkurrenzfähig sein.
Damit, dass Sie hier, genau wie in der Sozialpolitik,
Gespenster in die Welt setzen, gehen Sie völlig am echten Leben vorbei. Natürlich hat es in Deutschland in den
letzten Jahren auch bei den Löhnen und Gehältern eine
gewisse Konsolidierung gegeben, aber es kann doch
nicht Ihr Ernst sein, hier zu erzählen, das seien Dumpinglöhne, Herr Gysi. Im verarbeitenden und für die Exportwirtschaft relevanten Gewerbe stehen wir innerhalb
der Europäischen Union noch immer an vierter Stelle
von oben.
({13})
Es ist Ausdruck der völligen Unkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten, hier von Dumpinglöhnen zu reden.
Wir brauchen wettbewerbsfähige Löhne und Gehälter. Dabei sind wir in Deutschland auf einem guten
Weg, und zwar auch dank der Vernunft von Gewerkschaften und vor allen Dingen auch dank der betrieblichen Vereinbarungen in den Unternehmen. Dafür danken wir. Natürlich ist man auch dort mit Vernunft
vorgegangen. Das war wegweisend, und es zeigt sich in
diesen geringen Arbeitslosenzahlen ganz deutlich,
({14})
dass man hier eben nicht Ihren ideologischen Phantasmagorien gefolgt ist, sondern Vernunft hat obwalten lassen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die ordnungspolitische Klarheit dieser Bundesregierung am
Beispiel Opel eingehen. Ich freue mich wirklich, dass
diese Bundesregierung - federführend der Bundeswirtschaftsminister Brüderle -, anders als viele Vorgänger,
egal, welcher Couleur, in dieser Frage standhaft geblieben ist. Ich denke an die Maxhütte, an Philipp Holzmann
Dr. Martin Lindner ({15})
und an KarstadtQuelle und höre noch die „Gerhard,
Gerhard“-Rufe.
Herr Kollege Lindner, all die vielen Fälle, die sich
jetzt vielleicht nennen ließen, lassen sich nach abgeschlossener Redezeit nicht mehr unterbringen.
Ich binde das in einem Satz zusammen und sage: Es
ist jeweils gescheitert.
Herr Duin, eine Stunde bevor GM seine Förderanträge zurückgezogen hat, haben Sie Seite an Seite mit Ihrem linken Bruder noch immer gefordert, Brüderle solle
weich werden und deutsche Steuergelder für GM ausgeben.
({0})
Das ist der große ordnungspolitische Unterschied zwischen Ihnen und uns. Sie wären weich geworden und
hätten deutsche Steuergelder nach Amerika gegeben.
Ich bin froh, dass er standhaft geblieben ist und einen
klaren ordnungspolitischen Kurs hat. Sie können
schreien, soviel Sie wollen: Die Bundesregierung und
diese Koalition werden diesen ordnungspolitischen Kurs
unbeirrt fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Hinsken für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Andreae, „Wasser predigen, aber Wein
trinken“ heißt ein schönes Sprichwort. Heute Morgen
bin ich mit meinem Fahrrad zum Büro gefahren. Ich
wurde von drei Dienstlimousinen überholt; in jeder saß
ein Grüner. Sie aber fordern die Abschaffung der Dienstlimousinen. Fordern: Ja! Nutzen: Ja!
({0})
- So sind sie halt. - Das alles passt nicht mehr zusammen. Ich wollte das bei dieser Gelegenheit ganz kurz erwähnen, damit ich der Öffentlichkeit das sage, was ihr
auch glaubwürdig überbracht werden kann.
({1})
Verehrter Herr Kollege Duin, im Gegensatz zu Herrn
Wirtschaftsminister Brüderle haben Sie meines Erachtens kein realistisches Bild gezeichnet; denn es steht
doch unbestritten fest: Kein Land hat die Krise besser
bewältigt als wir. Die jetzige christlich-liberale Bundesregierung und ihre Vorgängerin - das betone ich ausdrücklich - in der Großen Koalition haben doch in den
letzten zwei Jahren eine richtige Politik betrieben. Diese
führte zum Erfolg. Ich meine, wir sollten uns alle darüber freuen, anstatt uns gegenseitig zu beschimpfen und
das Leben schwer zu machen. Gemeinsam an einem
Strang ziehen, ist das Gebot der Stunde.
Wir sind zwar über den Berg, aber trotzdem ist nicht
alles eitel Sonnenschein. Die konjunkturelle Frühjahrsbelebung ist stärker als sonst. Die Auftragsbücher des
Mittelstandes und des Handwerks füllen sich. Der Export gewinnt an Fahrt. Jedes zweite produzierte Auto
geht in den Export. Die Arbeitslosigkeit liegt in verschiedenen Regionen sogar unter 4 Prozent. Davon haben wir alle noch vor einem Jahr geträumt. Es ist Wirklichkeit geworden, wie Kollege Fuchs vorhin bereits
ausgeführt hat. Aufgrund sehr guter Exportmöglichkeiten können unsere Unternehmen ihre Mitarbeiterzahl nahezu unverändert halten. Die Dienstleistungsbranche
plant sogar, Arbeitnehmer einzustellen.
Noch auf anderen Gebieten sind wir spitze. Die tariflichen Monatsverdienste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft sind im letzten Jahr
um durchschnittlich 2,7 Prozent gestiegen, in Frankreich
nur um 2,2 Prozent. Herr Gysi, Sie haben vorhin einen
Vergleich gezogen. Ich möchte deshalb besonders darauf
verweisen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
für unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was
Verdienstmöglichkeiten anbelangt, sehr viel mehr und
Besseres geleistet haben als die Nachbarländer, die in
etwa mit uns vergleichbar sind. Auch in dieser Hinsicht
sind Sie widerlegt.
Das, was gemacht worden ist, hat den Staat viel Geld
gekostet. Das war in der Wirtschaftskrise richtig. Unbestritten ist, dass unser soziales Netz spitze ist. Wir müssen uns aber grundsätzlich die Frage stellen, ob das alles
noch bezahlbar ist. Haben wir nicht in den letzten Jahren
und vielleicht Jahrzehnten ein bisschen über die Verhältnisse gelebt?
({2})
Ich setze auf die Bürger. Die Bürger, Kollege Barthel,
sind mündiger als viele Kolleginnen und Kollegen auf
Ihrer Seite des Deutschen Bundestages. Sie sind mündig
und wissen, was machbar und was nicht machbar ist.
Deshalb muss die Devise jetzt lauten, dass gespart werden muss; denn die Schulden von heute sind die Steuern
von morgen. Was ist deshalb zu tun? Wir müssen auf
dem Gebiet Leitgedanken entwickeln. Erstens: Haushaltskonsolidierung über die Ausgabenseite vornehmen. Zweitens: keine Steuererhöhungen. Drittens: Zukunftsinvestitionen fortführen. Viertens: selbsttragenden
Aufschwung unterstützen. Fünftens: Binnenkonjunktur
ankurbeln. Sechstens: inflationäre Tendenzen im Keim
ersticken. Schließlich ist Inflation Diebstahl am kleinen
Bürger. Für den wollen wir ganz besonders da sein.
({3})
Wir wollen und werden jetzt einen dauerhaften
Wachstumsprozess anstoßen, der ohne staatliche Hilfe
auskommt.
({4})
Was wollen wir? Erstens: mehr netto - und das trotz
Sparpakets. Zweitens: die Sozialversicherungsbeiträge
stabil halten. Das hilft den Beschäftigten, Arbeitgebern
und auch Rentnern.
({5})
Drittens: der Jugend eine Zukunft geben. Ich möchte
Sie, Herr Minister Brüderle, ergänzen. Was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, steht die Bundesrepublik
Deutschland als absolutes Spitzenland da. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei 9,5 Prozent, in
der gesamten EU bei 20,6 Prozent, in Frankreich bei
22,2 Prozent, in Spanien bei 40,3 Prozent und in den
USA bei 19,6 Prozent. Wir müssen für die Jugend, die
uns so ans Herz gewachsen ist, schon jetzt die Weichen
stellen, damit sie sich auch einmal so entfalten kann, wie
wir das jetzt tun können.
({6})
Viertens. Gerade diese Bundesregierung fördert den
Mittelstand, und zwar zu Recht; denn dort, wo der Mittelstand stark ist, ist die Arbeitslosigkeit mit am niedrigsten. Herr Brüderle, gerade hier haben Sie einige Akzente gesetzt, die in die richtige Richtung gehen. Mit
dem Wirtschaftsfonds Deutschland hilft die Bundesregierung zielgenau vor allem mittelständischen Unternehmen bei der Bewältigung der durch die Krise entstandenen Finanzierungsprobleme.
({7})
In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich berücksichtigen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland verschiedene Gebiete gibt, die nicht so stark sind
wie bestimmte Ballungsräume. Es ist daher erforderlich,
eine Politik aufzulegen, die dem ganzen Land dienlich
ist. Herr Minister Brüderle, ich bitte Sie, dafür zu sorgen,
dass an der regionalen Wirtschaftsförderung so weit wie
irgend möglich festgehalten wird; denn das hat sich bewährt. Allein in den letzten 20 Jahren haben wir auf diesem Gebiet durch subsidiäre Hilfe des Staates
({8})
über 1 Million Arbeitsplätze schaffen und darüber hinaus über 1,8 Millionen Arbeitsplätze erhalten können.
Das, was sich bewährt hat, gilt es hier fortzuführen.
({9})
Ich bitte Sie deshalb, sich dafür einzusetzen, dass das erfolgt.
({10})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss darauf hinweisen, dass die Energie ein bedeutender Faktor ist. Wenn man nur 50 Kilometer von Temelin entfernt wohnt, macht man sich natürlich schon
Gedanken darüber, wie wir vorgehen und wie andere
vorgehen. Die Schweden zum Beispiel steigen aus dem
Ausstieg aus der Kernenergie aus. Bei uns nimmt man
das - zumindest auf der linken Seite - überhaupt nicht
zur Kenntnis. Man negiert, dass allein in Europa fast
200 Kernkraftwerke in Betrieb sind
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
- ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin -, dass in
Deutschland 17 Kernkraftwerke betrieben werden und
dass in der europäischen Zone 14 neue Kernkraftwerke
gebaut werden. Das wird alles beiseitegeschoben. Um in
diesem Bereich wettbewerbsfähig zu sein, muss nun einmal auch der Energiepreis stimmen. Der stimmt bei uns
nicht. Deshalb sind wir für Kernkraftwerke als Brückentechnologie. Wir brauchen sie, solange wir sie nicht
durch alternative Energieerzeugung ersetzen und den
Strom anderweitig preisgünstig produzieren können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter
Friedrich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf den Anlass der Debatte zurückkommen,
nämlich die Regierungserklärung von Herrn Minister
Brüderle. Herr Brüderle, die Schlüsselworte Ihrer Rede
waren „könnte“ und „müsste“. Darum hat sich alles gedreht. Ich habe bei intensivstem Nachdenken und Nachforschen, welche wirtschaftspolitischen Aktivitäten Sie
bisher in Ihrem Amt entfaltet haben, genau drei Punkte
gefunden. Das Erste war der Kreditmediator; darauf
gehe ich gleich noch ein. Das Zweite war das sogenannte
Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das Dritte war der
Opel-Entscheid. Mehr gab es nicht. Welche Ihrer NichtAktivitäten ist jetzt genau für das Jobwunder verantwortlich? Sie profitieren von den Ergebnissen einer vernünftigen und guten Konjunkturpolitik sowie von den
Ergebnissen einer vernünftigen und guten Arbeitsmarktreform, die Rot-Grün angestoßen hat und die wir
in der Großen Koalition fortgesetzt haben. Auf dieser
Welle schwimmen Sie - und auf sonst nichts. So etwas
nennt man Trittbrettfahrertum. Mit konzeptioneller Wirtschaftspolitik hat das aber überhaupt nichts zu tun.
({0})
Herr Hinsken, Sie haben den Deutschlandfonds angesprochen und ihn mit Herrn Brüderle in Verbindung
gebracht. Noch vor einem halben Jahr hätte Herr
Brüderle es sich verbeten, in einem Satz mit dem
Deutschlandfonds zitiert zu werden.
({1})
Damals hat er bei dem, was wir in der Großen Koalition
zusammen auf den Weg gebracht haben, ordnungspolitisch noch Sodom und Gomorrha ausgerufen.
({2})
Jetzt wird es als Erfolg abgefeiert. Man sollte zumindest
so ehrlich sein, das Copyright mit anzugeben, wenn man
sich auf Erfolge bezieht, die andere zu verantworten haben.
({3})
- Ich weiß. Adenauer hat auch gesagt: Was interessiert
mich mein Geschwätz von gestern?
Aber nun zu dem Bild des selbsttragenden Aufschwungs, das Sie alle heute Morgen bemühen: Vielleicht ist es so. Wir haben Glück, wenn es so ist. Aber
das, was Sie politisch jetzt einleiten, läuft darauf hinaus,
dass das, was an selbsttragenden Elementen vorhanden
ist, kaputtgemacht wird. Ihr Sparpaket betrifft genau die
Anreize, die wir gesetzt haben. Wir wollten, dass es mit
der Konjunktur wieder aufwärts geht. Sie aber entziehen
den Kommunen exakt die Mittel, die wir ihnen vorher
gegeben haben, damit sie investieren. Über das, was Sie
an Kürzungen im Sozialbereich planen, entziehen Sie
den Menschen exakt die Gelder, die wir ihnen vorher im
Rahmen von Entlastungen gegeben haben. Sie machen
die Rolle rückwärts und würgen den selbsttragenden
Aufschwung ab. Er trägt nicht. Er erträgt nämlich nicht
Ihre Politik. Das werden Sie erleben.
({4})
Schauen wir uns doch einmal nur einen Punkt aus
dem an, was Sie „Wachstumspolitik“ nennen! Sie haben
1 Milliarde Euro - ich weiß, dass Sie das nicht mehr hören mögen - darauf verwendet, die Hotels zu subventionieren. 1 Milliarde Euro!
({5})
Sie haben damit die bombastische Investition von
100 Millionen Euro ausgelöst.
({6})
- Das ist die Behauptung des Fachverbandes.
({7})
Ich nenne Ihnen einmal ein anderes Beispiel. Im Bereich des Marktanreizprogramms haben Sie 144 Millionen Euro gesperrt, haben das abgewürgt, obwohl Sie
da nach eigener Darstellung das 7,2-Fache an Investitionen auslösen.
Bei den Hotels geben Sie 1 Milliarde Euro aus für
100 Millionen Euro Investitionen, und in dem anderen
Bereich kürzen Sie rund 100 Millionen Euro, womit Sie
gut 700 Millionen Euro Investitionen abwürgen. Das ist
Ihre Wirtschaftspolitik in diesem Land!
({8})
Herr Brüderle hat gesagt: Die Kapazitäten werden
wieder hochgefahren. - Wir können uns hier über das
Thema Binnennachfrage austauschen. Ich finde den
Gegensatz, der immer hergestellt wird, interessant. Es
kommt immer von Ihrer Seite, dass Export und Binnennachfrage ein Gegensatz sind. Wir betrachten das ausdrücklich nicht so. Wir wollen, dass beides funktioniert,
dass beides gut läuft. Wir brauchen in einem ganz bestimmten Bereich auch Binnennachfrage. Wir müssen
nämlich wieder für mehr Investitionen sorgen.
Alle Firmen, alle Mittelständler, alle Handwerksbetriebe haben ihre Investitionen in der Krise geschoben.
Sie haben aus der Substanz gewirtschaftet. Sie stehen
vor großen Ersatzinvestitionen, weil man eben nicht beliebig lange aus der Substanz leben kann. Sie müssen
jetzt also Ersatzinvestitionen tätigen. Sie wollen auch in
Kapazitätserweiterungen investieren. Das ist gut. Das
wollen wir auch.
Erleben werden wir in diesem Herbst aber, dass der
steigende Bedarf an Kreditmitteln für Investitionen auf
die Bankenregulierung trifft, die wir ja auch wollen.
Wir stehen dazu: Wir wollen, dass die Banken die Risiken vernünftiger prüfen. Wir wollen, dass mehr Eigenkapitalunterlegung vorhanden ist. Wir wollen auch, dass
Basel III zu einem vernünftigen Ergebnis geführt wird. Da trifft also etwas aufeinander, was sich nicht verträgt,
nämlich ein wachsender Kreditbedarf auf der einen Seite
und ein zurückgehendes Kreditangebot wegen der
Restriktionen, die wir in der Regulierung vornehmen,
auf der anderen Seite. Der Minister aber sagt: Das Problem gibt es nicht.
Der Kreditmediator hat seine Tätigkeit etwas süffisant mit den Worten kommentiert, er müsse ein Problem
herbeireden, weil er nichts zu tun habe. Aber dass sich
ein Problem aufbaut, hat Ihr Staatssekretär, Herr
Brüderle, uns auf eine Anfrage hin bestätigt. Der Kreditmediator - ich nehme an, dass er für Sie eine Autorität
ist - bestätigt Ihnen das auch. Aber Sie sagen: Das Problem gibt es nicht. Darum müssen wir uns nicht kümmern. Das Problem sind die Energiepreise. Das Problem
ist nicht mehr die Kreditversorgung.
Das, Herr Brüderle, heißt: Sie führen Unternehmen,
die in den Aufschwung gehen wollen, die etwas dazu
beitragen wollen, jetzt sehenden Auges in eine Versorgungsklemme hinein, was den Kreditbereich angeht. Ich
sage Ihnen: Wir brauchen Instrumente. Ich weiß, dass
Sie das prüfen. Wir haben es im Ausschuss jede Woche
mit Prüfaufträgen zu tun. Uns würde einmal interessieren: Was tun Sie dafür, dass die deutsche Wirtschaft in
den Aufschwung hinein investieren kann, dass Investitionen bei uns ausgelöst werden und dass es sich lohnt,
die Kapazitäten auf einen Aufschwung hin auszurichten?
Die Diskussion zum Sparpaket ist bei Ihnen ja nicht
beendet. Ich weiß, es gibt immer wieder Appelle des Zusammenhalts, es sei ausgewogen, jetzt müsse die Diskussion aber auch beendet sein. Nach den vielen Prüfaufträgen, sei es zum Thema Gewerbesteuer, sei es zum
Thema Mehrwertsteuer, hatte ich mir heute ein bisschen
Klarheit darüber erhofft, wohin Sie wirtschaftspolitisch
wollen. Sie haben wieder davon gesprochen, dass Sie
eine Nettoentlastung wollen. Wir erleben aber eine Nettolüge. Wir erleben, dass die Kommunen die Kindergartengebühren erhöhen müssen, dass die kommunalen Gebühren überall steigen, dass Sie das Geld, das Sie auf der
einen Seite - angeblich - geben wollen, um den Aufschwung zu stärken, letzten Endes wieder vereinnahmen
wollen. Aber einem nackten Mann kann man nicht in die
Tasche greifen. Die Kommunen stehen finanziell schon
längst am Abgrund. Sie vergrößern das Problem mit Ihrer Politik noch.
Ich möchte noch einen Hinweis zur Schuldenbremse
geben, weil Herr Gysi das Thema angesprochen hat.
Herr Gysi, ich teile Ihre Einschätzung: Man kann das
Thema Konsolidierung nicht nur über die Ausgabenseite
angehen, sondern muss auch die Einnahmeseite sehen.
({9})
Was ich aber nicht verstehe, ist: Als Linker muss ich
doch dafür sein, die Staatsverschuldung möglichst gering zu halten. Die Staatsverschuldung führt doch nur zu
einem Effekt: Der Staat leiht sich Geld bei Menschen,
die genug haben, um es zu verleihen, und zahlt ihnen
dann über die Zinsen eine erhebliche Rendite. Staatsverschuldung sorgt für die stärkste Form der Umverteilung.
Deswegen können Sie sich doch als jemand, der angeblich linke Politik machen will, nicht hier hinstellen und
der Staatsverschuldung das Wort reden. Das passt doch
nun wirklich nicht zusammen.
Der Generalsekretär der FDP hat schon zugegeben,
dass der Kompass nicht funktioniert habe. Herr Brüderle
hat behauptet, seiner funktioniere noch. Wissen Sie was?
Wenn Sie einen funktionierenden Kompass haben, dann
benutzen Sie ihn, um eine Bewegung nach vorne zu erzeugen. Bisher haben Sie ihn nicht eingesetzt.
Danke schön.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Heute ist der 1. Juli. Vor genau 20 Jahren wurde
in Ostdeutschland die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eingeführt. Damit wurde über Nacht die windelweiche Aluminiumwährung gegen die starke und
harte D-Mark eingetauscht. Das war natürlich auch für
die Wirtschaft eine Schocktherapie; das muss man ganz
klar sagen. Seitdem ist der wirtschaftliche Aufschwung
in Gesamtdeutschland natürlich mit dem Aufschwung in
Ostdeutschland unmittelbar verbunden.
Wenn man heute Meinungen hört und Zeitungsartikel
darüber liest, wie das damals gewesen ist und was die
letzten 20 Jahre für Ostdeutschland gebracht haben,
dann stellt man fest: Das ist so ähnlich wie in der heutigen Debatte. Es wird in Deutschland immer alles
schlechtgeredet. Der Aufschwung findet gar nicht statt.
Das, was die Regierung macht, ist sowieso Mist.
({0})
Die Zahlen, denen nicht so einfach widersprochen werden kann, werden zwar hingenommen, aber trotzdem negativ kommentiert.
Genauso ist es mit dem wirtschaftlichen Aufbau in
Ostdeutschland. Ein großes Politikmagazin hat in dieser
Woche einen mehrseitigen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht. Es fehlte bloß noch - das hat man schon
1990 gemacht -, dass man die Bilder nachträglich
schwärzt, um die wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands noch düsterer darzustellen. Diese Darstellung ist
einfach unfair, und zwar gegenüber beiden Seiten: unfair
gegenüber den Menschen in den alten Bundesländern,
die mit einer großen solidarischen Anstrengung den
wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland in großen
Teilen mitfinanziert haben, unfair aber auch gegenüber
den Menschen in Ostdeutschland, die nämlich diese
Schocktherapie über sich haben ergehen lassen und deren gesamtes Lebensumfeld sich änderte. Ihnen wird
jetzt suggeriert: Das, was ihr gemacht habt, war sowieso
nur Mist. Lasst es doch einfach sein.
Wenn wir so weitermachen, dann haben wir die übliche deutsche Stimmung. Das Ausland denkt aber ganz
anders darüber. Das Ausland sieht, dass Deutschland
trotz der Finanzierung der deutschen Einheit, trotz der
großen Lasten, die aufgrund des wirtschaftlichen Aufbaus in Ostdeutschland zu schultern waren, heute, nach
20 Jahren, die Konjunkturlokomotive in Europa ist. Andere Länder wie Frankreich sagen: Es kann doch nicht
mit rechten Dingen zugehen, dass wir nicht so schnell
wie Deutschland sind. - Meine Damen und Herren, das
ist doch eigentlich ein großes Lob für uns. Wir müssen
doch stolz darauf sein, dass wir nach zwei Jahren Wirtschaftskrise wieder die Lokomotive in Europa sind, obwohl wir in Ostdeutschland noch weitere Probleme zu
lösen haben.
Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft der letzten 20 Jahre
und den heutigen Stand. Das Wachstum der ostdeutschen
Wirtschaft ging in der Wirtschaftskrise nicht so stark zurück wie das der gesamtdeutschen Wirtschaft; der RückAndreas G. Lämmel
gang war nur halb so groß. Der Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes wird für dieses Jahr vom Ifo-Institut mit
1,6 Prozent prognostiziert. Ein Blick in die einzelnen
Sektoren der Volkswirtschaften zeigt - ich spreche einmal die Zahl Sachsens an, weil ich sie sehr genau kenne -,
dass im verarbeitenden Bereich, also in genau dem Bereich, in dem wir in Gesamtdeutschland besonders stark
sind, seit über zehn Jahren zweistellige Wachstumsraten
zu verzeichnen sind. Hätte nicht die Bauwirtschaft in
den letzten Jahren ständig negative Beiträge zum Bruttoinlandsprodukt erbracht, läge die Gesamtwachstumsrate
in Ostdeutschland deutlich höher. Das ist doch eine Leistung, die wir in Gesamtdeutschland erbracht haben. Der
Aufschwung in Ostdeutschland trägt nämlich unmittelbar auch zum Aufschwung in Westdeutschland bei.
Ich möchte auch auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen verweisen. Wir sind dabei, die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland zu halbieren.
Es kann doch nicht geleugnet werden, dass große Erfolge beim Aufbau der Wirtschaft in Ostdeutschland zu
verzeichnen sind. In besagtem Artikel wird geschrieben,
man habe es in 20 Jahren nicht einmal geschafft, dass eines der 100 größten Unternehmen in Deutschland seinen
Sitz in Ostdeutschland hat. Meine Damen und Herren,
das ist doch kein Wunder. Ich kann mich jedenfalls nicht
erinnern, dass Sie von der SPD oder von den Grünen
sich dafür eingesetzt hätten, dass Audi wieder nach
Zwickau zurückgeht, wo es eigentlich hingehört; denn
Audi ist ursprünglich kein Unternehmen aus Ingolstadt,
sondern aus Sachsen. Oder haben Sie sich dafür eingesetzt, dass andere Unternehmen, die früher ihren Sitz in
Ostdeutschland hatten, ihre Konzernzentralen wieder zurückverlegt haben? Ich habe davon nichts mitbekommen. Deshalb darf man sich doch heute nicht beklagen,
dass von den 100 größten deutschen Unternehmen keines in Ostdeutschland seinen Sitz hat.
In Ostdeutschland ist aber ein neuer Mittelstand entstanden, und es gibt hocheffiziente Unternehmen, die auf
modernste Technologien setzen. In Ostdeutschland wird
genau auf die Technologien ein Schwerpunkt gelegt, auf
die Sie - ich schaue jetzt einmal in Ihre Richtung, Frau
Andreae - ganz stark setzen. Es handelt sich um die Bereiche regenerative Energien, Nanotechnologie, eigentlich um alle neuen Technologien. Wenn Sie Ihre Blockade aufgeben würden, würde Ostdeutschland auch bei
Grüner und Weißer Gentechnologie eine Spitzenposition
einnehmen.
({1})
Ich plädiere dafür, genauer hinzuschauen, wenn man
nach 20 Jahren eine Bilanz zieht.
Damit Deutschland auch in Zukunft weiterhin positiv
dasteht, gilt es nun, den beginnenden Aufschwung weiter zu verstetigen. Herr Duin hat im Ausschuss gesagt, er
verstehe nicht viel von Wirtschaft, dafür aber viel von
Fußball. Das hat man auch an seiner heutigen Rede gemerkt. Weil das so ist, trägt Ihre Partei auch keine Regierungsverantwortung mehr. Wir jedenfalls werden im
nächsten Haushalt die Kräfte unterstützen, die das
Wachstum auch weiterhin wirkungsvoll befeuern.
Hier geht es zunächst einmal um das Thema „Forschung und Entwicklung“. In diesem Punkt, Frau
Andreae, sind wir ja nicht so weit auseinander.
({2})
Für regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen von
GRW und für die Mittelstandsinnovationen
({3})
geben wir in einem Jahr allerdings noch nicht einmal so
viel aus wie in einem halben Jahr für die Steinkohle. Das
ist schon ein Problem. Trotzdem werden in den Haushaltsansätzen, die wahrscheinlich nächste Woche im
Bundeskabinett verabschiedet werden, die Themenbereiche FuE und Innovationsförderung für den Mittelstand
an erster Stelle stehen.
Dann müssen wir Fortschritte beim Thema „freier
Handel“ erreichen. Wir müssen die sogenannte DohaRunde weiterentwickeln und
({4})
dafür sorgen, dass freier Welthandel weiterhin möglich
ist und somit auch die deutsche Industrie freien Zugang
zu den internationalen Märkten hat.
Wir müssen auch die Rohstoffbasis sichern. Auf diesen Punkt ist der Minister schon eingegangen. Wir begrüßen das ausdrücklich. Auch wenn der Staat gar nicht so
viele Möglichkeiten hat, hier tätig zu werden - es ist eine
Aufgabe der Wirtschaft, für die Erschließung von Rohstoffen zu sorgen -, wollen wir hier am Ball bleiben.
Auch die Infrastruktur muss weiter ausgebaut werden. Hierbei geht es nicht bloß um den Ausbau von
Straßen, sondern genauso um den Ausbau von Breitbandinfrastruktur, Wissenschaftsinfrastruktur und Bildungsinfrastruktur.
Das Thema Bildung ist in jedem Fall ein sehr wichtiger Punkt - das ist schon mehrfach angesprochen worden -: Bildung in der Schule, Bildung in der Hochschule
und natürlich auch Berufsausbildung. Angesichts der zurückgehenden Zahl an Schulabgängern müssen wir - das
sehe jedenfalls ich persönlich so - die Qualität in der Berufsausbildung steigern.
({5})
Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann
ich Ihnen versichern: Der neue Bundeshaushalt wird darauf ausgerichtet sein, den Aufschwung, den wir brauchen und im Moment auch erleben, weiterhin zu unterstützen. Sie können dabei mithelfen, indem Sie Ihre
Stimme in die Haushaltsberatungen einbringen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Bonde, Priska Hinz ({0}), SvenChristian Kindler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haushalt zukunftsfest machen - Nachhaltig
sanieren - Ökologisch und sozial investieren
- Drucksache 17/2327 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben diese Debatte beantragt, weil wir
der Regierung das, was sie vor der Sommerpause als sogenanntes Sparpaket vorgelegt hat, nicht durchgehen lassen wollen. Mit dem, was Sie vorgelegt haben, erreichen
Sie das Ziel eines zukunftsfesten Haushalts nicht. Im
Wesentlichen liegt das daran, dass Ihr Sparpaket nicht
sozial gerecht ist, dass Sie in ökologischer Hinsicht völlig blind sind und Sie eine Vielzahl von Luftbuchungen
vorgenommen haben. Sie haben Vorschläge niedergeschrieben, die sich nicht realisieren lassen.
({0})
Der erste Punkt: Wie kann man eigentlich in einer
Zeit, in der man Milliarden Euro zur Rettung der Banken
ausgibt und die Bevölkerung fragt, ob dies sinnvoll, notwendig und richtig ist, die Haushaltskonsolidierung
bzw. die Sparpolitik in der Form betreiben, dass die kleinen Leute belastet und diejenigen, die mehr haben, verschont werden? Wo ist das soziale Gewissen dieser Koalition? Im Sparpaket schlägt es sich jedenfalls nicht
nieder.
({1})
Ich sage Ihnen: Sie können der Bevölkerung die Haushaltskonsolidierung nur dann zumuten, wenn Sie ihr
auch klarmachen können, dass es dabei gerecht zugeht.
„Gerecht“ heißt, dass diejenigen, die mehr haben, die
starke Schultern haben, mehr schultern müssen als diejenigen, die wenig haben. Sie machen es aber so: Diejenigen, die wenig haben, tragen die Hauptlast, und diejenigen, die viel haben, tragen gar nichts.
({2})
Es war eine hohe Stunde der Peinlichkeit, als Frau
Merkel bei der Vorstellung des Sparpakets auf die Frage,
woran man die Gerechtigkeit erkenne, sagte, dass auch
die Wirtschaft belastet würde, und die Brennelementesteuer als Beispiel nahm. Wer diesen Punkt als Ausweis
sozialer Gerechtigkeit ins Feld führt, hat nicht verstanden, worum es geht. Im Übrigen nimmt sie den Atomkonzernen vielleicht 2 Milliarden Euro ab, schenkt ihnen
aber 6 bis 8 Milliarden Euro durch die Laufzeitverlängerung, die Sie vorhaben. Das ist Zynismus pur. So können
Sie Haushaltskonsolidierungspolitik nicht betreiben.
({3})
Der zweite Punkt: Sie streichen Mittel im Haushalt
und vergrößern gleichzeitig die „ökologische Verschuldung“ unseres Landes. Ich will ein Beispiel nennen: Gegenwärtig wird 1 Prozent aller Gebäude in Deutschland
pro Jahr energetisch saniert. Das heißt im Klartext: Wir
brauchen 100 Jahre, bis wir einmal durch sind. Schon allein aufgrund dieser Schwäche können wir das Klimaschutzziel - 2050 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß gar nicht erreichen. Deswegen sagen wir: Wir müssen
auf eine Quote von 3 Prozent kommen, und dafür müssen wir investieren. Aber was machen Sie? Beim Gebäudesanierungsprogramm streichen Sie kontinuierlich:
2009 standen 2,2 Milliarden Euro zur Verfügung, 2010
sind es noch 1,5 Milliarden Euro und 2011 werden es
nur noch 880 Millionen Euro sein. An den Stellen, an
denen Sie investieren müssen, um die „ökologische Verschuldung“ abzubauen, streichen Sie die Mittel. Die dadurch entstehenden ökologischen Schäden kosten uns
viel Geld, und das kostet uns Arbeitsplätze in wichtigen
Zukunftsbereichen.
({4})
Wo ist bei dem, was Sie anregen, eine solide und seriöse
Konsolidierungspolitik zu erkennen?
Wir müssen uns auch endlich von dem Gedanken verabschieden, dass es nur die Alternative „Investieren
oder Sparen“ gibt. Der Gegensatz, der beim G-20-Gipfel zwischen Obama und Merkel aufgebaut wurde, ist
doch völlig falsch. Jeder, der in einem Betrieb oder einem privaten Haushalt konsolidieren will, weiß, dass es
Felder gibt, auf denen man sparen, und andere, auf denen man investieren muss.
({5})
Das ist der Fehler Ihres Sparpakets. Sie investieren nicht
richtig in ökologische Bereiche. Sie haben gar nicht erkannt, dass soziale Gerechtigkeit in der sozialen Marktwirtschaft eine Produktivkraft entfalten kann. Sie glauben, es ist am besten für die Wirtschaft, wenn es wenig
soziale Ausgaben gibt. Aber dass soziale Gerechtigkeit
Zufriedenheit, Sicherheit und die Fähigkeit der Menschen, Teilhabe zu praktizieren, beinhaltet, das vergessen Sie, wie das, was Sie bisher vorgelegt haben, zeigt.
Deswegen sage ich noch einmal: Wenn Sie dabei bleiben, wird es mit Ihnen politisch weiter bergab gehen.
Machen Sie die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers
rückgängig, heben Sie den Spitzensteuersatz an, zeigen
Sie den Menschen, dass Sie sich langsam an soziale Gerechtigkeit gewöhnen! Kümmern Sie sich auch um die
Einnahmeseite des Haushalts; denn diese vernachlässigen Sie sträflich. So kommen Sie nicht weiter.
({6})
Letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Ihr
Sparpaket ist voller Verschiebebahnhöfe; das lassen wir
Ihnen nicht durchgehen. Sie wollen den Zuschuss zur
Rentenversicherung für Arbeitslosengeld-II-Empfänger streichen; das macht 1,8 Milliarden Euro aus.
Die Große Koalition hatte diesen schon halbiert. Was bedeutet das? Sie sparen heute im Haushalt, was zu anwachsender Altersarmut führt, für die in zehn Jahren zu
zahlen sein wird.
({7})
Wer wird das zahlen müssen? Die Gemeinden werden
dafür zahlen, weil sie für die Grundsicherung im Alter
zuständig sind.
({8})
Wer mit solchen primitiven Verschiebebahnhöfen der
Bevölkerung und dem Parlament weismachen will, dies
wäre Konsolidierungspolitik, der hat mit Zitronen gehandelt. Da muss sich die FDP nicht wundern, dass sie
laut Umfragen inzwischen bei 4 Prozent gelandet ist.
({9})
Das wird so weitergehen, wenn Sie sich nicht ändern.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Barthle für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen gibt uns Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo
wir stehen. Ich finde im Antrag - im Gegensatz zu der
wirklich sehr polemischen Schaufensterrede des Kollegen Kuhn - sehr viel Übereinstimmung in der Analyse.
({0})
Wir in Deutschland und die Staatengemeinschaften
weltweit stehen vor finanzpolitischen Herausforderungen, wie man sie sich vor einigen Jahren noch nicht hat
vorstellen können.
Die Wirtschaftskrise hat bewirkt, dass sich die
Schulden aller Nationen von 2001 bis 2009 verdoppelt
haben: von 20,4 auf 41,5 Billionen Dollar. Der Schuldenberg in Deutschland ist auf 1,7 Billionen Euro angestiegen; allein im Bundeshaushalt sind es 1,065 Billionen Euro. Die Verschuldung des Bundes, der Länder und
der Kommunen ist also derzeit auf dem höchsten je erreichten Stand. Diese immense Verschuldung der Staatshaushalte gefährdet nicht nur die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Staates, sondern destabilisiert
auch unser internationales Währungssystem. Das durften
wir jüngst beim Euro erfahren. Deshalb ist eine Rückkehr auf einen soliden, stabilen Konsolidierungs- und
Wachstumspfad dringend geboten.
({1})
Einerseits brauchen wir das Vertrauen der Finanzmärkte,
andererseits zwingt uns unsere Schuldenbremse, die ich
sehr begrüße, zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik.
Deshalb ist eine solche Politik der Grundpfeiler christlich-liberaler Politik und auch, Herr Kuhn, ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft. Das sichert uns auch
für die Zukunft Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Zu
dem Thema komme ich gleich noch.
Nun zu Toronto. Ich bin der Auffassung, dass unsere
Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister beim
G-20-Treffen in Toronto einen wirklich großen Erfolg
erzielt haben. Denn die G-20-Staaten haben sich darauf
geeinigt, dass die großen Industrieländer bis 2013 ihre
Verschuldung halbieren und ab dem Jahr 2016 mit dem
Schuldenabbau beginnen. Damit hat sich im Kern die
deutsche Stabilitätskultur, sprich: die deutsche Schuldenbremse, als internationales Vorbild empfohlen und
durchgesetzt. Das ist ein Riesenerfolg.
({2})
An der Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass es
richtig war, dass sich die Bundeskanzlerin nicht dem
Druck der USA gebeugt und die Verschuldungsspirale
weiter hochgetrieben hat. Sie macht genau das Gegenteil, und das ist vollkommen richtig.
({3})
Das Ergebnis dieses Treffens zeigt auch, dass Ziel
und Umfang unseres Sparpakets richtig sind. Es ist ein
Mix aus moderaten Ausgabenkürzungen und wachstumsfördernden Investitionen. Es ist sozial ausgewogen
und geeignet, die Defizite maßvoll zurückzuführen und
ein nachhaltiges Wachstum zu sichern. Denn nur mit diesem durchgreifenden Konsolidierungskurs verschafft
sich der Staat die notwendigen Spielräume, um zu gestalten und die Bürger zu entlasten. Nur ein robustes,
nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist ein Garant, um
Armutsrisiken zu vermeiden, Arbeitslosigkeit zu verringern und Wohlstand für alle zu sichern.
({4})
Was das Sparpaket angeht, sind mir vier Schwerpunkte besonders wichtig: erstens Vorrang für wachstumsfördernde Zukunftsinvestitionen insbesondere im
Bereich Bildung und Forschung, zweitens Überprüfung
von Transferleistungen auf ihre Effizienz und Zielgenauigkeit, drittens Rückführung ineffizienter Doppelleistungen im Sozialbereich und viertens Subventionsabbau
und ökologische Neujustierung. Das sind die Kernbotschaften dieses Pakets.
Sie sehen: Wir legen - das ist mir besonders wichtig den Schwerpunkt nicht auf die Erhöhung der Einnahmen, sondern auf die Kürzung der Ausgaben. Zahlreiche Ökonomen bestätigen uns aus den Erfahrungen der
Vergangenheit, dass Sparpakete, die die Priorität auf höhere Steuern oder Investitionskürzungen legen, keinen
Erfolg versprechen. Diejenigen Staaten, die Steuern erhöhten, waren nach drei Jahren noch genauso verschuldet wie vorher. Die Erfolgsaussichten sind dann besonders gut, wenn bei den Sozialtransfers und beim
Personal im öffentlichen Dienst gespart wird. Das zeigen
die Erfahrungen. Auf mittlere Sicht hemmen Steuererhöhungen das Wirtschaftswachstum, was wiederum die
Steuereinnahmen senkt und letzten Endes die Konsolidierung gefährdet.
({5})
Unser Sparpaket setzt deshalb die richtigen Schwerpunkte. Wir haben aus den Erfahrungen der Vergangenheit, auch in anderen Ländern, gelernt, und jetzt sind wir
auf dem richtigen Weg.
In der öffentlichen Debatte ist immer wieder die Leier
zu hören - auch Herr Kuhn hat es wieder vorgetragen -,
die Gutverdiener müssten zusätzlich belastet werden.
Man sollte an dieser Stelle eines bedenken: Das obere
Drittel der Steuerpflichtigen trägt bereits heute rund
80 Prozent der Einkommensteuer. Das untere Drittel der
Einkommen erhält fast 60 Prozent aller Transferleistungen, zahlt aber nur 5 Prozent der Steuern und Sozialabgaben. Das heißt doch de facto: Schon heute tragen die
starken Schultern den Löwenanteil der sozialen Lasten.
Auch das muss immer wieder gesagt werden.
({6})
Im Zusammenhang mit der Steuererhöhungsdebatte
sollte auch immer bedacht werden, inwieweit durch Steuererhöhungen möglicherweise auch Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen vernichtet werden und damit das
Wachstum behindert wird. Das darf nicht außer Acht gelassen werden. Zudem würde durch Steuererhöhungen
zwar kurzzeitig zusätzliches Geld in die öffentlichen Kassen gespült, dies würde aber nicht die chronische, also
strukturelle Unterfinanzierung des Staatshaushalts beseitigen. Das ist mit dem Satz gemeint, der in den vergangenen Wochen an dieser Stelle mehrfach bewusst oder
vielleicht auch unbewusst fehlinterpretiert worden ist,
nämlich dass wir in der Vergangenheit über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Das mag vielleicht für den Einzelnen so nicht gelten
- das ist keine Frage -, aber für unsere Gesellschaft als
Ganzes gilt das sehr wohl. An dieser Stelle gilt es, umzusteuern.
({7})
Allein ein Blick auf die Sozialausgabenquote macht
dies deutlich: Die Sozialausgaben im Bundeshaushalt
2010 belaufen sich auf mehr als 170 Milliarden Euro
und machen damit rund 54 Prozent der gesamten Bundesausgaben aus. Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung lag der Anteil noch bei 34 Prozent. So hat sich das
inzwischen entwickelt.
Auch in dem Antrag der Grünen wird wie auch eben
von Herrn Kuhn wieder der Vorwurf zum Ausdruck gebracht, das Sparpaket sei sozial unausgewogen, und es
werde auf dem Rücken der Arbeitslosen und der Familien gespart.
({8})
Das ist falsch. Es ist unverantwortliche Polemik, dies
immer wieder so vorzutragen. Entweder Sie verstehen
den Kerngedanken des Sparkonzepts nicht, oder Sie
wollen ihn nicht verstehen.
Ich werde ihn Ihnen nochmals erklären: Soziale Gerechtigkeit ist keine Einbahnstraße.
({9})
An der ganzen Gerechtigkeitsdebatte stört mich eines
fundamental: dass diese Debatte ausschließlich aus einer
einzigen Blickrichtung geführt wird, nämlich aus der
Sicht der Leistungsempfänger. Gerechtigkeit ist aber
nicht eindimensional, sondern muss stets im Hinblick
auf andere betrachtet werden. Das steht auch im Einklang mit dem im Grundgesetz verankerten Solidaritätsprinzip.
({10})
Mir stellt sich die Frage, ob es tatsächlich ein Ausweis sozialer Kälte ist, wenn eine immer kleiner werdende Gruppe in unserer Gesellschaft, die mit ihren
Steuerbeiträgen eine immer größer werdende Gruppe
von Transferempfängern unterstützt, danach fragt, ob die
erbrachten Leistungen den gewünschten Effekt erzielen.
Genau dem werden wir an dieser Stelle gerecht.
({11})
Angesichts unserer demografischen Entwicklung - Sie
alle kennen sie - wird sich das Verhältnis der TransferNorbert Barthle
zahler zu den Transferempfängern weiter verschärfen.
Deshalb muss eine Gerechtigkeitsdebatte auch vor dem
Hintergrund der Generationengerechtigkeit geführt
werden. Das blenden Sie auf der linken Seite dieses
Hauses immer aus. Das geht nicht.
Wer sich das Sparpaket genau anschaut, der wird sehr
schnell feststellen, dass insofern eine Ausgewogenheit
besteht, als Verwaltung, Unternehmen und Sozialleistungsempfänger an den Lasten in etwa gleichermaßen
beteiligt werden. Was die Sozialleistungen in diesem
Sparpaket angeht, fällt mir auf: Dort wird sogar unterproportional gekürzt. Würden wir den von vielen immer
geforderten Rasenmäher anwenden, also proportional
gleichmäßig sparen, würde das bedeuten, dass wir im sozialen Bereich gut das Doppelte von dem einsparen
müssten, was wir jetzt einsparen. Das sei auch an die
Adresse derer gerichtet, die von einem Kettensägenmassaker oder Ähnlichem gesprochen haben. Wer so spricht,
urteilt völlig jenseits der Realität.
({12})
Zu dem gleichen Ergebnis kommt man, wenn man
sich anschaut, in welchen Bereichen der Sozialleistungen
Kürzungen vorgesehen sind: Im Bereich der Eingliederungsleistungen für Arbeitsuchende sollen durch Erweiterung des Handlungsspielraums die Arbeitsvermittler in die Lage versetzt werden, zielgenauer als bisher zu
fördern. Unser Ziel ist es, Anreize zur Aufnahme einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu setzen.
Das ist der Kerngedanke dieser Maßnahme; darum geht
es.
Auch die geplante Anrechnung des Elterngeldes bei
den Beziehern von Arbeitslosengeld II ist richtig. Dadurch wird für mehr Gerechtigkeit in diesem Land in
Bezug auf den Niedriglohnsektor gesorgt. Es geht darum, Doppelleistungen zu vermeiden. Die zusätzliche
Gewährung von Elterngeld für Bezieher von Arbeitslosengeld II verringert den Lohnabstand. Sie müssen sich
einmal die Berechnungen der verschiedenen Wirtschaftsforschungsinstitute anschauen. Darin kommt man
klar zu dem Ergebnis: Ein verheirateter Alleinverdiener,
der Vollzeit arbeitet, muss mindestens einen Stundenlohn von 11 Euro brutto erzielen, um ohne Transferleistungen auf das gleiche verfügbare Einkommen zu kommen, das er ohne Erwerbsarbeit erhalten würde.
({13})
Das ist mehr, als im Niedriglohnsektor gezahlt wird.
Auch dieser Tatsache muss man ins Auge schauen.
Eine Aufstockung der Regelsätze, wie im Antrag der
Grünen gefordert, würde - das haben Sie verschwiegen,
Herr Kuhn - dieses Problem noch verschärfen. Erklären
Sie einmal einem Arbeitnehmer, der keine üppig bezahlte Vollzeitstelle hat, warum er eigentlich noch arbeiten soll, warum er in das Sozialsystem einzahlen soll und
warum er mit seinen Beiträgen unser Land stützen soll,
wenn sich jemand, der nicht arbeiten geht, finanziell besserstellt.
({14})
Das ist nicht zu erklären. Das, was wir hier machen, ist
also gerecht.
Nochmals: Wir gehen nicht mit der Rasenmähermethode vor. Wir setzen zielgenau dort an, wo es möglich
ist, zu sparen. Wir schaffen Wachstumspotenziale. Wir
sanieren den Bundeshaushalt. Mit all dem sind wir hier
genau auf dem richtigen Weg.
Eines sei noch hinzugefügt: Wir Haushälter werden es
mit Sicherheit nicht zulassen, dass an dem Sparpaket geschliffen, dass es aufgeschnürt oder abgemildert wird.
Wer meint, angesichts einer besseren Konjunktur müsse
man weniger sparen, ist auf dem Holzweg; denn hier
geht es um konjunkturelle Effekte. Wir müssen jedoch
strukturell sparen. Das ist die Aufgabe; sie bleibt uns erhalten.
Danke.
({15})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Joachim Poß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Barthle, ich finde es schon erschreckend, dass
Ihnen, seit die Große Koalition nicht mehr existiert,
wohl innerhalb weniger Monate das soziale Empfinden
gänzlich weggerutscht ist
({0})
und dass Sie sich im Zusammenhang mit diesem Sparpaket offenkundig zum politischen Gefangenen dieser kleinen, radikalen, neoliberalen Partei haben machen lassen.
({1})
Dieser Vorgang ist bei den Parteien der Union zu beobachten, bei denen zum Beispiel der sozial verpflichtete Katholizismus bisher immer eine Rolle spielte.
({2})
Es ist erschreckend, wie das aus dem Ruder läuft.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Aber selbstverständlich.
Herr Fricke, bitte.
Herr Kollege Poß, Sie haben gerade meine Partei als
eine „radikale“ Partei bezeichnet.
({0})
- Ich finde es sehr bemerkenswert, dass unter Demokraten, zu denen sich die Grünen angeblich zählen, so auf
ein solches Wort reagiert wird. Herr Kollege Poß, ich
würde Sie bitten, entweder den Begriff zurückzunehmen
oder hier zu erklären, warum Sie der Meinung sind, dass
Sie im Zusammenhang mit der FDP von einer radikalen
Partei sprechen können.
({1})
Sie leugnen die Notwendigkeit eines finanziellen und
sozialen Ausgleichs in dieser Gesellschaft konsequent
und radikal.
({0})
Damit waren Sie in dieser Koalition leider erfolgreich.
Das ist eine aktuelle Zustandsbeschreibung.
Es handelt sich bei der FDP um eine Partei, die sich
zum Beispiel bis Mitte Mai vehement dagegen gewehrt
hat, dass der Finanzbereich einen angemessenen Beitrag
zur Finanzierung des Gemeinwesens entrichtet. Wir haben mehrere Stunden mit Ihnen verhandelt. In einer gewissen Situation ist eine solche Haltung eben vernagelt.
Man kann auch „vernagelt“ sagen, wenn man nicht „radikal“ sagen möchte;
({1})
aber es gibt da nichts zurückzunehmen.
({2})
Die FDP ist in der Tat eine radikale Partei. Herr
Fricke, ich würde nie auf den Gedanken kommen, sie als
extremistische Partei zu bezeichnen; das liegt mir fern.
Die FDP ist aber eine radikale Partei in dem Sinne, dass
sie radikal die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs in
dieser Gesellschaft leugnet und den größeren Koalitionspartner bis Mitte oder Ende Mai - bis in manchem Bewegung entstanden ist - zum politischen Gefangenen gemacht hat, zum Nachteil dieses Landes. Das ist
erschreckend.
({3})
Wenn es beim sogenannten Sparpaket im Hinblick auf
die betroffenen Individuen auch keinen sozialen Ausgleich gibt - ich werde gleich noch darauf eingehen -,
dann zeigt dies, dass der Einfluss der FDP weiterhin
groß ist. Sie haben sehr wahrscheinlich weitergehende
Überlegungen aus der Union, teilweise auch aus der
FDP, zur Anhebung des Spitzensteuersatzes und zu anderen Maßnahmen konsequent abgeblockt. Das Ergebnis
dessen wurde von Ihrem Parteivorsitzenden gemeinsam
mit Frau Merkel ziemlich ratlos vorgestellt.
Sie sind nach eigenem Bekunden dabei, sich neu aufzustellen, weil wohl viele, die Sie aus Versehen gewählt
haben, erkannt haben, welch unheilvollen Einfluss Sie in
der bundesdeutschen Politik ausüben.
({4})
Auch das spricht für meine Ansicht.
Herr Kollege Barthle, wenn das Mindestelterngeld
für die Ehefrau eines Spitzenverdieners erhalten bleibt,
das von Hartz-IV-Empfängern aber gestrichen wird,
stellt sich die Frage: Was hat das denn mit Ordnungspolitik oder mit dem Lohnabstandsgebot zu tun?
({5})
Das ist doch eine haarsträubende Begründung, die Sie da
gebracht haben, und sie zeigt, woran es Ihnen mangelt.
({6})
Gestern ist der Versuch einer Neuaufstellung gescheitert. Das Sparpaket war der vorletzte Versuch einer Neuaufstellung dieser Koalition.
({7})
Auch das ist kräftig danebengegangen.
({8})
- Herr Barthle, ich wundere mich, dass Sie überhaupt
nicht zu den gemeinsamen Erfolgen der Großen Koalition stehen. Sie weisen nicht auf das hin, was wir gemeinsam an Wichtigem für unser Land erreicht haben.
({9})
Das hätten Sie in der Tat tun können.
Dem Regierungssprecher und Frau Merkel ist es lediglich gelungen, aus Toronto in die Wohnzimmer der
deutschen Fernsehzuschauer den Eindruck zu vermitteln, dass eine Protokollerklärung der Gipfelteilnehmer,
die den guten Willen der dort Versammelten zum Schuldenabbau ausdrückt, ausreicht - in sehr unrealistischer
Weise, wenn man sich, was 2013 und 2016 angeht, die
Länder und deren Verschuldung im Einzelnen ansieht -,
um Veränderungen herbeizuführen. Beim bundesdeutschen Publikum wurde der Eindruck erweckt, das sei die
Hauptfrage des G-20-Gipfels gewesen. Dadurch wollte
man davon ablenken, dass man auch auf internationaler
Ebene gescheitert ist, vernünftige Maßnahmen in Sachen
Finanzmarktregulierung zu vereinbaren, weil die deutsche Bundesregierung in dieser Koalition nicht aufgestellt war - dort saßen die radikalen Bremser - und
({10})
weil Instrumente wie die Finanzmarkttransaktionsteuer
nicht durchgesetzt werden konnten. Sie haben vorher
schon den Kampf darum aufgegeben. Durch Ihren Spin
wurde davon abgelenkt, dass Frau Merkel ihren durchaus vorhandenen guten Ruf, den sie in Europa und auch
weltweit genoss, in der Griechenlandkrise hoffnungslos verspielt hat. Das ist der Vorgang, der tatsächlich
stattgefunden hat und von dem abgelenkt wurde.
({11})
Dem sogenannten Sparpaket fehlt das Gestaltungsziel, der Kompass. Es fehlt der Wachstumsimpuls für die
Zeit nach dem Auslaufen der Konjunkturpakete.
Im Moment haben wir zwei Elemente der Wirtschaftsentwicklung. Der Export läuft super - wir alle finden das
gut, das hat auch etwas mit dem Euro-Dollar-Verhältnis
zu tun -, und die Investitionen werden vorangetrieben.
Wir werden in diesem Jahr erleben, dass bis zum Auslaufen der Konjunkturpakete noch ungefähr 10 Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen in Bewegung gesetzt werden. Im letzten Jahr sind nur 3 Milliarden Euro
der Investitionen abgeflossen. Aber es stellt sich folgende Frage: Was ist danach? Sie haben nicht einmal
versucht, eine Antwort darauf zu geben. Sie haben keine
Antwort gesucht. Sie haben ein jämmerliches Bild abgegeben.
({12})
Ich habe mir die Pressekonferenz von Frau Merkel
und Herrn Westerwelle am 7. Juni angesehen. Es war
nicht nur körperliche Erschöpfung, die sich da niedergeschlagen hat, sondern offenkundig auch geistiges Ausgebranntsein
({13})
und das Eingeständnis, dass man die Kraft zur Führung
unseres Landes nicht mehr hat.
Was ist mit einer Soforthilfe für die Kommunen? Die
Kommunen können doch nicht auf irgendwelche Maßnahmen warten. Ihnen brennt bereits jetzt der Pelz. Der
Bund muss gemeinsam mit den Ländern - in erster Linie
ist es die Aufgabe der Länder - helfen, und zwar schnell.
Auf diese zentrale Frage geben Sie keine Antwort. Diese
Antwort sind Sie schuldig geblieben. Stattdessen soll die
Gewerbesteuer - eine alte Obsession von Herrn
Schäuble; es wird spekuliert, ob das ein Zugeständnis an
die FDP im Zusammenhang mit dem Präsidentenpoker
war - abgeschafft werden. Das heißt, 30 bis 40 Milliarden Euro, die jetzt die Wirtschaft tragen muss, sollen
bzw. werden in welcher Form und nach welchem Modell
auch immer auf Verbraucher und Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer verlagert. Das ist eine gewaltige, zusätzliche Umverteilungsmaßnahme.
({14})
Ich hoffe, dass die politischen Verhältnisse in diesem
Land - auch nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen - inzwischen so sind, dass eine solche Maßnahme nicht
mehr Platz greifen kann.
Es fehlt in Ihrem Konzept - Kollege Kuhn hat darauf
hingewiesen - die Streichung der neu geschaffenen Privilegien für Hotels und für Unternehmenserben. Sie
haben ja wieder eine aktuelle Auseinandersetzung in Ihren Reihen. Man fasst sich an den Kopf, wenn man sieht,
welche Auseinandersetzung da bei Ihnen stattfindet.
Man fragt sich, ob Sie nach Finanz-, Wirtschafts- und
Währungskrise nicht die Kraft finden, um auch mal
Dinge zu korrigieren, die offenkundig schiefgelaufen
sind.
({15})
Und dann stellen Sie sich hin, Herr Lindner, und verteidigen die Streichungen bei Hartz IV und anderen sozial
Schwachen, sagen aber kein Wort zu diesen unzumutbaren Privilegien, die kein Mensch in dieser Republik
mehr versteht.
({16})
Die von Ihnen behauptete Beteiligung der Wirtschaft
an der Konsolidierung besteht aus Luftbuchungen und
Hoffnungswerten. Da, wo es zur Sache geht - bei sozial
Schwachen -, wird konkret gekürzt. Das ist das Ganze.
Und dann sagen Sie: Na ja, wir haben doch einen sozialen Ausgleich. Frau von der Leyen sagt das lächelnd,
wie es ihre Art ist. Ich finde, das ist manchmal etwas
sehr kalt lächelnd. Sie sagt: Das ist doch sozial ausgewogen, wenn wir bei Behinderten und bei Leistungen für
Rentner nicht gestrichen haben. Das war die Begründung von Frau von der Leyen, warum das Paket sozial
ausgewogen ist. Man stelle sich das vor. Ich habe es
selbst im Fernsehen gesehen und es fast nicht glauben
mögen. Wenn ich das gelesen hätte, hätte ich noch einmal nachgelesen. Es ist eine unhaltbare und fast zynische Begründung, die Frau von der Leyen zur Rechtfertigung dieses Pakets abgegeben hat.
Frau Merkel und Herr Schäuble argumentieren mit einer Drittelbelastung. Das Paket sei ausgewogen, weil zu
je einem Drittel die Sozialausgaben, die Wirtschaft sowie Beamte und Verwaltung betroffen sind. Das sind
hohle Aussagen, mit denen Sie - weder hier im Parlament noch bei den Menschen - nicht durchkommen werden.
({17})
Seit wann sind denn Unternehmen und die Verwaltung
der soziale Gegenpol zu den Arbeitslosengeld-II-Empfängern oder den Wohn- und Elterngeldempfängern?
Der soziale Gegenpol, meine Damen und Herren, falls es
noch nicht in Ihre Köpfe vorgedrungen ist, zu wirtschaftlich schwächeren Individuen sind nicht irgendwelche Institutionen, sondern wirtschaftlich stärkere Individuen
wie Spitzenverdiener und Vermögende.
({18})
Das ist das Diktat Westerwelles und dieser radikalen
Partei, der FDP.
({19})
Die wirtschaftlich Stärkeren spielen in Ihren Belastungsüberlegungen gar keine Rolle. Das ist das Skandalöse.
Unklar ist, ob die Belastungen der Wirtschaft, die Sie
vorsehen, überhaupt den Sommer überleben werden. Ich
gehe davon aus, dass Frau Merkel vor der Atomlobby
noch völlig einknicken wird. Vermutlich werden wir gar
keinen Gesetzentwurf für eine Brennelementesteuer oder
Ähnliches von der Regierung vorgelegt bekommen.
({20})
Die behauptete Beteiligung des Bankensektors ist
ebenfalls unklar. Ich hoffe, dass, wie angekündigt, um
die Transaktionsteuer in Europa wirklich gekämpft
wird. Wenn das nicht kommt, müssen wir eben über eine
nationale Lösung nachdenken.
({21})
Ich hoffe, dass die 2 Milliarden Euro, die dafür in 2012
als erste Scheibe vorgesehen sind, nicht gänzlich aus Ihrem Gedächtnis entschwinden werden.
Alles in allem: Wenn man zusammenfasst, was Sie da
mit diesem sogenannten Sparpaket vorgelegt haben,
dann ist das nicht „intelligentes Sparen“, sondern Ausdruck einer eher dummen, kurzsichtigen und einfallslosen Finanz- und Regierungspolitik.
Obwohl Sie Ihren Kandidaten für das Bundespräsidentenamt dann doch noch durchgebracht haben, war
das - wie auch ich fürchte - nicht der Beginn professioneller und guter Regierungsarbeit. Sie werden sich - so
ist es zu erwarten - in der Koalition weiter blockieren
und den Problemen und Herausforderungen dieses Landes überhaupt nicht gerecht werden. Wir alle werden
deshalb Schaden erleiden. Es ist das Bedauerliche, dass
offenkundig keine Möglichkeit besteht - es sei denn
über den Bundesrat -, den größten Schaden abzuwenden.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, es ist gut, dass wir über die
Sparpolitik diskutieren. Aber, Kollege Poß, bei allem
Verständnis dafür, dass Sie Ansatzpunkte für Kritik suchen, muss ich sagen, dass der Tonfall und der Duktus
Ihrer Rede etwas Beschämendes hatten.
({0})
Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, dass viele Wähler
diese Rede gehört haben
({1})
und sie unter anderem im Zusammenhang mit den vermeintlichen Bemühungen Ihrer eigenen Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen sehen, Koalitionen zu
bilden, die offensichtlich - wenn man Ihnen zuhört, bekommt man diesen Eindruck - nicht ernsthaft gewollt,
sondern eher ein Akt der Wählertäuschung sind.
({2})
Das, was Sie heute geboten haben, war aufschlussreich.
Dafür danken wir Ihnen herzlich.
({3})
Die Koalition wird den Haushalt in dieser Wahlperiode nachhaltig sanieren. Dazu gehören zwei Aspekte:
erstens eine gute Wirtschaftsentwicklung und zweitens
die Verringerung der staatlichen Defizite. Das geht bei
dieser Koalition Hand in Hand. Das gebietet nicht nur
die Einhaltung der Schuldenbremse, unser Verfassungsrecht, sondern das gebieten auch die Handlungsfähigkeit
des Staates in künftigen Jahren und unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Genau deswegen schlägt die Regierung diesen Kurs ein.
({4})
Das bedeutet erstens, dass wir uns um die Wirtschaftsentwicklung kümmern müssen. Das ist ein
Aspekt, der mir in der Debatte bisher zu kurz kommt,
übrigens auch in dem Antrag, den Sie eingebracht haben,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Wir
müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, dass die
Wirtschaft wieder ins Laufen kommt. Das hat diese Koalition getan, indem sie Steuerentlastungen für Mittelstand und Familien durchgesetzt hat, sie hat es dadurch
getan, dass sie die Sozialversicherungsbeitragssätze stabil gehalten hat, und nicht zuletzt auch dadurch, dass sie
mit großen Anstrengungen den Euro, die europäische
Währungsunion stabilisiert hat.
({5})
Auch das gehört dazu, wenn man dafür sorgen will, dass
die Wirtschaft wieder läuft, dass Arbeitsplätze entstehen
können.
({6})
Wir haben zum Zweiten ein Konsolidierungspaket
vorgelegt, das einen Umfang von 80 Milliarden Euro
hat, das die Eckwerte für den Haushalt 2011 markiert,
aber darüber hinaus auch eine Finanzplanung bis 2014
beinhaltet. Das heißt, wir haben uns gleich auf vier Jahre
verständigt. Das ist, wie ich glaube, eine der besten Botschaften der Klausur der Bundesregierung. Es ist nicht
nur über ein Jahr gesprochen worden, sondern es wurde
ein Fahrplan verabredet, der mittelfristig gilt und uns
Orientierung gibt.
({7})
Nicht alles, was da drinsteht, ist einfach, auch für unsere
Bevölkerung nicht; das wissen wir. Aber es ist notwendig, wenn wir verhindern wollen, dass der Staat in Zukunft nicht mehr handlungsfähig ist.
Die Einsparungen betreffen den gesamten Verwaltungsbereich, und zwar massiv; sie werden zu deutlichen
Veränderungen führen. Sie betreffen selbstverständlich
auch die Unternehmen und gerade den Finanzsektor, entgegen allem, was in der Diskussion immer wieder behauptet wird. Im Sozialbereich kommt es zu Einsparungen; das stimmt. Sie machen ungefähr ein Drittel des
Sparvolumens dieses Paketes aus. Bei einem Sozialausgabenanteil am Haushalt in Höhe von 55 Prozent ist das
unterproportional.
({8})
- Das ist so. Zahlen lügen nicht, Frau Kollegin
Hagedorn. 33 Prozent sind weniger als 55 Prozent. Das
möchte ich für das Protokoll festhalten.
({9})
Ich möchte darauf hinweisen: Dabei wurde noch nicht
berücksichtigt, dass wir es dieses Jahr trotz Sparanstrengungen und Schuldenbremse schaffen, 2 Milliarden Euro
extra für die gesetzliche Krankenversicherung bereitzustellen, die Sie in einem Zustand hinterlassen haben,
der wahrhaftig empörend ist. Man muss doch sagen: Was
Sie den gesetzlich Versicherten durch die Gesundheitspolitik der letzten Jahre zugemutet haben, das ist empörend, das ist sozial gefährlich, und das werden wir korrigieren.
({10})
Dafür stellen wir in diesem Haushalt 2 Milliarden Euro
extra zur Verfügung.
({11})
Wenn es um die Frage: „Welche Einsparungen werden letzten Endes im Sozialetat vorgenommen?“ geht,
muss man sagen: Der Großteil der Einsparungen wird
nicht im Leistungsbereich, sondern im administrativen
Bereich vorgenommen, insbesondere bei den Instrumenten, die die Arbeitsverwaltung hat, um Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern.
({12})
Das wird mit einem neuen Konzept, das treffsicherer als
die bisherige Lösung ist, verbunden sein.
({13})
Wenn Sie sich nur den schieren Geldbetrag, um den es
geht, anschauen - das machen Sie ja -, stellen Sie fest:
In Zukunft wird für die Betreuung von Langzeitarbeitslosen pro Kopf mehr Geld zur Verfügung stehen, als es
2005 der Fall gewesen ist.
({14})
Die Kritik, die Sie an dieser Stelle äußern, ist unglaubwürdig, weil Sie selber, als Sie Verantwortung getragen
haben - das gilt auch für die Grünen -, keinen Euro
mehr pro Kopf zur Verfügung gestellt haben, als das in
den nächsten Jahren der Fall sein wird.
({15})
Jetzt möchte ich auf einen weiteren Aspekt eingehen
- ich kann nicht alle Punkte ansprechen; aber der Kollege Otto Fricke wird meine Ausführungen nachher vielleicht noch ergänzen -:
({16})
Im Antrag der Grünen geht es um ökologisch schädliche Subventionen. Das ist für Sie eine der ganz großen
Maßnahmen, mit denen Sie die Einnahmen erhöhen
möchten. Ich kann nur sagen: Wenn ich lese, was Sie in
Ihrem Antrag aufgeschrieben haben, dann empfinde ich
das als eine schonungslose Abrechnung mit der Politik,
die Sie unter Rot-Grün gemacht haben.
({17})
Sie haben kein einziges Beispiel dafür nennen können
- vielleicht kann das der Kollege Kindler noch -, dass
Rot-Grün eine der von Ihnen kritisierten ökologisch
schädlichen Subventionen abgebaut hätte. Ich würde
gerne wissen, wo das der Fall war. Vielleicht können Sie
mir noch eine nennen. Einige dieser Subventionen wurden von Rot-Grün sogar eingeführt. Ob Stromsteuergesetz, Energiesteuergesetz oder Spitzenausgleich, das alles sind Gesetze von Rot-Grün, die unter maßgeblicher
Mitwirkung von Jürgen Trittin zustande gekommen sind.
Dass Sie ihm in Ihrem Antrag quasi so einen mitgeben,
finde ich erstaunlich, aber in Teilen sicherlich auch berechtigt.
({18})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, wenn diese Koalition
nun Missbrauchsmöglichkeiten bei der Strom- oder
der Energiesteuer beseitige, dann sei das eine Selbstverständlichkeit. Ich hätte es für eine Selbstverständlich5282
keit gehalten, wenn Sie in Ihrer Regierungszeit Gesetze
gemacht hätten, die handwerklich so sauber gewesen
wären, dass es überhaupt keine Missbrauchsmöglichkeiten gegeben hätte. Das wäre selbstverständlich gewesen.
Aber wir gehen jetzt das Problem, das Sie uns hinterlassen haben, an und leisten damit einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung.
({19})
Wir müssen bei allem, was wir tun, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und insbesondere
die Zukunftschancen des Mittelstandes im Blick haben;
denn dort entstehen Arbeitsplätze und nicht durch Beschlüsse von Parlamenten oder durch Programme von
Parteien. Deswegen genügt es meines Erachtens nicht,
dass Sie in Ihrem Antrag aufzählen und benennen, dass
es große Potenziale im Umweltbereich und beim Energiesparen gibt. Das ist im Grunde eine Erkenntnis, die
weitgehend unumstritten ist. Ich bestreite sie jedenfalls
nicht. Es genügt aber nicht, Zukunftsbranchen aufzuzählen. Hinzu muss die Erkenntnis kommen, dass Arbeitsplätze dort nur entstehen können, wenn Unternehmen investieren und wenn Menschen etwas riskieren. Dafür
müssen sie die entsprechenden Bedingungen vorfinden.
Das, was Sie zum Spitzensteuersatz schreiben, der im
Kern bei allen Personengesellschaften und Familienunternehmen erhoben wird, konterkariert das völlig. Es
reicht nicht, zu sagen: Umwelttechnologie ist gut. - Wir
müssen auch die Bedingungen dafür schaffen, dass Menschen es wagen, dort mit eigenem Geld einzusteigen.
Dazu gehört vieles, selbstverständlich auch attraktive
steuerliche Rahmenbedingungen. Wir werden uns darum
kümmern.
({20})
Wenn der vorliegende Antrag einen politischen Wert
hat, dann den, dass er deutlich macht, dass es in diesem
Parlament zu dem Kurs dieser Regierung, der darauf abzielt, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Haushaltskonsolidierung zu verbinden, im Grunde keine vernünftige Alternative gibt.
({21})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Steffen Bockhahn.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe gerade gelernt, dass die FDP es für radikal-sozial hält, wenn künftig im Gesundheitswesen ein
Bankdirektor den gleichen Zuschlag zahlt wie eine Angestellte an der Kasse bei Lidl oder Schlecker.
({0})
Das ist die Sozialpolitik der FDP. Das finde ich total
schlau. Aber mit sozial hat das ganz sicher nichts zu tun.
({1})
Wir reden gar nicht so sehr über das Sparpaket der
Bundesregierung, sondern über einen Antrag, bei dem es
um die Frage geht, wie der Haushalt saniert und zukunftsfähig gemacht werden kann. Diese Fragestellung
ist völlig richtig; denn man muss diesen Haushalt sanieren. Es ist auch klar: Dieser Haushalt stellt definitiv
nicht die richtigen Weichen, um etwas Besseres für die
Zukunft zu erreichen. Wir müssen diesen Haushalt also
konsolidieren. Das geht nur dann, wenn man einerseits
streicht und andererseits klug investiert und sich Gedanken über Einnahmeerhöhungen macht. Bei all dem muss
aber der Ausgleich durch einen verantwortlichen Umgang mit Steuergeldern und der Erfüllung der Aufgaben
des Staates gewährleistet werden. Das ist gegenwärtig
mit Sicherheit nicht der Fall.
({2})
Wir brauchen Investitionen in gesellschaftlich notwendige Arbeit, die keine Profite bringt. Warum sage
ich das? Weil wir momentan, wenn wir über Investitionen reden, eher selten an soziale Bereiche denken, und
weil wir eher selten daran denken, wie wir Menschen in
Bereichen in Arbeit bringen können, für die es keinen
Markt gibt. Aber es gibt Bereiche in dieser Gesellschaft,
in denen es zwingend erforderlich ist, dass man sich um
sie kümmert und dass dort Arbeit geleistet wird. Diese
Arbeit muss finanziert werden. Ich glaube, es gibt in diesem Hause niemanden, der den Spruch „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ falsch findet.
Es scheint mir aber tatsächlich so, dass es unterschiedliche Ideen dazu gibt, wie man das richtig macht.
Wir schlagen Ihnen an der Stelle nachdrücklich vor, einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor einzurichten. Da kann man dann vernünftige Dinge tun,
wie zum Beispiel eine Fahrgastbegleitung im öffentlichen Personennahverkehr einzurichten. Das hat es zum
Beispiel in einigen Städten in Mecklenburg-Vorpommern gegeben, als Rot-Rot regiert hat und wir mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds - vom Bund gab
es nichts dafür - einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor eingerichtet haben und dort beispielsweise
im öffentlichen Nahverkehr älteren Damen und Herren
dabei geholfen haben, ihre Station zu finden, Touristinnen und Touristen geholfen haben, den richtigen Weg zu
finden, wo wir Menschen mit Behinderung geholfen haben, die Nahverkehrsmittel ordentlich nutzen zu können.
Das ist Arbeit, die Sinn macht. Da wissen die Leute, warum sie aufstehen und warum sie zur Arbeit gehen. Sie
bekommen dafür einen existenzsichernden Lohn aus öffentlichen Geldern. Wir haben dadurch große Vorteile:
Zum einen haben wir einen gesellschaftlichen Nutzen,
weil gute und notwendige Arbeit geleistet wird, und zum
anderen haben wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert.
({3})
Das hat natürlich weitere Vorteile: Diese Menschen,
die dann nicht mehr arbeitslos sind, sondern vernünfSteffen Bockhahn
tige und sinnvolle Arbeit tun, zahlen auch wieder in die
Sozialsysteme ein. Sie sind keine Belastung für die Sozialsysteme, sondern sie stärken sie. Dies sind keine Investitionen, die wir tätigen müssen - quasi als Ansparabschreibung -, damit diese Menschen irgendwann auch
Rente bekommen, sondern sie tun selbst etwas dafür,
dass sie Rente bekommen können, und zwar eine vernünftige Rente auf einem vernünftigen Niveau. Das
lohnt sich, und damit sollte man weitermachen.
({4})
Es gibt noch viele andere Bereiche. Ich möchte hier
nur Seniorenbetreuung oder Integrationslotsen nennen.
Hier in Berlin, unter einer rot-roten Regierung, gibt es
diese Integrationslotsen im öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Das ist eine notwendige und sinnvolle Arbeit, und da wird deutlich mehr getan und geschaffen, als es mit vielen anderen Programmen des
Bundes momentan der Fall ist. Insofern lohnt sich auch
so etwas. Hören Sie endlich auf damit, Ihre ideologischen Blockaden dagegen aufrechtzuerhalten, und fangen Sie an, mit uns über konkrete Projekte zu diskutieren. Wir haben da gute Vorschläge zu machen.
({5})
Es gibt dabei noch einen zweiten ganz wichtigen Aspekt, den man im Bereich dieser sozial vernünftigen und
auch notwendigen Arbeit nicht außer Acht lassen sollte:
Zurzeit müssen wir noch immer sehr viel Geld in den
Ausgleich von Schäden durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen investieren. Wie viel müssen wir in Programme investieren, um benachteiligte Jugendliche und
benachteiligte Frauen und Männer in den Arbeitsmarkt
zu integrieren, um sie überhaupt erst fähig zu machen,
wieder etwas tun zu können? Wie viel haben wir mit Gewaltprävention und Ähnlichem zu tun? Ich sage Ihnen
- Sie wissen es selbst eigentlich ganz genau -: Wenn wir
mehr im Bereich der Prävention, wenn wir mehr im Bereich gesellschaftlich notwendiger Arbeit tun, dann werden die Kosten dafür radikal sinken. Das entlastet die
Haushalte und gibt uns Gestaltungsspielraum.
({6})
Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass wir das Gewähren von Subventionen überprüfen und teilweise ändern
müssen. Wenn man sich anschaut, was Sie für Geschenke an die Atomkraftlobby machen, kann einem nur
schlecht werden. Sie sagen immer, wir brauchen diese
Technologie, damit der Strom aus der Steckdose auch
rauskommt. Ich sage Ihnen: Die Investition in Atomenergie behindert erstens eine ökologische Kehrtwende,
und zweitens verhindert sie die Schaffung vieler neuer,
produktiver Arbeitsplätze.
({7})
Es ist richtig, dass in jedem Kernkraftwerk Menschen
arbeiten, die dafür gebraucht werden, das Kraftwerk sicher und in Betrieb zu halten. Aber schauen Sie sich
bitte einmal die Belegschaften in den Atomkraftwerken
an, und schauen Sie sich an, wie viele Menschen dagegen bei Unternehmen der Fotovoltaik-Branche, im Bereich der Windenergie usw. beschäftigt sind. Wenn Sie
sich allein diese Beschäftigungszahlen anschauen, müssten Sie begreifen, dass Sie momentan auf dem falschen
Weg sind, dass wir Investitionen und Förderung von erneuerbaren Energien brauchen und nicht alte Dinosaurier weiter füttern müssen.
({8})
Insofern kann ich Ihnen nur empfehlen, Grundlagenforschung im Bereich der erneuerbaren Energien zu unterstützen und zu fördern. Das schafft einen Technologievorsprung, den wir brauchen, um uns weiter am
Weltmarkt behaupten zu können.
Ich finde es immer ganz erstaunlich, dass gerade
CDU/CSU und FDP sagen, es dürfe keine Bestandsgarantien und Ewigkeitsgarantien im Bereich der Sozialleistungen geben. Wenn das so ist, frage ich mich natürlich, warum Sie diese Bestandsgarantien gerade bei
Ihren Lobbygruppen immer wieder aufrechterhalten
wollen. Das kann so nicht sein.
({9})
Wir brauchen natürlich genauso einen Abbau von
Subventionen bei energieintensiven Produktionen. Es
ist einfach unsinnig, jemanden zu fördern, der sehr viel
Energie verbraucht. Viel mehr Sinn würde es doch machen, die Unternehmen dafür zu belohnen - auch wenn
sie energieintensive Produktionen betreiben -, wenn sie
diesen Energieverbrauch runterfahren und so etwas für
die ökologische Wende in Deutschland tun. Da können
Sie etwas ändern. Das können Sie subventionieren: den
Rückgang von Energieverbrauch. Aber einfach zu akzeptieren, dass viel Energie gebraucht wird, hilft nicht.
Das muss man nicht weiter fördern.
Genauso ist es nicht notwendig, Flugbenzin nicht zu
besteuern. Allein die Steuerfreiheit für Flugbenzin hat
den Bund seit 2005 8,7 Milliarden Euro an Einnahmeausfällen beschert. Ich finde das nicht logisch. Ich
finde das nicht begründbar. Sie können es mir bestimmt
nachher erklären.
({10})
Ein ganz wichtiger Punkt ist natürlich, die Investitionsfähigkeit der öffentlichen Hand sicherzustellen, insbesondere die Investitionsfähigkeit der Kommunen. Da es
so gewollt ist - ich finde das im Grunde auch in Ordnung -, dass der Bund über die Struktur der Einnahmen
in Deutschland entscheidet, welche Einnahmen also die
Kommunen, die Länder und der Bund bekommen, muss
man sich natürlich auch Gedanken darüber machen, wie
man sicherstellen kann, dass die Kommunen und die
Länder überhaupt in der Lage sind, zu investieren.
Ich darf Sie hier an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erinnern, in dem festgelegt ist, dass wir
alle gemeinsam die Verantwortung dafür haben, gleichwertige Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu
schaffen. Das funktioniert nur, wenn die Kommunen
überall in Deutschland in der Lage sind, zu investieren.
Der Wettbewerbsföderalismus, den Sie momentan betreiben, ist hier definitiv der falsche Weg.
({11})
Ich darf Ihnen sagen, dass die Halbierung der Mittel
für die Städtebauförderung, die Sie jetzt vorhaben, zu
einem gigantischen Problemfall für die Kommunen in
ganz Deutschland wird. Schauen Sie sich einfach nur die
Investitionsplanungen der Kommunen an. Egal ob in Baden-Württemberg oder in Mecklenburg-Vorpommern:
Alle Kommunen ächzen darunter, dass aufgrund Ihrer
Halbierung der Mittel für die Städtebauförderung zuverlässige Zusagen zurückgenommen wurden. Das ist im
Übrigen städteplanerisch nicht sinnvoll, und das ist auch
ökonomisch nicht sinnvoll, weil Sie dadurch den Handwerksbetrieben, die hier zum Zuge kommen würden, die
Grundlage für ihre wirtschaftliche Tätigkeit entziehen.
Daneben wollen Sie im nächsten Jahr die Mittel im
Bereich der energetischen Gebäudesanierung von
700 Millionen Euro auf 450 Millionen Euro kürzen. Ich
bin mir nicht sicher, ob Ihnen das bekannt ist; deswegen
sage ich Ihnen das noch einmal: Jedem einzelnen Euro,
den Sie im Bereich der Gebäudesanierung investieren,
folgen neun Euro an Folgeinvestitionen. - Es ist ökonomischer Unfug, so etwas abzuschaffen. Hören Sie auf
damit!
({12})
Ich muss natürlich auch noch etwas zur Schuldenbremse sagen; denn es ist ganz klar: So, wie Sie das momentan planen, werden Investitionen verhindert. - Sie
sagen: Ja, in besonderen ökonomischen Situationen kann
man auch mehr Schulden machen. - In diesem Haus hat
niemand irgendwann einmal bestritten, dass man gerade
im Bereich der Wirtschaftsförderung antizyklisch handeln muss. Wir alle wollen Wirtschaftsförderung betreiben, aber wir brauchen ein antizyklisches Handeln. Das
tut ja selbst die Koalition. Sie sagen: Wir haben jetzt eine
Krise und müssen etwas tun, um die Wirtschaft wieder in
Schwung zu bringen. - Wir gehen aber unterschiedliche
Wege. Ich sage Ihnen: Wenn Sie antizyklisch handeln
und investieren wollen, dann können Sie sich eine
Schuldenbremse nicht leisten. So, wie das gegenwärtig
geplant ist, wird das nicht helfen.
({13})
- Herr Toncar, die Konjunkturkomponente habe ich gerade eben angesprochen. Dass Sie das nicht gehört haben, verzeihe ich Ihnen.
Wir müssen natürlich auch die Einnahmeseite berücksichtigen. Ich finde es gut, dass die Grünen sagen, sie
wollen den Spitzensteuersatz wieder erhöhen. Ich kann
es Ihnen aber nicht ersparen, zu fragen: Wer hat ihn denn
reduziert? - Das waren zuletzt doch Sie.
({14})
Eine wichtige Sache ist auch die Abgeltungsteuer,
bei der wir uns wieder völlig einig sind. Es kann doch
nicht sein, dass jemand, der Millionen und Abermillionen Euro durch Zinsen oder Spekulationsgewinne
verdient bzw. bekommt - verdienen kann man das
schlecht -, darauf nur 25 Prozent Steuern bezahlt, während jemand, der sich in einem Jahr 1 Million Euro hart
erarbeitet hat - damit spreche ich Sie von der Koalition
an -, dafür Steuern gemäß dem Spitzensteuersatz bezahlen muss. Das kann selbst aus Ihrer Sicht nicht sozial gerecht sein.
({15})
Wir brauchen natürlich auch eine andere Finanzierung der Sozialsysteme. Mit der Kürzung der Zuschüsse
für die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung betreiben Sie einfach ökonomischen Wahnsinn, weil Sie damit
nichts anderes tun, als eine Last, die heute bekannt ist,
den Generationen aufzubürden, die Sie eigentlich angeblich entlasten wollen. Wer soll denn die Grundsicherung
und die Rente für diejenigen bezahlen, die heute keine
Rentenansprüche mehr erwerben, weil Sie die Zahlung
der Rentenversicherungsbeiträge für diese gestrichen haben? Das, was Sie hier machen, ist Wahnsinn und verrückt.
Ihre Arbeitsmarktpolitik, bei der es immer wieder um
Mini- und Midijobs geht, ist genau der gleiche Wahnsinn. Sie zerstören damit die Sozialsysteme; Sie stärken
sie nicht. Wenn Sie etwas Vernünftiges tun wollen, um
die Sozialsysteme und damit auch den Staatshaushalt
vernünftig in Ordnung zu bringen, dann sorgen Sie dafür, dass existenzsichernde Beschäftigung geschaffen
wird, die sozialversicherungspflichtig ist. Alles andere
hilft nicht; alles andere ist kompletter Unsinn. Das können Sie sich sparen.
Ich bin froh, dass jetzt ein Antrag vorliegt, über den
wir diskutieren können und mit dem uns geholfen wird,
gemeinsam Projekte zu entwickeln. Wir werden ihn jetzt
beraten und vor der Abstimmung vielleicht noch zu gemeinsamen Ideen kommen. Dadurch wird im Zweifel
mehr geholfen, als sich vorher irgendetwas vorzunehmen und sich hinterher zu wundern, dass es nicht geklappt hat.
Ich danke Ihnen.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Peter Willsch
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bockhahn, ehe ich mir von Kommunisten Ratschläge in
Sachen Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Gestaltung geben lasse, muss schon viel passieren. 80 Jahre
lang hat diese Ideologie Teile des Kontinents, einige
Teile glücklicherweise etwas kürzer, mit katastrophalen
wirtschaftlichen Auswirkungen in Geiselhaft genommen, Landstriche verwüstet und Menschen unterdrückt.
Deshalb brauchen wir Ratschläge von Ihnen wirklich als
Allerletztes.
({0})
Andere in der Debatte haben geschmeidiger gesprochen. Herr Kuhn, ich will Sie direkt ansprechen.
Herr Kollege, darf ich Sie, bevor Sie Herrn Kuhn ansprechen, fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bockhahn zulassen?
Aber klar.
Herr Bockhahn.
Herr Kollege Willsch, ich frage Sie, welche Kenntnisse meiner Biografie Sie zu der Aussage veranlassen,
dass ich Menschen unterdrückt oder Landstriche verwüstet hätte?
Herr Bockhahn, ich nehme Sie in Haftung für die Partei, in deren unmittelbarer Nachfolgerin Sie Mitglied
sind. Sie sind in der Nachfolgepartei der SED. Dafür stehen Sie, und für diese sind Sie in Mithaftung zu nehmen.
Es gab nie eine Trennung und nie einen Schlussstrich.
Die Linke ist die Rechtsnachfolgerin der SED, die unweit von hier - dort hinten stand die Mauer - Menschen
brutal unterdrückt und das Land ökonomisch vollständig
ruiniert hat. Das müssen Sie sich zurechnen lassen.
({0})
- Sie hätten sich eine anständige Partei aussuchen können, als Sie angefangen haben, sich zu engagieren.
Herr Kuhn, ich habe extra nachgeschaut, was Sie gelernt haben. Sie sind Sprachwissenschaftler. Ich habe
jetzt gelernt, dass ein Sprachwissenschaftler es versteht,
einigermaßen gefällig für die Zuhörer über Dinge zu
sprechen, die er offenkundig nicht versteht. Das war die
Quintessenz dessen, was von Ihrem Vortrag bei mir hängen geblieben ist.
({1})
Der Antrag, den Sie von den Grünen hier gestellt haben, enthält viele Ideen - das kommt auch in der Überschrift zum Ausdruck -, zum Beispiel den Haushalt zukunftsfest zu machen und ihn sozialverträglich zu
sanieren, die genau das beschreiben, was wir mit dem
Sparpaket tun. Ich verstehe, dass Ihre Haushaltspolitiker, zum Beispiel Alex Bonde, sich mit solchen Positionen nicht identifizieren. Wir führen im Haushaltsausschuss intelligente Diskussionen miteinander, und
unsere Positionen sind häufig nicht weit auseinander. Es
geht Ihnen darum, mit dem alten Muster - hier die Reichen, da die Armen, die ausgepresst und unterdrückt
werden - ein Bild des Klassenkampfes heraufzubeschwören, das mit der Wirklichkeit dieses Sparpakets
und der Regierungspolitik der christlich-liberalen Koalition überhaupt nichts zu tun hat.
({2})
Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir nach
40 Jahren hemmungsloser Schuldenwirtschaft in diesem
Land - ich spreche bewusst von 40 Jahren, weil ich die
Zeiten, in denen wir regiert haben, einschließe - endlich
zu dem Punkt kommen, zu sagen: Das muss ein Ende haben. Wir können nicht eine Bevölkerung, die schrumpft
und die im Vergleich zum Jahr 1964, als 1,375 Millionen
Geburten zu verzeichnen waren - das war ein Spitzenjahrgang -, jetzt nicht einmal mehr die Hälfte, nämlich
nur 765 000 Geburten im Jahr, aufweist, immer mehr belasten. Wir versündigen uns an unseren Kindern.
({3})
Das Ende einer solchen Wirtschaft konnten wir beobachten, als der IWF und die Europäische Union mit der griechischen Regierung über ein Sparprogramm verhandelt
und Auflagen erteilt haben.
({4})
Wenn der Karren so in den Dreck gefahren wird, dann
kommt eine Situation wie in Griechenland heraus. Jetzt
wird über eine Lohnsenkung von 8 Prozent und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 5 Prozentpunkte innerhalb von drei Monaten gesprochen, weil es anders nicht
mehr geht. In eine solche Situation wollen wir mit unserem Land nicht kommen.
Sie von den Grünen reden über die Haushaltspolitik
und die nachhaltige Finanzpolitik im Ausschuss wie
auch im Plenum sehr gefällig. Wenn wir miteinander diskutieren, stellen wir fest, dass wir durchaus gemeinsame
Auffassungen haben. Leider steht in krassem Kontrast
dazu Ihr konkretes Handeln, wenn Sie Regierungsverantwortung übernehmen sollen. Schauen Sie sich doch
einmal an, welchen Wahlbetrug Sie mit Ihrer Minderheitsregierung verüben, über die Sie jetzt in NordrheinWestfalen verhandeln.
({5})
Bei erwarteten Mindereinnahmen von 1,3 Milliarden
Euro wollen Sie mit einem Federstrich 1 Milliarde Euro
mehr ausgeben. Auf diese Idee muss man erst einmal
kommen. Das zeigt, dass bei Ihnen Reden und Handeln
weit auseinanderfallen und dass Sie noch nicht so weit
sind, dass Sie verantwortlich eine Haushaltskonsolidierungspolitik betreiben könnten.
({6})
Der Kern des Sparpakets ist die Senkung der Ausgaben. Wir haben überprüft, an welchen Punkten Einsparungen möglich sind, ohne das Wachstumspotenzial in
unserem Land zu gefährden. Gleichzeitig stellen wir sicher, die Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerfüllung gerecht zu verteilen.
Der Vorwurf, um den sich hier alles dreht, dass dieses
Sparpaket sozial ungerecht sei, ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Sozialausgaben in diesem Lande entwickeln sich seit 1952 kontinuierlich nach oben. Inzwischen sind wir bei einem Anteil der Sozialausgaben an
den Gesamtausgaben des Staates von 54,17 Prozent angelangt. Vernünftigerweise können Sie deshalb nicht
über Einsparungen nachdenken und dabei diesen Bereich vollständig ausklammern.
({7})
Es wäre auch ökonomisch völlig falsch, diesen Bereich
auszuklammern, weil eine Ausgabe für einen sozialpolitischen Zweck natürlich nicht per se eine gute Ausgabe
ist und nicht per se eine effiziente Ausgabe ist. Es muss
immer wieder geschaut werden: Erreichen wir mit dieser
Ausgabe überhaupt das, was wir erreichen wollten?
({8})
Wird das Steuerzahlergeld, das ein relativ kleiner Anteil
der Bevölkerung erbringt - Norbert Barthle hat es dargestellt -, auch wirklich effizient eingesetzt?
Solidarität und Subsidiarität sind zwei Schwestern.
({9})
Sie gehören zusammen. Wir müssen immer darauf achten, es bei einer sozialpolitischen Maßnahme nicht so
weit zu treiben, dass der paternalistische und für alles
sorgende Staat sich um alles kümmert. Es muss immer
auch der Anreiz gegeben werden, sich selbst zu helfen
nach dem Motto: „Hilf dir selbst; wir geben dir Hilfe
dazu, damit du selbst wieder auf die Beine kommst.“ Es muss immer das Ziel verfolgt werden, sich als Staat
zurückzuhalten und die Verantwortlichkeiten beim Einzelnen oder einer kleinen Gruppe zu lassen, damit dort
eigenverantwortlich gehandelt werden kann.
({10})
- Das ist doch völliger Unfug. Ich will Ihnen das noch
einmal kurz erklären. Es geht also um die Frage, warum
jetzt kein Elterngeld mehr an Empfänger von Arbeitslosengeld II - vulgo: Hartz-IV-er - bezahlt werden
soll.
Es war von Anfang an ein Strickfehler, dass das überhaupt gezahlt worden ist.
({11})
Wie wird denn der Bedarf eines Haushalts, der vollständig von öffentlichen Mitteln abhängt und bezahlt wird
- wo es sein muss, tun wir das gerne -, ermittelt? Das
Statistische Bundesamt erstellt Einkommens- und Verbrauchsstudien. Alle fünf Jahre wird überprüft, wie hoch
die Ausgaben der unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher - ohne Sozialhilfeempfänger; also nur derjenigen, die für sich selbst aufkommen - sind. Aus diesen
Werten wird dann abgeleitet, wie hoch der Bedarf von
jemandem ist, der Arbeitslosengeld II erhält.
({12})
- Nein, lieber Kollege. Dazu kommen wir auch noch.
Das Verfassungsgericht hat gesagt, dass der Satz, den
Kinder erhalten, nicht als bloßer Prozentsatz des Erwachsenensatzes ermittelt werden darf.
({13})
Das Verfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass
der Rechenweg, sich an dem unteren Fünftel der Einkommensbezieher zu orientieren, richtig ist. Das Ganze
muss nur für die Kinder auch diskretionär nach einzelnen Ausgabengruppen erarbeitet werden. Das tun wir
derzeit.
Hier wird also demjenigen, der Hilfe braucht, maßgeschneidert die Hilfe gegeben - nicht üppig, aber ausreichend. So muss es auch sein, damit der Anreiz bestehen
bleibt, wieder aus dieser Situation herauszukommen.
Kleinen Moment; lassen Sie mich den Gedanken gerade zu Ende bringen. - Genau das geschieht auch. Dann
ist es Unsinn, das Elterngeld nicht anzurechnen. Es muss
genauso angerechnet werden, wie das Kindergeld natürlich auch angerechnet wird, weil der Grundbedarf
({0})
sozusagen anhand des Einkaufszettels diskretionär ermittelt worden ist. Daher ist es Unfug, das Geld obendrauf zu legen. - Jetzt gebe ich gerne die Zwischenfrage
frei.
Frau Kressl, bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege Willsch, da Sie jetzt schon
behaupten, die Elterngeldzahlung habe etwas mit Existenzsicherung zu tun, was vom Grundsatz her nicht
stimmt, würde ich Sie gerne fragen: Was soll das, was
Sie vorhaben - Sie wollen nämlich an die nicht erwerbstätige Ehefrau eines Einkommensmillionärs weiterhin
300 Euro im Monat auszahlen -, mit Existenzsicherung
zu tun haben?
({0})
- Da Herr Fricke immer dazwischenschreit: Frau Gruß
hat ja genau dies kritisiert, wenn ich mich nicht irre.
({1})
Liebe Kollegin - ({0})
Das Wort hat der Kollege Willsch zur Beantwortung
der Frage.
Die Diskussion hellt vielleicht auf. Die können wir
gleich noch ein bisschen kreuz und quer laufen lassen,
aber ich will jetzt doch gern die Frage beantworten.
Ich habe ausdrücklich nicht von der Grundsicherung
gesprochen. Ich habe ausdrücklich gesagt: Die Grundsicherung ist da. Es wäre unsinnig, das Elterngeld nicht
zu verrechnen, weil ja der Satz hinreichend hoch ist.
({0})
- Moment! Lassen Sie mich doch einmal ausreden!
Bei der Frage, ob das Elterngeld, das ja das Erziehungsgeld abgelöst hat, auch an Haushalte gezahlt wird,
in denen nur einer arbeitet - Stichwort „Daheimbleibprämie“ -, geht es darum, ein gesellschaftspolitisches
Modell, ein familienpolitisches Modell nicht zu bestrafen, das ich zumindest für durchaus positiv halte.
({1})
Das betrifft nicht nur den Millionär, sondern genauso
den Facharbeiter, der gemeinsam mit seiner Frau entscheidet: „Pass auf, jetzt haben wir Kinder; ich bringe
das Geld herbei, und du bleibst zu Hause“ oder auch umgekehrt, wenn die Frau mehr verdient. Das kann jeder
machen, wie er will. Mit diesem Modell, das nicht nur
den Zahnarzt oder den Millionär betrifft, sondern eben
auch den ganz normalen Mittelstandsfacharbeiter oder
Arbeiter - da sagt man sich: wir müssen nicht zweimal
im Jahr in Urlaub; wir brauchen keine zwei Autos; uns
ist es wichtig, dass das Kind eine feste Bezugsperson,
Mutter oder Vater, zu Hause hat -, wollen wir diese nicht
bestrafen, indem wir sagen: Ihr bekommt nichts vom
Staat. - Ich glaube, das habe ich jetzt hinreichend deutlich gemacht.
Wenn jetzt nicht noch eine Zwischenfrage kommt,
fürchte ich, ist meine Redezeit zu Ende. Ich möchte Sie
gern dazu ermuntern. Wenn Sie noch Gelegenheit nehmen wollen, den einen oder anderen Punkt mit mir zu
vertiefen, können Sie uns dazu in die Lage versetzen, indem Sie mir eine Zwischenfrage stellen. - Leider kommt
sie nicht.
Dann kann ich nur noch eine Abschlussbemerkung
machen - sonst bekomme ich einen Rüffel von der Präsidentin -: Ich fordere Sie auf, seriös zu diskutieren. Wir
werden das riesige Problem der aufgetürmten Schulden
- es sind 1,7 Billionen Euro; das ist für fast jeden in unserem Land unvorstellbar - nur lösen, wenn wir Ernst
machen, die staatlichen Ausgaben intensiv infrage stellen
({2})
und immer wieder schauen: Gehen wir effizient mit dem
Geld um? Gehen wir auch strukturell an die Dinge heran? Wir können uns nicht damit begnügen, in konjunkturell guten Zeiten mehr Geld einzunehmen; wir müssen
darangehen, den Staat schlanker zu machen, dem Staat
weniger Ausgaben zuzumuten, dem Einzelnen mehr zuzutrauen. Das ist der Weg, den diese christlich-liberale
Koalition geht. Sie sind herzlich eingeladen, ihn mit uns
zu gehen - zum Wohle unseres Vaterlandes.
Danke schön.
({3})
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Johannes Kahrs.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer sich die Debatte angehört hat, fragt sich,
was sie mit dem Antrag zu tun hat. Es wurde aber klar,
warum in den letzten acht, neun Monaten in diesem
Land nicht viel passiert ist. Wir haben eine Regierung,
die gestern, glaube ich, ihren achten oder neunten Neustart probiert hat, und auch den hat sie versemmelt.
({0})
Wenn man sich diese Argumentation anschaut, fragt
man sich, wie das überhaupt möglich ist.
Zuvor noch einen kleinen Einschub: Der Kollege
Willsch hat den Kollegen Bockhahn eben als Kommunisten bezeichnet. Kommunisten mag es in der Linkspartei ja geben, aber der Kollege Bockhahn ist nun wirklich
keiner. Er ist einer von den wirklichen Realpolitikern
dort.
({1})
Mit Leuten wie dem Kollegen Bockhahn kann man in
Mecklenburg-Vorpommern vernünftig regieren. Das
mag anderswo nicht gehen.
Wenn Sie sich die Rede vom Kollegen Bockhahn angehört haben, werden Sie festgestellt haben: Er hat als
einer der wenigen heute sachlich inhaltlich Punkt für
Punkt argumentiert.
({2})
Man muss nicht jeden Punkt teilen, Kollege Fricke,
({3})
aber man muss sich inhaltlich mit ihm auseinandersetzen. Ihn einfach als Kommunisten in die Ecke zu stellen,
finde ich - dazu muss ich sagen: ich bin nicht der Linkeste in meiner Partei - ein bisschen unanständig. Das
geht eigentlich nicht. Das senkt das Niveau einer Debatte so weit, dass es unerträglich wird.
({4})
- „Fundamentalistisch“ wäre ärgerlich gewesen.
({5})
- Wenn man radikal spart, kann das sogar positiv sein.
({6})
Wenn man radikal vernünftig spart, ist es noch besser.
„Fundamentalistisch“ hätte ich als Beleidigung empfunden.
({7})
Ich finde, dass die Reaktion, Herr Fricke, die Sie gezeigt
haben, eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat; sie
zeigt nur, wie dünn das Eis ist, auf dem Sie zurzeit gehen, wie sensibel und angefasst Sie zurzeit sind.
({8})
Die Frage ist, warum das so ist. Ich muss ganz ehrlich
zugeben: Als wir am 27. September 2009 so gegen
18 Uhr die Hochrechnungen mit dem Ergebnis für die
SPD gesehen haben, war ich ziemlich erschrocken. Ich
habe gedacht: Es wird zu einer schwarz-gelben Regierung mit einer schneidigen Wirtschafts-, Finanz-, Verteidigungs- und Innenpolitik kommen, die uns alle an die
Wand haut, und dann läuft das, zwar nicht in meinem
Sinne, aber es wird wohl laufen, denn es ist ja eine
Traumkoalition. Nun stehe ich hier seit acht Monaten
mit offenem Mund und großen Augen und schaue mir
an, was Sie für ein Trauerspiel geben.
({9})
Da passiert gar nichts. Sie haben zwar von konkreten
Punkten gesprochen. Aber ganz ehrlich: Mit Ausnahme
der Vergünstigungen für Hoteliers habe ich nicht wirklich viel Konkretes erlebt.
({10})
Was ich gesehen habe, war ein Koalitionsvertrag, der
mehr Fragen aufgeworfen hat, als er beantwortet hat.
({11})
So viele Arbeitsgruppen, Fragezeichen und ungelöste
Probleme! Wenn ich Sie einmal beraten darf - als Opposition können wir das machen, weil wir das Interesse unseres Landes im Blick haben -: Wenn man einen Koalitionsvertrag macht, dann muss dieser am Ende so
durchdekliniert sein, dass die drei Vertragspartner dasselbe sagen, meinen und wollen. Dann wird er unterschrieben und umgesetzt. Das ist ein Koalitionsvertrag.
({12})
Das haben wir hervorragend mit der CDU und der CSU
hinbekommen. Das haben wir auch mit den Grünen erfolgreich gemacht. Das hat funktioniert. Da kann man in
dem einen oder anderen Punkt nölen, aber das Land ist
damit gut gefahren.
Was Sie zurzeit abliefern, ist ein Haufen von Fragezeichen. Da haben Sie den einen oder anderen Neustart
gehabt, Sie haben sich gegenseitig demontiert, Sie sind
zurückgetreten oder weggerannt. Im Ergebnis haben Sie
jetzt mit Ihrem 80-Milliarden-Euro-Sparpaket den
nächsten Neustart gemacht. Da sagt man sich: Das klingt
erst einmal gut. Einsparungen von 80 Milliarden Euro
sind eine echte Nummer. Kollege Willsch hat hier davon
gesprochen, dass man sich 40 Jahre lang radikal verschuldet hat. Er hat auch eingestanden, dass die meiste
Zeit die CDU regiert hat. Aber im Ergebnis hat er vergessen, zu sagen, dass Sie in den nächsten vier Jahren
weitere 150 Milliarden Euro Schulden machen werden.
Was er auch vergessen hat, zu sagen - das finde ich nicht
ganz unwichtig -, ist: Dieses 80-Milliarden-Euro-Paket,
das Sie auflegen, ist genau wie Ihr Koalitionsvertrag. Es
ist nur ein Haufen von Zahlen auf einem Stück Papier.
Dahinter stehen keine Beschlüsse, keine Gesetzesvorschläge, nichts, worin sich diese Regierung einig ist, und
zwar durchgängig.
({13})
Sie haben sich mit diesem Sparpaket einen Haufen Probleme geschaffen. Sie haben Probleme aufgebaut, die
Sie nicht bewältigen können.
Als Beispiel nenne ich die Brennelementesteuer.
Diese finden wir alle suboptimal. Wenn sie wenigstens
funktionieren würde; aber damit ist nicht zu rechnen.
Dass man als Opposition dagegen ist, daran ist die breite
Öffentlichkeit gewöhnt. Bei der Brennelementesteuer
aber sagt der eine Partner: Nein, die gibt es nur bei einer
Verlängerung der Laufzeiten. Der andere sagt: Nein, das
kommt unabhängig von einer Verlängerung der Laufzeiten. Ob sie überhaupt kommt, ist nicht klar. So geht es
mit jedem einzelnen Ihrer Punkte, weil es immer drei
Parteien gibt. Darüber hinaus gibt es noch den wirtschaftspolitischen Flügel der CDU/CSU und auch noch
andere, die immer wieder anderer Meinung sind.
Wenn Sie ein Sparpaket vorgelegt hätten, bei dem Sie
sich selber einig gewesen wären, dann könnten wir etwas kritisieren. Aber dazu kommen wir gar nicht; denn
wenn wir etwas kritisieren, haben Sie uns darin schon
lange übertroffen.
({14})
So wie die Pläne zur Kopfpauschale kritisiert werden
müssen und wir uns als Opposition wirklich anstrengen,
zu sagen, die Kopfpauschale dürfe nicht kommen, so
muss man anerkennen: Das schafft die CSU doppelt so
gut.
({15})
Das macht sie mit einer Brutalität, mit der sie Herrn
Rösler gegen die Wand fahren lässt, dass man sich fragt,
ob das noch eine Koalition ist.
Schauen wir uns einmal die sogenannte Bundeswehrreform an, oder was auch immer das sein soll.
Wenn ich mir als Oberstleutnant der Reserve anschaue,
was Sie aus meiner Bundeswehr machen; das ist nicht
tragbar und unverschämt. Was Sie bei der Wehrpflicht
vorhaben, geht überhaupt nicht. Was bei der Umsetzung
der Pläne in der Realität passiert, ist eine Katastrophe.
({16})
- Red doch einmal mit der Truppe. Das geht doch gar
nicht.
({17})
Außerdem sitzt du bei der falschen Partei. Setz dich zur
CDU, wo du hingehörst.
({18})
- Ganz ruhig bleiben! Du bist auch im Haushaltsausschuss, wir sehen uns da ja.
({19})
Wenn man das macht, dann muss das alles Sinn und
Verstand haben. Das ist durchgehend so: Seit den Zeiten
von Theo Waigel - der eine oder andere erinnert sich
vielleicht noch an ihn - ist es so, dass Schuldenabbau
immer aus drei Säulen besteht: Einnahmeverbesserung,
Wachstumsförderung, Einsparung.
Dann habe ich hier eben Worte gehört wie „Wirtschaftswachstum fördern“, „Vorrang für Wirtschaft“ und
Ähnliches. Wenn ich mir nun Ihr Papier anschaue, stelle
ich fest, dass da auch etwas von ökologischer Neujustierung steht - das ist ja bei der CDU immer ganz gefährlich.
({20})
In meinem eigenen Wahlkreis - man soll sich ja immer
an praktischen Fragestellungen orientieren - liegen
Europas größtes Kupferwerk Aurubis und eine Aluminiumhütte. Die Ausnahmen von der Ökosteuer für
diese Unternehmen, die wir den Grünen abgerungen
haben - das war für die Grünen bitter - und die auch in
der Großen Koalition noch Bestand hatten, sollen jetzt
abgeschafft werden. Das bedeutet, dass Grundstoffindustrie in Deutschland fast nicht mehr möglich ist;
denn es gibt ja einen internationalen Wettbewerb, so etwas wie ein Level-Playing-Field. Wir waren uns hier
einmal alle einig, dass solche Unternehmen in Deutschland nach den gleichen Spielregeln wie vergleichbare
Unternehmen in Europa bzw. in der Welt behandelt werden sollten.
({21})
Aber vergleichbare Unternehmen in Kanada, Norwegen,
Australien und im Mittleren Osten haben andere Strompreise; unsere können noch so viele Einsparungen vornehmen, sie kämen gegen diese nicht an, wenn man sie
nicht von der Ökosteuer ausnimmt. Jetzt kommt aber auf
einmal diese großartige Wirtschaftskoalition daher und
zerschlägt das. Mit Intelligenz und Sparen, mit dem
Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat das überhaupt nichts zu tun.
({22})
Man sollte die drei von Theo Waigel aufgestellten
Punkte beherzigen: Einnahmeverbesserungen, Wachstumsförderung, Einsparungen. Gehen wir Ihre Vorschläge einmal durch.
Einnahmeverbesserungen können Sie nur durch
Einführung einer Finanztransaktionsteuer und Erhöhung
des Spitzensteuersatzes erreichen. Wenn man sich einmal Ihre Pläne anschaut, stellt man fest: alles heiße Luft.
Die FDP will es nämlich nicht, die CDU nur ein bisschen, bei der CSU warten wir auf die Erleuchtung.
Zum Spitzensteuersatz ist zu sagen: Die Sozialisten
Kohl und Genscher haben es geschafft, mit einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent zu regieren, und keiner in
diesem Land hat „Sozialismus!“ geschrien oder irgendjemanden der Verantwortlichen beschuldigt, ein Kommunist zu sein. Jetzt, wo wir davon reden, dass man den
Satz wieder der 50-Prozent-Marke annähern sollte, werden wir auf einmal in eine ganz linke Ecke geschoben.
Natürlich bin ich gesamtgesellschaftlich ein Linker, aber
dass Kohl und Genscher dann links von mir stehen sollen, ist schwer nachvollziehbar. Ich finde, hier sollten
Sie an Ihrer Argumentation noch ein wenig feilen. Vielleicht kommt ja dabei etwas Brauchbares zustande.
({23})
Auch bei der Bankenabgabe müssen wir genau
schauen, wo die Einnahmen daraus landen. Ich persönlich denke, dass die Einnahmen daraus in den Bundeshaushalt gehören und nicht in irgendwelche Extratöpfe.
Der Steuerzahler zahlt für die Rettung, also muss der
Steuerzahler auch entlastet werden, wenn entsprechende
Einnahmen generiert werden. Das wäre nur vernünftig.
({24})
Über Wachstumsförderung können wir viel reden.
Wenn aber der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung - gerade war er noch hier im Plenum;
jetzt ist er weg - eine Halbierung der Ansätze für das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm vornimmt, sollte er
auch bedenken, welche Folgen das hat. Es betrifft nämlich insbesondere die mittelständischen Handwerksbetriebe, die das alles einbauen.
({25})
Das kann man durchdeklinieren und sich die Folgen
Stadtteil für Stadtteil anschauen. Sie begründen die Reduzierung nun damit, dass das Programm nicht mehr so
stark nachgefragt wird. Natürlich wird das Programm
nicht mehr so stark nachgefragt, wenn die Zinssätze so
stark angehoben werden, dass sie fast das marktübliche
Niveau erreichen. Dann funktioniert das nicht mehr. Es
sollte ja einen Anreiz dafür schaffen, dass Menschen etwas Sinnvolles tun, indem wir ihnen dabei ein wenig
helfen. Wenn Sie die Hilfe faktisch auf null herunterfahren, indem Sie die Zinsen stark anheben, und dann behaupten, es werde nicht mehr so stark nachgefragt, deshalb könne man hier Einsparungen vornehmen, dann
fragt man sich doch, was das soll.
({26})
Für den Mittelstand und für die Wirtschaft, Herr Fricke,
haben Sie schon lange nichts mehr gemacht.
Die Frau Präsidentin gibt mir ein Zeichen, dass meine
Redezeit abgelaufen ist. Ich komme jetzt auch zum
Schluss. Ich wünsche mir nur, dass diese Regierung innerlich zu sich selbst findet und auch entsprechend handelt. Dann hätten wir etwas, was wir kritisieren könnten.
Im Moment ist uns das gar nicht möglich; denn Sie
hauen sich ja nur gegenseitig in die Pfanne. Leidtragende sind das Land und die Menschen, die hart und anständig arbeiten und Steuern zahlen. An diese sollten Sie
zur Abwechslung einmal denken.
Vielen Dank.
({27})
Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Warum sparen wir eigentlich? Warum müssen wir das tun? Weil wir dadurch, dass wir in
der Vergangenheit in diesem Land nicht gespart haben,
eine Verschuldung haben, die es, wenn wir jetzt nicht mit
dem Sparen anfangen, unmöglich macht, dass für zukünftige Generationen ein Generationenvertrag mit denselben Grundlagen gilt, die auf mich, Geburtsjahrgang
1965, noch zutrafen.
Nun die typisch deutsche Frage: Wer ist daran schuld?
Als Antwort darauf muss man der Bevölkerung doch sagen: Alle. Alle sind daran mehr oder weniger beteiligt
gewesen. Wenn die SPD jetzt behauptet: „Nein, wir waren das gar nicht, wir machen das alles ganz sozial und
vernünftig“,
({0})
muss man auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine
Gesamtverschuldung des Bundes - das ist nur das, was
in diesem Hause beschlossen worden ist - von
1 000 Milliarden Euro. Das ist die berühmte Billion.
Herr Poß, wissen Sie, wie viele Milliarden SPD-Finanzminister in elf Jahren zu verantworten hatten?
({1})
Sie wissen es nicht mehr. 350 Milliarden Euro haben Sie
von der SPD zu diesem Haufen hinzugetan.
({2})
Jetzt tun Sie so, als hätten Sie nichts damit zu tun, anstatt zu erkennen, was wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, um von diesem Schuldenberg herunterzukommen; egal wer an der Macht war. Wir haben
eigentlich immer dasselbe gemacht. Wir haben alle gesagt: Wir wollen sparen. Das Ergebnis waren immer
Steuererhöhungen. Wie war denn das mit der Mehrwertsteuererhöhung, die die SPD angeblich nicht wollte?
Warum haben Sie das denn gemacht? Weil Sie gemerkt
haben - damit komme ich zum Antrag der Grünen -,
dass es überhaupt nicht nachhaltig ist, wenn man versucht, Haushalte über die Einnahmeseite zu sanieren.
({3})
Die Bürger draußen, die jetzt vielleicht sagen: „Dem
von der FDP glaube ich nicht“, bitte ich, einmal über
Folgendes nachzudenken: Wenn Sie Schulden hätten, die
dem Vierfachen Ihres Jahresnettoeinkommens entsprächen,
({4})
seien Sie Rentner, seien Sie ALG-II-Empfänger, seien
Sie Pensionär, seien Sie Arbeitnehmer, glaubten Sie
dann, dass Sie von der Verschuldung herunterkommen
könnten, indem Sie schauen würden, woher Sie mehr
Geld bekommen? Glauben Sie nicht auch, dass man irgendwann einmal fragen muss: Auf was kann ich, auf
was soll ich, auf was muss ich bei mir und bei anderen
verzichten?
({5})
Darum muss sich eine politische Diskussion drehen.
Diese politische Diskussion nimmt diese Koalition mit
dem großen Sparpaket auf. Wir kommen nur über die
Ausgaben an das Problem heran. Das weiß jeder, der
einmal persönlich erlebt hat, was Verschuldung bedeutet.
({6})
Es ist immer wieder bemerkenswert, dass dann gesagt
wird, das alles sei unsozial. Wir wissen, dass das im politischen Diskurs das Böse ist: Wer unsozial ist, ist ein
schlechter Politiker; wer unsozial ist, ist ein schlechter
Mensch. Das stimmt so aber nicht. Unsozial ist derjenige, der sagt: „Wir geben dir mehr“, der aber fünf Jahre
später zurückkommt und sagt: „Tut uns leid, das war alles zu viel; jetzt müssen wir davon wieder herunter.“ Unsozial ist derjenige, der sagt: „Ich bin sozial und tue in
dem und dem Leistungsbereich etwas“, nach der nächsten Wahl aber sagt: „Jetzt erhöhe ich die Mehrwertsteuer; tut mir leid.“
Genau darauf will Rot-Grün bzw. Rot-Rot-Grün wieder hinaus. Sie sagen: Wir geben, wir geben, wir geben,
weil es sozial ist. In ein paar Jahren werden sie aber sagen: „Es tut uns leid, wir haben uns wieder einmal verrechnet; wir nehmen, wir nehmen, wir nehmen.“
Die Koalition geht diesen Weg dieses Mal nicht.
Wenn diese Koalition unsozial wäre,
({7})
wie sähe dann die Antwort auf die folgende Frage aus
- das muss sich auch jeder Bürger draußen fragen -:
Wie viel von dem, was wir einnehmen - der Kollege
Barthle hat gesagt, dass die Einnahmen im Wesentlichen
von denen, die starke Schultern haben, kommen -, geben
wir den Schwächeren? Man muss doch feststellen, wie
das nach den ersten vier Jahren von Rot-Grün war. Da
hatten sie eine Quote von 44 Prozent. Nach weiteren drei
Jahren lag die Quote bei 50 Prozent. Diese Koalition
sagt: Wir bleiben über den 50 Prozent von Rot-Grün.
({8})
Kann man sagen, dass eine Politik unsozial ist, wenn
versucht wird, die Dinge neu zu justieren?
({9})
Ich glaube, das ist nur möglich, wenn man Polemik betreibt.
({10})
Man muss beim Haushalt Folgendes erkennen: Sie
können sich nicht nur etwas wünschen, sondern Sie müssen auch die Zahlen dazu nennen. Je lauter Sie in den
ersten Reihen reden und je weniger Sie zuhören, desto
deutlicher zeigen Sie, dass meine Worte zutreffen. Man
kann nur eines feststellen: Wir müssen die Ausgaben
durchforsten. Wir müssen prüfen, was nicht richtig ist,
auf was wir verzichten können. Wir müssen dringend
prüfen, auf was wir mit Blick auf die Zukunft verzichten
sollten. Als Erstes müssen wir ganz klar definieren, auf
was wir verzichten müssen. Sie können das konkret tun.
Sie könnten als Opposition doch einmal einen Gegenhaushalt aufstellen.
({11})
Die Zuschauer und Zuhörer werden denken, dass Sie
einen Gegenantrag eingereicht haben. In dem Antrag
der Grünen steht ganz viel drin. Aber was nicht drinsteht, ist das Entscheidende bei der Haushaltspolitik - das
ist auch für jeden Bürger wichtig -: Welche Zahl steht
wo?
({12})
Steht auf meinem Konto nachher ein Plus, oder steht auf
meinem Konto nachher ein Minus? Zu dem Antrag der
Grünen kann ich nur sagen: Es ist sehr viel hineingeschrieben worden. Manche Kritik darin ist vielleicht gerechtfertigt und gehört zum politischen Diskurs in unserer Gesellschaft. Aber immer dann, wenn es konkret
werden sollte, wenn Zahlen angegeben werden sollten,
dann wird Allgemeines gesagt: Wir wollen hier und da
etwas tun; wir wollen bei der Gebäudesanierung und bei
der sozialen und kulturellen Teilhabe etwas machen;
dann wollen Sie 420 Euro Hartz IV haben. Sie machen
aber nicht rechts den Strich, um zu sagen, wie viel das
kostet.
Man kann das nur grob überschätzen. Das, was Sie in
Ihrem Antrag vorschlagen, umfasst weit über 20 Milliarden Euro. Dazu kommen dann noch die 20 Milliarden
Euro, die wir aufgrund der Verfassungsregelung einsparen müssen; das wollen wohl auch Sie. Das sind dann
40 Milliarden Euro. Dies wollen Sie im Wesentlichen
über die Einnahmeseite erreichen.
({13})
Das wird die SPD nicht anders sehen; die Linken sogar
noch ein bisschen stärker. Doch was bedeutet das, wenn
Ihnen ein Politiker sagt: „Wir wollen so viel mehr“? Das
bedeutet, dass Sie den Spitzensteuersatz um 50 Prozentpunkte erhöhen müssten; Sie müssten ihn also auf über
90 Prozent erhöhen. Wenn Sie die Mehrwertsteuer erhöhen - nur ein Teil davon geht an den Bund -, wären Sie
bei 35 Prozent Mehrwertsteuer.
({14})
Diese Seite Ihrer Forderungen müssen sie der Ehrlichkeit halber auch darstellen. Machen Sie konkrete
Vorschläge, nennen Sie konkrete Zahlen und sagen Sie
nicht nur, man wolle ein bisschen wegnehmen. Seien Sie
doch einfach ehrlich, und sagen Sie, wo Sie abkassieren
wollen, sagen Sie, dass Sie nicht sparen und die Ausgaben nicht senken wollen.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Sven-Christian
Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss
zugeben: Mit dem sogenannten Sparpaket spart die
Bundesregierung. Sie spart vor allen Dingen an guten
und sozial gerechten Vorschlägen, und sie spart sich
nachhaltige Vorschläge. Heute wird zwar gekürzt, aber
auf Dauer wird nichts gespart. Denn die soziale und ökologische Verschuldung in der Zukunft wird nur vergrößert. Das ist das große Problem an diesem Sparpaket.
({0})
Wir haben heute schon einiges dazu gehört. Ich kann
nur sagen: Wir haben im letzten Haushaltsverfahren ein
detailliertes Konzept mit konkreten Zahlen und mit konkreten Forderungen bezüglich der Ausgaben- und der
Einnahmeseite vorgelegt. Wenn wir Ihren Haushaltsentwurf in der nächsten Woche vorliegen haben, werden wir
im Haushaltsverfahren wieder ein konkretes Konzept
vorlegen und belegen, wie eine seriöse grüne Haushaltspolitik aussieht.
({1})
Wichtig ist, glaube ich, auf zwei Punkte einzugehen:
auf die ökologische und die soziale Seite dieses unausgeglichenen Pakets. Unsere Gesellschaft driftet immer
weiter auseinander. Mittlerweile besitzen die obersten
10 Prozent 60 Prozent des Vermögens in Deutschland.
Die neueste Studie des DIW hat noch einmal gezeigt,
dass die Reichen in Deutschland reicher werden, die Armen ärmer und die Mittelschicht schrumpft. Deswegen
müssen nicht nur einzelne Maßnahmen im Sparpaket sozial gerecht sein, sondern es muss insgesamt einen Beitrag dazu leisten, dass die soziale Gerechtigkeit in
Deutschland wieder größer und die Ungleichheit abgebaut wird.
({2})
Doch mit diesem sogenannten Sparpaket greifen Sie vor
allen Dingen den Ärmsten in die Tasche, statt Wohlhabende an der Konsolidierung der Gesellschaft zu beteiligen.
Ja, wir brauchen auch Gerechtigkeit auf der Einnahmeseite. Ich wusste, dass es in der FDP - gerade bei
Minister Brüderle, bei Otto Fricke oder Florian Toncar ein ideologisches Dogma ist, dass man keine Steuern erhöhen will. Ich war sehr erstaunt, dass es auch in der
FDP schon Stimmen gibt - ich teile ausdrücklich die
Meinung der Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger -,
dass Steuerpolitik auch Umverteilung heißt, dass Steuern
dazu da sind, zu steuern und Geld umzuschichten. Starke
sollten stärker belastet werden, und Schwache sollten
entlastet werden.
({3})
Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und höhere Einnahmen aus der Erbschaftsteuer sind ein richtiger Weg.
({4})
Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine
Finanztransaktionsteuer, weil den Menschen nicht zu erklären ist, warum die Ärmsten die Folgen der Krise bezahlen sollen und nicht die Banken und die Vermögenden die Lasten der Wirtschafts- und Finanzkrise tragen.
Das ist ein wichtiger Punkt.
Herr Kollege Kindler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Kindler, ich akzeptiere, dass das die
Vorstellung Ihrer Partei ist. Aber wenn Sie sagen, dass
Sie das konkret berechnet haben, dann können Sie uns
doch jetzt hier sagen: Auf wie viel soll die Erbschaftsteuer in etwa erhöht werden? Auf wie viel soll die Vermögensteuer erhöht werden? Wie hoch soll eine ReiOtto Fricke
chensteuer angesetzt werden? Können Sie uns sagen,
wie viel das Ihrer Meinung nach ungefähr sein soll?
({0})
Ja, das kann ich Ihnen sagen. Wir wollen vor allen
Dingen eine Vermögensabgabe einführen, um die Belastungen
({0})
- ja, ich komme darauf -, die durch die Krise entstanden
sind, einzudämmen und die Verschuldung abzutragen.
Dadurch würden die großen Vermögen pro Jahr ungefähr
10 Milliarden Euro dazu beitragen. Wir wollen den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent anheben; das macht 2 bis
3 Milliarden Euro aus. Wir wollen auch die Einnahmen
durch die Erbschaftsteuer von 4 auf 8 Milliarden Euro
verdoppeln. Das ist auch deshalb wichtig, weil die großen Vermögen in den letzten Jahren stark gewachsen
sind und auch sie einen Beitrag dazu leisten müssen,
dass wir die Haushalte gerecht konsolidieren. Darum
geht es.
({1})
Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen,
durch den die ökologische Verschuldung vergrößert
wird. In den Wortbeiträgen gibt es einige richtige Ansätze. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass das nur
Greenwashing ist, um Ihre atomfreundliche und antiökologische Politik zu verkaufen.
Ich komme jetzt zu dem Punkt ökologisch schädliche
Subventionen. Das Umweltbundesamt hat kürzlich die
Zahlen erneuert. Wir haben ökologisch schädliche Subventionen in Höhe von 48 Milliarden Euro, durch die wir
Klimazerstörung, Umweltzerstörung und den Verlust der
biologischen Vielfalt finanzieren. Das muss abgeschafft
werden. Unter Rot-Grün, um auf die Frage von Herrn
Toncar zurückzukommen, haben wir eine sehr mutige
ökologische Steuerreform durchgeführt, die dazu beigetragen hat, einen ökologisch-ökonomischen Umbau unserer Gesellschaft voranzutreiben. Wir haben dabei sehr
große Erfolge erzielt.
Dabei haben wir in Verhandlungen mit der Wirtschaft
auch Ausnahmen vereinbart. Wir haben jetzt erkannt,
dass diese kontraproduktiv sind. Deswegen wollen wir
sie abbauen. Wir wollten aber auch andere Subventionen
abbauen. Das ist am CDU/CSU-FDP-geführten Bundesrat gescheitert. Wir wollten unter Rot-Grün die Eigenheimzulage abschaffen und die Besteuerung von Kerosin
einführen. Das hat leider nicht funktioniert. Die CDU/
CSU hat dann zum Glück unter der Großen Koalition die
Eigenheimzulage abgeschafft. Ich fordere Sie auf: Knicken Sie bitte auch bei der Nichtbesteuerung von Kerosin im Flugverkehr ein und schaffen Sie diese endlich
ab!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, mischen Sie sich ein! Nutzen Sie das Recht
des Parlaments im Haushaltsverfahren, um Ihre Arbeit
zu machen und das einseitig unsoziale Sparpaket in ein
gerechtes Sanierungspaket umzuwandeln! Sparen Sie
bei den Subventionen! Kürzen Sie Steuervergünstigungen für Gutverdienende! Erhöhen Sie die Einnahmen
und investieren Sie in die Zukunft! Dann klappt es vielleicht auch wieder mit den 5 Prozent, liebe FDP.
Danke.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Alois
Karl das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns
heute mit dem Antrag der Fraktion der Grünen „Haushalt zukunftsfest machen - Nachhaltig sanieren - Ökologisch und sozial investieren“ befassen, dann erkennt
man viele alte Hüte, lieber Herr Kindler. Sie wollen Ihr
Heil in der Steuererhöhung suchen. Einseitig sollen die
Einkommen höher besteuert und die Vermögen besteuert
werden. Auch die Erbschaftsteuer soll erhöht werden.
Das Ehegattensplitting soll abgeschafft werden.
({0})
Kaum ein Segment wird von der Steuererhöhungsorgie
ausgenommen.
Man könnte fast sagen: Die grünen Steuerwürgeengel
gehen um.
({1})
Die staatliche Eingriffspolitik führt zu mehr staatlicher
Bevormundung und weniger Freiheit. Der Staat soll kassieren, und es soll nach sozialistischem Muster umverteilt werden.
({2})
Das ist eine rückwärtsgewandte, altmodische Politik.
Wir stellen ihr unsere eigenen klaren Vorstellungen gegenüber. Unsere Politik verzichtet auf direkte Steuererhöhungen. Wir legen den Schwerpunkt auf die Konsolidierung und auf den Abbau von Subventionen. Wir
suchen eine gerechte Verteilung der Lasten. Darüber
streiten wir.
Meine Damen und Herren, wenn die Wirtschaft um
etwa 5 Milliarden Euro und der soziale Bereich um
5 Milliarden Euro zusätzlich belastet werden - von letzterem müssen wir aber die 2 Milliarden Euro abziehen,
die zusätzlich als Zuschüsse zur GKV vorgesehen sind und im öffentlichen Dienst und in anderen Bereichen
3 Milliarden Euro eingespart werden, dann ist in der Tat
eine soziale Ausgewogenheit gegeben.
Die Menschen draußen im Lande wollen Verschiedenes: Sie wollen solide Staatsfinanzen. Sie wollen einen
ausgeglichenen Haushalt, und sie wollen, dass die Währung stabil ist. Darauf haben wir uns verständigt, und das
sind Grundpfeiler unserer Politik in dieser Koalition.
Wir wissen, dass wir uns auf einen steinigen Weg gemacht haben. Aber wir wissen auch - das ist bereits gesagt worden -, dass in diesem Land über 40 Jahre lang
mehr Geld ausgegeben als eingenommen worden ist.
Seit 1969 beschreiten wir einen Weg in den sogenannten
Wohlstandsstaat. Es ist nicht länger zu verantworten,
dass wir etwa 20 Prozent unseres Bundeshaushaltes für
den Schuldendienst ausgeben. Es ist geradezu unglaublich, dass der Bundesfinanzminister jeden Tag 100 Millionen Euro für Zinszahlungen aufgrund der Schuldenpolitik in diesem Lande in den letzten 40 Jahren ausgibt.
Ich kann uns nicht zumuten und ich kann auch nicht
draußen vertreten, dass wir unseren Wohlstand heute
weiterhin dadurch sichern, dass wir Schulden für unsere
Kinder und Kindeskinder machen, die diese dann in Jahren und Jahrzehnten abbauen müssen.
({3})
Was könnten wir heute mit dem Geld, das zur Schuldentilgung verwendet wird, an Zukunftsinvestitionen tätigen? Wir könnten Steuern problemlos senken. In der Bildungs- und in der Forschungsarbeit könnten wir
geradezu alle Wünsche erfüllen, wenn wir nicht diese
Schuldendienste zu leisten hätten.
({4})
Ich komme aus der Kommunalpolitik, Frau
Hagedorn. Ich hatte dort die Gelegenheit, Haushalte zu
führen, die ausgeglichen waren. Es gibt einem eine unglaubliche Freiheit, wenn man 99,7 Prozent der Einnahmen für anderes als für Schuldendienst verwenden kann.
Ich möchte erleben, dass in diesem Land auch die Finanzminister und die Parlamente wieder die Freiheit bekommen, mit den Einnahmen umzugehen, Investitionen
zu tätigen und nicht die Schulden zu tilgen, die vor Jahren und Jahrzehnten gemacht worden sind, um den
Wohlstand damals und den Wohlstand heute mit Geld zu
finanzieren, das wir nicht haben.
({5})
Unsere Politik ist eine Politik, die auf die Zukunft unserer jungen Leute gerichtet ist. Ich bin der Bundesregierung und auch unseren Koalitionsfraktionen dankbar,
dass wir diesen Weg, der nicht einfach sein wird - ich
habe es gesagt -, beschreiten wollen.
Haushaltskonsolidierung schränkt die Menschen
und die Politik nicht ein. Im Gegenteil: Sie gibt uns Perspektiven für die nächsten Jahre, und sie gibt uns Freiheit zurück. Wir sind auf einem guten Weg. Steinbrück
hat vor einem Jahr einen Haushaltsentwurf mit 86 Milliarden Euro Neuverschuldung vorgelegt. Schäuble hat
im Herbst im zweiten Haushaltsentwurf die Neuverschuldung auf 85 Milliarden Euro festgelegt. Tatsächlich
wird dieses Haushaltsjahr mit einer Neuverschuldung
von 65 Milliarden Euro abgeschlossen. Das ist viel, immer noch zu viel; aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Diesen richtigen Weg werden wir fortsetzen, auch wenn
wir dabei von der Opposition keine Unterstützung erhalten werden.
({6})
Herr Kahrs hat vorhin gesagt, acht Monate lang habe
er hier gar nichts erlebt. Ich sage Ihnen eines, lieber Herr
Kahrs: Wir haben in den letzten acht Monaten erlebt,
dass wir hervorragend aus dieser Wirtschaftskrise herausgekommen sind.
({7})
Wir haben erlebt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze in
einer Weise angewachsen ist, wie wir es eigentlich gar
nicht erwartet hätten.
({8})
Wir haben erlebt, dass die Arbeitslosenzahlen zurückgegangen sind, in einer Weise, wie wir uns das erwünscht
und erträumt hätten, wie wir es aber nicht erwarten
konnten. Wir haben heuer, wahrscheinlich im Herbst,
weniger als 3 Millionen Arbeitslose.
({9})
Unter Schröder und Joschka Fischer, liebe Frau
Hagedorn, gab es mehr als 5 Millionen Arbeitslose.
Das war die Schlussbilanz Ihrer Regierungszeit. Hätten
Sie damals unsere Erfolge gehabt, hätten Sie Dankprozessionen veranstaltet, aber Sie hätten nicht in der Weise
gesprochen, wie Sie es heute tun. Das, was ich angesprochen habe, ist - ich möchte das in Erinnerung rufen, Herr
Kahrs - eine Entwicklung der letzten acht Monate.
Meine Damen und Herren, auch der Bundesverkehrsminister investiert. Wir werden seine Mittel für Investitionen in dieser kritischen Zeit nicht streichen. Wir
investieren in unsere Kinder. Wir investieren in die Bildung und in die Forschung. Wir werden hierfür 12 Milliarden Euro mehr ausgeben.
Es ist vieles gesagt worden über die Konsolidierungsmaßnahmen, über die Brennelementesteuer genauso wie
über die Vergünstigung bei der Energiesteuer, die zurückgenommen wird. Der Sozialhaushalt hat am Bundeshaushalt einen Anteil von 54 Prozent; auch das ist gesagt worden.
({10})
Vor 20 Jahren, bei der deutschen Wiedervereinigung, betrug der Haushaltsansatz für Soziales 34 Prozent. In
solch einer Situation zu sagen, dass an den Ärmsten gespart wird - so wird es bei den Grünen gemacht -, ist ein
völlig falscher Ansatz.
({11})
Ich sage Ihnen eines: Wer eine verkehrte Bestandsaufnahme vornimmt, der kann auch nicht die richtigen
Schlussfolgerungen ziehen. Wer so an die Haushaltskonsolidierung herangeht, hat keine Chance. Wir werden die
Haushaltskonsolidierung in der von uns beschriebenen
Weise fortsetzen. Ich glaube, wir sind auf einem guten
Weg. Wir werden uns davon auch durch den Antrag der
Grünen in gar keiner Weise abbringen lassen.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Am nächsten Mittwoch wird das Kabinett den Entwurf des Bundeshaushalts verabschieden. Als ich den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zum Haushalt gesehen habe, habe ich mich
zunächst einmal sehr gefreut; denn es ist eine Alternative, mit der man sich auseinandersetzen kann. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen im Herbst werden wir uns damit intensiv im Haushaltsausschuss
beschäftigen.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte - ich meine
nicht nur diesen Tagesordnungspunkt, sondern auch die
Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung beim vorherigen Tagesordnungspunkt - möchte ich nicht alle Argumente, die schon ausgetauscht worden sind, wiederholen. Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren:
erstens auf die Generationengerechtigkeit, zweitens auf
die soziale Gerechtigkeit, drittens auf die Position, die
Sie, Herr Poß, und auch andere im Hinblick auf die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland und die Rolle
von Frau Merkel in Europa und beim Gipfel der G 20 in
Toronto vertreten.
Bei den Sparbemühungen, bei der Aufstellung des
Haushalts und der Benennung der Eckwerte sowie bei
den Debatten über das Verhalten der Bundesregierung
gegenüber Griechenland und auf dem Gipfel in Toronto
bildete das starke Bewusstsein, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine veränderte demografische
Entwicklung haben, den Ausgangspunkt. Dieser Gedanke ist Triebfeder; er steht allem Handeln voran.
Frau Andreae von den Grünen hat vorhin in ihrer
Rede gesagt, dass das Wort „Generationengerechtigkeit“
eines der Worte sei, die sie in den letzten Monaten vermisst habe. Für uns, die christlich-liberale Koalition, ist
die Generationengerechtigkeit die entscheidende Frage
in der Haushaltspolitik. Bei uns geht es eben nicht um
Verteilungsgerechtigkeit, sondern um echte Chancengerechtigkeit, damit auch zukünftige Generationen die
Möglichkeiten haben, ihre politischen Schwerpunkte zu
setzen und ihre politischen Entscheidungen zu treffen.
({0})
Wir wollen nicht, dass unseren Kindern und Enkelkindern die Möglichkeit genommen wird, die Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit zu bestehen. Deshalb ist der
Aspekt der Generationengerechtigkeit bei uns der Maßstab allen Handelns. Da haben Frau Andreae und viele
andere wohl nicht richtig zugehört.
Zum Zweiten möchte ich auf das Thema soziale Gerechtigkeit kommen. Ich möchte drei Personen anführen, bei denen man sich vielleicht erst wundert. Der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel - Herr Poß ist leider
nicht mehr da; vielleicht trägt es Herr Schneider an ihn
weiter -, hat im April des Jahres 2010 den GustavHeinemann-Preis verliehen. Er hat zusammen mit dem
stellvertretenden Vorsitzenden der SPD sehr lobende
Worte für einen Sozialdemokraten gefunden. Sie haben
gesagt, dass die Berliner SPD und die Bundes-SPD auf
diesen Sozialdemokraten sehr stolz sein können, weil er
auch für die eigenen Leute unbequeme Wahrheiten auf
den Punkt bringe und sie ausspreche. Ich möchte aus einem Artikel über diesen Preisträger zitieren:
Dennoch stieß das Sparpaket in Berlin nicht nur auf
harsche Kritik. Neuköllns Bezirksbürgermeister,
Heinz Buschkowsky ({1}),
- der Preisträger hält die Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IVEmpfänger für richtig. Damit werde die Grundsicherung nicht angetastet. Das Sozialsystem stoße
an seine Grenzen, weil immer weniger Menschen
einzahlten …
Weil immer weniger Menschen einzahlten, müsse es
auch eine Gerechtigkeit für andere geben. Weiter heißt
es in dem Artikel: Wer hier spare, mache sich immer unbeliebt. Das Sparen sei aber notwendig. - Ich teile die
Aussagen Ihres Preisträgers.
({2})
Der dritte Punkt umfasst den Gipfel in Toronto und
die Position der Bundesregierung mit Blick auf Griechenland. Wir haben vorhin gehört, dass unsere Bundeskanzlerin noch in der letzten Wahlperiode - so Ihre Aussagen - über großes Renommee in Europa verfügt habe.
Wir haben auch gehört, dass sie dieses Renommee in der
Debatte über Hilfen für Griechenland verspielt habe.
({3})
Wir haben von Ihnen gehört, dass die Bundeskanzlerin
mit ihrer Position isoliert gewesen sei und die Bundesregierung nicht adäquat vertreten habe.
({4})
Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir als christlichliberale Koalition sind sehr stolz auf die Positionen und
auf das Durchhalten der Bundesregierung.
({5})
Bei der Griechenlanddebatte haben wir gemerkt, dass
es richtig und wichtig war, das Augenmerk auf Haushaltskonsolidierung zu legen. Zu der Aussage, dass wir
mit unserer Position alleine dastanden: Wir konnten feststellen, dass wir für unsere Position nicht nur in ganz Europa, sondern auch auf dem G-20-Gipfel in Toronto eine
große Mehrheit bekommen haben und dass auch in Zukunft die Haushaltskonsolidierung bei den G 20 ein wesentlicher Maßstab ist.
({6})
Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus
dem Tagesspiegel beenden, der am 28. Juni schrieb: Es
ist
Merkels Verdienst
- also das Verdienst dieser Bundesregierung -,
dass die G 20 bei den Staatsfinanzen erstmals eine
gemeinsame Sprache gefunden haben …
… in Toronto hat sie eine Klarheit gezeigt, die über
den Tag hinausweist.
Ich danke Ihnen für Ihren Antrag. Ich danke Ihnen für
die Arbeit, die Sie hineingesteckt haben. Ich freue mich
auf eine gute Beratung der einzelnen Punkte im Haushaltsausschuss und auf einen abschließenden Meinungsaustausch im November oder im Dezember.
Danke schön.
({7})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2327 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 j sowie
Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än-
derungsprotokoll vom 21. Januar 2010 zum
Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem König-
reich Belgien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerungen und zur Regelung verschiedener
anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen ein-
schließlich der Gewerbesteuer und der Grund-
steuern sowie des dazugehörigen Schlusspro-
tokolls in der Fassung des Zusatzabkommens
vom 5. November 2002
- Drucksache 17/2255 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 17. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Arabi-
schen Republik Syrien zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und Verhinderung der
Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen
- Drucksache 17/2251 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 23. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Malaysia
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und
zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/2252 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab-
kommen vom 25. Januar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und der Steuerverkürzung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/2253 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 30. März 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem
Vereinigten Königreich Großbritannien und
Nordirland zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung und zur Verhinderung der Steuer-
verkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/2254 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen
- Drucksache 17/2331 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und
Sanitäreinrichtungen: Versorgung weltweit
verbessern
- Drucksache 17/2332 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Anette Kramme, Hubertus Heil
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Arbeitsmarktpolitik erfolgreich umsetzen und
ausbauen
- Drucksache 17/2321 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unabhängige Patientenberatung in Regelangebot überführen
- Drucksache 17/2322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({5}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haltung von Wildtieren im Zirkus grundsätzlich verbieten
- Drucksache 17/2146 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag bei der Reform der
Umsatzsteuer beteiligen
- Drucksache 17/2333 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
- Drucksache 17/1580 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Dabei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 n auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Undine Kurth ({9}), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten
und Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern erlassen
- Drucksachen 17/796, 17/1823 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1823, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/796 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen, dagegen die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke, enthalten hat sich die Fraktion
der SPD.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte abschaffen
- Drucksachen 17/1203, 17/2266 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Heinz Paula
Dr. Edmund Peter Geisen
Alexander Süßmair
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2266, den Antrag auf Drucksache 17/1203 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die
einbringende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD und
Linke haben sich enthalten.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 104 zu Petitionen
- Drucksache 17/2151 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 105 zu Petitionen
- Drucksache 17/2152 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 106 zu Petitionen
- Drucksache 17/2153 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat
die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 107 zu Petitionen
- Drucksache 17/2154 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
- Drucksache 17/2155 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 108 ist angenommen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung
der übrigen Fraktionen des Hauses.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 109 zu Petitionen
- Drucksache 17/2156 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt.
Die übrigen Fraktionen des Hauses haben sich dafür ausgesprochen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
- Drucksache 17/2157 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen
und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions
ausschusses ({18})
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
- Drucksache 17/2158 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und
SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
- Drucksache 17/2159 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. CDU/
CSU, FDP und SPD haben dafür gestimmt. Dagegen hat
niemand gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und die
Fraktion Die Linke haben sich enthalten.
({20})
- Entschuldigung! Beide haben dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 113 zu Petitionen
- Drucksache 17/2160 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben gestimmt CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die
Linke und die SPD. Enthalten hat sich niemand.
Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 114 zu Petitionen
- Drucksache 17/2161 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 24 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 115 zu Petitionen
- Drucksache 17/2162 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dafür
haben die Koalitionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Das Wort für den einleitenden Bericht von fünf Minuten hat der Bundesminister für Gesundheit, Herr
Dr. Philipp Rösler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Wie schon eben erwähnt, hat das
Bundeskabinett am 29. Juni einen Gesetzentwurf zur
Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen
Krankenversicherung beschlossen. Mit dem Gesetz verfolgen wir drei wesentliche Ziele: Das erste Ziel ist die
Versorgung der Patientinnen und Patienten mit den innovativsten, mit den bestmöglichen Medikamenten auch in
Zukunft. Das zweite Ziel ist es, die Arzneimittelkosten
im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung im
Griff zu behalten. Drittes Ziel ist die Sicherung von Arbeitsplätzen im Industriebereich in Deutschland.
Das erste Ziel erreichen wir dadurch, dass auch im
ersten Jahr nach Markteinführung nach wie vor die volle
und sofortige Erstattungsfähigkeit von neuen Medikamenten gewährleistet bleibt. Damit können wir sicherstellen, dass Patientinnen und Patienten im Krankheitsfall sofort den Zugang zu diesen neuen Medikamenten
erhalten können. Dennoch ist uns klar, dass es in Bezug
auf die wachsenden Arzneimittelkosten im deutschen
Gesundheitswesen bisher immer ein Problem gewesen
ist, dass die Industrie vollkommen alleine die Preise festlegen konnte und dass durch die alleinige Festlegung der
Preise und durch die Erstattungsfähigkeit im Prinzip jedes Medikament zu jedem Preis - mit den entsprechenden Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung erstattet werden musste. Diese Möglichkeit gibt es künftig, wenn überhaupt, nur für das erste Jahr.
Wir erwarten gleichzeitig, dass mit der Markteinführung ein sogenanntes Dossier hinsichtlich des Nutzens
und des Zusatznutzens vorgelegt werden muss. Die Daten hierfür können im Rahmen der Zulassungsstudien erbracht werden. Sie werden als Dossier von der Industrie
vorgelegt, jedoch nicht bewertet. Die Bewertung soll der
Gemeinsame Bundesausschuss übernehmen, gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Institutes für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Danach wird
festgelegt, welchen Nutzen oder Zusatznutzen dieses
Medikament hat.
Hat es keinen Zusatznutzen im Hinblick auf vergleichbare Medikamente, wird es automatisch in eine
Festbetragsgruppe aufgenommen bzw. ist dann nur zu
entsprechend vergleichbaren Therapiekosten bei gleichen Krankheiten erstattungsfähig. Gibt es einen Zusatznutzen, soll dieses Dossier als Grundlage für Vertragsverhandlungen dienen - das ist neu und erstmalig so -,
und zwar zwischen der Industrie auf der einen Seite und
dem Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen auf der anderen Seite, mit dem Ziel, zu Rabatten für
die gesetzliche Krankenversicherung zu kommen. Der
Listenpreis bleibt also gleich, aber für die gesetzliche
Krankenversicherung soll es künftig Rabatterleichterungen und damit auch Kostensenkungen geben.
Wir haben erreicht, dass der Preis nicht mehr alleine
von der Pharmaindustrie festgelegt werden kann, son5300
dern sich marktwirtschaftlich bildet durch Vertragsverhandlungen auf Grundlage einer wissenschaftlichen Basis, nämlich des Zusatzdossiers. Damit können wir
sicherstellen, dass die Kosten, die auch im Arzneimittelbereich dramatisch angestiegen sind, künftig besser kontrolliert werden können, als es bisher der Fall ist. Wir
können gleichzeitig sicherstellen - das habe ich eingangs
gesagt -, dass die Patientinnen und Patienten auch weiterhin mit guten und hervorragenden Medikamenten versorgt werden können.
Das dritte Ziel wird ebenfalls erreicht, nämlich die
Sicherung von Arbeitsplätzen gerade in mittelständischen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie in
Deutschland. Im Rahmen der Rabattverträge sorgen wir
auch dafür, dass künftig das Wettbewerbs- und das Kartellrecht Einfluss haben. Es soll nicht mehr möglich sein,
dass eine einzelne große Kasse oder gar der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen alleine
verhandelt und ein kleines oder mittelständisches Unternehmen dann keine Möglichkeit hat, auf gleicher
Augenhöhe im Rahmen eines fairen Wettbewerbs mitzuhalten. Die Anwendung des Wettbewerbs- und des Kartellrechts auch in diesem Bereich ist eine mittelstandsfreundliche Lösung, wie sie sich die Bundesregierung
auf die Fahnen geschrieben hat.
Ebenfalls Teil des Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes
ist die Neuregelung und Festigung der Unabhängigen
Patientenberatung. Hier gibt es bisher einen Modellversuch, der zum 31. Dezember 2010 ausläuft. Es liegt in
unserer Verantwortung - diese Aussage findet sich auch
im Koalitionsvertrag -, die Unabhängige Patientenberatung auf sichere Beine zu stellen und eine dauerhafte Lösung zu finden. Auch dies ist Teil des Entwurfs eines
Arzneimittel-Neuordnungsgesetzes.
Darüber hinaus haben wir uns vorgenommen, im Interesse aller Beteiligten Deregulierungen vorzunehmen.
Es gibt kaum einen komplexeren - um nicht zu sagen:
komplizierteren - Bereich als das deutsche Arzneimittelrecht. Hier wollen wir durch Deregulierung weitere Verbesserungen erzielen, sodass die Leistungserbringer auf
der einen Seite und die Patientinnen und Patienten auf
der anderen Seite einen Nutzen von diesem Gesetz haben. Gleiches gilt auch für die Kostenträger. In Zukunft
ist nämlich eine bessere Kostenkontrolle möglich, als es
bisher der Fall ist.
Vielen Dank. - Herr Lauterbach zur ersten Nachfrage,
bitte.
Vielen Dank. - Das Problem in Deutschland ist, dass
die Listenpreise für innovative Arzneimittel besonders
hoch sind. Sie sind höher als in den meisten anderen europäischen Ländern. Sie haben gerade eloquent dargestellt, dass Sie daran nichts ändern wollen, dass die Listenpreise also unverändert bleiben sollen. Ich verstehe,
ehrlich gesagt, nicht, weshalb der größte Abnehmer dieser Arzneimittel in Europa die höchsten Listenpreise
zahlen soll. Das ist so ähnlich, als wenn der größte Abnehmer von Fachbildschirmen - als Beispiel nenne ich
den Media Markt - den höchsten Listenpreis zahlen soll.
Wieso senken Sie nicht die Listenpreise? Das wäre doch
viel einfacher, als einen Rabatt einführen, den Sie möglicherweise gar nicht bekommen.
Es macht keinen Sinn, dass der größte Abnehmer
beim Lieferanten den höchsten Listenpreis zahlt. Der
höchste Listenpreis muss von demjenigen bezahlt werden, der die geringste Menge abnimmt. Der hohe Listenpreis in Deutschland ist das Problem. Die Listenpreise
könnten in Erwartung des Rabattes sogar steigen, sodass
das Problem, nämlich der zu hohe Listenpreis, durch Ihr
Gesetz noch verschärft würde. Denn in Erwartung des
Rabattes - unabhängig davon, ob er je gewährt wird oder
nicht - könnte es sein, dass der Hersteller den Listenpreis noch höher ansetzt, sodass wir in Zukunft nicht nur
den höchsten Listenpreis, sondern einen noch höheren
Listenpreis als vorher zahlen müssen. Der überhöhte
Preis könnte also weiter erhöht werden. Ich verstehe,
ehrlich gesagt, den gesamten Ansatz nicht.
({0})
Ich beantworte Ihre Frage so, wie ich sie verstanden
habe.
Ich will deutlich machen: In der Tat bleibt der Listenpreis erhalten. Unser Auftrag ist, etwas für die gesetzlich
Versicherten, also für die gesetzliche Krankenversicherung, zu erreichen. Das tun wir, indem wir dafür sorgen,
dass nicht der volle Listenpreis gezahlt werden muss.
Der größte Abnehmer wird von diesem Listenpreis also
gar nicht in Mitleidenschaft gezogen, sondern er wird
durch die Rabatte finanziell entlastet. Ich sage es einmal
so: Sie bekommen den Rabatt ja nicht als Tablette, sozusagen als Naturalienrabatt, in die Hand gedrückt. Das ist
der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie kritisieren ständig, dass
möglicherweise die Gefahr besteht, dass die böse Industrie im ersten Jahr mit exorbitanten Listenpreisen in den
Markt geht, in der Hoffnung, dass das erste Jahr so ertragreich ist, dass die weiteren 19 Jahre des Patentschutzes nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Die gute
Nachricht ist: Da die Listenpreise auch mit Blick auf andere Staaten gelten - die Listenpreise gelten jeweils für
ein Produkt -, können wir durch die Reimportquote - ich
glaube, diese ist zu Ihrer Zeit mit ausgebaut worden - sicherstellen, dass die Listenpreise nicht exorbitant steigen. Sonst gäbe es einen deutlichen Unterschied zwischen den deutschen Listenpreisen - Sie selber haben zu
Recht gesagt, dass die Medikamente nicht allein für den
deutschen Markt produziert werden - und den Listenpreisen in anderen europäischen Staaten.
Wie Sie wissen, gibt es die Vorgabe, dass 5 Prozent
der abgegebenen Arzneimittel in Deutschland aus Reimporten stammen müssen, sofern sie 15 Prozent oder
15 Euro Preisdifferenz zu einem ausländischen Produkt
oder einem im Ausland verkauften Produkt aufweisen.
Wenn die böse Industrie die Listenpreise in Deutschland
exorbitant in die Höhe treiben würde, dann hätte man
sehr schnell den Zustand, dass der Preis in Deutschland
eine deutlich höhere Differenz als 15 Prozent oder
15 Euro aufweisen würde. Das würde dazu führen, dass
sehr viele Medikamente aus dem Ausland importiert
würden. Dann hätte die Industrie mit faulen Eiern gehandelt. Deswegen ist das, was Sie befürchten, aus unserer
Sicht nicht zu erwarten.
Im Übrigen würde sich nach dem ersten Jahr, nachdem Verhandlungen oder sogar ein Schiedsstellenspruch
zum Tragen gekommen wären, deutlich zeigen, dass der
erste Preis überhöht gewesen wäre. Es dürfen sowieso
nur Medikamente im Rahmen der Wirtschaftlichkeit verschrieben werden. Die von Ihnen geschilderte Gefahr sehen wir also nicht. Eine Entlastung der deutschen Versicherten erreichen wir eben durch Rabatte. Deswegen
haben wir künftig in diesem Bereich Rabattverträge. Das
hat bisher noch keine andere Regierung hinbekommen.
({0})
Nächste Fragestellerin ist Frau Aschenberg-Dugnus
für die FDP.
Herr Minister, in den Eckpunkten zur Umsetzung des
Teils des Koalitionsvertrages zur Arzneimittelversorgung wurden auch Maßnahmen zur Deregulierung vereinbart. Können Sie bitte kurz darlegen, wie das im Gesetzentwurf umgesetzt worden ist?
Es gibt zwei konkrete Maßnahmen, die im Gesetzentwurf enthalten sind. Die erste Maßnahme ist die Abschaffung der Bonus-Malus-Regelung. Es gibt bisher
bestimmte Zielgrößen, die zwischen den Leistungserbringern auf der einen Seite und den Krankenkassen auf
der anderen Seite vereinbart werden. Wenn beispielsweise ein Arzt die Zielgrößen bei der Verschreibung
nicht erreicht, muss er eine Strafe zahlen. Man erhält
also einen Malus. Wenn man unter den Vorgaben bleibt,
erhält man einen Bonus. Das halten wir für überflüssig.
Ich glaube, diese Regelung ist auch nicht intensiv angewendet worden. Es macht also Sinn, sie zu streichen.
Die zweite Maßnahme ist die Abschaffung der sogenannten Zweitmeinungsregelung. Hier gilt die Regel,
dass hoch innovative Medikamente nicht von jedem Arzt
verschrieben werden können, sondern nur von Ärzten
mit einer bestimmten Ausbildung, die in dem entsprechenden Bereich auch zum Tragen gekommen ist. Wenn
ein Allgemeinmediziner solche Medikamente verschreiben will, muss er bislang zuerst die Zweitmeinung eines
Spezialisten einholen. Das halten wir für sehr bürokratisch. Wir glauben, dass sich die Leistungserbringer in
diesen Bereich einbringen können.
Eine weitere sinnvolle Maßnahme betrifft die Vereinfachung und Verschlankung von Therapiehinweisen und
-richtlinien im Rahmen des Gemeinsamen Bundesausschusses. Wir können so sicherstellen, dass wir nicht nur
neue Instrumente im Rahmen der Vertragsverhandlung
auf den Weg bringen, sondern gleichzeitig auch zu einer
Deregulierung zum Beispiel durch Streichung der eben
genannten Vorschriften kommen.
({0})
Frau Bender.
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass die Hersteller
zwecks Bewertung des Nutzens bzw. des Zusatznutzens
neuer Medikamente ein Dossier, also Unterlagen, vorlegen sollen. Solche Dossiers müssen aber erst beim Inverkehrbringen des Arzneimittels vorliegen. Das heißt, zu
dem Zeitpunkt, zu dem ein Arzneimittel verordnungsfähig ist, haben die Ärztinnen und Ärzte erst eine beschränkte Informationsbasis und wissen nichts über den
Nutzen oder den Zusatznutzen des betreffenden Medikaments. Warum schreiben Sie nicht eine Nutzenbewertung parallel zum Zulassungsprozess vor, sodass sie zum
Zeitpunkt der Zulassung tatsächlich vorliegt? Warum
muss der Hersteller erst auf Verlangen des Gemeinsamen
Bundesausschusses die notwendigen Unterlagen beibringen?
Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass es in jedem Fall durch dieses Gesetz zu einer Verbesserung gegenüber dem heutigen Zustand kommt; denn bisher müssen keinerlei Studien vorgelegt werden, weder nach drei
noch nach sechs Monaten oder nach zehn Jahren. Bisher
gibt es keine Verpflichtung, solche Nutzen- oder Zusatznutzenstudien zu erstellen. Ich möchte zunächst festhalten: Es war das erklärte Ziel dieser Koalition, dafür zu
sorgen, dass die Ärztinnen und Ärzte wissen, welche
Medikamente sie zu verordnen haben, und dass wir wissen, was unsere Patientinnen und Patienten bekommen.
Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Selbstverständlich sollen bereits im
Rahmen der Phase-III-Studien - gerne auch vorher - die
entsprechenden Daten gesammelt werden, um diese
Dossiers - also Dossiers zur Anwendbarkeit, zu Nebenwirkungen und ähnlichen Dingen - auf den Weg zu bringen. Es soll darüber hinaus auch ein Konsultationsverfahren geben, sodass der Gemeinsame Bundesausschuss
schon vorher in Kontakt mit der Industrie treten kann
- und umgekehrt -, um deutlich zu machen, dass man
noch weitere zusätzliche Daten braucht, falls diese Regelvorgaben nicht ausreichen. Dann ist es nur fair, dass
man die Industrie darüber aufklärt und sagt: Bei diesem
speziellen Medikament, bei dieser Indikation brauchen
wir noch mehr Daten als die üblichen Daten, die man im
Rahmen der Phase-III-Studien erbringen müsste.
Auch hier stellen wir sicher, dass die Industrie rechtzeitig weiß, welche Daten erbracht werden müssen, damit die ersten drei Monate sinnvoll genutzt werden können. Wir denken, dass es sinnvoll ist, der Industrie diese
Zeit zuzugestehen. Es ist kein Verlust, weil es in jedem
Fall nach wie vor eine Verbesserung zum heutigen Zustand ist. Aber die Industrie hat dann die Möglichkeit,
zumindest in den ersten drei Monaten die klinischen Erfahrungen mit dem Medikament selbst zu sammeln. Das
ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen der sofortigen
Nutzbarkeit für Patientinnen und Patienten auf der einen
Seite und der Sicherheit und Effizienz durch Nutzenoder Zusatznutzenstudien auf der anderen Seite.
Frau Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, ich
möchte auf ein anderes Thema zu sprechen kommen,
und zwar auf die Unabhängige Patientenberatung, die
Sie an dieses Arzneimittel-Neuordnungsgesetz angehängt haben. Es erschließt sich nicht unmittelbar, was
dieses Thema da eigentlich zu suchen hat.
({0})
- Aber Herr Spahn!
Wie glauben Sie, sicherstellen zu können, dass die
Beratungstätigkeit der unabhängigen Patientenberatungsstellen auch nach dem 1. Januar 2011 sichergestellt
werden kann, wo wir doch erst jetzt diesen Vorschlag auf
den Tisch bekommen? Dabei gibt es schon jetzt in den
Beratungsstellen die Situation, dass die Mietverträge
und Arbeitsverhältnisse in absehbarer Zeit auslaufen.
Erst wenn wir gegen Ende des Jahres dieses Arzneimittel-Neuordnungsgesetz mit dem Anhang zur UPD verabschiedet haben werden und es in Kraft getreten ist,
können die Krankenkassen die notwendigen Ausschreibungen vornehmen.
Mir ist eines immer noch nicht ganz klar: Herr Bahr
hat uns gesagt, es könne auch ohne gesetzliche Regelung
von den Krankenkassen gehandelt werden. Unsere Informationen sind, dass verschiedene Juristen das ganz anders bewerten und sagen, es sei höchstkritisch, wenn die
Krankenkassen jetzt schon tätig würden und ohne gesetzliche Grundlage die Fortschreibung des jetzigen Modellversuchs vornähmen. Außerdem möchte ich Sie gern
fragen, welche Idee Sie verfolgen, um die privaten Krankenversicherungen an den Kosten zu beteiligen; denn im
Gesetz haben Sie nur eine freiwillige Beteiligung vorgesehen.
Zunächst einmal freue ich mich; denn ich kann Ihren
Ausführungen entnehmen, dass Sie eine gewisse Zustimmung für die Unabhängige Patientenberatung und
unseren Gesetzentwurf signalisieren. Das finde ich
schon einmal gut.
Warum ist dieser Teil mit drin? Weil wir - ich finde,
zu Recht - gesagt haben, dass wir für Patientinnen und
Patienten in Deutschland da sein wollen. Das heißt, wir
wollen diese gute Einrichtung auch weiter verlängern.
Ich finde nichts Schlimmes daran. Wenn Sie fragen, warum es in einem Gesetz zur Arzneimittel-Neuordnung
steht, kann ich nur darauf zurückkommen, was Sie in der
Folge ausgeführt haben: In der Tat drängt die Zeit. Zum
31. Dezember 2010 läuft die bisherige vorläufige Erprobungsphase aus. Also muss man handeln, damit ab dem
1. Januar 2011 eine Unabhängige Patientenberatung in
Deutschland weiter existieren kann.
Wir bringen deswegen diesen Gesetzentwurf ein, damit wir mit Ihnen gemeinsam darüber diskutieren können und damit wir am Ende hoffentlich einen entsprechenden Gesetzentwurf beschließen können. Dann
haben die handelnden Akteure die Sicherheit, dass es
nach dem 1. Januar 2011 in der Form, wie im Gesetzentwurf beschrieben, weitergehen kann. Der Parlamentarische Staatssekretär Daniel Bahr hat im Ausschuss ausgeführt, dass es selbstverständlich möglich ist, die Verträge
auch befristet weiterzuführen, bis das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen ist, und wir dann - die Ausschreibungen sind im Gesetzentwurf enthalten - nach
den Ausschreibungen zu einer dauerhaften Einrichtung
der Unabhängigen Patientenberatung selbst kommen
können.
Im Rahmen der Unabhängigen Patientenberatung soll
es auch noch einen Beirat geben; denn die gesetzlichen
Krankenversicherungen, die diese finanzieren, sollen darauf aus unserer Sicht keinen Einfluss haben. Das wird
dann im Einvernehmen mit dem Patientenbeauftragten
geschehen, bei dem ein zusätzlicher Beirat gebildet wird.
An diesem Beirat sollen gegebenenfalls auch die privaten Krankenversicherungen beteiligt sein, aber nur dann,
wenn sie ebenfalls bereit sind, sich finanziell an der Unabhängigen Patientenberatung zu beteiligen. Wir werden
also selbstverständlich mit den Kollegen der privaten
Krankenversicherungen reden, weil ich glaube, dass
auch sie ein Interesse daran haben, dass ihre Versicherten gut informiert sind.
Das ist unser Weg. So können wir sicherstellen, dass
die gute Einrichtung der Unabhängigen Patientenberatung - die haben Sie in Ihrer Frage auch nicht kritisiert auch im nächsten Jahr erfolgreich fortbestehen kann.
({0})
Frau Volkmer, bitte.
Herr Minister, die Bundesregierung plant eine Mehrkostenregelung hinsichtlich der Rabattarzneimittel, also
Mehrkosten für die Patienten, die sich für ein nicht rabattiertes Arzneimittel entscheiden. Wie wird eine solche Regelung auf schon bestehende Rabattverträge und
auf noch abzuschließende Rabattverträge zwischen den
Krankenkassen und der pharmazeutischen Industrie wirken? Halten Sie eine solche Mehrkostenregelung als
Modell auch auf andere Leistungsbereiche - Stichwort:
Einstieg in die Kostenerstattung - für übertragbar?
Zunächst einmal soll die Mehrkostenregelung für solche Medikamente gelten, die nicht Gegenstand eines Rabattvertrages mit der jeweiligen Krankenversicherung
sind. Das führt uns zu dem Problem, das die Patientinnen und Patienten schon heute haben. Nehmen wir an,
Sie sind eine chronisch kranke Patientin und gehen in die
Apotheke. Sie haben bisher immer ein bestimmtes Medikament genutzt. Plötzlich sagt Ihnen der Apotheker: Es
tut mir leid, aber Sie können dieses Medikament nicht
mehr ohne eine entsprechende Zuzahlung bekommen
- momentan können Sie es sogar gar nicht bekommen,
auch wenn Sie eine Zuzahlung leisten wollen -, weil
Ihre Krankenkasse keinen Rabattvertrag mehr mit dem
Hersteller dieses Medikamentes hat. - Es bleibt Ihnen
dann nichts anderes übrig, als zu einem entsprechenden
Ausweichpräparat zu greifen, was medizinisch ohne
Probleme machbar ist.
Trotzdem sagen viele Patientinnen und Patienten zu
Recht, sie möchten bei ihrem Medikament bleiben, das
sie von der Wirkweise, von der Einnahme und vom Einnahmezyklus her kennen. Sie bestehen in der Apotheke
dann häufig darauf, dass sie das Medikament, das sie
bisher genutzt haben und kennen, auch weiter erhalten
können. Bisher gibt es auch bei entsprechender Bereitschaft, den Differenzbetrag zuzuzahlen, keine Möglichkeit, dieses Medikament zu erhalten. Sie müssen vielmehr das Rabattmedikament nehmen, für das ihre
Krankenkasse einen entsprechenden Rabattvertrag abgeschlossen hat.
Wir halten das aus Sicht der Patientinnen und Patienten für wenig akzeptabel. Im Gegenteil: Wir wollen hier
Wahlfreiheit erreichen. Wir wollen also die Möglichkeit
einführen, dass Sie als Patient in dieser Situation sagen
können: Auch wenn meine Krankenkasse keinen Rabattvertrag mit diesem Hersteller hat, möchte ich mein altes
Medikament haben, und ich bin auch bereit, dafür, dass
ich mein altes Medikament weiter bekommen kann, einen entsprechenden Zuschlag zu bezahlen. - Dies ist die
Mehrkostenregelung. Wir haben sie nur für diesen speziellen Bereich im Gesetz vorgesehen. Ich glaube, das ist
eine vernünftige Lösung, die es den Patientinnen und Patienten künftig gestattet, auf ihr Medikament zurückgreifen zu können.
Die Auswirkungen auf die Rabattverträge sehen wir
ganz gelassen, weil wir nicht davon ausgehen, dass jetzt
sehr viele Patientinnen und Patienten sagen: Wir möchten weiter unser altes Medikament einnehmen und sind
bereit, mehr zuzuzahlen. - Manche lassen sich auch aufklären und davon überzeugen, dass, medizinisch gesehen, auch ein anderes Medikament eingenommen werden kann. Für den Fall, dass sie trotzdem eine andere
Meinung haben - das soll es ja durchaus geben, und ich
finde, sie sollten dann eine entsprechende Wahlmöglichkeit haben -, haben sie künftig eben mehr Wahlmöglichkeiten, als das bisher der Fall war. Ich halte das für einen
guten Weg.
({0})
Herr Lotter, bitte.
Herr Minister, Wettbewerb und Wahlfreiheit sind ja
wichtige Ziele für Liberale. Können Sie bitte noch einmal erläutern, inwieweit diese Ziele in diesem Gesetzentwurf umgesetzt wurden?
({0})
Das war eine sehr inhaltsreiche Frage, weil mir dadurch die Gelegenheit gegeben wird, noch einmal in besonderer Weise auf die Qualitäten gerade dieses Gesetzentwurfes hinzuweisen.
An vielen Stellen im Gesetzentwurf finden wir die
Grundideen des fairen Wettbewerbs und der Wahlfreiheit
für Patientinnen und Patienten verwirklicht. Das fängt
beim Wettbewerb mittels der Preisgestaltung an. Dies ist
anders als bisher. Der Preis wird nicht mehr seitens der
Industrie festgelegt, weil sie ein Monopol hat, sondern
der Preis kann sich im Rahmen von Vertragsverhandlungen am Markt bilden. Das ist der wesentliche Kern dieses Gesetzentwurfes, was im Ergebnis zu enormen Einsparungen führen wird.
Die zweite Möglichkeit, zu Wettbewerb zu kommen,
sind die Rabattverhandlungen. Wir sorgen durch das
Wettbewerbs- und Kartellrecht für einen fairen Wettbewerb zwischen den Kassen auf der einen Seite und der
kleinen und mittelständischen Industrie auf der anderen
Seite, damit nicht eine der beiden Seiten womöglich eine
Marktmacht bekommt, die sie ausnutzen kann.
Der dritte Punkt ist das eben schon angesprochene
Modell der Mehrkostenregelung für Patientinnen und
Patienten. Wenn sie mehr Freiheiten bei der Auswahl ihres Medikamentes haben wollen - das ist ein grundlegendes Recht der Patientinnen und Patienten -, werden
sie diese künftig in größerem Umfang als bisher haben.
Mindestens an diesen drei großen Stellen spüren Sie
den liberalen Geist in diesem Gesetzeswerk.
Der Kollege Terpe, bitte.
Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zu den Rabattverträgen, die Sie erwarten. Wir haben gerade ein Gesetzgebungsverfahren zur Erhöhung der Zwangsrabatte
von 6 Prozent auf 16 Prozent gehabt. Wie schätzen Sie
die Möglichkeit zusätzlicher Rabatte, die Sie jetzt vorgesehen haben, bei Verhandlungen ein? Meine zweite
Frage, die ich anschließen möchte, ist: Sie wollen im Gesetz die Pflicht zur Rückzahlung von Preisdifferenzen
regeln. Sie erfolgt ab dem 13. Monat im Falle eines
Schiedsspruchs. Warum regeln Sie das nicht schon für
die ersten zwölf Monate?
Die rückwirkende Preisfestsetzung ist, auch juristisch, durchaus heikel. Nun bin ich kein Jurist; aber wir
halten es für sinnvoller, dass man erst nach dem Schiedsstellenspruch, wenn man das entsprechende Ergebnis
hat, rückwirkend für höchstens drei Monate zu einer
Preisbindung kommt. Die Möglichkeit, zu einer vertraglichen Einigung zu kommen, soll nicht bis zuletzt ausgenutzt werden, um dann festzustellen, dass man zu keinem Ergebnis kommt. Wir stellen sicher, dass es gleich
zu Beginn zu entsprechenden Vertragsverhandlungen
kommen kann. Wenn das nicht der Fall ist, soll die
Schiedsstellenlösung greifen. Ich denke, es ist vertretbar,
dass man die Preise rückwirkend für drei Monate festlegen kann. Wir haben uns dagegen entschieden, das für
das ganze Jahr zu machen.
Zu Ihrer ersten Frage: Wir haben im Zusammenhang
mit den Rabattverträgen gesehen, dass es bei den Generika teilweise zu erheblichen Preissenkungen gekommen
ist, und zwar um bis zu 50 bzw. 70 Prozent. Das ist im
hochinnovativen Bereich in dieser Form nicht zu erwarten. Das ist ein anderer Markt. Deswegen kann ich Ihnen
nicht sagen, wie viel wir uns konkret davon versprechen
und ob es über den Herstellerrabatt - wir nennen das
Herstellerrabatt, nicht Zwangsrabatt - von 16 Prozent hinaus zu weiteren Rabatten kommen kann. Es handelt
sich um eine Kombination dieser beiden Instrumente.
Der Herstellerrabatt und das Preismoratorium sind bereits im GKV-Änderungsgesetz, das vor zwei Wochen
verabschiedet worden ist, beschlossen worden. Das war
eine Maßnahme, die ordnungspolitisch durchaus strittig
diskutiert wurde.
Sie macht aber nur dann Sinn, wenn wir jetzt den
zweiten Weg über das Arzneimittel-Neuordnungsgesetz
wählen, das heute diskutiert wird. Dann hat man die
Möglichkeit, über Vertragsverhandlungen von diesem
Herstellerrabatt wegzukommen. Das ist eine gute Möglichkeit, auf der einen Seite die Einsparmaßnahmen für
die gesetzlichen Krankenversicherungen sicherzustellen
und auf der anderen Seite zu wettbewerblicheren Strukturen zu kommen. Das ist unser Ziel, zumal sich die Rabatte nicht allein in Euro-Cent bemessen sollen; im Gesetz ist vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass es zu
weiteren vertraglichen Ausgestaltungen kommen kann,
zu sogenannten Mehrwertverträgen oder Verträgen im
Rahmen der integrierten Versorgung. Man soll also umfassende Verträge schließen können.
Das hat vor allem einen Vorteil: Wenn es zu Verträgen
gekommen ist, werden die Leistungserbringer, also die
Ärztinnen und Ärzte, von der Richtgrößenprüfung ausgenommen. Die Medikamente, die unter den Vertrag fallen, sollen dann künftig nicht mehr einbezogen werden.
Das ist ein weiterer Punkt im Rahmen der Deregulierung. Die Zielsetzung der Rabattverträge betrifft auch,
aber nicht nur das rein Finanzielle.
Frau Ferner.
Herr Minister Rösler, ich möchte zum einen auf das
Thema „Mehrkosten bei rabattierten Arzneimitteln“ zurückkommen. Wenn ein Arzt das bisherige Arzneimittel
eines Patienten, das nicht unter die Rabattverträge der
Kasse des Patienten fällt, für medizinisch notwendig erachtet und dies begründet, kann er das Medikament zulasten der Krankenkasse verordnen. Insofern wäre das
eine Regelung für diejenigen, die nicht einsehen - aus
welchen Gründen auch immer, ob angeregt durch den
Arzt oder angeregt durch ein entsprechendes Verkaufsgespräch des Apothekers -, dass das rabattierte Medikament die gleiche medizinische Wirkung im Rahmen der
Therapie ihrer Krankheit hat, und dann eben etwas
draufzahlen müssen. Insofern bleibt das aber bei denen
hängen, die sich das auch leisten können. Diejenigen, die
sich das nicht leisten können, haben diese Wahlfreiheit
nicht.
Zum anderen möchte ich nachfragen, inwieweit die
bestehenden Rabattverträge, die ja darauf basieren, dass
sich die Kasse gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmen verpflichtet, eine bestimmte Menge abzunehmen - dagegen steht dann der Rabatt des Unternehmens,
das sagt, wenn ihr so viel abnehmt, dann gebe ich euch
einen entsprechenden Rabatt -, in Zukunft noch garantiert werden können. Normalerweise ist es so: Je größer
die Abnahmemenge ist, desto mehr Rabatt bekomme
ich. Wenn ich diese Abnahmemenge aber nicht mehr garantieren kann, dann wird der Rabatt wahrscheinlich geringer werden. Deshalb ist ja wohl davon auszugehen,
dass die 2,5 Milliarden Euro, die bisher durch die Rabattverträge eingespart worden sind, in Zukunft nicht
mehr zu erzielen sein werden.
Die zweite Frage hatte ich bereits in Teilen beantwortet. Wir gehen nicht davon aus, dass die Menschen jetzt
in enormer Zahl - schon gar nicht entsprechend dem gesamten Einsparvolumen von 2,5 Milliarden Euro im
Rahmen der bisherigen Rabattverträge - zur Apotheke
laufen und sagen, ich werde künftig bereit sein, mehr für
mein altes Medikament zu bezahlen, und damit - das ist
ja Ihre Befürchtung - die Gesamtrabattverträge unterlaufen. Davon gehen wir, wie gesagt, nicht aus. Im Gegenteil, es ist ja auch Aufgabe und das explizite Ziel von
Apotheken, über die unterschiedlichen Möglichkeiten
aufzuklären. Also werden sie aufklären und sagen: Sie
können natürlich bei Ihrem Medikament bleiben mit der
Möglichkeit der Zuzahlung, Sie können aber auch ein
Alternativmedikament nehmen. Dann müssen Sie nichts
zuzahlen, dann haben Sie aber ein etwas anderes Medikament. Es heißt anders, und vielleicht ist auch die Einnahmevorgabe etwas anders als bei dem Ihnen bekannten Medikament. - Es spricht ja nichts dagegen, die
Patientin, den Patienten aufzuklären.
Also nochmals: Wir gehen nicht davon aus, dass Rabattverträge in großen Mengen unterlaufen werden.
Ihr erster Punkt ist übrigens sehr spannend. Das zeigt
offensichtlich die unterschiedliche Sichtweise von Ihnen
und uns bezüglich der Rechte und der Mitwirkungsmöglichkeiten von Patientinnen und Patienten, wenn man
vom Bild eines selbstbestimmten Patienten ausgeht. Sie
haben zwar völlig recht, dass der Arzt natürlich schon
heute durch das Ankreuzen bestimmter Felder auf dem
Rezept die Möglichkeit hat, dem Patienten aus medizinisch notwendigen Gründen andere Medikamente zu
verschreiben als die Rabattvertragsmedikamente. Diese
Möglichkeit stellen wir auch nicht infrage. Das ist Punkt
eins.
Aber es ist die Sichtweise des Arztes, wenn er aus
medizinischen Gründen ein anderes Medikament weiter
vorgibt.
({0})
Aber die Patientin und der Patient haben auch Rechte,
jedenfalls nach unserer Sichtweise. Sie sind aufgeklärt
und können selbstbestimmt entscheiden, ob sie ein anderes Medikament haben wollen oder nicht. Selbstverständlich müssen sie dann, wenn sie sich außerhalb der
Rabattverträge bewegen, mehr bezahlen.
({1})
Aber sie haben die Wahlmöglichkeit.
({2})
Diese Wahlmöglichkeit haben sie momentan nicht, Frau
Ferner. Sie müssen sie ja nicht nutzen. Ich verstehe
nicht, warum Sie sich hier gegen die Freiheitsrechte von
Patientinnen und Patienten so vehement aussprechen.
({3})
Herr Weinberg, bitte.
Herr Minister, die vorgesehenen Regelungen zu Einsparungen betreffen ja in erster Linie den Erstattungspreis im Bereich der ambulanten Versorgung, nicht aber
den Krankenhaussektor. Dort erfolgen Abrechnung, Erstattung und Preisgestaltung anders.
Wie steht die Bundesregierung zu der Befürchtung,
dass die Hersteller wegen eventueller Rabatte im ambulanten Versorgungssektor zur Kompensation höhere
Preise im stationären Bereich verlangen werden und
letztlich die Einsparungen unter dem Strich geringer ausfallen können? Plant die Bundesregierung auch für den
stationären Bereich Regelungen?
Zunächst einmal ist es, glaube ich, ein guter Weg, bevor man sich neue Maßnahmen vornimmt, erst einmal zu
sehen, wie die jetzt geplanten Maßnahmen dann, wenn
sie in Kraft getreten sind, wirken. Aber in der Tat ist es
häufig so, dass Regeln, die geschaffen werden, zu Ausweichbewegungen führen. Dann besteht die Gefahr, dass
man gleich wiederum neue Regeln auf den Weg bringt.
Selbstverständlich schauen wir uns an, wie sich die
Preise in allen anderen Bereichen entwickeln, weil es natürlich die Möglichkeit gibt, dass man einen Verlust, den
man auf der einen Seite hat - im ambulanten Bereich, im
Bereich der GKV -, durch Kompensation in anderen Bereichen versucht „zurückzuholen“. Unser Ziel ist, insgesamt zu Einsparungen im Bereich der GKV zu kommen.
Sie können sicher sein, dass wir die Situation sehr genau
beobachten werden. Sollte es zu einer Kompensation
kommen, dann müssten Gesetzgeber und Bundesregierung gemeinsam handeln. Das würden wir in jedem Fall
auch tun.
Ich will hier noch auf etwas hinweisen, auch wenn
das nicht explizit Teil Ihrer Frage war. Aufseiten der
Koalitionsfraktionen wird zu Recht darüber diskutiert,
wie man Teile dieses Gesetzentwurfes auch auf den Bereich der privaten Krankenversicherung übertragen
kann; denn es kann ja sein, dass solche Kompensationsmöglichkeiten, wie Sie sie im stationären Bereich sehen,
auch im Bereich der privaten Krankenversicherung gesucht werden. Beides gilt es aus meiner Sicht zu verhindern.
({0})
Frau Klein-Schmeink, bitte.
Herr Minister, Sie unternehmen mit dem Gesetzentwurf den Versuch, im Arzneimittelmarkt mehr Regulierungsregelungen, gerade bei der Preisgestaltung, einzuziehen. Im europäischen Umfeld hat man dafür die
Positivliste. Man versucht so, das Ganze zu begrenzen.
Sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Patienten legt
man eine Liste vor, die Qualität und Transparenz miteinander verbindet. Haben Sie ein solches Vorgehen nicht
geprüft? Warum haben wir in Deutschland 40 000 zugelassene Medikamente, während es in anderen europäischen Ländern sehr viel weniger gibt? Haben Sie nicht
die Notwendigkeit gesehen, da einzugreifen?
In der Tat gibt es viele Medikamente. Ich will ausdrücklich festhalten, dass wir es sehr positiv finden, dass
es viele Medikamente gibt; denn Sinn und Zweck ist ja,
mit Medikamenten Menschen in Krankheit und Not zu
helfen.
({0})
Wir würden uns nicht anmaßen, von vornherein zu sagen, was gut ist und was nicht gut ist, was in dieser Liste
erscheinen und was in dieser Liste nicht erscheinen soll.
Wir wollen den Menschen in Deutschland Zugang zu
den bestmöglichen wirksamen Medikamenten und auch
zu Innovationen in diesem Bereich bieten. Solche Positivlisten sind bekanntermaßen sehr innovationsfeindlich.
Es muss aber zu Innovationen, zu Neuerungen kommen.
Bis die sich auf einer Positivliste wiederfinden, geht
meist sehr viel Zeit ins Land. Das wäre zum Nachteil der
Patientinnen und Patienten. Deswegen haben wir uns für
einen anderen Weg entschieden.
Ich sage es noch einmal: Wir sind davon überzeugt,
dass wir die richtige Balance zwischen Innovationsfähigkeit auf der einen Seite und Kostenkontrolle auf der
anderen Seite gefunden haben. Bei der reinen Positivliste hat man nur die Kostenkontrolle im Blick, aber leider nicht die Interessen der Patientinnen und Patienten.
({1})
Die letzte Frage, die in unser Zeitbudget passt, ist die
von Frau Reimann.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Minister, in Ihrem
Gesetzentwurf sehen Sie eine umfassende Geltung des
Kartellrechts für den Gesundheitsbereich vor. Ich
möchte fragen: Welche Konsequenzen erwarten Sie daraus auf Vertragsbeziehungen, auf die gemeinsamen Verträge von Leistungserbringern, auf die im Gesetz eigentlich vorgeschriebenen Verträge zur Zusammenarbeit
zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, auf
den Gemeinsamen Bundesausschuss und auch auf die
Rabattverträge?
Ziel ist insbesondere, das Wettbewerbs- und Kartellrecht bei Rabattverträgen zur Anwendung zu bringen.
Wir gehen davon aus, dass wir damit verhindern, dass
eine Seite ihre Marktmacht zu einer Monopolstellung
ausbaut und damit fairen Wettbewerb verhindert. Einzelne Kassen verhandeln schon mit kleinen mittelständischen Unternehmen. Teilweise haben große Kassen regional bereits ein Monopol. Für kleine mittelständische
Unternehmen wird es dann schwierig, in einem solchen
Bereich überhaupt noch Fuß zu fassen, weil es de facto
keinen echten Wettbewerb der Kostenträger untereinander mehr gibt.
Das wollen wir durch diese Maßnahme verhindern.
Wir wollen das gezielt auf die Rabattverträge anwenden.
Von daher gehen wir nicht davon aus, dass zum Beispiel
die Integrierten Versorgungsverträge zwischen Leistungserbringern, Kostenträgern und, wenn das zum Tragen kommt, Industrieherstellern in Mitleidenschaft
gezogen werden. Unser Ziel ist, dass für die Rabattverträge, die wir selber ausdrücklich nicht infrage stellen,
faire Wettbewerbsregeln gelten; denn auch hier besteht
die richtige Balance zwischen Kostenkontrolle auf der
einen Seite - die 2,5 Milliarden Euro wurden schon angesprochen - und fairem Wettbewerb auf der anderen
Seite. Daran zeigt sich die Mittelstandsfreundlichkeit
dieser Regierungskoalition.
({0})
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/2285, 17/2323 Ich möchte darauf hinweisen, dass für die Fragestunde heute nur eine Stunde angesetzt ist.
Wir beginnen gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für
die Fragestunde mit der dringlichen Frage auf Drucksache 17/2323 zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage des Kollegen HansChristian Ströbele auf:
Inwieweit treffen aktuelle Medienberichte zu ({0}), wonach der von deutschen Ermittlern gesuchte deutsche Staatsbürger Rami M. sich am 21. Juni 2010
in Pakistan in der deutschen Botschaft Islamabad habe stellen
und nach Deutschland zurückkehren wollen, die Botschaft
ihm dafür einen Passierschein ausstellte mit der Bitte um allseitige behördliche Unterstützung, jedoch das Bundeskriminalamt, BKA - nach einem Disput zwischen Auswärtigem
Amt sowie dem Bundesministerium des Innern -, seine Erkenntnisse zu dem Deutschen an die pakistanische Polizei
übermittelte und ihn auf dem Hinweg zu dem Besuch der
deutschen Botschaft durch die berüchtigte pakistanische Polizei festnehmen ließ, wie diese bestätigte, und teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine solche Datenübermittlung
des BKA an die pakistanische Polizei schon mangels hinreichender Rechtsgrundlage ({1}) rechtswidrig wäre und den deutschen
Staatsangehörigen ohne Not und weitgehend schutzlos einer
ungewissen Haft ausliefern würde, wo ihm Folter durch den
pakistanischen Geheimdienst droht?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte.
Der Bundesregierung liegen keine bestätigten Informationen zur Festnahme eines deutschen Staatsangehörigen namens Rami M. vor, der in Waziristan verkleidet
und schwer bewaffnet durch das pakistanische Militär
festgenommen worden sein soll. Das Auswärtige Amt
bemüht sich derzeit um Aufklärung.
Herr Ströbele, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, liegen denn der Bundesregierung
Informationen darüber vor, dass das Auswärtige Amt mit
dem Fall zu tun hatte, dass dieser Herr - er wurde in
meiner Frage angesprochen - mit der deutschen Botschaft Kontakt aufgenommen hatte und sich am 21. Juni
in der deutschen Botschaft seine Papiere abholen wollte
- das war fest vereinbart -, um nach Deutschland zurückzukehren und sich hier den Behörden zu stellen?
Haben Sie das mit dem Kollegen Stadler, der neben
Ihnen sitzt, insbesondere auch deshalb intensiv besproHans-Christian Ströbele
chen, weil sich der Kollege Stadler als Mitkombattant im
Untersuchungsausschuss zur BND-Affäre seinerzeit in
einer Pressekonferenz in dem parallel gelagerten Fall
Zammar sehr drastisch dahin gehend geäußert hat, dass
es unzulässig sei, wenn das Bundeskriminalamt Daten
an ausländische Dienste weitergebe und diese dann zum
Nachteil eines deutschen Staatsbürgers dazu führen
könnten, dass dieser in ein Foltergefängnis kommt?
({0})
Welche Daten unter welchen Umständen übermittelt
werden dürfen, ist geregelt. Daran müssen sich natürlich
die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere auch
das BKA, halten.
Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
führt gegen mehrere Beschuldigte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer
ausländischen terroristischen Vereinigung, der Islamischen Bewegung Usbekistan, durch, darunter auch gegen einen deutsch-syrischen Doppelstaatler namens
Rami M., die Person, die Sie in Ihrer Anfrage gemeint
haben.
Die Bundesregierung nimmt zu laufenden Ermittlungsverfahren aus grundsätzlichen Erwägungen keine
Stellung. Eine Stellungnahme könnte weiter gehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln.
Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zu diesem
ganz konkreten Fall nichts sagen kann. Er wird aber Gegenstand der nächsten Sitzung des Parlamentarischen
Kontrollgremiums sein. Da wird darüber sicherlich ausführlich berichtet werden.
Sie haben noch eine weitere Nachfrage? - Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, können Sie denn bestätigen, dass
das Bundeskriminalamt in diesem Fall Informationen an
die pakistanischen Behörden, insbesondere an die dortige Polizei oder andere Sicherheitsbehörden, wie zum
Beispiel den berüchtigten pakistanischen Geheimdienst,
über diesen deutschen Staatsbürger gegeben hat und dass
dies, wenn es denn geschehen ist, mit § 14 Abs. 7 letzter
Satz des Bundeskriminalamtgesetzes nicht zu vereinbaren ist, weil danach die Übermittlung von Daten dann zu
unterbleiben hat, wenn schutzwürdige Interessen des Betroffenen dem entgegenstehen? Das ist hier zweifellos
der Fall.
Die von Ihnen angesprochene Vorschrift sieht vor,
dass Daten natürlich dann übermittelt werden dürfen,
wenn dies zur Abwehr von Gefahren erforderlich ist.
Wenn beispielsweise schwere Gefahren für Mitglieder
der Botschaft drohten, dann dürften Daten, die zur Abwehr dieser Gefahren notwendig sind, selbstverständlich
auch übermittelt werden. Es muss im Einzelfall genau
abgewogen werden, inwieweit einerseits die berechtigten Interessen desjenigen, dessen Daten übermittelt werden, beeinträchtigt werden bzw. der Datenschutz gewährleistet ist und andererseits die schutzwürdigen
Interessen derjenigen, die in Gefahr sind, gewahrt werden können.
Herr Kollege Wieland, Sie haben noch eine Nachfrage dazu.
Herr Staatssekretär, da ich ja nun nicht den Vorteil
habe, im Parlamentarischen Kontrollgremium zu sitzen,
und der Kollege Ströbele mich nach wie vor nicht darüber informieren darf, was dort besprochen wird, nun
noch einmal ganz konkret gefragt: Laut eines Berichts
des Spiegel von dieser Woche werfen Angehörige dieses
offenbar inhaftierten deutsch-syrischen Staatsbürgers der
Bundesregierung, insbesondere dem Bundesinnenministerium, vor, diesen Menschen an den pakistanischen Geheimdienst bzw. an die pakistanischen Innenbehörden
sozusagen verpfiffen zu haben. Die Frage ist: Trifft das
zu? Und vor allen Dingen: Trifft die Meldung zu, dass es
über diesen Umstand, ob man Informationen an die pakistanischen Sicherheitsbehörden geben soll, eine Kontroverse zwischen Auswärtigem Amt, Ihrem Ministerium und möglicherweise auch dem Justizministerium
- der Kollege Stadler war ja schon angesprochen - gegeben hat? Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an
eine CDU-Abgeordnete, die seinerzeit noch Kristina
Köhler hieß, die derartige Datenweitergaben sehr kritisch kommentiert und begleitet hat.
Kurzum: Wir alle haben seinerzeit gesagt, das, was im
Fall „Zammar“ geschehen ist, ist sehr kritisch zu sehen.
Es steht im Raum, dass es sich bei diesem Fall um einen
zweiten Fall „Zammar“ handeln könnte. Deshalb frage
ich Sie: Glauben Sie wirklich, dass die Auskunft: „Wir
sagen nichts, solange das ein schwebendes Verfahren
ist“, trägt und dass damit die Besorgnis aus der Welt geräumt werden kann?
Da ich jetzt zum ganz konkreten Fall nichts sagen
kann, kann ich natürlich auch Ihre Besorgnis nicht ausräumen. Das ist wohl so. Ich möchte nur, dass Sie zur
Kenntnis nehmen, dass eine Datenübermittlung nicht in
jedem Fall ausgeschlossen ist, dass eine Datenübermittlung vielmehr dann notwendig ist und die Sicherheitsbehörden hierzu sogar verpflichtet sind, wenn es darum
geht, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Darüber
sind wir uns doch alle einig. Es ist in jedem konkreten
Einzelfall abzuwägen, inwieweit die Datenübermittlung
verhältnismäßig ist, um Gefahr für Leib und Leben
abzuwenden. Wir sind uns ja auch einig, dass in dem
konkreten Fall, dass Gefahr für Leib und Leben durch
Übermittlung von Daten abzuwenden ist, eine solche
Datenübermittlung erforderlich und verhältnismäßig ist.
Damit kommen wir zu den Fragen auf Drucksache
17/2285 in der üblichen Reihenfolge.
Es handelt sich zunächst um Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Kofler auf:
Welche konkreten Projekte im Bereich des internationalen
Klimaschutzes hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, BMU, in diesem Jahr durch
die Mittel der Fast-Start-Initiative finanziert, um die Zusagen
der Kopenhagen-Konferenz zu erfüllen, und wie wird zukünftig diese Mittelzusage im Haushaltsentwurf 2011 umgesetzt?
Frau Kollegin Kofler, ich beantworte Ihre Frage zur
Fast-Start-Initiative wie folgt: Das Bundesumweltministerium wird seinen Anteil an der deutschen Fast-StartFinanzierung über die Internationale Klimaschutzinitiative, IKI - circa 110 Millionen Euro im Jahr 2010 -, und
über den neuen Haushaltstitel „Klimaschutzmaßnahmen
in Entwicklungsländern“ - das sind 35 Millionen Euro
im Jahr 2010 - bereitstellen.
Zu konkreten Projekten kann derzeit noch keine Aussage gemacht werden, da die Projektideen fachlich
geprüft und mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie dem Auswärtigen Amt abgestimmt werden. Dieser Prozess wird
voraussichtlich im August abgeschlossen. Die bereits
laufenden IKI-Projekte können Sie auf der Internetseite
der Internationalen Klimaschutzinitiative abrufen.
Das BMU wird im Zusammenhang mit der Fast-StartFinanzierung dieses Jahr zudem 10 Millionen Euro für
den UN-Anpassungsfonds im Rahmen des Kioto-Protokolls bereitstellen. Die genaue Ausgestaltung der deutschen Fast-Start-Finanzierung im Haushaltsjahr 2011 ist
Gegenstand der laufenden Haushaltsaufstellung.
Frau Kofler, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte.
Danke für die Antwort, Frau Staatssekretärin. Sie beantworten meine Frage nach den Fast-Start-Mitteln mit
der Auskunft, dass die Mittel unter anderem über die Internationale Klimaschutzinitiative, IKI, zur Verfügung
gestellt werden. Ich finde das erstaunlich; denn in Kopenhagen wurde im Jahr 2009 zugesagt, in den Jahren
2010 bis 2012 jeweils 420 Millionen Euro einzustellen.
IKI gibt es seit 2007 und war 2008 erstmals im Bundeshaushalt enthalten. Stimmen Sie mit mir darin überein,
dass das eine Umschichtung von bereits vorhandenen
Mitteln ist, also alter Wein in neuen Schläuchen, und
nicht das, was versprochen wurde, nämlich zusätzliche
Mittel für Klimaschutzmaßnahmen in Entwicklungsländern? Wie bewerten Sie die mittlerweile im Raum stehenden Aussagen, nach denen die Mittel, die eingestellt
wurden unter dem Titel „Klimaschutz in Entwicklungsländern“, der im Haushalt 2010 das erste Mal aufgeführt
wurde - das waren nur 35 Millionen Euro -, im nächsten
Haushalt auf null gesetzt werden sollen und mit Buchhaltungstricks beim Climate Investment Fund ausgeglichen werden sollen?
Frau Kollegin, ich würde Ihnen gerne die Struktur erklären, Ihnen sagen, wie wir unsere Fast-Start-Finanzierung ernst nehmen, wahrnehmen und umsetzen wollen.
In der Tat hat sich die Weltgemeinschaft, darin die Europäische Union und selbstverständlich auch Deutschland,
im Rahmen des Kopenhagen-Accords, der ein Ergebnis
der Klimaverhandlungen von Kopenhagen war, zur Finanzierung verpflichtet. Deutschland hat sich verpflichtet, die von Ihnen eben erwähnten 420 Millionen Euro
durchschnittlich pro Jahr zu übernehmen; das ist unser
Beitrag. Wir werden unter anderem im Bereich „Waldschutz, Wiederaufforstung, nachhaltiges Waldmanagement“ investieren. IKI ist Teil der deutschen Fast-StartInitiative. Jährlich stehen 120 Millionen Euro für die IKI
zur Verfügung.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der Mechanismus,
den wir gewählt haben - Versteigerung von Emissionszertifikaten -, weltweit einmalig ist. In Kopenhagen ist
mehrfach positiv erwähnt worden, dass Deutschland das
einzige Land ist, das einen direkten Zusammenhang zwischen der Reduktion von CO2-Emissionen und innovativen Finanzierungsmechanismen bzw. Investitionen in
Klimaschutz herstellen kann. Das ist in Kopenhagen und
darüber hinaus sehr gelobt worden.
Dass wir erfolgreich sind, zeigt sich allein daran, dass
uns für das Jahr 2010 500 Projektskizzen vorlagen. Sie
werden zurzeit bewertet. 60 Projekte sind momentan in
der Vorauswahl. Ich finde, das zeigt den Erfolg dieser
Initiative. Das Angebot, das wir über die Fast-Start-Initiative machen, ist erfolgreich, transparent und wettbewerbsorientiert. Außerdem orientiert es sich am internationalen Klimaschutz.
Bevor Frau Kofler ihre zweite Nachfrage stellt, habe
ich zwei weitere Fragende, zunächst Herrn Ott.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, herzlichen Glückwunsch zum knappen Sieg gestern
bei der Bundespräsidentenwahl. Wie komme ich darauf?
Die fast missglückte Wahl ist ja nicht das einzige Gurkenspiel Ihrer Mannschaft, das wir in der letzten Zeit gesehen haben. Ein weiteres Feld ist die Klimapolitik, bei
der Zusagen, die die Bundeskanzlerin und die BundesDr. Hermann Ott
regierung insgesamt gemacht haben - auch Ihr Ministerium und das Ministerium des Kollegen Niebel -, Schritt
für Schritt zurückgenommen werden: von einmal versprochenen 420 Millionen Euro pro Jahr für die Jahre
2010 bis 2012 runter auf 70 Millionen Euro. Jetzt soll
das, wenn man den Meldungen des Spiegel glauben darf,
auf null gesetzt werden.
Meine Frage lautet deshalb: Kämpfen Sie, kämpft das
Bundesministerium für Umwelt dafür, dass zumindest
diese geringen Mittel in Höhe von 70 Millionen Euro für
die Jahre 2011 und 2012 zusätzlich in den Haushalt eingestellt werden? Es gab, wie uns zu Ohren gekommen
ist, schon internationale Interventionen aus Ländern des
Südens, die deutlich machen, dass Deutschland dabei ist,
sein Renommee zu verspielen.
Vielen Dank für die Glückwünsche, die ich Christian
Wulff und nicht mir persönlich zurechne. Aber ich
nehme sie gern entgegen, Herr Kollege.
Zu unseren Verpflichtungen: Wir nehmen sie nicht
nur ernst, sondern wir wollen und werden unseren Verpflichtungen nachkommen. Denn uns ist sehr bewusst,
dass die Glaubwürdigkeit Deutschlands und auch der
Europäischen Union bei Cancún und allen weiteren Verhandlungen davon abhängt, Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, einzuhalten. Insbesondere die Entwicklungs- und Schwellenländer schauen darauf, dass
konkrete Projekte ans Laufen kommen.
Ich glaube, die Zahlen, die ich hier nur kurz skizzieren kann, zeigen, wie attraktiv, glaubwürdig und nachgefragt die Projekte sind. Die Haushaltsverhandlungen für
das Jahr 2011 laufen. Ich kann Ihnen hiermit sagen, dass
wir alles unternehmen werden, um die Zusagen zu halten, die Haushaltsmittel tatsächlich abrufen zu können
und zur Verfügung zu stellen.
Herr Kollege Miersch.
Frau Staatssekretärin, die Kollegen haben eben schon
darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung arge Probleme damit hat, die internationalen Verpflichtungen
einzuhalten. Nun konnten wir diese Woche einer Pressemeldung entnehmen, dass Sie offenbar für den internationalen Klimaschutz Kredite geben wollen, dass Sie
einen Klimaschutzfonds einrichten wollen, der sich vor
allen Dingen an Privathaushalte in Entwicklungs- und
Schwellenländern richten soll. In der Pressemitteilung
heißt es:
Zugang zu Finanzierungsmitteln und Beratungsleistungen wird über die Hausbanken ermöglicht.
Ich frage Sie - ich denke dabei an die Entwicklungsländer -: Wäre es nicht sinnvoller, wirkliche Investitionen zu ermöglichen, statt Kredite zu vergeben? An welche Hausbanken in Entwicklungsländern denkt die
Bundesregierung?
Herr Kollege, diesen Fonds haben wir bereits in Kopenhagen vorgestellt. Ich nehme an, die Kollegen, die
mitgefahren sind, werden Ihnen davon und auch von den
Reaktionen darauf berichtet haben. Das Innovative an
diesem Fonds ist, dass es sich um einen revolvierenden
Fonds handelt. Es ist also kein Fonds, bei dem die öffentlichen Mittel aufgezehrt werden, sondern ein Fonds,
bei dem die Mittel immer wieder zurückfließen.
Wir wissen, dass wir den gesamten weltweiten Bedarf
für Klimaanpassung, für den Aufbau von Kapazitäten
zum Klimaschutz, zum Ertüchtigen von Entwicklungsund Schwellenländern, in erneuerbare Energien zu investieren, allein aus staatlichen Geldern nicht decken
können und wir Private dazu brauchen. Private wiederum wollen sich absichern, wenn sie sich in Regionen
bewegen, die, vorsichtig gesagt, für sie nicht immer
übersichtlich sind; sie gehen dabei ein hohes Risiko ein,
sowohl hinsichtlich der Technologie als auch des Investments. Deshalb haben KfW und Bundesumweltministerium diesen Fonds über insgesamt 100 Millionen USDollar zusammen aufgelegt. Das BMU stellt das Eigenkapital bereit. Wir übernehmen damit auch einen Teil der
wirtschaftlichen Risiken, weil, wie ich eben erwähnt
habe, private Investoren einen Anreiz brauchen.
Wir haben gehört, dass dieser Fonds nicht nur gut ankommt, sondern auch nachgefragt wird. Zumindest haben wir nach Kopenhagen viele Anfragen dazu bekommen. Auch diese Mittel sind innerhalb der IKI, die ich
gerade erläutert habe, angesiedelt.
Wir erwarten, dass wir pro eingesetzten Euro ungefähr das Fünf- bis Sechsfache herausbekommen bzw. an
Investitionen auslösen können, wie wir es auch schon
bei Angeboten innerhalb Deutschlands, aber auch bei
anderen internationalen Angeboten umsetzen konnten.
Frau Kofler.
Ich möchte noch einmal nachfragen, weil ich die Antwort auf die Frage des Kollegen sehr ausweichend fand.
Eine Analyse der Zusagen der Kopenhagen-Konferenz
zeigt, dass alle Zusagen, die Sie in die Fast-Start-Initiative einrechnen, 2007 und 2008 gemacht bzw. in den
Haushalt eingestellt worden sind, nämlich 2008 auf dem
G-8-Gipfel in Tokio und auf der UN-Biodiversitätskonferenz und 2007 auf dem UN-Klimagipfel auf Bali. Die
einzigen beiden Positionen, die neu in den Haushalt eingestellt worden sind, sind die je 35 Millionen Euro in
den Etat des BMU und des BMZ. Stimmt es, dass diese
Mittel im Haushalt 2011 auf null gesenkt werden sollen?
Wie setzt sich das Umweltministerium dafür ein, dass
dies nicht passiert? Wie schätzen Sie die Auswirkungen
auf die Verhandlungen in Cancún ein, wenn die Mittel
auf null gesenkt werden? Dann stehen nämlich die
Glaubwürdigkeit unserer Politik und die Zuverlässigkeit
unserer Zusagen auf dem Spiel.
Frau Kollegin, ich habe gerade ausgeführt, dass die
Haushaltsverhandlungen für das Jahr 2011 laufen. Wir
werden Anfang Juli den ersten Haushaltsentwurf im Kabinett beraten, und wir setzen alles daran, dass wir unsere Zusagen einhalten können. Dass wir insgesamt in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten leben, dürfte auch der
SPD nicht entgangen sein. Wir haben gerade den Vormittag damit verbracht, über Haushaltsrisiken und die
damit verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen.
Dennoch sind wir uns unserer Verantwortung bewusst
und werden die Haushaltstitel, die mit der Fast-Start-Finanzierung zusammenhängen, mit konkreten Projekten
ausfüllen, um in Cancún glaubwürdig aufzutreten. Ich
glaube, dass es nicht nur um Haushaltstitel geht. Ich
finde, dass Sie damit die Debatte ein wenig verkürzen.
Bitte vergessen Sie nicht, dass wir auf vielen Wegen unterwegs sind, vor allem um wieder Vertrauen aufzubauen, das offenbar in Kopenhagen zerstört wurde.
Wir haben mit der Konferenz auf dem Petersberg mit
interessierten und engagierten Entwicklungsländern und
Industrieländern einen guten Aufschlag gehabt, um die
Verhandlungen für Cancún vorzubereiten. Dabei ist
nicht nur das Engagement Deutschlands gewürdigt worden, sondern wir haben auch mitgenommen: Je konkreter Initiativen und die bilaterale und trilaterale Zusammenarbeit laufen, desto überzeugender kann ein Land
wie Deutschland oder auch die Europäische Union in
Cancún auftreten und hoffentlich die Verhandlungen befruchten.
({0})
Wir kommen jetzt zu Frage 2 der Kollegin Kofler:
Wie bewertet das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Auswirkungen des Marktanreizprogramms auf Investitionen und Steuereinnahmen als
Beitrag für einen wirtschaftlichen Aufschwung, und welche
Anstrengungen unternimmt das BMU, damit das Marktanreizprogramm und die Internationale Klimaschutzinitiative im
Jahr 2011 fortgesetzt werden?
Frau Kollegin, ich möchte Ihnen wie folgt antworten:
Das Marktanreizprogramm Erneuerbare Energien setzt
Anreize zur Errichtung von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien und stützt so die Nachfrage von Privatpersonen und Unternehmen in diesem Bereich. Selbstverständlich führt das dann auch zu zusätzlichen
steuerlichen Effekten in diesen Sektoren.
Gesamtwirtschaftlich ist dabei aber zu berücksichtigen, dass dann, wenn öffentliche Mittel anderen Verwendungen entzogen werden, dies auch gegenläufige Effekte
auslöst.
Dass die Bundesregierung überzeugt ist, dass das
Marktanreizprogramm ein sinnvolles Programm ist,
zeigt sich darin, dass in dem Regierungsentwurf zum
Bundeshaushalt 2011 die Finanzierung dieses Programms und der Internationalen Klimaschutzinitiative
auf hohem Niveau fortgeführt wird.
Zu den Auswirkungen des Marktanreizprogramms
auf Steuereinnahmen liegt dem BMU keine eigene Analyse vor.
Frau Kofler, eine Nachfrage.
Ihre Formulierung „auf hohem Niveau fortgeführt“
klingt zwar schön, ist aber natürlich zu hinterfragen.
Können Sie mir bestätigen, dass für die beiden Initiativen im Etat 2011 88 Millionen Euro weniger als im
Etat 2010 zur Verfügung stehen? Wenn Ihnen keine
Erkenntnisse über Steuereinnahmen vorliegen, wie bewerten Sie die Aussage des Ifo-Instituts zum Thema
Marktanreizprogramme, dass allein den Ländern und
Kommunen in diesem Jahr 151 Millionen Euro an Steuereinnahmen entgehen, wenn jeder zweite Auftrag wegbricht?
Frau Kollegin, Ihre Sorge wegen des Programmstopps, der verhängt werden musste, weil wir nach wie
vor eine Haushaltssperre von 115 Millionen Euro haben,
teile ich. Wir versuchen derzeit in intensiven Verhandlungen, diese Sperre aufzuheben. In der Tat stehen dann
in diesem Jahr weniger Mittel zur Verfügung als ursprünglich geplant. Die Nachfrage ist groß; das haben
Sie gerade indirekt bestätigt. In diesem Jahr haben wir
bereits 138,5 Millionen Euro für 90 000 Investitionsvorhaben ausgezahlt. Wir müssen außerdem die Förderzusagen im KfW-Programm „Erneuerbare Energien“ aus den
Vorjahren abarbeiten. Da Mittel reduziert wurden, wir
aber die Zusagen einhalten wollen, haben wir einen Programmstopp verhängt.
Noch einmal: Konkrete Zahlen steuerlicher Natur
kann ich Ihnen nicht geben. Was ich allerdings feststelle,
ist eine nach wie vor rege Aktivität bei Handwerksbetrieben, nicht nur aufgrund des Marktanreizprogramms.
Diese Aktivität bezieht sich unter anderem auf den Solarbereich, etwa auf die PV-Installation.
Mir scheint, dass wir durch die Förderung erneuerbarer Energien auf verschiedenen Wegen insgesamt dafür
sorgen, dass wir auf der einen Seite einen höheren Anteil
erneuerbarer Energien haben - er steigt erfreulicherweise weiterhin - und dass wir auf der anderen Seite
sehr wohl einen Beitrag zur Förderung der Investitionen
von Handwerk und Mittelstand leisten.
({0})
Frau Kofler, Sie haben das Wort zu einer weiteren
Nachfrage.
Sie haben zum Schluss das Handwerk und den Mittelstand angesprochen. Sie haben darauf hingewiesen, dass
das Marktanreizprogramm durchaus sehr attraktiv ist.
Können Sie bestätigen, dass trotz dieser Attraktivität
eine Kürzung in diesem Haushaltstitel vorgesehen ist?
Wie bewerten Sie die Aussagen zahlreicher Handwerksbetriebe, kleiner Unternehmen und Verbände in den verschiedensten Regionen Deutschlands, die schwere wirtschaftliche Einbußen befürchten? Ist es richtig, Mittel
für Programme zu kürzen, die ökologisch sinnvoll sind?
Frau Kollegin, wie ich gerade gesagt habe, bemühen
wir uns seit Wochen und Monaten unter tatkräftiger Mithilfe der Fachpolitiker, diese Haushaltssperre aufzuheben. Ich sage erneut, dass wir nach wie vor über den
Haushaltsentwurf 2011 verhandeln.
Herr Ott, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin der Kollegin
Kofler sehr dankbar, dass sie die Frage nach den steuerlichen Wirkungen der Streichung des Marktanreizprogramms gestellt hat. Ich bin etwas enttäuscht über die
Antwort. Die Bundesregierung ist sich überhaupt nicht
darüber im Klaren, was für negative, schädliche Folgen
ihre Handlung auf die Konjunktur hat.
Ich möchte den Blick von den Steuereinnahmen abund zu den wirtschaftlichen Aktivitäten hinwenden. Ich
sehe den Kollegen Peter Hintze aus dem Wirtschaftsministerium bei Ihnen sitzen. Mein Kollege ist er nicht
nur als MdB, sondern auch als Wuppertaler Abgeordneter. Haben Sie sich mit dem Kollegen vom Wirtschaftsministerium einmal zusammengesetzt oder haben Sie
vor, das zu tun, um die Auswirkungen der Streichungen
beim Marktanreizprogramm auf die lokale und regionale
Wirtschaft zu untersuchen?
Schätzungen gehen nämlich davon aus, dass allein der
in Wuppertal ansässigen Wirtschaft, den kleinen und
mittelständischen Unternehmen, mehrere 100 000 Euro
entgehen werden. Meine Frage ist also: Setzen Sie sich
mit dem Kollegen Hintze und anderen zusammen, um
die Auswirkungen einer Streichung des Marktanreizprogramms auf die lokale Wirtschaft zu untersuchen?
Herr Kollege, zu Ihrer Erbauung, vielleicht auch zu
Ihrem Missfallen muss ich Ihnen sagen, dass ich quasi
täglich mit Peter Hintze zusammensitze.
({0})
- Sehen Sie! Kein Neid auf den Plätzen der Opposition!
Weil wir uns gerade mit der Historie und den Entwicklungen der Zukunft beschäftigen, möchte ich einmal darauf hinweisen, dass es zur Zeit von Rot-Grün
- da gab es dieses Programm auch schon - ein ständiges
Auf und Ab gab und wir deutlich weniger Geld zur Verfügung hatten, als wir es jetzt haben. Wir haben in der
Großen Koalition gemeinsam dafür gesorgt, dass die
Mittel des MAPs verrechtlicht wurden, und wir haben
den entsprechenden Ansatz mehr als verdoppelt, infolge
guter Zertifikatserlöse sogar fast verdreifacht. Dieser
unmittelbare Zusammenhang zwischen Zertifikatserlösen und MAP war im Haushalt 2009 nicht mehr gegeben. Da hat das Umweltministerium noch unter Minister
Gabriel nicht mehr hart genug dafür gekämpft, das Geld
zu bekommen.
Das Geld für das MAP ist aber geblieben. Wir haben
dafür gesorgt, dass über einen langen Zeitraum sehr stabil sehr viel in den Klimaschutz investiert wurde. Noch
einmal: Gerade in diesem Bereich sollen die Haushaltsverhandlungen dafür sorgen, dass wir die Investitionen
stabil halten; denn wir wissen gerade aus der rot-grünen
Zeit, was ein dauerndes Auf und Ab bei Förderprogrammen für die Wirtschaft und die Investoren bedeutet.
Sie wissen auch, dass die Zertifikatspreise, die wir in
guten Zeiten ansetzen konnten - etwa 20 Euro -, in der
Rezession auf mittlerweile knapp 15 Euro gerutscht
sind. Auch da fehlt es an Geld. Das müssen und wollen
wir kompensieren; wir wollen an der Stelle Sicherheit
schaffen. Das weiß auch das Wirtschaftsministerium. Insofern verhandeln wir beim Haushalt 2011 über Finanzsicherheit. Parallel kämpfen wir beim Haushaltsausschuss und beim Finanzminister gemeinsam für die
Entsperrung der Mittel.
Jetzt der Kollege Miersch.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben davon gesprochen, dass die Bundesregierung in Kopenhagen viel Lob
geerntet habe und dass ich mir darüber von Kollegen
hätte berichten lassen können. Ich will Sie darauf hinweisen, dass ich einer der dort anwesenden Kollegen
war. Ich konnte allerdings kein Lob vernehmen, sondern
viel Entsetzen über das Agieren der Bundesrepublik
Deutschland und der Europäischen Union. Die Grundsätze des Klimaschutzes und die Glaubwürdigkeit sind
beim Marktanreizprogramm doch an eklatanter Stelle
verletzt worden. Oder würden Sie allen Handwerkern,
Handwerkspräsidenten und Unternehmen, die in den
letzten Wochen das BMU kontaktiert haben, nicht recht
geben, dass der Förderstopp eine entscheidende Investitionsbremse ist und dass alles getan werden muss, damit
sich so etwas im Haushalt 2011 nicht wiederholt?
Zum einen: Ich teile Ihre Einschätzung zu Kopenhagen nicht.
Zum zweiten - ich wiederhole mich -: Wir finden genau wie die SPD und die Grünen, dass das Marktanreizprogramm wichtig ist. Wir bedauern den jetzigen Förderstopp und arbeiten gemeinsam an der Aufhebung der
Sperre.
Herr Kollege Fell.
Frau Kollegin Staatssekretärin Reiche, ich nehme Ihre
Aussage, dass Ihnen der Haushaltsstopp beim Marktanreizprogramm Sorgen macht und Sie negative Auswirkungen befürchten, gerne zur Kenntnis. Diese negativen
Auswirkungen sind aber seit langem bekannt: Mit dem
Tag des Förderstopps waren am Markt sofort Stornierungen erfolgt. Firmen haben sich hilfesuchend an uns gewandt. Als ich einige Wochen später die Bundesregierung fragte, haben Sie mir für die Bundesregierung
schriftlich geantwortet, dass der Bundesregierung keine
Auswirkungen des Förderstopps beim Marktanreizprogramm bekannt sind. Ich frage Sie: Inwiefern sind Ihnen
inzwischen Auswirkungen bekannt? Haben Sie Zahlen,
die belegen, wie massiv der Einbruch der Nachfrage
nach Solarwärmeanlagen, Holzpelletsanlagen, Wärmepumpen und anderen Heizungsanlagen war, nachdem
diese nicht mehr durch entsprechende Programme gefördert wurden? Wie groß ist der Schaden, der durch den
Förderstopp entstanden ist?
Konkrete Zahlen über Absagen oder nicht erfolgte
Aufträge kann ich Ihnen nicht nennen. Ich habe bereits
Frau Kollegin Kofler geantwortet, dass keine konkreten
steuerlichen Daten vorliegen.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Gerd
Bollmann zum Zeitplan für die Umsetzung der EU-Abfallrahmenrichtlinie in nationales Recht. Diese Frage
wird schriftlich beantwortet.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Scheer zur regionalen Wertschöpfung und Akzeptanz von Windenergieanlagen werden ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Kollegen
Miersch auf:
Wie beurteilt das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Einigung zwischen dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten im Rahmen der
Verhandlungen über die Novelle zur IVU-Richtlinie über eine
Übergangsfrist bis Ende 2023 für veraltete Kraftwerke und
Großfeuerungsanlagen, innerhalb der diese umgerüstet oder
abgeschaltet werden müssen?
Herr Kollege Miersch, Ihre Frage nimmt offensichtlich Bezug auf Art. 33 der IVU-Richtlinie über Ausnahmen von emissionsbegrenzten Anforderungen an Großfeuerungsanlagen mit einer begrenzten Restlaufzeit. Es
handelt sich um die sogenannte Opt-out-Regelung. Im
Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 15. Februar
2010 war bereits eine entsprechende Regelung vorgesehen. Sie war aus Sicht der Bundesregierung akzeptabel,
weil sie zeitlich bis Ende 2023 und auf insgesamt
20 000 Betriebsstunden begrenzt war. Der gefundene
Kompromiss stellt gegenüber dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates aus Sicht des BMU eine Verbesserung
dar, weil die Restlaufzeit auf 17 500 Betriebsstunden begrenzt wurde.
Dazu gibt es keine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Miersch auf:
Welche Erkenntnisse hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über die Auswirkungen des seit fast 20 Jahren aus einem explodierten Bohrloch
der Firma Exxon Mobil in der Nordsee ausströmenden Methangases auf die Umwelt und das Klima, und in welcher
Weise wird dazu mit der britischen Regierung zusammengearbeitet?
Herr Kollege Miersch, ich hätte Ihnen gerne noch etwas zur EU-Richtlinie und zu den Verhandlungen erzählt. Aber ich komme zu Ihrer nächsten Frage.
({0})
- Ja, das schreibe ich Ihnen.
Ich möchte Ihnen wie folgt antworten. Vom britischen
Umweltministerium, dem Department for Environment,
Food and Rural Affairs, wurde dem Bundesumweltministerium im März 2010 auf Anfrage Folgendes mitgeteilt: Bei einer Explorationsbohrung durch Mobil Oil
wurde im November 1990 eine vergleichsweise nahe an
der Oberfläche liegende, unter hohem Druck stehende
Gasblase - shallow gas deposit - getroffen, wodurch es
zu einem Blow-out mit Bildung eines großen Kraters
kam. Versuche, das Leck zu schließen, verliefen erfolglos.
In den 1990er-Jahren hat sich der Gasausstrom so
weit reduziert, dass das Leck weder als Gefahr für die
Umwelt noch für die Schifffahrt angesehen wurde. Die
Stelle wurde aber in Seekarten mit Warnhinweisen markiert. Es gibt Hinweise, dass sich im Bereich der
Leckage eine spezielle Ökosystemstruktur ausgebildet
hat. Nach den vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, dem IFM-GEOMAR, bestätigten Informationen betrug der Gasaustritt 1994 circa 25 Prozent
des gesamten Methanausstoßes der Nordsee. Neuere
Messungen aus dem Jahr 2006 zeigten, dass vom MeParl. Staatssekretärin Katherina Reiche
thanstrom aus dem Leck circa ein Drittel an die Wasseroberfläche gelangt und zwei Drittel im Meerwasser
gelöst oder von Bakterien oxidiert werden. Dabei ist es
im Bereich des Kraters zur Ausbildung eines Ökosystems mit hochspezialisierten Bakterien, Muscheln, Blumentieren und Fischen gekommen. Die Stärke der
Quelle ist lokal erheblich. Die Auswirkungen dieser einzelnen Quelle auf das Weltklima sind eher gering.
Das Wort zu einer Nachfrage hat Herr Miersch.
Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Einschätzung,
dass wir somit auch vor der Haustür - in der Nordsee eine Situation haben, wo wir es mit einem Leck zu tun
haben - allerdings nicht mit einem Ölleck - und es mit
den technischen Möglichkeiten seit 20 Jahren nicht gelingt, es zu schließen?
Anders als im Golf von Mexiko - ich glaube, nach
dieser Parallele fragen Sie - handelt es sich hier nicht
um ein Bohrloch, sondern um einen Krater, der wohl nur
mit ganz erheblichen Schwierigkeiten zu verschließen
wäre, was in der Vergangenheit auch gescheitert ist. Von
der Leckage geht aber - anders als im Golf von Mexiko keine vergleichbare Umweltgefährdung aus. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sich verschiedene Institute das angeguckt haben. Noch einmal: Etwa ein Drittel des Methans
gelangt an die Oberfläche; zwei Drittel werden im Meerwasser gelöst bzw. von spezialisierten Bakterien, die
sich im Bereich der Austrittsstelle angesiedelt haben,
verstoffwechselt. Insofern wird auch ein Teil des austretenden Methans eliminiert. Die Bakterien - so sagen uns
Ökologen - bilden zudem eine lokale Nahrungsgrundlage für andere Organismen.
Herr Miersch.
Das war - jedenfalls nach meiner Auffassung - nicht
meine Frage, aber ich will jetzt meine zweite Nachfrage
damit nicht verbrauchen. Wir konnten vernehmen, dass
in den letzten Wochen sogar Bundes- bzw. Landesumweltminister die Bundesregierung aufgefordert haben,
die Sicherheitsvorkehrungen und die Gesetze in Bezug
auf Tiefsee-, aber auch andere Bohrungen zu prüfen.
Können Sie mir über die Schritte, die das Bundesumweltministerium diesbezüglich in den letzten Wochen
unternommen hat, etwas sagen?
Zum einen, Herr Kollege, haben Sie völlig recht,
wenn Sie bemerken oder in Ihrer Frage implizieren, dass
es, wenn man Erdöl oder auch Erdgas ausbeutet, immer
gewisse Risiken gibt. Ich habe aber auch schon im Ausschuss erläutert, dass wir sowohl an die Gas- als auch an
die Ölexploration, bei dem, was wir in Deutschland zu
verantworten haben - Stichwort: Doggerbank -, mit sehr
viel höheren Standards, mit sehr viel mehr Überprüfung,
Absicherung von Risiken sowie auch mit anderen Erkundungsmethoden herangehen, als das beispielsweise
im Golf von Mexiko der Fall gewesen ist.
Was tun wir? Es gibt in der Tat einen Austausch mit
Fachleuten aus Niedersachsen, die wir hinsichtlich der
Förderung in Schleswig-Holstein fachlich mit in Anspruch genommen haben. Auch Bundesumweltminister
Röttgen hat kürzlich in einem Interview noch einmal darauf hingewiesen, dass unsere gesamte Politik darauf gerichtet sein muss, weniger Explorationen zu haben;
Stichwort: Weg vom Öl, weg vom Verbrauch fossiler
Energieträger. Solange wir diese aber brauchen, müssen
wir, wo es in unserer Verantwortung liegt, alles unternehmen, die Risiken möglichst zu minimieren.
Herr Fell.
Frau Kollegin Reiche, ich will das nur klarstellen,
weil sich ansonsten ein interessanter und eigentlich unglaublicher Verdacht entwickeln könnte, nachdem Sie
auf die Frage des Herrn Kollegen Miersch eine Antwort
gegeben haben, nach der er gar nicht gefragt hatte, nämlich einem Dimensionsvergleich zwischen dem Krater in
der Nordsee, aus dem Methan ausgestoßen wird, und
dem Leck im Golf von Mexiko. Ich bin mir sicher, dass
Herr Miersch nicht gemeint hat, dass dieser Krater in der
Nordsee die gleiche Dimension hat. Sie haben es aber
auf diese Ebene gehoben und gesagt, solche Auswirkungen gebe es nicht. Sie haben nur entlastende und beschwichtigende Argumente gebracht, die diesen Methangasausstoß eigentlich verharmlosen und verniedlichen.
Deswegen will ich noch einmal nachfragen, ob es
wirklich Ihre Meinung ist, dass man solche Leckagen
und Umweltauswirkungen bei den konventionellen
Energieträgern Öl und Gas nur dann als schlimm empfindet, wenn sie Auswirkungen haben, wie sie im Golf
von Mexiko durch das dortige Bohrloch entstanden sind.
Herr Kollege, wenn Sie unterstellen, dass die Bundesregierung Havarien oder auch Risiken nicht ernst nehme,
dann weise ich dies wiederum zurück. Ich weise noch
einmal darauf hin, dass Explorationen hierzulande mit
sehr viel höheren Sicherheitsstandards gefahren werden.
Sowohl bei der Exploration als auch beim Betrieb überprüfen wir sehr viel mehr. Ferner werden die Mitarbeiter
geschult. Das habe ich im Ausschuss erläutert. Das, was
ich mündlich vorgetragen habe, habe ich Ihnen auch
schriftlich zukommen lassen. Ich bin mir sicher, Sie werden das intensiv gelesen haben.
„Verharmlosung“ ist nicht das Stichwort, sondern
„Minimierung der Risiken“, so gut es technisch geht. Ich
bin überzeugt, dass sowohl das zuständige Landesamt
für Bergbau, Energie und Geologie des Landes Niedersachsen als auch die Unternehmen daran arbeiten, Möglichkeiten zu entwickeln, um noch genauer hinzuschauen. In der Vorlage, die Ihnen das BMU hat
zukommen lassen, finden Sie Angaben dazu, welche Sicherheitsstandards bei uns gelten, welche Überprüfungen bei uns Standard sind und welche Anforderungen es
gibt. Insofern möchte ich Ihre Aussage, dass wir Risiken
verharmlosen oder erst dann aktiv würden, wenn etwas
passiert, zurückweisen. Das ist definitiv nicht der Fall.
Herr Ott.
Vielen Dank. - Ich glaube, ich muss meinen Kollegen
Hans-Josef Fell in Schutz nehmen. Er meinte das sicherlich nicht so, dass Sie irgendetwas verharmlosen wollen.
Ich muss in Bezug auf die Frage des Kollegen
Miersch eine Nachfrage stellen. Gerade im Hinblick auf
die Befürchtung, dass auch im Golf von Mexiko die gesamte Kammer einbricht, dort ein Riesenkrater entsteht
und sich das gesamte Öl auf einmal in den Ozean ergießt, frage ich Sie: Gibt es im BMU Überlegungen, ob
nicht alle Bohrungen unterhalb des Meeresspiegels unterlassen werden sollten bzw. ob zumindest in deutschen
Gewässern, auf die wir direkt Einfluss haben, keinerlei
Bohrungen mehr erfolgen sollten? Bei einer solchen
Bohrung kann immer ein Unfall passieren. Es kann immer passieren, dass Kavernen einstürzen und plötzlich
eine Situation entsteht, die überhaupt nicht mehr zu beherrschen ist. Wir haben nur Glück, dass bei diesem Erdgasausstoß anscheinend keine größeren Umwelt- und
Menschenschäden zu beklagen sind. Gibt es solche
Überlegungen im BMU?
Es gibt keine Überlegungen, laufende Vorhaben zu
unterbinden. Außer den 17 Förderbohrungen auf der
Mittelplate und der auf der A6-A - Informationen dazu
habe ich Ihnen zukommen lassen - sind keine Details zu
Explorationsvorhaben oder Planungen bekannt. Weitere
sind unserer Kenntnis nach nicht in Planung.
Wir kommen jetzt zu Frage 8 der Kollegin Ute Vogt,
die schriftlich beantwortet wird, ebenso wie die Fragen 9
und 10 des Kollegen Frank Schwabe und die Frage 11
der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Oliver
Kaczmarek auf, die jetzt beantwortet wird:
Wie ist der aktuelle Stand der Erarbeitung der Grundwasserverordnung innerhalb der Bundesregierung, und in welcher
Form plant die Bundesregierung die Beteiligung des Deutschen Bundestages?
Herr Kollege Kaczmarek, Sie erkundigen sich nach
dem Stand der Erarbeitung der Grundwasserverordnung
und insbesondere nach der Beteiligung des Bundestages,
was mich nicht verwundert.
Der Entwurf einer Verordnung zum Schutz des
Grundwassers - so möchte ich Ihnen antworten - ist zurzeit in der Abstimmung zwischen den Ressorts. Es ist
geplant, den Entwurf Mitte Juli 2010 dem Kabinett zur
Billigung vorzulegen. Im September 2010 soll der Entwurf dann im Bundesrat behandelt werden.
Die Konkretisierung des Besorgnisgrundsatzes entsprechend § 48 Wasserhaushaltsgesetz, der der Zustimmung des Bundestages bedarf, wurde im Verlauf der
Ressortabstimmungen zunächst aus dem Verordnungsentwurf herausgenommen. Damit bedarf der Verordnungsentwurf nicht mehr der Zustimmung des Bundestages. Die Konkretisierung der Anforderungen aus dem
§ 48 des Wasserhaushaltsgesetzes soll zu einem späteren
Zeitpunkt im Rahmen einer Artikelverordnung zusammen mit der geplanten Ersatzbaustoffverordnung und
der Novelle der Bundes-Bodenschutzverordnung geregelt werden.
Herr Kaczmarek, eine Nachfrage? - Bitte schön.
Zunächst einmal, Frau Staatssekretärin, vielen Dank
für die Beantwortung meiner Frage. - Ich beziehe mich
auf die Schadstoffeinträge bzw. auf die Vorgaben, die zu
erlassen sind. Nach Prognosen wird es so sein, dass
knapp die Hälfte der Grundwasserkörper bis 2015 keinen chemisch guten Zustand erreichen wird.
Viele Verbände haben darauf hingewiesen, dass die
diffusen Einträge aus der Landwirtschaft in dem vorliegenden Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt werden, der sich - wie Sie sagen - in der Abstimmung befindet. Deswegen die Frage: Wie beurteilen Sie diese
Stellungnahmen? Können Sie sie beurteilen, und können
Sie Auskunft darüber geben, ob es in dieser Hinsicht
noch Änderungsbedarf gibt?
Das Bundesumweltministerium hatte einen Entwurf
geplant, der auf einem Schwellenwertkonzept basiert. Im
Laufe der Ressortverhandlungen ist man allerdings zu
dem Schluss gekommen, dass ein Schwellenwertkonzept, das wichtig für die Einträge ist, auf die Ihre Frage
abzielt, erst in einem nächsten Anlauf, nämlich dann,
wenn wir die Ersatzbaustoffverordnung verabschieden,
vorgelegt wird. Es war angemahnt worden, dass die Politikfolgenabschätzung für die einzelnen Stoffe, die wir im
Blick hatten, noch nicht umfassend genug gewesen ist,
dass Materialwerte weiter bewertet werden müssten.
Uns als Bundesumweltministerium kommt es darauf
an, die Wasserqualität auf höchstem Niveau zu halten.
Wir halten das auch mit Blick auf den Ressourcenschutz
für wichtig. Da wir fachlich so gut wie möglich arbeiten
wollen, haben wir das Schwellenwertkonzept noch
einmal zurückgenommen, um die fachliche Arbeit zu erledigen und wissenschaftlich das zu erbringen, was gefordert wurde, und wollen dann im Herbst an die Erarbeitung der Ersatzbaustoffverordnung gehen, die das
Schwellenwertkonzept umfassen soll.
Noch eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Meine Frage geht in die Richtung, die Sie schon angesprochen haben. Ich beziehe mich auf die Schadstoffeinträge durch Bauprodukte im Grundwasser. Wenn ich
richtig informiert bin, haben Sie in dem ersten Entwurf
geregelt, dass die Erlaubnis nach Wasserhaushaltsgesetz
dann erteilt wird, wenn die Schwellenwerte insgesamt
nicht überschritten werden. Es gibt einen neuen Entwurf,
nach dem es möglich sein soll, dass verunreinigtes
Grundwasser in einem angemessenen Zeitraum toleriert
wird, nämlich im Durchschnitt über einen kurzen Zeitraum und in räumlich begrenztem Volumen. Können Sie
sagen, auf welcher Grundlage Sie zu diesen Veränderungen gekommen sind und ob das mit den EU-Vorgaben
vereinbar ist?
Ich fange mit der Frage nach den EU-Vorgaben an. Ja,
es ist damit vereinbar. Allerdings sind wir auch unter
zeitlichem Druck, weil wir die Verordnung schon längst
hätten umsetzen müssen und uns in einem Vertragsverletzungsverfahren befinden.
Das Schwellenwertkonzept geht - das haben Sie völlig richtig gesagt - davon aus, dass dann, wenn ein bestimmter Wert unterschritten wird, eine Genehmigung
erteilt wird. Die Philosophie dahinter war, einen hohen
Umweltschutz, einen hohen Schutz des Gutes Wasser zu
haben, allerdings gepaart mit Verfahrenserleichterungen.
Dieses Konzept hat noch nicht jeden überzeugt. Deswegen haben wir das Schwellenwertkonzept zunächst herausgenommen. Wir wollen es dann in die Ersatzbaustoffverordnung, die in einem unmittelbaren fachlichen
Zusammenhang auch mit den von Ihnen erwähnten Bauzusatzstoffen steht, einbringen. Unser Ziel ist es aber zunächst, bei der Europäischen Kommission etwas abzuliefern, was die Richtlinie eins zu eins umsetzt und für
einen hohen Wasserschutz sorgt. Wir hoffen, noch in
diesem Jahr mit einem auch ein Schwellenwertkonzept
umfassenden Entwurf aufwarten können.
Vielen Dank.
Jetzt kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Der Kollege
Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel steht
für die Beantwortung zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 13 des Kollegen Röspel
zum Beitrag der Grünen Gentechnik:
Ist die Erklärung der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, dass die sogenannte Grüne
Gentechnik einen Beitrag zur Welternährung leisten kann
({0}), dahin gehend zu verstehen, dass die
Bundesministerin Dr. Annette Schavan davon ausgeht, dass
transgene Pflanzen einen wesentlichen Beitrag zur Lösung
des Problems der Welternährung leisten können, und auf welchen wissenschaftlichen Gutachten basiert diese Argumentation?
Lieber Herr Kollege Röspel, Frau Bundesministerin
Annette Schavan geht davon aus, dass die Gentechnik
einen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherheit leisten kann. Die Potenziale der Gentechnik werden in einer
Vielzahl von Publikationen beschrieben, beispielsweise
in der Broschüre Grüne Gentechnik der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie in der dort angegebenen
Literatur, aber auch in einer Vielzahl von referierten wissenschaftlichen Publikationen. In dem Zusammenhang
verweise ich auf Nature Biotechnology von 2010, Jahrgang 28, Heft 4, Seite 319 bis 321.
Vielen Dank.
Dann kommen wir zu zwei Fragen der Kollegin
Sager. Hier geht es um die Umstrukturierung der medizinischen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein.
Zunächst die Frage 14:
Wie steht die Bundesregierung zu den Plänen, wie sie in
der Presse zu lesen waren, die Medizinerausbildung aus der
Universität Lübeck herauszulösen und in das Forschungszentrum Borstel zu integrieren und anschließend das Forschungszentrum Borstel von der Leibniz-Gemeinschaft in die
Helmholtz-Gemeinschaft zu überführen, und ist vorgesehen,
im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der medizinischen Forschung und Lehre in Schleswig-Holstein zusätzliche
Bundesmittel nach Schleswig-Holstein zu transferieren?
Frau Kollegin Sager, die Universität Lübeck ist eine
Hochschule in der Rechtsträgerschaft des Landes
Schleswig-Holstein. Maßnahmen zur strukturellen Umgestaltung der Medizinischen Fakultät an der Universität
Lübeck fallen demnach logischerweise nicht in die Entscheidungskompetenz des Bundes, sondern in die originäre Zuständigkeit des jeweiligen Landes, in dem Fall
Schleswig-Holsteins.
Insofern sind auch Aussagen der Bundesregierung zu
Finanzierungs- oder Umsetzungsszenarien, wie einer
möglichen Integration von Teilbereichen der Universität
Lübeck in das Forschungszentrum Borstel oder Überführungen von der Leibniz-Gemeinschaft in die HelmholtzGemeinschaft, in Anbetracht des geltenden föderalisti5316
schen Kompetenzgefüges und des aktuellen Verfahrensstandes nicht angezeigt.
Eine Nachfrage, Frau Sager.
Herr Staatssekretär, Ihre Ministerin Frau Schavan
wurde am 16. Juni mit der Aussage zitiert: „Ich will
nicht mit ansehen, wie der Studiengang abgewickelt
wird“ und am 17. Juni mit dem Satz: „Wir prüfen Möglichkeiten einer Hilfe“ - alles bezogen auf die Ankündigung, dass im Sparpaket von Schleswig-Holstein die
Abwicklung des Studiengangs Medizin an der Universität Lübeck vorgesehen ist. Was haben Ihre Prüfungen in
Bezug auf die Möglichkeit einer Hilfe inzwischen ergeben, und in welcher Weise will Frau Schavan der Abwicklung dieses Studiengangs entgegentreten?
Frau Kollegin Sager, bei der genaueren Betrachtung
des Themas wird deutlich, dass die Universität Lübeck
und die Frage der Ausgestaltung oder Veränderung der
Medizinischen Fakultät in die Entscheidungskompetenz
des dafür zuständigen Landes Schleswig-Holstein fallen
und insofern auch Schleswig-Holstein entsprechend der
eigenen politischen Prioritätensetzung und auch den
fachlichen Einsichten in der Frage zu entscheiden hat.
Eine weitere Nachfrage, Frau Sager.
Darf ich das so verstehen, dass die Aussagen von Frau
Schavan: „Ich will nicht mit ansehen, wie der Studiengang abgewickelt wird“ und: „Wir prüfen Möglichkeiten
einer Hilfe“ in Wirklichkeit nur heiße Luft gewesen sind
und dass in Wirklichkeit gar nichts geprüft wird? Oder
haben Sie Pläne im Zusammenhang mit der angeblichen
Zusage, dass Schleswig-Holstein bis zu 100 Millionen
Euro als Belohnung dafür bekommen soll, dass es dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz am Ende im Bundesrat doch zugestimmt hat?
Das dürfen Sie so nicht verstehen. Ich verweise darauf, dass selbstverständlich bei allen Aktivitäten sowohl
die Länder als auch der Bund die jeweiligen gesetzlichen
und verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten haben, und auch die Bundesbildungs- und -forschungsministerin wird dies selbstverständlich tun.
Herr von Notz.
Herr Staatssekretär, am 14. Juni 2010 gab es ein Treffen zwischen der Bildungsministerin, Herrn Carstensen
und Herrn Kubicki, das genau dieses Thema zum Gegenstand hatte. Die von meiner Kollegin zitierten Sätze
sind dort so gesagt worden. Insofern verwundern Ihre
Antworten. Vielleicht können Sie mit der folgenden
Frage mehr anfangen: Hält es die Bundesregierung für
möglich, durch die von der Bundesforschungsministerin
angeregte Rücknahme des Mehrwertsteuerprivilegs für
Hotels die Einnahmesituation Schleswig-Holsteins so zu
verbessern, dass die dortige schwarz-gelbe Landesregierung vom Abbau der Medizinstudienplätze in Lübeck
absehen kann?
({0})
- Das hat die Ministerin angeregt.
({1})
Herr Kollege, mit Ihrer Frage beziehen Sie sich auf
die Frage 17 des Kollegen Sönke Rix. - Die Mehrwertsteuerhöhe wird in einer Kommission noch einmal in
Ruhe behandelt werden. Insofern wäre es zu früh, heute
abschließende Aussagen dazu zu machen.
({0})
Nein, da Sie nicht die Ursprungsfrage, sondern nur
eine Nachfrage gestellt haben.
Ich gebe jetzt noch drei Nachfragenden zu dieser
Frage das Wort. Danach ist die Zeit für unsere Fragestunde abgelaufen. - Herr Rossmann, bitte.
Herr Kollege Rachel, ist es richtig, dass der Bund in
der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vertreten ist?
Wenn das so ist und wenn sich diese Gemeinsame Wissenschaftskonferenz aktuell damit befasst, einen Gesamtplan hinsichtlich des Bedarfs an und der Versorgung
mit Medizinstudienplätzen für Deutschland mit zu erarbeiten: Macht es dann nicht doch Sinn, dass sich auch
der Bund dazu stellt?
Meine konkreten Fragen lauten: Wie stellt sich der
Bund dazu, dass in Lübeck real hochqualifizierte Studienplätze, die zu einer Bestbewertung der Medizinischen Fakultät an dieser Hochschule beigetragen haben,
abgebaut werden sollen, was nicht nur für SchleswigHolstein, sondern hinsichtlich der gesamten Versorgung
mit Studienplätzen der Medizin in Deutschland einen
gravierenden Einschnitt bedeuten könnte? Können Sie
bestätigen, dass dies von der Ministerin durchaus auch
sehr kritisch wahrgenommen worden ist, weshalb sie
sich ja dafür engagiert hat? Von daher ist es umso unverständlicher, dass Sie davon jetzt weder etwas wissen
noch die Ministerin in ihrem Bemühen stützen wollen,
dieser besonderen Universität Lübeck für den mediziniDr. Ernst Dieter Rossmann
schen Bereich eine Unterstützung zu geben - egal, auf
welchem Weg.
Herr Kollege Dr. Rossmann, die Studienplätze für
Medizin in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegenstand in den Gesprächen zwischen den Bundesländern
und der Bundesregierung in den dafür vorgesehenen
Gremien. Eine Einzelbetrachtung eines Hochschulstandortes kann für die dafür zuständige Landesregierung besonders relevant sein, die dort auch in der Verantwortung
ist. Die Länder haben generell die Möglichkeit, eine Unterstützung des Bundes im Rahmen des Hochschulpakts
2020 zu erhalten, wenn sie zusätzliche Studienplätze im
Bereich Medizin zur Verfügung stellen.
({0})
Frau Hiller-Ohm, bitte.
Herr Staatssekretär, durch die Schließung der Medizinerausbildung an der Universität Lübeck ist auch der Bestand der gesamten Universität Lübeck stark gefährdet.
Ich frage Sie, welche Schlussfolgerungen die Bundesregierung aus den Befürchtungen zieht, dass mit der
Schließung der Universität Lübeck auch Forschungseinrichtungen in der Region Schaden nehmen könnten?
Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft hat zum Beispiel geäußert, dass das Borsteler Leibniz-Zentrum gezwungen sein könnte, sich anders, beispielsweise in
Richtung Hamburg, zu orientieren. Meine Frage dazu:
Wie plant die Bundesregierung zu verhindern, dass
durch die Schließung der Medizinischen Fakultät in Lübeck auch vom Bund mitfinanzierte Einrichtungen Schaden erleiden?
Sehr geehrte Frau Kollegin, die Frage, welche weitere
Existenz, welche Veränderungen oder Nichtveränderungen Hochschulstandorte haben, fällt nach unserem
Grundgesetz ausschließlich in die Zuständigkeit des jeweiligen Bundeslandes. Insofern ist die Frage von der
zuständigen Landesregierung zu beantworten.
Die letzte Frage stellt der Kollege Röspel. Bitte
Herr Staatssekretär, wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass Medienberichten zufolge die
Landesregierung von Schleswig-Holstein eine Bewerbung der Universität Lübeck im Rahmen der Fortsetzung
der dritten Exzellenzinitiative als nicht erwünscht abgelehnt und jegliche Unterstützung seitens des Landes
Schleswig-Holstein abgelehnt hat, um die Bewerbung
der Universität Kiel in gleicher Sache nicht zu gefährden, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus für die weitere Ausgestaltung und Bewertung der Exzellenzinitiative?
Herr Kollege Röspel, die Exzellenzinitiative hat sich
bisher als außerordentlich interessante und erfolgreiche
Stimulierung der Forschung an den deutschen Hochschulen herausgestellt. Wir haben bereits in den ersten
Monaten und Jahren feststellen können, dass sie eine dynamische Entwicklung an den Hochschulen und eine engere Kooperation zwischen den Hochschulen und außeruniversitären Forschungspartnern bewirkt hat. Wir als
Bundesregierung sind sehr gespannt, welche Bundesländer und welche Hochschulstandorte sich in der dritten
Runde der Exzellenzinitiative bewerben werden. Die
Bundesregierung wird weder die Initiative ergreifen, damit sich einzelne Regionen bewerben, noch wird sie einzelne Regionen davon abhalten, sich zu bewerben. Es ist
ausschließlich Aufgabe der zuständigen Hochschulinstitutionen, dies gegebenenfalls im Zusammenwirken mit
außeruniversitären Forschungseinrichtungen und gegebenenfalls in einer Diskussion mit dem zuständigen
Land zu tun. Die Bewertung der anschließend eingehenden Vorschläge wird ausschließlich auf wissenschaftlicher Grundlage und anhand wissenschaftlicher Expertise
erfolgen.
({0})
Nein. Wir sind bereits sechs Minuten über die Zeit. -
Deswegen beende ich jetzt die Fragestunde.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes
- Drucksache 17/1462 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/2350 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Christine Lambrecht
Jörg van Essen
Jerzy Montag
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierzu eine
Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Bundesministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
1) Die Fragen 15 bis 88 werden schriftlich beantwortet. Die Frage 75
wurde zurückgezogen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf sollen zwei unterschiedliche Probleme gelöst werden, und zwar in der Art und
Weise, dass im Ergebnis der Rechtsstaat gestärkt wird.
Mit der Ergänzung des Schöffenrechts greifen wir einen
Vorstoß der Länder auf. Niemand kann - darüber sind
wir uns einig - an einem Strafprozess als Schöffe sinnvoll mitwirken, wenn er die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht. Er kann in diesem Fall dem Lauf
der Verhandlung nicht richtig folgen, und er kann bei der
abschließenden Beratung des Gerichts nicht richtig mitwirken. Es hat in der Vergangenheit Einzelfälle gegeben,
in denen genau das der Fall gewesen ist. Dieser Missstand wird mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufgegriffen. Es geht um die Gründe für die Nichtberufung in
das Amt des Schöffen.
Es soll festgeschrieben werden, dass künftig niemand
zum Schöffen berufen werden soll, der die deutsche
Sprache nicht ausreichend beherrscht. Das richtet sich
zunächst an die Institutionen, die die Schöffen wählen,
aber es wird auch eine gesetzliche Grundlage geschaffen, damit jemand von der Schöffenliste gestrichen werden kann. Wichtig ist - das betone ich hier ausdrücklich,
weil es in den Beratungen des Rechtsausschusses eine
Rolle gespielt hat -, dass die Anforderungen an die
Sprachkenntnisse nicht überspannt werden dürfen. Es
geht nicht darum, das gesamte juristische Fachvokabular
zu beherrschen, sondern es geht darum, zu verstehen,
was vorgetragen wird, der Verhandlung zu folgen und
die Beratung nicht nur mitverfolgen, sondern auch sich
selbst einbringen zu können. Das ist in den Beratungen
des Rechtsausschusses betont und auch von uns erklärt
und so zu Protokoll gegeben worden. Das gilt natürlich
auch bei der Anwendung. Ich denke, mit dieser Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes sind wir auf einem guten Weg.
({0})
Die Schöffen sollen möglichst alle gesellschaftlichen
Gruppen repräsentieren, also auch Zuwanderer. Gerade
Migranten mit deutschem Pass sollen künftig öfter zu
Schöffen berufen werden. Gerade weil wir wollen, dass
es mehr Menschen mit Migrationshintergrund in diesem
Amt gibt, gilt natürlich die Anforderung, dass dieses
Amt nur dann sinnvoll ausgefüllt werden kann, wenn die
deutsche Sprache ausreichend beherrscht wird. Auch unter diesem Aspekt ist die Ergänzung richtig.
Aber es gibt noch einen zweiten Gegenstand, der im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingebracht worden
ist und nicht schon Gegenstand des Gesetzentwurfs des
Bundesrats gewesen ist. Hintergrund ist die Entwicklung
in den letzten Monaten, die Sie alle kennen, und zwar
die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte im Hinblick auf die Änderung des Gesetzes zur Sicherungsverwahrung im Jahr 1998, mit der
die Befristung auf zehn Jahre rückwirkend aufgehoben
wurde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam hier anders als früher das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass es sich in diesen Fällen um eine unzulässige Rückwirkung handele.
Jetzt geht es in einem ersten Schritt - wir haben im
Kabinett mehrere Schritte vereinbart - darum, den Gerichten eine Hilfe an die Hand zu geben. Wir wissen,
dass es 75 bis 85, vielleicht auch 90 Menschen in Sicherungsverwahrung gibt - ganz genau kann man das nicht
sagen -, für die diese Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte zutreffen kann. Wir
erleben jetzt in der Praxis, dass die Gerichte unterschiedliche Entscheidungen treffen - es kommt zu Entlassungen; es kommt zur Ablehnung des Antrags auf Entlassung -, weil man sich an die Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in diesem Punkt nicht gebunden fühlt. Im Moment enden die
Verfahren beim Oberlandesgericht. Wir wollen nun mit
der Divergenzvorlage eine Ergänzung in unser System
aufnehmen. Die Vorlagepflicht an den Bundesgerichtshof, wenn die Oberlandesgerichte von der Rechtsprechung eines anderen Gerichts abweichen wollen, hat
sich in anderen Fällen bewährt. Das ist also nicht neu.
Wir wollen dieses Instrument jetzt auch für den Fall der
Sicherungsverwahrung und der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus einführen.
Die Umsetzung eilt. Deshalb bedanke ich mich sehr
dafür, dass es möglich gewesen ist, diese Änderung mit
in dieses Gesetzgebungsverfahren aufzunehmen. Es
passt inhaltlich ganz gut zusammen; denn es geht in beiden Fällen um das Gerichtsverfassungsgesetz. Das ist
jetzt also nicht ein abwegiger Omnibus, der da gewählt
wird, was von Rechtspolitikern immer zu Recht kritisiert
wird, sondern es passt inhaltlich zusammen. Außerdem
kommt aus allen Bundesländern, noch einmal auf der
Justizministerkonferenz in der letzten Woche ausdrücklich bekräftigt, der Wunsch, diese Regelung zu haben.
Wer davon Gebrauch macht, das können wir nicht beurteilen; aber hier angesichts einer sich unterschiedlich
entwickelnden Rechtsprechung einen Beitrag zu leisten,
damit es durch eine Vorlage an den Bundesgerichtshof
zu einer Einheitlichkeit in diesen wichtigen Fragen der
Entscheidungsfindung kommt, ist geboten, richtig und
angemessen. Alle verantwortlichen Landesjustizminister
haben sich dafür ausgesprochen.
Das ist nur ein Aspekt im Zusammenhang mit den
schwierigen Fragen der Sicherungsverwahrung. Es gibt
zwei weitere Aspekte, die heute nicht zur Beratung anstehen: die Änderung der Führungsaufsicht, die wir Ihnen vorschlagen werden, und auch die grundlegende
Ausrichtung der Sicherungsverwahrung. Das hat jetzt
nichts mit dem Fall Mücke vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu tun. Wir wollen ein in
sich möglichst widerspruchsfreies System und Konzept
schaffen. Dazu sind Eckpunkte Grundlage der Beschlussfassung im Bundeskabinett gewesen.
Die Eckpunkte - ich habe sie dem Rechtsausschuss
zugeleitet - sehen eine deutliche Verlagerung vor, nämlich weg von der nachträglichen hin zu der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, und natürlich den Erhalt der
primären Sicherungsverwahrung. Dazu gibt es viele Fragen, auch wichtige Fragen der Ausgestaltung. Das ist
aber nicht Gegenstand des jetzigen Gesetzgebungsverfahrens, sondern wird Gegenstand eines weiteren Verfahrens sein, mit dem wir uns hoffentlich sehr zügig
nach der Sommerpause befassen.
Ganz herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Danckert von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin, das ist in der Tat heute nicht Gegenstand,
aber Sie haben das Stichwort „Sicherungsverwahrung“
und die Eckpunkte angesprochen. Wir von der SPDFraktion sind bereit, dabei konstruktiv mitzuarbeiten.
Die große Linie stimmt. Ich persönlich würde aus heutiger Sicht sagen: Wenn die vorbehaltene Sicherungsverwahrung sozusagen eine Art Regelfall würde, nach dem
Motto „Vorsichtshalber behalten wir uns mal die Sicherungsverwahrung vor“, dann wäre das nicht der richtige
Weg. Aber wir sind ja noch dabei, das auszuformulieren.
Das Thema Führungsaufsicht wird eine Rolle spielen.
Wir sind also bereit, dabei mitzuarbeiten.
Auf den ursprünglichen Gesetzentwurf ist etwas
draufgesattelt worden. Danach sollen die Oberlandesgerichte die Möglichkeit haben, zur Vereinheitlichung ihrer
Rechtsprechung eine Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Diese Möglichkeit zu schaffen, ist völlig richtig. Das ist eine praktische Notwendigkeit, wie wir aus
Hinweisen, die wir zum Bereich der Gesamtrechtsprechung der Oberlandesgerichte bekommen haben, erkennen können. Hier ist eine Vereinheitlichung erforderlich.
Deshalb tragen wir das Gesetz insgesamt mit.
Unser Kritikpunkt betrifft die Änderung des § 33 Gerichtsverfassungsgesetz. Das ist ein Anliegen der Bundesländer, das wir schon in der letzten Legislaturperiode
behandeln sollten. Die damalige Koalition aus CDU/
CSU und SPD hat es nicht für erforderlich angesehen,
dem zu folgen. Für mich persönlich und für meine Fraktion hat sich daran auch nichts Wesentliches geändert.
Wenn das der einzige Punkt wäre, über den wir heute abstimmen, würden wir nicht zustimmen können. Aber wir
lassen uns wegen der Gesamtbedeutung dazu bringen,
dem Gesetzentwurf doch zuzustimmen.
§ 33 Gerichtsverfassungsgesetz gibt vor, wann eine
Person nicht zum Schöffenamt berufen werden soll.
Wenn die Person etwa ein bestimmtes Lebensalter noch
nicht erreicht hat oder ein bestimmtes Lebensalter schon
vollendet hat oder ihr Wohnsitz nicht in einem bestimmten Bereich liegt, soll sie nicht zum Schöffen berufen
werden. Auch der gesundheitliche Zustand spielt eine
Rolle.
Aus meiner beruflichen Erfahrung sage ich: Der
Grundsatz, dass der Angeklagte im Verfahren den verfassungsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen
Richter hat, ist nicht hoch genug zu bewerten. Nun kann
man meinen, bei den vielen Schöffen sei es doch egal, ob
es diese oder jene Person ist. Nein, das ist durchaus ein
erheblicher Unterschied. Deshalb müssen wir an dieser
Stelle genau darauf achten, dass die Regeln, die das Gerichtsverfassungsgesetz vorschreibt, eingehalten werden.
Ich blicke jetzt ein bisschen zurück, weil die Zeit es
erlaubt. Aus meiner beruflichen Erfahrung als Strafverteidiger sage ich: Es gab keine Defizite des Gerichtsverfassungsgesetzes, sondern Defizite in der Umsetzung der
gesetzlichen Regelungen. Zunächst einmal war der Einschnitt am 1. Januar 1979, als man den Verteidigern die
Verpflichtung auferlegt hat - den Staatsanwaltschaften
übrigens auch, aber die haben davon nie Gebrauch gemacht -, die Gerichtsbesetzung bei Verfahren, die am
Landgericht oder Oberlandesgericht beginnen, wenn
überhaupt, dann zu Beginn der Hauptverhandlung zu rügen.
Die Überlegung war gar nicht so schlecht. Es gab
zwei Gesichtspunkte. Man wollte nicht am Ende des
Verfahrens von irgendeiner Besetzungsrüge überrascht
werden, also der Rüge, dass es nicht der gesetzliche
Richter war, der mitgewirkt hat. Man spekulierte darauf,
dass die Verteidiger am Beginn des Verfahrens noch
nicht so initiativ werden würden. Das genaue Gegenteil
war der Fall. Man hat sich mit dieser neuen Materie sehr
intensiv beschäftigt. Das war auch eine meiner damaligen Aufgaben. Dabei ergab sich, dass die Hauptmängel,
die wir im Rahmen der Besetzungsrüge aufgedeckt haben, Verfahrensverstöße waren, die in den Etappen Vorschlagsliste und Schöffenwahl bzw. Schöffenauslosung
passiert waren, weil man, was eigentlich überrascht,
feststellen konnte, dass diese klaren gesetzlichen Regelungen nicht richtig gelesen wurden oder man sich die
Sache sehr einfach gemacht hat.
In dieser Situation sind wir auch heute noch. Der Anlass für diese vorgeschlagene gesetzliche Änderung ist,
dass sich am Beginn oder während einer Hauptverhandlung herausstellt, dass ein Schöffe die deutsche Sprache
nicht ausreichend beherrscht oder keine ausreichenden
Kenntnisse besitzt. Das ist das Kriterium.
Die Gerichtssprache ist nach dem Gerichtsverfassungsgesetz deutsch. Gewählt werden kann als Schöffe
nur jemand, der Deutscher ist. Insofern fragt man: Wo ist
das Problem? Das Problem besteht darin, dass man sich
die Sache bei der Erstellung der Vorschlagsliste - das ist
die erste Etappe - sehr einfach macht. Hier hat die Kommune die Aufgabe, 100, 200, 500, manchmal 1 000 - in
Großstädten noch mehr - Namen von Einwohnern aus
ihrem Bereich auf die Schöffenliste zu setzen. Die Sache
wird oft sehr mechanisch - ich sage nicht: willkürlich gemacht, also ohne sich die Personen, deren Namen auf
die Vorschlagsliste sollen, genauer anzusehen und möglicherweise auch ohne anhand von persönlichen Daten
zu klären: Ist diese Person geeignet, als Schöffe vorgeschlagen zu werden, oder nicht? Wenn man das täte,
dann gäbe es gar keine Notwendigkeit, § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes um Personen zu erweitern, die
die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen.
Man könnte solche Personen schon vorher aussortieren.
Das Problem aber ist, dass diese Dinge sehr pauschal gehandhabt werden und man sich nicht die Zeit nimmt,
dem Grundsatz des gesetzlichen Richters genügend Bedeutung beizumessen. Die Erstellung der Liste wird als
eine ärgerliche und überflüssige Verwaltungsarbeit angesehen. Diese Ansicht führt dann zu Verstößen und zu Situationen, die dazu führen, dass man im Verfahren eine
Entscheidung treffen muss, auf die ich noch kurz eingehen werde.
Ein weiterer Punkt, den wir damals aufgedeckt haben,
bezog sich auf die Schöffenwahl. Wenn man sich wie
das Landgericht Frankfurt die Sache sehr leicht macht
und die Schöffen zulost, obwohl im Gesetz steht, dass
die Schöffen aus der Schöffenliste gewählt werden müssen, kann es passieren, dass sich, wenn sich die Verteidiger mit dieser Frage beschäftigen, ein gesetzlicher Verstoß herausstellt, der in Berlin bei der Hilfsschöffenliste
und in Frankfurt bei der Schöffenwahl dazu geführt hat,
dass die Wahl ungültig war. Das hat aber nichts damit zu
tun, dass das System, in dem wir arbeiten, erhebliche
Mängel hat, sondern das hat damit zu tun - ich sage es
einmal mit meinen Worten -, dass eine gewisse Faulheit
oder Nachlässigkeit an den Tag gelegt wurde, die zu diesen Mängeln geführt hat.
In Augsburg war es eine andere Situation. Die Parteien, die in der Gemeindevertretung saßen, haben gesagt: Wir brauchen 52 Schöffen. Die CSU kann - so sage
ich es einmal - 16 Vorschläge machen. Eine Abspaltung
von der CSU - Herr Stadler, wie hieß sie noch? - kann
14 Schöffen vorschlagen, und die SPD kann 12 oder
13 Schöffen benennen. Dann kamen noch ein paar andere Parteien zum Zuge. - Auch das war ein eklatanter
Verstoß gegen das Gesetz, und auch diese Schöffenliste
ist vom Bundesgerichtshof sozusagen atomisiert worden. Bei einer normalen Prüfung wäre das nicht möglich
gewesen.
Man kann an diesem schön abgestuften Verfahren Erstellung der Vorschlagsliste, Schöffenwahl bzw. Schöffenauslosung schon erkennen, was notwendig ist, um zu
sehen: Steht auf dieser Liste der Name eines Schöffen,
der die deutsche Sprache beherrscht? Jetzt soll eine Änderung eingeführt werden, weil es Einzelfälle gegeben
hat, in denen der Schöffe die deutsche Sprache nicht beherrscht hat. In ganz Deutschland, wo jeden Tag gerichtliche Verfahren mit Schöffen ablaufen, gibt es gerade
zwei, drei oder vier Verfahren mit einem solchen Mangel.
An diesem Vorschlag stört mich am meisten, dass sozusagen ein Einfallstor geöffnet wird, mit dem man in
der Hauptverhandlung einen nicht genehmen, weil möglicherweise sehr aktiven Schöffen aus dem Verfahren herausnehmen kann. Dieser Missbrauch muss ausgeschlossen werden. Das ist erforderlich. Nach der jetzigen
gesetzlichen Regelung - insofern halte ich sie für unvollkommen - handelt es sich bei der Schöffenbestellung um
eine unanfechtbare Entscheidung eines Vorsitzenden.
Nun werden die allermeisten Vorsitzenden keine willkürlichen Entscheidungen treffen; aber ich wünsche mir,
dass auf der Basis des derzeit geltenden Rechts im Gerichtsverfassungsgesetz ein Verfahrensweg ermöglicht
wird, mit dem auch dieser Missbrauch ausgeschlossen
wird. Wir hatten hierzu ein erweitertes Berichterstattergespräch geführt - Sie werden sich daran erinnern, oder
es ist Ihnen darüber berichtet worden -, in dem gesagt
wurde, dass es sich, wenn Entsprechendes passiert, um
Willkür handele und ein so gravierender Verstoß sei, den
man dann wieder rügen könne. Wer schon einmal eine
Revisionsrüge auf richterliche Willkür zu stützen versucht hat, der weiß, dass das ein Unterfangen ist, das einen wirklich nicht weiterbringt.
Mir wäre sehr viel daran gelegen, wenn wir neben einer Lösung für diese nun wirklich nicht eilige Frage, die
ja nun seit Jahren im Raum steht - ich glaube, fünf bis
sechs Jahre -, uns auch einmal überlegten, wie wir eigentlich unser System der ehrenamtlichen Richter, das
richtig und notwendig ist, so reformieren können, dass
wirklich etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Hier wird
nur der eine Punkt aufgegriffen, nämlich dass es sich um
einen Schöffen handelt, der die deutsche Sprache nicht
ausreichend beherrscht. Das ist eine sehr vage und problematische Formulierung: Wird hier vom Niveau des
Lesers der Bild-Zeitung ausgegangen oder von welchem
Niveau? Außerdem sollten wir auch an Wirtschaftsstrafverfahren denken. Hier kommt es ja nicht darauf an, dass
jemand gut deutsch sprechen kann, sondern darauf, dass
er versteht, worum es geht. Aber genau in diesem Bereich handeln wir nicht, obwohl hier Handlungsbedarf
besteht.
Mir wäre es lieb gewesen, wenn wir eine Gesamtreform dieser inzwischen sehr schwierigen Fragen - das
gebe ich zu - gemeinsam auf den Weg gebracht hätten.
Es handelt sich hierbei um kein parteipolitisches Thema
- das sehe ich durchaus -, sondern um ein Thema, bei
dem es auch darum geht, unsere Gesellschaft davon zu
überzeugen, dass die Arbeit als ehrenamtlicher Richter
bei strafrechtlichen Entscheidungen - bei verwaltungsrechtlichen ist es so ähnlich - notwendig und richtig ist.
Wenn wir nur an einer Stelle herumdoktern, ist das nicht
überzeugend. Ich habe deshalb erhebliche Bedenken, zumal hier auch die Möglichkeit eröffnet wird, dass es zu
willkürlichen Entscheidungen kommt. Ich hoffe, dass
das nicht eintritt.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich
hoffe, dass Sie im Rahmen Ihrer Regierungsarbeit der
nächsten Zeit - man weiß ja nicht, wie lange das noch
geht - sich dieses Themas noch einmal annehmen. Bei
der Sicherungsverwahrung sind wir dabei; bei einer weiterführenden Diskussion über dieses Thema wären wir
auch dabei.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Voßhoff von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Herr Kollege Danckert, große Reformen brauchen
manchmal viel Zeit. Dass wir das als christlich-liberale
Koalition noch in dieser Legislaturperiode schaffen,
kann ich Ihnen nicht zusagen. Das sollte uns aber nicht
davon abhalten, mit kleinen Schritten in die richtige
Richtung zu gehen.
({0})
- Seien Sie sicher, dass die christlich-liberale Koalition
diese Legislaturperiode gut durchstehen wird.
({1})
Mit der heutigen abschließenden Beratung der Bundesratsinitiative zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes nehmen wir die Klarstellung auf, dass Schöffen
- das ist schon gesagt worden -, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, von der Ausübung
des Schöffenamtes ausgeschlossen sind. Auch wir als
Union halten diese rechtliche Klarstellung für notwendig
und geboten. Mein Kollege Heveling wird dazu gleich
noch einiges aus Sicht der Union sagen.
Den Gesetzentwurf des Bundesrates - das ist heute
auch schon erwähnt worden -, den wir heute abschließend beraten, haben wir als Trägergesetz für eine weitere
Initiative nutzen können. Dass dies zügig geschehen und
heute zum Abschluss gebracht werden konnte, dafür und
für die zielgerichtete Vorarbeit dürfen auch wir uns, Frau
Ministerin, bei Ihnen und beim BMJ, aber auch bei der
Opposition, die dies ebenfalls konstruktiv begleitet hat,
ganz herzlich bedanken.
Der eigentliche Grund für die Eile dieses Gesetzgebungsverfahrens ist - das wissen Sie, und das kann man
auch ganz offen sagen -, dass wir uns wieder einmal mit
Schutzlücken und grundsätzlichen Fragen im Bereich
der Sicherungsverwahrung auseinandersetzen müssen.
Mit diesem Gesetzentwurf eröffnen wir sozusagen erneut eine parlamentarische und - davon gehe ich aus intensive und nachhaltige Debatte zu den Grundsatzfragen der Sicherungsverwahrung. Dass dies notwendig geworden ist, hat - das ist schon angeklungen - seinen
konkreten Anlass in der aktuellen Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der im
Dezember vergangenen Jahres und mittlerweile auch
rechtskräftig entschieden hat, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine Maßregel, sondern um
eine Strafe im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention handle, die dem Rückwirkungsverbot unterliegt. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Sie betrifft,
auch wenn immer eine Einzelfallentscheidung erforderlich ist, potenziell alle Straftäter, gegen die vor 1998 eine
Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde, weil der
Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt die bis dahin bestehende Höchstfrist für die Sicherungsverwahrung von
zehn Jahren auf unbefristet verlängert hat.
Man geht davon aus, dass bundesweit bei circa
70 Personen - Frau Ministerin, Sie nannten andere Zahlen - die Frage zu klären ist, ob sie in Ansehung des Urteils des EGMR zu entlassen sind. Dazu gibt es bereits
erste Entscheidungen mit unterschiedlichen rechtlichen
Ergebnissen. Aller Voraussicht nach stehen demnächst
weitere Entscheidungen an. Deshalb und wegen der
grundsätzlichen Frage, um die es hier geht - einerseits
geht es um den grundrechtlich geschützten Freiheitsanspruch des Einzelnen und andererseits um die ebenso
schützenswerten Interessen der Opfer und Bürger vor
nach wie vor gemeingefährlichen Tätern -, ist auch aus
unserer Sicht eine einheitliche Rechtsprechung von
grundsätzlicher Bedeutung.
Wie eben ausgeführt, ist Eile geboten. Deshalb nutzen
wir diesen Gesetzentwurf, um in einer ersten gesetzgeberischen Reaktion eine Antwort auf das Urteil des
EGMR zu geben. Diese Antwort ist rein verfahrensrechtlicher Natur. Durch die Vorlagepflicht zum Großen
Strafsenat des BGH wollen wir vermeiden, dass bei den
Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte in den
Ländern mit Blick auf die potenziell betroffenen Täter
ein rechtlicher Flickenteppich entsteht, also nicht
Gericht A den betroffenen Täter freilässt, während
Gericht B ihn in der Sicherungsverwahrung belässt.
Das Urteil des EGMR hat aber auch neue Fragen im
Bereich der Sicherungsverwahrung aufgeworfen, die es
nicht heute, aber langfristig für den Gesetzgeber zu beantworten gilt. Dazu gehört die Frage - auch das ist
heute schon angeklungen -, ob und wie wir in Fällen unumgänglicher Entlassungen die Führungsaufsicht für
weiterhin gefährliche Straftäter effizienter gestalten können. Die christlich-liberale Koalition ist sich einig, Änderungen im Bereich der Führungsaufsicht auf den Weg
zu bringen. Das betriff zum einen die Einführung der
elektronischen Aufenthaltsüberwachung für Gewalt- und
Sexualstraftäter. Um es gleich vorweg zu sagen: Das soll
keine elektronische Fußfessel im eigentlichen Sinn sein,
weil es im vorliegenden Fall nicht darum geht, den betreffenden Delinquenten zu Hause festzuhalten. Wir
wollen vielmehr eine Lösung, die es ermöglicht, mithilfe
von GPS-Signalen den jeweiligen Aufenthaltsort von
Sexual- oder Gewaltstraftätern feststellen zu können.
Wenn er sich beispielsweise einem Kindergarten oder einem Spielplatz nähert, soll das der Führungsaufsichtsstelle umgehend signalisiert werden, damit dort schnell
reagiert werden kann. Auch über die Erweiterung der
Möglichkeit der unbefristeten Verlängerung der Führungsaufsicht von Sexualstraftätern auf Gewaltstraftäter
wollen wir in diesem Zusammenhang diskutieren.
Wir müssen auch Antworten auf weitere grundsätzliche Fragen geben. Die christlich-liberale Koalition ist
sich der Bedeutung des Themas bewusst. Sie weiß um
die Notwendigkeit gesetzgeberischen Handlungsbedarfs
und wird dieser nachkommen. Die Ministerin hat auf die
Eckpunkte der Bundesregierung verwiesen.
Ich denke, das Recht der Sicherungsverwahrung ist
eines der schwierigsten, wenn nicht gar das schwierigste
Thema in der Rechtspolitik. Dieses Thema hat uns in
den vergangenen Jahren immer wieder vor Herausforderungen gestellt; das zeigen auch die Entscheidungen der
Obergerichte. Seit 1995 ist allein im Bereich des Erwachsenenstrafrechts die Sicherungsverwahrung fünfmal geändert worden. Trotzdem ist immer noch kein wider5322
spruchsfreies System entstanden. Diejenigen, die das
Thema eine Zeit lang begleitet haben - dazu gehöre ich -,
wissen, dass wir als Gesetzgeber oftmals auf Einzelfälle
zu reagieren hatten und deshalb oft zu kurzfristigen Entscheidungen gezwungen waren.
Nichtsdestotrotz haben wir es jetzt mit einer Entscheidung des EGMR zu tun. Es liegt mir völlig fern, die Entscheidung des EGMR zu kritisieren. Ich denke, an dieser
Stelle darf ich aber sagen: Ich hätte es als sehr wünschenswert empfunden, wenn das EGMR die Entscheidung wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Angelegenheit zur Großen Kammer verfügt hätte und die
Entscheidung von dort gekommen wäre.
({2})
Den Bürgern ist es nur schwer zu vermitteln, dass Menschenrechte es gebieten, dass nach wie vor hochgefährliche Straftäter sehenden Auges auf die Menschheit losgelassen werden. Das muss man an dieser Stelle erwähnen
dürfen.
({3})
Gleichwohl haben wir uns der Herausforderung zu
stellen, die die deutsche Rechtslage uns im Lichte der
EGMR-Entscheidung aufzwingt bzw. in der Folge von
uns verlangt. Der Gesetzgeber kann nicht untätig bleiben. Wenn man die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der Vergangenheit liest, wird klar, dass es
durchaus möglich ist, tätig zu werden. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein Verstoß gegen
die EMRK durch eine entscheidende Änderung der
Sach- und Rechtslage entfallen kann. Sogar ein formal
unrechtmäßiger Freiheitsentzug kann für eine Übergangszeit gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber die
Zeit nutzt, um eine neue, konventionskonforme Regelung zu schaffen. Aus diesem Grunde, denke ich, führt
kein Weg an der Reform der Sicherungsverwahrung vorbei. Das ist von der Justizministerin vorhin erwähnt worden.
Das Eckpunktepapier ist auch aus Sicht der Union
eine gute Ausgangsgrundlage. Es ist ein Maßnahmenbündel, durch das in vielfältiger Weise versucht wird,
nicht nur die aktuelle Lage nach dem EGMR-Urteil zu
verbessern und die Führungsaufsicht effizienter zu gestalten, sondern auch die Frage der zukünftigen Gestaltung der Sicherungsverwahrung neu auszutarieren. Die
Ministerin hat einige Punkte genannt. Ich kann sie aus
Zeitgründen nicht wiederholen.
Auch wenn die Eckpunkte für uns eine gute Ausgangsgrundlage sind, sage ich an dieser Stelle - das ist
dem Koalitionspartner bekannt; darüber ist gesprochen
worden -: Wir als Union haben noch Diskussionsbedarf
bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. In
der derzeitigen Form kann sie nicht bestehen bleiben;
wir wollen aber nicht, dass sie in Gänze zurückgedrängt
wird. Ich denke, angesichts dieses komplexen Themas
muss noch eine Diskussion geführt werden.
Wir Rechtspolitiker haben in einem Positionspapier
zur Diskussion gestellt, ob man die Sicherungsverwahrung in ein neues System der nachträglichen Sicherungsunterbringung überführen und dabei ganz bewusst die
Kriterien der Strafe - die Entscheidung des EGMR besagt, dass die bestehende Sicherungsverwahrung eine
Strafe sei - von der künftigen Sicherheitsunterbringung
abtrennen sollte. Das bezieht sich nicht auf die Verurteilung. Es wird immer wieder gesagt, wir könnten jemanden nicht nur aufgrund seiner Gefährlichkeit im Anschluss an die Haft in Sicherheitsunterbringung nehmen;
darum geht es nicht. Es muss immer ein Bezug zu der
Straftat, die zur Verurteilung geführt hat, bestehen. Das
ist selbstverständlich. Wenn dann in einem neuen Verfahren entschieden werden muss, ob eine Unterbringung
erforderlich ist oder nicht, muss von der Gefährlichkeit
des Täters zu dem Zeitpunkt ausgegangen werden. Die
Unterbringung muss dann eine Form von Therapie sein.
Ein eigener Spruchkörper, an dem auch Psychiater beteiligt sind, sollte dies entscheiden. Auch Therapieansätze
und Resozialisierungsmöglichkeiten dienen dem Schutz
der Bevölkerung.
Wir meinen, dass man über dieses neue Verfahren diskutieren sollte. Ob der Weg gangbar ist, wird die fachliche Diskussion zeigen. In jedem Fall wird die christlichliberale Koalition dieses Gesetzgebungsverfahren zu einem der schwierigsten Gebiete der Rechtspolitik mit der
gebotenen Gründlichkeit betreiben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates soll
ermöglicht werden, Bürgerinnen und Bürger, die die
deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, vom
Schöffenamt auszuschließen. An die Schöffinnen und
Schöffen, die regelmäßig als juristische Laien in das Ehrenamt berufen werden, sind in der Tat beträchtliche Anforderungen gestellt. Sie haben während der Hauptverhandlung richterliche Befugnisse. Ihre Stimme hat bei
der Urteilsfindung das gleiche Gewicht wie die Stimme
eines Berufsrichters. Schöffinnen und Schöffen sind
gleichfalls mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet.
Deshalb müssen sie in gleicher Weise wie Berufsrichter
geeignet sein, die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen aufzunehmen.
Was erwartet man also von den Personen, die bereit
sind, dieses wichtige Ehrenamt auszuüben? Sie müssen
zwischen 25 und 70 Jahre alt sein, ihren Wohnsitz im
Gerichtsbezirk haben und dürfen nicht in Vermögensverfall geraten sein. Sie müssen gesundheitlich für das Amt
geeignet sein. Darüber hinaus kann das Ehrenamt des
Schöffen nur von einem deutschen Staatsbürger ausgeübt werden. Das Recht auf ein faires Verfahren für den
Angeklagten gebietet eine sorgfältige Auswahl der
Schöffen.
Das Gerichtsverfassungsgesetz verlangt indes für die
Eignung als Schöffe generell keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten. Dennoch bedarf es hinreichender
Kenntnisse der deutschen Sprache, da die Gerichtssprache bekanntermaßen Deutsch ist. Dabei stellt sich die
Frage, ob nicht auf der Grundlage des geltenden Rechts
dem Problem mangelnder Deutschkenntnisse von Schöffen begegnet werden kann. Die Große Koalition - das
wurde bereits angesprochen - sah diesbezüglich in der
letzten Legislaturperiode keinen Handlungsbedarf, wobei insbesondere die SPD vor einem Einfallstor für
Missbrauch warnte.
Die angesprochenen Fälle mangelnder Deutschkenntnisse bei Schöffen sind für uns jedenfalls kein Argument
für die dringende Notwendigkeit der geplanten Regelung, die nun im Galopp durch das Parlament gejagt
werden soll.
({0})
Wir vertreten die Auffassung, dass Gründlichkeit vor
Schnelligkeit gehen muss. Bereits aufgrund der bestehenden Rechtslage ist ein Schöffe, der der deutschen
Sprache nicht ausreichend mächtig ist, unfähig, ein
Schöffenamt auszuüben, und kann von der Schöffenliste
gestrichen werden.
Der Gesetzentwurf lässt völlig offen, auf welcher
Grundlage die Gemeindeverwaltungen die sprachlichen
Fähigkeiten der Kandidaten und Kandidatinnen überprüfen sollen, und kann damit dem selbstgestellten Anspruch nicht gerecht werden. Es ist vielmehr zu befürchten, dass allein ein fremdländisch klingender Name Indiz
für die Nichtbeherrschung der deutschen Sprache ist.
Dies ergab jedenfalls die Anhörung der von der Koalition geladenen Sachverständigen in einem Berichterstattergespräch.
({1})
Wie die betroffenen Personen ihre Kenntnisse nachweisen müssten oder wie die Gemeinden, die die Vorschlagslisten aufzustellen haben, mit diesen Anforderungen umgehen sollen, wird ausgeblendet. Damit öffnet
der Gesetzentwurf wiederum willkürlichen Entscheidungen Tür und Tor.
Zum Thema Divergenzvorlage: Es ist offensichtlich,
dass die Koalition nunmehr mangels bestehender, durchdachter Konzepte zur Sicherungsverwahrung an den ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates den Vorschlag zur Divergenzvorlage des Bundesgerichtshofs
anhängen will. Dies hat aber mit der Frage der Eignung
zum Schöffenamt, dem ursprünglichen Thema, nichts zu
tun.
Am Umgang mit diesem Thema zeigt sich wieder,
dass sich die Koalition sehr schwertut. Selbst ein Rüffel
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in
Sachen Sicherungsverwahrung führt nicht dazu, dass
sich hier besonders viel bewegt. Die Koalition reagiert
mit einem verfahrensrechtlichen Vorschlag zur Divergenzvorlage an den Bundesgerichtshof in der Hoffnung,
dass es die Richter in ihrem Sinne richten werden.
Die Linke kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Allein das fragwürdige Verfahren des Anhängens an einen inhaltsfremden Gesetzentwurf ist schon Grund genug für eine Ablehnung. Aber auch inhaltlich überzeugt
uns der Gesetzentwurf nicht. Die absehbare Verzögerung
wegen der Vorlage zum Bundesgerichtshof wird dazu
führen, dass die Sicherungsverwahrten weiter einsitzen,
während die Regierung weiter streitet, wie nun zu verfahren sei. Das halten wir für unwürdig und kann aus unserer Sicht auch nicht als Fortschritt gefeiert werden.
({2})
Es ist offensichtlich, dass es darum geht, Zeit zu gewinnen, um den inhaltlichen Dissens zwischen CDU/
CSU und der Bundesjustizministerin auszufechten. Statt
sich mit den grundrechtsrelevanten Regelungen der Sicherungsverwahrung zu befassen und gesetzgeberisch
tätig zu werden, verlagern Sie die Frage auf die Rechtsprechung. Dem können wir nicht zustimmen. Wir sagen
aber grundsätzlich zu, dass wir uns in der Frage der Sicherungsverwahrung konstruktiv an einer Diskussion
beteiligen werden.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Gerichtssprache ist Deutsch. Ich halte es für selbsterklärend, dass selbstverständlich alle Verfahrensbeteiligten
deutsch verstehen und sprechen können müssen. Viele
Jahrzehnte war das so unproblematisch, dass der Gesetzgeber nicht die Notwendigkeit sah, in das Gesetz hineinzuschreiben, dass Schöffen deutsch sprechen und verstehen müssen.
Die Frage ist, ob es jetzt notwendig ist. Es gibt einige
wenige Fälle, in denen Schöffen sich tatsächlich selbst
meldeten und sagten, dass sie nicht teilnehmen wollen,
weil sie nicht deutsch sprechen können, oder Vorsitzende dies festgestellt haben. In diesen Fällen haben Gerichte entschieden, interessanterweise die einen, indem
sie dem Schöffen einen Dolmetscher zur Seite gestellt
haben, und die anderen, indem sie einen solchen Schöffen als ungeeignet zurückgewiesen haben.
Wir sind der Meinung, dass eine Regelung notwendig
ist. Deswegen haben wir auch gegenüber der ursprünglichen Formulierung, dass ein Schöffe über hinreichende
Deutschkenntnisse verfügen muss, im Grundsatz keine
Einwände gehabt. Aber die Tatsache, dass die Koalition
in den letzten Tagen die Formulierung geändert hat, und
die Ergebnisse im erweiterten Berichterstattergespräch
haben uns schon nachdenklich gemacht.
Diese Regelung richtet sich - der Kollege Danckert
hat das ganz ausführlich und völlig korrekt dargestellt an die Kommunen. Es stellt sich die Frage: Was machen
die Kommunen eigentlich mit dieser Regelung bei der
Auswahl der Bürgerinnen und Bürger für die Schöffenwahl? Wir haben im erweiterten Berichterstattergespräch
zwei Varianten vernommen.
Die eine Variante war: Die Kommunen werden bereits nach dem Namen oder nach dem Geburtsort aussieben. Wenn das geschähe, dann wäre das willkürlich, und
das wäre rechtswidrig.
({0})
Zur zweiten Variante. Der Vertreter aus Hamburg, der
die dortige Behörde leitet, hat gesagt, nach seiner Meinung werde seine Behörde auf diese gesetzliche Regelung überhaupt nicht reagieren, sondern die Vorschlagslisten weiter so zusammenstellen, wie sie es bisher getan
hat. Damit verlagert sich das Problem, ob ein Schöffe
Deutsch kann, auf die Situation vor Beginn der Hauptverhandlung: Was macht der Vorsitzende, wenn er mit
einem Schöffen konfrontiert wird, von dem er denkt,
dass er nicht genügend Deutsch kann? Schon angesichts
dieser Problematik ist die Änderung des Vorschlags von
Bedeutung. Während es bisher auf Vorschlag des Bundesrats geheißen hat, es müssten hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vorliegen, und man dazu erklärend gelesen hat, ein Schöffe müsse Deutsch
verstehen und Deutsch sprechen können, soll jetzt eine
Veränderung vorgenommen werden. Jetzt heißt es, er
müsse die deutsche Sprache ausreichend beherrschen.
Jetzt stelle ich Ihnen die Frage: Wer entscheidet eigentlich nach welchen Kriterien, wer von uns die Sprache ausreichend beherrscht? Einige könnten sagen:
Selbst die, die in diesem Hohen Hause reden, beherrschen die deutsche Sprache nicht ausreichend.
({1})
Damit wird sozusagen das Feld eröffnet. Ich greife den
Gedanken von Herrn Danckert auf - dieser Gedanke ist
nämlich richtig -: Wenn die Entscheidung des Vorsitzenden Richters nicht angreifbar ist und unwiderruflich gilt,
dann gibt es die Möglichkeit zu einem Missbrauch. Angesichts dessen sagen wir: Wir wären den Weg, hinreichende Deutschkenntnisse zu verlangen, mitgegangen;
aber die Änderung, eine ausreichende Beherrschung der
deutschen Sprache zur Voraussetzung zu machen, verbunden mit dem Hinweis, dass das eine aktive Sprachbeherrschung bedeutet, wollen wir nicht mitgehen. Deswegen lehnen wir diesen Änderungsvorschlag ab.
({2})
Nun noch ein Wort zur Sicherungsverwahrung, die
hier ebenfalls in Rede steht. Das, was jetzt zu reparieren
ist, hat Schwarz-Gelb vor über zehn Jahren verbockt.
Vor über zehn Jahren wurde die Zehnjahresfrist gestrichen. Über die Übergangsregelungen hat man sich keine
Gedanken gemacht. Die Tatsache, dass das nicht geschehen ist, holt Sie jetzt ein. Trotzdem ist die Divergenzvorlage notwendig. Das Argument der Linken, das wir hier
gehört haben, hat mit der Sache nicht das Geringste zu
tun. Es kommt nicht auf eine Verzögerung an, sondern
auf einen Fall wie folgenden: Wenn das Oberlandesgericht Nürnberg in Kenntnis der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Personen aus
einer Sicherungsverwahrung nicht herauslässt, das Oberlandesgericht Stuttgart dies allerdings tut, dann haben
wir es mit einer unterschiedlichen Behandlung durch die
Oberlandesgerichte zu tun, ohne dass es eine Möglichkeit der Vereinheitlichung gibt. Diese Möglichkeit muss
es geben. Bisher ist sie nicht vorgesehen. Deswegen
stimmen wir der Divergenzvorlage zu.
({3})
Aber das entbindet nicht von der Kritik, dass die Koalition - sie geht jetzt in die Sommerferien - zur Frage
der Sicherungsverwahrung bei der Führungsaufsicht
- auch da geht es um 70 bis 80 Personen - nichts vorgelegt hat, obwohl die Zeit drängt. Das kritisieren wir. Wir
werden an den Debatten im Herbst teilnehmen. Wir werden uns konstruktiv einbringen. Wir finden einige Aspekte der Eckpunkte der Vorlage der Union sogar positiv.
Herr Kollege Montag!
Andere finden wir natürlich nicht positiv. Dass Sie zu
der Frage der Führungsaufsicht - sie ist genauso brennend wie die Divergenzvorlage - hier nicht sofort etwas
vorgelegt haben, das kreiden wir Ihnen an.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Revolutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die
Forderung nach einer Bürgerbeteiligung bei der Justiz.
Entsprechend den Zielen der Vormärzbewegung, die
Freiheit des Einzelnen zu sichern und die staatliche
Macht zu begrenzen, verlangte das Bürgertum Möglichkeiten zur Mitwirkung an sämtlichen Staatsfunktionen
einschließlich der Justiz.
({0})
Man forderte die Einführung von Schwurgerichten nach
französischem Vorbild, und das mit Erfolg: Nach Ausbruch der Revolution im Jahr 1848 wurde die Institution
der Geschworenengerichte in die Paulskirchenverfassung und die Landesverfassungen aufgenommen.
Wenn ein Amt damals so hart von den Bürgern erkämpft wurde, dann beweist dies: Unser Schöffenamt
verkörpert die direkte Beteiligung des Volkes an der dritten Gewalt. Es stellt sicher, dass Urteile eben nicht am
grünen Tisch, sondern im Namen des Volkes gesprochen
werden. Die Laienbeteiligung ist nach wie vor eine wesentliche und notwendige Ausgestaltung des Demokratieprinzips und Ausdruck unserer vielfältigen demokratischen Verschränkungen der rechtsprechenden Gewalt.
Neben dem notwendigen juristischen Sachverstand,
der durch die Berufsrichter in das Verfahren eingebracht
wird, wird auf diesem Wege das gesellschaftlich anerkannte Gerechtigkeitsempfinden in den Prozess integriert. Schöffen wirken dabei nicht nur als gesetzliche
Richter an der Entscheidungsfindung mit; sie sind zugleich Garanten für die gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts. Schöffen sind mithin aus unserem
Gerichtssystem nicht mehr wegzudenken.
Angesichts des zutiefst demokratischen und richtigen
Anspruchs, Schöffen aus möglichst allen Bevölkerungsschichten zu rekrutieren, bestehen nur relativ wenige
formale Grenzen. Grundsätzlich soll das Schöffenamt
von jedem deutschen Staatsbürger ausgeübt werden können. Das soll und muss so bleiben. Daher gibt es in den
§§ 33 und 34 des Gerichtsverfassungsgesetzes nur einen
eng gefassten Katalog von persönlichen und funktionalen Ausschließungsgründen. Korrespondierend dazu
kann nur ein sehr begrenzter Personenkreis, der in § 35
des Gerichtsverfassungsgesetzes benannt ist, die Berufung in das Schöffenamt von sich aus ablehnen.
So wichtig es aber aus grundsätzlichen, den Kern unseres Demokratieverständnisses berührenden Erwägungen heraus ist, allen Teilen der Bevölkerung den Zugang
zum Schöffenamt zu eröffnen, so wichtig ist es aus
grundsätzlichen und grundrechtlichen Erwägungen
auch, die Funktionsfähigkeit der Gerichte und die Beachtung sämtlicher Verfahrensgrundsätze wie etwa der
Unmittelbarkeit im Strafprozess sicherzustellen.
({1})
Bei der vorgesehenen Änderung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes geht es daher um die richtige
und schonende Ausbalancierung dieses Spannungsfeldes. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, sicherzustellen, dass nach wie vor allen Teilen der Bevölkerung der
Zugang zum Schöffenamt eröffnet wird. Es ist aber
ebenso unsere Aufgabe, zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Schöffenamtes dafür Sorge zu tragen,
dass Schöffinnen und Schöffen tatsächlich in der Lage
sind, ihre wichtige Aufgabe angemessen und amtsentsprechend auszuüben.
Ein in der Praxis zwar quantitativ nicht zu überschätzendes, in den rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen aber nicht zu unterschätzendes Problem führt daher
bei den Bestellungsvoraussetzungen an einer Stelle zu
Anpassungsbedarf. Hintergrund ist, dass es in der Praxis
Verfahren gegeben hat und gibt, bei denen sich herausstellt, dass die beigezogenen Schöffen nicht in ausreichendem Maße der deutschen Sprache mächtig sind. Für
diesen Fall kennt das Gesetz bislang keine rechtlich einwandfreie Lösung. Offensichtlich ist damit alles doch
nicht ganz so selbstverständlich, wie es mein Vorredner
hier dargestellt hat.
Wenn diese Situation eintritt, stellt dies die gerichtliche Praxis vor erhebliche Probleme. Die Praxis versucht
derzeit im Wesentlichen auf zwei Wegen, dieses Problem zu lösen. Beide stehen jedoch auf rechtlich tönernen Füßen. Der eine Weg ist, solche Schöffinnen und
Schöffen von der Schöffenliste zu streichen. Dies ist indessen rechtlich problematisch, weil das Gesetz derzeit
das Spracherfordernis gerade nicht als Bestellungsvoraussetzung konstituiert. Mit welcher rechtlich tragfähigen Begründung ließe sich dann so vorgehen? Der andere Weg ist nicht minder problematisch. Hierbei wird
dem des Deutschen nicht mächtigen Schöffen ein Dolmetscher zur Seite gestellt. Inwieweit damit noch die unmittelbare Wahrnehmung des Prozessgeschehens als Voraussetzung zur Beurteilung gewährleistet ist, erscheint
fraglich. Ebenso problematisch und strittig ist die Beteiligung des Dolmetschers an der Urteilsberatung, an der
nur die zur Entscheidung berufenen Richter teilnehmen
dürfen. Es stellt sich also auch die Frage nach der ordnungsgemäßen Besetzung des Gerichts.
Es zeigt sich: Beide derzeit von der Praxis gewählten
Lösungswege sind wackelig und daher rechtlich bis hin
zu revisionsrelevanten Überlegungen angreifbar. Das
lässt es sinnvoll erscheinen, mit einer gesetzgeberischen
Klarstellung zu reagieren. Dies geschieht mit der Ergänzung des § 33 des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach
Personen, die mangels ausreichender Beherrschung der
deutschen Sprache für das Amt nicht geeignet sind, nicht
zu Schöffinnen und Schöffen berufen werden sollen. Die
Koalitionsfraktionen sind der Auffassung, dass durch die
Ergänzung des § 33 GVG dem vorstehend beschriebenen Problem mit einer rechtlich ausreichend klaren Regelung begegnet wird.
Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Danckert?
Ja.
Bitte schön, Herr Danckert.
Herr Kollege, wenn wir schon diese Vorschrift einführen, mit all den Problemen, die im Laufe dieser
Debatte beschrieben worden sind, wäre es dann nicht angezeigt, dass man im Bereich des § 52 Abs. 3 Gerichtsverfassungsgesetz - das Gericht macht sich unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft ein Bild über die Eignung
des Schöffen bezüglich der ausreichenden Beherrschung
der Sprache - den Verteidiger des Angeklagten an der
Entscheidung beteiligen würde?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass es noch zu weiteren
Diskussionen kommt. Die heutige Entscheidung über
das GVG ist sicherlich nicht die abschließende Entscheidung.
({0})
War das Ihre Antwort?
Das war die Antwort.
Bitte schön. Dann fahren Sie fort.
Auf diese Weise wird ein revisionsfester Weg eröffnet, um Schöffinnen und Schöffen von der Schöffenliste
zu streichen, wenn sich erweist, dass sie der deutschen
Sprache nicht ausreichend mächtig sind.
Natürlich gibt jede neue Regelung, jedes neue einschränkende Zulassungskriterium Raum für Beurteilungen. Insoweit sind die in der Diskussion vonseiten der
Opposition aufgeworfenen Fragen keineswegs falsch.
({0})
Wir als Koalition sind indessen der Auffassung, dass der
Gesamtproblematik durch die Ergänzung des § 33 GVG
gut und richtig Rechnung getragen wird. Natürlich könnten die Kommunalverwaltungen - wie vom Kollegen
Montag eben angesprochen - trotzdem versucht sein, bei
der Aufstellung bloß nach den Namen zu gehen. Aber
wir haben ein gestuftes Verfahren. Wir haben zwei Kollegialorgane, die darüber entscheiden: den Gemeinderat,
der die Listen beschließt, und das Gremium, das die
Schöffen auswählt.
({1})
- Herr Danckert, abhaken mag an manchen Stellen die
Praxis sein, aber ich selbst bin lange genug kommunaler
Fraktionsvorsitzender gewesen, um zu wissen, dass man
die Listen schon sehr genau durchgeht; denn man hat
eine demokratische Entscheidung zu treffen. Insofern ist
das aus theoretischer Sicht kein Angriffspunkt.
Herr Heveling, es gibt eine weitere Frage des Kollegen Jerzy Montag.
Herr Kollege Montag, gerne.
Bitte schön, Herr Montag.
Danke sehr. - Herr Kollege, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es Gremien gibt - den Gemeinderat, aber auch im Wahlverfahren -, in denen Überprüfungsinstanzen möglich sind. Würden Sie mir
zustimmen, dass es einen entscheidenden Unterschied
zwischen der Zusammensetzung der Schöffenliste beispielsweise am Landgericht Amberg in der Oberpfalz
mit einem überschaubaren Kreis von Personen, Interessierten und Vorgeschlagenen gibt
({0})
und dem, was wir im erweiterten Berichterstattergespräch zum Beispiel über Hamburg gehört haben? Dort
müssen in jeder Wahlperiode 1 700 Schöffen gewählt,
das heißt 3 400 Personen in die Liste eintragen werden.
Der Leiter der Abteilung, der in Hamburg damit beschäftigt ist, hat uns gesagt, es ist absolut ausgeschlossen, dass sich die Gemeinde - auf welcher Ebene auch
immer - mit diesen Personen näher beschäftigt und mit
ihnen spricht. Vielmehr nehmen sie die Leute, die vorgeschlagen werden. Die genügen aber nicht. Dann nehmen
sie welche nach dem Zufallsgenerator aus dem Einwohnermeldeamt. Er hat uns gesagt: Entweder schmeißen
wir die Leute mit ausländischem Namen und Auslandsgeburtsorten raus, oder wir machen nichts. Ich frage Sie,
ob Sie den Unterschied zwischen kleinen Gemeinden, in
denen Sie vielleicht in der Vergangenheit mitgearbeitet
haben, und Großstädten sehen, in denen sich dieses Problem ergibt.
Herr Kollege Montag, ich kann natürlich kaum bestreiten, dass Amberg und Hamburg unterschiedlich
große Städte sind. Da gebe ich Ihnen - das ist Punkt eins vollkommen recht. Punkt zwei: Es mag auch sein, dass
vonseiten der Kommunalverwaltung - das habe ich ja
auch entsprechend so angesprochen - diese Praxis so geübt wird. Aber es ist doch ein ganz übliches Verfahren,
dass die Fraktionen bzw. Parteien und sonstige gesellschaftliche Organisationen auch noch eigene Vorschläge
in die Ratsgremien einbringen können, die dann in die
Abstimmung eingehen. Das heißt, es wäre jeder Partei
bzw. jeder Institution unbenommen - wenn das eben so
wichtig ist -, selbst darauf zu achten. So praktizieren wir
das in meiner zugegebenermaßen eher kleinstädtisch geprägten Situation; aber das spricht nicht dagegen, dass
man das in Großstädten nicht genauso praktizieren kann.
({0})
Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden,
dass das Kriterium der Beherrschung der deutschen
Sprache missbraucht werden kann, um Schöffen von der
Liste zu streichen. Diese Möglichkeit wird aber auch
durch andere Kriterien - wie zum Beispiel die gesundheitliche Eignung - theoretisch eröffnet. Hier gilt, was
überall gilt: Willkürentscheidungen werden durch keinerlei gesetzliche Grundlagen abgedeckt und sind dementsprechend auch weiterhin rechtlich angreifbar.
Wir sind der Auffassung, dass es richtig ist, auf die
Beherrschung der deutschen Sprache - im Gegensatz zu
bloßen Kenntnissen - abzustellen. Das Schöffenamt ist
ein aktives Amt. Schöffinnen und Schöffen müssen dem
Geschehen nicht nur passiv folgen können, sie haben
eine aktive Rolle. Ein Urteil ist das Ergebnis von Beratungen. Für und Wider sind diskursiv abzuwägen. Auch
das ist ein hohes und zutiefst demokratisches Element in
unseren Gerichtsverfahren.
({1})
Das setzt aber voraus, dass die an der Beratung Beteiligten ihre Standpunkte auch tatsächlich vor- und einbringen können. Dazu muss man mehr können, als bloß zu
verstehen. Salopp formuliert: Man muss in der Lage
sein, den gesunden Menschenverstand, den Schöffinnen
und Schöffen in die Beratung einbringen sollen, auch
tatsächlich zu artikulieren - nicht weniger, aber auch
nicht mehr. Daher werden wir der vorgesehenen Ergänzung des § 33 GVG zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des § 33 des Gerichts-
verfassungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2350,
den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1462
in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen verlangt getrennte Abstimmung.
Ich rufe die Ziffer 2 der Beschlussempfehlung auf,
und zwar nur Art. 1 Buchstaben a und b. Ich bitte dieje-
nigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Teil des Ge-
setzentwurfs ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen, der Fraktion der SPD bei Gegenstimmen von den
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Zum anderen rufe ich die Ziffer 1 der Beschlussemp-
fehlung und Ziffer 2 der Beschlussempfehlung, und
zwar nur Art. 1 Buchstabe c sowie Art. 2 des Gesetzent-
wurfs auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Auch dieser Teil des Gesetzentwurfs ist - diesmal
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke - angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf
insgesamt angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Frak-
tion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Gerd
Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine Patente auf Pflanzen und Tiere
- Drucksache 17/2016 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Priska Hinz ({1}), Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren stoppen
- Drucksache 17/2141 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? - Das ist wohl nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Matthias Miersch von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Keine Patente auf Pflanzen und Tiere“, das ruft bei dem
einen oder anderen Zuhörer dieser Debatte sicherlich
erst einmal Erstaunen hervor: Worum geht es? Wenn
man dann noch hört, dass es darum geht, dass den Patentämtern inzwischen in der Tat Anträge vorliegen, sich
das gute Schnitzel oder den herkömmlichen Brokkoli patentieren zu lassen, dann merkt man schnell: Auf der einen Seite ist das Schmunzeln vielleicht nicht aus dem
Gesicht zu bekommen, auf der anderen Seite aber auch
die Verwunderung nicht.
Um das Thema, um das es hier und heute geht, auf
den Punkt zu bringen, will ich zu Beginn meiner Rede
ein Zitat eines Vertreters eines großen, multinationalen
Konzerns anführen, der gesagt hat: Unser Ziel ist es, die
Ernährung der Bevölkerung vom Acker bis zum Teller
zu steuern. - An diesem Zitat wird deutlich, welche Strategie in bestimmten Zentralen dieser Welt ausgeheckt
wird und wie diese Strategie aussieht. Wir sind gut beraten, diese Entwicklung sehr aufmerksam zu verfolgen.
Es geht um drei zentrale Bereiche, die alle Menschen
weltweit betreffen: Das ist Energie, das ist Wasser, und
das ist die Ernährung. Wenn es gelingt, sich ein Recht
auf die Ernährung zu sichern und dieses Recht als Werkzeug zu verwenden, um die Ernährung zu steuern, wenn
nicht sogar zu monopolisieren, dann haben wir nicht nur
ein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches und
vor allen Dingen ein soziales Problem. Deswegen haben
wir heute diesen Antrag eingebracht.
({0})
Worum geht es? Wir können sehen, dass die Zahl der
Anträge für Patente auf Pflanzen, aber nicht nur auf
Pflanzen, sondern generell auf die ganze Ernährungskette, angefangen bei der Pflanze über Samen bis hin zu
den daraus resultierenden Produkten einer Pflanze - es
geht beispielsweise nicht nur um die Sojapflanze, sondern auch um ihr Öl -, zunimmt. Wir sehen auch, dass es
nicht mehr nur darum geht, sich beispielsweise gentechnisch verändertes Futter schützen zu lassen, sondern
gleich das Futter, das Schwein, das es gefressen hat, und
auch das Schnitzel, das daraus letztlich erwachsen wird.
Diese Beispiele zeigen, ein bisschen umgangssprachlich formuliert, dass es hier tatsächlich um das Elementarste geht. Wir müssen aufpassen, dass wir unser Recht
auf gewerblichen Schutz, das eigentlich dazu dient, Erfindungen zu schützen, sehr wohl in Einklang mit den
Interessen der Bevölkerung weltweit bringen.
Wir erleben augenblicklich aber genau das Gegenteil:
dass dieses Recht zu ungenau ist, dass die Begriffe, mit
denen in den Patentämtern hantiert wird, auslegungsfähig sind, sodass sie nach unserer Auffassung missbraucht werden. Wir sind gut beraten, uns zu fragen: Wie
können wir hier eine Grenze einziehen, damit es nicht zu
diesen Missbräuchen kommt?
({1})
Es kann nicht sein, dass wir sagen: Eine Pflanzensorte
darf nicht patentiert werden; aber das Gen, das wir in
eine Pflanze stecken, kann dazu führen, dass sämtliche
Pflanzenarten, ganze Baumgruppen beispielsweise,
plötzlich patentierungsfähig sind. Dies erleben wir zurzeit. Wir als Gesetzgeber dürfen nicht als Zuschauer
agieren, sondern wir sind es, die über gesetzliche Grundlagen entscheiden. Wir müssen diese Verantwortung
wahrnehmen und dürfen diese Verantwortung nicht Gerichten überlassen.
({2})
Wer sich vor Augen hält, worüber das Europäische
Patentamt in München am 20. und 21. Juli dieses Jahres
verhandelt, der sieht, dass wir es mit dem Versuch zu tun
haben, sogar konventionelle Züchtungsverfahren schützen zu lassen. Damit schafft man nicht nur das Recht an
einer Pflanzensorte, sondern man setzt sehr viel früher
an. Man setzt beim Züchtungsverfahren an und versucht,
sich das Recht, mit diesem Verfahren eine Pflanzensorte
zu züchten, schützen zu lassen.
Wenn jemand dieses Recht hat, dann wird es niemand
anderem möglich sein, auf dieses Züchtungsverfahren
zurückzugreifen. Dies wird zu einem Problem, weil sozusagen der Ursprung der Ernährung schon mit einem
Recht behaftet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die
SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass dies
nicht sein darf.
({3})
Wir in diesem Hohen Hause sind gut beraten, uns
diese Rechtsentwicklung aufmerksam anzusehen und im
Übrigen auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium uns sogar schon vor einigen Jahren auferlegt hat.
Da hat er nämlich geschrieben, dass er die Erteilungspraxis des Europäischen Patentamts mit Besorgnis zur
Kenntnis nimmt. Wenn man dann noch sieht, dass eine
unabhängige Kontrollinstanz fehlt und dass dieses Amt
durch die für die Patente gezahlten Gebühren und nicht
durch unabhängige Gelder finanziert wird, sodass die
Neigung, ein Patent zu verwehren, nicht besonders stark
ausgeprägt ist, dann weiß man, dass wir hier über sehr
grundsätzliche Dinge reden müssen. Ich lade Sie alle
recht herzlich ein, das gemeinsam zu tun. Der Deutsche
Bundestag sollte möglichst einmütig zum Ausdruck
bringen, dass diese Rechtsentwicklung von uns allen
nicht gewollt ist. Das ist ein dickes Brett, weil es nicht
nur um nationales, sondern auch um europäisches Recht
geht. Aber wir müssen hier handeln, weil diese Rechtsentwicklung schädlich für die Menschen ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über das Thema der Patentierung von Tieren und Pflanzen hat der Deutsche Bundestag bereits im vergangenen
Jahr debattiert. Damals wurde ein Antrag diskutiert, der
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt
wurde. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht in den
jetzt eingebrachten Anträgen durchaus erstrebenswerte
Zielsetzungen. Auch in der Koalitionsvereinbarung hat
die christlich-liberale Koalition klar geäußert, dass sie
auf landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen
keine Patente will. Wörtlich heißt es dort:
Unabhängig vom Schutz des geistigen Eigentums
wollen wir auf landwirtschaftliche Nutztiere und
-pflanzen kein Patentrecht.
Das ist an Klarheit nicht zu überbieten.
({0})
Wir bekennen uns im Koalitionsvertrag - auch vor
dem Hintergrund internationaler Abkommen - aber auch
ganz klar und ebenso zu Recht zum Schutz des geistigen
Eigentums:
Innovationen und Erfindungen sind für die volkswirtschaftliche Entwicklung unseres an Rohstoffen
armen Landes, für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes und für den Schutz von
Arbeitsplätzen in Deutschland von zentraler Bedeutung. Wir wollen deshalb den rechtlichen Rahmen
für einen wirksamen Schutz des geistigen Eigentums durch Patente, Marken und Muster weiter
stärken und den Zugang zu Schutzrechten für den
Mittelstand erleichtern.
Wir werden uns auch auf europäischer und internationaler Ebene für wirksame Maßnahmen gegen die
weltweite Marken- und Produktpiraterie einsetzen.
So formuliert es der Koalitionsvertrag sehr eindrucksvoll.
Wir stehen für den Schutz des geistigen Eigentums.
Aber wir stehen nicht für einen Schutz des geistigen Eigentums um jeden Preis. Wir stehen nicht für einen
Schutz des geistigen Eigentums unter Aufgabe ethischer
Grundsätze. Zu diesen ethischen Grundsätzen gehört die
Überzeugung, dass Tiere und Pflanzen zentrale Bestandteile unserer Schöpfung sind. Eine Politik, die sich ethischen Grundsätzen verpflichtet weiß, kann aber nicht bei
dieser Überzeugung stehen bleiben. Sie muss zugleich
berücksichtigen, dass auch wissenschaftlicher Fortschritt
zur Lösung von Problemen und zur Linderung von Leid
ethisch begründet sein mag.
Legt man diese Maßstäbe zugrunde, wird klar: Auch
im Biopatentrecht werden Änderungen unumgänglich
sein. Aber ebenso klar ist: Der heutige Zeitpunkt ist für
die Diskussion, an welchen Stellen man das Biopatentrecht tatsächlich ändern muss, um die Patentierung von
Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren
zu verhindern, denkbar ungeeignet.
Warum ist er denkbar ungeeignet? Er ist deshalb
denkbar ungeeignet, weil in wenigen Tagen vor der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts
die mündliche Verhandlung zum sogenannten BrokkoliPatent stattfinden wird. Dabei geht es entscheidend um
den Begriff eines im Wesentlichen biologischen Verfahrens. Dies ist von herausragender Bedeutung für die Abgrenzung herkömmlicher, nicht patentierungsfähiger
Züchtungsverfahren einerseits und patentierbarer erfinderischer Leistungen andererseits. Diese Entscheidung
sollten wir in Ruhe abwarten und sie dann der weiteren
Debatte zugrunde legen.
({1})
Sollte sich dabei herausstellen, dass solche biologischen Verfahren, bei denen ein geringer und damit unwesentlicher technischer Anteil hinzukommt, keine - wie
das Gesetz es formuliert - „im Wesentlichen biologischen Verfahren“ sind, dann wird gesetzlicher Änderungsbedarf bestehen. Dann wird es darum gehen, die
gesetzlichen Grundlagen zu ändern, weil anderenfalls
Patente möglich wären, für die es inhaltlich keine Rechtfertigung gibt. Dies darf nicht sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass es vor fünf Jahren CDU und CSU waren, die im Rahmen der Umsetzung der Biopatentrichtlinie die Eingrenzung der Reichweite des Patentschutzes
durch die Einschränkung des Stoffschutzes initiiert haben.
({2})
Damit haben wir in Deutschland ein Schutzniveau
durchgesetzt, das über die europäischen Vorgaben hinausgeht. Der damalige Vorschlag der rot-grünen Bundesregierung sah vor, die Bestimmung der Reichweite
des Patentschutzes den Gerichten zu überlassen. Aufgrund der Initiative von CDU/CSU ist in Deutschland
nun eine Patentierung menschlicher Gensequenzen nur
dann möglich, wenn die Verwendung der Sequenz mit in
den Patentanspruch aufgenommen wird. Damit wurde
der absolute Stoffschutz durch einen zweckgebundenen
Stoffschutz ersetzt, sodass der Stoffschutz in Deutschland nur für die in dem Patent beschriebene Verwendung
gilt. Dass Sie dieses hohe Schutzniveau, das Sie CDU
und CSU verdanken, heute auch auf europäischer Ebene
erreichen wollen, spricht allerdings für Ihre Erkenntnisfähigkeit und freut uns deshalb umso mehr.
({3})
Auch die christlich-liberale Koalition will nicht, dass
Patente auf jahrhundertealte Züchtungs- und Selektionsverfahren und deren Nutzen zu einer Gewinnmaximierung für wenige und zum gleichzeitigen Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten von diesen Errungenschaften
führt. Auch wir sind gegen Patente auf landwirtschaftliche Nutztiere und Nutzpflanzen und sprechen uns deshalb für eine entsprechende Änderung des europäischen
Biopatentrechts aus. Wir sind jedoch der Meinung, dass
es erst nach der Entscheidung des Europäischen Patentamts Sinn machen wird, sich im Rahmen des Schnürens
eines Gesamtpakets zu überlegen, inwieweit zur Erreichung dieses Ziels und darüber hinaus Handlungsbedarf
auf europäischer Ebene besteht und inwieweit das Biopatentrecht tatsächlich geändert werden muss.
Dabei kann es definitiv nicht angehen, unsere Schöpfung zu kommerzialisieren. Der Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen und die Bewahrung der Schöpfung
auch vor kommerzieller Reservierung sind Kernanliegen
christlich-demokratischer Politik.
({4})
Aber es muss auch klar sein: Wir dürfen berechtigte
Interessen von Forschung und Wissenschaft nicht einfach grundlos vom Tisch wischen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Früchte der herausragenden deutschen
Forschungsleistungen in anderen Ländern geerntet werden. Deshalb brauchen wir auch ein zeitgemäßes Patentrecht, das internationalen Standards entspricht.
Dabei leben wir in Deutschland mit Sicherheit nicht
von zweifelhaften Patenten, um die man sich so lange
streiten muss, bis sie ohnehin wertlos geworden sind.
Aber wir leben vom Rohstoff Grips. Wir leben von der
Innovationskraft unserer Menschen im Dienste der Menschen, und dies dürfen wir nicht grundlos preisgeben.
Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Die
christlich-liberale Koalition hat ein großes Interesse daran, gemeinsam mit allen beteiligten Akteuren eine gute,
eine tragfähige Lösung zu finden. Ich appelliere daher an
Sie und an uns alle, ohne überkommene Klischees und
ohne selbstauferlegte Denkverbote und ohne pawlowsche Reflexe in eine sachliche, lösungsorientierte Diskussion einzutreten, sobald die Entscheidung des Europäischen Patentamts vorliegt.
Und es geht hier wie immer auch um Ehrlichkeit. Und
zur Ehrlichkeit gehört es, an dieser Stelle anzumerken,
dass Rot-Grün die europäische Biopatentrichtlinie erst
mit fünf Jahren Verspätung in deutsches Recht umgesetzt hat. Die Richtlinie ist von 1998, sie war bis 2000
umzusetzen. Sie haben unter Bruch geltenden Rechts
diese Richtlinie erst 2005 umgesetzt.
({5})
Schon damals haben Sie offensichtlich keine Dringlichkeit der Materie gesehen.
({6})
Heute pressiert es Ihnen so sehr, dass Sie nicht einmal
die Entscheidung des Europäischen Patentamts abwarten
wollen. Dass Sie jetzt eine solche Eile zur Schau stellen,
macht Sie gewiss nicht glaubwürdiger.
({7})
Herr Kollege, Entschuldigung, ich darf Sie einen Moment unterbrechen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Röspel zu?
Sehr gerne.
Bitte schön, Herr Röspel.
Vielen Dank. - Herr Kollege, Sie haben jetzt mehrfach behauptet, es sei der Union zu verdanken, dass gewisse Ausnahmen gegenüber der europäischen Biopatentrichtlinie bei der Umsetzung zum Tragen gekommen
sind. Ich habe das ganz anders in Erinnerung, nämlich
so, dass die Kollegen aus der FDP und aus der Union auf
eine Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie von 1998
ohne Veränderung, nämlich eins zu eins, gedrängt haben.
({0})
Ich bitte Sie, mir jetzt Ihre Quellen und Belege dafür zu
nennen bzw. zu geben, dass Sie die Genpatentierung und
auch die Reichweite einschränken wollten.
Wir haben in den Verfahren damals zum Ausdruck
gebracht, dass wir keinen absoluten Stoffschutz, sondern
einen konkreten Stoffschutz wollten. Ich reiche Ihnen
die entsprechenden Unterlagen gerne nach.
({0})
Ihre Erfolgsbilanz ist, dass Sie die EU-Biopatentrichtlinie von 1998 nicht mit einem Jahr, nicht mit zwei Jahren und auch nicht mit drei Jahren, sondern mit sage und
schreibe fünf Jahren Verspätung umgesetzt haben.
({1})
Sie haben das im Stile eines Bummelzugs betrieben, und
nachdem Sie von Bord gegangen waren, beschweren Sie
sich jetzt, dass er nicht die Geschwindigkeit eines ICEs
aufgenommen hat.
({2})
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion macht die von Ihnen demonstrierte Eile keinen Sinn. Lassen Sie uns zunächst die Entscheidung des Europäischen Patentamts
abwarten. Deshalb sind Ihre Anträge zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Warum werden Biopatente überhaupt beantragt, und warum sind es gerade Brokkoli,
Schweine und Sonnenblumen, die ins Visier der Patentjäger geraten sind? Aus Sicht der Linken ist das kein Zufall. Das Ziel, das mit Patenten verfolgt wird, ist nämlich
die Kontrolle über Wissen, und in allen drei Fällen geht
es um Lebensmittel.
Wer über Biopatente Nahrungsmittel kontrolliert, hat
Macht bis hin zur Erpressbarkeit. Deshalb ist die Kontrolle über Nahrungsmittelquellen eine der effektivsten
Gelddruckmaschinen, die es gibt, weshalb wir dort genau hinschauen müssen.
Beim Patentrecht geht es um eine sehr grundsätzliche
Frage: Was hat Vorrang? Ist es der Schutz des Rechts auf
Zugang zu Wissen oder die Sicherung des Rechts auf
seine wirtschaftliche Verwertung? Bei Biopatenten spitzt
sich dieser Interessenkonflikt noch weiter zu, weil es um
Wissen über Nahrungsquellen geht. Aus Sicht der Linken ist der Zugang zu diesem Wissen durch Biopatente
aber nicht zu blockieren. Der Grundsatz „Keine Patente
auf Leben“ ist für uns nicht verhandelbar.
({0})
Dies ist auch breiter Konsens inner- und außerhalb
der Parlamente. Auch der Bundestag hätte diese Position
längst beschließen können. Linke, SPD und Grüne waren sich schon vor einem Jahr einig - zumindest bei diesem Thema -, aber die SPD hatte in der Großen Koalition leider nicht die Kraft, das dann auch durchzusetzen.
Dabei besteht dringender Handlungsbedarf; denn die
Kritik an der europäischen Patentgesetzgebung und dem
Europäischen Patentamt wächst; das ist schon genannt
worden.
Die Spielräume in der schwammigen EU-Biopatentrichtlinie werden skrupellos ausgenutzt. Sie existieren
nicht versehentlich, sondern absichtsvoll. Ein Beispiel:
Patente auf im Wesentlichen biologische Verfahren zur
Züchtung von Pflanzen und Tieren dürfen nicht erteilt
werden. Doch wer definiert „im Wesentlichen“? Dem
Missbrauch durch findige Juristen im Auftrag von Saatgutkonzernen, der Chemieindustrie und Gentechnikunternehmen wird hier Tür und Tor geöffnet.
Die Linke will verhindern, dass die Grundlagen des
Lebens zur Beute privatwirtschaftlicher Interessenten
werden. Die Natur ist keine schützenswerte Erfindung,
sondern das Ergebnis der Evolution. Gene können entdeckt und ihre Funktion kann aufgeklärt und genutzt
werden, aber sie sind kein privater Besitz, und sie dürfen
es auch nicht werden.
({1})
Es ist doch geradewegs absurd, dass immer öfter
wichtige Forschungsergebnisse nur deshalb nicht mehr
wissenschaftlich veröffentlicht und damit allgemein zugänglich gemacht werden, um ihre wirtschaftliche Verwertung nicht zu gefährden.
Wenn Forschung in diesem Maße finanziellen Verwertungsinteressen unterworfen wird, behindert das den
Wissensfortschritt, den die gesamte Gesellschaft dringend braucht. Dieser Fesselung auch der Agrarwissenschaften dürfen wir nicht tatenlos zusehen.
Ein weiterer Aspekt ist mir wichtig, der im GrünenAntrag steht. Die Agrogentechnik ist eine Risikotechnologie. Eine unabhängige Begleitforschung zu ökologischen und gesundheitlichen Gefahren wird deshalb dringend gebraucht. Wir müssen genau wissen, ob zum
Beispiel Gentechnikmais das Bodenleben beeinflusst, ob
die Gentechkartoffel Amflora von Wildschweinen gefressen wird und was gegebenenfalls die Folgen sind.
Doch es mehren sich Berichte, dass kritischen Forscherinnen und Forschern das für diese Arbeiten dringend
nötige gentechnisch veränderte Saatgut nicht zur Verfügung gestellt wird. Damit sabotieren Konzerne die kritische Forschung, selbst dann, wenn sie öffentlich finanziert wird. Das ist absolut inakzeptabel und muss
unverzüglich korrigiert werden.
({2})
Das Fazit der Linken: Das aktuelle Biopatentrecht
verstärkt die Macht von Agrokonzernen gegen die Interessen der Gesellschaft. Dagegen müssen wir Widerstand leisten - in Deutschland, in der EU und bei der
WTO. Das Biopatentrecht darf das Recht auf Teilhabe an
Wissen nicht einschränken.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen eingebrachten Anträge auf ein vollständiges Verbot der Patentierung von Tieren und Pflanzen greifen
zwar durchaus diskussionswürdige Themen und Fragestellungen auf, aber sie gehen eindeutig viel zu weit.
({0})
Patente haben eine wichtige Doppelfunktion: zugunsten
des Erfinders und der Allgemeinheit. Einerseits schützen
sie nämlich die Investitionen des Patentinhabers, andererseits aber gewährleisten sie der Öffentlichkeit Einblick in die Erfindung. Durch die Veröffentlichung fließt
die Erfindung in den allgemein zugänglichen wissenschaftlichen Wissensstand ein. Die Alternative wäre,
dass ein Unternehmen seine Neuentwicklungen nicht
zum Patent anmeldet, sondern geheim hält. Dann aber
kann die Wissenschaft nicht auf der Grundlage des Patentes aufbauen und weiterforschen, und sie kann die Erfindung nicht substanziell und substanziiert kritisieren.
Es muss deshalb gerade im Interesse einer kritischen
Wissenschaftsbeobachtung sein, dass biotechnologische
Erfindungen im Patentverfahren veröffentlicht werden.
Das ist aber mit dem geforderten Pauschalverbot jeglicher Patente auf Tiere und Pflanzen nicht möglich.
Es geht, Frau Kollegin Dr. Tackmann, nicht darum,
die Kontrolle über Natur und Lebensmittel zu erhalten,
sondern es geht darum, dass Patente das geistige Eigentum eines Erfinders schützen und die Erfindung zugleich
auch der Öffentlichkeit zugänglich machen sollen. Sie
stellen damit eine Alternative zur Geheimhaltung von
Forschungsergebnissen dar.
Auch die FDP ist der Meinung, dass eine Überprüfung der Patenterteilungspraxis des Europäischen Patentamtes im biotechnologischen Bereich - übrigens
auch in anderen Bereichen - durchaus Sinn macht. Die
FDP teilt auch die Auffassung, dass Patente konsequent
ausschließlich auf biotechnologische Erfindungen erteilt
werden sollten und nicht auf biologische Entdeckungen.
Auch die Patentierung biologischer Züchtungsverfahren
und ihrer Produkte lehnt die FDP ab. Diese Abgrenzung
muss möglicherweise verbessert oder auch gesetzlich
konkretisiert werden, falls das die Rechtsprechung nicht
aus eigener Kraft leisten kann. Allerdings gibt es momentan dafür nicht genügend Anhaltspunkte. Die FDP
ist ebenfalls der Ansicht, dass die bestehenden Rechtsunsicherheiten beseitigt werden müssen. Das aber kann
nicht jetzt im Zusammenhang mit den von Ihnen vorgelegten Anträgen geschehen, sondern das muss nach der
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes in den aktuellen Fällen - Brokkoli
und Tomaten - geprüft werden. Momentan ist es dafür
noch zu früh.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum Kollegen Harbarth nur so viel: Neue Abgeordnete genießen ja immer einen gewissen Welpenschutz, aber die Debatte völlig von den Füßen auf den
Kopf zu stellen, das geht nicht. Ich glaube, Sie haben die
Unterlagen der rot-grünen Koalition mit denen der CDU/
CSU oder der jetzigen Koalition verwechselt.
({0})
Es war nun so, dass die Umsetzung der Biopatentrichtlinie genau die Probleme geschaffen hat, die wir gerade haben. Wir haben damals sehr zu Recht - übrigens
auch mit vielen von Ihnen und dem Deutschen Bauernverband - gegen das ganze Heer der Juristen dafür gekämpft, in der deutschen Rechtsprechung ein Züchterprivileg oder eine Percy-Schmeiser-Klausel und
Ähnliches zu verankern, um das Schlimmste zu verhindern.
({1})
Nichtsdestotrotz, Kollege Miersch, ich wäre auch
glücklich gewesen, Sie hätten diese Rede schon vor genau einem Jahr halten können. Damals war die Situation
genau umgekehrt. Zu dem damaligen Antrag der Grünen
zur Veränderung der Biopatentrichtlinie haben Sie gesagt: Lassen Sie uns doch abwarten, überprüfen. - Inzwischen haben wir erteilte Patente.
Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, was im
Mai passiert ist, nämlich auf die Erteilung des „Sonnenblumen-Patents“. Das ist übrigens ein klarer Vorgriff auf
die „Brokkoli-Entscheidung“ oder die „Tomaten-Entscheidung“, die jetzt kommt. Beim „Sonnenblumen-Patent“ ist es genau zu dem gekommen, was die Kollegen
von der FDP auch nicht wollen: Der ursprüngliche Patentantrag umfasste neben dem konventionellen Züchtungsverfahren einer speziellen Sonnenblumensorte
auch das Saatgut, die Pflanze, sogar die Verwendung des
Öls zum Braten und Backen und einen unglaublich weiten Claim. Dieses Patent ist dann im Verfahren auch tatsächlich erteilt worden. Man hat im Einspruchsverfahren
nur das Züchtungsverfahren als „nicht patentierbar“ beurteilt, aber die anderen Ansprüche bestehen lassen.
Damit ist genau die Situation eingetreten, die wir
schon Dutzende Male erlebt haben, nämlich dass etwas
patentiert wird, was mit Erfindung nichts mehr zu tun
hat. Das heißt, wir müssen zu einer rechtlichen Konsequenz kommen, zu einer Veränderung dieser Gesetze.
Ich finde, das muss im Sinne einer Eigentumswahrung,
im Sinne von Innovationsermöglichung möglichst
schnell geschehen.
({2})
Im Moment werden jeden Monat 10 bis 20 neue Patente erteilt. Übrigens war vor einem Jahr ein Argument
von Ihnen, die Widerspruchsverfahren seien doch alle so
klasse und erfolgreich. 70 Prozent sind tatsächlich erfolgreich. Aber Sie müssen sich auch mal vor Augen
halten, was das für die mittelständischen Firmen oder
Länder oder auch die Umweltgruppen, Kirchen, und wer
alles dabei ist, bedeutet. Im Fall einer solchen Einspruchseinlegung fallen oft Kosten von bis zu
100 000 Euro an, und auf den Kosten bleibt man auch
bei Erfolg sitzen. Das heißt, im Fall des Patentrechts gilt
de facto das Recht des finanziell Stärkeren. Das kann ja
nun nicht Grundlage einer Gesetzgebung sein. Das ist
eine grobe Wettbewerbsverletzung und fördert eine bisher undenkbare Monopolisierung in der Land- und Lebensmittelwirtschaft.
({3})
Die Patente sind die Lizenz zum Gelddrucken. Das
sehe ich auch so wie die Kollegin Tackmann. Man sieht
übrigens, dass die Patente echte Preistreiber sind. Wenn
man mal auf die Daten in den USA schaut, die dort über
die Kosten des Saatguts veröffentlicht worden sind, dann
sieht man beim Mais eine 30-prozentige Preissteigerung
im Jahr 2009 gegenüber 2008. Bei Soja sind es
25 Prozent, womit nicht im Mindesten entsprechende
Ertragssteigerungen verbunden sind.
Inzwischen beherrschen zehn große Konzerne zwei
Drittel des globalen Saatgutmarktes, und die dominierenden von denen, Monsanto, Syngenta, DuPont und
Bayer, beherrschen auch den Düngemittel- und Pestizidmarkt. Hier sind die Patente tatsächlich eine Lizenz zum
Gelddrucken.
Wir wollen die Forschungsfreiheit sicherstellen und
damit auch die Praxis wieder so gestalten, dass Forschungsfreiheit und Zugang zu Daten im Sinne des Gesetzes wieder möglich sind.
({4})
Wir wollen kein Patent auf Leben, kein Patent auf
Pflanzen und Tiere - so wie es in Ihrem Koalitionsvertrag steht; daran darf ich erinnern -, wir wollen eine
Überarbeitung der Konstruktion des Europäischen Patentamts und die Beseitigung aller Interpretationsspielräume. Ich hoffe, dass wir gemeinsam dazu kommen,
hier eine bessere Gesetzesgrundlage zu erstreiten.
Vielen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Matthias Miersch.
Frau Kollegin Höfken, Sie haben mich persönlich angesprochen und gesagt, Sie hätten sich gewünscht, dass
ich bereits vor einem Jahr diese Rede gehalten hätte. Ich
möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich, seitdem ich diesem Hohen Hause angehöre, nämlich seit 2005, in vielen Reden diesen Standpunkt für die SPD-Bundestagsfraktion immer sehr
deutlich vertreten habe, dass man aber, wenn man in einer Koalition ist - das wissen Sie sicherlich auch aus eigener Erfahrung -, seine Position nicht immer eins zu
eins in Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge umsetzen kann?
Zur Erwiderung, Frau Höfken.
Das erkenne ich sehr gern an. Das war auch kein Angriff auf Sie. Ich hoffe nur, dass wir aus der Debatte von
vor einem Jahr lernen können. Alle Argumente, die damals gegen eine Gesetzesänderung und entsprechende
Initiativen vorgebracht worden sind, wurden inzwischen
einer Prüfung unterzogen. Jetzt muss man endlich zum
Handeln kommen.
Vielen Dank. - Dann hat als nächster Redner das
Wort der Kollege Dr. Max Lehmer von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Die politische Diskussion um die Patentierung von Nutztieren und Nutzpflanzen wird in der Öffentlichkeit, sicher auch heute, mit
großer Aufmerksamkeit verfolgt. Mit der rasant fortschreitenden Entwicklung der Biotechnologie im In- und
Ausland gewinnt dieses Thema selbstverständlich immer
mehr an Bedeutung und - Herr Miersch, Sie haben auf
Entwicklungen hingewiesen, die zu Recht Sorge bereiten gibt den Menschen Anlass zu Ängsten und Befürchtungen. Gerade deshalb, denke ich, muss die Debatte mit
großer Sorgfalt geführt werden.
Die Frage der Patentierbarkeit führt automatisch zu
Interessenkonflikten zwischen dem Schutz des geistigen
Eigentums auf der einen Seite und dem Grundsatz der
allgemeinen Verfügbarkeit natürlicher genetischer Ressourcen auf der anderen Seite. Ich glaube, das ist der
Kernpunkt. Der Schutz geistigen Eigentums über Patente ist in einem Hochtechnologieland wie Deutschland
generell unverzichtbar; denn der Schutz einer Erfindung
und die Wertschöpfung, die aus deren Vermarktung gezogen werden kann, sind ein großer Ansporn, erfinderisch tätig zu werden und besser zu sein als andere.
({0})
Des Weiteren macht dieser Schutz Innovationen der
Öffentlichkeit zugänglich. Frau Höfken, Sie sollten nicht
nur negativ über Patente und Verteuerungen in der Praxis
reden; Sie sollten auch sagen, dass Patentschutz zumindest in Deutschland etwas ermöglicht, nämlich dass die
gefundenen neuen Erkenntnisse für alle verfügbar gemacht werden. Das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt.
Darauf gründet sich ein großer Teil unserer Wirtschaftskraft und unseres Wohlstands. Das Patent ist folglich ein elementarer Baustein unserer Wettbewerbswirtschaft und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.
Wir sehen aber auch die nicht unberechtigte Sorge
von Züchtern und Landwirten, dass Biopatente zu einer
zunehmenden Konzentration der Pflanzenzüchtung auf
wenige große Unternehmen sowie zu einer Verengung
der biologischen Vielfalt in der Produktion auf wenige
Hochleistungssorten und Rassen führen können. Der ungehinderte Zugriff auf genetische Ressourcen muss aber
allgemein möglich sein und bleiben. Ich glaube, das ist
eine Forderung, die wir alle unterschreiben können.
Biopatente stellen allerdings eine Besonderheit im
Patentrechtssystem dar. Wir haben es hier nicht mit technischer - toter - Materie zu tun, sondern mit Lebewesen,
die sich fortpflanzen und vermehren können. Dabei sind
die Belange der Naturwissenschaften, rechtliche Rahmenbedingungen, ökonomische Nutzerinteressen und
nicht zuletzt auch ethische Grundsatzfragen zu berücksichtigen und miteinander in Einklang zu bringen - ein
sehr komplexes System also.
Die Erteilung von Patenten ist an das Europäische Patentübereinkommen sowie die EU-Biopatentrichtlinie
gebunden. Ich will mich jetzt nicht mit der Vergangenheit aufhalten. Ich nehme den Status, wie er ist, und konzentriere mich darauf, wie man die weitere Entwicklung
in den Griff bekommen kann. Für eine Biopatentierung
muss die Frage gestellt werden, ob insbesondere die EUBiopatentrichtlinie, die konkrete Aussagen zur Reichweite von Biopatenten auf lebende Organismen enthält,
noch die Anforderungen an eine verantwortbare Politik
erfüllt oder ob Anpassungen in Erwägung gezogen werden sollten.
Die derzeit geltenden europarechtlichen Grundlagen
- das ist wichtig - schließen nur Patente auf Pflanzensor5334
ten und Tierrassen aus. Aber wie ist mit patentierten Verfahren umzugehen, die nicht auf den Schutz einer Sorte
oder Rasse gerichtet sind, sondern bewusst oberhalb
oder unterhalb dieser taxonomischen Ebene ganz legal
zu einem Patentschutz für Nutzpflanzen oder Nutztiere,
dem sogenannten abgeleiteten Stoffschutz, führen können?
Als prominentestes Beispiel ist das mehrfach angesprochene Brokkoli-Patent zu erwähnen, das im Juli vor
der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes in München verhandelt wird. Die Patentierung
von Pflanzen und deren Nachkommen ist hier mittels eines Verfahrenspatents - sozusagen durch die Hintertür möglich, da der Patentantrag sich nicht auf eine spezielle
Sorte bezieht.
Das sieht meine Fraktion sehr kritisch. Hier wird eine
klare - auch ethische - Grenze überschritten; das möchte
ich ganz deutlich postulieren.
({1})
Wir müssen die Vielfalt unserer genetischen Ressourcen
an landwirtschaftlichen Nutztieren und Nutzpflanzen erhalten. Unseren Landwirten und Züchtern müssen sie
auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns
der Bedeutung dieses Themas voll bewusst. Ministerin
Aigner hat bereits Mitte vergangenen Jahres zu einem
runden Tisch zum Thema Biopatentierung mit Vertretern
von Landwirtschaft, Industrie und Verbraucherschutzorganisationen eingeladen. Ich halte es für wichtig, alle
Beteiligten an einen Tisch zu bringen.
Der Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen beim BMELV wurde gebeten, eine Analyse der zu
erwartenden Auswirkungen der Biopatentierung auf
Landwirtschaft und Züchtung durchzuführen. Das angeforderte Gutachten wird bereits in den nächsten Tagen
vorliegen. Wie ich gehört habe, wird es am kommenden
Mittwoch der Ministerin übergeben und der Öffentlichkeit vorgestellt. Ich bin gespannt.
Mitte Juli wird vor der Großen Beschwerdekammer
des Europäischen Patentamtes eine Anhörung zum bereits erwähnten Brokkoli-Patent stattfinden. Dort soll geklärt werden, welche technischen Schritte ausreichend
bzw. notwendig sind, um aus einem nicht patentierbaren
- ich zitiere - „im Wesentlichen biologischen Verfahren“
ein patentierbares „technisches Herstellungsverfahren“
zu machen.
Ich schlage vor, das Gutachten des Beirats für Biodiversität und die Anhörung zum Brokkoli-Patent zunächst
abzuwarten und aus den Ergebnissen dann die nächsten
Schritte abzuleiten.
Zwei Fragestellungen werden dabei in den kommenden Wochen und Monaten im Mittelpunkt stehen.
Erstens. Ab wann ist ein Verfahren überhaupt patentierbar?
Zweitens. Die Reichweite eines Patents ist ebenfalls
eine elementare Frage. Wie weit also darf sich der abgeleitete Stoffschutz eines Verfahrenspatents überhaupt erstrecken? Müssen die Nachkommen eines mittels des patentierten Verfahrens erzeugten Tieres oder einer
entsprechenden Pflanze vom Schutz des Patents erfasst
sein?
Die Kernbotschaften der heute zur Debatte stehenden
Anträge der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, sich gegen eine Patentierung von Pflanzen und
Tieren starkzumachen, stehen in weiten Teilen im Einklang mit der Position der Regierungskoalition - und
auch meiner persönlichen Position.
({2})
Daher plädiere ich - trotz der unterschiedlichen Vorstellungen zu Nutzung und Einsatzmöglichkeiten der
Biotechnologie; hier gab es ja oft genug Dissens - ausdrücklich für einen breiten Konsens innerhalb des gesamten Hauses, der eine klare Grenze - ich sage es noch
einmal - zwischen Erfindungen als geistigen Leistungen
und Entdeckungen von natürlichen Ressourcen in Form
von Genen zieht.
({3})
Wir sollten die Positionen zu einem fraktionsübergreifenden Antrag bündeln. Das ist heute mein Vorschlag. Herr Miersch, ich nehme gern die Einladung an,
das gemeinsam zu tun. Wir liegen in der Zielprojektion
sehr nahe beieinander. Dies wäre nicht nur ein wichtiges
Signal gegenüber der Öffentlichkeit. Ein gemeinsamer
Antrag würde auch die Position Deutschlands in dieser
Frage auf EU-Ebene stärken und könnte eine Signalwirkung haben, um dann erforderliche Änderungen des europäischen Rechts anzustoßen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lehmer, ich
danke Ihnen für Ihre Positionierung und auch für Ihre
Rede. Sie haben im Verhältnis zum Kollegen Harbarth
etwas abgerüstet. Ich glaube, das ist auch im Hinblick
auf die notwendige gemeinsame Zielfindung in diesem
Bereich vernünftig gewesen.
Meine Damen und Herren, wer die Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose gelesen hat, der weiß, dass
Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Er hat uns
auch beauftragt:
… füllet die Erde und machet sie euch untertan und
herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über
alles Getier, das auf Erden kriecht.
Da steht nichts vom Europäischen Patentamt. Gott sei
Dank!
({0})
Aber aus diesen Worten wird vielleicht deutlich, dass wir
eine ethische Verantwortung für all unser Tun und all unser Handeln tragen, für den verantwortungsvollen Umgang miteinander, aber auch für den verantwortungsvollen Umgang mit unserer Umwelt und mit unseren
Mitgeschöpfen. Das sollten wir in dieser Debatte und gerade auch in der Auseinandersetzung über die Frage der
Biopatente immer im Blick behalten.
Die Debatte hier wird von einem großen Grundkonsens getragen. Ich sehe durchaus die Möglichkeit, etwas
Gemeinsames zu formulieren und einen gemeinsamen
Beschluss zu fassen. Es wäre sicherlich auch für unsere
deutsche Position im Hinblick auf die europäische
Rechtsetzung hilfreich, wenn wir mit einer Stimme sprechen würden.
Ich gebe zu: Die Rechtsmaterie ist recht kompliziert.
Ich bin Tierarzt und kein Jurist. Aber nehmen wir einmal
ein Beispiel aus der Praxis: In den 60er- und 70er-Jahren
haben wir große Fortschritte bei der Verbesserung der
Mastleistung von Schweinen erreicht. Insbesondere
wurde ein hoher Magerfleischanteil erreicht. Kollege
Holzenkamp könnte uns, wenn er da wäre, sagen, wie
wichtig das ist. Wir hatten aber auch Probleme: Wässriges Fleisch schrumpfte beim Erhitzen in der Pfanne um
die Hälfte; das kennen Sie alle noch. Schweine sind zwar
nicht serienweise, aber häufig aufgrund von Kreislaufproblemen umgefallen und verendet.
Ein typisches Symptom für mich in der Behandlung
war das Bananenschwein; es war aufgrund einer Muskeldegeneration immer ein wenig gekrümmt. Ursache
dafür war ein Gen, das man nicht genau bestimmen
konnte. Es gab aber ein einfaches Verfahren: Die Tiere
wurden mit Halothan narkotisiert, und dann wurde geschaut, wie sie reagieren. Daran konnte man feststellen,
ob das Tier eine positive oder eine negative Entwicklung
nehmen würde. Hätte jemand dieses Verfahren patentieren lassen, hätte er ein Durchgriffsrecht bekommen, das
ihn am Umsatz eines jeden Schnitzels und Bockwürstchens beteiligt hätte. Der Verbraucher hätte dafür an der
Ladentheke unter Umständen die nächsten 20 Jahre einen höheren Preis bezahlen müssen, während der Erfinder zugleich in ganz entscheidender Weise die
Zuchtrichtung in Europa hätte mitbestimmen können.
An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, welche
Tragweite Biopatente für unsere Ernährung und unsere
Lebensmittel entfalten können. Lebensmittel sind ja ein
Mittel zum Leben und aus diesem Grunde nicht allein
ökonomischen Interessen preiszugeben. Dass das nicht
geschieht, dafür tragen auch wir die Verantwortung.
({1})
Im Kern muss es darum gehen, dass auch zukünftig
alle Züchter das tun können, was sie bereits seit Jahrhunderten tun, nämlich die Eigenschaften von Pflanzen und
Tieren so zu verbessern, dass ihr Nutzen zum Wohle aller zunimmt. Das setzt einen Wettbewerb aller Züchter
untereinander voraus, und nicht nur zwischen einzelnen
Züchtern, die sich Patente gesichert haben. Die Zucht
war und ist immer eine große kulturelle Leistung. Diese
sollte man nicht kleinreden, auch wenn es natürlich sinnvolle Regelungen für die Wahrung des geistigen Eigentums geben muss.
Wir stehen nun vor großen Herausforderungen. Wir
müssen die Produktivität der Tiere und der Nutzpflanzen
bis 2050 um mindestens 70 Prozent verbessern. Im Hinblick auf den Klimawandel haben wir Sorge dafür zu tragen, dass standortangepasste Sorten entwickelt werden.
Hierzu muss auch die Gelegenheit gegeben werden; das
darf nicht mit globalen Patenten verhindert werden.
Vielmehr muss jeder einzelne Züchter die Gelegenheit
haben, das Zuchtprodukt, das gerade jemand vor ihm erreicht hat, weiter zu verbessern. In diesem Bereich darf
es keinen Ausschließlichkeitsanspruch geben. Dafür benötigen wir einen verlässlichen und eindeutigen Rechtsrahmen.
Bei der Umsetzung der Biopatentrichtlinie ist sicherlich nicht alles optimal gelaufen. Wir sollten aber dafür
Sorge tragen, dass weiterhin gerade das Züchterprivileg
und das Landwirteprivileg - für diesen Bereich können
und wollen wir ja Politik gestalten - erhalten bleiben.
Patente an sich bedeuten ein Monopol auf Zeit für eine
befristete oder ausschließliche Nutzung. Das kann natürlich von Dritten genutzt werden, aber nicht jeder ist dazu
in der Lage.
Man muss das Augenmerk beim Patentrecht nicht nur
auf die europäische Ebene und die europäische Landwirtschaft richten, sondern auch darüber hinaus. Unter
Umständen sind Züchter nicht in der Lage, die Patentgebühren zu bezahlen. Wer heute erfahren hat, wie teuer es
sein kann, ein Patent anzumelden, der weiß nun, dass
man dafür viel Kompetenz und viel Geld braucht. Davon
kann man die Entscheidung im Patentrecht letztendlich
aber nicht ausschließlich abhängig machen. Da heute
70 Prozent der Biopatente von den zehn größten Unternehmen angemeldet werden, muss man darüber nachdenken, inwieweit das zur Monopolisierung der Pflanzen- und Tierzucht beiträgt.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es
uns nach der Entscheidung am 20. Juli 2010 gelingen
wird, gemeinsam eine Position zu finden, die wir weiterentwickeln können und die allen nutzen wird.
Vielen Dank.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von
der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir bei dieser die Menschen im Lande bewegenden Frage, bei dieser Frage, die einen bedeutenden ethischen Hintergrund hat, zu einer vergleichsweise
großen Gemeinsamkeit gefunden haben. Ich denke, dass
damit die Voraussetzung dafür gegeben ist, dass wir einen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen. Ich bedanke mich dafür.
({0})
Ich bedanke mich auch für das Beispiel, das Kollege
Priesmeier genannt hat. Es hat uns verdeutlicht, worum
es geht. Ich bedanke mich auch für den Beitrag des Kollegen Lehmer, der die ganze Palette beschrieben hat.
Was uns im Zusammenhang mit der Biopatentrichtlinie und deren Umsetzung stört, ist die Tatsache, dass immer mehr Anstrengungen unternommen werden, mit juristischen Methoden Minierfindungen rechtlich abzusichern, statt mit naturwissenschaftlichen Methoden
neue Erfindungen zu erdenken. Genau das wollen wir
anders haben. Ich glaube, darüber sind wir uns einig.
({1})
Wir sind uns aber auch darüber einig - das ist in den
Beiträgen deutlich geworden -, dass wir auch in Zukunft
Patente brauchen. Wir brauchen den Schutz geistigen Eigentums bei biotechnologischen Erfindungen. Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal deutlich machen: Es geht nicht um „Kein Patent auf Leben!“. Mit
diesem Schlachtruf vermitteln wir genau die falsche Botschaft. Es gibt kein Patent auf Leben. Niemandem ist es
gelungen, eine chemische Verbindung zum Leben zu erwecken. Es gilt: Omne vivum ex vivo. Alles Leben entsteht aus Leben,
({2})
und deswegen kann Leben nicht patentiert werden. Darüber sind wir uns alle, glaube ich, einig.
({3})
Gleichzeitig sollte man einmal sagen: Es ist nicht
sinnvoll, dass wir als eine erfindungsreiche Nation Patente stigmatisieren. Wir haben seit circa 130 Jahren
Patente auf Lebewesen. 1873 erhielt Louis Pasteur das
Patent auf Bäckerhefe. Wir haben inzwischen mehrere
Tausend Patente auf Mikroorganismen, und zwar nicht
nur auf Bakterien, sondern auch auf Pilze, beispielsweise
auf Hefen. Mit Hefen kann man verschiedene Sachen
machen: Abends trinken Sie das Bier oder den Wein - da
sind die Hefen mit dabei -, und morgens haben Sie ein
Brötchen gegessen; da ist die Hefe auch dabei. Sie spielt
eine Rolle beim Thema CO2, man kann Bioethanol daraus herstellen usw. Es gibt also viele verschiedene Hefen. Eine ganze Reihe von ihnen ist patentiert, damit die
Erfindung bewahrt wird. Wir müssen sagen: Das wollen
wir weiterhin so haben.
Wir wollen auch, dass die Krebsmaus als Instrument
zur Erforschung von Krebs und für die Ermittlung von
Heilmitteln genutzt wird. Das ist aber etwas ganz anderes als das, was beispielsweise mit einem Schnitzelpatent versucht wird. Das wollen wir alle miteinander
nicht.
Die Studie „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungspotenziale der Biotechnologie in Deutschland“,
die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie zusammen mit dem Fraunhofer-Institut, der
Hans-Böckler-Stiftung und der Industrievereingung Biotechnologie vorgelegt wurde, sagt uns ganz deutlich,
dass wir erhebliche Potenziale haben. Es gilt, was im Fazit steht: Die Biotechnologie ist eine ausgesprochene
Spitzen- und Wachstumstechnologie. Sie schafft Arbeitsplätze. Dafür muss die Rote, Weiße und Grüne Biotechnologie in ihrer gesamten Bandbreite forciert angewendet werden.
Um die Erfindungshöhe zu halten, brauchen wir Patente. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der unseren
Anforderungen genügt. Wir wollen nur Erfindungen mit
einer bestimmten Erfindungshöhe und keine Kleinigkeiten patentieren. Herkömmliche Verfahren und Produkte
aus herkömmlichen Verfahren wollen wir nicht patentieren; das ist zurzeit der Fall. Wir wollen sicherstellen,
dass wir weiterhin ein Land sind, in dem es Innovationen
gibt, die zum Wohle der Menschen angewendet werden,
und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern.
Zur Bewältigung der Herausforderungen im Bereich
des Klimawandels und der Welternährung brauchen wir
entsprechende Erfindungen. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind, wenn wir uns über unsere Positionen in dieser rechtlich ausgesprochen schwierigen Frage
austauschen und zu einem gemeinsamen Beschluss kommen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2016 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/2141 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
beim Rechtsausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung
beim Agrarausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim
Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit gleichen
Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({0})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2009
- Drucksache 17/2100 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kersten
Steinke von der Fraktion Die Linke, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit
nunmehr 61 Jahren ist der Petitionsausschuss die zentrale
Einrichtung unseres Parlaments für die Behandlung aller
an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden aus der Bevölkerung. Trotz aller Klagen über
eine in Deutschland grassierende Politikverdrossenheit
wurden 2009 18 861 Petitionen von den Bürgerinnen und
Bürgern eingereicht. Diese Zahl macht deutlich, welch
enormes Vertrauen unserem Parlament und somit uns
Abgeordneten entgegengebracht wird. Verstärkt wird
diese Tatsache dadurch, dass sich hinter dieser Zahl von
18 861 Einzelpetitionen fast 900 000 Unterstützerinnen
und Unterstützer von Massen- und Sammelpetitionen
verbergen.
Noch beeindruckender sieht das Bild aus, wenn man die
Nutzung unseres Internetportals betrachtet. 525 000 Nutzer haben sich allein im Berichtsjahr registrieren lassen.
Es gab über 1 Million Mitzeichnungen von öffentlichen
Petitionen, und circa 60 000 Diskussionsbeiträge wurden abgegeben. Am Montag, also vor drei Tagen, haben
wir in einer öffentlichen Sitzung über die wirtschaftliche Lage der Hebammen beraten, die sich mit der Rekordzahl von 180 000 Unterstützerinnen und Unterstützern an das Parlament gewandt haben. Bereits im
Februar hatten wir es mit einer ähnlich hohen Zahl von
Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern zu tun, als wir die
im Berichtsjahr 2009 eingegangene Petition zum Thema
Internetsperren behandelten. So erfreulich die Entwicklung dieses Portals auch ist und so sehr wir es begrüßen,
dass auf diese Weise die Petitionsmöglichkeiten in der
Bevölkerung besser bekannt werden, dürfen wir nie vergessen: Unser Kerngeschäft bleibt die herkömmliche Petition, die persönliche Bitte und Beschwerde.
Der Einzelpetent, der keine Unterstützer an seiner
Seite hat, wird von uns genauso ernst genommen und
seine Eingabe wird genauso sorgfältig geprüft und bearbeitet wie die Masseneingabe mit 100 000 oder mehr
Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern.
({0})
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle den Polizisten, der
seiner erkrankten Ehefrau eine Niere spenden wollte und
der zunächst die Auskunft erhielt, danach den Polizeidienst nicht mehr ausüben zu dürfen. Der Petitionsausschuss konnte hier wie auch in den folgenden Beispielen
helfen.
In weiteren Petitionen ging es um die bessere Auswahl einer passenden Rehabilitationsklinik für ein behindertes Kind, die nachträgliche Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente oder die Anerkennung von
Kindererziehungszeiten für 13 Pflegekinder, die die Petentin neben ihren eigenen vier Kindern im Laufe der
Jahre in ihrer Familie aufgenommen hatte.
Meine Damen und Herren, zu Beginn habe ich von
Vertrauen gesprochen, das Petentinnen und Petenten uns
entgegenbringen. Dieses Vertrauen müssen wir aber auch
durch sorgfältige Arbeit rechtfertigen. Doch angesichts
der großen Zahl von Petitionen ist es nicht einfach, das
große Arbeitspensum immer in angemessener Zeit zu erledigen. Dies geht nur mit einer ausreichenden organisatorischen und materiellen Ausstattung sowie mit qualifiziertem und hochmotiviertem Personal. Auf dieses
Personal des Petitionausschussdienstes und der Fraktionen können wir Abgeordneten uns jederzeit verlassen.
Gerade unsere öffentlichen Petitionen bedürfen eines
höheren Betreuungs- und Arbeitsaufwandes, welcher
den Ausschussdienst oft an die Grenzen der Kapazität
bringt. Ich möchte mich deshalb besonders bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsausschussdienstes unter Leitung Herrn Haases recht herzlich bedanken und den Wunsch und die Hoffnung äußern, dass
die Zusammenarbeit weiterhin so gut bleibt, wie sie jetzt
ist.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ausgesprochen ärgerlich sind bei der hohen Arbeitsbelastung und den
knappen Ressourcen Posteingänge von einigen wenigen
Petenten, die sich mit großer Regelmäßigkeit an den
Ausschuss wenden, und zwar nicht mit persönlichen Anliegen, sondern mit Bitten höchst allgemeiner Art.
Selbstverständlich gilt auch für diesen Personenkreis
das Recht aus Art. 17 des Grundgesetzes. Art. 17 besagt,
dass jedermann das Recht hat, sich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Wenn aber eine einzelne Person
monatlich bis zu 100 Petitionen an uns sendet, stellt sich
schon die Frage nach einer Missbrauchsgrenze für die
Ausübung des Petitionsrechtes.
Lassen Sie mich ganz klar sagen: Der Petitionsausschuss wurde geschaffen, um bedrängten Menschen mit
zum Teil existenziellen Problemen beizustehen. Selbst
hierfür ist die uns zur Verfügung stehende Arbeitszeit
eher knapp bemessen. Schriftverkehr als Beschäftigungstherapie gehört nicht dazu. Wenn also ein Petent
gerne seinen Geburtstag im Bundeskanzleramt feiern
möchte oder ein anderer Blondinenwitze verbieten lassen will, so gehört das für uns ausdrücklich nicht in die
Kategorie wirkliche Sorgen und Nöte der Menschen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in 17 Sitzungen im
Jahr 2009 wurden vom Petitionsausschuss rund 7 000 Petitionen abschließend behandelt. In 13 Berichterstattergesprächen haben wir uns mit Petitionen zu Themen wie
die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts,
die Rechtsstellung der Beamten oder dem Dauerbrenner
Lärmschutz beschäftigt.
Gerade diese aufwendigen Beratungen mit Vertretern
der Bundesregierung sind für uns in besonderer Weise
geeignet, Hilfen im Einzelfall auszuloten. Es ist eben
nicht damit getan, an die jeweils zuständigen Institutionen eine Anfrage zum Sachverhalt zu senden und deren
Stellungnahme dann als unabänderliche Tatsache hinzunehmen. Die Mitglieder des Ausschusses sehen ihre
Aufgabe darin, alles nur Machbare im Interesse der Petentinnen und Petenten zu erreichen. Dabei nutzen wir
alle Möglichkeiten, die dem Petitionsausschuss zur Verfügung stehen. Diese reichen von der unmittelbaren Einbindung von Vertretern der Bundesregierung im Rahmen
der Berichterstattergespräche über die Durchführung öffentlicher Anhörungen bis hin zu einem Ortstermin. All
dies hilft den Mitgliedern des Petitionsausschusses,
sachkundige Entscheidungen zu fällen.
Meine Damen und Herren, 6 552 Bitten und Beschwerden konnten 2009 durch Rat, Auskunft oder Übersendung von Materialien erledigt werden. 1 316 Anliegen
wurden vom Petitionsausschuss positiv beschieden.
Etwa 600 Petitionen überwies der Deutsche Bundestag
auf Vorschlag des Ausschusses an die Bundesregierung
mit der Bitte, für Abhilfe zu sorgen.
Kritisch anmerken möchte ich in diesem Zusammenhang, dass wir nicht über alle Berichte der Bundesregierung glücklich sind, mit denen sie auf unsere Abhilfeersuchen antwortet, und dass wir uns in vielen Fällen
eine zügigere Beantwortung von Anfragen wünschen.
Manchmal hat man das Gefühl, dass die Regierung vielleicht zu sehr verdrängt, dass es sich bei diesen Abhilfeersuchen um Beschlüsse des gesamten Bundestages
handelt und dass es nicht nur die Wünsche einzelner Oppositionsfraktionen sind.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahresbericht
des Petitionsausschusses belegt eindrucksvoll, welche
Probleme und Sorgen die Menschen in unserem Land
haben. Mit gut 20 Prozent der Eingaben ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales das am stärksten
betroffene Ressort. Dabei waren die dominierenden
Themen die Grundsicherung für Arbeitsuchende in all
ihren Facetten und Eingaben zur Rente. Den zweiten
Platz - mit der größten Steigerungsrate im Vergleich
zum Vorjahr - belegen Eingaben aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Die Hauptproblemfelder sind hier Eingaben zum Unterhalts- und
Scheidungsrecht sowie zu Privatinsolvenzverfahren. Es
folgen mit je 10 Prozent der Eingaben die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Finanzen und schließlich mit fast
10 Prozent der Bereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es gibt viel Arbeit. Ich möchte deshalb besonders das Engagement hervorheben, mit dem die Mitglieder unseres Ausschusses
um die bestmögliche Lösung für die Petentin oder den
Petenten ringen. Eine Antwort aus den Ministerien oder
deren untergeordneten Behörden wird nicht einfach hingenommen, sondern hinterfragt.
({4})
So haben sich in vielen Fällen, obwohl sie beim ersten
Ansehen als aussichtslos eingestuft worden waren, Lösungen gefunden, die den Petenten wieder Hoffnung gaben, sodass diese Fälle in deren Sinn doch noch positiv
abgeschlossen werden konnten. Es gab auch immer wieder Fälle, bei denen bereits bestehende Gesetze aufgrund
von Petitionen überarbeitet werden mussten, da mögliche Härtefälle im Vorfeld nicht bedacht worden waren.
Das sind die Erfahrungen, bei denen wir stolz auf das Erreichte sind.
Leider kann ich nicht verschweigen, dass es schon
traurig stimmt, wenn wir in manchen Situationen feststellen müssen, dass uns bedauerlicherweise die Hände
gebunden sind und wir kein positives Votum abgeben
können.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
nochmals betonen: Art. 17 und Art. 45 c des Grundgesetzes sind nicht irgendwelche Artikel von vielen, sondern die Rechtsgrundlage für unsere Tätigkeit. Das ist
unser Auftrag, und um diesen zu erfüllen, erwarten wir
die uneingeschränkte Kooperation der von uns angerufenen Stellen. Wir werden nicht lockerlassen und immer
wieder nachhaken, wenn es um die Petentinnen und Petenten geht, die sich voller Vertrauen an uns, an den
Bundestag, und an die Bundesregierung gewandt haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die kommenden Jahre erhoffe ich mir von den Mitgliedern unseres
Parlaments weiterhin eine über alle Fraktionsgrenzen hinausgehende konstruktive Zusammenarbeit, so wie wir
es im Petitionsausschuss in den meisten Fällen praktizieren. Meinen schon nicht mehr ganz neuen Kolleginnen
und Kollegen im Ausschuss möchte ich sagen, dass ich
mich auf die gut begonnene Zusammenarbeit in dieser
Legislaturperiode auch in den kommenden Jahren freue.
Herzlichen Dank.
({5})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter
Baumann von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gerade in den letzten Tagen haben sich Petenten bei uns bedankt. Da Dank bei uns Abgeordneten
nicht allzu oft vorkommt - Dank tut gut -, möchte ich
mit der Schilderung folgenden Beispiels beginnen: Anwohner einer schönen Wohngegend in Zossen-Wünsdorf, Brandenburg, beschwerten sich im April 2008
beim Petitionsausschuss des Bundestages über Lärmbelästigungen durch Diesellokomotiven, die in der Nähe
ihrer Wohngebäude abgestellt worden waren. Seit einer
Fahrplanumstellung der Bahn im Jahre 2006 werden
diese Lokomotiven verändert abgestellt, und deren Aggregate laufen am Tag und nachts, sodass die Anwohner
nicht schlafen können. Die Petenten wandten sich zunächst an die Bahn. Es gab eine Reihe von Gesprächen ohne jede positive Reaktion.
Der Petitionsausschuss hat 2009 fraktionsübergreifend beschlossen, die Petition dem Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zur Erwägung zu
überweisen - ein sehr hohes Votum. Wer dachte, dass
sich nun etwas bewegt, hat sich natürlich geirrt. Wir vermochten zu erkennen, dass es Alternativen gibt. Das
Ministerium hat uns die Antwort der Bahn mitgeteilt,
man sehe keine Alternativen. Diese Antwort akzeptierten wir nicht. Am 3. Mai dieses Jahres führten wir in
Wünsdorf einen Ortstermin durch. Trotz Regens und
schlechten Wetters haben wir dort alles besichtigt und
gesagt: Es gibt garantiert Möglichkeiten, die Lokomotiven anders abzustellen. Uns war klar: Die Petenten haben keinen rechtlichen Anspruch auf Lärmschutz, da es
sich um keine Neubaustrecke handelt. Trotzdem waren
wir, speziell nach dem Ortstermin, der Meinung: Es gibt
Möglichkeiten.
In dem Gespräch vor Ort mit Petenten und der Bahn
haben wir festgestellt: Die Bahn bewegt sich keinen
Zentimeter und rückt von ihrer Meinung nicht ab. Wir
haben deutlich gemacht, dass wir dies nicht akzeptieren,
und haben die Angelegenheit nicht für erledigt erklärt.
Diese Woche teilten die Petenten dem Petitionsausschuss mit, der Ortstermin habe offensichtlich Wirkung
gezeigt, die Züge würden anders abgestellt. Es gibt für
die betroffenen Bürger im Prinzip keine Lärmbelästigung mehr.
({0})
Ich denke, ein solches Beispiel zeigt deutlich: Es geht
nicht nur um Gesetzesänderungen; wir müssen nicht immer hier im Plenum irgendetwas ändern. Es geht darum,
Wege zu suchen, mit den Petenten und den zuständigen
Ministerien Lösungen oder zumindest Kompromisse zu
finden.
Ein zweites Beispiel verdeutlicht das noch eindrucksvoller. Einem dienstunfähigen Oberstleutnant der Bundeswehr war die Fortführung seines Studiums an einer
staatlichen Landesuniversität versagt worden. Mit einem
hohen Votum konnten wir erreichen, dass er das Studium
fortsetzen konnte. Darüber hinaus hat das Verteidigungsministerium die Petition zum Anlass genommen, für die
Universitäten der Bundeswehr eine generelle Festlegung
zu treffen, dass dienstunfähige Soldaten und Offiziere
ihr Studium fortsetzen können.
Die beiden beliebig herausgegriffenen Beispiele aus
dem letzten Jahr zeigen, dass wir im Ausschuss mit
Hartnäckigkeit eine Menge für die Bürgerinnen und Bürger erreichen können. Immerhin sind im letzten Jahr
rund 50 Prozent der Petitionen positiv ausgegangen: In
7 Prozent der Fälle haben wir dem Anliegen direkt entsprochen. In 4 Prozent der Fälle haben wir ein hohes Votum an die Adresse der Bundesregierung erzielt. In den
meisten Fällen konnten wir damit etwas bewegen. In
39 Prozent der Fälle haben wir den Petenten mit Rat,
Auskunft oder Materialübersendung geholfen.
Die Bearbeitung von Petitionen ist ein wichtiges
Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland,
das gut angenommen wird. Wir stellen uns dieser Aufgabe. Die Vorsitzende sprach davon: Im letzten Jahr gingen fast 19 000 Petitionen ein. Man muss sich eine weitere Zahl auf der Zunge zergehen lassen: Täglich gehen
75 neue Petitionen im Bundestag ein. Die Zahl der Petitionen, die bearbeitet werden müssen, ist schon gewaltig.
Die Vorsitzende hat bereits auch diese Zahl genannt: Im
vergangenen Jahr haben sich 2 Millionen Bürgerinnen
und Bürger durch Einreichung von Petitionen und Massenpetitionen sowie Mitunterzeichnung, auch im Internet, in irgendeiner Art am Petitionswesen beteiligt.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu der Frage, wie
die Petitionen in Deutschland verteilt sind. Trotz eines
Rückgangs stellen wir nach wie vor fest, dass die meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern kommen.
Spitzenreiter ist Brandenburg mit 1 504 Petitionen im
Jahr; das sind 598 Petitionen auf eine Million Einwohner. Auf den folgenden Plätzen liegen Berlin, Thüringen,
Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Nun kann man natürlich wieder sagen: Die Ossis
meckern am meisten. Aber ganz so einfach ist es eben
doch nicht. Es gibt in den neuen Bundesländern eine
Reihe von Problemen, die im Einigungsvertrag nicht
komplett geregelt werden konnten und die heute nach
wie vor bestehen. Zum Beispiel haben wir uns mit einer
ganzen Reihe von Rentenfällen oder offenen Vermö5340
gensfragen - Probleme mit der Treuhand, die noch heute
bestehen - in den neuen Bundesländern beschäftigt, die
es in den alten Bundesländern nicht gibt.
Zwei weitere Zahlen: Der Ausschuss hat im letzten
Jahr insgesamt über 17 000 Petitionen bearbeitet - auch
das ist eine beachtliche Zahl -; in Ausschusssitzungen
waren es durchschnittlich 30 Petitionen.
An dieser Stelle sage ich einen herzlichen Dank an
alle Abgeordneten im Ausschuss, die wöchentlich in ihren Büros mindestens zehn, manchmal bis zu 30 Petitionen - bei Klaus Hagemann und mir sind es meist noch
ein paar mehr - bearbeiten müssen, und dies neben ihrer
Arbeit in mindestens einem zweiten oder gar einem dritten Ausschuss. Das muss an dieser Stelle einmal gewürdigt werden.
({1})
Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen
aller Fraktionen im Ausschuss auch für das überwiegend
gute und kollegiale Miteinander herzlich bedanken. Man
merkt ständig: Im Mittelpunkt steht das Problem, um das
wir uns kümmern wollen, und nicht der Parteienstreit.
({2})
An dieser Stelle richte ich im Namen der CDU/CSUBundestagsfraktion einen besonderen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
Die Vorsitzende sprach bereits davon: Ohne die Arbeit
des Ausschussdienstes könnten wir unsere Arbeit nicht
durchführen. Wir brauchen eine kompetente und sachliche Vorarbeit, sonst würde vieles nicht funktionieren.
({3})
Natürlich muss es der Ausschussdienst auch aushalten
können, wenn wir Abgeordnete manchmal eine ganz besondere Meinung haben, die nicht der des Ausschussdienstes entspricht. Aber so sind halt die Abgeordneten.
Mit der Einführung des Systems der öffentlichen Petitionen im Herbst 2008 haben wir eine neue Form der Petition gefunden, die sich bewährt hat. Eine Reihe von
Abgeordneten - auch ich gehörte damals dazu - hatte
Angst vor starkem Missbrauch. Die Befürchtungen sind
bisher nicht eingetreten. Die Bürger sind klug genug, das
Angebot ordentlich zu nutzen. Wir haben damit einen
wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit
geleistet.
Es tut jedem Abgeordneten gut, wenn er nach einer
öffentlichen Sitzung mit einem Petenten ins Gespräch
kommt und der Petent sich dafür bedankt, dass er nach
Berlin kommen durfte und sein Anliegen vortragen
konnte. In vielen Fällen können wir nicht helfen; aber
dass sie in Berlin waren und mit uns gesprochen haben,
ist für sie ein besonderes Ereignis. Dafür sind sie dankbar.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Wir haben eine Reihe besonderer Befugnisse, was uns ermöglicht, uns ein intensives Wissen anzueignen. Es gibt Ortstermine und
Berichterstattergespräche, die wir stark nutzen. Im Extremfall erhalten wir Akteneinsicht. Das ist für unsere
Arbeit wichtig. Wir stehen mit unserer Tätigkeit nicht
immer im Mittelpunkt des Parlaments, aber mit unserer
geräuschlosen Arbeit erreichen wir die Bürger und erzielen dadurch eine Reihe von Erfolgen. Wir können viele
Probleme lösen, aber nicht alle.
Ich habe mit einem Beispiel begonnen, ich möchte
mit einem Beispiel enden.
Aber bitte sehr kurz, Herr Kollege, Sie haben schon
deutlich überzogen.
Wenn sich zum Beispiel ein Petent an uns wendet und
uns auffordert, man möge in Deutschland alle Autos
gelb spritzen,
({0})
weil damit die Wirtschaft angekurbelt und die Verkehrssicherheit erhöht würde, können wir dem natürlich nicht
stattgeben.
Vielen Dank.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Stefan Schwartze
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Mitarbeiter des
Ausschussdienstes! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zahlen des Petitionsberichtes 2009 sind beeindruckend. Wieder sind fast 19 000 Petitionen an den Deutschen Bundestag gerichtet worden. Um einen Vergleich
zu nennen: Das entspricht der Einwohnerzahl meiner
Heimatstadt Vlotho. Es ist also wirklich beeindruckend.
Dass so viele Menschen dem Petitionsausschuss des
Bundestages ihr Vertrauen entgegenbringen, ist ein großer Erfolg.
Als neues Mitglied habe ich schnell gemerkt, was die
Mitgliedschaft im Petitionsausschuss vor allem bedeutet:
tiefe Einblicke und Erfahrungen in die ganz persönlichen
Lebensbereiche und Schicksale von Menschen in unserem Land, Erfahrungen, die man sonst nicht gewinnen
kann und die einen oft persönlich berühren. Diese Vielzahl von persönlichen Schicksalen und Problemen, aber
auch die Vielzahl von Ideen und Anregungen der Bürgerinnen und Bürger sorgen dafür, dass man sich als Abgeordneter immer wieder mit neuen Themen befasst. Als
Mitglied des Petitionsausschusses kann man sich über
Arbeitsmangel nicht beklagen.
Der Ausschuss ist mehr als der Kummerkasten der
Nation. Er gewährt einen Blick darauf, welche Sorgen
die Menschen haben und an welchen Stellen Probleme in
unserer Gesellschaft entstehen.
({0})
Es ist die ureigene Aufgabe der Politik, diese Sorgen zu
erkennen und den Menschen zu helfen. Die Mütter und
Väter des Grundgesetzes haben das Petitionsrecht daher
nicht nur fest im Grundgesetz verankert, sondern sie haben auch dafür gesorgt, dass der Petitionsausschuss als
Verfassungsausschuss einen hervorgehobenen Rang im
Bundestag genießt.
Es ist unsere Aufgabe als Mitglieder dieses Ausschusses, die hohen Ansprüche zu erfüllen. Dazu gehört auch,
dass wir das Petitionsverfahren ständig weiterentwickeln, wie dies zuletzt bei der Einführung der E-Petition
im Jahr 2008 erfolgt ist. Die Zahlen des Onlineportals
zeigen deutlich, dass der Petitionsausschuss den Sprung
in die neuen Medien geschafft hat. Dies ist deswegen so
wichtig, weil dadurch der jungen Generation das Petitionsrecht nahegebracht wird.
({1})
Dieser Erfolg sollte uns darin bestärken, das Petitionsrecht auch zukünftig populärer und leichter zugänglich
zu machen.
({2})
Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben daher die Anregung des Deutschen Kinderhilfswerks aufgenommen,
Kindern und Jugendlichen den Zugang zum Petitionsausschuss im Internet zu erleichtern. Gemeinsam arbeiten wir an Vorschlägen, wie ein solches Internetportal
aussehen könnte. Ein kinder- und jugendgerechtes Petitionsportal im Internet ist der richtige Weg, auch die
ganz Jungen über ihr Petitionsrecht aufzuklären und sie
zu ermutigen, ihre eigenen Probleme oder Vorschläge an
den Petitionsausschuss zu richten. Damit können wir
frühzeitig für Vertrauen in die Demokratie und ihre gewählten Vertreter werben.
({3})
Wie wichtig es ist, das Petitionsverfahren modern zu
präsentieren und neue Verfahren zu ermöglichen, hat
eine Petition gezeigt, die für große Aufmerksamkeit und
eine breite Debatte gesorgt hat. Es handelt sich dabei um
die Petition gegen die Einrichtung von Internetsperren.
Nachdem das sogenannte Sperrgesetz vom Deutschen
Bundestag verabschiedet worden war, bildete sich eine
breite Protestbewegung derjenigen, die das Internet ausgiebig und regelmäßig nutzen. Besonders junge Bürgerinnen und Bürger organisierten sich aus Angst vor Zensur.
Eine Onlinepetition wurde in wenigen Wochen von
mehr als 130 000 Mitzeichnern unterstützt, und es kam
zur öffentlichen Ausschusssitzung. Dabei wurde deutlich, dass keine Fraktion dieses Hauses mehr an diesem
Sperrgesetz festhält. Das ist ein Musterbeispiel für die
positive Entwicklung des Petitionswesens in den vergangenen Jahren.
({4})
Durch die Möglichkeit der Mitzeichnung und die öffentliche Beratung ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf
den Petitionsausschuss und seine Arbeit zu lenken. Es ist
außerdem gelungen, die Schwächen eines untauglichen
Gesetzes zu erkennen.
Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den am häufigsten mitgezeichneten Onlinepetitionen zwei Petitionen
sind, die sich mit dem Thema Internet und PC-Spiele befassen. Die jungen Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und die neuen Medien ganz selbstverständlich nutzen, haben mit der Onlinepetition ein
Medium entdeckt, welches ihrer Lebenswelt entspricht.
Dass sich die Onlinepetition nicht nur auf diese Generation beschränkt, hat die Petition der Hebammen, die
wir in dieser Woche in einer öffentlichen Anhörung behandelt haben, gezeigt. Dabei ist deutlich geworden,
dass durch die Arbeitsbedingungen, die schlechte Bezahlung und die dramatisch ansteigenden Kosten der
Berufshaftpflicht eine ganze Berufsgruppe um ihre Existenz bangt. Es ging um Arbeitsbedingungen, wie sie auf
viele Freiberufler zutreffen. Es ist deutlich: Hier muss
gehandelt werden. Wir werden hierzu auch eine Initiative einbringen.
({5})
Diese öffentliche Petition hat bewiesen, dass durch
die Modernisierung des Petitionswesens die Menschen
wichtige gesellschaftliche Themen besser auf die politische Bühne bringen können. Die Petition der Hebammen
ist ein Musterbeispiel dafür. Der Sprung in die neuen
Medien war erfolgreich.
Durch die Onlinepetition haben wir viele junge Menschen erreichen können. Mit Kindern und Jugendlichen
wollen wir SPD-Abgeordnete nun eine Zielgruppe erreichen, die von ihrem Petitionsrecht bisher leider sehr wenig Gebrauch macht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass
wir auch in diesem Punkt erfolgreich sein werden. Das
Petitionsrecht als Grundrecht ist in diesem Ausschuss in
guten Händen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit der letzten
Monate bedanken. Ich freue mich auch auf die weitere
Arbeit im Ausschuss. Mein ganz besonderer Dank gilt
den Mitarbeitern des Ausschussdienstes.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege
Stephan Thomae.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren des Ausschussdienstes! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das
Grundgesetz sieht in seinem Art. 17 vor, dass jedermann
sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen
Stellen und an die Volksvertretung wenden kann. In
Art. 45 c regelt das Grundgesetz, dass für die Behandlung dieser Bitten und Beschwerden ein Petitionsausschuss eingesetzt wird. Der Petitionsausschuss ist damit
neben dem Auswärtigen Ausschuss, dem Verteidigungsausschuss und dem Europaausschuss einer der vier Verfassungsausschüsse; Kollege Schwartze hat gerade darauf hingewiesen.
Diesem Ausschuss kommt in der Architektur der gesetzgebenden Gewalt eine doppelte Sonderstellung zu:
Zum einen ist er neben dem Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung der einzige Ausschuss, dem aufseiten der Bundesregierung kein Ministerium gegenübersteht; wir sind also sozusagen eine rein
parlamentarische Veranstaltung. Zum anderen ist der Petitionsausschuss diejenige Einrichtung des Bundestages,
über die auch der einzelne Bürger direkt und unmittelbar
ein Handeln der Volksvertretung auslösen kann.
Die Verfassung hatte ursprünglich Einzelbitten und -beschwerden aus dem persönlichen Lebens- und Erfahrungsbereich der Menschen im Sinn. Aber es bleibt nicht
aus, dass in Petitionen auch Themen aufgegriffen werden, die allgemeine oder öffentliche Anliegen zum Inhalt haben. Das kommt manchmal in sogenannten Einzelpetitionen einzelner Bürger zum Ausdruck, noch viel
mehr aber in Mehrfach- oder Sammelpetitionen.
Mehrfachpetitionen sind Petitionen mehr oder weniger gleichen Inhalts, die mehr oder weniger zufällig und
unabhängig voneinander den Bundestag erreichen und
dann gemeinsam beraten und behandelt werden. Bei
Sammelpetitionen werden für eine bestimmte Petition
systematisch Unterschriften gesammelt. Das geschieht
seit 2005 - es ist schon darauf hingewiesen worden - im
Wesentlichen im Wege der öffentlichen Petitionen, bei
denen die Bürger über das Petitionsportal des Internetauftritts des Deutschen Bundestages die aktuellen öffentlichen Petitionen einsehen, mitzeichnen und Diskussionsbeiträge dazu verfassen können.
Dies hat den Charakter des Petitionswesens verändert.
Einzelpetitionen oder Mehrfach- und Sammelpetitionen
weniger Petenten werden allerdings sowohl vom Ausschussdienst als auch von uns Abgeordneten genauso
ernst genommen und genauso gründlich studiert und bearbeitet wie Massenpetitionen. Dem Petitionsausschuss
ist sehr wohl bewusst, dass die Zahl der Petenten allein
noch kein Kriterium für die Relevanz und Signifikanz
eines Anliegens darstellt. Der Vorschlag eines einzelnen
Petenten kann genauso gut wie ein Vorschlag sein
- manchmal auch viel besser -, für den vielleicht durch
eine geschickte Kampagne Tausende von Unterschriften
gesammelt worden sind.
({0})
Das Petitionsportal des Bundestages ist ein ausdrücklicher Aufruf an die Bürger, an der politischen
Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken und sich
konstruktiv politisch-gestalterisch einzumischen. Diese
Möglichkeit ist also ein Erfolgsprodukt des Bundestages.
Aus dem Ihnen vorliegenden Bericht des Petitionsausschusses ergibt sich: Im Jahr 2009 - es ist schon darauf hingewiesen worden - haben 51 öffentliche Petitionen mehr als 2 000 Unterstützer gefunden.
Interessant ist, dass die Zahl der Zugriffe auf das Petitionsportal des Bundestages höher ist als die Zahl der
Aufrufe jeder anderen Webseite des Bundestages, sogar
der Hauptseite. Allein in den ersten sechs Monaten des
Jahres 2010 wurde über 31-Millionen-mal auf die Petitionsseiten des Bundestages zugegriffen. Das zeigt das
große Interesse der Menschen an diesem Instrument.
Wenn eine Petition innerhalb von drei Wochen seit
Einreichung mehr als 50 000 Unterstützer findet, dann
erhält der Petent die Möglichkeit, sein Anliegen den Abgeordneten in einer öffentlichen Sitzung des Ausschusses noch einmal mündlich zu erläutern; der Kollege
Baumann hat schon ausgeführt, dass es für die Petenten
auch ein besonderes Erlebnis ist, hier in Berlin im Bundestag aufzutreten. Damit werden Petitionen mehr und
mehr zu einem Instrument politischer Teilhabe.
Die Erfolgsgeschichte öffentlicher Petitionen ermutigt die Regierungsfraktionen, das Petitionswesen weiterzudenken und weiterzuentwickeln. CDU, CSU und
FDP haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass Massenpetitionen unter Beteiligung der Fachausschüsse im Plenum des Bundestages beraten werden.
Damit öffnet sich sozusagen die Kronkammer unserer
parlamentarischen Demokratie erstmals direkt und unmittelbar für Anträge aus der Mitte der Bevölkerung. In
Zeiten, in denen sich viele Menschen von der Demokratie abwenden, ist es ein gutes Zeichen, dass wir uns ganz
ostentativ den Menschen stärker zuwenden und sie in
den Deutschen Bundestag hineinnehmen, in dem wir uns
wiederum unmittelbar und direkt an die Öffentlichkeit
wenden.
Trotzdem muss herausgestellt werden: Die eigentliche Bestimmung des Petitionsrechts ist es natürlich
nicht, dass im Wege der Petitionen noch einmal alle politischen Diskussionen wiederholt werden, die ohnehin
das Tagesgeschehen bestimmen. Es mag zwar ein Unterschied sein, ob nur eine Fraktion des Bundestages oder
aber 100 000 Bürger eine politische Frage zum Gegenstand einer parlamentarischen Beratung machen. Aber
das Petitionswesen kann und soll die Tagesordnung des
Bundestages nicht bestimmen. Wir wollen bestimmten
Petitionen den Weg in die Plenardebatten öffnen. Aber
die Voraussetzungen dafür sollen doch so ambitioniert
sein, dass der Beratung einer Petition im Plenum ein besonderer Ausnahmecharakter anhaftet.
Regelfall und Hauptaufgabe des Ausschusses sollten
bleiben, sich mit konkreten Bitten und Beschwerden zu
beschäftigen, mit denen sich Menschen hilfesuchend an
die Volksvertretung wenden. Über alle Fraktionsgrenzen
hinweg prüfen die Mitglieder des Petitionsausschusses
und des Ausschussdienstes sehr gewissenhaft die Substanz einer jeden Petition. In vielen Fällen holen wir
Stellungnahmen der Ministerien ein oder führen zusammen mit Ministerialbeamten oder gar Staatssekretären
mündliche Anhörungen durch. Wir lassen uns Bericht
erstatten mit dem Ziel, dass eine Behörde ihre Entscheidung unter neuen Gesichtspunkten vielleicht noch einmal prüft.
Aber natürlich haben wir als Ausschuss die Teilung
der Staatsgewalten zu respektieren. Der Petitionsausschuss ist weder eine Superrevisionsinstanz der Gerichtsbarkeit noch eine oberste Bundesbehörde. Wir können der Staatsverwaltung keine Weisungen erteilen.
Aber wir können versuchen, Anstöße zu geben. Wir können Signale aufnehmen. Der Petitionsausschuss ist ein
Seismograf des Gesetzgebers. Wir spüren oft als Erste
die kleinen und die großen Beben, die eine gesetzgeberische Entscheidung hervorrufen kann, aber auch Probleme, die vielleicht gar nicht auf die Gesetzgebung zurückzuführen sind.
Ich möchte abschließend auf zwei - für meine Begriffe sehr spektakuläre - Massenpetitionen hinweisen,
nämlich einmal auf die GEMA-Petition, die von einer
Petentin aus meinem Wahlkreis Oberallgäu initiiert und
eingereicht worden ist, und auf die schon erwähnte Petition der Hebammen. In beiden Fällen ist es nicht so, dass
wir als Gesetzgeber diese Probleme ohne Weiteres lösen
können. Dafür mangelt es uns an direkter Gesetzgebungskompetenz. Deswegen können wir das nicht legislativ lösen. Aber das Parlament kann seinen informellen
Einfluss geltend machen. Das Parlament kann sein Gewicht in die Waagschale werfen.
So zeigt sich in der hohen Zahl von 18 861 Petitionen
im Jahre 2009 und von fast 900 000 Unterstützern von
Massenpetitionen, dass trotz aller - oft auch berechtigten Kritik an den Riten der parlamentarischen Demokratie
die Volksvertretung weiterhin als Gravitationszentrum
unseres Staatsaufbaus verstanden wird. Somit sollte die
Rolle des Petitionsausschusses in unserer Verfassungsarchitektur nicht zu gering geachtet werden.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Remmers
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitarbeiter des Ausschussdienstes! Die Wählerinnen und Wähler sind der Souverän eines jeden demokratischen Staates. Sie stimmen für
eine Kandidatin oder einen Kandidaten und eine Partei
und übertragen ihr damit die Wahrnehmung ihrer Interessen. Allerdings wächst in Deutschland die Zahl der
Menschen, die sich durch die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse und vor allem die Mehrheitsentscheidungen
nicht mehr repräsentiert fühlen und tatsächlich allzu oft
auch nicht mehr repräsentiert werden. Bis zu einem gewissen Grad ist das sicher ein Stück weit normal. Aber
Demokratie verliert ihre Legitimation, wenn zu viele
einzelne Menschen und ganze gesellschaftliche Gruppen
den Eindruck haben, dass ihre Stimme und ihre Interessen überhaupt nicht mehr zählen.
({0})
Das verfassungsrechtlich verankerte Recht, sich mit
seinen Bitten und Beschwerden direkt an den Bundestag
zu wenden, kann ein Mittel sein, dem zumindest teilweise entgegenzuwirken. Deswegen ist es umso wichtiger, dass der Bundestag - also wir alle - die Arbeit des
Petitionsausschusses ernst nimmt. Es handelt sich bei
den Petentinnen und Petenten eben nicht um lästige Bittsteller. Die Eingaben der Menschen - einzeln oder in
Gruppen - müssen auch und gerade von der Bundesregierung als notwendiges Korrektiv ihrer politischen
Entscheidungen anerkannt werden. Die Petitionsstatistik weist als Seismograf und Indikator der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu viele
Missstände und Ungerechtigkeiten aus. Es ist schließlich
unsere Aufgabe, diese Missstände und Ungerechtigkeiten als Fehlfolgen der hier beschlossenen Gesetze wieder
zu beseitigen.
({1})
Die Arbeit des Petitionsausschusses erlaubt sowohl
die qualitative als auch die quantitative Evaluation der
Gesetzgebung. Sie nimmt vorweg, was oft später in der
öffentlichen und politischen Diskussion erscheint. Damit
zeigen sowohl der Einzelfall als auch die Massenpetition
anschaulich die Tauglichkeit von einzelnen Gesetzen.
Vor allem in der Hartz-IV-Gesetzgebung zeigt sich
immer wieder an erschütternden Beispielen, welche offensichtlichen Härtefälle vor dem Gesetz vollkommen
korrekt sind. So bringen beispielsweise die Anrechenbarkeit von fast allen anderen Einkünften oder auch die
Falschberechnungen der zuständigen Behörden Arbeitsuchende viel zu oft in existenzielle Notlagen. Solche
Ergebnisse in der Umsetzung von Gesetzen sind völlig
inakzeptabel, und die Architekten der Hartz-IV-Gesetzgebung wären gut beraten, die auch durch das Petitionswesen festgestellten Auswirkungen ihrer Reform
schnellstens abzustellen.
({2})
Ich möchte neben der Hartz-IV-Gesetzgebung auf einen weiteren Schwerpunkt im Jahresbericht 2009 näher
eingehen. Die Arbeit der bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH als Nachfolgerin der
Treuhand war und ist Gegenstand zahlreicher Beschwerden - und das nicht nur in Bezug auf die Privatisierung
von Seen. Die oft undurchsichtigen Richtlinien für den
Verkauf von landwirtschaftlichen Flächen und die intransparenten Entscheidungen waren häufig Grundlage
von Beschwerden. Hier setzt sich die vor allem von Ostdeutschen erlebte unrühmliche Vergangenheit der Treuhand fort und gipfelt in dem eben schon erwähnten flächendeckenden Verkauf von Seen in Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern. Kurzzeitig hatte die Vorgängerregierung - bei diesem Thema strategisch clever den Verkauf vor der Bundestagswahl im September letzten Jahres gestoppt, um ihn nach der Wahl gleich wieder
zu erlauben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen sieht anders aus.
({3})
Um das Beispiel zu Ende zu führen: Laut einem Bericht des RBB vom 19. Juni dieses Jahres plant die
BVVG den Verkauf von weiteren 300 Seen in Ostdeutschland in den nächsten Jahren. Demnach sollen die
Seen zwar vorrangig den Kommunen zum Kauf angeboten werden, die Frage ist aber, ob sich die klammen
Städte und Landkreise ihre eigenen Seen überhaupt leisten können. Obwohl die Seen sowieso der öffentlichen
Hand in Form der BVVG gehören, sollen die Kommunen dafür bezahlen, einen wichtigen Faktor für den Tourismus auch weiterhin nutzen zu dürfen. Das ist schon
eine seltsame Logik, wenn es um die wirtschaftliche Zukunft der neuen Länder geht.
Vergleichbar mit der Seenprivatisierung im vergangenen Jahr haben im ersten Halbjahr 2010 auch die Hebammen mithilfe breiter öffentlicher Unterstützung in
kürzester Zeit eine öffentliche Ausschusssitzung durchgesetzt. Dazu musste sich die Bundesregierung am vergangenen Montag erklären.
({4})
- Dies ist nur ein kleines weiteres Beispiel, Frau Kollegin. Die zehn Sekunden haben wir, glaube ich, übrig.
({5})
Die Hebammen haben in absoluter Rekordzeit mit einer öffentlichen Petition auf ihr Anliegen aufmerksam
gemacht. In der Folge musste und muss sich der Ausschuss wie auch das Gesundheitsministerium mit den
massiv steigenden Haftpflichtprämien im Vergleich zu
der kaum steigenden Vergütung der Hebammen beschäftigen.
Diese und andere Beispiele, speziell Beispiele von öffentlichen Petitionen, zeigen die direkte Einflussmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger, die durch die Veröffentlichung der Themen diese viel stärker in das
öffentliche Bewusstsein bringen. Sie zeigen aber auch,
dass sich die öffentliche Petition zunehmend zum Instrument zivilgesellschaftlicher Lobbyarbeit entwickelt. Ich
halte diese Entwicklung vor allem deshalb für sehr
erfreulich, weil sie die bislang benachteiligte zivilgesellschaftliche Interessenvertretung - also bürgerschaftliches Engagement oder die sogenannten Graswurzelbewegungen - gegenüber anderen, finanziell meist recht
gut ausgestatteten Verbänden, zum Beispiel der Wirtschaft, erheblich stärkt. Damit verhilft das Instrument
der öffentlichen Petition den zivilgesellschaftlichen
Gruppen zu mehr Gerechtigkeit bei der Vertretung ihrer
Interessen, und das ist gut so.
({6})
Abschließend noch kurz einige Punkte. Meine Fraktion und ich wünschen uns von Herzen, dass noch sehr
viel mehr Menschen die Möglichkeiten nutzen mögen,
sich mit ihren Anliegen direkt an den Bundestag zu wenden - in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der
Demokratie.
Auch ich möchte mich in diesem Zusammenhang für
die gute Zusammenarbeit im Ausschuss und die Arbeit
des Ausschussdienstes herzlich bedanken.
Zuletzt möchte ich betonen, wie wichtig es ist, dass
der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit die von
den Bürgerinnen und Bürgern mittels Petitionen aufgezeigten Probleme und Missstände wirklich ernst nimmt.
Das gilt für jedes Einzelanliegen genauso wie für die
Massenpetitionen.
Passiert das nicht, bleibt es beim öffentlichen Debattierklub, und das Petitionsrecht verkommt womöglich
zur plebiszitären Krücke. Als Folge würden sich die
Bürgerinnen und Bürger zu Recht weniger denn je ernst
genommen fühlen. Dies würde die Politikverdrossenheit
verstärken und an der Legitimation des Parlaments nagen. Das Vertrauen in die Demokratie würde weiter geschwächt werden. Das dürfen wir nicht zulassen.
({7})
Der Wähler ist der Souverän des Staates und nicht sein
Bittsteller.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort
der Kollege Memet Kilic.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte der Frau Vorsitzenden und den
Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen sowie deren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die bisher gute
und faire Zusammenarbeit im Ausschuss danken.
({0})
Ich bin neu in diesem Ausschuss. Darum gilt mein
Dank insbesondere auch den Mitarbeiterinnen und MitMemet Kilic
arbeitern des Ausschussdienstes. Ihnen ist es gelungen,
mir und den vielen anderen neuen Abgeordneten mit
größter Geduld, Engagement und Kompetenz den Einstieg in die Arbeit des Ausschusses zu erleichtern. Dafür
mein Dank auch im Namen meiner Fraktion!
({1})
Im vorliegenden Jahresbericht finden sich einige eindrucksvolle Beispiele dafür, dass der Petitionsausschuss
nicht nur bei den laut vorgetragenen Anliegen aufmerksam wird. Gerade bei den leise, verzweifelt und einsam
vorgetragenen Petitionen hört der Petitionsausschuss genau hin; denn das Anliegen der Einzelnen ist sein Kerngeschäft. Der Petitionsausschuss kümmert sich um die,
die sonst nicht gehört werden. Ganz gleich, ob sie von
einer Person eingereicht oder von Hunderttausenden unterstützt wird: Jede Petition ist dem Petitionsausschuss
gleich viel wert.
Durch die Instrumente E-Petition, öffentliche Petition
und öffentliche Ausschusssitzung ist der Zugang zum
Petitionsausschuss einfacher und das Verfahren durchsichtiger geworden. Die Bürgerinnen und Bürger machen rege davon Gebrauch. Über das Internetportal des
Petitionsausschusses können sich die Bürgerinnen und
Bürger direkt in das parlamentarische Geschehen einmischen. Das ist einzigartig im Bundestag. Mit über 56 000
Beiträgen ist es zudem eines der größten Politikforen in
Deutschland überhaupt.
Die Petitionen haben einen Namen und ein Gesicht
bekommen. Die Menschen hinter den Anliegen werden
sichtbar. Somit erkennt jeder, dass Politik nicht nur die
Angelegenheit von einigen wenigen, sondern von jedem
Mann und jeder Frau sein muss, die in unserem Land etwas ändern und verbessern wollen.
({2})
Sie heißen beispielsweise Susanne Wiest, eine Tagesmutter aus Greifswald, die für ein bedingungsloses
Grundeinkommen streitet und binnen kurzer Zeit 53 000
Unterzeichnerinnen und Unterzeichner für ihre Petition
gewonnen hat. Da ist Franziska Heine, eine Webdesignerin, die für ihre Petition zur geplanten Netzsperre nicht
nur 130 000 Unterstützerinnen und Unterstützer fand,
sondern auch ein Umdenken in der Bundesregierung bewirkt hat. Da ist der Schüler Isaak Schwarzkopf. Der
13-jährige Junge aus Thüringen fordert in seiner öffentlichen Petition, den Worten zur Begrenzung der Klimaerwärmung auf 2 Grad endlich Taten folgen zu lassen,
und macht konkrete Vorschläge an die Politiker. Der
kleine Isaak gegen den Rest der Welt? Nein. Auch der
Schüler Isaak hat für seine Onlinepetition bereits viele
Unterstützer und Mitstreiter gefunden.
Die Menschen waren mit der Arbeits-, Sozial- und
Gesundheitspolitik der Bundesregierung nicht zufrieden - Tendenz steigend. Im Jahresbericht 2009 findet
der unzulängliche und ungerechte Umgang der Bundesregierung mit der Bankenkrise, der Abwrackprämie und
dem Konjunkturpaket sein unmittelbares Echo. Das Bewusstsein dafür, dass Politik nicht nur alle vier Jahre bei
Wahlen gemacht wird, wächst. Es passiert sehr viel zwischendurch. Darauf können wir aufbauen, aber es bleibt
natürlich noch viel zu tun. Wir müssen nachlegen.
Die besondere Bedeutung des Petitionsrechts zeigt
sich auch darin, dass es nicht nur als Bürgerrecht, sondern auch als Menschenrecht im Grundgesetz verankert
ist. Es steht allen Menschen offen, Erwachsenen wie
Kindern, Inhaftierten und Geschäftsunfähigen, deutschen Staatsbürgern und Menschen ohne deutsche
Staatsbürgerschaft, gleichgültig wo auf dieser Welt sie
leben. Mehrere Hundert Menschen aus dem Ausland haben dieses Recht im vergangenen Jahr wahrgenommen.
Viele von ihnen beklagen sich über die restriktive Visavergabepraxis der deutschen Auslandsvertretungen.
Viele Familien werden zerrissen, weil Ehegatten und
Angehörige nicht zu ihren in Deutschland lebenden Verwandten ziehen dürfen. Sie können keine hinreichenden
Deutschkenntnisse nachweisen, haben oft aber auch
keine Möglichkeit, die Sprache im Ausland zu erlernen.
Wir verzeichnen allerdings auch einen besonders starken Anstieg bei den Petitionen zum Aufenthalts- und
Asylrecht. Die Zahl der Petitionen zum Asylrecht verdoppelte sich im vergangenen Jahr. Fast ausschließlich
ging es hier um die Angst der Menschen vor einer Überstellung in die griechischen Auffanglager. Obwohl das
Bundesverfassungsgericht in mindestens sieben Fällen
im Eilverfahren untersagt hat, dass Menschen an Griechenland überstellt werden, ist die Bundesregierung in
der Regel nicht bereit, hier Abhilfe zu schaffen. Sie verweist auf die aus ihrer Sicht noch unklare Rechtslage.
Unglücklicherweise konnten wir daher weniger Menschen helfen, als ich mir gewünscht hätte. Es liegt an
uns, uns in diesem Punkt anzustrengen.
Die Menschen wollen mitreden und mitgestalten. Sie
wollen als mündige Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden. Mitbestimmung ist das wichtigste Mittel gegen die angebliche Politikverdrossenheit.
({3})
Daher müssen wir das Petitionsrecht noch bekannter machen und den Zugang vereinfachen. Wir müssen auch
die Menschen gewinnen, die bisher zu wenig von den
Möglichkeiten Gebrauch machen, sich einzumischen,
zum Beispiel Erwerbslose, Frauen, Ältere und Immigranten. Ändern muss sich auch die hohe Quote der Eingaben, die nicht als öffentliche Petition zugelassen werden. Gerade bei den öffentlichen Petitionen könnte die
Mitzeichnungsfrist verlängert und das Quorum gesenkt
werden. Rund 60 Prozent der eingereichten öffentlichen
Petitionen wurden nicht als solche zugelassen. Ich würde
mich freuen, wenn diese hohe Quote sinken würde.
Ich freue mich auf weitere spannende und erfolgreiche Jahre im Dienst der Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Jahr 2009 - um dieses Jahr geht es im vorliegenden Bericht - war in zweierlei Hinsicht ein besonderes Jahr für den Petitionsausschuss: Erstens konnten
wir unser 60-jähriges Bestehen feiern, und zweitens war
es über das ganze Jahr möglich, öffentliche Petitionen
im Internet einzureichen, zu diskutieren und mitzuzeichnen. Es war ein schönes Jahr, das wir heute würdigen.
Das 60-jährige Jubiläum zeigt, dass wir Kontinuität
haben. Es zeigt aber auch, dass wir uns der Zeit anpassen
müssen und dies auch tun wollen.
Das Petitionswesen hat sich stetig weiterentwickelt.
Es ist ein Vorzeigemodell geworden. Es wird sowohl im
Inland als auch im Ausland anerkannt, und es wird nachgefragt, wie wir das Petitionsrecht handhaben.
Es stößt auf viel Interesse. Ich erinnere daran, dass in
England, der Urdemokratie, gar kein Petitionswesen
existiert. Wir sind schon wesentlich weiter. Wir haben in
Berlin viele ausländische Delegationen empfangen können, die sich danach erkundigten, wie hier die Zusammenarbeit funktioniert und wie das Petitionswesen organisiert ist. Besonders Delegationen aus frankophonen
Ländern Westafrikas - ich freue mich, dass Herr
„Afrika-Fischer“ anwesend ist -,
({0})
aus Algerien, Marokko und Tunesien sowie aus Vietnam
haben sich generell über unser Ausschusswesen informiert.
Die Petitionsausschüsse und Ombudsleute aus dem
Inland, die nach Berlin reisten, interessierten sich natürlich vor allen Dingen für das System der öffentlichen
Eingaben. Allgemein erfährt die Praxis eine sehr positive Resonanz - nicht nur vonseiten der Vertreter anderer
Parlamente, auch seitens der Bürgerinnen und Bürger.
Sie wissen, dass wir uns als Petitionsausschuss auch
um die Zusammenarbeit mit den Petitionsausschüssen
der Landesparlamente kümmern. Deswegen laden wir
regelmäßig die Vorsitzenden der Petitionsausschüsse der
Landesparlamente ein. Wir freuen uns schon außerordentlich auf die Laudatio der Vizepräsidentin Frau
Hasselfeldt zum 60-jährigen Bestehen Ende September
in Schwerin.
Wir Mitglieder des Petitionsausschusses gehen auch
vor Ort, wenn wir es für angebracht halten. Zeitbedingt
geht das nicht in jedem Fall. Aber wir machen das doch
sehr häufig. Wir waren an der A14, um uns den Lärm
höchstpersönlich anzuhören. Die Gefahr ist bloß immer,
dass der Wind in dem Augenblick aus der falschen Richtung kommt und wir uns dann die Lärmbelastung vorstellen müssen. Hier war das an der Sülzetalbrücke, und
wir haben rechtlich nicht unbedingt helfen können. Aber
wir haben die Petition dann dem Petitionsausschuss des
Landesparlaments zugewiesen mit dem Hinweis, dem
Anliegen des Petenten, wenn man eine Möglichkeit
sehe, nachkommen zu wollen und für Lärmschutz zu
sorgen. Das ist also ein positives Beispiel dafür gewesen,
dass wir im Gespräch die schwierige Situation haben
verbessern können.
Der Petitionsausschuss selbst ist sehr offen für Kritik,
und er nimmt auch gern Probleme auf, um daraus dann
Handlungsempfehlungen abzuleiten. Wir möchten konkrete Verbesserungen erreichen.
Ein Problem in der letzten Zeit waren fehlende Abstellplätze an den Autobahnen für Lkws. Es gab eine
Petition, es gab eine öffentliche Beratung im Petitionsausschuss, und es gab auch eine Begleitung durch Radiosender, die dieses Thema speziell für Trucker aufbereitet haben. Es ist kein Hauptpunkt gewesen, aber wir
haben dieses Anliegen begleitet. Jetzt sind viele Initiativen gestartet worden, um Stellplätze für Trucks auszubauen. Bis zum Jahre 2012 sollen insgesamt etwa
15 000 Plätze zur Verfügung stehen. Das ist ein gutes
Programm, das wir mit begleiten konnten.
({1})
Zum Schluss, meine Damen und Herren, möchte ich
deutlich machen, dass wir Individualinteressen sehr
wohl unterstützen und dass wir uns als Korrektiv bei Gesetzen sehen, die die gesamte Bevölkerung betreffen.
Ohne die Mitarbeiter in unseren Büros und ohne die Mitarbeiter des Petitionsausschusses wäre diese wichtige
Aufgabe nicht vollumfänglich zu leisten. Deshalb
möchte auch ich mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion für diese tolle Mitarbeit und Unterstützung herzlich
bedanken.
({2})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus
Hagemann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste!
Gestern haben wir um diese Zeit den neuen Bundespräsidenten gewählt.
({0})
- Doch, er ist es schon.
({1})
- Der dritte Wahlgang zeichnete sich ab.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben ihn gewählt, ob Sie
wollen oder nicht,
({3})
und es ist Herr Wulff geworden. Ich gratuliere ihm sehr
herzlich zu dieser Wahl. Er ist unser Staatsoberhaupt.
({4})
Aber das wollte ich gar nicht erzählen. Eines, liebe
Sibylle Pfeiffer, muss ich dazu allerdings doch sagen:
Gestern waren ein paar Leute mehr hier im Plenarsaal als
jetzt.
({5})
Ich meine nicht Sie, liebe Gäste, sondern meine Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete. Wir Petitionsausschussleute sind hier quasi unter uns und können unsere
Diskussionen weiterführen.
({6})
- Es ist immer so: Man trifft die Falschen. - Aber ich
möchte für dieses Thema jetzt nicht zu viel Zeit verplempern.
Es wurde immer wieder herausgestellt, der Bundespräsident sei ein Kümmerer, er sei ein Brückenbauer, er
müsse Gräben zuschütten, er sei ein Ermutiger - alles
richtig. Das sind Wendungen, die gestern zu hören und
zu lesen waren. Das gilt aber genauso für uns vom Petitionsausschuss, vom Parlament, die wir für die Mitbürgerinnen und Mitbürger tätig sind, die sich an uns wenden. Auch das ist von Ihnen allen schon gesagt worden.
Wir haben diese Aufgabe wahrzunehmen.
Wir sind gezwungen, immer wieder neue Formen zu
entwickeln; denn nichts ist beständiger als der Wandel.
Ich möchte eine Petition herausgreifen, die von uns verlangt hat, solche neuen Formen zu entwickeln, und zwar
die Beschwerden von ehemaligen Heimkindern, die in
den 40er-, 50er-, 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts im Heim waren, uns ihr Schicksal geschildert
und aufgezeigt haben, wie dramatisch es gewesen ist.
Ich möchte hier die Vorgängerin in meinem Amt,
Gabriele Lösekrug-Möller, erwähnen und ihr herzlich
dafür danken, dass sie unser Petitionswesen immer wieder mit Ideen sehr bereichert hat. Ein Dankeschön an
dieser Stelle!
({7})
Sie hat auch erkannt, dass es notwendig ist, einen runden
Tisch einzurichten, weil wir mit dieser Thematik überfordert waren, weil Sachverständige dazukommen mussten. Nur so konnten wir uns intensiver mit der Thematik
beschäftigen. Liebe Gabriele, noch einmal herzlichen
Dank!
Wir haben noch einen Wandel vollzogen; auf die öffentlichen Petitionen ist schon hingewiesen worden. Lieber Günter Baumann, Sie haben eben deutlich gemacht,
dass bei der Union und der FDP erst große Bedenken bestanden haben. Ich würde es ein bisschen flapsiger sagen: Wir haben euch zum Jagen getragen.
({8})
- Sie waren noch gar nicht dabei, Herr Lehrieder. - Ihr
habt dann mitgemacht, und wir haben es zusammen hinbekommen.
({9})
Das hat sich so positiv entwickelt, dass jetzt alle Väter
dieses Gedankens sind. Es ist richtig, öffentliche Petitionen zu ermöglichen, um die Zivilgesellschaft zu stärken,
um die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubinden.
Ich möchte, Herr Kollege Thomae, Ihre Anregung
aufgreifen, wieder eine Weiterentwicklung vorzunehmen. Das ist eine gute Anregung. Wir bieten auch hierfür die Zusammenarbeit an, so wie es üblich ist.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die öffentlichen Petitionen noch stärker ausweiten müssen. Was
nützt dem Petenten die Debatte hier im Plenarsaal, wenn
er sich nicht beteiligen kann? Zumindest im Rahmen der
öffentlichen Petition und der Anhörung kann er sich einbringen. Das ist sicher ein guter Weg, den wir hier gehen
können.
Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um das Gesetz
über Internetsperren. Durch die Petition dazu ist erreicht
worden, dass das Gesetz jetzt nicht angewendet wird
bzw. hinfällig ist.
Ein weiteres Beispiel ist die große Petition zur
Finanzmarkttransaktionsteuer. Diese Petition hat ausgelöst, dass sogar die Bundesregierung sich mit dieser Idee
auseinandersetzt, und hat sie in der Diskussion unterstützt. Der Petent hat also einiges bewegt. Ich hoffe, dass
die Anhörung dazu bald erfolgen kann; denn die Forderung ist berechtigt.
({10})
Diejenigen, die die Finanz- und Wirtschaftskrise durch
ihre Geldgier ausgelöst haben, müssen an der Finanzierung der Banken- und Wirtschaftsrettungsschirme beteiligt werden. Das steht in der Petition, und das kann nur
so erreicht werden, wie es darin dargelegt worden ist. Es
darf nicht der Eindruck entstehen: Wer Geld hat, der darf
sich alles erlauben.
Es gibt bei uns auch Petitionen, die ruhen. Sie ruhen
sanft, und es geht nicht voran. Dies betrifft das Thema
„Generation Praktikum“. Auf der Tribüne sitzen viele
junge Leute. Man hört es immer wieder in Gesprächen:
Es besteht die Furcht, dass man nach einer qualifizierten
Ausbildung nicht die Chance hat, aktiv in das Berufsleben einzusteigen. In diesem Zusammenhang ist die Zeitarbeit sowie die Tatsache zu nennen, dass es nicht genü5348
gend Arbeitsplätze gibt. Diese Sorgen müssen wir ernst
nehmen.
Es werden Praktika über Praktika angeboten; man soll
noch ein schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum
hintendran absolvieren. Wir haben diese Petitionen schon
vor Jahren in Zeiten der Großen Koalition aufgegriffen
und sind als Tiger gesprungen. Bisher sind wir noch nicht
gelandet - noch nicht einmal als Bettvorleger -, weil man
sich in der Bundesregierung - damit meine ich nicht nur
die jetzige Bundesregierung, es ist noch ein Staatssekretär anwesend,
({11})
sondern auch ihre Vorgängerin während der Großen Koalition - zwischen zwei Ministerien nicht einigen
konnte, welche Stellungnahme gegenüber dem Petitionsausschuss dazu abgegeben wird. Das darf nicht sein. Die
Bundesregierung muss hier schneller handeln. Wir müssen zu einem Ergebnis kommen; denn die jungen Menschen haben sich als Petenten in dem vollen Vertrauen,
dass wir handeln, an uns gewandt. An dieser Stelle besteht Handlungsbedarf. Lassen Sie uns das vorantreiben
und nach vorne bringen.
({12})
Nach Ausbildung und Studium müssen die jungen Menschen eine Perspektive haben. Wir sprechen immer vom
Fachkräftemangel. Wir sagen ihnen, dass sie eine Familie gründen und Kinder bekommen sollen. Gleichzeitig
stehen derart schlechte Voraussetzungen am Anfang des
Berufslebens. Dort besteht in der Tat Handlungsbedarf.
Lassen Sie uns das endlich nach vorne bringen. Lassen
Sie uns hier die Bundesregierung treiben.
Ich möchte noch die Diskussion um das Quorum, das
erforderlich ist, um eine öffentliche Anhörung durchzuführen, in Erinnerung rufen. Zwar gehen wir jetzt in der
Entwicklung voran, wie ich schon gesagt habe. Dennoch
sollten wir nachdenken; da stimme ich dem Kollegen
Kilic zu. Vielleicht ist es doch zu viel verlangt,
50 000 Unterschriften in drei Wochen zu erreichen. Außerdem stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen,
wenn nach der Zeit des Quorums noch Zigtausende Unterschriften eingehen. Diese Unterschriften können wir
nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Hier gibt es
also genügend Ansatzpunkte, die wir uns anschauen und
die wir aufgreifen sollten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch kurz die von uns verwendete Sprache ansprechen. Leider habe ich keine Zeit mehr, Ihnen sehr
delikate Formulierungen vorzulesen, die von Juristen
vorgelegt worden sind und die kein Mensch versteht.
- Frau Präsidentin, ich sehe das Leuchten. - Übrigens
müssen auch wir zwei Formen des Petitionsberichtes
vorlegen: einen Bericht, der formaljuristisch in Ordnung
ist und alle Facetten betrachtet, und zusätzlich eine verständliche Form, damit die Bürgerinnen und Bürger das
Ganze verstehen.
Herr Kollege, das Sehen des Leuchtens reicht nicht.
Ich sehe es, Frau Präsidentin. Der Kollege Baumann
hat aber auch zwei Minuten überzogen.
({0})
Bei Ihnen geht es auch in diese Richtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen
besser, einfacher und verständlicher formulieren. Das
gilt sowohl für die Bundesregierung, an die ich diese
Bitte richte, Herr Staatssekretär Dr. Schröder, als auch
für uns selbst.
Zum Schluss sage ich ein Dankeschön an Sie alle für
die gute, kollegiale, zum Teil freundschaftliche Zusammenarbeit. Ein herzliches Dankeschön geht auch an die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich will mich nicht der Unsitte der Vorredner anschließen und gnadenlos überziehen, weil die
nach mir folgende Rednerin meiner Fraktion das auszubaden hätte, liebe Sibylle Pfeiffer.
Seit nunmehr viereinhalb Jahren darf ich im Petitionsausschuss mitwirken. Am Anfang bin ich nolens volens
in diesen Ausschuss geraten und dann freiwillig dort geblieben, weil hier, wie die Vorredner bereits ausgeführt
haben, ein sehr kollegiales Verhältnis sowie ein parteiübergreifendes Verständnis der Probleme der Mitbürgerinnen und Mitbürger festzustellen sind.
Mit jeder Eingabe, die ich als Berichterstatter im Petitionsausschuss bearbeiten darf, bestätigt sich: In kaum
einem Gremium des Deutschen Bundestages hat man als
Volksvertreter eine so unmittelbare Berührung mit den
Anliegen der Wählerinnen und Wähler. Wer sich an den
Petitionsausschuss wendet, bekommt für ein konkretes
Anliegen Unterstützung. Behörden und Gesetzgeber erhalten ein Feedback aus dem täglichen Leben und Antworten auf die Frage, wo noch Korrekturbedarf besteht.
Sie dürfen versichert sein - das gilt auch für die Zuschauer auf den Tribünen -: Auch wenn Otto Normalverbraucher vielleicht nicht so schnell eine befriedigende Antwort bekommt - wenn wir als Abgeordnete
bzw. als Petitionsausschuss eine Behörde anschreiben,
bekommen wir eine Antwort. Wir können ein Vorhaben,
ein Anliegen oder ein Problem also transparent, öffentlich und bei der Behörde mit entsprechendem Gewicht
vortragen.
Als Abgeordnete bekommen wir Rückkopplung über
das Wirken der Gesetzgebung in Fällen, wie sie jedem
von uns auch in unserer Wahlkreisarbeit begegnen. Wer
sich an den Petitionsausschuss wendet, sollte allerdings
wissen: Der Ausschuss kann weder einen Verwaltungsakt noch einen Gerichtsbeschluss verändern oder aufheben. Er ist vor allem ein Untersuchungsorgan, das das
Handeln von Verwaltungen und die Wirkung von Gesetzen überprüft. Sobald ein Petent an den Petitionsausschuss herantritt, wird seine Beschwerde oder Bitte von
einer privaten Angelegenheit zu einem öffentlichen Anliegen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie sich sicherlich denken können, ist dies besonders auf den Feldern
Arbeit und Soziales der Fall, für die ich im Petitionsausschuss in erster Linie Bericht erstatten darf. Viele Bürger
nutzen das Petitionsrecht, um sich über die Gesetze des
Bereichs Arbeitsmarkt oder deren Umsetzung zu beschweren oder Verbesserungen vorzuschlagen. Einige
Vorredner sind bereits darauf eingegangen. Mit 21 Prozent der Eingaben ist das Ressort Arbeit und Soziales
wie auch in den Vorjahren das Ressort im Petitionsausschuss, zu dem die meisten Zuschriften eingingen. Von
den Themen her bildeten auch in diesem Jahr die Grundsicherung für Arbeitsuchende - Stichwort Arbeitslosengeld II - mit 1 120 Petitionen und das klassische Arbeitslosengeld mit 144 Petitionen den Schwerpunkt.
Stark vertreten waren auch Problematiken rund um den
Arbeitslohn, die Förderung der beruflichen Weiterbildung sowie die Arbeitsmarktpolitik an sich und die Bundesagentur für Arbeit als Institution.
Im Übergang zur Rente war das Thema des Nachweises von Zeiten der Arbeitslosigkeit für die Rentenversicherung von großer Bedeutung.
Das Schwergewicht der Petitionen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende betraf Fälle, in denen sich
Petenten über die Bearbeitung ihres persönlichen Leistungsfalles durch die örtlichen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende beschwerten. Dabei ging es oft
um die Anrechnung einmaliger Einnahmen, zum Beispiel um die von Geldgeschenken oder Rückerstattungen
im Rahmen der Lohnsteuer oder der Betriebskosten der
Wohnung, oder auch um Sanktionen, die den Petenten
auferlegt worden waren, Stichwort: Fordern und Fördern.
Gerade auch die Höhe der Regelsätze der Grundsicherung nach dem SGB II war immer wieder Thema.
Im Vorfeld der in diesem Jahr erfolgten Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar, insbesondere bezogen auf die Regelsätze für Kinder und Jugendliche, beanstandeten zahlreiche Bürgerinnen und
Bürger deren Höhe und machten Verbesserungsvorschläge. Viele dieser Petitionen stammen noch aus der
vergangenen Wahlperiode. Da sie nicht der Diskontinuität unterliegen und somit auch in dieser Legislaturperiode weiterbehandelt werden, ist es nun notwendig,
sie mit Wissen um das Bundesverfassungsgerichtsurteil
vom 9. Februar noch einmal neu bewerten zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in folgendem
aktuellen Beispiel münden die Anliegen von Bürgern in
Gestalt von Eingaben an den Deutschen Bundestag immer wieder in konkrete Entscheidungen und Korrekturen. Für die Petenten ist wichtig, zu sehen: Die Politik
nimmt die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ernst.
So wurde in einem konkreten, von mir behandelten Fall
ein Antrag auf ALG-II-Leistungen abgelehnt. Grund: die
Verwertbarkeit eines Vermögens aus der privaten Rentenversicherung. Der Petent gab an, der vorzeitige Verkauf wäre für ihn mit finanziellen Verlusten von etwa
15 000 Euro verbunden gewesen und bringe ihn in die
Gefahr von Altersarmut. Bei Abschluss des Rentenversicherungsvertrages habe er keine Möglichkeit gehabt, im
Rahmen eines Modells für das Alter zu sparen, welches
rechtlich anrechnungsfrei sei.
Die Problematik, die diesem und ähnlichen Anliegen
zugrunde liegt, war der unionsgeführten Bundesregierung bewusst. Wir haben bereits in unserem Koalitionsvertrag, lieber Kollege Thomae, aufgenommen, dass die
Höhe des Schonvermögens verdreifacht werden soll, um
für das Alter entsprechend Vorsorge leisten zu können.
Anstelle von bisher 250 Euro sollen zukünftig 750 Euro
pro Lebensjahr aus einer selbst erwirtschafteten Rentenzusatzleistung anrechnungsfrei bleiben. Der Bericht des
Petitionsausschusses sieht auf Seite 28 insofern ausdrücklich vor - mit Ihrem Einverständnis, Frau Präsidentin, würde ich gerne die genaue Formulierung zitieren -:
Der Petitionsausschuss empfahl daher, die Eingabe
der Bundesregierung als Material zuzuleiten, damit
sie im Rahmen der zukünftigen Gesetzgebung in
die Überlegungen einbezogen werden kann, und
leitete sie auch den Fraktionen des Deutschen Bundestages zu.
Sie sehen an diesem Beispiel - damit möchte ich bereits vorzeitig zum Ende kommen -, dass die Politik reagiert. Politik und Gesetze sind ein lernendes System. Die
Rückkopplung in Form der Anliegen der Bürgerinnen
und Bürger im Petitionsausschuss ist hierfür eine wertvolle Unterstützung. In diesem Ausschuss werden die
Anliegen der Bürger nicht als Arbeitsbelastung, sondern
als positive Anregung und als wohlmeinende Begleitung
unserer Initiativen hier in Berlin gesehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist für mich die dritte Legislaturperiode als Mitglied
des Petitionsausschusses. Ich mache das leidenschaftlich
gerne, freiwillig, zusätzlich und, wie ich glaube, mit sehr
viel Liebe und sehr viel Einsatz. Deshalb kann ich all das
Gute und Schöne, was meine neun Vorredner zur Arbeitsweise des Petitionsausschusses gesagt haben, unterstreichen. An dieser Stelle erlaube ich mir aber auch
zwei, drei kritische Bemerkungen. Ich denke, auch die
dürfen wir einmal äußern.
Ich glaube, dass der Petitionsausschuss nach völlig
anderen Regeln funktionieren sollte als unsere übrigen
Ausschüsse. Unsere Arbeit ist nämlich eine andere. Wir
sollen objektiv, anonym und unvoreingenommen den
Einzelfall betrachten und schauen, ob wir den Bürger in
irgendeiner Art und Weise unterstützen können, ob wir
hilfreich sein können, ob wir etwas ändern können. Leider stelle ich aber fest, dass ideologische und parteipolitische Debatten zunehmend gerade und vor allen Dingen
im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksamen Massenpetitionen vorkommen. Das finde ich schade.
({0})
Ein Schelm, der Böses dabei denkt, aber es besteht
die Gefahr, dass der Petitionsausschuss manipuliert und
für Partikularinteressen instrumentalisiert wird.
({1})
Inhaltliche Debatten dieser Art gehören in die zuständigen Fachausschüsse und nicht in den Petitionsausschuss.
Wir können nicht so etwas wie Ersatzgesetzgeber sein.
Das fällt in die Zuständigkeit der anderen Ausschüsse.
Massenpetitionen werfen meiner Ansicht nach ein
weiteres Problem auf. Oft genug geht es dabei nicht um
Ausnahmefälle oder ein konkretes Problem, sondern es
geht häufig um politische Fragen im engeren Sinne. Die
politische Willensbildung sollte aber in und vor allen
Dingen über die Parteien stattfinden. So ist es im Grundgesetz, bei der Parteienprivilegierung, verankert. Hier
überschreiten wir manchmal die Grenze dessen, was der
Petitionsausschuss leisten kann, und betreten die Arena
der parteipolitischen Auseinandersetzung. Aber gerade
dafür sind wir nicht da.
({2})
Ich wünsche mir, dass wir die parteipolitischen Grundsatzdebatten zukünftig aus der Arbeit des Petitionsausschusses heraushalten.
Nach wie vor halte ich die Beschäftigung des Petitionsausschusses mit Einzelpetitionen für unheimlich
wichtig und für unheimlich wertvoll. Aber auch bei den
Einzelpetitionen habe ich manchmal ein ambivalentes
Gefühl; denn wir können es nicht allen Petenten recht
machen. Wir können nicht alle Wünsche erfüllen, und
wir können nicht alle Anliegen umsetzen. Als Bundestagsabgeordnete müssen wir uns auch einmal etwas
trauen. Wir müssen mutig sein und den Bürgern die
Wahrheit sagen: Der Staat kann und darf nicht alles leisten, und er kann es nicht jedem recht machen.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die im
Petitionsausschuss anfallende Arbeit und die hohe Zahl
der Petitionen ein Spiegelbild der Gesellschaft sind: Der
eine Bürger verlangt, dass der Staat alles regelt, der
zweite Bürger meint, dass der Staat gar nichts regelt,
während der dritte Bürger meint, dass der Staat zu viel
regelt und seine persönliche Freiheit zu sehr einschränkt.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir aushalten, und
wir müssen objektiv beurteilen, ob die Entscheidung im
vorgebrachten Einzelfall angemessen ist oder nicht.
In all den Jahren im Ausschuss, die ich nun hinter mir
habe, habe ich gelernt: Egal wie die Mehrheitsverhältnisse im Parlament gerade sind, macht die Arbeit im Petitionsausschuss den Angehörigen der Opposition besonders viel Spaß. Man kann alles versprechen, ohne in der
Verantwortung zu stehen. Das ist einfach. Die jetzige
Opposition ist in dieser Hinsicht - das habe ich festgestellt - äußerst fleißig.
({3})
Rechnerisch ist es aber wahrscheinlich die teuerste Opposition, die wir, soweit ich das überblicken kann, je hatten.
({4})
Dass wir im Petitionsausschuss trotz aller parteipolitischen Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen zweifellos ein kollegiales Verhältnis haben, verleiht der Arbeit
die Würde und Substanz, die wir brauchen. Der Bürger
weiß: Sein persönliches Anliegen ist bei uns in besten
Händen. Ich glaube, auf diese Art und Weise sind wir für
die Demokratie sehr hilfreich.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte von dieser Stelle aus den Mitgliedern des Petitionsausschusses
für deren Engagement und die zusätzliche Arbeit, die sie
zu ihrer fachlichen Arbeit in diesem Haus erbringen, einen herzlichen Dank aussprechen und wünsche ihnen alles Gute.
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Roland Claus, Jörn Wunderlich, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
- Drucksache 17/2150 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die
Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir reden hier über Lauben, Datschen und Garagen im Osten Deutschlands, also in den neuen Bundesländern. Genauer gesagt: Es geht im Kern um die Rechte
von Grundeigentümern einerseits und Besitzern und
Nutzern von Baulichkeiten, Anpflanzungen etc. andererseits. Die juristischen Feinheiten sind hinlänglich in der
Begründung unseres Gesetzentwurfes nachzulesen. Zu
DDR-Zeiten geschaffene private Werte auf volkseigenem Grund und Boden sind der Gegenstand. Zur Erinnerung: Es gab in der DDR mehr als 3 Millionen Kleingärten. Diese waren Orte der Erholung und zum Teil auch
der Selbstversorgung. Ich sage es gleich: Es wäre für
ganz Deutschland klug und modern gewesen, das Kleingartenrecht der DDR für die ganze Bundesrepublik zu
übernehmen.
({0})
Nach der Wende kam es zum Einigungsvertrag. Es
wurde der unsägliche Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ angewandt. Die neue Rechtslage bedeutete,
dass die Vertragsbeziehungen zwischen Verpächtern und
Nutzern völlig neu geregelt werden mussten. Dafür steht
das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Zu diesem Gesetz
hat meine Fraktion hier, auch als sie noch anders hieß,
bereits seit 1994 - ich habe etwas recherchiert - kontinuierlich Vorschläge eingebracht. Wir schlagen Ihnen
heute eine kleine Änderung dieses Gesetzes vor, um
mehr Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar für beide
Seiten: mehr Rechtssicherheit für die Verpächter und für
die Nutzer.
Ich weiß, dass seit fast 20 Jahren zwischen den neuen
Grundeigentümern und den Nutzern solcher Erholungsgrundstücke sehr viele vernünftige Regelungen getroffen
wurden. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit,
wenn man einen solchen Gesetzentwurf einbringt. Denn
das verdient Anerkennung. Es ist aber auch viel mehr als
nötig vor den Gerichten gelandet. Deshalb streben wir
eine Verbesserung der Rechtssicherheit bzw. Abschaffung der Rechtsunsicherheit an, die bei Vertragsbeendigung eintritt. Dabei geht es um die Fragen: Was muss an
Werthaltigem entschädigt werden? Wie hoch sind die
Abrisskosten, und wie verteilen sie sich?
Wir haben jetzt zum Teil eine so kuriose Rechtslage,
dass Vertragsbrüchige zum Teil besser gestellt werden
als Vertragstreue. Der Bundesgerichtshof hat das bereits
mit einem Urteil im Jahre 2008 deutlich bestätigt. Wir
wollen mit unserem Gesetzentwurf eine Praxis beenden,
wonach der Eigentümer eines Wochenendhauses oder einer Garage, in die er jahre- oder jahrzehntelang Mühen
und Geld gesteckt hat, den Abriss voll bezahlen muss,
wenn der Vertrag ausläuft.
({1})
Wir bitten Sie um Zustimmung zum Gesetzentwurf,
davor natürlich um sachgerechte Behandlung in den
Ausschüssen. Wir wissen sehr wohl, dass es Einwände
gegen unseren Vorschlag gibt. Es gibt Verbände, die sagen, das Urteil des BGH von 2008 gebe hinreichend Sicherheit, man brauche den Schritt gar nicht. Wir haben
mit diesen Verbänden erst jüngst ausführlich diskutiert.
Ich sage Ihnen: Das mag auf jene Nutzer zutreffen, die
ausreichend selbstverteidigungsfähig sind. Es trifft auf
sehr viele nicht zu. Wir alle im Hause wissen, dass zwischen recht haben und recht bekommen zuweilen ein
großer Unterschied besteht. Deshalb ist die Initiative
notwendig.
Wir werden darüber hinaus weitere Vorschläge unterbreiten, wie im Osten gewonnene Erkenntnisse und gemachte Erfahrungen mehr als bisher bundesweit genutzt
werden können.
({2})
Im 20. Jahr der deutschen Einheit ist es an der Zeit, den
Erfahrungsvorsprung, den Menschen im Osten im Umgang mit Umbrüchen, schwierigsten Situationen und
Neuanfängen gewonnen haben, für ganz Deutschland
nutzbar zu machen. Vergessen wir eines nicht: Aus der
Krise führen nur neue Wege.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. JanMarco Luczak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier und heute über das Schuldrechtsanpassungsgesetz, ein Instrument, das in der Tat
zwei völlig gegenläufige und vor allen Dingen hochemotionale Interessenlagen ausgleichen will: Auf der einen
Seite stehen die vielen Nutzer von Freizeit- und Erholungsgrundstücken, für die ihre Datsche zu DDR-Zeiten
in der Tat ein Stück gelebter Freiheit war. Auf der anderen Seite stehen die Grundstückseigentümer. Auf ihrem
Grund und Boden sind diese Datschen errichtet worden.
Die Nutzungsverträge wurden seinerzeit auf Grundlage
des Zivilgesetzbuches der DDR geschlossen. Damit
gründeten sie auf einer sozialistischen Rechts- und Wirtschaftsordnung, die staatlich gelenkt war und kaum private Freiheit für die Ausgestaltung dieser Rechtsverhältnisse ließ.
So waren die Nutzungsverträge für diese Erholungsgrundstücke und die darauf errichteten Datschen faktisch
unkündbar. Darauf haben die Nutzer vertraut und Investitionen getätigt. Dieses Vertrauen ist in der Tat schutzwürdig.
Für die Union ist es aber genauso wichtig, an dieser
Stelle herauszustellen, dass auch die Eigentümer ein berechtigtes Interesse daran haben, ihre Eigentumsrechte
unter den heutigen freiheitlichen Vorzeichen der sozialen
Marktwirtschaft zur Geltung zu bringen.
({0})
Wir wollen, dass die Eigentümer die Möglichkeit haben,
zu entscheiden, ob sie über kurz oder lang ihr Grundstück wieder selbst nutzen wollen oder ein kostendeckendes Nutzungsentgelt hierfür erhalten.
Um die Dimension deutlich zu machen - der Kollege Claus hat schon einige Zahlen genannt -: In der
DDR hatte mehr als jeder Zweite ein solches Erholungsgrundstück. Wenn man die vielen Kleingartenanlagen herausnimmt - sie unterliegen nämlich anderen
gesetzlichen Voraussetzungen -, so verblieben immer
noch rund 1 Million Verträge, die in bundesdeutsches
Recht zu überführen waren.
Das Schuldrechtsanpassungsgesetz regelt die Frage,
wie diese DDR-Grundstücksnutzungsverträge in bundesdeutsches Recht überführt werden können. Das Ziel
war und ist, das möglichst sozialverträglich zu machen
und die Interessen beider Seiten zum Ausgleich zu bringen. Ich finde, das ist seinerzeit sehr gut gelungen. Das
Schuldrechtsanpassungsgesetz hat diesen wirklich
schwierigen Interessenkonflikt mithilfe eines sehr weit
gehenden Kündigungsschutzes, einer Begrenzung der
Nutzungsentgelte und einer differenzierten Regelung
über die Entschädigung bei einer Vertragsbeendigung
aufgelöst.
Was macht nun die Linke aus dieser gelungenen und
auch von den Betroffenen allseits akzeptierten Regelung? Sie schreibt in ihrem Gesetzentwurf, dass es sich
um „ein durch Zeit- und Handlungsdruck geprägtes spekulatives Termingeschäft sui generis“ handelt. Meine
Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht.
Für mich klingt das eigentlich nur nach blankem Populismus.
({1})
Die Linke versucht mit dieser Wortwahl, wieder auf
der allgemeinen Welle der Empörung gegen die Exzesse
auf den Finanzmärkten zu reiten. Das mag Ihnen zu Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise opportun erscheinen, aber es ersetzt keine sachliche Auseinandersetzung.
Daran lassen Sie es an dieser Stelle wieder einmal fehlen.
({2})
Tatsächlich wird hier nämlich versucht, die Schlachten von gestern erneut zu schlagen. Wir haben schon im
Jahr 2006 sehr ausführlich über das Schuldrechtsanpassungsgesetz diskutiert. Damals ging es um recht ähnlich
gelagerte Problemstellungen. Seinerzeit haben Sie, um
im Bild zu bleiben, die Schlacht verloren, und Ihr Vorschlag wurde abgelehnt. Ich wage, vorherzusagen: Das
wird Ihnen auch heute passieren. Ich will Ihnen auch
gerne erklären, warum wir Ihrem Gesetzentwurf nicht
zustimmen werden. Im Kern wollen Sie mit Ihrem rückwärtsgewandten Gesetzentwurf nichts anderes erreichen
- das schreiben Sie auch selbst -, als die Rechtsposition
der Nutzerinnen und Nutzer zu stärken, also letztlich die
Nutzer im Verhältnis zu den Eigentümern besserzustellen. Dazu wollen Sie zwei Dinge ändern:
Erstens. Die zu zahlende Entschädigung für errichtete
Bauwerke soll unabhängig davon sein, aus welchem
Grund und von wem ein Nutzungsverhältnis gekündigt
wird.
Zweitens. Die zu zahlende Entschädigung soll immer
mindestens nach dem Zeitwert des Bauwerkes und
höchstens bis zur Höhe der Verkehrswerterhöhung des
Grundstücks durch das Bauwerk bemessen sein.
Mit dem ersten Punkt wollen Sie letztlich eine wohldurchdachte Differenzierung des Gesetzgebers aushebeln. Im Gesetz wird nämlich danach unterschieden, ob
das Nutzungsverhältnis durch den Eigentümer oder
durch den Nutzer bzw. durch eine von ihm verschuldete
Kündigung beendet wird. Kündigt der Vermieter bzw.
der Eigentümer, so verliert der Nutzer das von ihm errichtete Gebäude gegen seinen Willen. Damit gehen die
Investitionen, die er im Vertrauen auf den langfristigen
Fortbestand des Nutzungsverhältnisses getätigt hat, verloren. Es ist dann nur recht und billig, dass er dafür eine
Entschädigung bekommen soll. Das sieht das Gesetz so
vor. Der Nutzer soll eine Entschädigung bekommen, die
das Gesetz nach dem Zeitwert des Bauwerks zum Zeitpunkt der Rückgabe als Entschädigung bemisst.
Kündigt hingegen der Nutzer selbst oder gibt er durch
sein eigenes vertragswidriges Verhalten den Anlass zur
Kündigung, dann ist er in Bezug auf seine Investitionen
gerade nicht schutzbedürftig bzw. beendet er das Nutzungsverhältnis aus freien Stücken. Dennoch soll er für
die Erhöhung des Verkehrswertes des Grundstücks eine
Entschädigung erhalten; denn immerhin handelt es sich
um einen Vermögenswert, der dem Eigentümer zufließt,
ohne dass er einen Beitrag dazu geleistet hat. Deswegen
ist es richtig, dass auch an dieser Stelle eine Entschädigung fließen soll. Allerdings ist diese nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in der Regel niedriger zu halten, als es der Zeitwert des Gebäudes wäre. Das ist auch
sachlich begründbar: Wegen der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Nutzers erhält dieser nicht eine Entschädigung in Höhe seiner Aufwendungen, sondern weniger.
Dass der Gesetzgeber diese unterschiedlichen Sachverhalte aufgrund der unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit auf der Ebene der Entschädigungen auch unterschiedlich behandelt, ist konsequent und in der Sache
absolut berechtigt. Deswegen liegt die Linke in der Sache völlig daneben, wenn sie die genannten Unterschiede beseitigen will, wie immer am liebsten dadurch,
dass alles über einen Kamm geschoren und gleichgemacht wird.
({3})
Sie wenden hier dagegen ein, der BGH habe diese
Differenzierung mit einem Urteil aus dem Jahre 2008
letztlich ad absurdum geführt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie dieses Urteil gar nicht
gelesen haben. Aber das wäre vielleicht ein bisschen zu
einfach, und deswegen will ich das an dieser Stelle nicht
unterstellen. Als Alternative bleibt dann freilich nur,
dass Sie dieses Urteil nicht verstanden haben. Das würde
diese Sache auch nicht wirklich besser machen.
In der Sache hat der BGH nämlich gesagt, dass es im
Einzelfall tatsächlich sein kann, dass ein Nutzer mehr
Entschädigung erhält, obwohl er selbst kündigt oder obwohl ihm aufgrund vertragswidrigen Verhaltens gekündigt wurde. Daraus ziehen Sie dann aber den Schluss,
dass hier eine völlig willkürliche Rechtslage entstanden
sei, nach der im Ergebnis die Höhe der Entschädigungsleistung überwiegend zufällig davon abhänge, welche
der Parteien die Kündigung zuerst ausspreche. Damit
versuchen Sie wiederum, zu insinuieren, dass es einen
Wettlauf geben könnte, wer das Nutzungsverhältnis zuerst kündigt, um sich eine möglichst hohe Entschädigung zu sichern. Das wiederum soll letztlich den gerade
angesprochenen spekulativen Charakter des Nutzungsverhältnisses bzw. der gesetzlichen Regelung begründen.
Tatsächlich hat der BGH sehr deutlich gemacht, dass
es - anders als Sie in Ihrem Gesetzentwurf behaupten gerade keine Besorgnis gibt, dass das Nutzungsverhältnis einen solchen spekulativen Charakter erhält. Richtig
ist nämlich, dass es dem Nutzer darauf ankommt, das
Gebäude auf dem Erholungsgrundstück möglichst lange
zu nutzen und nicht irgendwelche Spekulationsgewinne
zu erzielen. Er hat also gerade kein Interesse daran, die
Nutzung vorzeitig aufzugeben.
Auch bei dem Eigentümer kann es zu dem behaupteten Wettlauf überhaupt nicht kommen. Das Gesetz sieht
hier eine sehr weitgehende Beschränkung der Kündigungsmöglichkeiten vor. Der BGH hat sehr deutlich gesagt, dass die im Gesetz verankerte Wertung entsprechend hinzunehmen ist.
Alles in allem geht ihre Argumentation also an der
Sache vorbei. Das wurde Ihnen auch höchstrichterlich
vom BGH bestätigt. Dass Sie hier trotzdem einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, lässt mich wieder zu dem
Schluss kommen, dass Sie das Urteil des BGH entweder
nicht gelesen oder nicht verstanden haben.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, den
Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen, ist die
Entschädigung mit mindestens dem Zeitwert des Bauwerkes, ganz unabhängig davon, wer aus welchem
Grund gekündigt hat. Das ist schlicht verfassungswidrig;
das muss man hier ganz klar und deutlich sagen. Wenn
Sie sich das Urteil des BGH anschauen, dann wird Ihnen
das klar. In der Tat wundert mich ein solcher Gesetzentwurf nicht. Wir alle wissen, dass Ihre Partei und Ihre
Fraktion immer noch ein recht gespaltenes Verhältnis zu
den Grundrechten und den rechtsstaatlichen Prinzipien
unseres Grundgesetzes haben. Das haben Sie jüngst wieder sehr deutlich unter Beweis gestellt, als sich Ihre Präsidentschaftskandidatin weigerte, die DDR als das zu bezeichnen, was sie war, nämlich als einen Unrechtsstaat.
({4})
Vor diesem Hintergrund müsste man Sie eigentlich
sehr deutlich darauf hinweisen, wie der Schutzumfang
des Eigentums nach unserem Grundgesetz ausgestattet
ist. Ich will es mir jetzt aber nicht anmaßen, Ihnen hier
Nachhilfeunterricht zu geben. Ich könnte hier das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zitieren, auf das Sie Bezug nehmen. Darin steht sehr deutlich, dass der eigentumsrechtliche Gehalt vor allen Dingen durch Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des
Eigentümers gekennzeichnet ist. Nun kontern Sie gleich
wieder mit Art. 14 Abs. 2 GG, mit der Sozialbindung des
Eigentums. Es ist völlig richtig, dass diese besteht; aber
auch dazu hat das Bundesverfassungsgericht in dem zitierten Urteil sehr deutlich gesagt, dass eine einseitige
Bevorzugung oder Benachteiligung mit den verfassungsrechtlichen Vorstellungen eines sozialgebundenen Privateigentums nicht im Einklang steht.
Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht das Schuldrechtsanpassungsgesetz, als es dies 1999 genau unter die
Lupe genommen hat, im Wesentlichen bestätigt. Das Gericht hat nur eines gemacht: Es hat einzelne Regelungen
in der Tat für nicht in vollem Umfang mit der Eigentumsgarantie vereinbar erklärt. Das lag aber nicht etwa daran,
dass das Gesetz hier zu eigentumsfreundlich ausgestaltet
gewesen wäre. Im Gegenteil: Das Gericht hat das Gesetz
als zu nutzerfreundlich ausgestaltet betrachtet.
Wenn Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf behaupten,
dass die Regelungen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes der gescheiterte Versuch seien, einseitig die „Rechte
der Grundstückseigentümer zu erweitern“, dann wird
dies weder dem Willen des Gesetzgebers noch der Realität gerecht.
({5})
Der Gesetzgeber hat letztendlich die Konsequenzen
aus diesem Urteil gezogen und das Schuldrechtsanpassungsgesetz geändert. Sie wollen hier mit Ihrem Gesetzentwurf eigentlich nichts anderes erreichen als eine
Rolle rückwärts: Sie wollen wieder zu dem Zustand zurück, bei dem man Nutzer gegenüber den Eigentümern
einseitig bevorteilt. Daran merkt man erneut, dass Sie offensichtlich immer noch in Ihren sozialistischen Denkstrukturen verhaftet sind und sich davon nicht lösen können.
({6})
Das Schlimme dabei ist aber, dass Sie sich damit in offenen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begeben. Ich habe es gerade ausgeführt: Die Grundrechte der Eigentümer müssen auch im
Rahmen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes gewahrt
werden. Hierzu ist sehr deutlich ausgeführt worden, dass
es das Bundesverfassungsgericht als Verletzung der
Grundrechte der Eigentümer ansieht, wenn der Eigentümer den Nutzer auch dann für den Verlust des Nutzungsrechts entschädigen muss, wenn es keinen korrespondierenden Vorteil des Grundstückseigentümers gibt. Genau
das könnte aber der Fall sein, wenn man ausnahmslos und
ohne Differenzierung immer auf den Zeitwert eines Bauwerkes abstellte; denn es ist überhaupt nicht gesichert - es
kommt auf den Einzelfall an -, ob ein solcher Mehrwert
überhaupt besteht und ob er realisierbar ist. Deswegen
stehen Sie da in völligem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Ihr Gesetzentwurf ist letztendlich - damit komme ich
zum Schluss - ein Unterfangen, das offensichtlich darauf abzielt, eine verfassungsrechtlich anerkannte Ausgleichsleistung, eine akzeptierte Ausgleichsregelung, außer Kraft zu setzen und erneut Zwist und Zwietracht
zwischen den Alteigentümern und den Datschenbesitzern zu säen. Damit spielt die Linke mit den Ängsten der
Menschen und versucht hier, populistisch, einseitig und
unredlich ihre Interessen durchzusetzen. Sie werden verstehen, dass wir von der Union einem solchen Antrag
nicht zustimmen können.
Danke schön.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Je länger das Spiel dauert, desto weniger Zeit
bleibt; das gilt im Sport und in vielen anderen Lebensbereichen. Dies wissen auch die Eigentümer der Datschen
in den neuen Bundesländern. Die Häuschen zur Erholung, um die es in der heutigen Debatte im Wesentlichen
geht, stehen nämlich meist auf fremdem Grund und Boden. Für diese Fälle gilt das Schuldrechtsanpassungsgesetz. Es besagt, dass der gesetzliche Kündigungsschutz
im Jahr 2015 endet.
Bis dahin ist nicht mehr viel Zeit. Was passiert dann
mit den Datschen? Müssen die Nutzer Angst haben, dass
das Nutzungsverhältnis 2015 automatisch endet und die
Baulichkeiten dann dem Grundstückseigentümer zufallen? Nein, kein Vertrag endet automatisch. Richtig ist:
Mit dem 3. Oktober 2015 endet der gesetzliche Kündigungsschutz des Schuldrechtsanpassungsgesetzes. Grundstückseigentümer können dann die Verträge nach Maßgabe
des Bürgerlichen Gesetzbuches kündigen. Entscheidend
ist: Die Grundstückseigentümer können, sie müssen aber
nicht kündigen. Die alten Verträge behalten weiterhin
ihre Gültigkeit, wenn sie nicht gekündigt werden.
Was passiert aber, wenn ein Grundstückseigentümer
dennoch von seinem Kündigungsrecht Gebrauch macht?
Dann fällt ihm auch das Eigentum an der Baulichkeit zu.
In diesem Fall hat der Nutzer einen Entschädigungsanspruch auf den aktuellen Zeitwert des von ihm errichteten Bauwerks. Herr Kollege, Sie haben bereits darauf
hingewiesen. Dabei ist nicht entscheidend, ob der
Grundstückseigentümer für das Bauwerk Verwendung
hat. Zudem muss der Eigentümer eine Entschädigung für
die Anpflanzungen zahlen.
Wenn der bisherige Nutzer kündigt, so bedarf es keines Schutzes bezüglich seiner Investitionen. Da er das
Nutzungsverhältnis aus freien Stücken beendet, ist er
nicht schutzbedürftig. Selbst wenn das Gebäude noch einen Wert hat, erhält er keine Entschädigung. Nur wenn
die Errichtung des Gebäudes zu einer Werterhöhung des
Grundstücks insgesamt führt, soll der Eigentümer den
bisherigen Nutzer nach dem durch das Bauwerk erhöhten Verkehrswert des Grundstücks entschädigen. Das
heißt: Der Nutzer kann bei eigener Kündigung zwar laut
Schuldrechtsanpassungsgesetz keine Entschädigung nach
dem Zeitwert des Bauwerks beanspruchen, wohl aber
bereits jetzt die oftmals bessere Entschädigung wegen
der Verkehrswerterhöhung des Grundstücks.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke, über den
wir diskutieren, fordert, dass der Grundstückseigentümer
zukünftig immer einen Wertausgleich bei der Vertragsbeendigung zahlen soll, und zwar unabhängig davon,
welcher Vertragsteil die Kündigung vornimmt.
Bei der Anpassung der Rechts- und Eigentumsordnung der DDR an das Rechtssystem der Bundesrepublik
Deutschland stand der Deutsche Bundestag vor der
schwierigen Aufgabe, die Interessen von Nutzern und Eigentümern in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Die Datsche bedeutete - darauf ist heute schon hingewiesen worden - für zahlreiche Bürger der DDR ein wertvolles Stück Freiheit. Hinzu kam, dass die Nutzer von Erholungsgrundstücken in der DDR - das waren eine ganze
Menge - eine erheblich stärkere Rechtsposition gegenüber den Eigentümern hatten, als dies nach dem heutigen
Recht der Fall ist. Schließlich war zu berücksichtigen,
dass viele Nutzer das Grundstück zum Teil mit viel Zeit
und großer Mühe nutzbar gemacht haben.
Der Gesetzgeber hat andererseits auch den Interessen
der Eigentümer Rechnung zu tragen und die Entschädigungsregelungen in einem ausgewogenen Verhältnis zu
gestalten. Das Schuldrechtsanpassungsgesetz hat einen
gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen von Nutzern und Eigentümern hergestellt. Das
Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz im Jahr
1999 im Wesentlichen bestätigt. Die Entschädigungsregelungen wurden vom Bundesverfassungsgericht nicht
beanstandet.
Die Forderung der Fraktion Die Linke, dem Nutzer
stets eine Entschädigung mindestens nach dem Zeitwert
des Bauwerks zukommen zu lassen, ist mit den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht vereinbar und stellt auch nicht, wie Sie, Herr Kollege Claus,
meinten, eine kleine Änderung dar. Für die Eigentümer
ist sie erheblich. In vielen Fällen hat das Bauwerk für
den Grundstückseigentümer keinerlei wirtschaftlichen
Wert. Es ist gerecht, dass der Nutzer im Falle einer Eigenkündigung nur dann eine Entschädigung erhält, wenn
der Verkehrswert des Grundstücks durch das Bauwerk
erhöht wird. Wenn keine Werterhöhung vorliegt, wäre es
unbillig, dem Eigentümer den vollen Wertausgleich für
das Bauwerk aufzubürden. Die Gesetzesinitiative ist
meiner Meinung nach einseitig, populistisch und daher
abzulehnen.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Marco
Buschmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach den ausgezeichneten Ausführungen des
Kollegen Luczak und auch der Kollegin Steffen will ich
die eben vorgetragenen Punkte nicht wiederholen. Mir
scheint es aber angebracht - insbesondere nach den Ausführungen von Herrn Claus, der gewissermaßen obiter
dictum vorgetragen hat, dass er das DDR-Recht gegenüber dem deutschen, bundesrepublikanischen Recht für
vorzugswürdig hält -, die Materie systematisch zu beleuchten.
Unserem geltenden Zivilrecht liegen kluge, volkswirtschaftlich sinnvolle und auch gerechte Entscheidungen und Erwägungen zugrunde. So finden wir im BGB
etwa den Grundsatz, dass die Verbindung von verschiedenen Gegenständen unterschiedlicher Eigentümer zu
einem einheitlichen Gegenstand auch zu einer einheitlichen Zuordnung bei einem einzigen Eigentümer führt.
Wir finden das beispielsweise in § 947 BGB für die Verbindung beweglicher Sachen. Dort ist geregelt: Entsteht
durch die Verbindung zweier beweglicher Sachen eine
neue einheitliche Sache, so steht das Eigentum daran
demjenigen zu, der Eigentümer der Hauptsache ist. Diesen Grundsatz finden wir auch bei den Grundstücken
und den Gebäuden - nämlich in § 946 BGB - konkretisiert. Dort geht es um die Verbindung von beweglichen
Sachen mit einem Grundstück. Dabei ist klar, dass das
Grundstück genau diese Hauptsache ist. Daher steht das
Eigentum auch dem Grundstückseigentümer zu.
Wer nach diesen Vorschriften - das ist auch das Gerechte an dem System - sein Eigentum verliert, der steht
nicht ohne Ersatz da, sondern dem steht nach § 951 BGB
ein entsprechender Ersatz zu. Dieses Regelungssystem
ist klug und auch gerecht. Man sollte es hier nicht diskreditieren. Es ist nämlich klug, weil es volkswirtschaftlich zweckmäßig ist. Bleiben wir bei den beweglichen
Sachen: Wenn wir ein mechanisches Uhrwerk wieder
auseinandernehmen müssten, nur weil die Zahnräder unterschiedlichen Eigentümern gehören, dann würde ein
Wirtschaftsgut, dessen Wert größer ist als die Summe
seiner Teile, zerstört werden, und der darin verkörperte
Mehrwert würde auch zerstört werden. Das ist nicht
sinnvoll. Es ist klug, weil es Streit vermeidet, und auch
gerecht, weil die Interessen aller Beteiligten - siehe den
Ersatzanspruch - berücksichtigt werden.
Das Zivilrecht der DDR folgte diesem klugen und gerechten Regelungssystem nicht, wenn es um Bauwerke
auf Grundstücken ging. Da hatte man eine unterschiedliche Zuordnung vorgenommen. Es ist ein Problem der
Transformation in ein anderes Rechtssystem, das man
lösen muss.
Für die notwendige Überführung in die heutige gültige Rechtslage hat man Übergangsregelungen gefunden,
die sinnvoll sind. Das ist zum Teil schon ausgeführt worden. Man kann es eben nicht anders machen, als dass das
Eigentum an einem Bauwerk dem Grundstückseigentümer zugeordnet wird. Natürlich muss es dafür einen Ersatzanspruch geben. Dass man dabei das wesentliche Interesse des Bauwerkseigentümers berücksichtigt, ist
doch völlig klar; aber das wesentliche Interesse lag eben
in der Nutzung. Wenn jemand freiwillig auf die Nutzung
verzichtet, dann ist ebenso völlig klar, dass man den anders behandelt, weil sein Interesse anders ist, als denjenigen, bei dem die Nutzung unfreiwillig beendet wird.
Deshalb ist die Unterscheidung, die wir im Schuldrechtsanpassungsgesetz vorfinden, sachgemäß. Die beiden Fallkategorien haben Herr Kollege Luczak und Frau
Kollegin Steffen hier schon differenziert dargestellt.
Die Kritik der Linken an diesem System ist deshalb
nicht nachvollziehbar. Sie fordern, dass man diese Unterscheidung aufheben soll. Es sind auch einzelne technische Punkte - ich will auf die Details kommen - nicht
nachvollziehbar. So soll etwa klargestellt werden, dass
der Ersatzanspruch zum Zeitpunkt der Vertragsbeendigung über das Nutzungsrecht geschehen soll. Das gibt
die geltende Rechtslage bereits her. Der Blick in § 12
Abs. 1 Satz 1 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes erleichtert die Findung der Rechtslage. Danach muss die
Entschädigung durch den Grundstückseigentümer „nach
Beendigung des Vertragsverhältnisses“ geleistet werden.
Auch Ihre grundsätzliche Kritik an dieser Differenzierung ist abzulehnen. Wenn der ehemalige Bauwerkseigentümer freiwillig auf die Nutzung verzichtet, ist er
eben weniger schutzwürdig. Das ist hier schon ausgeführt worden. Diese Unterscheidung ist, wie gesagt, interessengerecht.
Über die eine Ausnahmekonstellation, die Sie hervorheben, quasi zum Grundsatz erheben und als Begründung nehmen, das ganze System über den Haufen zu
werfen, können wir gerne nachdenken. Diese Konstellation kennen wir tatsächlich: Es kommt wirklich in Ausnahmefällen vor, dass der Zeitwert des Grundstücks
durch die Existenz eines Gebäudes stärker steigt, als das
Gebäude selber wert ist. Diese Fälle treten in attraktiven
Lagen im Außenbereich durch den erweiterten Bestandsschutz, den auch das Bundesverfassungsgericht gewährt,
ein. Aber das sind Ausnahmefälle, bei denen Sie überhaupt nicht klarmachen, um welche Größenordnungen
es geht. Das gesamte System, dem volkswirtschaftlich
sinnvolle Erwägungen und auch Gerechtigkeitserwägungen, die absolut überzeugend sind, zugrunde liegen, wegen dieser einen Ausnahme bzw. Fallgruppe, die Sie
nicht einmal quantifizieren, über den Haufen zu werfen,
ist nicht sinnvoll. Wir können gerne über diese spezielle
Fallkonstellation nachdenken; dann müssten wir einmal
empirisch untersuchen, um wie viele Fälle es überhaupt
geht. Aber das ist kein Grund für einen Systemwechsel.
Deshalb werden Sie verstehen, dass wir Ihrem Anliegen
nicht folgen werden.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Ingrid Hönlinger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir befassen uns bei dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes mit einem Thema, das seinen Ursprung in der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland hat. Es
lohnt sich, diese Geschichte der Vereinigung auf eine
faire und ausgewogene Grundlage zu stellen. Aus diesem Grunde war die Frage, wie wir mit den Nutzungsverhältnissen an Grundstücken im Osten Deutschlands
umgehen, schon mehrfach Gegenstand der Beratungen
in diesem Haus. Die Kernfrage besteht darin, wie wir die
Rechtsverhältnisse von Eigentümern und Nutzern von
Grundstücken in der ehemaligen DDR regeln, auf denen
Wochenendhäuser, Datschen oder Garagen errichtet
worden sind. Konkret geht es um die Folgen der Beendigung des Nutzungsverhältnisses.
Ziel des Gesetzentwurfes der Linken ist es, in vier
Punkten Änderungen an der Gesetzeslage herbeizuführen: beim Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf
eine Entschädigung, bei der Bemessung der Höhe der
Entschädigung, bei der Tragung der Kosten für den Abbruch von Bauwerken und bei der Erhöhung des Nutzungsentgelts.
Anfangen möchte ich mit der Frage der Bemessung
der Entschädigung im Falle der Beendigung des Nutzungsverhältnisses. Bisher wird im Gesetz eine Unterscheidung danach getroffen, wer das Ende des Nutzungsverhältnisses veranlasst hat. Die erste Regelung
betrifft die Fälle, in denen der Nutzer selbst kündigt oder
durch sein vertragswidriges Verhalten Anlass zur Kündigung gegeben hat. In diesen Fällen bemisst sich die
Höhe der Entschädigung danach, wie der Verkehrswert
des Grundstücks durch das Bauwerk erhöht wird.
Die zweite Regelung betrifft die Fälle, in denen der
Eigentümer dem Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält,
kündigt. Hier ersetzt die Entschädigung den Zeitwert des
Bauwerks. Bei dieser Regelung ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass der Zeitwert des Bauwerks höher
ist als die Verkehrswertsteigerung durch das Bauwerk.
Das heißt, der Nutzer, der sich vertragsgemäß verhält,
sollte im Falle einer Kündigung des Eigentümers bessergestellt werden.
Die Linke problematisiert jetzt den Fall, dass die Verkehrswertsteigerung des Grundstücks höher sein könnte
als der Zeitwert des Bauwerks. Werde in diesen Fällen
nur der Zeitwert des Bauwerks ersetzt, könne das den
vertragstreuen Nutzer gegenüber dem Nutzer, der selbst
kündigt oder sich vertragswidrig verhält, schlechterstellen. Diesen Vorschlag kann man noch einmal überprüfen. Allerdings führt das aus unserer Sicht zu einer Verkomplizierung des Verfahrens. Denn es hat zur Folge,
dass gleich zwei Werte ermittelt werden müssen, nämlich die Verkehrswertsteigerung des Grundstücks und
der Zeitwert des Bauwerks.
Ich stelle mir auch die Frage, weshalb wir diesen Weg
dann nicht auch in umgekehrter Richtung gehen sollten,
wenn nämlich der Grund für die Vertragsbeendigung in
der Sphäre des Nutzers liegt, weil dieser selbst kündigt
oder sich vertragswidrig verhält. Wenn in diesen Fällen
der Zeitwert des Bauwerks unter der Verkehrswertsteigerung des Grundstücks liegt, dann müsste man dies, wenn
man Ihren Gedanken zu Ende denkt, auch dem Eigentümer zugute kommen lassen. Eine einseitige Lösung zugunsten des Nutzers erscheint mir hier nicht klar und
auch nicht ausgewogen.
Ähnliches gilt, wenn wir den Zeitpunkt für die Entstehung des Anspruchs auf Entschädigung so abändern, wie
es die Linke vorschlägt.
Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung ist der Zeitpunkt der Rückgabe des Grundstücks an den Eigentümer
maßgeblich. Dieser Zeitpunkt soll nach Vorstellung der
Linken auf die Vertragsbeendigung vorverlagert werden.
Sie begründen dies mit möglichen zivilrechtlichen Ansprüchen des Nutzers.
Was passiert aber, wenn Vertragsbeendigung und
Rückgabe des Grundstücks zeitlich auseinanderfallen,
wenn sich der Zustand des Bauwerks in dieser Zeit verschlechtert? Dann ist das Bauwerk immer noch in der
Verfügungsgewalt des Nutzers. Der Eigentümer kann
nicht darauf einwirken. Warum sollte der Eigentümer
dann das Risiko der Verschlechterung tragen?
Zu einer ausgewogenen Regelung gehört auch, dass
Risiken nicht einseitig auf den Nutzer oder einseitig auf
den Eigentümer verteilt werden. Liebe Kolleginnen und
Kollegen auch von der Linken, wir wollen doch auf eine
Balance der Rechte und Pflichten aller Beteiligten achten.
({0})
Auch bei den Abbruchkosten schlagen Sie eine neue
Regelung vor. Sie ist aus unserer Sicht zu unbestimmt.
Deswegen können wir ihr nicht folgen.
Aus den genannten Gründen können wir Ihrem Antrag insgesamt nicht zustimmen. Er ist in wichtigen Details nicht ausgewogen. Er begünstigt unverhältnismäßig
eine Seite. Er verkompliziert das Verfahren. Er erhöht
das Risiko von Rechtsstreitigkeiten und fördert die Bürokratie, insbesondere wenn ich an Ihren Vorschlag zur
Erhöhung der Nutzungsentgelte denke. Insgesamt stellt
der Gesetzentwurf aus unserer Sicht keine Verbesserung
der Rechtslage dar. Deswegen lehnt meine Fraktion ihn
ab.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2150 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung
Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung - Peer Review
der deutschen Nachhaltigkeitspolitik
- Drucksachen 17/1657, 17/2061 Nr. 1.1, 17/2314 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Michael Kauch
Dr. Valerie Wilms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist die erste Debatte, die wir als Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in
dieser Legislaturperiode im Plenum führen können. Deshalb gestatten sie mir zunächst eine grundsätzliche Bemerkung.
Aus unserer Sicht ist Nachhaltigkeit nicht irgendein
Politikbereich neben anderen, sondern es handelt sich
um eine zentrale Querschnittsaufgabe, die in allen Politikbereichen zur Geltung kommen wird.
({0})
Das gilt selbstverständlich für den klassischen Bereich von Umwelt- und Naturschutz. Es gilt aber ganz
genauso für den Bereich Haushalt und Finanzen; es gilt
für Wirtschaft und Soziales. Die Liste ließe sich fortführen. Wir haben in all diesen Bereichen die besondere
Verantwortung, nicht an den kurzfristigen Erfolg, an
kurzfristigen Gewinn zu denken, sondern an das langfristige Erfordernis, heute so zu handeln, dass es auch
künftigen Generationen gerecht wird.
({1})
Um es auf einen Nenner zu bringen: Wir dürfen nicht
heute auf Kosten von morgen leben. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung als Abgeordnete im Deutschen
Bundestag, und es ist die besondere Aufgabe des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Deshalb freuen wir uns, dass der Parlamentarische Beirat
zum dritten Mal in Folge vom Deutschen Bundestag eingesetzt wurde, dass sich mit diesem Gremium auch die
Bedeutung, die man diesem Thema beimisst, verstetigt
hat. Wir freuen uns, dass wir in dieser Legislaturperiode
- es ist Schritt für Schritt ein Ringen um mehr Kompetenzen gewesen - wiederum mit neuen Rechten ausgestattet worden sind, dass wir jetzt die Befugnis erhalten
haben, jeden einzelnen Gesetzentwurf der Bundesregierung daraufhin zu überprüfen, ob dem Erfordernis, eine
Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen, konsequent und
ausführlich Rechnung getragen wurde. Kurz: Wir freuen
uns, dass wir mit handfesten Rechten im parlamentarischen Alltag ausgestattet sind.
({2})
Man kann sagen: Wir sind fast so gestellt wie ein richtiger Ausschuss. Ich sage „fast“. Das zeigt, dass wir Erfolge haben. Es zeigt aber auch, dass es neben den Bereichen, in denen wir eine stärkere Stellung als normale
Ausschüsse haben, die sich immer nur mit ihren spezifischen Themenbereichen befassen dürfen, während wir
eine globale Zuständigkeit für Nachhaltigkeit haben,
noch bestimmte Dinge gibt, die wir fordern.
Wir freuen uns, dass der Peer Review, über den wir
heute diskutieren, ganz dezidiert diese Forderung unterstützt und sagt, man muss die Stellung des Parlaments
bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie stärken,
und dass die Peers fordern, dass ein ständiger Ausschuss
für Nachhaltigkeit eingesetzt wird. Wir begreifen das als
Rückenwind, unsere Forderung weiter zu vertreten und
darauf zu dringen, dass wir in der Geschäftsordnung des
Bundestags ausdrücklich erwähnt werden und die Federführung für die Begleitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, aber auch für die Begleitung der Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union erhalten. Ich
finde, das ist die logische Konsequenz aus der hohen Bedeutung, die wir dem Thema Nachhaltigkeit politisch
beimessen. Deshalb kämpfen wir als Beirat über alle
Fraktionen hinweg gemeinsam dafür.
({3})
Wir haben Anlass, noch weitere Punkte aus dem Bericht der Peers aufzugreifen und zu unterstützen, wie wir
es in unserem gemeinsamen Antrag tun. Ich will an dieser Stelle sagen: Es ist bemerkenswert, dass wir eine gemeinsame Stellungnahme aller Fraktionen im Deutschen
Bundestag abgeben - bei einem Sondervotum der LinksPartei in einer Frage. Das zeigt, dass es hier bei allem tagespolitischen Streit einen Konsens gibt, diese wichtigen
Zukunftsfragen gemeinsam zu lösen. Einer dieser
Punkte ist unsere Forderung, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die bisher einen Zeithorizont bis 2020 hat,
langfristiger zu formulieren. Auch das fordern die Peers.
Sie fordern, man muss mindestens bis zum Jahr 2030
denken, planen und skizzieren, am besten aber in den
Bereichen, in denen es angezeigt ist, bis zum Jahr 2050.
Diese Forderung machen wir uns zu eigen - gerade an5358
Andreas Jung ({4})
gesichts der wachsenden globalen Herausforderungen
wie Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschutz und Artenvielfalt.
Aber auch in den wirtschaftlichen Fragen ist es richtig, zu sagen: Wenn wir nachhaltig handeln wollen, dann
muss es sich tatsächlich auf einen solchen langen Zeitraum beziehen. Es ist gut, dass auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nach der letzten Sitzung des
Staatssekretärsausschusses erklärt hat, auch sie sehe
diese Notwendigkeit. Wir werden uns dafür einsetzen,
dass bei der Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie
im Jahr 2012 diese Konsequenzen tatsächlich gezogen
werden.
Ich will abschließend noch darauf hinweisen, dass ich
zwei weitere Punkte aus diesem Bericht für besonders
wichtig halte. Es wird darauf hingewiesen, Nachhaltigkeit noch besser mit den Ländern und in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern abzustimmen, und es
wird auf das Erfordernis hingewiesen, bürgerschaftliches
Engagement und die gesellschaftlichen Akteure einzubeziehen und eine gesellschaftliche Debatte zu führen. Ich
finde allgemein, dass das wichtig ist. Es wird besonders
wichtig bei der Vorbereitung der Nachfolgekonferenz
Rio-plus-20 sein - 20 Jahre nach Rio. Da wird es notwendig sein, dass gesellschaftliche Akteure, Parlament
und Regierung an einem Strang ziehen, um gemeinsam
den Durchbruch zu schaffen, den wir für Nachhaltigkeit
national und international bis zum Letzten brauchen.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele LösekrugMöller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dieser Peer Review, über
den wir heute reden, richtet den Fokus stark auf Wirtschaft und Energie und betrachtet Anstrengungen der
Politik, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu implementieren. Dieser Blick internationaler Experten auf unsere nationalen Anstrengungen ist der SPD-Bundestagsfraktion willkommen, und wir begrüßen das ausdrücklich.
({0})
Wir als Parlamentarischer Beirat sind auch Gegenstand
der Betrachtung. Der Kollege Jung hat schon darauf hingewiesen: Wir wurden sehr wohlwollend betrachtet, und
eigentlich wünscht man, dass man uns verstetigt. Das ist
ein großes Lob. Allerdings haben wir uns auch selbst mit
den zahlreichen Empfehlungen befasst, die die Peers
gegeben haben. Sie beschreiben Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken, und sie geben Empfehlungen, was wir besser machen könnten. Das Ergebnis unserer Betrachtung haben wir in eine gemeinsame
Stellungnahme gefasst und gemeinsam einen Entschließungsantrag vorgelegt. Diese fraktionsübergreifenden
Beratungen und die aus ihnen hervorgehenden Papiere
sind stark konsensorientiert. Ich will an dieser Stelle sagen: Das ist auch gut so.
Erinnern wir uns: Seit 2002 haben wir die Fragen der
Nachhaltigkeitspolitik am Ende immer mit einer sehr
breiten Mehrheit beantworten können. Das ist gut für
dieses Thema. Ich sage: Würden wir das nicht hinbekommen, dann würden wir kein gutes Zeichen setzen.
({1})
Ich muss allerdings sagen: Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist deshalb keine parlamentarische Kuschelecke, und einen Schmusekurs gibt
es da auch nicht. Wir wissen ja: In vielen Bereichen der
Politik des Alltags haben wir durchaus unterschiedliche
Positionen. Deshalb will ich nicht den Eindruck erwecken, dass wir in allem immer übereinstimmen. Mitnichten!
Als Mitglieder des Parlamentarischen Beirates für
nachhaltige Entwicklung müssen wir uns in den Dienst
der besonderen Aufgabe stellen, und die heißt „nachhaltige Politik“. Wir gucken über Legislaturperioden hinweg, wir schauen über lebende Generationen hinaus, und
wir arbeiten quer zu den Ressorts.
Das ist eine große Herausforderung. In der Regel wird
hier eher darüber diskutiert: Was machen wir heute, und
was betrifft uns jetzt? Es geht also nicht um die lange
Perspektive. Ich behaupte: Wenn sich die Nachhaltigkeitspolitik auf das Tagesgeschäft beschränken würde,
dann würde sie dieses Etikett nicht verdienen. Deshalb
will ich nur sagen: In der Tagespolitik sind wir in vielen
Fällen anderer Meinung als die jetzige Mehrheit.
({2})
Das gilt für das Marktanreizprogramm, für das EEG, für
die Atomkraft und für die Steuerpolitik. Ja, das sehen
wir anders als Sie. Trotzdem sagen wir: Wir sind beisammen, wenn es darum geht, gemeinsam etwas Gutes
für die Zukunft zu gestalten.
Was wird uns durch den Peer Review dazu bescheinigt? Rückblickend wird festgestellt: Wir sind klug und
kraftvoll gestartet. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist der
richtige Ansatz. Nach starkem Start sind nun die Institutionen etabliert, und es stellen sich weitere Aufgaben.
Herr Jung, Sie haben schon die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung angesprochen.
Damit haben wir uns einen dicken Brocken vorgenommen, den wir aber gut bewältigen müssen. Wir müssen
Wert darauf legen, dass das im Gesetzgebungsverfahren
verbindlich eingefügt wird. Unser Augenmerk muss natürlich auch darauf liegen, dass wir die Länder ermuntern, uns zu folgen, wenn wir das auf Bundesebene erfolgreich gemacht haben. Wir müssen die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der NachhaltigkeitspoliGabriele Lösekrug-Möller
tik grundsätzlich voranbringen. Hier gibt es noch jede
Menge zu tun.
({3})
Schauen wir auf das gesamte Verfahren, dann stellen
wir aber auch fest: Wir beschäftigen uns im Augenblick
sehr mit den grundsätzlichen Regeln und mit der Frage,
wie wir das institutionalisieren. Das ist gut so, aber wir
dürfen hier nicht stecken bleiben. Wenn wir bei den Verfahrensfragen stecken bleiben, dann haben wir einen Effekt wie beim Mehltau. Viele werden das von ihren Rosen her kennen. Dabei kann auf Dauer nichts Rechtes
herauskommen. Deshalb sage ich: Das eine ist es, diese
Arbeit zu erledigen, das andere ist aber, die beschriebene
Sorge der Peers ernst zu nehmen.
Was für eine Sorge haben sie beschrieben? Ich will
das mit den Worten von Volker Hauff sagen, der bis vor
kurzem ja der Vorsitzende des Rates für Nachhaltige
Entwicklung war. Er sagte als Erstes: Es ist gut, dass
diese Peers, namhafte internationale Experten, bestellt
wurden. Sie kommen zu dem Ergebnis: Früher war
Deutschland spitze in der Umweltindustrie, heute - und
das ist die Warnung - verliert Deutschland aber an Boden, jedenfalls dann, wenn Deutschland die neuen Spielregeln des internationalen Green Race nicht beherzigt.
Was ist der Green Race? - Dabei geht es um die Globalisierung mit Nachhaltigkeitskriterien. Der Wettlauf
um die Entwicklung und Produktion der effizientesten
Systemlösungen für die nachhaltige Wirtschaft ist in vollem Gang. Es geht um den Umbau von Produktion und
Konsum zu klimagerechten, ressourceneffizienten und
nachhaltigen Formen, also um keine Kleinigkeiten.
Deshalb finde ich den Bericht anregend; mit ihm soll
nicht kritisiert werden. Ich verstehe ihn als mutmachend,
als Herausforderung und als ein Impuls, zu sagen: Lasst
nicht nach! Ihr habt so stark angefangen, macht stark
weiter! - Ich glaube, der Parlamentarische Beirat unterstützt das umfassend.
({4})
Ich will allerdings auch einen Aspekt der Nachhaltigkeit ansprechen, den ich persönlich in dem Bericht etwas
unterbelichtet dargestellt finde, nämlich die Bevölkerungsentwicklung. Wir alle wissen: Weltweit wächst die
Bevölkerung, und die Lebensbedingungen der Menschen
sind noch immer vom Mangel geprägt. In Deutschland
wächst die Bevölkerung jedoch nicht; sie schrumpft.
Das heißt, wir stehen hier vor anderen Aufgaben, aber
nicht vor leichteren. Bevölkerungsentwicklung von der
Zukunft her zu denken, ist deshalb eine sehr große und
anspruchsvolle Aufgabe. Welche Fragen stellen sich
dann, und welche möglichen Antworten gibt es? Was bedeutet das für Gerechtigkeit heute, öffentliche Haushalte
und Steuerpolitik? Dazu darf ich den Kolleginnen und
Kollegen von den Linken sagen: Ihr Minderheitenvotum
ist ein bisschen zu schlank. Ich glaube, dass nicht funktioniert, was Sie postulieren. Sie sagen, eine gerechte
Verteilung heute sei eine gute Basis für das Recht kommender Generationen. Als wäre es damit gesichert!
Nein, wir wissen, dass das nicht der Fall ist. Wir sind
ambitionierter. Wir wollen Gerechtigkeit heute mit der
Option auf Gerechtigkeit und gutes Leben kommender
Generationen in Einklang bringen. Das ist der Anspruch,
und der ist nicht gering.
({5})
In konkrete Politik übersetzt heißt das: Wir wollen die
im Bereich der Nachhaltigkeit interagierenden Felder
von Ökologie, Ökonomie und Sozialem miteinander verbunden diskutieren und entwickeln, weil wir glauben,
dass nur ein solcher zusammenführender Ansatz die
richtigen Vorschläge für die Politik der Zukunft und für
die Politik von heute bringt. Willy Brandt hat dazu schon
vor 30 Jahren festgestellt: Es gilt, von der ständigen Verwechslung von Wachstum und Entwicklung wegzukommen. - Recht hat er gehabt. Noch heute ist die Gefahr
groß, dass wir das eine mit dem anderen verwechseln. Es
ist schon der Mühe wert, darüber zu diskutieren, was wir
unter Wachstum verstehen. Auf diese Debatte im Beirat
und hier im Parlament freue ich mich. Ich halte es für
geboten, sie jetzt zu führen. Deshalb sagt die SPD: Aus
gutem Grund werden wir grundsätzlich. Die Regierung
hat eine große Selbstverpflichtung seit 2002. Wir wollen
das Regierungshandeln konstruktiv begleiten. Wir werden dabei aufmerksam sein. Wir werden konstruktiv sein
und eigene Vorschläge einbringen, wie es für die SPD
üblich ist, und das ist immer gut gewesen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine
Vorrednerin, Frau Lösekrug-Möller, hat gesagt: Die Nachhaltigkeitspolitik muss heraus aus der Kuschelecke. - Ich
glaube, das ist richtig und wichtig. Ich will versuchen,
das kuschelige Thema mit ein paar harten Fakten anzureichern. Die FDP setzt sich seit vielen Jahren dafür ein,
dass es eine Politik der Generationengerechtigkeit gibt.
Frau Lösekrug-Möller hat schon angedeutet, dass wir
hier schon einmal eine Rednerin der Linken erlebt haben, die gesagt hat: Es gibt kein Gerechtigkeitsproblem
zwischen den Generationen, nicht einmal zwischen Arm
und Reich, sondern nur zwischen denen, die die Produktionsmittel besitzen, und denen, die sie nicht besitzen. Das war keine Sternstunde des Parlamentarismus. Ich
hoffe, dass Herr Lenkert diese Tradition heute nicht fortsetzen wird.
Wir sollten uns anschauen, was Generationengerechtigkeit bedeutet und was wir in den vergangenen Jahren
vielleicht falsch gemacht haben. Ich denke, die Finanzkrise hat gezeigt: Wir haben mit unseren Staatsausgaben
über unsere Verhältnisse gelebt. Jetzt präsentieren wir
mit den Rettungspaketen, die wir schnüren müssen, den
kommenden Generationen die Rechnung.
({0})
Das sollte uns nicht noch einmal passieren. Wir müssen jetzt die Haushalte in Ordnung bringen, sonst ist alles Gerede von Nachhaltigkeit nur Sonntagsrede.
({1})
Deshalb müssen wir auch unsere Sozialsysteme für
die Veränderungen wetterfest machen, die angesichts einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung auf uns
zukommen. Man kann sich nicht wie die Linken hinstellen und sagen: Wir wollen immer mehr, und alles soll so
bleiben, wie es ist. - Wir müssen uns vielmehr Gedanken darüber machen, wie wir soziale Sicherheit auch
noch für die Generationen schaffen, die mit mir oder
nach mir in Rente gehen oder Pflege in Anspruch nehmen müssen. Auch dann müssen diese Systeme noch
funktionieren.
({2})
Wir müssen uns auch bei Infrastrukturprojekten, für die
wir viel Geld ausgeben, überlegen: Ist auch in
100 Jahren noch Nachfrage für das da, was wir hier in
Stein meißeln, oder sind vielleicht flexiblere, neue Technologien beispielsweise bei der Abwasserentsorgung ein
sinnvollerer Weg in der Investitionspolitik dieses Staates?
Es ist eine Binsenweisheit, aber ich sage es hier noch
einmal deutlich als Mitglied des Umweltausschusses:
Auch bei den natürlichen Ressourcen haben wir vom
Kapital statt von den Zinsen gelebt, und deshalb ist es
richtig, dass sich der Umweltausschuss federführend mit
dem Bericht des Nachhaltigkeitsbeirats beschäftigt hat.
Das zeigt aber, dass sich die Nachhaltigkeitspolitik aufgrund der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen wie ein roter Faden durch alle Politikbereiche
ziehen muss. Die FDP hat dies im Koalitionsvertrag verankert und erreicht, dass zur Nachhaltigkeitsprüfung, die
wir seit letztem Jahr im Bereich der Gesetzgebung haben, im Laufe dieser Legislaturperiode eine Generationenbilanzierung hinzukommen muss; denn Transparenz
ist der erste Schritt zur Umkehr. Wir müssen zunächst erkennen, welches die langfristigen Wirkungen unserer
Gesetze sind, um sie dann verbessern zu können.
({3})
Politik braucht Perspektive für Jahrzehnte und nicht
für Legislaturperioden. Deshalb finde ich es richtig, dass
der Nachhaltigkeitsbeirat sehr klar gesagt hat, die Nachhaltigkeitsstrategie sei in die Jahre gekommen. Sie ist
jetzt acht Jahre alt und hat immer noch den gleichen
Zeithorizont. Wir sollten bei der nächsten Überprüfung
der Nachhaltigkeitsstrategie, die in dieser Wahlperiode
ansteht, nicht nur wieder um zehn Jahre nach vorn blicken, sondern bis 2030. Ich begrüße, dass der Staatssekretärsausschuss im letzten Monat die Aussage getroffen hat, dass der Zeithorizont verlängert werden soll. Ich
hätte mir aber eine klarere Aussage gewünscht. Ich sage
deshalb sehr deutlich - ich denke, auch im Namen der
Koalitionsfraktionen -, dass wir hier ein klares Vorgehen
erwarten, so wie es der Deutsche Bundestag heute beschließen wird, nämlich die Perspektive auf 2030 zu erweitern und in den Feldern, wo es sinnvoll ist - beim
Klimaschutz und auch beim Energiekonzept -, auf 2050.
Die Bundesländer sind angesprochen worden. Wir
haben ein völlig zersplittertes System von Nachhaltigkeitsstrategien. Manche Länder haben eine Nachhaltigkeitsstrategie, andere haben keine; die einen machen es
ernsthaft mit Indikatoren, bei den anderen hat man den
Eindruck, das ist Greenwashing für die PR. Deshalb
müssen wir die Bundesländer endlich klarer in die nationale Nachhaltigkeitsstrategie - es ist nicht die bundespolitische Nachhaltigkeitsstrategie, es ist die nationale
Nachhaltigkeitsstrategie - integrieren, als das heute der
Fall ist.
Die internationalen Experten haben an einigen Stellen
gute Anregungen gegeben; an anderen Stellen wollen
wir ihnen nicht folgen. Das finde ich richtig. Ich finde es
richtig, dass wir ihnen nicht folgen, wenn es um die Forderung geht, das Amt eines Nachhaltigkeitsbeauftragten
der Bundesregierung einzuführen. Auf Beauftragte
schiebt man häufig Dinge ab. Man kann einen Beauftragten einsetzen, wenn es sich um ein enges Gebiet handelt, aber nicht, wenn es sich um eine Querschnittsaufgabe handelt. Es ist richtig, dass an dieser Stelle das
Kanzleramt das federführende Ministerium ist. Das sollten wir auch nicht ändern.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die guten
Anregungen des Peer Reviews aufgreifen, wie wir es in
unserem Antrag getan haben, und erkennen wir Nachhaltigkeitspolitik als das, was es ist: eine Chance für die
deutsche Wirtschaft, eine Verantwortung gegenüber
kommenden Generationen und eine Politik, die wir gemeinsam mit den Menschen machen müssen. Denn nicht
nur durch Gesetze, sondern erst durch das Engagement
der Bürgergesellschaft wird Politik tatsächlich nachhaltig.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Heute sprechen wir endlich über Nachhaltigkeit.
Wir von der Linken tragen die Stellungnahme des Beirats für nachhaltige Entwicklung zum Bericht zur Nachhaltigkeitsstrategie teilweise mit, aber wir stellen fest,
dass die starke Ungleichheit von Arm und Reich zu
Spannungen in der Gesellschaft führt. Das ist eine Gefahr für die Demokratie.
({0})
Das ist der Boden, auf dem religiöser und politischer Fanatismus entstehen. Extreme Armut, aber auch Chancenlosigkeit, fehlende Bildung und Ungerechtigkeiten führen über die Stationen „Resignation“ und „Frustration“
zu Wut und Hass. Nachhaltige Politik muss dies stoppen.
({1})
Einige Beispiele: Erstens zu den Universitäten. Bis
zum Jahr 2000 stellten neben Professoren festangestellte
Dozenten die Mehrzahl der Lehrkräfte an den Hochschulen. Der Beruf war für die besten Studienabsolventen attraktiv. Die Erfahrungen sagen: Mehr als vier bis fünf
hochwertige Lehrveranstaltungen je Woche inklusive
der notwendigen Vor- und Nachbereitungszeiten und der
ausreichenden Betreuung der Studenten sind für Dozenten nicht machbar.
Wegen der Regierungspolitik, auch Ihrer Regierungspolitik, müssen Hochschulen sparen. Deshalb beschäftigen sie jetzt statt Dozenten Lehrbeauftragte. Die Arbeit
ist die gleiche wie vorher, aber die Lehrbeauftragten
erhalten je wöchentlicher Lehrveranstaltung nur circa
500 Euro pro Semester. Das macht bei vier bis fünf
Lehrveranstaltungen fette 2 000 bis 2 500 Euro in sechs
Monaten. Das ist untragbar.
({2})
Mit etwa 400 Euro im Monat müssen diese Ausbilder unserer akademischen Zukunft entweder mittels Hartz IV
aufstocken, oder sie liegen ihren Verwandten und Partnern auf der Tasche, und das ist beschämend für unser
Land.
({3})
Die meisten Lehrbeauftragten übernehmen diese Arbeit als Pausenfüller in ihrer beruflichen Entwicklung.
Die Leidtragenden davon sind unsere Studenten als
unsere Zukunft. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, erreichen wir garantiert keine nachhaltigen Studienbedingungen an den Hochschulen. Was wir brauchen, sind
Mindeststandards in der Arbeitsgesetzgebung, geänderte
Arbeitszeitgesetze und ein gesetzlicher Mindestlohn
auch an den Hochschulen.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schipanski?
Gern.
Kollege Lenkert, ich wollte nur fragen, von welcher
Studie Sie im Zusammenhang mit den Lehrbeauftragten
sprechen. Im zuständigen Bildungsausschuss ist eine
derartige Studie nicht bekannt. Auch in unser beider
Heimatland, Thüringen, ist das nicht so. Ich komme von
einer Universität. Was Sie da sagen, ist einfach nicht
richtig.
Wenn Sie einmal rein zufällig die Statistiken gelesen
hätten
({0})
- die Statistiken der Arbeitsämter -, dann hätten Sie festgestellt, dass wir in der Bundesrepublik mehrere Tausend gut bezahlte Dozenten hatten. Jetzt sind es noch 94.
Wenn Sie einen Lehrbeauftragten suchen, dann gehen
Sie in die Universitäten! Dort können Sie mit Leuten
sprechen, die für 500 Euro diese Arbeit machen und aufstocken gehen oder mehrere Jobs nebenbei machen. Im
Wahlkampf sind manche zu mir gekommen und haben
gesagt, sie arbeiteten für 800 Euro 40 Stunden die Woche und wüssten nicht, wie sie ihre Familie über die
Runden bringen sollen.
Herr Schipanski, Sie verschließen die Augen davor.
Sie haben sicherlich die richtigen Fragen zum Bericht
gestellt, aber mit Sicherheit haben Sie niemals nachgefragt, wie die Situation dort wirklich ist. Mit Sicherheit
haben Sie beim Bildungsstreik nicht die Schilderungen
der Situation aufgenommen. Wenn Sie auf die Internetseite bildungsstreik.net gehen, werden Sie diese Beschreibung finden. Wenn Sie sich erkundigen, werden
Sie feststellen, dass Ihre Politik an dieser Stelle versagt
hat. Wenn Sie studiert haben, ist das schön, aber gelernt
haben Sie nicht genug.
({1})
Zweitens zum Bahnverkehr. Für den Prestigebahnhof
„Stuttgart 21“ plant die Regierung in den Haushalten
mindestens 4,9 Milliarden Euro ein. Ich komme aus
Jena, dem gern gepriesenen technologischen Leuchtturm
Thüringens, der wohl 2017 vom Fernverkehr abgehängt
wird, weil die ICEs dann über die Neubaustrecke über
Erfurt fahren.
({2})
Die Bahn verspricht eine super Zugverbindung nach Erfurt, aber Schwarz-Gelb streicht die Mittel für den notwendigen Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung.
({3})
Die Stadt Gera, die auch zu meinem Wahlkreis gehört, kämpft mit wirtschaftlichen Problemen. Eine gute
Verkehrsanbindung würde nachhaltig helfen. Leider ist
Gera seit Jahren vom Fernverkehr abgehängt. Chemnitz,
Zwickau, Weimar, Eisenach - alle diese Städte liegen
ebenfalls an der Mitte-Deutschland-Verbindung und
könnten sich nachhaltig entwickeln. Weil die Regierung
aber Milliarden für „Stuttgart 21“ verschleudert, ist für
andere Bahnnetzinvestitionen kein Geld mehr da. Das ist
eine für uns nicht nachvollziehbare nachhaltige Deindustrialisierungspolitik.
({4})
Ändern Sie die Haushaltsplanung zugunsten der Bahnstrecken in der Fläche. Das wäre nachhaltig.
Drittens ganz kurz zur Steuerpolitik. Hätten FDP und
CSU eine Nachhaltigkeitsprüfung gemacht, wäre ihnen
mit Sicherheit der Hotel-Mehrwertsteuer-Schwachsinn
nicht passiert.
({5})
Sie können sicher sein, dass wir die Arbeit des Beirates engagiert und nachhaltig unterstützen.
({6})
Aus unserer Sicht sind in der Stellungnahme zum Bericht die entscheidenden Schwerpunkte bislang nicht
ausreichend berücksichtigt. Deshalb werden wir uns enthalten.
({7})
Nun hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will versuchen, wieder auf das Thema „Peer Review“ zurückzukommen.
({0})
Lassen Sie mich in den mir zur Verfügung stehenden
vier Minuten aus der Sicht der Grünen darstellen, wo wir
noch einige Schwächen sehen.
Herr Kollege Jung hat schon geschildert, wie der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung funktioniert. Ich bin sehr froh, in diesem Gremium mitzuwirken.
Wir arbeiten dort interfraktionell und konsensorientiert,
um wirklich etwas zu bewegen; denn das Thema Nachhaltigkeit betrifft uns alle und orientiert sich nicht an
kurzzeitigem Legislaturperiodendenken, sondern muss
auf die Zukunft ausgerichtet sein. Insofern freue ich
mich, dass wir, nachdem wir den Parlamentarischen Beirat sehr schnell eingesetzt haben - ich bedanke mich
noch einmal für die Unterstützung dabei -, heute auch
einmal eine Debatte zu diesem Thema führen können.
Lassen Sie mich zum Thema kommen. Was bedeutet
Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit heißt: Wir müssen im
Bundestag unsere Entscheidungen so treffen, dass wir
den künftigen Generationen nicht mehr Lasten aufbürden als den heute lebenden. Wenn ich mir die Gesetzentwürfe anschaue, die wir in dieser bislang erst kurzen
Legislaturperiode schon vorgelegt bekommen haben,
insbesondere die bedeutenden und umfangreichen, dann
muss ich leider feststellen, dass sie durch die Bank weg
alles andere als nachhaltig sind.
({1})
Dabei sind die Bundesministerien bereits seit Sommer
2009 verpflichtet, Gesetzentwürfe auf ihre nachhaltige
Entwicklung hin zu prüfen. Ich dachte, wir wären hier
schon einen deutlichen Schritt in Richtung nachhaltiges
Deutschland vorangekommen.
Die Nachhaltigkeitsziele wurden seinerzeit von RotGrün eingeführt. Auch die jetzige Bundesregierung stellt
sie nicht infrage. Diese Ziele sind in Anbetracht der
enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wie
Klimawandel und Zunahme der Weltbevölkerung absolut unabdingbar. Daran kommen wir nicht vorbei.
({2})
Auch die bislang Benachteiligten müssen endlich in
die Lage versetzt werden, sich etwas vom Wohlstandskuchen zu nehmen. Doch dieser Kuchen kann nicht ständig wachsen; schauen wir nach Indien und China. Vielmehr müssen die Anteile am Kuchen stets kleiner
werden. Wir in den Industriestaaten und gerade in
Deutschland sind hingegen immer noch dabei, aus dem
Kuchen die letzten Reste herauszupressen, also unsere
Schöpfung und damit unsere Lebensgrundlage langfristig zu zerstören.
Schauen wir uns in diesem Peer Review einmal an,
wie die Experten, die von außen auf Deutschland geschaut haben, unsere Nachhaltigkeitsstrategie bewerten.
Auf jeden Fall stellen sie fest - diese Kritik ist schon gekommen -, dass der Zeithorizont der Nachhaltigkeitsstrategie zu kurz ist. Das sehen wir von den Grünen
genauso. Wir müssen bis 2030 und perspektivisch sicherlich bis 2050 blicken; Herr Kauch hat es eben gesagt. Darüber besteht wohl im gesamten Beirat Konsens.
Vor allen Dingen muss - die gegenwärtige Situation
halte ich für eine absolute Katastrophe - die Zusammenarbeit der Akteure, insbesondere zwischen Bund und
Ländern, deutlich besser werden.
({3})
Ich wende mich zunächst einmal an die Länder. Soweit ich informiert bin, haben die Länder die Erarbeitung einer gemeinsamen deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für nicht notwendig erachtet. Man muss sich das
einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das führt zu dem
Ergebnis, dass wir mit unterschiedlichen Zielvorgaben
arbeiten. Wir hier im Bund haben 21 Indikatoren,
Schleswig-Holstein hat 35 Indikatoren. Das passt nicht
überein. So schaffen wir es wirklich nicht, die Strategie
auch noch bis auf die kommunale Ebene herunterzubrechen. Hier klaffen also große Lücken.
Ein Beispiel ist die Flächenreduzierung. Hier müssen
nun wirklich die Länder ran; aber es passiert nichts. Wir
entziehen der Natur jeden Tag immer noch 104 Hektar;
das Nachhaltigkeitsziel sind 30 Hektar pro Tag. Perspektivisch müssen wir bis auf 0 Hektar herunter, wenn wir
wirklich etwas erreichen wollen.
({4})
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Punkte, die wir
den nachfolgenden Generationen als Hypotheken aufbürden. Ich denke nur an das Thema Staatsschulden. Gerade die Gesetzentwürfe zur Griechenland-Hilfe und für
den Euro-Rettungsschirm hätten es verdient, einer Nachhaltigkeitsprüfung unterzogen zu werden; diese konnten
wir jedoch aus formalen Gründen bislang noch nicht
durchführen.
Ich habe nun in aller Kürze ein paar Problempunkte
aufgezeigt. Ich möchte mich aber auf jeden Fall auch für
die sehr intensive und gute Zusammenarbeit über die
Fraktionsgrenzen hinweg bedanken. Im Parlamentarischen Beirat schaffen wir es wirklich, für eine nachhaltige Entwicklung zu agieren. Wir haben aber nur eine gewisse Stärke, wenn wir zusammenarbeiten; wir sind
nämlich kein Ausschuss, sondern nur ein Beirat. Wir
können nur dann etwas erreichen, wenn wir gemeinsam
etwas in Gang setzen. Ich hoffe, Herr Lenkert, dass die
Linken auch zukünftig immer mit dabei sein werden.
Vielen Dank.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Daniela Raab für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren auf den Besuchertribünen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Jawohl, der Peer Review ist eine gute Sache. Wir haben ihn nicht nur mit großer Freude zur
Kenntnis genommen, sondern gerade in unserem Beirat
auch durchaus verinnerlicht. Allerdings ist auch ein wenig Kritik zu üben. Diese ist an der einen oder anderen
Stelle schon einmal angeklungen.
Die Hauptkritik, die ich für meine Fraktion und auch
für meine Arbeitsgruppe äußern möchte, betrifft einen
Punkt, der heute schon den einen oder anderen Redner
beschäftigt hat. Der Peer Review, gleichsam ein Gutachten über die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, setzt einen, wie ich und auch meine Kolleginnen und Kollegen
finden, sehr einseitigen Schwerpunkt auf die Fragen, wie
wir mit dem Klimawandel umgehen und was für uns
Umweltschutz im täglichen Politikverständnis bedeutet.
Dabei verkennt dieses Gutachten, um es auf Deutsch zu
formulieren, leider - ich bedaure das sehr und erhoffe
mir, dass sich das in der zukünftigen Entwicklung anders
darstellen wird -, dass nachhaltige Politik nicht nur
Klima- und Umweltschutz bedeutet, sondern sehr, sehr
viel mehr.
Nachhaltige Politik muss sich zum Beispiel auch, wie
Kollege Kauch richtigerweise angesprochen hat, mit der
Frage beschäftigen: Wie können wir uns umweltgerecht
verhalten und generationengerecht in unserem politischen Tagesgeschäft denken? Diesbezüglich kann ich
mich der Kritik vollumfänglich anschließen. Es muss
uns gelingen, neben den vielen Umweltverbänden, die
natürlich eine wichtige Rolle bei der Nachhaltigkeitsstrategie spielen, auch die Gewerkschaften, die Wirtschaftsunternehmen, Familienunternehmen sowie die
Kirchen und die Sozialverbände auf unserem Weg hin zu
einer nachhaltigen Entwicklung mitzunehmen und von
diesem zu überzeugen, sofern sie diesen nicht sowieso
schon eingeschlagen haben. Unsere Familienunternehmen, liebe Marie-Luise Dött, handeln und denken eigentlich schon ziemlich nachhaltig.
({0})
Sie bilden aus, übernehmen im Optimalfall die Auszubildenden und sorgen damit dafür, dass auch diese für
ihre Familien da sein können und sich im Unternehmen
so lange wie möglich fortbilden und weiterentwickeln
können. Auch das ist nachhaltig. Hier besteht aber
durchaus noch Entwicklungspotenzial.
Auch die Frage der Infrastruktur - das ist völlig richtig, Frau Kollegin Wilms; auch das Verkehrsministerium
ist hier vertreten - berührt Nachhaltigkeitsgesichtspunkte und sollte nicht nur unter kurzfristigen Gesichtspunkten betrachtet werden. In diesem Bereich haben wir,
wie ich glaube, auch noch einiges aufzuholen.
Ich meine deswegen: Lassen Sie uns dieses Thema so
breit wie möglich angehen und manchmal unser politisches Tagesgeschäft wirklich hintanstellen, um visionär
zukünftige politische Forderungen gemeinsam zu entwickeln. Ich glaube, wir müssen uns unter diesem Dach zusammenfinden. An der einen oder anderen Stelle werden
wir zwar nach wie vor auseinanderdriften, weil wir unterschiedliche Vorstellungen haben, was gut ist, weil das
Ausdruck des politischen Wettbewerbs ist; aber das gemeinsame Ziel muss in der Tat die Schaffung von Generationengerechtigkeit auf allen Politikfeldern sein. Wir
müssen uns den Problemen in den sozialen Sicherungssystemen ehrlich stellen, und wir müssen uns ehrlich der
Frage stellen, wie viel Schulden wir noch machen wollen.
Damit wir uns richtig verstehen: Das bereitet keinem
in diesem Raum Freude, weder der Regierung noch der
Opposition. Das, was wir insbesondere in den letzten
zwei Jahren getan haben, mussten wir tun, und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gibt uns diesbezüglich
- das haben wir heute wieder gehört - recht. Auch das
möchte ich an dieser Stelle unbedingt festhalten.
Die Empfehlungen des Peer Review, die wir teilen,
sind schon genannt worden. Die Stärkung des Kanzleramtes möchte ich hier doppelt und dreifach unterstreichen. Auch wir Mitglieder der Unionsfraktion wünschen
uns, dass wir im Organisationsplan des Kanzleramtes
nicht nur irgendwo das Wort „Nachhaltigkeit“ finden,
sondern dies auch mit personellen Ressourcen unterlegt
wird.
({1})
Das wäre sehr schön. Dafür werden wir natürlich weiterhin arbeiten.
Liebe Frau Wilms, Sie haben mir aus der Seele gesprochen. Es wäre wirklich schön, wenn die Nachhaltigkeitsprüfung in den Ministerien auch einmal stattfinden
würde.
({2})
Es wäre schön, wenn nicht nur die gerne verwendeten
Textbausteine „Wir haben die Nachhaltigkeit geprüft; es
ist alles in Ordnung“ oder „Keine Auswirkungen auf die
Nachhaltigkeitspolitik“ genutzt würden, sondern man
sich wirklich einmal die Mühe machen würde, sich zu
überlegen - das macht man bei anderen Punkten ja auch -,
ob der Gesetzentwurf vielleicht doch nicht so ganz nachhaltig ist. Vielleicht ist er zu Recht nicht nachhaltig, weil
es sich um ein drängendes Problem handelt; das kann ja
sein. Aber wenn er nachhaltig ist, meine lieben Freunde,
dann sagt es uns. Es ist doch ein Qualitätsbeweis, wenn
ich unter einen Gesetzentwurf schreiben kann: Er ist aus
folgenden Gründen nachhaltig: erstens, zweitens, drittens. - Es geht also nicht nur um die formelle Kabinettsreife, die ich mit einer solchen Prüfung erreichen
möchte, sondern es geht auch um die materielle Ausfüllung des Begriffs „Nachhaltigkeit“ in der täglichen Gesetzgebung. Auch das wünschen wir uns aus vollem
Herzen.
({3})
Wenn wir allein die Möglichkeiten nutzen, die uns
zum Teil schon gegeben sind, dann können wir - da bin
ich ganz beim Kollegen Kauch - sehr gut auf einen Aktionsplan Nachhaltigkeit und einen Beauftragten für
Nachhaltigkeit verzichten. Mir ist es schon wichtig, dass
wir das Thema nicht auslagern, sondern wir uns als Parlament selber ernst nehmen und sagen: Hierher gehört
die Debatte. Das Thema gehört nicht zu einer Einzelperson, die von der jeweiligen Regierung benannt wird,
sondern wir wollen das selber machen, weil das unserem
parlamentarischen Selbstverständnis entspricht. Wir
können das. - Ich glaube, dieser Beirat beweist das. Deshalb ist mein letzter Wunsch an die Damen und Herren,
die die Geschäftsordnung derzeit umgestalten: Nehmt
den Beirat nicht nur ernst, sondern wertet ihn weiter auf.
In dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wurden ganz eindeutige Sätze dazu gefunden. Es wird Zeit,
dass wir sie in der Praxis umsetzen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Stellungnahme des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zu dem Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitspolitik. Das betrifft die Drucksachen 17/1657 und 17/2314. Der Ausschuss empfiehlt, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine soziale Revision der Entsenderichtlinie
- Drucksache 17/1770 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Wenn die Kolleginnen
und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre
Gespräche vor dem Saal führen, können wir uns auf den
Redner konzentrieren. - Als erster Redner hat das Wort
der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Wirtschaftskrise hat gezeigt: Wir
müssen der sozialen Dimension Europas endlich eine
Gestalt geben. Darüber sind wir uns einig, zumindest in
Sonntagsreden.
Ein soziales Europa ist nur mit einer Revision der
Entsenderichtlinie möglich. Mit der Entsenderichtlinie
sollte ursprünglich Lohndumping verhindert werden. Jedoch wurde die Richtlinie in den vergangenen Jahren
vom EuGH anders interpretiert. Was einst Fairness zum
Ziel hatte, verhindert heute Fairness auf dem Arbeitsmarkt. Wir fordern eine Revision der Richtlinie, um das
ursprüngliche Ziel, den fairen Wettbewerb ohne Lohndumping, klarzustellen.
({0})
Mit dieser Forderung stehen wir in einer langen Tradition. Schon 1919, als die Internationale Arbeitsorganisation ins Leben gerufen wurde, war den Gründungsstaaten klar: Wir müssen Sozialdumping verhindern,
indem wir Mindestarbeitsbedingungen festlegen. Keine
Volkswirtschaft soll einen Vorteil durch Unterbietung erlangen. Daran arbeitet die ILO bis heute, und daran müssen auch wir arbeiten: weg vom Lohndumping, hin zum
fairen Wettbewerb.
({1})
Fairer Wettbewerb war auch der Grundgedanke, als
die Entsenderichtlinie geschaffen wurde. In einem Mitgliedstaat sollen keine Arbeitnehmer über einen längeren
Zeitraum tätig sein, für die ein anderes Recht gilt. Die
Arbeitnehmer, die in ein anderes Land gehen, sollen die
gleichen Rechte haben wie die dortigen Arbeitnehmer.
Dazu gehören unter anderem Regelungen zu Höchstarbeitszeiten, Mindesturlaub, Mindestlöhnen, Sicherheit
und Gesundheit am Arbeitsplatz.
Die Entsenderichtlinie wurde aber nicht immer so gehandhabt, wie sie geplant war. In mehreren Entscheidungen meinte der Europäische Gerichtshof, dass von
ausländischen Unternehmen nur bestimmte Mindeststandards gefordert werden dürfen. Höhere Standards,
zum Beispiel Tarifverträge, müssen laut dem EuGH von
ausländischen Arbeitnehmern nicht eingehalten werden so die Rechtsprechung im Rüffert-Urteil; Gegner war
das Land Niedersachsen. Demnach dürfen in Deutschland keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben werden,
die eine Tariftreueklausel beinhalten. Die Bindung an
Tarifverträge darf laut EuGH kein Kriterium für die Auftragsvergabe sein.
Die Entsenderichtlinie wurde damit ins Gegenteil verkehrt.
({2})
Politisch war gewollt, dass wir Lohndumping verhindern. Wenn ausländische Unternehmer nicht an unsere
Tarifverträge gebunden sind, wird aber mit genau dieser
Richtlinie Lohndumping legitimiert. Zudem werden die
Arbeitsbedingungen mit Arbeit am Wochenende und
Nachtarbeit schlechter, und das häufig ohne wirksame
Kontrolle des Arbeitsschutzes. Dies macht mehr als
deutlich: Wir müssen die Entsenderichtlinie revidieren
und zurück zu den ursprünglichen Zielen kommen.
Von der Uminterpretation der Richtlinie sind alle Länder betroffen. Die reicheren Länder werden durch die ärmeren Länder zu Niedriglöhnen gedrängt. Die Menschen aus ärmeren Ländern werden zu unanständigen
Arbeitsbedingungen eingesetzt, was zu Wettbewerbsverzerrungen führt. Damit werden die Arbeitnehmer aus
verschiedenen Ländern gegeneinander ausgespielt. Sie
stehen in einem Unterbietungswettbewerb. Diesen unsozialen Wettbewerb müssen wir verhindern.
({3})
Alle reden immer von einem fairen Wettbewerb; doch
wir haben keinen fairen Wettbewerb, sondern pures
Lohndumping.
Wie Sie wissen, gilt ab 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit für mindestens acht weitere EU-Mitgliedstaaten.
Wir müssen vorher klären, welche Arbeitsbedingungen
und Tariflöhne von den ausländischen Unternehmen hier
in Deutschland beachtet werden müssen. Denn Lohndumping schadet uns allen. Vor allem schwächen wir unsere Unternehmer, die ihren Mitarbeitern faire Arbeitsbedingungen bieten. Sie können bei diesem Lohndumping
nicht mithalten und sind dadurch gefährdet.
Mit Niedriglöhnen schwächen wir auch unsere Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer in Deutschland verlieren
entweder ihren Job, weil es billigere Arbeitskräfte aus
anderen Staaten gibt, oder sie verdienen Hungerlöhne,
um mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu können.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen gegen diese
Klassengesellschaft unter den Arbeitnehmern vorgehen.
Eine Klasse kommt in den Genuss von fairen Arbeitsbedingungen, steht aber vor der Gefahr, ihre Jobs zu verlieren.
Die andere Klasse arbeitet unter niedrigeren Standards und
lebt deswegen am Rande des Existenzminimums. Eine
solche Klassengesellschaft ist zutiefst unsozial und ungerecht,
({4})
und sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Unser Grundprinzip muss lauten: Gleicher Lohn und
gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das ist keine Gleichmacherei, sondern ein
Grundprinzip von Fairness auf dem Arbeitsmarkt. Wir
wollen nicht, dass Arbeitnehmer in ein anderes EU-Land
entsandt werden und dort zu schlechteren Bedingungen
arbeiten müssen als die Arbeitnehmer im Gastland. Für
entsandte Arbeitnehmer müssen die gleichen Bedingungen gelten.
({5})
Öffentliche Auftraggeber müssen das Recht haben,
ihre Aufträge so zu vergeben, dass die Unternehmen Tarifverträge einhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
wir in Deutschland Tarifverträge abschließen, die dann
ein Unternehmen aus dem Ausland einfach aushebeln
kann.
Im Übrigen wollen öffentliche Auftraggeber, darunter
viele Bundesländer, ihre Aufträge zu fairen Bedingungen vergeben. Das zeigt das Beispiel Niedersachsen, und
das zeigt sich dadurch, dass viele Länder unseren hier
eingebrachten Antrag unterstützen.
Mit der geforderten sozialen Revision der Entsenderichtlinie arbeiten wir auch an unserem Ziel eines sozialen Europas. Wir haben vier Dimensionen in Europa:
den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung und die soziale Dimension Europas.
Die ersten drei Dimensionen haben wir bereits erfolgreich umgesetzt. Nun geht es darum, aus der wirtschaftlichen Einheit auch ein soziales Europa zu entwickeln.
Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den Euro
oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet auch,
dass faire Arbeitsbedingungen für alle Menschen in unserer Union geschaffen werden. Dahin muss unser Weg
führen. Dafür tragen wir Verantwortung.
({6})
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, setzen
Sie sich nicht nur in Sonntagsreden für einen fairen
Wettbewerb ein! Lassen Sie uns gemeinsam die Bundesregierung dazu bewegen, mit unseren EU-Partnern eine
Revision der Entsenderichtlinie in Angriff zu nehmen
und damit einen weiteren Schritt in Richtung eines sozial
gerechten Europas zu gehen.
Ich freue mich auf die weitere Beratung und danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Im Jahr 2004 setzte der lettische Bauunternehmer Laval Arbeitskräfte aus seinem Heimatland
auf einer Baustelle in Schweden ein. Die Entlohnung erfolgte gemäß den lettischen Tarifverträgen. Schwedische
Baugewerkschaften fassten dies als Lohndumping auf
und versuchten, den Bauunternehmer dazu zu bewegen,
die eingesetzten Beschäftigten gemäß den schwedischen
Tarifvereinbarungen zu entlohnen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen blockierten sie die Baustelle in Schweden.
({0})
- Ja, das hätten auch die Linken machen können.
Der Europäische Gerichtshof erkannte in seinem Urteil vom 18. Dezember 2007 das Grundrecht auf Streik
zwar ausdrücklich an, er vertrat aber die Auffassung, dass
ein Streik keine der vier Grundfreiheiten der EU - Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit sowie Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs
- einschränken darf.
Es wird oft behauptet, der EuGH habe mit seinen Entscheidungen im Fall Viking und in den ähnlich gelagerten
Fällen Laval und Rüffert den wirtschaftlichen Freiheitsrechten des EG-Vertrags, besonders der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit, Priorität gegenüber der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit eingeräumt.
({1})
Hier reihen sich mit ihrer Antragsbegründung die Kollegen der SPD ein. Sie nehmen dabei besonders auf das
gewerkschaftliche Streikrecht und auf die Tarifautonomie Bezug.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lieber
Kollege Juratovic, mit Ihrem Antrag setzen Sie sich unter anderem dafür ein, dass in allen Rechtsvorschriften
auf europäischer Ebene, die Fragen der Entsendung berühren, das Grundrecht auf Tarifverhandlungen und kollektive Maßnahmen verankert wird. Ihre Forderungen
betreffen größtenteils übergreifende europäische Sachverhalte, auf die die Bundesregierung nur geringen Einfluss hat.
({2})
- Sie können nachher noch reden, Frau Pothmer. Stellen
Sie eine Frage, dann schauen wir mal.
Zur Frage, ob die Entsenderichtlinie als Konsequenz
der Urteile des EuGH revidiert werden muss, gab es am
2. Juni dieses Jahres eine Anhörung des Ausschusses für
Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments. Die Europäische Kommission hat
in diesem Zusammenhang angekündigt, zu prüfen, ob
überhaupt ein Bedarf für eine Revision der Entsenderichtlinie besteht, und frühestens 2011 einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. Mit Ihrem Antrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, greifen Sie diesen Prüfungsergebnissen vor.
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs drücken
die Spannung zwischen ökonomischen Sachzwängen einerseits und dem notwendigen Arbeitnehmerschutz andererseits aus. Hier muss sine ira et studio eine Lösung
gefunden werden. Anders als die SPD bin ich aber der
Auffassung, dass diese Urteile eine Revision der Entsenderichtlinie nicht notwendigerweise erzwingen.
({3})
Der EuGH hat in seinen Entscheidungen betont, dass
die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach
dem EG-Vertrag als fundamentale wirtschaftliche Freiheitsrechte garantiert werden. Ihnen kommt aber nicht
nur eine Wirkung als Abwehrrecht bei staatlichen Eingriffen zu, sondern auch eine direkte Wirkung gegenüber
den Behinderungen der Freiheitsrechte durch private
Dritte. Zu diesen zählen auch die Gewerkschaften. Der
EuGH hat damit zum ersten Mal anerkannt, dass das
Streikrecht als soziales Grundrecht im Sinne des GePaul Lehrieder
meinschaftsrechts anzusehen sei. Im Urteil Laval greift
er den Begriff des Sozialdumpings auf und sieht im
Streikrecht zum Schutz der Arbeitnehmer gegen Sozialdumping ein zwingendes Allgemeininteresse.
Abschließend möchte ich noch auf ein interessantes
Detail aufmerksam machen, das die SPD im letzten Absatz ihrer Antragsbegründung versteckt hat. Sie hält
demnach nicht mehr kompromisslos an ihrer ursprünglichen Forderung nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn fest, sondern scheint endlich dem stets
von der Union bevorzugten Weg der tarifvertraglichen
Mindestlöhne Positives abgewinnen zu können. Danke
schön! Aber das nur am Rande.
Unsere ehemaligen sozialdemokratischen Mitkoalitionäre werden sich noch daran erinnern können, dass die
Große Koalition in der letzten Wahlperiode gerade die
Entsenderichtlinie zum Anlass genommen hat, das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz auszuweiten. Insgesamt
wurden mit Gebäudereinigern, Briefdienstleistern, der
Pflegebranche, Sicherheitsdienstleistern, der Abfallwirtschaft, Aus- und Weiterbildungsdienstleistern nach dem
SGB II oder SGB III, Wäschereidienstleistern und auch
Bergbauspezialarbeitern acht Branchen neu in den Geltungsbereich des Gesetzes aufgenommen. Die Zahl der
Arbeitnehmer, die durch Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschützt werden können, war
damit von 700 000 auf 3 Millionen gestiegen.
Daneben sind durch die Modernisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, des MiArbG, Mindestlöhne auch in solchen Bereichen ermöglicht worden, in
denen die Tarifbindung gering ist und das ArbeitnehmerEntsendegesetz nicht angewandt werden kann. Wir haben damit eine gute Voraussetzung für die Einführung
der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit geschaffen, die ab dem Jahr 2011 gelten wird. Aus diesem
Grund ist eine Revision der Entsenderichtlinie zum jetzigen Zeitpunkt nicht notwendig. Ich denke deshalb, wir
sollten hier zunächst abwarten, zu welchem Ergebnis die
EU-Kommission bei der Überprüfung der Richtlinie
kommt. Aufgrund des ausdrücklichen Wunsches meines
Nachredners, des Kollegen Wadephul, möchte ich ihm
die verbleibende Minute hiermit schenken.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Mai 2011
kommt die absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa: Die Übergangsregelungen für die Entsendung von
Arbeitnehmern aus den neuen Beitrittsländern, die bisher keinen freien Zugang hatten, laufen dann aus. Die
europäische Entsenderichtlinie muss daher sozial gestaltet werden. Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz
muss auf alle Branchen erweitert werden. Die Erklärung
der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen muss
erleichtert werden. Ein flächendeckender Mindestlohn
muss eingeführt werden.
({0})
Damit wären die größten Löcher gestopft.
Wir wollen aber noch mehr als nur Löcher stopfen.
Bereits im Februar 2006 fanden in Berlin und Straßburg
zwei große Demonstrationen statt, und zwar unter Eis
und Schnee; das war eine schweinekalte Angelegenheit.
Das Ergebnis war: Die Dienstleistungsrichtlinie wurde
anschließend mit Änderungen eingeführt.
Die Dienstleistungsrichtlinie regelt, dass Unternehmen in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union
Dienstleistungen anbieten können. Viele Menschen sorgen sich seitdem, dass Beschäftigte, die nun europaweit
arbeiten können, europaweit um die billigsten Löhne
konkurrieren müssen. Um das zu verhindern, gibt es die
europäische Entsenderichtlinie. Sie regelt, dass Beschäftigte, die mit ihren Unternehmen innerhalb der EU arbeiten, nicht schutzlos sind. Sie enthält Mindestarbeitsbedingungen; dabei geht immer mehr als das Minimum.
Vor Ort gelten dann für inländische und entsendete Arbeitnehmer die gleichen Bedingungen. Ziel der Entsenderichtlinie ist es also, Lohndumping und Lohnkonkurrenz zu vermeiden sowie einheitliche Rechtsstandards an
einem Arbeitsort zu sichern. Das ist an sich eine gute
Idee.
Dieser Plan wurde jedoch ohne den Europäischen Gerichtshof gemacht. Er hat mit seinem Urteil die Minimalstandards in Maximalstandards verwandelt. Mehr als
das, was in der Richtlinie steht, geht demnach nicht.
Plötzlich wurde das Streikrecht vor Ort eingeschränkt.
Geltende Tarifverträge wurden als Wettbewerbshemmnis
erachtet und für ungültig erklärt. Wirtschaftliche Freiheitsrechte - Herr Lehrieder hat sie erwähnt - gehen damit auch in diesem Land vor Freiheitsrechte der Menschen. Das ist skandalös und verkehrt das Anliegen der
Richtlinie in das Gegenteil.
Schon einmal wurde versucht, die Arbeitnehmerrechte in Europa auszuhebeln. Nach dem ersten Entwurf
der Dienstleistungsrichtlinie sollte der Firmensitz darüber entscheiden, welche Arbeits- und Tarifstandards
gelten. Ein Chaos von 27 parallel geltenden Arbeitsrechten drohte. Die Firmen hätten sich durch eine Verlagerung ihres Firmensitzes die für sie günstigsten Bedingungen heraussuchen können. Das wurde zum Glück
verhindert.
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes kommen diese Zustände nun durch die Hintertür zurück.
Deswegen muss ein absoluter Riegel vorgeschoben werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass auf soziale
Standards geachtet wird, auch auf europäischer Ebene.
Ich wiederhole: Wir brauchen in diesem Bereich
Nachbesserungen; an dieser Stelle muss sich etwas ändern. Es muss einen Mindestlohn geben. Tarifstandards
müssen eingehalten und ihre Durchsetzung erleichtert
werden. Im Grunde muss die Richtlinie über die Entsen5368
dung von Arbeitnehmern auf alle Bereiche ausgeweitet
werden.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der europäische Binnenmarkt ist für den Wohlstand und
den wirtschaftlichen Erfolg der Mitgliedstaaten der EU
von wesentlicher Bedeutung. Gerade weil wir uns vielleicht schon daran gewöhnt haben, ist der Hinweis wichtig, dass offene, europaweit freie Märkte für Waren und
Dienstleistungen die besten Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung in jedem der Mitgliedsländer der
Europäischen Union sind.
Die Europäische Union hat einen erheblichen Beitrag
zum europaweiten Wohlstand, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zum sozialen Fortschritt geleistet. Ich
will hier einmal einige Daten nennen: Nach Berechnungen der EU-Kommission wäre der Wohlstand der EU, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2006 um
2,2 Prozent niedriger gewesen, wenn es den europäischen
Binnenmarkt nicht gegeben hätte. Die Beschäftigung
wäre im Jahr 2006 um 1,4 Prozent - das sind über die gesamte EU gerechnet 2,75 Millionen Arbeitsplätze - niedriger ausgefallen.
({0})
- Ja, das ist das Problem, Herr Kollege. Sie sagen: Das
hat nichts damit zu tun. Aus meiner Sicht hat das schon
etwas damit zu tun. Gerade in den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen, um
fast ein Drittel auf 52 Prozent des Durchschnitts der alten Mitgliedstaaten. Die Löhne in den neuen Mitgliedstaaten sind zwischen 2000 und 2008 erheblich gestiegen. In mehreren neuen Mitgliedstaaten legten die realen
Bruttolöhne um mehr als 100 Prozent zu.
Warum sage ich das? Ich sage das, weil wir bei allem,
was wir tun und bei den durchaus nachvollziehbaren
Schutzinteressen, die hier vorgetragen werden, am Ende
nicht gefährden dürfen, dass der von uns gewollte, sinnvolle Austausch von Gütern und Dienstleistungen über
Gebühr behindert wird.
({1})
Deswegen hat der Europäische Gerichtshof die in der
EU garantierten Grundfreiheiten gestärkt. Er hat deutlich
gemacht, dass in einem Katalog von rund 70 Richtlinien
und zahlreichen Verordnungen ein Mindeststandard in
Europa festgelegt ist, der ohnehin in jedem einzelnen
Mitgliedsland gewährleistet wird. Er hat zusätzlich klargestellt, dass die Entsenderichtlinie zusätzlich zu den
EU-weit geltenden sozialen Mindeststandards einen harten Kern an Sozialschutzbestimmungen des Ziellandes
für entsandte Arbeitnehmer vorschreibt und diesen zusätzlichen Schutz auch gewährleistet. Es ist also eine
Richtlinie im Interesse der entsandten Arbeitnehmer und
nicht im Interesse der Arbeitnehmer im Zielland. Man
muss sich deutlich vor Augen führen: Das ist der Hintergrund der Entsenderichtlinie, Herr Juratovic, Sie schütteln so sinnend den Kopf. Vor diesem Hintergrund ist es
schlicht falsch, zu behaupten, dass das soziale Europa
unter die Räder der wirtschaftlichen Grundfreiheiten geraten sei. Das ist ausdrücklich nicht der Fall.
Die Entsenderichtlinie darf nicht dazu missbraucht
werden, unter dem Deckmantel des Schutzes sozialer
Rechte protektionistische Maßnahmen zu treffen,
({2})
um die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit einzuschränken - das will ich für meine Fraktion sehr deutlich sagen -,
({3})
weil dadurch die genannten enormen Vorteile des europäischen Binnenmarktes gefährdet wären. Ein europäischer Binnenmarkt ist aber erforderlich, um auf den
Weltmärkten gegenüber Wettbewerbern mit großen Heimatmärkten erfolgreich konkurrieren zu können.
Sozialer Fortschritt realisiert sich nur durch wirtschaftlichen Fortschritt. Das verkennt der Antrag der
SPD, Herr Juratovic. Ihr Antrag ist von Protektionismus
geprägt. Er stellt die soziale Freiheit - deswegen habe
ich den Gedanken bewusst entwickelt - schlichtweg auf
den Kopf. Er schränkt in gewisser Weise auch die Chancengerechtigkeit ein.
Zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes hat
der Kollege Lehrieder schon einiges gesagt. Ich finde,
Viking, Laval, Rüffert und Luxembourg machen eines
klar: Die Richtlinie soll das Arbeitsrecht in den Mitgliedstaaten nicht harmonisieren, sondern koordinieren.
Das ist aus meiner Sicht ein wesentlicher Unterschied.
Ich möchte deutlich sagen, dass die Urteile viel Freiraum
für die Lohnfindung in den Mitgliedstaaten zulassen.
Die Urteile sind, wie ich finde, ein effektives Instrument,
um Sozialdumping zu verhindern. Sie bauen auf dem
Prinzip auf, dass die Rahmengestaltung der Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer vorrangig durch
Gesetze und Tarifabschlüsse des Gastlandes bestimmt
wird und dass die Arbeitnehmer von diesen Rahmenbedingungen profitieren können, ohne sie selbst aushandeln zu müssen.
Zu den einzelnen Punkten in Ihrem Antrag will ich
Folgendes sagen: Eine europäische Regelung zur Tarifautonomie ist unserer Auffassung nach vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht notwendig. Es ist auch nicht die Aufgabe europäischer
Rechtsetzung, über Mindeststandards hinaus Sozialpolitik zu betreiben. Der Grund für Beschränkungen auf geDr. Heinrich L. Kolb
wisse Faktoren in den Richtlinien ist - darauf haben Sie
eben selbst hingewiesen -, dass das Entsendeverhältnis
temporärer Natur ist. Die Arbeitnehmer, die zu uns kommen, sind nicht Teil des hiesigen Arbeitsmarktes. Sie haben sich unserem Arbeitsmarkt auch nicht verpflichtet.
Eine zeitliche Begrenzung sehe ich nicht als hilfreich an.
Sie würde zu einem ständigen Wechsel der Arbeitnehmerschaft führen. Und eine Änderung der Ausschreibungskriterien - das ist ja auch ein Punkt Ihres Antrags widerspricht ausdrücklich der Idee des offenen Binnenmarktes. Das ist, wenn ich es richtig sehe, bei den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf Rüffert
und Luxembourg genauso gesehen worden.
Die Idee, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle
Branchen auszuweiten, wird von uns abgelehnt. Da rate
ich wirklich zur Vorsicht. Schon in der Vergangenheit
wurde das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch in Branchen, in denen es keine klassische Entsendeproblematik
gab, ich will es mal so sagen, „missbraucht“. Wie das im
Mai 2011 werden wird, das sollten wir uns einmal in
Ruhe ansehen. Ich glaube, dass da im Moment - mit
Hinweis auf die Freizügigkeit, die sich dann ergibt sehr viel Panik gemacht wird. Ich bin zurückhaltend und
rate auch allen anderen zur Vorsicht. Gerade die Anhörung vier verschiedener Verbände und auch der Bundesagentur am Montag - das will ich auf die Frage des Kollegen Vogel noch einmal sehr deutlich sagen - hat
gezeigt, dass man nichts Genaues weiß. Es gibt auch viel
Überlieferung von einem zum anderen, und am Ende
machen die sich gegenseitig verrückt.
Also gehen wir das ruhig, sachlich und mit der gebotenen Vorsicht an. Dann wird es auch eine vernünftige
Regelung geben. Eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie ist aus unserer Sicht jedenfalls nicht erforderlich.
Deswegen stehen wir dem Antrag des Kollegen
Juratovic, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
kritisch und ablehnend gegenüber.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
grüne Position ist ganz klar und ganz eindeutig: Das
Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort“ muss innerhalb der gesamten EU durchgesetzt werden. Dieses Prinzip muss einen höheren Stellenwert haben als die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit.
({0})
Deswegen muss die Entsenderichtlinie überarbeitet werden, und zwar so, dass sie zugunsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht durch die Dienstleistungsfreiheit eingeschränkt werden kann.
({1})
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb.
({0})
Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. - Das betrifft
sowohl die Löhne, die Arbeitszeiten, die Urlaubsansprüche und auch andere soziale Standards. Zukünftig müssen die Standards gelten, die in dem Land, in dem die
Dienstleistung angeboten wird, gesetzlich oder tariflich
vereinbart worden sind.
Genau das gilt jetzt nach dem Urteil des Europäischen
Gerichtshofs in Sachen Laval und Rüffert eben nicht
mehr. Nach diesem Urteil werden entsandte Beschäftigte
tatsächlich zu so etwas wie Sendboten des Lohndumpings. Das ist für die Betroffenen, aber auch für die Beschäftigten hier ein Zustand, den wir nicht hinnehmen
können. Es ist aber auch ein Rückschlag für das soziale
Europa.
({1})
Herr Kolb, wir werden eine Akzeptanz der europäischen Verständigung in viel stärkerem Umfang brauchen, als das bisher der Fall ist. Und wenn wir keine Akzeptanz für Europa schaffen, dann wird es uns auch nicht
gelingen, in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik - da,
wo wir es dringend brauchen - Regelungen zu treffen.
({2})
- Herr Kolb, versuchen Sie es nicht noch einmal. Ich
finde, dass Sie Ihre Redezeit hatten. Ich muss Ihnen einmal sagen: Ich finde, es reicht auch einfach.
({3})
Es ist die Aufgabe der Politik, genau hier auf soziale
Rahmen zu setzen. Es muss vollkommen und unmissverständlich geklärt werden, dass Mindestanforderungen
eben keine maximalen Normen darstellen, wie es derzeit
nach diesem Gerichtsurteil der Fall ist.
({4})
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat doch nun wirklich - das müsste eigentlich auch bei Ihnen angekommen
sein - endgültig geklärt, dass die Freiheit des Marktes
nicht über alles gestellt werden darf. Daraus müssen wir
Lehren ziehen. Der europäische Wettbewerb muss ein
Wettbewerb um die Qualität der Dienstleistung sein und
nicht ein Wettbewerb um Schmutzlöhne. Genau dafür
braucht man für diesen Wettbewerb einen Rahmen. Der
Rahmen muss so gesetzt sein, dass die Mitgliedstaaten
auch die Möglichkeit haben, über die Mindeststandards
hinauszugehen. Diese Standards müssen sowohl für einheimische als auch für entsandte Beschäftigte einheitlich
gelten.
Seit dem Urteil des EuGH ist in der Sache allerdings
ganz wenig passiert; auch das muss man an dieser Stelle
einmal sagen. Das Europäische Parlament hat die Kommission bereits 2008 aufgefordert, tätig zu werden. Aber
handfeste Ergebnisse haben wir nicht vorzuweisen.
Sie, Herr Lehrieder, haben vorhin gesagt: Was kann
denn die arme Bundesregierung dafür? Deutschland ist
das größte europäische Land. Wenn sich Deutschland in
dieser Frage engagieren würde, dann wäre da auch Bewegung drin; das muss man eindeutig sagen. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, das ist
auch zu Zeiten der Großen Koalition, als Sie mitregiert
haben, nicht geschehen.
Kollegin Pothmer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es folgt gleich eine
Kurzintervention. Sie haben also noch viele Möglichkeiten. Bitte sagen Sie Ihren letzten Satz.
Ich würde mir wünschen, dass die Union und die FDP
endlich ihre Blockade aufgeben. Es liegt auf nationaler
und auf europäischer Ebene einiges im Argen. Es ist
jetzt wirklich allerhöchste Zeit, zu handeln. Wenn Sie Ihren Ruf als Beschützer der Lohn- und Standarddrücker
nicht weiter zementieren wollen, dann sollten Sie sich in
Bewegung setzen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heinrich
Kolb das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin
Pothmer, es ist eigentlich schade: Ich lasse Ihre Fragen
immer zu. Da wäre es doch nur angemessen, wenn auch
ich Sie fragen dürfte.
({0})
Das ist auch eine Chance auf eine Verlängerung der Redezeit. Sie waren heute nämlich ein bisschen knapp.
({1})
Meine Zwischenfrage hätte Ihnen also die Chance geboten, noch etwas mehr zu diesem Thema zu sagen.
Was ich Sie gefragt hätte und worauf ich Sie jetzt hinweisen möchte, ist Folgendes: Es muss in den letzten
Jahren irgendein entscheidendes Ereignis gegeben haben. Denn wenn ich es richtig sehe, hat Rot-Grün in der
eigenen Regierungszeit mit den Hartz-Gesetzen im Bereich der Zeitarbeit genau das Prinzip, von dem Sie gerade gesprochen haben - gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort -, außer Kraft gesetzt. Der
Grundsatz des Equal Pay kann nämlich überschrieben
werden. Genau das befürchten Sie auch jetzt: dass Arbeitnehmer bzw. Zeitarbeitnehmer aus anderen Ländern
zu uns kommen könnten und auf der Basis eines Tarifvertrages hier billiger wären. Wann in den letzten Jahren
ist da Entscheidendes passiert, was dazu geführt hat,
dass Sie heute sagen: „Jetzt sehen wir die Welt vollkommen anders; jetzt glauben wir, die Dinge sind nicht mehr
so, wie sie vorher waren“?
({2})
Ich will Sie auf einen letzten Punkt hinweisen, weil
Sie der FDP immer einen Lobbyismusvorwurf machen
- ich will Ihre Beschimpfungen gar nicht wiederholen,
sondern ich weise all das, was Sie über uns gesagt haben, mit Nachdruck, Abscheu und Empörung zurück -:
({3})
Ich habe meinen Kindern früher immer aus einem Kinderbuch vorgelesen. Es heißt: Der große Platsch. In diesem Buch passiert Folgendes: Drei Hasen schlafen am
Ufer eines Sees im Urwald.
({4})
Dann fällt eine Papaya ins Wasser, und die drei Hasen
erschrecken sich so sehr, dass sie fluchtartig losrennen.
({5})
Dann kommen ihnen andere Tiere entgegen, und alle fragen sie: Was ist denn los? Am Ende heißt es: „Der
Platsch kommt.“ Alle Tiere im ganzen Urwald waren
fluchtartig in Bewegung, bis sie dem erfahrenen, alten
Löwen begegnet sind. Er hat dann zu ihnen gesagt: Immer mit der Ruhe!
({6})
Damit komme ich zum Ende meiner Kurzintervention, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das rate ich auch
uns: Wir sollten überprüfen, was genau passiert ist, ob
ein Platsch unterwegs ist,
({7})
von dem sich alle gegenseitig verrückt machen lassen,
oder ob da wirklich etwas dran ist. Das wird uns die Erfahrung wohl am besten lehren können.
({8})
Deswegen sollten wir hier, wie ich es gesagt habe, ganz
langsam und vorsichtig ans Werk gehen.
Das hätte ich Sie gerne gefragt, das hätte ich Ihnen
gerne gesagt. Jetzt machen wir es auf diesem Wege. Ich
hoffe, dass Sie meine Zwischenfragen beim nächsten
Mal wieder zulassen.
Vielen Dank.
({9})
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Lieber Kollege Kolb, ich lasse Ihre Zwischenfragen
zukünftig nur dann zu, wenn Sie sie mir vorher vorlegen.
({0})
Ich glaube, Ihre Geschichte über Platsch und der Aufruf, Ruhe zu bewahren, ist eine Aufforderung an Ihre eigene Fraktion. Denn seitdem Ihre Umfragewerte um
4 Prozent herumdümpeln, kann man von Ruhe in Ihrer
Truppe überhaupt nicht mehr reden.
({1})
Das ist ein Hühnerhaufen, ein Hühnerhof. Daher wäre es
wahrscheinlich besser, Sie würden eine solche Kurzintervention an Ihre eigenen Leute richten.
Jetzt zum Kern Ihrer Kurzintervention. Herr Kolb, ich
finde es bedauerlich, dass Sie, wenn Sie eine bestimmte
Information aufgenommen haben, stehen bleiben. Sie
haben nicht zur Kenntnis genommen, dass wir nach der
von Rot-Grün getroffenen Entscheidung, die Leiharbeit
zu öffnen, schon zwei Anträge gestellt haben, das zu
korrigieren; denn wenn wir bemerken, dass wir einen
Fehler gemacht haben, sind wir - anders als Sie - in der
Lage, das selbstkritisch zu hinterfragen und diesen Fehler zu korrigieren. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie auf
Ihrer sonntäglichen Klausursitzung genau nach diesem
Prinzip gehandelt hätten.
({2})
Dann hätten Sie vielleicht wieder eine Chance. Wenn Sie
mit kaltem Herzen und kalter Hand so weitermachen,
wird die FDP-Fraktion jedenfalls in diesem Parlament
nur eine geringe Zukunft haben.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem die Kollegin Krellmann vorhin einen
Tiervergleich angestellt hat, hatte ich die Befürchtung,
dass uns auch das weggenommen wird. Aber nach der
Kurzintervention vonseiten der FDP haben wir gemerkt:
Tierwelt kann die Koalition besser. Vergleiche aus diesem Bereich sind unser Privileg.
({0})
Ich komme auf den Kern der Debatte zurück. Nachdem der Kollege Lehrieder in einer zeitlich etwas knapp
geratenen, aber inhaltlich sehr fundierten Rede die wesentlichen Punkte erwähnt hat, will ich die Sachlage
schildern, wie sie sich auf europäischer Ebene darstellt.
Wir dürfen uns im Deutschen Bundestag schließlich
keine Scheinwelt aufbauen. Die Kommission hat eindeutig erklärt, dass sie nach der entsprechenden Diskussion
im Fachausschuss des Europäischen Parlaments evaluieren und die Richtlinie überprüfen wird. Der gerade im
Amt befindliche EU-Kommissar Herr Andor hat angekündigt, im nächsten Jahr gegebenenfalls eine revidierte
Richtlinie vorzulegen. In dieser Situation soll man die
europäischen Institutionen das machen lassen, wofür sie
da sind. Wenn sie angekündigt haben, zu evaluieren,
dann kann sich jeder daran beteiligen und Einzelergebnisse dazu liefern. Aber man soll die europäischen Institutionen erst einmal arbeiten lassen und nicht mit einer
vorgefassten Meinung an die Sache herangehen.
({1})
Ein weiterer Punkt, der darauf hinweist, dass es sich
Ihrerseits um einen Schnellschuss handelt, ist - wir sehen das mit Freude -, dass die SPD jetzt von einem gesetzlichen Mindestlohn Abstand genommen hat; das hat
der Kollege Lehrieder gesagt. Sie wollen auf das zurückkommen, was sinnvoll und vernünftig ist. Der tarifliche
Mindestlohn soll in den einzelnen Branchen durch die
Tarifvertragsparteien festgelegt werden. Das haben Sie
klugerweise in Ihren Antrag hineingeschrieben. Das
begrüße ich und zeigt die von Frau Pothmer angemahnte
Lernfähigkeit bei den Sozialdemokraten. Diese gibt es
übrigens auch bei der FDP.
({2})
Auf der angesprochenen Klausursitzung hat der Generalsekretär der Freien Demokratischen Partei etwas zur
Mehrwertsteuersenkung zugunsten der Hoteliers gesagt.
({3})
Seitens der Union kann man das nur begrüßen. Vielleicht
kommen wir im Herbst nach ausführlichen Beratungen
gemeinsam zu neuen Ergebnissen. Auch die Grünen haben noch Nachholbedarf.
Was auch dafür spricht, dass es sich um einen
Schnellschuss handelt, ist, dass Sie die europäische
Rechtsprechung nicht ausgewertet haben. Ich will gar
nicht meine Meinung dazu sagen; ich bin zwar Jurist,
aber kein Europarechtler. Nur so viel: Lesen Sie in der
tageszeitung vom 12. September 2008 nach, was der
deutsche EuGH-Richter Thomas von Danwitz zu den infrage kommenden Urteilen gesagt hat. Dann würden Sie
von der linken Seite des Hauses wesentliche Teile dessen, was Sie vorgetragen haben, nicht wiederholen. Der
Richter hat gesagt - ich darf zitieren -:
Wenn man die Urteile genau ansieht, erkennt man,
dass es keine derart einseitige Linie gibt. Nehmen
wir das Viking-Urteil …, das in meinen Augen die
grundsätzlichste Bedeutung hat. Hier wurde klar
das Streikrecht der Gewerkschaften als Grundrecht
anerkannt. Zwar werden Streiks als potenzieller
Eingriff in die Binnenmarkt-Grundfreiheiten der
Unternehmen eingestuft, laut EuGH sind Streiks
aber grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie für die
Verteidigung von Arbeitnehmerinteressen notwendig sind.
An anderer Stelle sagt er, als er gefragt wird, ob die
Richtlinie denn dem wichtigen Zweck der Erhaltung des
sozialen Friedens dient:
Entscheidend ist aber, dass die Entsenderichtlinie
ein Kompromiss ist, der hinterher nicht einfach unter Berufung auf bestimmte Interessen wieder infrage gestellt werden kann. Wenn ich mit Kollegen
aus Ungarn oder Polen spreche, dann ist aus ihrer
Sicht der Marktzugang jedenfalls sehr wichtig.
Auf den Aspekt möchte ich hinweisen. Wir können
uns als Exportnation Deutschland nicht hinstellen und
sagen: „Die sollen alle unsere Produkte kaufen“, aber
uns dann, wenn diese eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
nutzen wollen, auf den sie möglicherweise mit günstigeren Personalkosten kommen könnten, abschotten. Wir
schaffen kein Zweiklassen-Arbeitnehmerrecht, Herr
Juratovic, sondern wir schaffen zwei Klassen von Staaten in der Europäischen Union. Das wird außerordentlich kritisch gesehen, das sollten wir nicht machen.
Wenn Sie guter Europäer sind,
({4})
dann überdenken Sie das an dieser Stelle noch einmal
und ziehen Ihren Antrag zurück.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1770 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2010 ({0})
- Drucksache 17/2249 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Olav Gutting für die Unionsfraktion, Lothar Binding für
die SPD-Fraktion, Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion,
Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Lisa Paus
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und des Parla-
mentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk für die
Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/2249 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Carsten Sieling, Manfred Zöllmer, Elvira
Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes bei Finanzdienstleistungen vorlegen
- Drucksache 17/2136 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
1) Anlage 65
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Dr. Carsten Sieling.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kurz nach der Bundestagswahl kam in eine meiner ersten Bürgersprechstunden,
die ich als neu gewählter Abgeordneter durchgeführt
habe, ein älteres Ehepaar und trug mir vor, was ihnen
zwei Jahre zuvor, schon im Jahr 2007, geschehen ist. Sie
waren immer noch empört. Sie hatten einen Anruf eines
ihnen vertrauten Bankberaters bekommen, und dieser
hatte gesagt, er habe ein Angebot nur für ganz spezielle
Kunden: Zertifikate der Lehman-Bank: gute Zinsen, sicher, kein Risiko. Das Ehepaar schlug zu, wie es so viele
gemacht haben. Den Ausgang kennen wir alle. Sie haben
sich verspekuliert, die Altersvorsorge ist dahin. So geht
es Tausenden Menschen. Das ist das Problem und der
Grund, warum wir sagen, dass es dringend notwendig
ist, dass wir im Bereich des Anlegerschutzes und des
Verbraucherschutzes erweiterte Maßnahmen treffen, damit so etwas vermieden wird. Der Schaden in Deutschland wird auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Das ist deutlich zu viel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir
müssen hier handeln. Darum haben wir unseren Antrag
vorgelegt.
({0})
Es gibt viele Gründe dafür, dass das so passiert ist.
Die Berater sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Beraterinnen und Berater stehen unter Erfolgsdruck, weil
sie mehr Provision erbringen müssen. All dies ist in den
letzten Wochen auch durch die Medien gegangen. Auf
tariflicher Ebene hat es Vereinbarungen dazu gegeben.
Die Informationen über die Finanzprodukte - hier
wird es noch ernster - sind unverständlich und nicht
durchschaubar. Niemand beaufsichtigt das, was auf den
Märkten passiert und angeboten wird.
Diese Dinge müssen geändert werden. Die Große Koalition hat schon in der letzten Legislaturperiode durchaus einige Verbesserungen erzielt.
({1})
Ich nenne nur das Stichwort „Verlängerung der Verjährung bei Falschberatung durch die Banken“. Das war ein
richtiger und wichtiger Schritt. Wir haben damals gemeinsam mit der CDU/CSU einen Antrag auf den Weg
gebracht, der viele gute Vorschläge beinhaltet hat. Passiert ist seitdem aber leider gar nichts.
({2})
Man muss sagen: Gar nichts ist passiert.
({3})
- Ich sage gleich noch etwas dazu.
Das größte Problem ist aber, dass ein Gesamtkonzept
fehlt, Kollege Dautzenberg. Da kommen Sie auch nicht
drum herum und nicht heraus. Wir brauchen ein Gesamtkonzept für den Anlegerschutz, das alle Aspekte umfasst.
({4})
Das ist ein Grund, warum wir heute hier diesen Antrag
vorlegen, in dessen Zentrum die Überlegung steht, dass
wir einen Finanz-TÜV, ein Bündel von Maßnahmen,
brauchen, mit dem dafür gesorgt wird, dass die einzelnen
Dinge beobachtet und kontrolliert werden.
({5})
Die Finanzprodukte müssen vom Anfang bis zum
Schluss, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verkauft
werden, durchleuchtet werden. Wir müssen die Situation
erreichen, dass Produkte, Beratung und Verkauf unter
ständiger Beobachtung stehen.
({6})
Was dafür nötig ist, haben wir in unserem Antrag dargelegt.
Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen:
Erstens. Wir wollen gesetzlich verbindliche - und
nicht nur mehr oder weniger freiwillige - und verständliche Produktinformationsblätter mit standardisierten Angaben, damit die Dinge verglichen werden können. Wer
falsche Informationen hineinschreibt, der muss dafür
auch haften.
({7})
Zweitens. Wir wollen die Aufsichtsbefugnisse der
BaFin weiterentwickeln. Dafür gibt es bereits Vorbilder
im Investmentbereich. Das muss ausgeweitet werden,
ohne dass für die BaFin oder die öffentliche Hand ein
Haftungsverhältnis begründet wird. Das muss vermieden
werden, aber die Aufsicht kann weiterentwickelt werden.
Drittens. Wir müssen die Verbraucherverbände stärken. Bellen und Beißen: Das ist das Prinzip, nach dem
wir dort handeln.
Viele weitere Dinge stehen in unserem Antrag, zum
Beispiel die Regulierung des Grauen Kapitalmarkts und
Weiteres.
Die Zwischenrufe haben schon gezeigt: Gleich werden die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition hier
sprechen und sich mit ihren Taten rühmen.
({8})
Sie werden sich Ihrer vermeintlichen Taten mit lauen
warmen Worten rühmen. Da ist nicht viel gewesen. Frau
Aigner, die Verbraucherschutzministerin, hat eine „Qualitätsoffensive Verbraucherfinanzen“ vorgelegt, passiert
ist aber nichts.
({9})
Interessant wurde es, als der Bundesfinanzminister einen Gesetzentwurf mit einigen durchaus beachtenswerten Aspekten im Hinblick auf die Qualifikation von Finanzberatern und vielen anderen Verbesserungen ins
Spiel gebracht hat. Was aber ist passiert?
({10})
Eigentlich sollte dieser Gesetzentwurf schon im Juni im
Kabinett beschlossen werden, damit wir hier etwas Ordentliches zu beraten haben. Er ist aber wieder von der
Tagesordnung genommen worden. So verlautete es jedenfalls.
({11})
- Ob er auf der Tagesordnung war? - Es wurde jedenfalls vorbereitet, und Sie wissen auch, dass es eine Vorabstimmung darüber gab.
({12})
Was ist der Hintergrund? - Der Wirtschaftsminister
Brüderle hat Gesprächsbedarf. Es ist das übliche Spiel:
CDU/CSU und FDP laufen in unterschiedliche Richtungen. Dahinter steckt wahrscheinlich, dass die einen oder
anderen Lobbyverbände wieder interveniert haben.
({13})
- Sie können ja das Gegenteil belegen.
Kollege Sieling, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Allein durch diesen Vorgang wird deutlich, wie richtig und wichtig es war, dass
wir als SPD unseren Antrag hier vorlegt haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege KlausPeter Flosbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Sieling, Sie fordern ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Stärkung des Verbraucherschutzes.
Warten Sie doch noch ein paar Tage. In wenigen Tagen
wird dieses Konzept vorgelegt, Herr Sieling. Sie haben
elf Jahre den Bundesfinanzminister gestellt.
({0})
Bei uns dauert es nur acht Monate, bis ein schlüssiges
Gesamtkonzept vorgelegt wird. Das wird mit Sicherheit
noch in diesem Monat vom Kabinett verabschiedet. Wir
werden schon im September, also nur ein Jahr nach der
Bundestagswahl, dieses Konzept sehr intensiv beraten
können.
({1})
Wir haben deutlich gesagt, dass wir jedes Produkt, jeden Produzenten und jeden Vermittler einer Regulierung
unterwerfen wollen. Sie haben als Beispiel die LehmanZertifikate genannt und auf den vertrauensvollen Bankberater hingewiesen. In der Tat hat es riesige Schäden
gegeben. Aber Sie haben den geregelten Markt angesprochen. Das war der Bankenmarkt - da gibt es das
Wertpapierhandelsgesetz und das Kreditwesengesetz -,
der sehr stark reguliert ist.
({2})
Trotzdem gab es 50 000 Lehman-Geschädigte. Wir kennen den Fall von Phönix Kapitaldienst. Da gab es
30 000 geschädigte Anleger. Auch da hat die Aufsicht
geprüft, konnte den Schaden aber nicht verhindern. Ich
erinnere an die Göttinger Gruppe - atypische Beteiligungen -, die auch ständig geprüft wurde. Alle Kapitaldienste haben geschrieben, was das für ein schlimmer
Verein sei, aber trotzdem hat die bestehende Aufsicht
nicht eingegriffen.
Kollege Flosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick?
Na klar.
({0})
Herr Flosbach, Sie haben gerade ein einheitliches Anlegerschutzkonzept angekündigt, das in wenigen Wochen vorliegen werde. Meine Frage ist, ob der Gesetzentwurf zum Anlegerschutz, der angekündigt ist, schon
dieses Konzept ist oder ob Sie noch etwas Weiteres vorlegen wollen, mit dem die Ziele des Koalitionsvertrages
erreicht werden sollen. Das war mir bei Ihren Ausführungen nicht ganz klar.
Es gibt einen Entwurf der Bundesregierung - das wissen Sie wahrscheinlich -, der bereits mit Verbänden diskutiert wird. Er wird uns in Kürze vorliegen. Er wird
wesentliche Teile der im Bereich Verbraucherschutz diskutierten Themen enthalten. Darüber und über die Anträge, die Sie vorgelegt haben, werden wir mit Ihnen gemeinsam gerne im September und Oktober diskutieren.
({0})
Sie haben es in elf Jahren nicht hinbekommen. Warten
Sie die paar Tage ab, bis wir unser Konzept vorlegen.
Das ist doch der einfachste Weg.
({1})
- Sie waren viele Jahre mit dabei.
Es gibt Schäden auf dem Finanzmarkt. Sie kennen die
Schrottimmobilien. Auch in diesem Zusammenhang
sind Tausende von Leuten über den Tisch gezogen worden. Auch hier haben wieder die Banken gehandelt, die
Kredite gegeben und die Immobilien zu 100 Prozent in
einer Höhe beliehen haben, die diese nicht wert waren.
Sie fordern in Ihrem Antrag, es müsse vom Beginn
der Anlage bis zum Ende alles geprüft werden. Wir können das versuchen. Wir haben derzeit eine Prospektprüfung. Das ist aber nur eine formelle Prüfung, keine inhaltliche Prüfung. Wir müssen aufpassen, dass wir keine
Scheinsicherheit erzeugen. Entscheidend ist, was in dem
Produkt steckt.
({2})
Das muss natürlich geprüft werden. Wir bekommen jetzt
eine neue europäische Richtlinie zu den alternativen Investments. Auch hier, meine ich, muss zunächst einmal
der Anbieter geprüft werden. Die Schäden sind bei den
Anbietern entstanden. Diese sind die Verursacher des
Schadens. Deswegen ist es wichtig - das sage ich in
Richtung von Herrn Schick -, dass die Prospekthaftung
über die sechs Monate hinausgeht. Es ist also wichtig,
dass der Anbieter stärker geprüft wird.
({3})
Denken Sie doch bitte an unsere Diskussion im vergangenen Sommer. Ich spreche von der großen Anhörung zum grauen Kapitalmarkt. Auch da ging es um die
Frage, was inhaltlich geprüft werden kann. Die Aufsicht
hat uns Abgeordneten gesagt: Wir sind in der Lage, formell zu prüfen, aber den wirtschaftlichen Gehalt einer
Anlage können wir nicht prüfen, weil wir nicht die Fachleute dafür haben. Um das einzelne Produkt bewerten zu
können, müssten wir riesige Abteilungen von Experten
beschäftigen, die auch entsprechende Prognosen auswerten. - Denken Sie an den klassischen Fall des geschlossenen Immobilienfonds. In den neuen Bundesländern
gab es in der Startphase teilweise hohe Mieten. Wenn ein
Mieter ausfällt, ist das ganze Konzept im Eimer. Es ist
eine Risikoinvestition. Beim Verbraucherschutz geht es
darum, dass der Verbraucher weiß, dass auf einem Produkt deutlich steht, wenn in ihm ein Risiko steckt. Es
muss dem Einzelnen klargemacht werden, dass das Risiko hoch ist und es sich nicht um eine Anlage handelt,
die 1, 2 oder 3 Prozent abwirft. Das Risiko muss deutlich
beschrieben werden. Darin sind wir uns wahrscheinlich
einig.
({4})
Das Wichtigste dabei ist, dass wir Möglichkeiten eröffnen, wie die Anlegersicherheit gestaltet werden kann.
Ich sehe das auch so wie Sie, dass wir ein breites Spektrum standardisierter Produkte für den Anleger haben
müssen,
({5})
bei denen er weiß, ob es eine Einlagensicherung gibt und
sein Geld nicht verlorengehen kann. Das ist meines Erachtens wichtig. Aber für den Anleger, der bereit ist,
auch ein größeres Risiko einzugehen, müssen wir andere
Schutzvorschriften schaffen. Zum Beispiel bei geschlossenen Fonds ist meines Erachtens das Gutachten der
Wirtschaftsprüfer, das sogenannte IDW-S4-Gutachten,
der richtige Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Bereich, der eine hohe Bedeutung hat, ist natürlich die Regulierung der Vermittler. Hier gibt es derzeit zwei Konzepte, aber in beiden Konzepten sind mehrere Positionen
völlig identisch. Wir wollen, dass es ein einheitliches
und öffentliches Register gibt. Jeder Anleger soll öffentlich sehen können, wer ihm da gegenübersteht, von mir
aus, welche Vita er hat, welche Qualifikation er hat, ob
er eine Haftpflichtversicherung hat, ob er abgesichert ist
für mögliche Risiken. Ich bin außerdem der Meinung,
dass ein Gespräch dokumentiert und protokolliert werden muss, damit man weiß, was da gelaufen ist. Wir
brauchen natürlich - das ist wichtig - den Prospekt. Darin steht normalerweise - gucken Sie sich die Prospekte
an -, der Vermittler darf nicht vom Prospekt abweichen.
Dennoch bin ich der Meinung, das Gespräch sollte protokolliert werden. Das ist meines Erachtens auch für den
Verbraucher der beste Schutz. Es muss einfach deutlich
sein, dass der Verbraucher erkennt, ob es eine Risikoanlage oder eine Nichtrisikoanlage ist.
Es gibt zwei Konzepte: Soll das alles über die Gewerbeordnung reguliert werden, oder soll es über die BaFin,
also die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, als
Aufsicht reguliert werden? - Ich meine, wir müssen hier
an den Verbraucher denken. Was dient dem Verbraucher
am meisten?
Die Situation ist doch, dass wir im Markt viele verschiedene Wettbewerber haben, die sich um den Verbraucher bewerben, und jedes Gespräch wird protokolliert. Wenn der Anbieter ein faires Angebot gemacht hat,
wird er nichts dagegen haben, und dann wird er auch dafür haften können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Wichtig ist, dass wir den Verbrauchern fair und
offen aufzeigen, wo sie Schutz haben können, aber auch
deutlich machen, wo es keinen Schutz gibt. Wer ein Risiko bewusst eingeht, der muss auch das Risiko tragen
können. Das ist dann nicht die Sache des Verbraucherschutzes. Wir wollen nicht jeden reglementieren, ihm
vorschreiben, dass er sein Geld nur im Sparbuch anlegen
kann, sondern wir wollen schon einen Wettbewerb im
Finanzmarkt haben. Ich freue mich auf die weitere Beratung zu diesem Thema.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, werden in den vergangenen Monaten etliche Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern eingegangen sein, die Sorge um ihr mühsam Erspartes haben. Das
klang hier ja auch schon bei Herrn Dr. Sieling durch.
Viele haben in der Finanzkrise durch hoch riskante, intransparente Finanzprodukte, die ihnen als sicher und
renditeträchtig verkauft wurden, eine Menge Geld verloren.
Auch die Verschuldung durch verantwortungslose
Kreditvergaben ist ein großes Problem. Von mehr als
6 Millionen überschuldeten Menschen sind gut 85 Prozent nicht selbst für ihre Lage verantwortlich.
({0})
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie
dürfen nicht länger zulassen, dass Tausende Menschen
ihre Rücklagen für das Alter, für die Pflege oder für Notfälle verlieren
({1})
bzw. finanziell gar keine Zukunft mehr sehen.
Viel zu spät wurde in Deutschland, aber ebenso weltweit bemerkt, dass eine Regulierung der Finanz- und
Kreditmärkte auch aus Verbraucher- und Anlegersicht
dringend geboten ist. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es wäre schön, wenn nicht immer so lange gewartet würde, bis das Kind schon in den Brunnen gefallen
ist.
Die SPD spricht im Titel ihres Antrags aus meiner
Sicht etwas großspurig von einem „Gesamtkonzept“.
({2})
Doch über die Kreditvergabe als wichtigste Finanzdienstleistung und die damit verbundenen Probleme verliert der Antrag kein Wort. Die Linke fordert beispielsweise eine Stärkung der Schuldnerberatungsstellen.
({3})
Die SPD hätte, wenn sie es ernst meinte, ihre Forderungen bereits im letzten Jahr umsetzen können, weil sie
meist von Linken und Grünen übernommen worden
sind. Stattdessen verfolgte die SPD während ihrer Regierungsbeteiligung andere Interessen. Mit dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz, kurz „ZAG“ genannt, hat sie für
eine Verbreitung von Wildwestmethoden im Bereich der
Kreditkartenkredite beigetragen.
({4})
Trotz dieser großen Lücke enthält der SPD-Antrag
- das möchte ich nach den kritischen Anmerkungen betonen - viele unterstützenswerte Forderungen, mit denen
linke Positionen aufgegriffen werden. Auch die Linke
will die unabhängige Finanzberatung ausbauen und sagt
Nein zum Provisions- und Profitstreben in der Finanzund Versicherungsbranche. Honorarberatung bedeutet
nicht zwangsläufig mehr Qualität; doch ohne die Überwindung provisionsgetriebener Beratung und produktbezogener Verkaufsvorgaben gibt es keine wirklich unabhängige Beratung. Warum sorgen wir hier zum Beispiel
nicht dafür, dass das Berufsbild eines zertifizierten
Finanzberaters etabliert wird?
({5})
Auch die gesetzlichen Regelungen zu Beratungsprotokollen weisen viele Lücken auf. Sie schützen eher die
Berater vor Haftungsrisiken als die Beratenen vor Nachteilen. Produktinformationsblätter sollten einheitlich die
Risikoklasse, den maximal möglichen Verlust sowie die
tatsächlichen Gesamtkosten ausweisen. Die Linke fordert für beides standardisierte und insbesondere verbindliche Verfahren.
Ein Finanz-TÜV muss ferner wichtiger Bestandteil
der Finanzaufsicht sein. Finanzprodukte sind vor ihrer
Zulassung auf Verbraucherfreundlichkeit, wirtschaftliche Nachhaltigkeit, Sozial- und Umweltverträglichkeit
sowie Risikopotenzial zu prüfen und zu klassifizieren.
Gefährliche und schlichtweg überflüssige Produkte, die
nur der Spekulation im globalen Finanzkasino dienen,
müssen endlich vom Markt genommen werden.
({6})
Der finanzielle Verbraucherschutz muss gesetzlich
verbindlicher geregelt und gestärkt werden, erstens
durch Regulierung und Entschleunigung der Finanzmärkte, unter anderem durch eine Finanztransaktionsteuer, sowie durch Maßnahmen für eine verantwortungsvolle Kreditvergabe,
Kollege Koch, achten Sie bitte auf das Signal.
- ja -, zweitens durch die Entschlackung der für die
Privatanleger schier undurchschaubaren Masse an Finanzprodukten und drittens vor allem durch bessere Regulierung, Transparenz und Verständlichkeit der verbleibenden Produkte.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Erik Schweickert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht
nur deshalb, weil vielleicht der eine oder andere, der
noch reden muss, zu spät gekommen ist, möchte ich das
aufgreifen, was Sie, Herr Kollege Sieling, zu Anfang aus
Ihrem Wahlkreisbüro berichtet haben. Wenn ich richtig
zugehört habe, hat die Dame
({0})
Ihnen erzählt, was sie 2007 erlebt hat. Ich hoffe, Sie haben der Dame dann auch gesagt, wer denn 2007 die Verantwortung getragen hat und was 2007 von denen unternommen worden ist, sehr geehrter Herr Kollege.
({1})
- Ich glaube schon, dass ich zugehört habe. Sonst hätte
ich zum Beispiel das „Bellen und Beißen“ nicht aufschreiben können; da bin ich mir sicher. Im Bellen sind
Sie großartig; das gestehe ich Ihnen zu.
({2})
- Ihr Kollege hat das gesagt. Ich zitiere nur den Antragsteller. Ich glaube, es ist gut, wenn man da mal ein bisschen Substanz hineinbringt.
({3})
Wir bellen und beißen nicht, sondern wir arbeiten ordentlich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({4})
Meine Damen und Herren, wir sind uns im Ziel doch
einig. Wir wollen mehr Transparenz. Wir wollen eine
bessere Regulierung bei den Finanzdienstleistungen und
somit ein Mehr an Verbraucherschutz. Die Euro-Krise
hat uns gezeigt, dass es am Finanzmarkt noch Regelungsbedarf gibt.
Der Antrag, den die Sozialdemokraten eingebracht
haben, zeigt aber auch die gute und zügige Arbeit der
christlich-liberalen Koalition. In dem Antrag beschreiben Sie viele Problembereiche und sagen: Da müsste
man etwas tun. - Sie haben elf Jahre lang nichts getan.
Ich möchte Ihnen sagen, wo wir etwas getan haben. Sie
haben das ja schon als Erwartung geäußert. Ich möchte
Sie nicht enttäuschen, sehr geehrter Herr Kollege, und
Ihnen das noch einmal vor Augen führen. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und der Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes wird
dieser sogenannte graue Kapitalmarkt nämlich einer
durchgreifenden Regulierung unterzogen.
({5})
- Wir lesen Zeitungen sehr wohl. - Die Pflicht zur Führung eines Beratungsprotokolls, zur Einhaltung des Gebots einer anlegergerechten Beratung und zur Offenlegung von Provisionen wird mehr Transparenz in die
Anlageformen bringen und somit den Anlegerschutz
deutlich erhöhen.
({6})
Seien Sie zuversichtlich, dass es, wenn die BaFin als
Aufsicht über Finanzdienstleistungen das Recht bekommt, Bußgelder für Falschberatungen zu erheben, bei
50 000 Euro doch schon wehtut. Das ist wieder ein kleiner Baustein in die richtige Richtung.
({7})
Auch bei den Qualifikationsvoraussetzungen von Finanzberatern gehen wir voran. Anders als vielleicht der
eine oder andere hier möchte ich nicht den mehr oder
minder staatlichen Bankberater haben. Die Berater und
auch die Vertriebsverantwortlichen - das wird oftmals
vergessen - müssen sich registrieren. Wir wollen, dass
bei falscher Anlageberatung auch die Möglichkeit besteht, Kundenbeschwerden nachzugehen, sodass die
BaFin dem dann entgegenwirken kann. Die BaFin wird
damit auch die Kompetenz bekommen, Wertpapierdienstleistungsunternehmen den Einsatz des einen oder
anderen Mitarbeiters zu untersagen.
({8})
Sie sehen also: Wir gehen nach vorne.
Die Informationsblätter werden künftig stärker reglementiert sein. Der Diskussionsentwurf aus dem Bundesfinanzministerium sieht ein - das finde ich übrigens sehr
gut - nicht mehr als zwei DIN-A4-Seiten umfassendes
Produktinformationsblatt vor. Wir sind doch alle genervt
- seien wir einmal ehrlich -, wenn wir 30 Seiten bekommen, die letztendlich keiner liest.
({9})
Lieber sollten es weniger sein, die dafür die wichtigen
Punkte enthalten. Dann haben wir alle gewonnen.
({10})
- Seit wann ist Herr Brüderle denn Bundesfinanzminister?
Gehen wir einmal weiter. Es war die christlich-liberale Koalition - auch wenn es wehtut, Herr Kollege -,
die mit dem Gesetz zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte eine Regelung
zum Verbot ungedeckter Leerverkäufe auf den Weg ge5378
bracht hat. Wir wirken damit den Risiken für die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte entgegen.
Damit habe ich Ihnen nur einige Beispiele genannt,
mit denen wir das Anlegerschutzniveau deutlich erhöhen.
Für mich als Verbraucherschützer gibt es weitere
Baustellen, an denen wir arbeiten müssen. Wir müssen
darüber diskutieren, wie wir sie angehen.
Im Rahmen der Zusammenführung der deutschen Finanzaufsicht bei der Bundesbank wäre für uns eine Etablierung des Verbraucherschutzes ein wichtiger Punkt;
denn wir brauchen eine bessere Aufsicht und keine Verstaatlichung der Verbraucherzentralen, wie das in Ihrem
Antrag mit den Marktwächtern gefordert wird. Der
Marktwächter darf kein Nachtwächter sein. Aus diesem
Grunde möchte ich eine gute, schlagkräftige Verbraucherzentrale haben, die schaut, was am Markt möglich
ist und welche Entwicklungen es am Markt gibt. Wir
wollen aber keine Verstaatlichung der Verbraucherzentralen. Wir brauchen keine Hilfssheriffs, die der Meinung sind, sie müssten jetzt losgehen. Das muss die Aufsicht machen. Jeder muss dort tätig werden, wo er hingehört, und seine Kernkompetenz in diesem Bereich auch
ausfüllen.
({11})
Auch beim Thema Honorarberater ist nach unserer
Meinung ein Ausbau erforderlich. Wir brauchen ein klares Profil. Jeder muss wissen, ob er einem Honorarberater oder einem Verkäufer gegenübersitzt. Das muss
transparent ausgewiesen werden.
Diese Punkte sind für den Verbraucherschutz notwendig. Dann bekommen wir auch das Vertrauen wieder zurück, das sehr viele Banken tatsächlich verspielt haben.
Ich bin mir auch sicher, dass sehr viele Banken noch
nicht verstanden haben, was sie den Anlegerinnen und
Anlegern angetan haben. Hier müssen wir ein bisschen
für ein Umdenken in der Branche Sorge tragen. Sehr geehrter Herr Kollege, das muss aber mit den Vorschlägen
geschehen, die wir auf den Weg gebracht haben.
({12})
- Sehr geehrter Herr Kollege, wenn Sie es in elf Jahren
nicht schaffen, ein Gesetz vorzulegen, während wir uns
in der kurzen Zeit, die wir jetzt hier die Verantwortung
tragen, schon auf Gesetzentwürfe geeinigt haben,
({13})
dann müssen Sie auch einmal akzeptieren, dass wir den
Schritt in die richtige Richtung gehen, den Sie elf Jahre
lang verpasst haben.
({14})
Bevor Frau Präsidentin jetzt anfängt, es blinken zu
lassen, will ich Ihnen nur noch Folgendes sagen: Wir
werden auch weiterhin im Sinne eines guten Anlegerschutzes vorangehen. Ich freue mich auf die gute Zusammenarbeit und auf die Aussprache mit Ihnen. Ich
hoffe, dass Sie Ihren Leuten dann, wenn Sie erläutern,
was 2007 falsch gelaufen ist, auch sagen, wer es jetzt regelt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Drei Jahre nach Beginn der Finanzkrise ist die verbraucherpolitische Bilanz der Regierung immer noch relativ
schlecht. Banken und andere Anbieter von Finanzprodukten machen mehr oder weniger weiter wie bisher.
Die Regierung hat es versäumt, die notwendigen Reformen zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher
auf den Finanzmärkten umzusetzen. Ich will Ihnen drei
Beispiele aus Verbrauchersicht nennen. Da geht es weniger um Regulierung im Großen als um kleine Ärgernisse, die enormen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten.
Nehmen wir als erstes Beispiel die Überziehungszinsen. Die Verbraucherzentrale in Bremen schätzt, dass die
Deutschen allein von Dezember 2008 bis April 2010
über 700 Millionen Euro aufgrund überhöhter Dispound Überziehungszinsen gezahlt haben.
({0})
Das mag man vielleicht als Kleinigkeit abtun, aber 0,7 Milliarden Euro sind eine ganze Menge Geld.
({1})
Die in der Studie untersuchten Banken kassierten Überziehungszinsen zwischen 17 und 20 Prozent. Wenn wir
uns den Leitzins anschauen, den die Europäische Zentralbank im Moment festgelegt hat, stellen wir fest, dass
das Geld derzeit eigentlich relativ billig ist.
({2})
Wer aber den Dispo überzieht, den kommt das sehr teuer
zu stehen. Besonders dreist ist die Commerzbank; denn
sie nimmt den höchsten Überziehungszins. Dabei ist das
die Bank, die wir nicht mit Millionen, sondern mit Milliarden an Steuergeldern päppeln. Da frage ich mich: Ist
das nicht ein Anlass, um auf den Finanzmärkten einzugreifen? Man muss sich doch die Frage stellen: Wenn so
weit von dem abgewichen wird, was die Geldpolitik vorgibt, nämlich einen niedrigen Leitzins, müsste man dann
nicht im volkswirtschaftlichen Sinne regulierend eingreifen?
({3})
Beispiel Nummer zwei: Abzocke bei EC-Kartengebühren. Die FDP hat dieses Thema erfreulicherweise im
Verbraucherausschuss auf die Tagesordnung gesetzt. Wir
haben ein Fachgespräch durchgeführt, zu dem leider
kein Vertreter der Union erschienen ist; trotzdem war es
sehr gut. Da haben wir herausgefunden, dass die EC-Kartengebühren immer mehr steigen. Aber auch hier bleibt
es bei der Thematisierung in der Presse. Das ist zwar
schön, aber das reicht noch nicht. Eine Pressemitteilung
hat noch keinem Verbraucher, keiner Verbraucherin genutzt. Der Grund, warum Sie an diese ganzen Themen
nicht herangehen, ist, dass Sie, wie ich glaube, eine Beißhemmung gegenüber der Finanzbranche haben.
({4})
Sie scheuen den Konflikt: Sie schreiben zwar Pressemitteilungen, aber Sie trauen sich nicht, gesetzliche Regelungen zu treffen.
Ähnliches gilt für das dritte Beispiel, die Provisionen.
Herr Professor Schweickert hat über die Honorarberatungen gesprochen. Wir wissen, dass Provisionen häufig
Fehlanreize für Beratung setzen. Man berät unter dem
Aspekt: „Wie kann ich die höchste Provision erzielen?“,
aber nicht nach dem Grundsatz: „Was ist das Beste für
den Kunden?“ Jetzt müssen sich Frau Aigner und Herr
Schäuble aber fragen lassen: Wo sind Ihre Vorschläge
zur Deckelung von Provisionen? Trauen Sie sich an die
Kick-backs heran? Wie wollen Sie Transparenz bei den
Provisionen schaffen? Wie wollen Sie die verbraucherfreundliche Honorarberatung fördern? Nur in Überschriften zu reden, reicht nicht. Man muss auch konkrete
Konzepte vorlegen.
({5})
Ein kleines Beispiel: Ministerin Aigner verspricht uns
seit vielen Monaten, dass sie den Begriff „Honorarberater“ gesetzlich schützen lassen wird. Das macht Sinn.
Das löst zwar nicht das ganze Problem, würde zumindest
aber dafür sorgen, dass jemand, der „Honorarberater“
auf seinem Türschild stehen hat, nicht noch zusätzlich
Provision kassiert. Das ist eigentlich keine so schwierige
Sache. Trotzdem haben wir hierzu bislang noch keinen
Gesetzentwurf gesehen.
({6})
- Wahrscheinlich im Herbst; alles kommt im Herbst.
({7})
Wir Grünen fordern seit langem eine Reform der Finanzaufsicht. Dazu werden Sie in der morgigen Debatte
vom Kollegen Schick noch genauere Ausführungen hören.
Wir möchten auch, dass der Verbraucherschutz zu einer Kernaufgabe der Finanzaufsicht wird. Wir wünschen
uns, dass sich am Wettbewerb der Ideen um die beste Finanzaufsicht, den Brüderle und Schäuble ausgerufen haben, auch Frau Ministerin Aigner beteiligt. Wenn die
Ideen nur so sprudeln, wäre es ganz gut, wenn auch der
Verbraucherschutz Gehör finden würde.
Zum Schluss: Funktionierende Märkte brauchen gut
informierte Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn
Sie das Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellieren, dann wäre es doch schön, wenn Sie auch die Finanzdienstleistungen aufnähmen. Wir wissen, dass auch die
FDP das möchte. Wir werden Sie daran messen, ob Sie
sich in diesem Punkt gegen die CDU durchsetzen.
({8})
- Es steht ja so viel im Koalitionsvertrag. Man weiß gar
nicht, wo man anfangen soll.
({9})
- Schritt für Schritt, ja; aber man hat ja normalerweise
nur vier Jahre Zeit. Deshalb denke ich, jetzt wäre es an
der Zeit, konkret ans Arbeiten zu gehen, statt nur Pressemitteilungen zu schreiben.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frank Steffel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu später Stunde habe ich den Eindruck: Mancher Streit
ist etwas künstlich und die Aufregung auch. Ich vermute,
dass wir uns einig sind, dass die internationale Finanzkrise leider auch Spuren bei Verbrauchern und Bankkunden hinterlassen hat. Ich teile auch ausdrücklich das, was
Sie, Frau Maisch, gesagt haben, nämlich dass die Senkung der Zinsen, beispielsweise durch die Europäische
Zentralbank, im Wesentlichen natürlich dazu dienen
sollte, den Mittelstand zu unterstützen, die eigenen Zinssätze zu senken, Anreize für Investitionen zu geben und
den Verbrauchern und Konsumenten durch günstige
Zinssätze ein Stück weit das Investieren zu erleichtern,
statt die Vorteile aus dieser Maßnahme für die Sanierung
der Banken zu verwenden, wie es momentan offenkundig die meisten Institute tun.
Ich glaube, wir sind uns auch darüber einig, dass die
Banken selbst ein sehr großes Interesse daran haben
müssen, dass das verloren gegangene Vertrauen in ihre
Institutionen, aber auch in ihre Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter möglichst schnell zurückgewonnen wird;
({0})
denn wenige Branchen leben stärker von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz als die sensible Geldanlagebranche. Wenn wir einmal bei den Kleinanlegern bleiben:
Die berühmte Omi mit ihrem Sparbuch überlegt sich
schon sehr genau, ob sie der Person und dem Institut ver5380
traut. Im Übrigen hat die schwierige Entwicklung für
mich auch etwas Positives, nämlich, dass das Vertrauen
in Sparkassen sowie in Volks- und Raiffeisenbanken in
Deutschland nachhaltig gestärkt wurde.
({1})
- Ich bedanke mich für den Beifall von den Tribünen,
obwohl das, wenn ich recht informiert bin, nach der Geschäftsordnung nicht gestattet ist. - Ich glaube, dass es
für die Struktur des Finanzplatzes Deutschland erfreulich ist, dass wir weiterhin Privatbanken, öffentlichrechtliche Banken und genossenschaftliche Banken wie
die Volks- und Raiffeisenbanken haben.
Mein Kollege Flosbach ist, wie ich finde, auf sehr
viele Details auf fundierte und qualifizierte Weise eingegangen. Deswegen möchte ich den Grundsatz, der auch
in einigen anderen Reden thematisiert wurde und unstreitig ist, unterstreichen: Das Anreizsystem in den
Banken ist bei den sensiblen Produkten, die dort gehandelt werden, nach meiner Überzeugung inakzeptabel. Es
kann nicht sein, dass ein Mitarbeiter primär entsprechend dem Zinsertrag seines Instituts entlohnt wird,
wenn es darum geht, einer älteren Dame, einer Rentnerin, für ihre Alterssicherung mehr oder weniger mündelsichere Anleihen oder Anlageformen zu empfehlen. Das
ist eine Fehlsteuerung. Ich hoffe, dass die Institute das
begriffen haben. Ich weiß übrigens nicht, ob man das in
letzter Konsequenz gesetzlich regeln kann.
({2})
- Ich komme gleich zu den Gesetzen. Lassen Sie mich
das kurz sagen.
Ich finde zwei Dinge wichtig:
Der erste Punkt: Wir dürfen es den Banken nicht zu
leicht machen und sagen: Wir von der Politik nehmen
euch die Verantwortung ab; wir erlassen Gesetze, ihr
richtet euch nach den Gesetzen, und das war es.
({3})
Nein, ich erwarte, dass die Banken ihrer volkswirtschaftlichen und - das sage ich ausdrücklich - ihrer moralischen Verpflichtung gegenüber Konsumenten nachkommen, die das System und das Produkt im Einzelnen gar
nicht überblicken können.
({4})
Der zweite Punkt: Ich appelliere sehr bewusst an uns
- da kann jeder in seinem persönlichen Umfeld anfangen -, dass wir die Gier von Anlegern und Konsumenten
thematisieren. Es ist eben nicht besonders geschickt, für
einen halben Prozentpunkt mehr Zinsen irgendeine mehr
oder weniger unübersichtliche Anlageform zu wählen.
Die gute alte Bundesanleihe, das gute alte Festgeld und
der gute alte Sparkredit haben auch ihre Vorteile. Deswegen sollten wir der deutschen Bevölkerung sagen:
Manchmal bringt ein halber Prozentpunkt weniger am
Ende wesentlich mehr Erträge und auch ruhigere
Nächte, als wenn man gierig versucht, sich mit einem
halben Prozentpunkt mehr selbst zu übertreffen. Auch
diese Mentalität müssen wir, glaube ich, in Deutschland
ändern.
({5})
Ich will noch etwas anderes thematisieren. Vor zwei
Wochen habe ich an dieser Stelle in einer Rede zu einem
anderen Thema - Kollege Sieling wird sich vielleicht erinnern - darauf hingewiesen, dass es für mich als Mittelständler, der ich neben meinem Mandat sein darf, ganz
entscheidend ist, dass bei diesen Bankgeschäften der
verheerende Eindruck entsteht, dass man mit Geldanlagen mehr Geld verdienen kann als mit ordentlicher Arbeit. Das demoralisiert Arbeitnehmer, das demoralisiert
kleine und mittlere Unternehmen. Das zerstört mehr als
den Finanzplatz Deutschland. Das zerstört die Leistungsbereitschaft von 82 Millionen Menschen, die wir in
diesem Land dringend brauchen.
({6})
Viele Dinge wurden angesprochen,
({7})
und viele Dinge wurden durchgesetzt. Wir haben die
Prospektrichtlinie verändert. Wir haben die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen aus Falschberatung bereits vor
einem Jahr verändert; der Kollege Flosbach hat darauf
hingewiesen. Ein wesentliches Gesetz, das den grauen
Kapitalmarkt optimieren soll und über das in diesem
Hause intensiv diskutiert wird, steht vor der Schlussabstimmung. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die Bundesrepublik Deutschland sowohl in der Großen Koalition als auch jetzt in der bürgerlich-liberalen Koalition in
diesem Punkt einmal mehr nicht nur Motor in Europa ist,
sondern im Anlegerschutz, im Konsumentenschutz auch
wieder einmal federführend in der Welt ist.
({8})
Es gibt kein Land, das es in den letzten drei Jahren besser gemacht hat als wir. Auch deswegen sinkt die Arbeitslosigkeit und geht es den deutschen Unternehmen
nach der Krise besser als vielen Unternehmen in anderen
Ländern.
Ich möchte abschließend auf eines hinweisen, das mir
wichtig ist. Ich glaube, wir sollten versuchen, die Debatten der letzten Monate, die uns hier sehr intensiv beschäftigt haben, so zu nutzen, dass wir jetzt für Vertrauen
werben - das hat nichts mit Parteipolitik zu tun -: Vertrauen in unseren Finanzplatz, Vertrauen in unsere Banken, Vertrauen übrigens auch in unsere Politik, in alle
Parteien und Fraktionen. Wir müssen zeigen, dass wir
die Lehren aus der Krise gezogen haben, dass es sich
lohnt, in Deutschland zu investieren, dass es sich lohnt,
sein Geld in Deutschland anzulegen. Am Ende der Krise
gehen wir mit allen Konsequenzen gestärkt daraus hervor, haben weniger Arbeitslose und mehr Wohlstand als
vor der Krise.
Herzlichen Dank.
({9})
Kollege Steffel, ich danke für den Hinweis auf unsere
Geschäftsordnung. Für diejenigen, die im Rahmen der
politischen Bildung unserer Debatte weiter folgen, verweise ich auf § 41 unserer Geschäftsordnung:
Wer auf den Tribünen Beifall oder Mißbilligung äußert oder Ordnung und Anstand verletzt, kann auf
Anordnung des Präsidenten sofort entfernt werden.
Das hatte ich natürlich nicht vor, aber ich bitte darum,
dies auch denjenigen zu übermitteln, die inzwischen turnusgemäß die Tribüne verlassen haben. Beifallsbekundungen und Ähnliches sind nur hier im Plenum erlaubt.
Diese Geschäftsordnung haben wir uns gemeinsam gegeben. Wir sollten versuchen, das entsprechend durchzuhalten.
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Warum diskutieren wir heute
Abend und morgen früh über Anträge zu einem Thema,
bei dem wir merken, dass es Brisanz hat? Sie sagen, das
sei alles im Fluss, im Herbst komme Ihr Konzept. Sie
haben sich sogar selber Mut zugesprochen und haben gesagt: mit Sicherheit. Wir warten auf genau dieses Konzept. Wir legen alle unsere Konzepte vor, weil wir die
Hoffnung haben, dass Sie die Ansprüche, die unserer
Meinung nach zu einem richtigen und sinnvollen Anleger- und Verbraucherschutz gehören, in Ihr Konzept aufnehmen. Das, was wir bisher gehört haben, zeigt, dass es
Lücken gibt, über die wir reden müssen.
({0})
- Nun legen Sie Ihr Konzept erst einmal vor; dann
schauen wir es uns an.
An vielen Stellen brauchen wir eine Stärkung derjenigen, die schwächer sind und sich nicht so vieles leisten
können. Deswegen, Herr Schweickert, geht es mitnichten darum, Verbraucherzentralen zu verstaatlichen, sondern es geht darum, Zugänge zu einer unabhängigen
Finanzberatung zu ermöglichen, vor allem für die Menschen, die sich eine Beratung organisieren und leisten
können müssen, die ihnen nützt, die frei zugänglich ist
und ein hohes Vertrauensgehalt hat. Deshalb muss man
insbesondere beim Anleger- und Verbraucherschutz
auch die Organisationen, nämlich die Verbraucherzentralen, deutlich stärken; dies wird nicht durch Verstaatlichung erreicht.
({1})
Zur Frage der Protokollierung. Die Protokollierung ist
bereits Gesetz. Die BaFin hat ausgeführt, dass zwei Drittel der Protokolle nicht ausreichend, miserabel, unverständlich und den Verlauf nicht nachvollziehend sind.
Das heißt, wir brauchen eine bessere Regelung für klarere Standardisierung. Genauso ist es beim Informationsfreiheitsgesetz. Es geht nicht darum, dass das zwei
Seiten hat; das ist ja schön. Viel wichtiger sind Verständlichkeit, Transparenz und Klarheit. Deshalb brauchen
wir Standardisierungen, die klarmachen, dass man miteinander vergleichbare Strukturen erwirbt.
({2})
Das ist das Anliegen, das uns umtreibt. Wir reden über
Verbraucherschutz.
({3})
Auch dem BMELV ist die Debatte heute Abend nicht
wichtig genug, um die Regierung zu vertreten. Die Debatte, die wir heute Abend und morgen früh führen,
muss einer Regierung mehr wert sein, als sie lediglich
hinterher im Protokoll nachzulesen.
({4})
Frau Ministerin Aigner als Verbraucherschützerin der
Nation kündigt nicht nur eine stärkere Regulierung im
Bereich der Vermittler an. Sie hat durch die Presse auch
verlauten lassen, wie wichtig ihr die Informationsblätter
sind. Es ist aber nichts gekommen.
Was hat sie zum Datenschutz gesagt? Sie hat nichts
dazu gesagt. Was hat sie zum Thema Protokollierung
vorlegen wollen?
({5})
Es ist nichts gekommen. Sie ist nicht einmal in die Gespräche zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium
eingebunden. Wenn wir schon über Verbraucherschutz
reden, dann ist er mindestens zu beteiligen. Das machen
wir heute Abend und morgen früh. Herzlichen Dank dafür! Ich hoffe, dass die eine oder andere hilfreiche Idee
in Ihr Konzept aufgenommen wird.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2136 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Axel
Knoerig, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Vizepräsidentin Petra Pau
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann ({2}), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Brücken bauen - Grundlagenforschung
durch Validierungsförderung der Wirtschaft
nahebringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Innovationslücke schließen - Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der Innovations- und Validierungsforschung vorlegen
- Drucksachen 17/1757, 17/1958, 17/2368 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Knoerig
Dr. Martin Neumann ({3})
Krista Sager
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Axel Knoerig für die Unionsfraktion.
({4})
Wertes Präsidium! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Union und FDP wollen in dieser Legislaturperiode den Brückenschlag zwischen Wirtschaft und
Wissenschaft voranbringen. Das wollen wir zum einen,
um die Ergebnisse der Forschung für die Wirtschaft besser nutzbar zu machen, zum anderen aber auch, um die
Wirtschaft besser an der Bildungs- und Forschungspolitik zu beteiligen.
Der zur Debatte stehende Antrag „Brücken bauen Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der
Wirtschaft nahebringen“ trägt genau diese Handschrift.
Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb festgehalten:
Wir werden neue Impulse für den Wissens- und
Technologietransfer und die Validierung von Forschungsergebnissen geben.
Damit wollen wir die Gleichmacherei in Bildung und
Forschung sowie in der Wirtschaftsferne der Forschungspolitik von SPD, Grünen und der Linken überwinden.
({0})
Die Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft,
zwischen Erfindung und Innovation, ist nur individuell
zu schlagen, indem Forschungsleistungen projektbezogen geprüft werden. Die zukunftsfähige Hightech-Strategie der Bundesregierung will neue Akzente setzen und
richtet sich an den fünf Bedarfsfeldern Klima und Energie, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit sowie Kommunikation aus.
Mit innovativen Produkten, Technologien und Dienstleistungen entstehen dort neue Leitmärkte mit hohem
Wachstumspotenzial. Ein aktuelles Beispiel ist die Nanotechnologie. Sie gilt als Schlüsseltechnologie für viele
Branchen wie Chemie, Pharmaindustrie oder die Automobilindustrie. Erfolge aus diesem Nanokosmos sind
unter anderem Nanopartikel, die Tumore bekämpfen
können. Winzige Datenspeicher ganzer DVDs passen
auf Flächen eines Centstücks.
Nanotechnologien setzen früh in der Wertschöpfungskette an. Marktprognosen sprechen von einer Hebelwirkung von bis zu 100 Milliarden Euro für den gesamten
Weltmarkt. Ohne Validierungsförderung wären diese
Produkterfolge nicht zustande gekommen.
Damit soll erreicht werden, dass die Ergebnisse der
Forschung von Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen als Quelle für neue Ideen, Verfahren, Produkte und Dienstleistungen sehr viel stärker genutzt
werden. Am 26. Mai 2010 hat das BMBF die Fördermaßnahme „Validierung des Innovationspotenzials wissenschaftlicher Forschung“ gestartet. Hier sind nun 32 Millionen Euro freigesetzt, um die Innovationslücke in der
Forschungspolitik zu schließen. Man greift auf das Wissen markterfahrener Investitionsmentoren zurück. Sie
stellen sicher, dass Neuentwicklungen marktgerecht
positioniert werden können.
Einen neuen Gründergeist kann man nicht - das wissen wir - über Nacht schaffen. Er erfordert ein kulturelles Umdenken. Die Forscher müssen aus ihrer traditionellen Rolle, in ihrer Disziplin zu denken, herausgelöst
werden. Sie müssen pragmatisch zu Entwicklern, zu unternehmensbezogenen Persönlichkeiten werden.
({1})
Das duale System bei uns hat sich bewährt. Berufsschulbesuch und Ausbildung in einem Betrieb, das ist
eine gute Mischung. Dieses Jahr drängen über
150 000 Menschen weniger auf den Arbeitsmarkt. Deswegen ist es gut, auf der einen Seite die Ausbildung zu
stärken und auf der anderen Seite die bewährte Forschungspolitik fortzuführen. Nach der schweren Finanzund Wirtschaftskrise ist dies wichtig, damit wir wieder
zu Wachstum kommen.
Wir haben gute Zahlen in Aussicht. Deutschland erwartet ein Wachstum von 2,1 Prozent. 24 Prozent der
Betriebe wollen jetzt neue Arbeitsplätze schaffen. Ende
2010 kann die Arbeitslosenzahl unter 3 Millionen fallen.
Das sind gute Zahlen für unser Land. Das ist Wirtschafts-, Innovations- und Forschungspolitik aus einem
Guss.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einige grundsätzliche Betrachtungen ausführen.
Wesentliche Indikatoren weisen darauf hin, dass
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten relativ zurückgefallen ist. Das heißt, wir sind zwar immer noch
stark, aber andere sind dabei, uns zu überholen. Wir wollen an die technologische Führungsposition, die wir vor
dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg hatten, anknüpfen; da müssen wir hin. Eines wissen wir: Sozialistische Funktionäre haben noch nie Wohlstand erarbeitet,
sondern ihn bestenfalls schlecht verwaltet.
({3})
Die konservativ-liberale Regierung strebt die Verbesserung von Rahmenbedingungen für die Erarbeitung von
mehr Wohlstand an, während der rot-rot-grüne Linksblock für immer mehr Umverteilung von immer weniger
Wohlstand steht.
({4})
Einen Hoffnungsschimmer hat es gestern gegeben, als
die rot-rot-grüne Zusammenarbeit nicht so richtig klappen wollte; das lässt für Nordrhein-Westfalen hoffen.
Sollte dieses Trio infernale doch eines Tages Deutschland regieren,
({5})
wird ein weiterer, zumindest relativer Niedergang die sichere Konsequenz sein.
({6})
- Ja, Sie lachen. - Wer wie die 68er-Bewegung gute
Werte verneint und mit den Erben des totalitären DDRStaatssozialismus zusammenarbeitet, der demontiert die
strukturellen Grundvoraussetzungen für Frieden, Freiheit und Wohlstand noch stärker.
({7})
- Ja, lieber Kollege. Ein gutes Studium hört bekanntlich
nie auf. Sie würden nicht so kräftig dazwischenrufen,
wenn Sie nicht ordentlich zugehört hätten.
Damit komme ich zum Schluss. Die heute zur Diskussion stehende Validierungsförderung ist ein kleiner, aber
wichtiger Baustein für unser Land. Wir können als rohstoffarmes Land den noch vorhandenen Wohlstand nur
halten, wenn wir um das, was wir teurer sind, auch besser sind. Wohlstand entsteht nicht durch sozialistische
Umverteilung, sondern durch Innovation und Fleiß. Wir
können vermelden, dass die Innovationspolitik der
CDU/CSU-FDP-Regierung gegriffen hat, auch dank einer vorausschauenden und bewährten Bildungs- und
Forschungspolitik von Frau Bundesministerin Professor
Annette Schavan und ihren beiden Parlamentarischen
Staatssekretären, Thomas Rachel und Helge Braun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Knoerig, Sie sind ja noch relativ
neu im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Auch im Rückblick auf die letzten
Jahre muss ich feststellen, dass wir da eigentlich immer
einen recht sachlichen Umgang gepflegt und uns an den
Inhalten orientiert haben. Ich bin ein bisschen erstaunt,
dass Sie Ihren Beitrag hier - wir wollen eigentlich über
Validierungsforschung reden; das habe ich so verstanden; das steht jedenfalls so in der Tagesordnung - gleich
mit Begriffen wie „Gleichmacherei“ und „sozialistische
Umverteilung“ begonnen haben. Vielleicht sollten wir so
etwas zumindest zu so später Stunde einfach einmal beiseitelegen - es sind ja nicht mehr so viele Zuschauer
da - und tatsächlich über das reden, worüber wir hier
wirklich sprechen sollen.
({0})
Wenn man sich die Bilanz, was Technologiezuwachs
in Deutschland anbelangt, der letzten elf Jahre - bei RotGrün beginnend, in die Große Koalition mündend - anschaut, ist sehr leicht von der Hand zu weisen, dass das
Schreckgespenst, das Sie hier gerade aufgezeigt haben,
überhaupt aufgetreten ist und jemals auftreten wird.
Wir haben damals in der rot-grünen Regierung begonnen - übrigens in Fortsetzung der Politik der schwarzgelben Regierung -, die Nanotechnologie weiterzuentwickeln. Wir haben einen gewaltigen Schub an neuer
Technologie in den Bereichen der Energieeffizienz, der
erneuerbaren Energien und anderer Energien auf den
Weg gebracht. Wir brauchen uns also überhaupt nicht zu
schämen. Mit Blick auf den Vorwurf der Technikfeindlichkeit, den Sie immer wieder zu konstruieren versuchen, kann ich nur an den Bundespräsidenten erinnern,
der in meinem Wahlkreis geboren wurde und einmal
ganz klug gesagt hat:
Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt,
sollte nie vergessen, dass drei Finger seiner Hand
auf ihn selbst zeigen.
Das war ein kluges Wort von Gustav Heinemann.
Wir reden über Validierungsforschung. Was ist das?
Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren alle
gemeinsam eine exzellente Forschungsinfrastruktur geschaffen. Wir haben eine sehr gute angewandte
Forschung. Wir sind im Automobilbereich, im Chemiebereich und im pharmazeutischen Bereich sehr gut. Wir
haben eine hervorragende Grundlagenforschung; daran
sind die Max-Planck-Gesellschaft und andere beteiligt.
Sicherlich gibt es im universitären Bereich Defizite.
So gut wir aber in der Theorie häufig sind, so groß ist
unser Problem - das haben wir auch von der Expertenkommission Forschung und Innovation immer wieder
und zu Recht zu hören bekommen - bei der Umsetzung
der Theorie in die Praxis. Wie also gelingt es uns besser,
Forschungsergebnisse tatsächlich in Produkte umzusetzen, die kommerziell anwendbar, also kommerzialisierbar
sind? Das ist genau der Punkt, an dem die Validierungsforschung ansetzt: Wie schaffen wir es, Forschungsergebnisse zu bewerten und daraus Produkte zu machen?
Wir befinden uns auch da in einer guten Tradition.
Noch zur Zeit der Großen Koalition haben wir uns zusammengesetzt, dieses Thema aufgenommen und nicht
nur mit Fraktionskollegen von Ihnen, sondern auch mit
dem Ministerium sehr intensive Diskussionen geführt,
wie wir im Bereich der Validierungsforschung weiterkommen.
Seien Sie mir nicht böse - es ist nicht abwertend gemeint -; aber ich glaube, Sie haben tatsächlich noch
nicht den Kern des Problems verstanden, über das wir
reden und um das wir uns kümmern sollten. Validierungsforschung heißt nämlich, recht schnell, gut und zuverlässig, möglicherweise auch sehr hart zu beurteilen:
Ist das Forschungsergebnis eines Forschers wirklich geeignet, kommerzialisiert zu werden oder nicht? Dafür ist
die Maßnahme „VIP“ des BMBF - Sie haben sie angeführt - einschließlich Ihres begleitenden Antrags, der im
Prinzip nichts anderes als den Inhalt der BMBF-Maßnahme wiedergibt, wirklich nicht geeignet. Um das zu
belegen, will ich Ihnen zwei Beispiele nennen:
Erstens. Der Forscher soll sich selbst einen Innovationsmentor suchen, also jemanden, der das Projekt begleitet. Das hört sich zunächst einmal gut an, führt aber
möglicherweise zu zwei unterschiedlichen Problemen.
Sie zwingen einen Forscher oder eine Forscherin, der
oder die sich jahrelang exzellent mit Grundlagenforschung oder anderem befasst hat, jetzt gute Ergebnisse
hat und sich eigentlich nur mit Forschung befassen will,
sich einen Innovationsmentor zu suchen, jemanden, der
dazu geeignet ist, wirtschaftlich zu beurteilen, ob ein
Forschungsergebnis vernünftig zu nutzen ist oder nicht.
Das heißt, Sie verlangen von einem Forscher, der möglicherweise nichts anderes will als forschen, dass er sich
erst einmal einen Experten sucht, der in der Lage ist, zu
beurteilen, ob sein Projekt, seine Forschungsergebnisse
kommerzialisierbar sind. Ich sage Ihnen: Daran wird der
Forscher im Regelfall gar nicht viel Interesse haben; er
will sich nicht auf diese Suche machen.
Es kann aber auch ein zweites Problem auftreten. Es
kann sein, dass der Forscher im Rahmen von Ausgründungen bereits Kontakte zu jemandem in der Wirtschaft
hat, der sagt: Ich kann mir vorstellen, vielleicht einmal
dein Projekt zu fördern, aber ich werde es nicht finanzieren. - Dann hat der Forscher jemanden, der das Projekt
kennt; er kann ihn auch als Innovationsmentor benennen. In diesem Moment bricht aber eine der zentralen
Voraussetzungen für eine vernünftige Validierung, für
eine Bewertung, ob das Forschungsergebnis kommerzialisierbar ist oder nicht, in sich zusammen. Die Neutralität
und Objektivität des Innovationsmentors ist nämlich
nicht mehr gegeben, weil er ein Interesse hat, dass es mit
diesem Forschungsprojekt irgendwie weitergeht, möglicherweise mithilfe einer öffentlichen Förderung. Das
sind zwei Probleme, die wir den Forschern nicht zumuten wollen.
Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel im Zusammenhang mit den Leitlinien der VIP-Fördermaßnahme. Sie
verlangen von den Forschern zunächst einmal, die europäische Forschungsförderung sowie die Förderung durch
den Bund und durch die Länder daraufhin zu untersuchen, ob es nicht irgendein Programm gibt, das geeignet
ist, eine finanzielle Förderung für dieses Projekt auf den
Weg zu bringen. Herzlichen Glückwunsch! Wenn Sie
von einem Forscher verlangen, erst einmal alle Möglichkeiten der Förderung zu überprüfen, dann wird er sicherlich in 50 Prozent der Fälle das Handtuch werfen. Er
wird dann von Ihnen - das wird in den Richtlinien des
BMBF erwartet - auch noch gezwungen bzw. es wird
vorausgesetzt, dass er den Nachweis führt, dass er keine
andere Möglichkeit der Förderung bekommen konnte.
Erst dann kann er sich auf die Suche nach einem Innovationsmentor begeben und möglicherweise eine Validierungsförderung erhalten. Wenn das keine Bürokratie ist,
wenn das nicht Behinderung von Validierung ist, dann
weiß ich es auch nicht.
({1})
Der Antrag der SPD stellt eine Alternative dar. Mit
ihm schlagen wir den richtigen Weg ein. Ich will noch
einmal sagen, worum es im Kern geht. Es geht nicht darum, zu beurteilen, ob es sich um exzellente Grundlagenforschung handelt oder nicht. Das ist nicht die Frage.
Vielmehr geht es darum, ob sie kommerzialisierbar ist.
Das heißt, es kann sein, dass jemand hervorragende, nobelpreisverdächtige Forschung betreibt, der Validierer
aber sagen muss: Das ist super, aber nicht kommerzialisierbar. Umgekehrt kann es genauso sein: Bei jemandem, der eher durchschnittliche, nicht aufregende Forschung betreibt, sagt ein Validierer: Mit dem richtigen
Anstoß und einer vernünftigen Begleitung werden wir
daraus ein innovationsfähiges und vermarktbares Produkt machen.
Darum geht es: Wir brauchen jemanden aus einer unabhängigen Validierungsagentur - das ist der Vorschlag,
den die SPD macht -, einen Profi, der dafür bezahlt wird
und der nicht ehrenamtlich tätig ist wie ein Pate. Dieser
kann klar entscheiden: Das ist ein Projekt, das umgesetzt
werden kann, das ist ein Forschungsprojekt, das wir
kommerzialisieren können. Wenn das nicht der Fall ist,
dann muss er eine harte Entscheidung treffen. Dann wird
die Forschung zwar fortgesetzt, aber es bleibt bei der
Forschung. Das ist der Ansatz von Validierungsforschung. Das bestätigen Ihnen viele Wissenschaftsorganisationen, wenn Sie mit ihnen Gespräche führen. Sie sollten auf sie hören.
Wir glauben, dass das von Ihnen vorgeschlagene Instrument versanden wird, da es keinen großen Unterschied zur üblichen Projektförderung darstellt, die vernünftigerweise seit Jahren durchgeführt wird. Es wird
nicht dazu führen, dass mehr Forschungsprojekte in
kommerzialisierbare Produkte umgesetzt werden. Folgen Sie unserem Weg. Er enthält weniger Bürokratie,
und er zeigt den Forschern eine vernünftige Perspektive
auf.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Martin Neumann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Röspel, ich
habe Ihnen intensiv zugehört
({0})
- was aus dem einen oder anderen Vorschlag wird, wird
man sehen -, aber ich bin anderer Auffassung. Ich bin
nämlich der Meinung, dass man unseren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vieles zutrauen kann.
({1})
Ich selbst habe viele Jahre auf dem Gebiet der Forschung gearbeitet. Das zentrale Kriterium war immer:
Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler muss
über den Inhalt der Forschungsarbeit hinaus in der Lage
sein, das eine oder andere auch auf dem Weg, den wir
beschließen werden, selbst zu machen.
Innovationen sind der Schritt in die Zukunft. Ideengeber für diesen Prozess sind viele fleißige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie sind es, die für uns
Durchbrüche in Forschung und Entwicklung erzielen.
Für diese große Aufgabe brauchen sie unsere Unterstützung;
({2})
denn wir wissen - das haben Sie richtig gesagt -, dass in
Deutschland zwischen den wissenschaftlichen Ergebnissen und der Möglichkeit, diese wirtschaftlich zu verwerten, leider eine große Lücke klafft - international gibt es
andere Wege -, die wir endlich schließen müssen.
In den vergangenen Jahren gab es viele Gutachten
und Expertisen, die auf den erheblichen Bedarf an öffentlicher Validierungsförderung aufmerksam gemacht
haben. Es wurde deutlich, dass es vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an nötigen finanziellen
Ressourcen fehlt - darum geht es vor allen Dingen, das
Know-how ist das andere Problem, das Sie angesprochen haben -, das wirtschaftliche Potenzial ihrer Ideen
zu überprüfen und damit zu validieren, das heißt, zu
überführen. Wir wollen endlich eine Brücke zwischen
Wissenschaft und Wirtschaft schlagen.
({3})
Wir wollen die wichtigen Akteure auf diesen Gebieten
zusammenführen und die klaffende Lücke endlich
schließen.
Mit unserem Antrag „Brücken bauen - Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft
nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein
Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein solches Förderprogramm liegt nun vor und wird im Jahr
2011 umgesetzt. Dieses Programm soll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler motivieren, die Ergebnisse
und Erkenntnisse auf ihre Markttauglichkeit hin zu überprüfen und dann endlich in die Wirtschaft zu überführen.
Die Fördermaßnahme wird - davon bin ich überzeugt der Wissenschaft konkrete Unterstützung, Hilfestellung
und Nachweise für die wirtschaftliche Verwertbarkeit
von Forschungsergebnissen geben. Viele ähnliche - auch
internationale - Aktivitäten zeigen, dass dies möglich
sein wird.
Wir fördern - es ist wichtig, das an der Stelle hervorzuheben - Projekte aller Forschungsbereiche, die technisch machbar sind und die ihr wirtschaftliches Potenzial
unter Beweis stellen. Entscheidend dafür - das ist der
Punkt, den Sie angesprochen haben - sind eine Machbarkeitsstudie bzw. eine Machbarkeitsuntersuchung,
technische Weiterentwicklung, Erschließung neuer Anwendungen und natürlich am Ende dann auch eine gewisse Demonstrationsentwicklung.
Bedeutsam und außerordentlich wichtig bei diesen
Förderprogrammen ist die Technologieoffenheit. Darauf
legen wir ganz großen Wert.
({4})
Denn nur durch die Öffnung wird es möglich werden
- das muss man noch einmal ganz klar hervorheben -,
alle Potenziale der Grundlagenforschung zu nutzen. Natürlich können auch noch nicht etablierte Forschungsfelder, von denen es eine ganze Menge gibt, von dieser Förderung profitieren.
Eines ist doch völlig klar an dieser Stelle: Wir können
heute noch nicht genau wissen, in welchen Bereichen in
den nächsten Jahren Innovationen entstehen werden. Die
Ausgrenzung von Forschungsbereichen ist daher nicht
zukunftsweisend und kann uns später, glaube ich, teuer
zu stehen kommen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich spreche jetzt alle Fraktionen an. Ich freue mich, dass die Idee der Validierungsförderung auch bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fällt
und Sie dieses Vorhaben unterstützen. Dass in Bezug auf
Detailfragen Meinungen auseinandergehen - darüber
können wir in Zukunft auch reden -, ist bei solchen Prozessen nichts Neues. Sie stimmen mir aber sicherlich zu,
Herr Röspel, dass die Kernbotschaft klar ist: Wir wollen
eine Innovationsbewegung aus der Wissenschaft heraus
entstehen lassen - mit flachen Strukturen, kurzen Antragswegen, schnellen Entscheidungswegen und ohne
den Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen.
({6})
Die Devise lautet dabei: einfach, schnell und gut.
Ich bedanke mich.
({7})
Die beiden folgenden Rednerinnen - Petra Sitte und
Krista Sager - haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Damit kann ich dem Kollegen Philipp Murmann von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort erteilen.
({0})
1) Anlage 66
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen über die aktuelle wirtschaftliche Situation in Deutschland gesprochen und
sind, glaube ich, übereingekommen, dass wir uns auf
dem Weg aus der sogenannten realwirtschaftlichen Krise
befinden. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Investitionen
ziehen an, Unternehmen machen wieder mehr Umsatz
und stellen sogar neue Leute ein. Dazu haben verschiedene Faktoren beigetragen: Investitionen wurden verschoben, die jetzt natürlich nachgeholt werden. Der aktuelle Euro-Kurs spielt dabei sicherlich auch eine Rolle.
Der Euro ist wieder - im Gegensatz zu den Höhenflügen
zuvor - auf einem Niveau angekommen, das man als
Unternehmer eher als normal empfindet. Aber es gibt
eben auch viele Unternehmen - man sieht das -, die insbesondere in Entwicklung investiert haben. Diese können jetzt den Aufschwung nutzen und zusätzliche Umsätze generieren.
Ich denke, das muss man auch dazu sagen: Auch unser Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat einen Stein in
diese Mauer gelegt.
({0})
Wir haben nämlich nicht nur die Arbeitnehmerfamilien
entlastet, sondern auch im Unternehmensbereich einige
Weichen gestellt, was dazu beiträgt, dass die Unternehmen wieder investieren. Diesen Erfolg sollte man anerkennen.
({1})
Die Frage ist nun: Wie können wir diese Entwicklung
nachhaltig gestalten? Die Stichworte dazu sind gefallen:
Forschung und Entwicklung, Innovation, Technologie.
Wir wollen diese Dinge voranbringen und Wirtschaft
und Wissenschaft vernetzen. Genau da setzt der Antrag
zur Validierungsforschung an. Wir wollen damit auch
das schon genannte Programm, welches das Ministerium
erfreulicherweise so schnell auf den Weg gebracht hat,
flankieren und noch weiter unterstützen.
({2})
Was bedeutet Validierung? Kennen Sie den Lotuseffekt für selbstreinigende Fassaden? Oder die Erkenntnisse über die Papillomviren, denen wir die Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs verdanken? Oder den GMREffekt, der die Basis für die Datenspeicherung auf Festplatten war? Das alles sind Ergebnisse von Grundlagenforschung. Sie alle haben das Potenzial für sehr gute Anwendungen. Um diese Anwendungen früh zu erkennen,
bedarf es besonderer Anstrengungen. Hier wollen wir
ansetzen.
({3})
Der Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1996, Sir
Harold Kroto - nicht jeder von uns wird ihn kennen -,
entdeckte die C60-Fullerene, ein Material, das 100-mal
stärker als Stahl und nur ein Sechstel so schwer wie
Stahl ist.
({4})
Das Projekt war in England als praktisch irrelevant eingestuft und nicht gefördert worden. Kroto führte dann etwas verbittert aus - ich zitiere -:
Alle angewandten Forschungsstrategien sind zweitrangig. Wenn man genau weiß, was man erforschen
will, kann man mit Sicherheit nichts grundlegend
Neues entdecken.
({5})
Damit hat er ein Problem angesprochen, das wir auch
in der Validierungsforschung lösen wollen. Es gibt zwei
unterschiedliche Kulturen - Herr Röspel, auch Sie haben
das beschrieben -: Der Forscher ist an seiner Forschung
interessiert. Das soll er auch sein. Er soll Experimente
durchführen und Hypothesen aufstellen. Erfolgreich ist
er dann, wenn er eine gute Veröffentlichung in einer angesehenen Zeitschrift vorzuweisen hat und von seinen
Kollegen dafür Anerkennung erfährt. Aber wir brauchen
auch denjenigen, der die Frage stellt: Welche neuen Produkte und Anwendungen kann man daraus generieren?
Das ist ein anderer Blickwinkel auf das gleiche Projekt,
den wir ebenfalls einnehmen müssen. Dafür ist das Validierungsprojekt genau richtig.
({6})
Diese Anwendungspotenziale zu erkennen, ist für unsere Volkswirtschaft von sehr großer Bedeutung. Denn
wozu forschen wir, wenn wir die Anwendungen, die sich
generieren lassen, nicht auch in volkswirtschaftlichen
Nutzen umsetzen? Wir brauchen beides: Forschergeist,
aber auch Unternehmergeist. Beides müssen wir weiter
fördern. Die Validierungsforschung soll die Schnittstelle
zwischen diesen beiden Sichtweisen sein.
Die Konkurrenz wächst. Viele neue Entwicklungen
stammen nicht mehr aus den klassischen Industrieländern, also aus Amerika oder den europäischen Staaten,
sondern Asien spielt im Wettbewerb um Talente, um
Technologien und natürlich auch um neue Märkte eine
immer größere Rolle.
In Deutschland sind wir weiterhin gut. Der Erfindergeist ist ungebrochen. 2009 wurden 47 859 Patente aus
Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet.
({7})
- Ich denke, das ist einen Applaus von allen wert. ({8})
Aber viel zu wenige Patente erreichen die Inkubationsphase; hier liegt das Problem. Auch im dritten EFI-Gutachten wurde festgestellt, dass viele erfolgversprechende
Forschungsergebnisse gerade aus dem öffentlichen Bereich nicht effektiv vermarktet werden. Auch hierfür ist
die Validierungsförderung wichtig.
Ich möchte noch ganz kurz auf den SPD-Antrag zu
sprechen kommen. Erst einmal stelle ich fest - auch Sie
haben das beschrieben, Herr Röspel -: Wir sind uns im
Grunde einig, dass dieses Thema wichtig ist und wir es
fördern müssen.
({9})
- Ja, das ist schon einmal gut. - Jetzt kommt es darauf
an: Wie macht man das am besten? Sie schlagen einen
Fonds vor. Ich denke, auch darüber kann man reden.
Aber eine Zentralstelle, die darüber wacht, wie validiert
wird, halte ich für nicht sinnvoll. Ich bin eher der Meinung, dass dadurch Bürokratie geschaffen wird. Sie
behaupten das von unseren Vorschlägen. Ich glaube allerdings, das Modell, das Sie vorschlagen, ist bürokratielastiger als unseres.
({10})
Wenn man Ihren Antrag liest, stellt man außerdem fest,
dass Sie sich an der einen oder anderen Stelle widersprechen.
({11})
Insofern bin ich der Meinung, dass man darüber noch
einmal reden muss.
Ich komme zum Schluss auf den GMR-Effekt zurück,
({12})
der übrigens vom deutschen Professor Grünberg am Forschungszentrum Jülich entdeckt wurde, wofür er 2007
den Nobelpreis für Physik erhielt. Welche Anwendungen
sich daraus ergeben könnten, haben die Amerikaner zuerst festgestellt. So wurde IBM in diesem Bereich zum
Marktführer. Meine Damen und Herren, so etwas sollte
uns nicht allzu häufig passieren. Deswegen betreiben wir
Validierungsförderung. Ich hoffe, wir haben damit großen Erfolg. Auch dieses Projekt wird natürlich ständig
überprüft. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit an diesem wunderbaren Sommerabend und wünsche uns allen noch eine
gute Diskussion.
Danke schön.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/2368.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1757
mit dem Titel „Brücken bauen - Grundlagenforschung
durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahebrin-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1958 mit dem Titel „Innovationslücke
schließen - Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung
der Innovations- und Validierungsforschung vorlegen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
UN-geführte Untersuchung des israelischen
Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport - Sofor-
tige Aufhebung der Blockade
- Drucksache 17/2259 -
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären Lage der Menschen in Gaza verbessern - Nahost-Friedensprozess unterstützen
- Drucksache 17/2328 Nach einer interfraktionelle Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass wir alle Veranlassung haben, den Menschen
zu danken, die sich für die Aufhebung der Blockade eingesetzt und sich an der Aktion „Free Gaza“ beteiligt haben. Sie haben etwas hinbekommen, das wir nicht geschafft haben. Sie haben eine Situation herbeigeführt, in
der die Blockade möglicherweise aufgehoben wird und
ein Stück weit Hoffnung in Gaza einzieht. Ich finde, das
ist ein bedeutender Fortschritt. Deswegen bin ich dankbar. Das gilt auch für meine Kolleginnen Annette Groth
und Inge Höger, die sich an dieser Aktion beteiligt haben. Ich finde, da kann man durchaus großmütig sein.
({0})
Uns allen ist klar, dass diese Blockade völkerrechtswidrig ist, dass sie in den Beschlüssen der UNO kritisiert
wird, dass sie eine Entmündigung und Entwürdigung der
Menschen in Gaza herbeigeführt hat und dass sie ihnen
die Luft zum Atmen genommen hat. Ich sage ausdrücklich: Diese Blockade hat auch eine Schattenwirtschaft
und einen Schwarzmarkt in Gaza hervorgerufen und hat
den Terrorismus gestärkt und nicht geschwächt. Das sind
einfach die nüchternen Ergebnisse. Zu diesen kommt
man, wenn man Bilanz zieht.
({1})
Die Blockade ist so etwas wie die Fortsetzung des Krieges. Das kann man einfach nicht akzeptieren.
({2})
Jetzt ist etwas Besonderes passiert, das ich hier gewürdigt wissen will. Der Antrag der vier Fraktionen kann
nun zu einem wirklich interfraktionellen Antrag gemacht
werden. Wir werden diesem Antrag zustimmen.
({3})
Das heißt, dass zum ersten Mal in der Nahostfrage alle
Fraktionen des Hauses einen gemeinsamen Antrag haben.
({4})
Dieses Signal wird mit Sicherheit auch im Nahen Osten,
insbesondere in Israel und Palästina, wahrgenommen
werden.
({5})
Diese Gewichtung muss man verstehen. Ich will gar
nicht über Details reden. Der Antrag enthält jedenfalls
zwei klare Forderungen, denen ich nur zustimmen kann.
Erstens wird gefordert, eine internationale Untersuchung
einzuleiten. Zweitens wird die Forderung erhoben, einen
Weg zur Aufhebung der Blockade zu finden.
({6})
- Warten Sie doch ein bisschen ab! - Wenn das die gemeinsame Position des Hauses ist, dann kann man relativ viel erreichen.
Für mich ist es ein Rätsel, wie die israelische Regierung so dauerhaft und nachhaltig gegen die Interessen
des eigenen Landes handeln kann.
({7})
Dieses Signal ist wichtig, um zu einer politischen Umkehr zu kommen.
({8})
Mit Sicherheit - das wird keiner bestreiten - werden die
Sicherheitsinteressen Israels zu beachten sein. Ich
möchte, dass meine Freunde in Israel wieder ins Café
gehen können, ohne Angst vor Selbstmordanschlägen
haben zu müssen. Ich möchte, dass sich meine Freunde
in Palästina, im Westjordanland und in Gaza endlich im
eigenen Land frei bewegen können. Das ist doch nicht
zu viel verlangt.
({9})
Eine Politik in diese Richtung zu öffnen, kann doch nur
im Interesse des ganzen Hauses sein.
Wir müssen klarmachen und uns wünschen, dass in
diesem Friedensprozess möglichst alle politischen
Kräfte einbezogen werden, damit er stabil ist.
({10})
Wir haben heute - Kollege Stinner und andere waren dabei - sehr viele Ratschläge von den Kollegen der Vereinten Nationen erhalten, wie man einen solchen Friedensprozess fördern und durchsetzen kann.
Ich will zum Schluss noch eine Bitte äußern, die sich
mehr an die Politiker in Israel und Palästina richtet. Ich
bitte, dass die gemeinsame, nicht einmütige, sondern
einstimmige Entscheidung dieses Hauses nicht als antiisraelisch und nicht als antipalästinensisch interpretiert
wird, sondern so genommen wird, wie sie von den verschiedenen Fraktionen hier gemeint ist: als ein Versuch,
endlich einen unwürdigen und den Frieden gefährdenden
Zustand zu beenden. Das ist der Gestus dieser Resolution, und ich bin froh, dass wir den gemeinsam so tragen
können.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Hilfsaktionen für Gaza, die heute Gegenstand der Debatte sind, waren ersichtlich nur der äußere
Rahmen für das eigentliche Ziel dieser Aktion, nämlich
die israelische Blockade zu durchbrechen. Es ist auch
unstrittig, dass deswegen das Angebot abgelehnt worden
ist, die Ladung auf dem Landweg nach Gaza zu bringen.
Insoweit reden wir nicht von einer humanitären, sondern
von einer in erster Linie zu propagandistischen Zwecken
veranstalteten Aktion. Es ging Ihnen nicht in erster Linie
um die Menschen in Gaza, sondern es ging um die Konfrontation mit Israel.
({0})
Auch wenn vonseiten der Linken Zustimmung zu
dem fraktionsübergreifenden Antrag signalisiert wird,
muss schon erwähnt werden, dass die Linke aktiv die
Provokation durch sogenannte Friedensaktivisten unterstützt hat, die mit Waffen ausgestattet waren und islamistischen Terrorgruppen zuzurechnen sind.
({1})
Das passt ins Bild, nachdem Vertreter der Linken immer
wieder die Solidarität mit der radikal-islamistischen Hisbollah und der Hamas bekundet haben.
({2})
Das gehört zur ganzen Wahrheit dazu.
({3})
Deswegen sage ich ganz deutlich: Bevor Sie vonseiten der Linken sich auf das Völkerrecht berufen, müssen
Sie sich schon die Frage stellen, welchen Aktionen Sie
hier den Mantel des Gutmenschentums umhängen wollen. Die Linke steht in einer bis heute ungebrochenen
Tradition zur SED - zur Partei des Mauerbaus, des
Schießbefehls, des Missbrauchs und der Missachtung
des Völkerrechts.
({4})
Und dass die ach so friedliebende DDR ein Unrechtsstaat war, wird bis heute von Ihnen ausdrücklich geleugnet. Deswegen sage ich ganz deutlich: Ihnen fehlt in dieser Debatte jegliche Legitimation.
({5})
Ich darf Sie erinnern, was Gregor Gysi zum 60. Jahrestag der Gründung Israels im April 2008 erklärt hat. Er
hat Kritik an der einseitigen Parteinahme der Linken im
Nahost-Konflikt geübt, und er hat erklärt, dass Solidarität mit Israel zur deutschen Staatsräson gehöre.
({6})
Davon ist bis heute bei Ihnen wenig übriggeblieben.
Denn wenn man dieser Auffassung ist, dann muss das
Konsequenzen haben. Wenn die Sicherheit und das Existenzrecht Israels Teil der deutschen Staatsräson sind,
dann hat das die Konsequenz, dass weder die Öffnung
des Gazastreifens noch eine weitergehende Friedenslösung mit den Palästinensern zulasten der Sicherheit Israels gehen darf.
Allerdings müssen wir durchaus die Frage stellen, wie
das israelische Sicherheitsinteresse zu definieren ist, was
genau der Sicherheit Israels dient. Mit Blick auf einige
der Handlungen der israelischen Regierung in den letzten Monaten kann man sich des Eindrucks nur schwer
erwehren, dass manche in dieser Regierung israelische
Sicherheitsinteressen fundamental anders definieren, als
das etwa die Mitgliedstaaten der Europäischen Union,
weite Teile der internationalen Gemeinschaft und sogar
ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Gesellschaft
selbst tun.
Das birgt durchaus zwei nicht zu unterschätzende Gefahren: Zum einen kann es eine Eskalation dieses Konflikts geben. Zum anderen liegt darin eine mögliche Belastung auch für die Koalition gegen das iranische Atomprogramm und die iranischen Vormachtbestrebungen in
dieser Region, die auch Israel als die größte Gefährdung
für die regionale Stabilität betrachtet.
Ich meine, dass die israelische Regierung gespürt hat,
dass sie zuletzt bei mehreren Gelegenheiten selbst engste
Freunde geradezu vor den Kopf gestoßen und zum Teil
sehr schwerwiegende Fragen aufgeworfen hat. Das begann bei der Ankündigung während des Besuchs des
US-Vizepräsidenten Biden, in Ostjerusalem neue Siedlungen zu bauen, reichte über die Behandlung des türkischen Botschafters entgegen allen diplomatischen Geflogenheiten und ging hin bis zu dem Vorgehen gegen die
Gaza-Solidaritätsflotte.
({7})
Immerhin sind Anzeichen für ein Umdenken erkennbar. Die israelische Regierung hat beschlossen, eine unabhängige Untersuchungskommission zum Einsatz gegen
diese Flotte einzurichten. Der Bundestag unterstützt die
Forderung des UN-Generalsekretärs nach einer internationalen Untersuchung des Einsatzes in seiner fraktionsübergreifenden Resolution ausdrücklich. Wir brauchen in der
Tat eine rückhaltlose und objektive Aufklärung dieser
Vorgänge.
({8})
Herr Präsident, da sich meine Redezeit dem Ende zuneigt, darf ich darauf hinweisen, dass noch weitere sieben Minuten für unsere Fraktion ausstehen, die ich gerne
für mich in Anspruch nehmen würde, weil mein Kollege
nicht anwesend ist.
Sie müssen sie nicht unbedingt in Anspruch nehmen;
denn der andere Redner Ihrer Fraktion, der Kollege
Mißfelder, ist erschienen.
Ach, er ist hier; wunderbar.
Sie müssen also nicht filibustern.
({0})
Das ist mir leider entgangen.
Ich darf dann abschließend nur noch ausführen, dass
in einem weiteren Punkt ein Umdenken Israels erkennbar ist, nämlich durch das Angebot Israels, die Positivliste durch eine sogenannte Negativliste zu ersetzen, also
dadurch, nicht mehr zu bestimmen, welche Güter im
Einzelnen in den Gazastreifen hineindürfen, sondern
umgekehrt festzulegen, was ausdrücklich nicht hineindarf. Das ist ein wichtiger und konstruktiver erster
Schritt, um hier weiterzukommen.
Ich meine, dass wir sehr deutlich sehen müssen, dass
eine dauerhafte Friedenslösung auch im Interesse Israels
liegt. Alle Komponenten für eine Verhandlungslösung
liegen seit Jahren auf dem Tisch. Jetzt tut der politische
Wille not, tatsächlich zu Ergebnissen zu kommen. Wenn
man die Lage auf der palästinensischen Seite betrachtet,
wird deutlich, dass die Situation dafür im Moment günstig ist.
Herr Kollege, Sie sollten Ihrem Kollegen nicht die
Redezeit wegnehmen.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Ich denke, dass
dieses Zeitfenster, das sich durch die Konstellation vor
Ort bietet, jetzt genutzt werden sollte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte mir schon gewünscht, dass man ein bisschen von
den vorbereiteten Redemanuskripten abgewichen wäre
und zu der aktuellen Situation,
({0})
dass nämlich auch die Fraktion der Linken einem gemeinsamen Antrag zustimmen will - ich begrüße das -,
zumindest das eine oder andere gesagt worden wäre.
({1})
Kollege Gehrcke, ich weiß um Ihre Arbeit innerhalb
Ihrer Partei. Sie bemühen sich, für die Interessen Israels
im Allgemeinen und auch für die Sicherheitsinteressen
zu werben. Sie haben das gerade in Ihrer Rede noch einmal getan. Ich halte es für einen wesentlichen Fortschritt
im Vergleich zu anderen Legislaturperioden zuvor, wenn
man bei einer so schwerwiegenden Frage hier im Deutschen Bundestag zu einem gemeinsamen Konsens
kommt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist
gut, dass es gelungen ist, die vier Fraktionen zusammenzuhalten. Das war nicht so einfach. Kollege Mißfelder,
wir haben den einen oder anderen Anruf in dieser Hinsicht erhalten. Ein Teil des Problems ist - das wird dadurch ersichtlich -, dass die unterschiedlichen Gruppen
so stark in ihrer Vorstellung verhaftet sind, dass sie glauben, diesen Konflikt nur aus ihrer Sichtweise heraus lösen zu können, was dazu führt, dass Empathie fehlt.
Umso mehr bin ich froh, dass zwischen diesen vier Fraktionen ein Konsens erreicht worden ist.
Es ist richtig, dass die Situation in den letzten Wochen
zu Bewegung geführt hat. Herr Kollege Gehrcke, ich
glaube aber, das ist nicht allein wegen der Gaza-Flottille
erfolgt, sondern wegen dieses schrecklichen Anlasses
und auch wegen des unverhältnismäßigen Einsatzes von
Gewalt in diesem Konflikt, durch den die Gewaltspirale
im Nahen Osten verstärkt wird.
Die israelische Regierung versucht - auch das müssen
wir anerkennen -, in der fragilen Situation, in der sich
ihre Koalition befindet, Schlussfolgerungen zu ziehen.
Es ist richtig, dass jetzt eine Negativliste für den Gazastreifen beschlossen worden ist, von der ich hoffe, dass
sie Anwendung finden wird, damit die humanitäre Situation im Gazastreifen verbessert wird. Wir sollten hier
auch vermerken, dass die ägyptische Regierung versucht
hat, in der schwierigen Situation eine konstruktive Rolle
zu übernehmen.
Ich glaube, wir müssen Israel deutlich machen, dass
durch die Abriegelung des Gazastreifens genau das Gegenteil von dem erreicht wird, was Israel eigentlich erreichen will.
({3})
Es ging damals um die Befreiung des entführten Soldaten Schalit und darum, den Waffenhandel einzuschränken und die Hamas zu schwächen. All diese Ziele, die
mit der Gaza-Abriegelung erreicht werden sollten, sind
nicht erreicht worden. Herr Staatsminister, es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dazu beizutragen - das können wir aufgrund unserer besonderen Beziehungen zu Israel -, dass dieses Problemfeld endlich von den
politischen Akteuren in Israel erkannt wird. Ich würde
mir wünschen, dass sowohl die Bundeskanzlerin als
auch der Außenminister gegenüber der israelischen Regierung noch aktiver werden würden, als sie das bisher
gewesen sind.
Es ist richtig, dass wir die Rolle der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und auch des Quartetts betont haben. Diese haben sich sehr stark aus der Verantwortung lösen müssen, weil es nicht genügend
Fortschritte gegeben hat. Wenn das Quartett gerade aufgrund der Situation im Gazastreifen wieder eine Rolle
spielt, dann stellt sich auch eine neue Herausforderung
für die Europäische Union. Mit den neuen Strukturen in
der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik muss es
gelingen, zwischen Israel und Palästina zu vermitteln
und in Bezug auf den Gazastreifen zu politischen Fortschritten zu kommen. Wir können die humanitären Probleme zum jetzigen Zeitpunkt nicht lösen; wir sollten
aber alles tun, damit die Situation der Menschen, die in
diesem Konflikt von allen in Geiselhaft genommen werden, zumindest verbessert wird. Langfristig wird aber
Hilfe nicht ausreichen.
({4})
Langfristig wird eine Lösung nur gelingen, wenn die
Menschen im Gazastreifen wieder ein wirtschaftliches
Fundament finden. Dazu muss die Privatwirtschaft wieder funktionsfähig werden.
({5})
Ich bin froh, dass es gelungen ist, in dem gemeinsamen Antrag zu betonen, dass es nicht reicht, was die israelische Regierung jetzt unternommen hat, wenn auch
der eine oder andere internationale Beobachter eingeladen werden soll. Die Forderung der Vereinten Nationen
und der Europäischen Union nach einer internationalen
und transparenten Aufklärung, aus der auch Konsequenzen gezogen werden müssen, muss erfüllt werden. Das
gilt insbesondere dann, wenn internationales Recht
verletzt worden ist; denn internationales Recht ist die
Richtschnur für das Handeln Deutschlands und der
Europäischen Union, aber auch für das Handeln des demokratischen Staates Israel. Auch er muss sich internationalem Recht unterwerfen.
({6})
Herr Staatsminister, der deutsche Außenminister hat
die Einladung des israelischen Kabinetts angenommen,
in den Gazastreifen zu reisen. Es darf nicht bei einer
Showveranstaltung bleiben. - Sie schütteln den Kopf.
Ich kenne die neuesten Informationen nicht. Vielleicht
sollte ich zurückhaltender formulieren. - Der Besuch
darf keine Showveranstaltung werden. Ich hätte mir gewünscht, dass die israelische Regierung auch andere
europäische Regierungen eingeladen hätte, und zwar sowohl solche, die innerhalb der Europäischen Union
große Verantwortung tragen, als auch solche, die eine
kritischere Haltung gegenüber Israel einnehmen, als wir
- ich habe eben über unsere historische Verantwortung
gesprochen - das tun. Auch das wird zu der geforderten
Transparenz gehören. Das müssen wir im europäischen
Rahmen deutlich machen.
({7})
Der Gazastreifen ist das vorherrschende Problem,
über das wir reden. Wir müssen aber auch daran erinnern, dass die US-amerikanische Regierung vielleicht
nicht das letzte Mittel, aber eines der letzten Mittel einsetzt, um die Gespräche zwischen der Regierung Fajjad
und Präsident Abbas auf der einen Seite und der israelischen Regierung auf der anderen Seite voranzubringen.
Das ist gut. Ich sage aber auch ganz klar: Die Zeit läuft
weg. Es stehen letztlich nur noch ganz wenige Wochen
zur Verfügung. Wir müssen aufpassen, dass wir durch
unsere Politik die Spaltung der palästinensischen Gesellschaft nicht noch verstärken.
Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch
einmal appellieren: Ich glaube, dass das Abkommen von
Mekka, das ein wichtiger Punkt für die nationale Einheitsregierung in Palästina gewesen ist, durchaus wieder
auf die Tagesordnung gehört. Wir müssen auch gegenüber den palästinensischen Fraktionen dafür werben,
dass eine Regierung der nationalen Einheit die einzige
Chance
({8})
für eine anhaltende und gerechte Friedenslösung in Palästina ist - und dann auch zum Nutzen Israels.
Zum Schluss will ich noch Folgendes sagen. Wir haben während der Aktuellen Stunde über die Situation im
Gazastreifen gesprochen, aber auch über die Rolle des
politischen Islam. Ich glaube, wir müssen unsere Rolle
gegenüber der Hamas überdenken und die Frage klären,
wie wir damit umgehen. Wir führen im Grunde genommen auf Bitten der israelischen Regierung schon Gespräche mit der Hamas wegen des entführten Soldaten Schalit. Aber wir müssen versuchen, uns aus diesen
Widersprüchen zu befreien. Denn hinter der Hamas
droht, so glaube ich, vielleicht noch eine viel größere
Herausforderung, die wir im Gazastreifen immer wieder
gesehen haben. Deswegen würde ich mir wünschen, dass
wir darüber im Auswärtigen Ausschuss sprechen.
Insbesondere bin ich froh, dass es gestern zu einem
Treffen von Vertretern der türkischen und der israelischen Regierung gekommen ist; denn wir werden die
türkische Regierung weiterhin für eine Vermittlung in
diesem Konflikt brauchen. Ich würde mich freuen, wenn
die Bundesregierung das unterstützen würde.
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
fraktionsübergreifende Antrag, den wir heute beraten,
hat ja schon im Vorfeld durchaus Öffentlichkeitswirkung
erreicht; darüber ist völlig zu Recht berichtet worden.
Denn das, was wir hier erleben, ist tatsächlich eine neue
Qualität gemeinsamer deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Ich würdige das ausdrücklich. Ich möchte
insbesondere unserer Kollegin Frau Müller ganz herzlich
für ihren Beitrag dazu danken. Er war hervorragend.
({0})
Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Das begrüße
ich außerordentlich.
Auch Ihnen ist es vielleicht so gegangen wie mir: Ich
habe in den letzten Tagen eine ganze Reihe von Briefen
und Mails von besorgten Menschen überwiegend aus israelorientierten Organisationen bekommen. Die müssen
wir natürlich ernst nehmen. Deswegen lassen Sie mich
einleitend sehr deutlich sagen, was dieser Antrag nicht
beinhaltet.
Er beinhaltet erstens keine endgültige, abschließende
Bewertung der Ereignisse vom 31. Mai,
({1})
sondern die eindeutige Forderung nach einer internationalen Untersuchung.
Zweitens. Er beinhaltet nichts, was die berechtigten
Sicherheitsinteressen Israels in irgendeiner Weise vernachlässigt. Ganz im Gegenteil: Wir weisen in diesem
Antrag gemeinsam bestimmt fünfmal auf die wirklich
berechtigten israelischen Interessen hin. Das haben wir
immer wieder dort, wo wir es tun konnten und sollten,
sehr deutlich formuliert.
Drittens ist ganz bedeutsam für uns alle: Dieser Antrag bedeutet natürlich in keinster Weise - in keinster
Weise! - irgendein Abrücken von dem gemeinsamen
Konsens im Deutschen Bundestag über unsere historisch
bedingte besondere Beziehung zum Staat Israel. Die ist
von diesem Antrag in keinster Weise grundsätzlich berührt. Das möchte ich sehr deutlich sagen.
({2})
In diesem Antrag geht es nicht mehr und nicht weniger um die dringend gebotene Verbesserung der Lebensbedingungen im Gaza. Wir hatten heute Morgen wieder
mit John Ging beim Frühstück ein interessantes Gespräch, in dem er uns eindrücklich geschildert hat, welche miserablen Bedingungen humanitärer Art im Gazastreifen herrschen. Das Wichtige daran ist erstens die
humanitäre Frage, die gelöst werden muss. Die ist aber
in vielen Teilen der Welt ähnlich schlimm. Hinzu kommt
aber zweitens: Wir sind der festen Überzeugung, dass
die Negativsituation im Gazastreifen gegen die Interessen Israels gerichtet ist und dass sie insbesondere die Interessen der Hamas fördert. Denn der Hamas ist es durch
die Blockade, die wir erleben, gelungen, eine Tunnelund Schattenwirtschaft aufzubauen, bei der sehr viel
Geld fließt und sehr viele Leute reich werden. Der für
die Entwicklung des Gazastreifens dringend notwendige
Aufbau einer tragenden Wirtschaft im Gazastreifen wird
dadurch aber nicht erreicht.
Ich sage sehr deutlich: Nach unserem Dafürhalten erhöht die Verbesserung der Lebenssituation im Gazastreifen gerade auch die Sicherheit Israels. Auch deshalb ist
es so wichtig, dass wir hier entsprechend vorankommen.
({3})
Deshalb sagen wir im Antrag gemeinsam ganz deutlich: Es reicht nicht aus, die Zahl der Lkws von 140 auf
etwa 160 zu erhöhen. Es geht darum, grundsätzlich an
der Blockade zu arbeiten und sie zu beseitigen, um bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das ist ganz
wichtig, und daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
„Gemeinsam arbeiten“ heißt für mich natürlich, dass
dies nicht nur Deutschland tut. Es ist schön, dass wir diesen gemeinsamen Antrag haben - das ist völlig klar -,
aber wir sollten unsere Rolle im Rahmen der Europäischen Union sehen. Herr Staatsminister, falls Sie noch
eine Unterstützung des Parlaments brauchen, um die europäischen Institutionen, insbesondere Frau Ashton, anzustoßen, ein bisschen mehr zu tun, kann ich Ihnen versichern: Die Unterstützung durch unsere Fraktion hätten
Sie dafür. Wir würden die notwendige Hilfestellung geben. Ich sage das so deutlich, weil ich den Energy Level
- um es auf Neudeutsch zu sagen - der Europäischen
Union für überschaubar halte. Hier kann und muss noch
mehr geschehen.
Ich bin dankbar, Herr Staatsminister, dass die Bundesregierung seit Monaten betont, dass sie die Rolle des
Quartetts stärken will. Das ist völlig richtig. Aber ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kann bisher noch nicht so
richtig erkennen, dass das auch geschieht. Wir alle wünschen uns, dass das Quartett und damit auch die Europäische Union in diesem wichtigen Konflikt eine stärkere
Rolle spielen.
({4})
Ich bitte Sie, Herr Staatsminister, das mit Ihren Mitteln
zu unterstützen und in Europa entsprechend voranzutreiben.
({5})
Die Ereignisse vom 31. Mai, so tragisch sie waren
- ich erinnere an die Toten -, haben etwas in Gang gebracht. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen:
Die Diskussion heute Abend führen wir eigentlich nur
infolge der Diskussion, die vor drei Wochen dazu stattgefunden hat; gar keine Frage. Sie hat einen Prozess des
Überlegens in Gang gebracht. Ich bin sehr froh darüber,
mit welcher Konsequenz unser Minister Niebel seine
Position vertreten hat. Er hält es für völlig inakzeptabel,
dass es, nachdem Deutschland im Gazastreifen mit Zustimmung Israels, zum Teil sogar auf Wunsch Israels humanitäre Projekte durchführt, einem deutschen Minister
nicht erlaubt sein soll, diese Projekte zu besuchen. Es
war richtig, dass Minister Niebel darauf deutlich reagiert
hat. Das muss möglich sein. Es ist notwendig, dass wir
hier so klar Position beziehen. Ich bedanke mich bei
Minister Niebel ausdrücklich für diese klare und deutliche Haltung.
({6})
Wir alle wissen, dass speziell Minister Niebel völlig
unverdächtig ist, was Israel angeht. Er gehört - ich darf
das einmal so sagen - zu den Hardlinern unter den Israel-Unterstützern. Wenn ihm hier der Kamm schwillt,
dann ist, glaube ich, wirklich etwas geschehen. Es ist
ganz wichtig, dass wir diese Botschaft senden.
Wir stehen für den gemeinsamen Antrag. Ich bin froh
darüber, dass wir das geschafft haben. Damit ist ein Beginn gemacht; dies ist kein Ende. Wir stehen als Deutscher Bundestag, als FDP-Fraktion weiterhin dafür: Wir
wollen europäische Initiativen und deutsche Initiativen
in diesen wichtigen Friedensprozess einbringen. Wir stehen dafür, dass wir dabei sehr wohl die berechtigten Interessen der beteiligten Parteien berücksichtigen. Aber
wir wollen Fortschritt, wir brauchen Fortschritt, und wir
werden unseren Beitrag dazu leisten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich bin sehr froh, Herr Stinner, Herr Mützenich,
Herr Mißfelder
Kerstin Müller ({0})
({1})
- er hat daran nicht mitgearbeitet, aber ich sage gleich
noch etwas dazu -, dass es uns gelungen ist, einen Antrag der vier Fraktionen zustande zu bringen. Ich möchte
mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken.
Ich glaube, dass es ein ausgewogener Antrag ist - Sie
haben es gerade erwähnt -, bei dem wir einerseits wirklich die Sicherheitsinteressen Israels im Blick haben und
in dem wir andererseits ganz konkret Vorschläge dazu
machen, wie, mit welchen Schritten man die humanitäre
Lage der Menschen in Gaza verbessern kann.
Ich begrüße es, dass dieser Antrag schon von der
Bundesregierung aufgegriffen wurde; denn Herr Niebel
hat sich auf seiner Reise, an der Parlamentarier aus allen
Fraktionen teilgenommen haben, bereits auf den Antrag
bezogen, obwohl er erst heute beschlossen wird. So
wünschen wir uns das.
({2})
Ich habe das schon öffentlich erklärt und will es auch
hier im Deutschen Bundestag noch einmal sagen: Auch
ich war nicht damit einverstanden, dass man dem Entwicklungshilfeminister den Zugang nach Gaza verweigert hat. Wir führen dort Entwicklungsprojekte durch.
Wir haben vor, ein Klärwerk zu bauen, das sehr wichtig
und entscheidend für die dortigen Lebensbedingungen
ist. In diesem Fall muss es ihm möglich sein, sich anzuschauen, was dort gebaut wird.
({3})
Meine Damen und Herren von der Linken, ich bin
froh, dass Sie sich entschlossen haben, diesem Antrag
zuzustimmen. Ich hatte heute ein Gespräch mit John
Ging, dem Leiter von UNRWA. Ich weiß nicht, ob einige
von Ihnen ebenfalls die Gelegenheit dazu hatten; er ist
auch morgen noch einmal hier. Er ist begeistert davon,
dass gerade von Deutschland ein solches Signal ausgeht.
Er hat noch einmal betont, dass er auf eine interfraktionelle Initiative hofft - die natürlich stärker wird, wenn
alle dabei sind; ich sage das für meine Fraktion sehr klar.
Da können alle mal über ihren Schatten springen. Dann
hat dies nämlich eine andere Bedeutung in Europa. Auch
die Chance, in Europa gehört zu werden, wird größer,
weil gerade die Deutschen mit ihrem besonderen Verhältnis zu Israel hier natürlich immer eine besondere
Rolle spielen müssen. Diese Rolle nehmen wir wahr, indem wir diesen Antrag gemeinsam auf den Weg bringen.
Dafür möchte ich mich bei allen bedanken.
({4})
Wir sind uns einig, dass die Gaza-Blockade beendet
werden muss. Sie ist inhuman. Sie ist aber auch politisch
kontraproduktiv, weil sie nicht im Interesse Israels ist.
Wenn sie es denn wäre, würde man vielleicht noch einen
anderen Blick darauf haben. Sie hat die Ziele aber nicht
erreicht. Leider ist Gilad Schalit immer noch nicht befreit. Auch der Raketenbeschuss konnte nicht gestoppt
werden.
Die Blockade hat bisher die Hamas sowie andere Extremisten gestärkt und eben nicht geschwächt. Das kann
die UNO sehr deutlich daran darstellen, dass eine illegale Schattenwirtschaft durch die Tunnel errichtet
wurde, die nun die Hamas stärkt und diejenigen
schwächt, die nicht mit der Hamas kooperieren wollen
und die die illegalen Güter, die über diese Tunnel in den
Gazastreifen kommen, nicht kaufen wollen, um zum
Beispiel Schulen zu bauen. Es ist wirklich absurd, zu
sehen, dass diese Blockade de facto eine Blockade der
UNO ist, die sagt: „Wir kaufen dieses illegale Material
nicht, auch wenn wir damit Schulen errichten könnten“,
aber gleichzeitig - heute habe ich von John Ging diese
Zahl noch einmal gehört - 40 000 Flüchtlingskinder ablehnen muss, weil die UNO-Schulen überlaufen sind.
Diese Kinder gehen dann in die Koranschulen der Hamas.
Was macht das für einen Sinn? Es macht keinen Sinn.
Man schwächt diejenigen, die aktiv gegen das Islamisierungsprojekt der Hamas und anderer im Gazastreifen
vorgehen wollen. Das darf nicht sein. Deshalb brauchen
wir eine schrittweise Öffnung, und zwar sowohl eine
Öffnung über den Landweg als auch parallel dazu Verhandlungen über einen Transport von UN-Gütern über
den Seeweg. Das hat John Ging noch einmal deutlich
gemacht.
Ich will hier noch kurz darauf eingehen, dass es die
Sorge gibt, damit würden die Sicherheitsinteressen Israels nicht gewahrt. Wir sagen hier sehr klar: Das soll
mit Israel vereinbart werden. Die Idee ist, dass entweder
in Aschdod oder in Zypern eine Kontrolle stattfindet und
erst dann die Schiffe nach Gaza gelassen werden. Damit
würde man erstens einen unbürokratischen Zugang
schaffen und zweitens denjenigen den Wind aus den Segeln nehmen, die vielleicht unter ganz anderer politischer Flagge demnächst wieder auf Gaza zusteuern wollen. Das ist der Charme der Idee, zusätzlich einen
Seeweg zu eröffnen. Ich würde mich freuen, wenn auch
das möglich wäre und wenn sich die Europäische Union,
auch ausgehend von unserem Antrag, hierfür einsetzen
würde.
Letzter Punkt. Wir sehen in Europa zunehmend eine
antiisraelische Stimmung. Ich halte es auch deshalb für
wichtig, dass wir mit konkreten Initiativen - das hat
John Ging heute noch einmal deutlich gesagt - nach
vorne blicken und sehen, wie man die Lage verbessern
kann.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
In diesem Sinne freue ich mich, wenn wir heute eine
breite Zustimmung zu unserem Antrag bekommen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Müller, zunächst möchte ich Ihnen für Ihre
Initiative danken. Es handelt sich um einen fraktionsübergreifenden Antrag. Nach den Vorfällen um die
Gaza-Flottille haben wir im Auswärtigen Ausschuss
frühzeitig miteinander gesprochen. Um es nicht zu verschweigen: Sie haben den Anstoß für diese Debatte gegeben und die Idee zu einem fraktionsübergreifenden
Antrag gehabt.
Dem haben wir nach Diskussionen in unserer Fraktion gerne zugestimmt, weil wir bei der Diskussion im
Auswärtigen Ausschuss und vielen anderen Gelegenheiten festgestellt haben, wie groß und wie breit der Konsens bei diesem Thema eigentlich ist.
Selbst wenn in der Außendarstellung häufig der Eindruck entsteht, dass die Linkspartei grundsätzlich anderer Meinung sei, so glaube ich doch, Herr Gehrcke, dass
gerade auch die Wortbeiträge, die Sie schon an verschiedenen Stellen abgegeben haben, keinen Zweifel daran
lassen, dass Sie sich auf einem ähnlichen, gemeinsamen
Boden befinden, wie wir das tun. Das gilt für Ihre Fraktion allerdings nur eingeschränkt. Diesen Eindruck habe
ich leider häufig. Ich wünschte mir, dass Sie sich vielleicht hätten überwinden können, unseren Antrag zu unterstützen und auf Ihren eigenen Antrag heute zu verzichten.
Nichtsdestotrotz wollen wir dafür werben, dass die
Debatte in Zukunft mit großer Ernsthaftigkeit weitergeführt wird. Auch der bisherige Verlauf dieser Debatte hat
ja gezeigt, dass wir den sachlichen Blick auf die Tatsachen behalten wollen und unseren Grundsätzen treu bleiben wollen, was die Ausrichtung der Politik gegenüber
unseren Freunden in Israel angeht.
Vor diesem Hintergrund möchte ich, ähnlich wie
Rainer Stinner es schon gemacht hat, auf die Reaktionen
im Vorfeld verweisen: Bevor die Drucksache vorlag,
wurde der eine oder andere von uns schon von Personen
aus Israel nahestehenden Bewegungen gefragt: Was
steckt eigentlich hinter diesem Antrag, von dem wir in
der Zeitung gelesen haben? Welche Zielrichtung verfolgt
er? Ist denn gesichert, dass die Sicherheitsinteressen Israels im Mittelpunkt der Beratungen stehen? - Zu keinem Zeitpunkt der Beratungen des Antrags hat dies ein
geringe Rolle gespielt, sondern dies stand immer - das
war fraktionsübergreifend der Fall - im Mittelpunkt unserer Überlegungen.
Ich möchte in dieser Debatte auch klar sagen, dass es
wahrscheinlich, zumindest nach unserem heutigen Diskussionsstand, technisch nur möglich sein wird, eine
Seeverbindung nach Gaza einzurichten, wenn man so
verfährt, dass die Güter der Schiffe in Aschdod gelöscht
werden und nach entsprechenden Kontrollen nach Gaza
eingeführt werden.
({0})
Allein schon diese technische Frage darf man nicht außer Acht lassen. Das zeigt erneut, dass die Aktionen, die
im Zusammenhang mit der Flottille geschehen sind,
nicht in erster Linie dazu dienten, Hilfsgüter nach Gaza
zu bringen, sondern vielmehr mediale Aufmerksamkeit
und propagandistische Effekte im Blick hatten. Auch das
ist zumindest nach heutigem Stand bei dieser Debatte zu
beachten.
({1})
Für uns - das hat unsere Bundeskanzlerin in ihrer
Rede am 18. März 2008 vor der Knesset zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel deutlich gemacht stehen die Sicherheitsinteressen Israels an erster Stelle.
Wortwörtlich hat die Bundeskanzlerin gesagt:
… das Bewusstsein für die historische Verantwortung und das Eintreten für unsere gemeinsamen
Werte - das bildet das Fundament der deutsch-israelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis
heute.
Deshalb ist es auch richtig, dass es zu unserer Staatsräson gehört, die besonderen Beziehungen zu Israel
nicht nur in Worthülsen zu kleiden, sondern auch mit Leben zu füllen. Das bedeutet, dass wir zu jedem Zeitpunkt, auch bei der Betrachtung der Situation in Gaza,
die legitimen Sicherheitsinteressen von Israel im Blick
haben.
Trotzdem darf natürlich die Frage der politischen Implikationen nicht außer Acht gelassen werden. Man darf
wohl sagen - Herr Mützenich, Frau Müller, Rainer
Stinner, wir haben uns in dieser Legislaturperiode mit
vielen Freunden aus Israel bei vielen Gelegenheiten darüber unterhalten und das Ganze auch mit viel Empathie
begleitet -, dass wir als Freunde Israels selbstverständlich auch die politische Dimension des israelischen Handelns im Blick haben und uns deshalb als Freunde auch
ein klares, offenes Wort erlauben. Insofern möchte ich
der Bundesregierung danken, dass sie in ihrer unmittelbaren Reaktion auf die Vorfälle rund um die Gaza-Flottille diese Grundhaltung zum Ausdruck gebracht hat.
({2})
Es geht in unserem Antrag nicht um die simple Forderung nach Aufhebung der Blockade. Vielmehr muss
auch die Sicherheit der Menschen in Israel garantiert
werden, und zwar durch ein Grenzkontrollregime, durch
die Waffenlieferungen nach Gaza strikt unterbunden
werden können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag
die Bundesregierung auf, den UN-Generalsekretär zu
bitten, unter Berücksichtigung dieser Interessen im Einvernehmen mit Israel gemeinsam den Prozess einzuleiten, dass Güter dorthin auf dem Seeweg eingeführt werden können.
Wie wichtig die heutige Debatte ist, sieht man auch
daran, dass ein großer Teil des Hauses diesen Antrag unterstützt.
Ich begrüße ausdrücklich die Ankündigung der israelischen Regierung, dass die Blockade gelockert werden
soll. Auch glaube ich, dass Ägypten an dieser Stelle eine
besondere Würdigung erfahren muss: Dass Ägypten eine
gute und konstruktive Rolle in diesem Prozess spielt, dafür danke ich vielen engagierten Vertretern in Ägypten.
All unsere Bemühungen reichen allerdings noch nicht
aus, um das große Ziel von Frieden und gemeinsamem
Miteinander zu erreichen. Darum müssen sich alle noch
mehr bemühen, als sie es ohnehin schon tun. Deshalb ist
der Dank immer mit der Aufforderung verbunden, mehr
zu tun und nichts zu unterlassen, was zu einer weiteren
Annäherung führen kann.
({3})
Eines ist klar: Mit der heutigen Debatte und dem gemeinsamen Antrag setzen wir ein Zeichen. Wir zeigen,
dass es uns wichtig ist, die Konflikte gemeinsam an der
Seite Israels zu lösen. Gerade vor dem Hintergrund unserer historischen Verantwortung und unserer Geschichte,
die in der heutigen Zeit nicht von Schuld, sondern von
großer Verantwortung geprägt ist, geht es darum, gemeinsam die Ziele des Friedens zu erreichen. Ich finde, unser
Antrag ist dabei sehr hilfreich.
({4})
Ich bedanke mich noch einmal bei den Fraktionen, die
daran mitgewirkt haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/2259 mit dem
Titel „UN-geführte Untersuchung des israelischen Angriffs auf den Gaza-Hilfstransport - Sofortige Aufhebung der Blockade“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2328 mit
dem Titel „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären Lage der Menschen in Gaza verbessern - Nahost-Friedensprozess unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
- Drucksache 17/1429 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({3}), Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die revidierte Fassung des Europäischen Übereinkommens über die Adoption von Kindern
unterzeichnen
- Drucksache 17/2329 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ute
Granold, Johannes Kahrs, Stephan Thomae, Michael
Kauch, Dr. Barbara Höll, Volker Beck.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1429 und 17/2329 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlage auf Drucksache 17/2329 federführend
im Rechtsausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk
Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Illegalen Holzeinschlag und Holzhandel durch
eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam
verhindern
- Drucksachen 17/1962, 17/2315 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Alois
Gerig, Petra Crone, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Kirsten Tackmann, Cornelia Behm.
1) Anlage 67
Die Europäische Union beabsichtigt, im Rahmen des
Aktionsplans „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung
und Handel im Forstsektor“, Forest Law Enforcement,
Governance and Trade - FLEGT, durch eine neue Verordnung Regelungen für den Handel mit Holz zu treffen.
Ziel der neuen Verordnung ist es, den illegalen Holzeinschlag zu bekämpfen. Illegaler Holzeinschlag ist innerhalb der EU kein ausgeprägtes Problem. In den Mitgliedstaaten ist in der Regel gewährleistet, dass kein
Raubbau am Wald betrieben wird. In anderen Teilen der
Welt hingegen stellt der illegale Holzeinschlag ein gravierendes Problem dar - er trägt erheblich zur weltweiten Waldzerstörung bei. Die Nachfrage nach Holz in Europa ist dafür mitverantwortlich. Die CDU/CSU
unterstützt deshalb das Vorhaben, den Handel mit Holz
durch eine EU-Verordnung zu regeln und so gegen den
illegalen Holzeinschlag vorzugehen.
Die Einigung über einen Verordnungsentwurf erwies
sich als sehr schwierig. Die Kommission hatte im Oktober 2008 einen ersten Entwurf vorgelegt. Erst am
10. Juni dieses Jahres konnten Parlament, Rat und
Kommission im Rahmen eines Trilogs die letzten Streitpunkte ausräumen und sich auf einen Verordnungsentwurf verständigen. Die Einigung steht am 7. Juli im Europäischen Parlament zur Abstimmung. Im Herbst will
sich der Rat abschließend mit der Verordnung befassen.
Es ist damit zu rechnen, dass Parlament und Rat der
Verordnung zustimmen.
Der Antrag der SPD-Fraktion enthält zahlreiche Forderungen, die die Bundesregierung auf EU-Ebene
durchsetzen soll. Da sich die Bundesregierung engagiert
in die Verhandlungen eingebracht hat, macht es keinen
Sinn, sie mit diesem Antrag zum Handeln aufzufordern.
Außerdem sind die Verhandlungen sowohl innerhalb des
Rates als auch zwischen Rat und Parlament abgeschlossen. Somit besteht für die Bundesregierung derzeit keine
Möglichkeit, sich für die gestellten Forderungen einzusetzen. Aus diesen Gründen kann die CDU/CSU den Antrag nicht unterstützen. Der Antrag würde höchstens
Sinn machen, wenn das Europäische Parlament die Verordnung ablehnt und die Verordnung neu verhandelt
werden müsste. Dies ist nach meiner Auffassung nicht
nur unwahrscheinlich. Es ist auch nicht wünschenswert.
Der Verordnungsentwurf, auf den sich Kommission, Rat
und Parlament geeinigt haben, ist ein tragfähiger und
guter Kompromiss, der nicht mehr verändert werden
sollte. Um in der Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags voranzukommen, wäre es sicher nicht hilfreich,
wenn der Bundestag den Kompromiss infrage stellte.
Auch dies spricht dafür, den vorliegenden Antrag abzulehnen.
Zu den gelungenen Regelungen in der geplanten
Verordnung gehört die Rückverfolgbarkeit in der Handelskette. Natürlich sollten alle Marktteilnehmer dafür
sensibilisiert sein, dass ihre Handelsware Holz nicht aus
illegalem Einschlag stammt. In der geplanten Verordnung
werden besondere Sorgfaltspflichten sinnvollerweise dem
Erstinverkehrbringer auferlegt. Für die übrigen Marktteilnehmer werden einfache Informationspflichten vorgeschrieben. Sie müssen bei Kontrollen der zuständigen
Behörden Zulieferer bzw. Abnehmer nennen können. Damit wird sichergestellt, dass die Rückverfolgbarkeit in der
Handelskette gewährleistet ist, gleichzeitig aber nicht alle
Marktteilnehmer übermäßigen Dokumentationsaufwand
betreiben müssen.
Auch Waldbesitzer in Deutschland, die aus ihrem
nachhaltig bewirtschafteten Wald Holz gewinnen und
vermarkten, sind Erstinverkehrbringer. Das Bundeswaldgesetz, die Waldgesetze der Länder, die Forstverwaltungen und nicht zuletzt die ganz überwiegende
Anzahl von verantwortungsbewussten Waldbesitzern
sorgen dafür, dass in Deutschland der Wald nachhaltig
bewirtschaftet wird und illegaler Holzeinschlag so gut
wie keine Rolle spielt. Besondere Nachweispflichten für
Waldbesitzer erscheinen mir deshalb nicht angezeigt. Es
ist der Bundesregierung zu verdanken, dass in der Verordnung illegaler Holzeinschlag in Deutschland wie in
anderen EU-Mitgliedstaaten als ein vernachlässigbares
Risiko eingestuft wird und dadurch erheblicher bürokratischer Aufwand für die Waldbesitzer abgewendet werden konnte.
Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.
Es ist zu erwarten, dass die stoffliche und energetische
Holznutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird.
Dies ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen
Klimaschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen
wir, dass Waldbesitzer die biologische Vielfalt im Wald
schützen, den Wald auf den Klimawandel vorbereiten
und den Wald als Erholungsraum für Menschen erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, die circa
2 Millionen privaten Waldbesitzer nicht mit neuer Bürokratie zu belasten.
Ein weiterer Punkt, der mir am Herzen liegt, ist das
Handelsverbot für illegal geschlagenes Holz. Man kann
darüber streiten, wie wirkungsvoll ein solches Verbot ist.
Ein Vermarktungsverbot wäre nur schwer umzusetzen,
da im Einzelfall der illegale Einschlag, also der Rechtsbruch im Drittland, nachgewiesen werden müsste. Dies
ist derzeit in aller Regel nicht gerichtsfest möglich. Aus
meiner Sicht ist ein Handelsverbot dennoch wichtig. Europa muss ein klares Zeichen setzen, dass wir illegalen
Holzeinschlag nicht akzeptieren und unseren Teil dazu
beitragen, die globale Waldzerstörung aufzuhalten.
Weltweit schreitet die Zerstörung der Wälder sehr
schnell voran. Jährlich gehen 13 Millionen Hektar Naturwälder verloren - insbesondere in den Tropen. Waldzerstörungen gefährden nicht nur die Biodiversität auch die für den Klimaschutz notwendige Kohlenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Es
wird also höchste Zeit, dass die EU Regelungen gegen
den Handel mit illegal geschlagenem Holz trifft. Zweifellos ist es ein Schwachpunkt des Kompromisses, dass
die Verordnung erst in 27 Monaten wirksam werden soll.
Leider konnte sich die Bundesregierung mit ihrer Forderung nach einer früheren Inkraftsetzung nicht durchsetzen.
In der Gesamtbewertung bleibt aber festzuhalten,
dass die geplante Verordnung wirkungsvolle Regelungen
gegen den Handel mit illegal geschlagenem Holz vorsieht, ohne die legale und nachhaltige WaldbewirtschafZu Protokoll gegebene Reden
tung in Deutschland unverhältnismäßig zu belasten. Sowohl die Umweltverbände als auch die Waldbesitzer
können mit dem erzielten Kompromiss leben. Ich danke
der Bundesregierung, dass sie die Einigung engagiert
vorangetrieben hat und die Verabschiedung dieser wichtigen Verordnung nun in greifbare Nähe rückt.
Das Verbot für den Handel mit Holz aus illegaler
Herkunft wird kommen. Dies ist das erfreuliche Ergebnis aus den Trilogverhandlungen auf europäischer
Ebene. Mit der erreichten Einigung wird endlich eine
Grundlage gegen die weltweite Zerstörung von Wäldern
geschaffen. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt, dass
das zuständige Ministerium unter der Leitung von Ilse
Aigner sich doch noch bewegt hat, um auch den eigenen
Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP zu erfüllen.
Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Maßnahmen gegen illegal geschlagenes Tropenholz verschärfen. Mit unserem Antrag wollten wir
der Regierungskoalition die Gelegenheit geben, sich am
eigenen Anspruch zu messen. Schließlich besitzt
Deutschland auf EU-Ebene gewichtiges Stimmenpotenzial, um auch andere europäische Partner zu bewegen.
Die Zustimmung zu den Zielen des Antrags war im Ausschuss erfreulicherweise in allen Parteien vorhanden.
Aber um ein Ziel zu erreichen, kann eine Instrumentenauswahl nicht ausbleiben. In unserem Antrag haben wir
die Maßnahmen vorgestellt, die eine Verordnung auf
europäischer Ebene benötigt, um nicht als Makulatur zu
enden.
Schlussendlich müssen die Verbraucher und Verbraucherinnen durch die Verordnung in die Lage versetzt
werden, eine bewusste Kaufentscheidung für legal geschlagenes Holz zu treffen. Tropenholzmöbel sind aus
meiner Sicht bis heute nur dann akzeptabel, wenn sie mit
dem Gütesiegel des FSC ausgezeichnet sind.
Zur EU-Verordnung selbst. An erster Stelle stand für
uns das Verbot des Handels mit illegalem Holz und illegalen Holzprodukten. Bisher blieb der Import von illegalem Holz in die Europäische Union und damit auch
nach Deutschland ungeahndet. Dies wird sich zumindest
für den Erstinverkehrbringer des Holzes ändern. Durch
das Verbot, mit illegalem Holz zu handeln, wird der
Nachweis von Legalität zur Pflicht. Wir hätten diese
Nachweispflicht gern für alle Marktteilnehmer die gesamte Lieferkette entlang gesehen, aber das Verbot für
den Erstinverkehrbringer ist alles in allem erfreulich.
Die FDP hatte ein Verbot noch in den Beratungen unseres Antrags abgelehnt. Ich finde, dass von dieser Regelung eine hohe Symbolkraft von einer Region wie
Europa ausgeht. Wir senden damit ein Zeichen, dass wir
es nicht dulden, wenn illegales Holz vorsätzlich oder bewusst oder grob fahrlässig auf den Markt gebracht wird.
Damit flankieren wir die Bemühungen auch in den Ländern selbst und zeigen, dass uns das Thema wirklich
ernste Anstrengungen wert ist.
Die Sorgfaltspflichtregeln für den Erstinverkehrbringer des Holzes sind um das Kriterium des vernachlässigbaren Risikos ergänzt. Dieses wurde auf ausdrücklichen Wunsch des BMELV aufgenommen, um die
deutschen Kleinstbetriebe bzw. mittelständischen Betriebe rechtlich abzusichern. Wir stimmen mit dem Europäischen Parlament überein, dass es eines „negligible
risk“ nicht bedürft hätte. Das vernachlässigbare Risiko
wird in der Verordnung selbst nicht definiert, was bei
mir die Sorge hervorruft, dass damit rechtliche Unsicherheiten eher verstärkt als minimiert werden. Den
bürokratischen Aufwand, den unsere deutschen Kleinwaldbesitzer sowie die kleinen und mittelständischen
Holzfirmen durch die Sorgfaltspflichtregelung leisten
müssten, sehe ich eher in geringen und überschaubaren
Maßen. Genügen würde in den meisten Fällen doch die
Handelsrechnung, der Lieferschein oder der Grundbuchauszug, der meinen Wald ganz legal als mein Eigentum ausweist.
Erfreulich an der EU-Verordnung ist, dass die Rückverfolgbarkeit für Holz und Holzprodukte über die
gesamte Lieferkette in Form von einfacher Informationspflicht gewährleistet ist. Wir hätten uns für die Datenerhebung jedoch eine stärkere Berücksichtigung der
Art der Waren gewünscht. Eine Produktspezifikation,
wie sie bei der Sorgfaltspflicht erforderlich ist, fehlt. Aus
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion wäre es aus Gründen
eben der Rückverfolgbarkeit sehr naheliegend, wenn
Art. 4 a eine Ergänzung um einen Punkt c erfahren
würde, aus dem hervorgeht, was genau gekauft bzw.
gehandelt wurde. Bestand die Ware aus Rund- oder
Schnittholz? Die Antwort auf diese Frage könnte in der
Rückverfolgbarkeit und Identifikation entlang der Handels- und Verarbeitungskette von eklatanter Bedeutung
sein. Es ist sehr bedauerlich und unverständlich, dass
die EU-Verordnung die indigenen Völker nur noch als
„dritte Interessengruppe“ definiert, obwohl zunehmende Abholzung des Regenwalds deren Lebensweise
massiv bedroht. Der Durchsetzung und Einhaltung der
Menschen- und Landrechte indigener Völker ist nicht
gedient, wenn wir verklausulieren, statt zu benennen.
Alles in allem ist die EU-Verordnung gegen den Handel mit illegalem Holz auf dem europäischen Markt trotz
Mängel ein guter Startpunkt, doch der Weg bis zum Ziel
ist noch weit. Schwachstellen sind die Ausnahmeregelungen, zum Beispiel für Papier. Hier wird hoffentlich in
den nächsten Jahren noch nachgebessert. Der gesamte
Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Berechnungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf jährlich etwa 13 Millionen Hektar. Dies entspricht ungefähr
der Größe Griechenlands. Deutschlands Wälder mit insgesamt 110 000 Quadratkilometern wären innerhalb
eines Jahres gerodet. An dieser Stelle möchte ich den
zahlreichen Umweltorganisationen danken. Es ist deren
großer Verdienst, dass sie die Problematik des illegal geschlagenen Holzes in das Bewusstsein der Entscheidungsträger und in die öffentliche Diskussion gebracht
haben. Vielen Dank dafür. Es bedarf nun eines couragierten Arbeitsprogramms, um den Raubbau an den
Wäldern zu stoppen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Erhaltung von Primärwäldern weltweit ist ein
wichtiges Ziel. Für die Menschen vor Ort stellen intakte
Urwälder die Lebensgrundlage dar. Sie schützen den
Boden und das Wasser, liefern Nahrung und wertvolle
nachwachsende Rohstoffe. Sie sorgen für eine bessere
Luftqualität und produzieren Sauerstoff. Aber vor allem
sind naturnahe Wälder die wichtigsten und größten Reservoire der Artenvielfalt weltweit. Diese Schatzkammern der biologischen Information sind zudem entscheidend an der Speicherung von atmosphärischem CO2
beteiligt. Insbesondere die Rodung von Flächen für den
Anbau von Soja, die Weidehaltung und die Anlage von
Palmölplantagen, aber auch der illegale Holzeinschlag
bedrohen die wertvollen Waldflächen. Der Waldverlust
ist in den Staaten der Tropen Afrikas, Südostasiens und
Südamerikas erheblich, Satellitenbilder verdeutlichen
die gravierenden Verluste. Zudem verfolgen nur wenige
Staaten außerhalb der EU eine nachhaltige Forstpolitik.
Wir sind uns fraktionsübergreifend einig, dass bei der
Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und des Holzhandels Handlungsbedarf besteht. Etwa ein Drittel ihres
Rohholzbedarfs importiert die EU aus Drittstaaten. Wir
müssen ein gemeinsames Interesse daran haben, dass es
sich hierbei um legales Holz, gewonnen aus nachhaltiger Bewirtschaftung, handelt. Wir als FDP haben uns
immer ausdrücklich gegen den illegalen Holzeinschlag
und -handel ausgesprochen. Zur Ergänzung der 2005 im
Rahmen des EU-Aktionsplans FLEGT, Forest Law
Enforcement, Government and Trade, vorgesehenen
Maßnahmen, speziell der angestrebten freiwilligen Partnerschaftsabkommen, Voluntary Partnership Agreements - VPA, und der Einfuhrbeschränkungen ist eine
Verordnung zum Stopp des Imports von illegal geschlagenem Holz in die EU eine denkbare Option. Daher unterstützen wir die Bemühungen von EU-Parlament,
Kommission und Ministerrat, im Trilog über die Ausgestaltung einer Verordnung über den Holzhandel zu einer
vernünftigen, wirkungsvollen und umsetzbaren Lösung
zu kommen.
Die FDP begrüßt den im Botschafterausschuss von
EU-Parlament, Kommission und Ministerrat beschlossenen ausgewogenen Kompromiss. Dieser Durchbruch
bei den Verhandlungen über das europaweite Verbot
illegalen Holzhandels ist eine gute Nachricht für den
Klima- und Urwaldschutz.
Wir haben uns immer für sinnvolle und praktikable
Lösungen starkgemacht: Die jetzt erzielte Lösung beinhaltet wirksame Kontrollmaßnahmen mit vertretbaren
bürokratischen Belastungen für die betroffenen Akteure.
Deswegen freuen wir uns, dass die Verordnung nun unser
Vertrauen in nachhaltig wirtschaftende Kleinwaldbesitzer ausdrückt. Die Einführung des Begriffs des „vernachlässigbaren Risikos“ führt zu einer vereinfachten
Nachweispflicht. Die Kleinwaldbesitzer müssen nicht
mehr gesondert nachweisen, dass sie ihr Holz tatsächlich
legal geschlagen haben. Hier musste die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Angesichts von 1 Million Kleinwaldbesitzern in Deutschland ist dies eine wichtige Entscheidung, die Bürokratielasten mindert.
Der Schwerpunkt der Nachweispflichten liegt auf dem
Erstinverkehrbringer. Sie gewährleisten die vom Parlament geforderte Rückverfolgbarkeit von illegalen Holzprodukten. Die Kennzeichnung jedes einzelnen Holzbleistifts, jedes einzelnen Holzspielzeugs konnte abgewehrt
werden. Gleichzeitig werden mit der Einführung eines
Verbots des Handels mit illegalen Holzprodukten berechtigte Forderungen der Umweltschutzverbände, bezogen
auf die Erstinverkehrbringer, berücksichtigt. Die vereinfachten Informationspflichten für die Handelskette verhindern einen bürokratischen Papierkrieg. Diesem Ziel
dient auch das Streichen der Pflicht des Nachweises von
Recyclingprodukten. Die Einbeziehung dieses umfangreichen Feldes hätte eine kaum zu überblickende Ausweitung der Kontrollen und des bürokratischen Aufwandes
bedeutet.
Die EU hat im Jahr 2006 zwar ungefähr ein Drittel ihres Rohholzes aus Drittstaaten importiert, ist aber weltweit gesehen nicht der größte Importeur von Holz und
Holzprodukten. Für uns ist daher die Frage berechtigt,
wie effektiv der Einfluss europäischer Regelungen auf
den weltweiten Holzhandel ist. Wir mussten in der Vergangenheit feststellen, dass beispielsweise die Zertifizierung der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Regierungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den
erhofften Erfolg gebracht hat. Eine Reihe von Ländern,
beispielsweise China, ist nach wie vor bereit, nichtzertifiziertes Holz oder solches mit fragwürdigen Dokumenten in riesigen Mengen zu importieren und zu verarbeiten. Vor diesem globalen Hintergrund unterstützt die
FDP vor allem die Strategie, parallel zu den Handelsverboten über freiwillige Partnerschaftsabkommen mit
Drittstaaten eine nachhaltige und sozial gerechte Waldbewirtschaftung im Sinne einer fairen Entwicklungshilfe
voranzutreiben. Der Raubbau an wertvollen Urwaldflächen kann nur durch eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vor Ort gestoppt werden. Ohne die
Teilnahme der betroffenen Menschen in diesen Staaten
kann eine nachhaltige Waldbewirtschaftung nicht erreicht werden.
Wir freuen uns, dass es den europäischen Institutionen
unter Beteiligung der Bundesregierung gelungen ist, zu
einem zielführenden Ergebnis zu kommen. Der Kompromiss wird voraussichtlich Anfang Juli im EU-Parlament
verabschiedet werden. Ich bin überzeugt, dass damit ein
Instrument geschaffen wird, das helfen kann, den Raubbau der wertvollen Urwälder einzudämmen, insbesondere wenn es der EU gelingt, über Partnerschaftsabkommen mit möglichst vielen Staaten nachhaltige und
effektive bilaterale Vereinbarungen zu treffen. Aus den
genannten Gründen sind wir der Meinung, dass sich die
Grundlage des Antrags der SPD-Fraktion durch die
Kompromissvorschläge im Komitologieverfahren aufgelöst hat. Wir lehnen den Antrag der SPD somit ab.
Seit drei Wochen rollt der Ball. Endlich einmal eine
Fußballweltmeisterschaft in Afrika. Wir haben das eine
oder andere wirklich schöne Spiel gesehen. Fanfeste
wurden gefeiert, Tore bejubelt, Bier getrunken, Würste
gegrillt. Gute Stimmung und Gartenpartys standen die
Zu Protokoll gegebene Reden
letzten Wochen auf dem Programm. Bei aller Freudetrunkenheit wird der Blick auf die Herkunft der Produkte
um uns herum jedoch gerne vernebelt. Ich finde es nicht
nur wichtig, zu wissen, wer die Grillwürstchen hergestellt hat und wie die Nutztiere vorher gelebt haben. Ich
finde es nicht nur wichtig, zu wissen, wo das Bier gebraut wurde und ob die Landwirtinnen und Landwirte
für ihre Braugerste einen fairen Preis erhalten haben.
Ich finde es genauso wichtig, zu wissen, ob die Holzkohle aus einer legalen und nachhaltigen Waldbewirtschaftung stammt und ob die Gartenmöbel vielleicht aus
illegalem Raubbau stammen. Gerade Gartenmöbel werden oft aus tropischen Hölzern hergestellt. Diese versprechen durch ihr langsames Wachstum und damit härteres Holz eine längere Lebensdauer für Stühle, Tische
und Liegen.
Doch so einfach ist das nicht. Man kann sich leider
nicht sicher sein, dass alles mit rechten, also ökologisch
und sozial verantwortungsvollen Dingen zugegangen
ist. Illegaler Raubbau in den Wäldern des Südens und
teilweise auch Ostens ist immer noch auf der Tagesordnung, leider. Illegaler Raubbau muss geächtet werden.
Ihm ist durch wirksame Handelseinschränkung die
Grundlage zu entziehen. Genau vor dieser Aufgabe steht
die Europäische Union. Darüber wurde in den vergangenen Monaten trefflich gestritten. Im Rahmen der EUGesetzgebung könnte mittels einer wirklich wirksamen
EU-Verordnung ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung
des illegalen Raubbaus geleistet werden. Wirklich wirksame Maßnahmen - beispielsweise die Kontrolle der gesamten Wertschöpfungskette in Kombination mit einem
Verbot des Handels mit illegalem Holz - wurden lange
von der Bundesregierung und anderen Mitgliedstaaten
im Agrarministerrat blockiert. Doch das beständige
Lobbying von WWF, Greenpeace, Robin Wood und anderen Umwelt- und Naturschutzverbänden hat Wirkung
gezeigt. Auch die Oppositionsfraktionen von SPD, Grünen und Linken haben die Bundesregierung immer wieder aufgefordert, sich einer wirksamen Verordnung nicht
länger in den Weg zu stellen. Die nun zu erwartende EUVerordnung auf EU-Ebene darf gerne als Erfolg dieses
gemeinsamen Engagements gewertet werden. Denn
Deutschland ist in der EU immer ein wichtiger Taktgeber, sowohl beim Befördern von Ideen als auch beim
Blockieren von Vorschlägen.
Nun ist der Weg für ein europäisches Holzhandelsgesetz frei. Kommission, Parlament und Ministerrat der
Europäischen Union haben sich auf einen gemeinsamen
Entwurf für ein solches Gesetz verständigt. Ich hoffe,
dass der euphorischen Meldung des WWF: „EU nimmt
Kampf gegen illegalen Holzhandel auf“ eine wirksame
EU-Verordnung folgen wird. Der Kompromissentwurf
soll im Juli vom Parlament und im Herbst vom Ministerrat verabschiedet werden. Danach muss ernsthaft und
wirksam an der Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten gearbeitet werden. Darauf wird die Linke die
kommenden Jahre achten.
Bei aller Freude über den bevorstehenden Abschluss
der EU-Verordnung, möchte ich trotzdem schon mal
Nachbesserungsbedarf anmelden. Mittelfristig wird
diese Verordnung auf ihre Wirksamkeit überprüft und
überarbeitet werden müssen. Dabei sollten einige
Punkte, die jetzt unter den Tisch gefallen sind, einbezogen werden. Beispielsweise: Bücher, Zeitungen und andere Druckerzeugnisse müssen in die Regelungen eingeschlossen sein. Doch natürlich bietet sich auch hier die
- meiner Meinung nach sinnfreie - Möglichkeit, illegales tropisches Holz auf den europäischen Markt zu bringen. Das muss kritisch im Auge behalten werden.
Die Linke unterstützt den Antrag der SPD. Er fasst
die auch aus unserer Sicht nötigen Kriterien einer wirksamen EU-Verordnung zusammen. Dass nur Teile davon
wirklich umgesetzt werden, anstatt alle Forderungen zu
erfüllen, ist zu kritisieren. Aber es ist wichtig, dass nun
das Gesetzgebungsverfahren zum Holzhandelsgesetz abgeschlossen wird. Diesen Antrag hätten wir problemlos
gemeinsam einreichen können, wahrscheinlich sogar zu
dritt. Das ist leider - noch nicht - gewollt. Dem Antrag
stimmen wir trotzdem zu.
Die Einigung von Kommission, Rat und EU-Parlament über eine europäische Holzhandelsverordnung
Mitte dieses Monats kam - um ehrlich zu sein - überraschend schnell. Ich hatte mit einem längeren Gezerre gerechnet, und ich nehme an, meinen Parlamentskollegen
ging es nicht viel anders. Vor diesem Hintergrund kann
man sagen: Dieser Antrag, mit dem die SPD die vorgelegte Holzhandelsverordnung im Rahmen des FLEGTPlans verschärfen wollte, kam gerade noch rechtzeitig.
Diesen SPD-Antrag haben wir von Anfang an unterstützt, weil die von der Kommission vorgeschlagenen
Sorgfaltspflichten für Holzhändler ohne ein Importverbot für illegales Holz unvollständig und unzureichend
gewesen wären. Nach dieser Einigung ist der vorliegende Antrag nahezu gegenstandslos geworden, aber
nur nahezu; denn die abschließende Bestätigung der Einigung durch das EP und den Ministerrat stehen noch
aus. Theoretisch könnte diese Einigung also noch scheitern. An dieser Stelle möchte ich jedoch an alle Beteiligten appellieren, die Einigung zu bestätigen. Aus meiner
Sicht lohnt es sich, diesen im Trialogverfahren erzielten
Kompromiss zu beschließen. Denn gegenüber der Kommissionsvorlage und dem Ministerratsvotum konnten
entscheidende Verbesserungen durchgesetzt werden. So
wird die Verordnung zukünftig im Kern ein Importverbot
für illegales Holz beinhalten. Außerdem muss Holz auf
dem EU-Markt zukünftig eine nachweisbare Herkunft
haben. Bei Verstößen sollen Strafen verhängt werden.
Die seit Jahren geführte Diskussion um ein nationales oder ein EU-weites Verbot von illegalem Holz hat damit hoffentlich ein vorläufiges Ende gefunden. Mit dieser Forderung sind wir in der letzten Legislaturperiode
regelmäßig an einer schwarz-gelben Mehrheit gescheitert, die alle Vorstöße in diese Richtung hat an sich abtropfen lassen, ohne sich auch nur je einmal zur Forderung nach einem EU-weiten Importverbot für illegal
geschlagenes Holz zu bekennen. Von daher bin ich froh,
dass wir nun hoffentlich einige Schritte weiter sind.
Nun müssen die neuen Regelungen zunächst erst einmal in Kraft treten und ein paar Jahre lang wirken, daZu Protokoll gegebene Reden
mit man beurteilen kann, ob sie ausreichend sind oder
ob eine Nachbesserung notwendig ist. Der sechs Jahre
nach Inkrafttreten von der Kommission vorzulegende
Bericht sollte dafür genutzt werden, diese Zwischenbilanz zu ziehen und gegebenenfalls einen neuen legislativen Prozess in Gang zu setzen.
An dieser Stelle kann ich natürlich nicht verhehlen,
dass wir Grüne mit dieser Einigung keineswegs vollständig zufrieden sind, sondern noch weitergehende
Forderungen und Vorstellungen hatten. Das fängt schon
mit der viel zu langen Frist von 27 Monaten bis zum Inkrafttreten der Regelungen an. In der Sache sind wir
nicht wirklich überzeugt davon, dass die Maßnahmen
auf die Erstinverkehrbringer konzentriert werden und
dass für die nachgelagerte Handelskette nur einfache
Informationspflichten gelten sollen. Problematisch ist
es, dass Betriebe mit vernachlässigbarem Risiko von
Nachweisverfahren entbunden werden sollen, weil diese
Ausnahme ein Schlupfloch für die Einschleusung von illegalem Holz sein kann. Spätestens wenn ein Betrieb
mehr Holz vermarktet, als er nachhaltig ernten kann,
wäre mein Misstrauen geweckt. Da dieser Betrieb jedoch von jeglicher Nachweisverpflichtung befreit ist, erfahre ich das nicht. Und besonders kritisch sehen wir,
dass Druckerzeugnisse von den Regelungen ausgenommen sein sollen. Denn das heißt, dass in diesem Marktsegment keine Vorkehrungen gegen den Einsatz illegalen Holzes getroffen werden müssen.
Aus diesem Grund werden wir Grüne die neue Verordnung sehr genau daran messen, ob sie den hohen Erwartungen tatsächlich gerecht wird und den Import illegalen
Holzes in die EU stoppen kann oder ob Änderungen notwendig sind. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der
Frage, ob die Sanktionen bei Verstößen für eine Wirksamkeit der Verordnung ausreichend sein werden. Aber
auch die Frage, ob es richtig war, bestimmte Holzprodukte von den Regelungen auszunehmen, muss mit Einschränkungen im Rahmen einer Zwischenbewertung
noch einmal überdacht werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2315, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1962 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Priska Hinz ({0}), Dr. Petra Sitte,
Kerstin Andreae und weiterer Abgeordneter
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirats
zu Fragen der Ethik ({1})
- Drucksache 17/1806 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Thomas
Feist, Rudolf Henke, René Röspel, Dr. Martin Neumann,
Dr. Petra Sitte, Priska Hinz.
Am 26. November des letzten Jahres hat der Deutsche
Ethikrat seine erste Stellungnahme zur anonymen Kindesabgabe veröffentlichtet. Am 15. Juni dieses Jahres
folgte die zweite Stellungnahme zu Humanbiobanken in
der Forschung. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich
nicht nur beim wissenschaftlichen Fortschritt neue ethische Fragestellungen, sondern dass sich in allen gesellschaftlichen Bereichen ethische Fragen ergeben, welche
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Gesetzgeber vor zahlreiche Herausforderungen stellen.
Ich habe die jüngst veröffentlichten Stellungnahmen
intensiv gelesen und bin den Mitgliedern des Deutschen
Ethikrates dankbar, dass sie mit diesen Ausarbeitungen
anerkannten Sachverstand in die gesellschaftliche und
politische Debatte einbringen. Es war richtig, dass der
Deutsche Bundestag mit dem Gesetz zur Einrichtung des
Deutschen Ethikrates im Jahr 2007 ein unabhängiges
Expertengremium geschaffen hat, welches das Parlament und die Bundesregierung berät. Zur parlamentarischen Begleitung und Unterstützung der Debatten des
Deutschen Ethikrates wurde vom Deutschen Bundestag
in der letzten Wahlperiode zusätzlich der Parlamentarische Beirat zu Fragen der Ethik insbesondere der Lebenswissenschaften, Ethikbeirat, eingesetzt.
Im Tätigkeitsbericht des Ethikbeirates der letzten
Wahlperiode wurde die Erforderlichkeit einer parlamentarischen Begleitung der Beratungen über ethische
Grundsatzfragen und der Arbeit des Deutschen Ethikrates durch alle Fraktionen anerkannt. Auch aus den Diskussionen in der letzten Wahlperiode zur Einrichtung
des Deutschen Ethikrates ist deutlich geworden, dass Einigkeit in diesem Hohen Hause über die Notwendigkeit
besteht, ethische Fragestellungen in den politischen
Entscheidungsprozess verantwortlich mit einzubeziehen.
Ich teile somit die Einschätzung, dass die Berücksichtigung ethischer Fragen eine wesentliche Aufgabe der
Politik darstellt und dass der Kontakt zum Deutschen
Ethikrat daher unerlässlich ist. Ich komme allerdings
nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Tätigkeitsbericht über die Arbeit des Ethikbeirates zu der
Überzeugung, dass dies auf anderen Wegen besser gelingen wird als durch die Wiedereinsetzung dieses Gremiums. Aus diesem Grund kann sich die Fraktion der
CDU/CSU dem vorliegenden Gruppenantrag nicht anschließen.
Persönlich bin ich der Meinung, dass sich alle Abgeordneten mit den Fragen der Ethik im politischen Entscheidungsprozess befassen müssen. Hierfür sind
direkte Kommunikationswege zwischen dem Ethikrat
und dem Deutschen Bundestag - und zwar ohne Einschaltung eines weiteren Gremiums - wichtig. Bei der
Einrichtung des Deutschen Ethikrates war es das erklärte Ziel, den Deutschen Ethikrat als Beratungsinstanz
für alle Abgeordneten zu profilieren. Wir dürfen daher
als Abgeordnete nicht die Verantwortung für die Entscheidung von ethischen Fragestellungen auf wenige
Parlamentarier delegieren. Die Befürchtung, dass der
Ethikbeirat nicht als Scharnier, sondern eher als Flaschenhals für ethische Fragen auf dem Weg in den Deutschen Bundestag fungiert, ist nicht von der Hand zu weisen. Diese Befürchtung wurde auch nicht durch die
Tätigkeit dieses Gremiums in der letzten Legislaturperiode entkräftet. Eher bestätigt sich der Eindruck,
dass der Ethikbeirat die breite Auseinandersetzung der
Abgeordneten mit der Thematik erschwert hat. Ein weiterer Kritikpunkt: Ich halte ich es nicht für zielführend,
dass der Ethikbeirat sich auf dem Wege der Selbstbefassung selbst Themenschwerpunkte suchen, Anhörungen
durchführen und inhaltliche Empfehlungen abgeben
kann. Es ist aus meiner Sicht nicht sinnvoll, hiermit
quasi ein parlamentarisches Gegengremium zum Deutschen Ethikrat zu institutionalisieren, welches sich möglicherweise parallel mit ähnlichen Themen beschäftigt
und zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen kann.
Dies ist weder zweckmäßig noch effizient, vor allem
wenn man bedenkt, dass der Deutsche Bundestag dem
Deutschen Ethikrat im Jahr 2009 knapp 1,7 Millionen
Euro für seine Arbeit zur Verfügung gestellt hat.
Im parlamentarischen Diskussions- und Entscheidungsprozess muss deutlich werden, dass alle Abgeordneten gleichermaßen gefordert sind, sich über ethische
Problemstellungen zu informieren und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Es muss dabei aber der
Verantwortlichkeit jedes Parlamentariers überlassen
sein, wie und in welchem Umfang die Empfehlungen des
Ethikrates in der eigenen Arbeit zum Tragen kommen.
Die Wiedereinsetzung des Ethikbeirates würde dagegen
den Eindruck erwecken, dass der Deutsche Bundestag
die wichtigen Fragen der Ethik an ein Gremium wegdelegiert, welches stellvertretend für die Abgeordneten tätig wird. Ich möchte an dieser Stelle aus der Rede des
Bundestagspräsidenten, Dr. Nobert Lammert, vom
9. November 2006 zur Einsetzung des Deutschen Ethikrates zitieren:
Wir können alle miteinander kein Interesse daran
haben, dass der Eindruck entsteht, es gebe im Deutschen Bundestag eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht interessiert oder indifferent. Im
Übrigen wäre dies nicht nur ein verheerender, sondern auch ein falscher Eindruck, der insbesondere
in dieser Kombination kaum akzeptabel wäre.
Diesen prinzipiellen Punkt möchte ich vor dem Hintergrund des Gruppenantrages noch einmal unterstreichen. Ethische Fragestellungen müssen von den Abgeordneten in den Ausschüssen, im Plenum des Deutschen
Bundestages und im Dialog mit den Experten des Deutschen Ethikrates diskutiert werden.
Ich halte die direkten Möglichkeiten der Kommunikation zum Deutschen Ethikrat für die bessere Variante als
die verengte Kommunikation über ein zusätzliches Gremium wie den Ethikbeirat. Daher begrüße ich es ausdrücklich, dass der Deutsche Ethikrat angekündigt hat,
in regelmäßigen Abständen parlamentarische Abende
und andere thematische Veranstaltungen zu organisieren, um mit den Abgeordneten ins Gespräch zu kommen.
Der erste parlamentarische Abend im März dieses
Jahres war bereits ein voller Erfolg. Die Vielzahl der anwesenden Mitglieder des Deutschen Bundestages hat
deutlich gezeigt, wie groß das Interesse der Politiker am
direkten Kontakt mit den Sachverständigen ist. Die Mitglieder des Deutschen Ethikrates diskutierten mit den
Abgeordneten über die von ihm abgegebenen Stellungnahmen und informierten über weitere Vorhaben. Darüber hinaus boten sie an, die Abgeordneten auch durch
persönliche Stellungnahmen in den jeweiligen Ausschüssen zu unterstützen.
Die Diskussion mit den Mitgliedern des Ethikrates in
den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und auf
parlamentarischen Abenden oder auf anderen Veranstaltungen des Deutschen Ethikrates halte ich für den
zweckmäßigeren Weg, um die Arbeit des Deutschen
Ethikrates parlamentarisch zu begleiten und ethische
Fragestellungen im politischen Prozess zu berücksichtigen. Ich stelle fest, dass sich der Ethikbeirat nicht bewährt hat. Es ist legitim, Gremien, die ihre Aufgabe
nicht erfüllen konnten, nicht wieder einzusetzen. Gerade
in diesem Fall gibt es bessere Wege, um die parlamentarische Begleitung ethischer Fragestellungen sicher zu
stellen. Die Nichtwiedereinsetzung des Ethikbeirates
verbindet aus meiner Sicht höchstmögliche Durchlässigkeit der beiderseitigen Kommunikation mit der Entbürokratisierung des parlamentarischen Betriebes und spart
finanzielle Mittel in Zeiten knapper Haushaltskassen
ein, die zum Betrieb des Ethikbeirates notwendig wären.
Die CDU/CSU-Fraktion wird sich daher dem Antrag auf
eine Wiedereinsetzung des Ethikbeirates aus guten
Gründen nicht anschließen.
Im Zuge des raschen Fortschritts und wachsender
Möglichkeiten in der medizinischen Forschung gibt es
ständig neue Therapieansätze und Diagnoseverfahren,
die Heilung von bisher nicht oder nur begrenzt heilbaren
Erkrankungen ermöglichen oder zumindest in Aussicht
stellen. Manche dieser Entwicklungen werfen ethische,
gesellschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische
und rechtliche Fragen nach den voraussichtlichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft auf, die sich
im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen im Bereich der Lebenswissenschaften und ihrer
Anwendung auf den Menschen ergeben. Uns allen ist die
Spannung zwischen Stammzellforschung und Embryonenschutz präsent. Solche Fragen berühren unser Verständnis von Gesundheit, Krankheit, Behinderung sowie
unsere verfassungsrechtliche Verantwortung für den
Schutz der Würde des Menschen.
Hier handelt es sich um einen vielfältigen Themenkreis, der zum Beispiel die Möglichkeiten und Grenzen
Zu Protokoll gegebene Reden
der Medizin an der Schwelle zwischen Leben und Tod,
der Organspende, die Frage des Verhältnisses von Aufwand und Erfolg einzelner Behandlungen auch im Blick
auf die Kosten und damit einhergehend die Verteilung
von Gesundheitsgütern oder auch Rechte und Pflichten
beim Impfen berührt. Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs zum Abbruch künstlicher Ernährung während
eines Wachkomas erinnert uns aktuell an die Tragweite
und Schwierigkeit derartiger Fragen.
Es ist notwendig, dass diese Themen, die unsere ethische Haltung zu Gesundheit, Krankheit und Behinderung berühren, von Abgeordneten des Deutschen Bundestages wahrgenommen und thematisiert werden.
Begleitet und beraten werden wir seit 2007 bei der
Bearbeitung und Erörterung solcher Fragen vom Deutschen Ethikrat. Dieses Gremium, das bewusst ohne Mitglieder aus dem Kreis der Abgeordneten eingerichtet
wurde, hat die Aufgabe, dem gesamten Parlament in aktuellen Fragen der Lebenswissenschaften zur Verfügung
zu stehen.
Unsere Fraktion ist zu dem Ergebnis gekommen, dass
es dafür keiner weiteren parlamentarischen Institution
bedarf, die eine Art „Scharnierfunktion“ innehätte, indem sie etwa aktuelle bio- und medizinethische Themen
sammelt, um sie dann an den Deutschen Ethikrat weiterzuleiten.
Ich denke, dass die Möglichkeiten eines solchen Beirats von manchen seiner Befürworter überschätzt werden.
Im Unterschied dazu brauchen wir einen direkten
Dialog zwischen den Mitgliedern des Deutschen Ethikrats und dem Parlament. Hierfür ist aber keine „Vorinstanz“ nötig.
Unser Bundestagspräsident Norbert Lammert hat
einmal gesagt, dass wir - alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages - kein Interesse daran haben können, dass der Eindruck entsteht, es gäbe im Parlament
nur eine kleine Anzahl von Ethikexperten, aber der
große Rest sei bei ethischen Fragen entweder nicht interessiert oder indifferent. Ein Parlamentarischer Beirat
erweckt jedoch genau diesen Eindruck, da nur eine begrenzte Anzahl von Abgeordneten aller Fraktionen in
diesem Gremium zusammenarbeiten würden.
Es gibt, wie schon erwähnt, eine Vielzahl von ethischen Themen, die wir in diesem Hause aufgreifen und
bearbeiten müssen. In der Vergangenheit wurde deutlich, dass die Mehrzahl der Themen aufgrund ihrer hohen Komplexität in die Zuständigkeit mehrerer Fachausschüsse fallen. Daher ist eine fachliche Befassung und
eine intensive ressortübergreifende Bearbeitung im gesamten Deutschen Bundestag statt in geschlossenen Zirkeln erforderlich. Somit ist es sinnvoll, den Kontakt und
die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Ethikrat zu intensivieren, sozusagen den Ethikrat auf direktem Wege
anzusprechen. Mit dem Gesetz zur Einrichtung des
Deutschen Ethikrates hat der Deutsche Bundestag festgelegt, dass das Parlament aus sich heraus den Ethikrat
um Stellungnahmen bitten kann.
In ethischen Fragen sind wir alle in diesem Parlament dazu verpflichtet und dafür verantwortlich, sich
gewissenhaft und sehr genau abwägend mit jedem einzelnen Thema zu befassen. Zur Gewissensbildung können wir die Stellungnahmen und Empfehlungen des
Deutschen Ethikrates heranziehen. Unser Urteil müssen
wir jedoch auf Grundlage unserer eigenen ethischen und
moralischen Vorstellungen und Wertungen bilden.
Synthetische Biologie, Nanobiotechnologie, die
Grenzen der Sterbehilfe oder die Nutzung knapper Ressourcen im Gesundheits- und Pflegewesen - durch Fortschritte insbesondere im Bereich der modernen Lebenswissenschaften werden wir als Gesellschaft und als
Politik seit Jahren vor alte wie neue ethische Herausforderungen gestellt. Das wohl bekannteste Beispiel für
diese Entwicklung ist die jahrelange Debatte über die
Chancen und Grenzen der Forschung an und mit
menschlichen embryonalen Stammzellen. Diese Probleme und Herausforderungen muss ein technikbegleitendes und -gestaltendes Parlament in gesetzgeberisches Handeln übersetzen.
Wir legen heute in erster Lesung dem Deutschen Bundestag den unterschriftenstärksten Gruppenantrag in
der Geschichte unseres Parlaments zur Beratung vor.
241 Abgeordnete haben mit ihrer Unterschrift diesen
Antrag unterzeichnet. Dies ist ein starkes Signal für eine
aktive Rolle des Parlaments in den kommenden Beratungen über ethische Herausforderungen insbesondere in
den Lebenswissenschaften.
Mit der Ersetzung des vom Bundeskabinett von Kanzler Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikrates durch einen Deutschen Ethikrat hat die damalige Koalition von SPD und CDU/CSU im Jahr 2007 einen
guten Schritt getan, um die Legitimation des Ethikrates
auszuweiten und gesetzlich festzuschreiben. Dies war
ein richtiger Schritt, um die Beratungstätigkeit des
Ethikrates zu verstetigen. Heute ist der Deutsche Ethikrat das auch international sichtbarste biomedizinische
und bioethische Beratungsgremium in Deutschland.
Wir als SPD haben uns damals immer dafür eingesetzt, dass der Ethikrat als Beratungsgremium parlamentarisch angebunden sein muss, wenn seine Empfehlungen in politische Beratungen und - gegebenenfalls politisches Handeln einfließen sollen. Daher haben wir
uns als Mitglieder der SPD-Fraktion - gegen Widerstände vonseiten der CDU und CSU - für einen Ethikbeirat eingesetzt und tun dies auch heute.
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des
Gruppenantrages setzen sich für einen Ethikbeirat ein,
der stärker als in der vergangenen Legislaturperiode
auch eigene inhaltliche Akzente setzen kann. In der vergangenen Wahlperiode hat der Ethikbeirat leider auf
Wunsch der Fraktion von CDU und CSU nur ein begrenztes - und in Teilen unklares - Mandat erhalten.
Wir korrigieren mit dem vorliegenden Gruppenantrag
die - damals von Unionsseite gewollten - Defizite des
„alten“ Ethikbeirates.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hierbei knüpfen wir ausdrücklich auch an den Antrag
der Fraktion der FDP an, die im November 2006 einen
Antrag zur „Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates für Bio- und Medizinethik“ in die Beratungen eingebracht hatte. Warum sich trotzdem bisher aus der
Fraktion der FDP fast keine Abgeordnete bzw. kein Abgeordneter unserer Gruppeninitiative angeschlossen
hat, ist mir nicht verständlich. Ich kann mir dies nur damit erklären, dass CDU und CSU unter Verweis auf die
Koalitionsvereinbarung viele der Mitglieder der FDPFraktion von einer Unterstützung abgehalten haben.
Dabei hatte der FDP-Abgeordnete Michael Kauch am
9. November 2006 im Bundestag noch richtigerweise
festgestellt: „Ohne parlamentarische Begleitung bleibt
der Ethikrat aber ein Torso.“ Genau dies wollen wir mit
unserem Antrag verhindern.
Der Ethikbeirat soll sich - wie schon in der vergangenen Legislaturperiode erfolgreich praktiziert - regelmäßig mit dem Ethikrat und seinen Mitgliedern austauschen. So können wir sicherstellen, dass das Parlament
über den Fortgang der Beratungen im Ethikrat regelmäßig informiert wird und nicht erst nach der Veröffentlichung von Stellungnahmen über kommende Fragestellungen in Kenntnis gesetzt wird. Gleichzeitig können der
Ethikbeirat und seine Mitglieder dem Deutschen Ethikrat
signalisieren, welche Themen aus Sicht des Parlaments
eine besondere Relevanz hätten. Auch eine Tendenz, wie
bestimmte Regelungsvorschläge im parlamentarischen
Umfeld aufgenommen werden würden, ließe sich durch
einen regelmäßigen Austausch zwischen Deutschem
Ethikrat und Beirat zumindest andeuten. Der Ethikrat
hätte dann die Möglichkeit, in seinen Stellungnahmen
bestimmte Fragen oder Punkte, die von besonderem Interesse für die interessierten Mitglieder des Bundestages
sind, noch ausführlicher darzustellen, was sich positiv
auf die politische Anschlussfähigkeit der Stellungnahmen auswirken dürfte.
Zur Verbreiterung der Ethikdebatte im Parlament
sieht unser Antrag auch vor, die Zahl der Mitglieder des
Ethikbeirates auf 18 zu erhöhen. So ist möglich, dass
sich mehr Mitglieder des Bundestages über ihre Mitarbeit im Ethikbeirat über ethische Problemfragen austauschen und informieren und Themen in die parlamentarische Beratung tragen. An Themen wird es weder
Ethikbeirat noch dem Deutschen Ethikrat mangeln.
Trotz der offenkundigen positiven Rückwirkungen für
die Ethikdebatte in Deutschland haben Vertreter der
CDU/CSU den Gruppenantrag bereits öffentlich abgelehnt. Das finde ich bedauerlich. Die hierbei verwendeten Argumente sind jedoch nicht stichhaltig.
Nachgerade absurd ist insbesondere das Argument,
dass in Zeiten der Kostensenkung ein Ethikbeirat eine
vermeidbare finanzielle Belastung darstelle. Als ob die
Informationsmöglichkeiten des Parlaments der erste
Punkt sind, bei dem man finanzpolitisch - nach Steuergeschenken für Hoteliers - das Sparen beginnen sollte.
Auch die Möglichkeit, dass die Berichterstatterinnen
und Berichterstatter im Forschungsausschuss den Gesprächsfaden zum Ethikrat aufrechterhalten sollen, ist
ein nicht tragfähiger Vorschlag, wie schon der Blick auf
die aktuellen Themen des Ethikrates zeigt. So fallen die
Grenzen der Chimären- und Hybridbildung sicher
({0}) in die Kompetenz des Forschungsausschusses.
Bei Fragen der Sterbehilfe, der Selbstbestimmung und
Demenz oder der Intersexualität sieht dies jedoch schon
ganz anders aus. Genau deswegen braucht der Bundestag ein Gremium, welches sich gezielt mit ethischen
Streitfeldern und Problemen auseinandersetzt. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die vom Ethikrat diskutierten Themen zwischen die Schnittstellen der Bundestagsausschüsse fallen.
Dieser Ethikbeirat kann und soll nicht nur als Gesprächspartner für den Deutschen Ethikrat fungieren,
sondern auch Kontaktmöglichkeiten für Verbände, Interessengruppen und interessierte Bürgerinnen und Bürger
bieten. Er ist - dies muss man immer wieder betonen kein Gegengremium zum Deutschen Ethikrat, sondern er
ergänzt die Institution Ethikrat wirksam und sinnvoll.
Wie die Erfahrung der letzten Legislaturperiode zeigt,
sehen dies auch die Mitglieder des Ethikrates so. Bei einer Ablehnung des nun vorliegenden Einsetzungsantrages besteht eine Gefahr, die auch von Mitgliedern des
Deutschen Ethikrates gesehen wird: dass die Arbeit des
Ethikrates im politischen „Nirwana“ endet und die
meist mühevoll erarbeiteten Stellungnahmen ad acta gelegt werden, sobald sie gedruckt wurden. Dies wäre
dann eine echte Verschwendung von Steuergeldern, die
doch offenkundig von Mitgliedern der Fraktion von
CDU und CSU vermieden werden soll.
Dass die enge Verbindung von ethischer Experteninstitution und Parlament zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit führen kann, zeigt das Beispiel Dänemark.
Als ein seit 1987 bestehendes Beratungsgremium hat der
Dänische Ethikrat über die Jahre viel Lob für seine Arbeit erhalten. Ein wichtiger struktureller Bestandteil der
Arbeit des Dänischen Ethikrates war und ist das parlamentarische Begleitgremium, welches die Tätigkeit des
Rates begleitet. Dieser dänische „Ethikbeirat“ - wenn
man ihn so nennen darf - beeinflusst sogar die Besetzung des Dänischen Ethikrates. Man kann daher sagen,
dass ein Baustein der erfolgreichen Arbeit des Dänischen Ethikrates die enge Verbindung zum Parlament
ist. Von diesem erfolgreichen Beispiel wollen wir lernen.
Für die „alternativen Vorschläge“ zur Vernetzung
von Parlament und Ethikrat - wie sie etwa der Unionsabgeordnete Dr. Thomas Feist in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 18. Mai 2010 präsentiert hat gibt es hingegen keine erfolgreichen internationalen
Vorbilder oder Beispiele. Solche Vorschläge lassen demokratische Legitimation und gewohnte Transparenz
vermissen.
Der Bundestag benötigt „ein parlamentarisches Gegenüber, wenn der Gesetzgeber seine eigene bioethische Kompetenz nicht weiter auslagern und relativieren
will“ - diese Feststellung stammt nicht von einer Abgeordneten oder einem Abgeordneten, der den Gruppenantrag unterzeichnet hat; diese Feststellung stammt von
Mechthild Löhr, der Bundesvorsitzenden der Christdemokraten für das Leben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist mir vollkommen unverständlich, warum offenkundig gerade die Fraktion von CDU und CSU ihren
Mitgliedern untersagt hat, den Gruppenantrag mit zu
unterzeichnen. Stattdessen scheint die Unionsfraktionsführung darauf zu drängen, dass in der Schlussabstimmung die Koalitionsfraktionen den Gruppenantrag geschlossen ablehnen.
Wir fordern Sie auf: Beenden Sie diese koalitionstaktischen Spielchen und geben Sie die Abstimmung über
den vorliegenden Gruppenantrag frei! Spätestens wenn
im Bundestag die nächste Stammzell- oder Sterbehilfedebatte ansteht, werden Sie sehen, dass der Ethikbeirat
ein wichtiges und sinnvolles Gremium ist.
Der Parlamentarische Ethikbeirat der 16. Legislatur
konstituierte sich am 23. April 2008. Die grundlegende
Aufgabe sollte sein, das Parlament in ethischen Fragen
zu unterstützen und die Arbeit an solchen Fragestellungen zu begleiten. Der Beirat sollte somit ein parlamentarisches Begleitgremium, eine „Scharnierstelle“ zwischen dem Deutschen Ethikrat und dem Parlament sein.
Heute debattieren wir über einen Antrag zur erneuten
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates zu Fragen der Ethik in der 17. Wahlperiode. Doch bevor ein
solches Gremium erneut wieder aufersteht, lohnt es sich,
kritisch auf die Ergebnisse und Arbeitsweisen des Beirates der letzten Legislatur zu schauen. Die Unterrichtung
vom Juli 2009 durch den Parlamentarischen Beirat zu
Fragen der Ethik insbesondere in den Lebenswissenschaften, Bundestagsdrucksache 16/13780, lässt einige
interessante Rückschlüsse zu.
So heißt es im dritten Abschnitt zum Selbstverständnis
und zur Arbeitsweise des Ethikbeirats: „Selbstverständnis und die Arbeitsweise des Ethikbeirates sind jedoch
noch nicht abschließend geklärt.“ Das Gleiche gilt für
das Selbstbefassungsrecht. Dies blieb ebenfalls ungeklärt. Inhaltliche Beschlüsse und Empfehlungen zu Berichten des Ethikrats zu fassen, fällt auch nicht in das
Aufgabengebiet des Ethikbeirates. Anhörungen fanden
mangels Selbstbefassungsrecht auch nicht statt. Das alles ist außerordentlich bedenklich. Wozu soll dieser Beirat nun eigentlich dienen? In einer bunten Runde Themen zu besprechen, die als relevant identifiziert worden
waren, ist sicher nicht verkehrt. Aber wo bleibt das Ziel?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie
doch mal ganz ehrlich: Für das, was in den letzten Jahren im Ethikbeirat besprochen worden ist, braucht es da
die gesamte Maschinerie eines parlamentarischen Beirates? Eine weitere Bühne für bereits geführte Fachdiskussionen brauchen wir nicht.
In den Ausschüssen wird demnächst eine Verständigung darüber erfolgen, inwieweit es einer Moderation
zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Deutschen
Ethikrat bedarf oder ob nicht andere Formen der Zusammenarbeit effektiver und in der Sache zielführender
sind.
Wir dürfen nicht vergessen: Der Deutsche Ethikrat in
seiner heutigen Form hat eine demokratische Legitimation! Das Parlament hat mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats, Ethikratgesetz - EthRG; Bundestagsdrucksache 16/2856 klar erkennen lassen, dass es kein Parallelgremium
braucht, denn der Ethikrat besetzt den Platz eines Beratungsgremiums für das Parlament.
Es hat sich seither gezeigt, dass der Deutsche Ethikrat kein Expertengremium ist, das hinter verschlossenen
Türen tagt. Vielmehr hat er sich in seiner Arbeit durch
Transparenz und öffentliche Berichterstattung ausgezeichnet. Das wollen wir auch weiter unterstützen.
Grundsätzlich muss klar sein: Es geht nicht um die
Verdrängung von ethischen Fragestellungen aus dem
politischen Bewusstsein. Vielmehr müssen wir darüber
nachdenken, wie wir die Arbeit in diesem Bereich neu
strukturieren und moderieren und die Arbeit des Parlaments stärken. Das kann auch in der Form des direkten
Dialogs miteinander innerhalb politischer Prozesse
stattfinden, ohne ein neues festes Gremium einzurichten.
Der vorliegende Antrag zur erneuten Einsetzung eines Ethikbeirates findet meine Unterstützung. Dafür
sprechen eine ganze Reihe von Gründen. Das Hauptargument ergibt sich aus konkreter parlamentarischer Erfahrung meiner Mitarbeit im letzten Ethikbeirat. Nachdem sich in der vergangenen Legislaturperiode keine
Mehrheit für die Einrichtung eines Ethikkomitees des
Bundestages fand, wurde die Einsetzung eines Ethikbeirates beschlossen. Dieser hat nun entgegen mancher Erwartung erfolgreich die Arbeit des Deutschen Ethikrates
begleiten können.
Der Deutsche Ethikrat, eingesetzt von Bundestag und
Bundesregierung, greift als reines Sachverständigengremium lebenswissenschaftliche Themen auf. Der Ethikbeirat des Bundestages, besetzt mit Abgeordneten, die
allerdings auch nicht ohne Sachverstand arbeiten,
wurde mit keinen eigenen inhaltlichen Kompetenzen
ausgestattet. Er fungierte als Schnittstelle zwischen
Deutschem Ethikrat und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Er hat daher zum einen die parlamentarische Relevanz von in Politik und Gesellschaft diskutierten Ethikthemen ausgelotet. Zum anderen hat er Themen
aufgegriffen, die im Deutschen Ethikrat bearbeitet wurden. So hat er die ethischen, sozialen und rechtlichen
Auswirkungen der Chimärenbildung, der synthetischen
Biologie, der Nanomedizin, der Angebote anonymer
Kindesabgabe oder auch den gesetzlichen Regelungsbedarf für Biobanken erörtert, auch dies mit dem Ziel, zu
klären, ob parlamentarischer Handlungsbedarf erwächst.
Meiner Erfahrung nach ist es sinnvoll, den Ethikbeirat wieder einzusetzen, weil es dann auf parlamentarischer Ebene einen konkreten Ansprechpartner für eine
Vielzahl von Interessengruppen und für den Deutschen
Ethikrat gibt. Viele Themenstellungen erweisen sich
nämlich in ihrer ethischen Relevanz als klassische Querschnittsthemen. Es ist zumeist erst nach näherer Betrachtung auszumachen, ob und welche Ausschüsse des
Deutschen Bundestages in die Diskussion einzubinden
Zu Protokoll gegebene Reden
sind, erst recht wenn sich Verknüpfungen zu aktuellen
Gesetzgebungsverfahren ableiten. Nicht jeder bzw. jedem Interessierten, jeder bzw. jedem Wissenschaftler
oder jeder Institution sind die parlamentarischen Gremien in ihrer inhaltlichen Zuständigkeit, Arbeitsteilung
und institutionellen Platzierung bekannt. Auch in diesen
Zusammenhängen kann der Ethikbeirat hilfreiche Mittlerfunktion hinein in den Bundestag übernehmen. Er soll
auch in Zukunft als Begleitgremium ausgestaltet, aber
kein eigenständiger Ausschuss werden. Er soll den Ausschüssen weder in deren inhaltlichen Arbeit vor- noch in
deren Kompetenzen eingreifen. In Auswertung der Erfahrungen aus seiner Tätigkeit in der letzten Legislaturperiode enthält der Antrag dennoch Vorschläge, die Arbeit des Beirates zu qualifizieren und verbindlicher zu
gestalten. Ich halte das für sinnvoll.
Ethische Fragen der Lebenswissenschaften stellen
sich mit wissenschaftlichem Fortschritt, vor dem Hintergrund der Globalisierung, der Erweiterung des Kanons
von Wertekonzepten und erfolgter oder sich anbahnender Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen
nicht immer gänzlich neu, aber sehr wohl mit neuen, zusätzlichen Problemstellungen. Einmal getroffene Entscheidungen sind also durchaus nicht für die Ewigkeit,
sondern bedürfen wiederholter Prüfungen, ob sie als Reaktionen, ob sie als Antworten noch akzeptabel sind
oder ob die aktualisierte Datenbasis nicht längst Änderungen bzw. Anpassungen erfordert. Der Ethikbeirat
sollte beispielsweise als Vorbereitungsgremium mit den
Ausschüssen gemeinsam prüfen, ob dem Deutschen
Ethikrat Themen zur Befassung anheimgestellt werden
sollten.
Dass sich sowohl der Präsident des Deutschen Bundestages, Herr Dr. Lammert, als auch Mitglieder des
Deutschen Ethikrates und Vertreter der Kirchen positiv
eingestellt auf eine Neueinsetzung des Ethikbeirates gezeigt haben, betrachte ich als weitere Gründe, sich im
Bundestag ernsthaft und interfraktionell mit diesem Einsetzungsantrag auseinanderzusetzen. Auf der konstituierenden Sitzung des Ethikbeirates am 23. April 2008
führte der Präsident des Bundestages aus, dass man sich
vom Deutschen Ethikrat notwendige Informationen für
die parlamentarische Arbeit verspreche und dass dessen
sachverständige Mitglieder am gesellschaftlichen Diskurs mitwirkten. Dieser Diskurs solle dann auch in die
parlamentarische Arbeit einbezogen werden. Die wichtigste Aufgabe, so der Bundestagspräsident weiter, sei
es, den Deutschen Ethikrat parlamentarisch zu begleiten
sowie ethische Sachkompetenz und parlamentarische
Arbeit miteinander zu verbinden.
In diesem Sinne hoffe ich auf vielfältige Unterstützung und spätere Zustimmung zum Antrag auf Einsetzung eines Ethikbeirates des Deutschen Bundestages.
241 Unterzeichner dieses Antrags aus vier Fraktionen machen es überdeutlich: Die Wiedereinsetzung des
parlamentarischen Ethikbeirats ist längst überfällig und
findet zahlreiche Unterstützung, nicht nur bei Parlamentariern, sondern auch unter anderen beim Präsident der
Bundesärztekammer, bei Mitgliedern des Deutschen
Ethikrates und Vertretern der Kirchen. Fragestellungen
der Bioethik brauchen einen umfassenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Die Themenfelder sind
komplex und berühren in besonderem Maße die ethischen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft; gerade
deshalb ist ein intensiver Austausch zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik nötig. Das bedeutet
auch, dass es nicht ausreicht, ein externes Beratungsgremium wie den Deutschen Ethikbeirat einzusetzen,
ohne gleichzeitig einen Ansprechpartner im Parlament
zu verankern. Wir brauchen für die Gewährleistung von
parlamentarischer Kompetenz und Sensibilität ein eigenes fachkompetentes Dialogforum und dürfen Aufgabenbereiche nicht vollständig an ein außerparlamentarisches Gremium delegieren.
Mit der Einsetzung des Deutschen Ethikrates in der
16. Wahlperiode als Nachfolger des Nationalen Ethikrates wurde das Gremium durch den Parlamentarischen
Beirat zu Fragen der Ethik ergänzt. Doch seit Beginn
der neuen Legislaturperiode im September 2009 blockiert Schwarz-Gelb die erneute Einsetzung des parlamentarischen Gremiums, das eine wichtige Scharnierfunktion übernommen hat und durch die Ausweitung der
Kompetenzen, wie es dieser Antrag vorsieht, weiter
gestärkt würde.
Lassen Sie mich eines zunächst erwähnen, um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich schätze die
Arbeit des Deutschen Ethikrates sehr und sehe die Einsetzung eines parlamentarischen Beirats in keiner Weise
als Konkurrenz. Es geht und ging nie darum, ein Gegengremium oder Parallelstrukturen aufzubauen. Nein, der
parlamentarische Ethikbeirat hat seine eigene Bedeutung und Legitimation. Der Deutsche Ethikrat braucht
einen Ansprechpartner im Bundestag; dafür ist der parlamentarische Beirat das adäquate Gremium. Um Politikberatung erfolgreich zu machen, muss es Abgeordnete
geben, die - auch aufgrund ihrer Mitgliedschaft im Beirat - Themen und Empfehlungen aufarbeiten und in die
Fraktionsdebatten einbringen. Dies hat auch der Bericht über die Tätigkeit des Beirats deutlich gemacht:
Wir brauchen die Scharnierfunktion zwischen externem
Ethikrat und Parlament, um zu verhindern, dass wichtige ethische Fragestellungen nicht im Alltagsgeschäft
untergehen.
Die Arbeit des parlamentarischen Beirats hat in den
zwei Jahren seiner Existenz Positives geleistet und die
Debatte bereichert. Um Themen zu identifizieren, hat
sich der Beirat auch mit inhaltlichen Fragestellungen
befasst und Expertengespräche beispielsweise zu Nanotechnologie, Chimären- bzw. Hybridbildung und synthetischer Biologie durchgeführt. Letztgenannter Forschungsbereich, synthetische Biologie, wurde durch den
Beirat neu aufgegriffen und damit in seiner Bedeutung
gestärkt. Im Anschluss daran wurde im Juli 2009 das
Büro für Technikfolgenabschätzung beauftragt, eine
Stellungnahme zu den Entwicklungen in der synthetischen Biologie unter Einbeziehung der Aktivitäten auf
europäischer und internationaler Ebene vorzubereiten.
Dennoch haben wir Grünen von Anfang an kritisiert,
Zu Protokoll gegebene Reden
Priska Hinz ({0})
dass der Beirat nicht über ausreichende Kompetenzen
verfügt und sich die Arbeitsweise nur teilweise bewährt
hat. Die Zusammenarbeit zwischen Ethikbeirat und
Deutschem Ethikrat kann sich nicht weiterhin darauf
beschränken, Stellungnahmen und Berichte entgegenzunehmen, sich aber selbst nicht inhaltlich äußern zu dürfen und Empfehlungen zu erarbeiten.
Aus diesem Grund fordern wir in diesem Antrag zusätzliche Kompetenzen, damit der Deutsche Bundestag
selbstbewusst und in eigenständiger Rolle Positionen
aufbereiten kann. Der Beirat soll sich in Zukunft auf dem
Wege der Selbstbefassung Schwerpunkte geben können,
Empfehlungen vorlegen und Anhörungen durchführen
sowie inhaltliche Beschlüsse fassen können. Ethische
Fragestellungen gehören in die Mitte des Parlaments
und dürfen nicht komplett ausgelagert werden. Durch
Abstimmung und Kooperation mit dem Deutschen Ethikrat würden auch weiterhin keine Doppelstrukturen entstehen. Die Einsetzung eines parlamentarischen Ethikbeirates ist dringend geboten. Warum sich die Damen
und Herren der CDU/CSU-Fraktion dagegen so zur
Wehr setzen, ist mir nicht verständlich.
Herr Kollege Feist hat in der FAZ kritisiert, es käme
zu einem „Flaschenhals“, wenn ethische Themen auf
den Beirat beschränkt blieben. Ich möchten Ihnen entgegnen, dass die Einladung des Ethikrates in den Forschungsausschuss und zu parlamentarischen Abenden
keine kontinuierliche Behandlung von bioethischen Themen in einem dafür zuständigen Gremium ersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
FDP, geben Sie sich einen Ruck; stimmen Sie diesem Antrag zu und lassen Sie uns dann im Ethikbeirat konstruktiv zusammenarbeiten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1806 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Unterstützung für Alleinerziehende verbessern
- Drucksache 17/2330 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dorothee
Bär, Nadine Müller, Christel Humme, Miriam Gruß,
Jörn Wunderlich und Katja Dörner.
Wir debattieren heute über einen Antrag, von dem die
Antragsteller selbst zugestehen, dass er in der Mehrzahl
Forderungen an die Bundesregierung enthält, an deren
Umsetzung ohnehin bereits seit längerem gearbeitet
wird. Die Bundesregierung ist nicht tatenlos geblieben.
Alleinerziehende sind in unserer Gesellschaft längst
keine Randgruppe mehr. Fast jede fünfte Familie in
Deutschland ist alleinerziehend; über 2 Millionen minderjährige Kinder leben bei ihren alleinerziehenden
Müttern oder Vätern. Obwohl der Wunsch alleinerziehender Eltern nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit
groß ist und die meisten gerne erwerbstätig wären, reichen die vorhandenen Rahmenbedingungen häufig nicht
aus, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
41 Prozent der Alleinerziehenden - das sind über
600 000 Eltern mit 1 Million Kindern - erhalten Leistungen nach dem SGB II. Es mangelt an Plätzen in Kindertagesstätten und Ganztagsschulen sowie an familienfreundlichen Arbeitszeiten. Daher war und ist es richtig,
dass Alleinerziehende die besondere Unterstützung der
Gesellschaft benötigen und auch bekommen müssen.
Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die von
CDU/CSU geführte Bundesregierung neue Handlungskonzepte zur Unterstützung Alleinerziehender entwickelt, die jetzt auch im Antrag der Grünen eingefordert
werden:
Alleinerziehende benötigen finanzielle Unterstützung
zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit der Einführung
des Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags, der Anhebung des Kindergeldes und der Einführung des Schulbedarfspakets wurde Erhebliches zur
Armutsvermeidung von Alleinerziehenden geleistet. Im
Koalitionsvertrag haben Union und FDP zudem vereinbart, den Unterhaltsvorschuss künftig bis zum 14. Lebensjahr des Kindes zu zahlen.
Alleinerziehende benötigen Unterstützung bei der
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Um sie in
die Lage zu versetzen, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, hat das Familienministerium vor gut einem Jahr
das Modellprojekt „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“
aufgelegt. Bis März 2010 sind an 12 Pilotstandorten die
Angebote der Arbeitsagenturen und Grundsicherungsstellen mit der bestehenden Infrastruktur vor Ort verzahnt worden. Es entstanden wirksame Netzwerke aus
Beratung und praktischer Hilfe vor Ort - von einem
abgestimmten Angebot an Kinderbetreuung bis zur
zielgenauen Qualifizierung und Beschäftigung, die Alleinerziehende in die Lage versetzten, sich aus dem
Transferbezug zu befreien. Die Pilotprojekte wurden unterstützt von den Lokalen Bündnissen für Familie und
sollen jetzt in die Breite getragen werden.
Darüber hinaus hat Bundesarbeitsministerin Ursula
von der Leyen angekündigt, dass sie dafür Sorge tragen
wird, dass in den Jobcentern der Blickwinkel auf Alleinerziehende verändert wird. Jobcenter sollen Alleinerziehende nicht länger als schwer vermittelbar ansehen,
sondern aktiv mithelfen, ihnen konsequent alle Hürden
aus dem Weg zu räumen, die einer Erwerbstätigkeit im
Wege stehen. Eine gute Kinderbetreuung zu organisieren
und mit den Arbeitgebern flexible und damit familiengerechte Arbeitsbedingungen aushandeln, ist keine famiVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
lienpolitische Schwärmerei, sondern handfeste zukunftsweisende Arbeitsmarktpolitik.
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit bleibt
für Alleinerziehende eine Leerformel ohne ausreichende
und qualitativ hochwertige Angebote der Kinderbetreuung. Durch bevorzugte Berücksichtigung von Alleinerziehenden bei der Platzvergabe wird diesem Anliegen
Rechnung getragen. Der geplante Rechtsanspruch ab
2013 beschränkt sich nicht auf halbtägige Betreuung.
Der Umfang der täglichen Unterstützung richtet sich
nach dem individuellen Bedarf - und der liegt bei Alleinerziehenden natürlich höher als bei anderen Familien.
Auch mit der Forderung nach Qualitätsverbesserung
der Kinderbetreuung tragen die Grünen mit ihrem Antrag Eulen nach Athen: Die Bundesregierung unterstützt
die für die Aus- und Fortbildung verantwortlichen Bundesländer in ihrem Bemühen, die Qualität in der Kinderbetreuung kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu verbessern. Der Bund beteiligt sich daher nicht nur an den
Ausbaukosten für die Betreuungsplätze, sondern auch
an den Betriebskosten. Hierzu zählen auch Kosten für
zusätzlich erforderlich werdendes Personal. Bund und
Länder haben bereits 2008 einen Qualifizierungspakt
für Fachkräfte in der Betreuung von Kindern unter drei
Jahren beschlossen.
Seither wurde einiges erreicht: Seit 2009 ist die Aufstiegsfortbildung zur Erzieherin oder zum Erzieher bundesweit staatlich förderfähig. Für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen wurden Programme
für die Fort- und Weiterbildung entwickelt. Über das
Bundesbildungsministerium wird die Medienqualifizierung der Erzieher gefördert; das BMFSFJ plant ein Programm zur Erhöhung der Anzahl männlicher Fachkräfte
in Kitas. Es gibt das Aktionsprogramm Kindertagespflege, mit dem Tagespflegepersonen gewonnen werden
sollen.
Diesen Forderungen der Grünen können wir also
nicht nur zustimmen. Wir setzen sie bereits mit unseren
eigenen familienpolitischen Konzepten um. Ablehnen
werden wir dagegen die weiteren Vorschläge, die keineswegs primär den Alleinerziehenden nützen. Wir lehnen
es ab, das Ehegattensplitting abzuschaffen, da es - anders als es im Antrag behauptet wird - sehr wohl zu einer Förderung von Familien führt. Das Zerrbild der kinderlosen Millionärsgattin, die es sich auf Steuerzahlers
Kosten gut gehen lässt, spiegelt ja nun wirklich nicht
den Regelfall wider. Ebenfalls ablehnen werden wir die
Forderung, die Ankündigung des Betreuungsgeldes aus
dem SGB VIII zu streichen, das BAföG durch eine Kinderkomponente zu ergänzen und eine Kindergrundsicherung einzuführen.
Auch bleibt es bei der im Sparpaket vorgesehenen
künftigen Anrechnung des Elterngeldes auf SGB-II-Leistungen. Diese Verrechnung des Elterngeldes bei Langzeitarbeitslosen ist uns nicht leicht gefallen. Aber dieser
Schritt ist vertretbar, weil der Lebensunterhalt von
Langzeitarbeitslosen und ihren Kindern vollständig vom
Staat finanziert wird. Zudem werden wir an anderer
Stelle das Geld gezielter in bessere Bildungschancen für
diese Kinder investieren.
Weil Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern
alleine meistern müssen und sie bei Haushaltsführung,
Kindererziehung und Sicherung des finanziellen Einkommens viel stärker gefordert sind als Elternpaare, haben CSU und CDU sie mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket unterstützt und bereits konkrete Hilfen
angestoßen. Ich freue mich, dass wir als Familienpolitiker der Regierungskoalition dafür auch Unterstützung
aus der Opposition zu erfahren scheinen.
Wir diskutieren heute den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel: „Unterstützung für Alleinerziehende verbessern“. Das Thema ist ein wichtiges. Sie wissen, dass es der CDU/CSU-Fraktion und
insbesondere den Familienpolitikerinnen und Familienpolitikern ein besonderes Anliegen ist, diejenigen zu unterstützen, die Kinder erziehen und somit für die Zukunft
unserer Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten.
Das gilt für Familien, das gilt aber selbstverständlich
auch für diejenigen, die diese Verantwortung - ob gewollt oder ungewollt - alleine übernehmen. Das sind die
Alleinerziehenden. Die Unterstützung für diejenigen zu
verbessern, das halte ich für ein wichtiges Anliegen, das
Sie in Ihrem Antrag formulieren.
Und auch das formuliert der Antrag völlig richtig:
Alleinerziehende haben einen besonders schweren Stand
in unserer Gesellschaft - und das aus einer ganzen
Reihe von Gründen. Signifikante Zahlen dazu findet man
im jüngst erschienenen Familienbericht des Familienministeriums. Demnach sind von den 8,4 Millionen Familien mit Kindern unter 18 Jahren 1,6 Millionen alleinerziehend - Tendenz steigend. Das bedeutet konkret,
dass ungefähr jedes sechste Kind unter 18 Jahren bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwächst. In 90 Prozent der Fälle sind es die Mütter, die sich alleine um ihren Nachwuchs kümmern.
Alleinerziehende Frauen und Männer stehen vor
zahlreichen und vielfältigen Herausforderungen und
Problemen, die sie im Alltag zu bewältigen haben. Zwar
haben zwei von drei Elternteilen jemanden, der ihnen
bei der Betreuung des Kindes oder mehrerer Kinder
hilft. Zumeist sind es enge Verwandte und Freunde, die
hier einspringen. Trotzdem haben viele das Gefühl, Familie und Beruf nicht unter einen Hut zu bekommen und
auch in anderen Bereichen des privaten und öffentlichen
Lebens das Nachsehen zu haben. Dieses Spannungsverhältnis wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass zwei Drittel der alleinerziehenden Frauen
mit Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig sind. Sie können sich leicht ausmalen, wie wertvoll und vor allem
selten freie Zeit wird, wenn sich eine alleinerziehende
Mutter oder ein alleinerziehender Vater neben dem Vollzeitjob noch um das heranwachsende Kind kümmert.
Neben erwerbstätigen Alleinerziehenden mit ihren
besonderen Problemen gibt es allerdings auch die weit
größere Gruppe von Alleinerziehenden, die sich ihren
Lebensunterhalt nicht selbstständig finanzieren können.
Insbesondere viele alleinerziehende Mütter sind auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung und des SGB II anZu Protokoll gegebene Reden
Nadine Müller ({0})
gewiesen. Fast drei Viertel der Alleinerziehenden mit
drei oder mehr Kindern beziehen Leistungen des SGB II.
Diese sehr hohe Hilfsquote hat zur Folge, dass Alleinerziehende die gesellschaftliche Gruppe sind, die mit am
stärksten unter finanziellen Problemen leidet - während
der Erziehungszeit, aber auch im Alter. Vor allem für die
Kinder und ihre zukünftige Entwicklung ist dieser Zustand sehr problematisch. Mit insgesamt einer Million
armutsgefährderter Kinder, die in Alleinerziehendenhaushalten leben, ist diese Gruppe einfach viel zu groß.
Diese Zahlen beschreiben die schwierige Lage, in der
sich sehr viele Alleinerziehende befinden. Von daher ist
ein Antrag zu diesem Thema grundsätzlich berechtigt.
Bei der Lektüre der Forderungen von Bündnis 90/Die
Grünen war ich doch etwas verwundert, und ich will Ihnen sagen, weshalb. Erstens könnte man bei der Lektüre
Ihrer Zeilen den Eindruck bekommen, die jetzige Bundesregierung und auch die Vorgängerregierung hätten
sich nicht oder kaum um die Alleinerziehenden und ihre
Kinder gekümmert, sie sogar vernachlässigt. Jeder, der
Zeitung liest oder sich einmal in seinem Kreis von Verwandten und Bekannten umhört, weiß, dass das nicht
der Fall ist.
Zweitens ist in keiner Weise erkennbar, in welche
Richtung Sie mit Ihren Forderungen eigentlich wollen
und welches gesellschaftliche Konzept dahinter steht.
Da soll mal an dieser Maßnahme etwas rumgedreht
werden, mal an jener, und am Ende soll es zusätzliches
Geld richten. Allem Anschein nach herrscht in Ihren
Reihen eine gewisse Orientierungslosigkeit darüber, wo
die familienpolitische Reise denn nun hingehen soll.
Und drittens frage ich mich, weshalb Sie die jüngsten
Programme und Aktivitäten des Familienministeriums
auf dem Gebiet der Alleinerziehenden bewusst ignorieren. Ich möchte Sie deshalb recht herzlich einladen, den
Blick für das zu öffnen, was die Bundesregierung für Alleinerziehende und ihre Kinder tut. Ich bin Ihnen dabei
auch gerne mit einigen Beispielen behilflich.
Schon bei den Fragen, wie alleinerziehende Mütter
und Väter Familie und Beruf möglichst widerspruchsfrei
vereinbaren können, war und ist das Familienministerium sehr aktiv. Vor etwa einem Jahr genau wurde beispielsweise ein Projekt ins Leben gerufen, welches auf
intelligente Vernetzung unterschiedlicher Akteure setzt
und nicht bloß auf die Erhöhung von Leistungen, wie es
so häufig von vermeintlichen und selbsternannten Gutmenschen aus dem linken politischen Spektrum gefordert wird. Das Programm mit dem Namen „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“ knüpft Verbindungen
zwischen Trägern der Grundsicherung, Kammern, Verbänden, Kommunen sowie Jugendhilfe- und Bildungsträgern. Auf kurzem Wege wird der Informationsaustausch wesentlich verbessert. Alleinerziehende können
nun viel einfacher eine auf ihre Bedürfnisse zurechtgeschneiderte Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten
erhalten. Die Tür auf den Weg zurück in den Arbeitsmarkt wird ein Stück weiter aufgestoßen.
Gerade am Montag dieser Woche hat das Familienministerium eine Impulsveranstaltung zu diesem Programm durchgeführt. Im Sommer kommt der Abschlussbericht über die Pilotprojekte, und bereits jetzt wird an
der Struktur der nächsten Förderperspektiven gearbeitet.
Dieses Programm geht Hand in Hand mit einer Vielzahl weiterer Maßnahmen und Initiativen, die auf den
Weg gebracht wurden. Ich denke dabei an das Programm „Perspektive Wiedereinstieg“ oder an die zahlreichen Initiativen des BMAS und der Bundesagentur für
Arbeit sowie des BMFSFJ, die den Wiedereinstieg ins
Berufsleben und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen und erleichtern sollen. Dabei ist es gerade für Alleinerziehende wichtig, ein flexibles und
niedrigschwelliges Netzwerk mit verlässlichen Strukturen auf die Beine zu stellen und individuell zugeschnittene Angebote zu machen. Dabei gilt es, neue Wege zu
gehen und neue Maßnahmen zu erproben sowie erfolgreiche Modellprojekte in die Fläche zu tragen. Meine
verehrten Kollegen und Kolleginnen von den Grünen,
der in Ihrem Antrag mal mehr, mal weniger deutlich erhobene Vorwurf der Untätigkeit läuft für jedermann ersichtlich voll ins Leere.
Übrigens, wenn ich das hier erwähnen darf: Selbst
DGB-Chef Michael Sommer, der ja nicht gerade in dem
Verdacht steht, ein Lobbyist schwarz-gelber Gesellschaftspolitik zu sein, lobt die Anstrengungen des Familienministeriums, die Chancen für Alleinerziehende mit
Hartz-IV-Bezug auf eine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt
zu erhöhen. Ich finde das bemerkenswert.
Kaum anders verhält es sich mit dem in Ihrem Antrag
erkennbaren Vorwurf, die Regierungskoalition würde zu
wenig für die Kinder von Alleinerziehenden tun. Dem
lässt sich einfach entgegenhalten, dass gerade der Ausbau der Kinderbetreuungsplätze den Bedürfnissen der
Familien und Alleinerziehenden entgegenkommt. Die
Rahmenbedingungen zur Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit werden wesentlich verbessert.
Und um dann doch mal auf die monetären Leistungen
zu sprechen zu kommen, möchte ich natürlich auch nicht
die Erhöhung des Kindergeldes im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes unerwähnt lassen. In diesem Sinne wurde auch der Kinderfreibetrag von 6 024
auf 7 008 Euro erhöht. Sie sehen, dass auch in finanziell
schwierigen Zeiten Schwarz-Gelb Alleinerziehende nicht
im Stich lässt, sondern vielmehr auch die materielle Unterstützung ausbaut.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich natürlich auch
das Elterngeld, das einem alleinerziehenden Elternteil
mit alleinigem Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht
für eine Dauer von 14 statt 12 Monaten zusteht. Zusätzliche finanzielle Unterstützung gibt es durch das Wohngeld. Denn für Berechtigte, die allein mit ihren Kindern
zusammenwohnen und wegen ihrer Erwerbstätigkeit
oder einer Fortbildung länger außer Haus sind, gibt es
einen Einkommensfreibetrag von 600 Euro jährlich für
jedes Kind unter zwölf Jahren. Darüber hinaus schießt
der Staat Unterhalt vor, wenn dieser für das Kind ausbleibt. Unserer Koalitionsvertrag sieht dessen Ausweitung bis zum 14. Lebensjahr der Kinder bei gleichbleibender Leistungsdauer von maximal sechs Jahren vor.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nadine Müller ({1})
Ich könnte so noch eine ganze Weile fortfahren, will
dies aber mit Blick auf die Zeit nicht tun. Lassen Sie
mich aber bitte Folgendes abschließend anmerken: Ihr
Antrag bildet keine ernst zu nehmende Alternative zur
unserer Familienpolitik und unserer Politik gegenüber
alleinerziehenden Müttern und Vätern und ihren Kindern. Sie verheddern sich vielmehr im Klein-Klein und
im Dickicht von Einzelforderungen, die einen anderslautenden Gesamtentwurf vermissen lassen. Es stellt sich
ein wenig die Frage: wozu dieser Antrag und weshalb
gerade jetzt?
Weiter möchte ich noch auf einen anderen, weitestgehend unerwähnten, aber für mich zentralen Zusammenhang hinweisen: Meiner persönlichen Einschätzung
nach hat die sozialpolitische Debatte um die Lebenswelt
von Alleinerziehenden eine gewisse Schieflage. Viele
scheinen zu glauben, in der Erhöhung der Bezugsleistungen und Vergünstigungen und dem Ausbau der Betreuungsangebote läge die Lösung. Internationale Studien wie eine der OECD und ein Vergleich zwischen den
Bundesländern sprechen da eine andere Sprache. Die
OECD sagt deutlich, dass es in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern für Alleinerziehende zu wenige Anreize gibt, einer Berufstätigkeit nachzugehen.
Ich finde, unser Augenmerk sollte verstärkt auf der
Frage liegen, wie wir Anreize und Chancen vor allem
für Bezieher von Leistungen der Arbeitslosenversicherung und des SGB II schaffen können, wieder ihren Weg
zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. In diese Richtung
zielt unsere Politik für Alleinerziehende, ohne dabei die
Unterstützungsleistungen zu vernachlässigen. Wir
möchten, dass mehr Menschen ihr Leben und somit auch
das ihrer Kinder wieder selbst in die Hand nehmen. Ich
möchte dafür werben, uns auf diesem Weg zu unterstützen.
„Alleinerziehende - von der Gesellschaft im Stich gelassen!“ So überschrieb 2007 eine große deutsche Frauenzeitschrift einen Artikel, der die Lebenssituation, die
Sorgen und Nöte von Alleinerziehenden näher unter die
Lupe nahm.
Wie berechtigt ist diese Beschreibung? Wie ist die
Lage von Alleinerziehenden heute? Wie ist ihre Lebenssituation und die ihrer Kinder? - Ich begrüße es, dass
sich der Deutsche Bundestag heute erneut mit der Situation von Alleinerziehenden beschäftigt und wir gemeinsam eine Bestandsaufnahme vornehmen können.
Sicher ist: den oder die typische Alleinerziehende gibt
es nicht. Trotz der unterschiedlichen Lebenslagen haben
viele der rund 1,6 Millionen Alleinerziehenden sehr
ähnliche Bedürfnisse. 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in Alleinerziehendenhaushalten - überwiegend bei ihren Müttern, denn 90 Prozent aller Alleinerziehenden in Deutschland sind
Frauen.
Alleinerziehende sind vor besondere Herausforderungen gestellt. Die immer noch problematische Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die ungleiche Bezahlung
von Frauen und Männern wirken sich bei dieser Gruppe
besonders nachteilig aus. Außerdem sind vor allem alleinerziehende Frauen überproportional stark in Teilzeit
oder Minijobs tätig.
Staat und Gesellschaft sind hier in vielerlei Hinsicht
gefordert. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben in Regierungsverantwortung den Wunsch
nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie nach
besten Chancen für alle Kinder aufgegriffen.
Beim Ausbau der Kinderbetreuung müssen wir weiter
vorangehen und mehr Tempo machen. Denn ein flexibles, bedarfsgerechtes und qualitativ gutes Betreuungsund Bildungsangebot für Kinder aller Altersstufen ist
der Schlüssel gerade für Alleinerziehende, Familie und
Beruf miteinander verbinden zu können.
Um den Bedarf an Betreuungsplätzen vor Ort besser
einschätzen zu können, brauchen wir aktuelle Zahlen.
Erst auf Grundlage dieser Daten können wir wirklich
beurteilen, ob der tatsächliche Bedarf nicht zu niedrig
angesetzt sein könnte.
Unser gemeinsames Ziel muss sein, von Rostock bis
Konstanz ein flexibles und bedarfsgerechtes Betreuungsangebot für alle Kinder bereitstellen zu können. Denn
nur so schaffen wir tatsächliche Wahlfreiheit und ermöglichen es Frauen und Männern, Familie und Beruf
so zu vereinbaren, wie sie es möchten.
Frau Ministerin, werden Sie aktiv und berufen Sie so
schnell wie möglich einen Krippengipfel ein. Auf der
Grundlage aktueller Daten muss geklärt werden, wie
der Bund die Länder und Kommunen bei dieser wichtigen gesellschaftspolitischen Aufgabe zusätzlich unterstützen kann. Ein schneller Ausbau unserer Bildungsund Betreuungsinfrastruktur hat höchste Priorität. Nur
die Hände in den Schoß zu legen und Zweckoptimismus
zu verbreiten, hilft niemandem.
Es ist immerhin erfreulich, dass Sie Ihrem Mentor
Roland Koch öffentlich widersprochen haben, als dieser
den vereinbarten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 2013 infrage gestellt hat. Das allein reicht aber
nicht aus.
Gute und verlässliche Betreuung ist ein zentraler
Baustein in der wirksamen Unterstützung von Alleinerziehenden.
Erwerbstätige Alleinerziehende stehen häufig alleine
in der Verantwortung, ein existenzsicherndes Einkommen für sich und ihre Kinder zu erzielen. Gute Löhne
sorgen außerdem für eine existenzsichernde Alterssicherung. Da 90 Prozent der Alleinerziehenden Frauen sind,
erfahren sie besonders stark die immer noch bestehenden Diskriminierungen im Erwerbsleben - insbesondere
bei der Entlohnung. Denn noch immer verdienen Frauen
im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre männlichen
Kollegen.
Daher brauchen wir endlich gesetzliche Regelungen
für gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
sowie einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist der richtige Weg, um Alleinerziehende wirksam vor Armut und
Zu Protokoll gegebene Reden
einer dauernden Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu schützen.
Neben guter Kinderbetreuung, existenzsichernden
Löhnen und gezielten finanziellen Hilfen brauchen arbeitsuchende Alleinerziehende eine individuelle Beratung und passgenaue Arbeitsvermittlung in den Arbeitsagenturen sowie speziell auf ihre Lebenssituation
zugeschnittene Bildungs- und ({0})Qualifizierungsangebote.
Bildung und Weiterqualifizierung kommt bei Alleinerziehenden eine besondere Rolle zu. Mehr als ein Viertel
aller Alleinerziehenden und über die Hälfte der allein
erziehenden Arbeitslosen haben keinen beruflichen Abschluss. Bei jungen Müttern unter 25 Jahren liegt der
Anteil sogar bei 70 Prozent. Hier müssen wir mit passgenauen Bildungs- und Qualifizierungsangeboten ansetzen.
Wir haben daher in der großen Koalition den Rechtsanspruch auf das geförderte Nachholen eines Schulabschlusses durchgesetzt. Jetzt geht es darum, dies
während der Kindererziehung auch in Teilzeit zu ermöglichen.
Was hilft nun Alleinerziehenden und ihren Kindern
am besten? Sie brauchen einen Mix aus Infrastruktur,
zielgerichteter finanzieller Hilfe und Zeit.
Stattdessen müssen sie unter der unsozialen Familienförderung von Schwarz-Gelb ächzen. Neben der unsozialen Kürzung bzw. gar der Streichung des Elterngeldes
für Empfängerinnen und Empfänger von SGB-II-Leistungen ist der aktuelle Familienausgleich ein weiteres
Beispiel für eine verfehlte und unsoziale Steuerpolitik.
Jedes Kind sollte dem Staat selbstverständlich gleich
viel wert sein, unabhängig vom Einkommen der Eltern.
Der aktuelle Familienleistungsausgleich erfüllt dieses
Ziel eindeutig nicht. Denn reiche Familien werden über
höhere Steuerabzugsmöglichkeiten viel stärker entlastet
als Familien mit geringem Einkommen durch ein erhöhtes Kindergeld.
Daher wollen wir einen Kindergrundfreibetrag, denn
damit wird jedes Kind wirklich gleich stark gefördert.
Durch diesen Abzug von der Steuerschuld würden wir
auch Familien mit niedrigem Einkommen und damit
auch Alleinerziehende stärker fördern können. Jetzt profitieren hauptsächlich Gut- und Spitzenverdiener von
der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten.
Außerdem wollen wir Alleinerziehenden mit dem Kinderzuschlag zielgenau helfen. Damit wir Alleinerziehende mit ihren Kindern mit diesem Instrument besser
erreichen können, wollen wir den Kinderzuschlag weiterentwickeln.
Unabhängig davon bleibt unser sozialdemokratisches
Ziel: kostenlose Betreuung und Bildung - von der Kita
bis zur Universität!
Die heutige Debatte mit vielen richtigen Vorschlägen
auch aus dem Antrag der Grünen hat es noch einmal
deutlich gemacht. Alleinerziehende brauchen ein abgestimmtes Konzept und individuelle Hilfen um in ihrer besonderen Situation Berufstätigkeit und Kindererziehung
vereinbaren zu können, nicht in Armut abzurutschen und
ihren Kindern die Chancen bieten zu können, die sie verdient haben.
Die SPD hat im April mit dem Beschluss „Alleinerziehende - LeistungsträgerInnen unserer Gesellschaft“
ein umfassendes Gesamtkonzept mit konkreten Schritten
zur gezielten Förderung dieser Familienform vorgelegt.
Und was tut die zuständige Ministerin?
Sicherlich nicht nur ich hätte mir gewünscht, dass
Frau Schröder auch bei der Verteidigung anderer Positionen ihres Haushaltes als Interessensvertreterin von
Millionen Familien und Kindern in diesem Land Widerstand bei den massiven Haushaltseinschnitten geleistet
hätte. Stattdessen hat sie die unsozialen Kürzungen beim
Elterngeld und gar die Streichung des Elterngeldes für
Empfängerinnen und Empfänger von Hartz IV klaglos
hingenommen. Dies, Frau Ministerin, zeigt leider, dass
Ihnen offenbar der Zugang und die dramatischen Auswirkungen dieser unsozialen Streichungen nicht bewusst
sind - oder Sie diese billigend in Kauf nehmen. Stattdessen nicken Sie völlig überflüssige Steuerprivilegien für
Luxushotels ab.
Ich fasse zusammen: Ein überzeugendes Konzept gegen Familien- und Kinderarmut und eine zielgerichtete
Förderung von Alleinerziehenden ist seitens der zuständigen Ministerin und der schwarz-gelben Bundesregierung leider weit und breit nicht in Sicht.
Alleinerziehende und ihre Kinder haben Besseres verdient als eine Regierung des sozialen Kahlschlags und
eine Fachministerin auf Tauchstation.
Die FDP steht für ein neues, modernes Familienbild,
das dem Wandel unserer Gesellschaft gerecht wird. Dieser Wandel äußert sich unter anderem in der steigenden
Zahl von Alleinerzieherhaushalten in Deutschland. Hier
sind neue Lösungsansätze von der Politik gefordert. Die
allgemeine Prämisse einer modernen liberalen Familienpolitik muss deshalb sein, Konzepte zu entwickeln,
die sowohl dem klassischen Familienbild als auch den
neuen Realitäten gerecht werden.
Die Zahl der Alleinerziehenden in Deutschland steigt,
und damit auch die Zahl der Kinder, die in Alleinerzieherhaushalten aufwachsen. Für diese Entwicklung gibt
es viele Gründe - die meisten Alleinerziehenden sind geschieden oder leben in Trennung, andere sind verwitwet.
Wieder andere entscheiden sich aber auch ganz bewusst
gegen eine traditionelle Form der Familie. So unterschiedlich die Gründe für die Entscheidung auch sein
mögen, so sehen sich doch Alleinerziehende grundsätzlich ähnlichen Problemlagen gegenüber: Sie können
sich im Alltag nicht auf einen Partner verlassen, befinden sich oftmals in einer ständigen Auseinandersetzung
um Unterhalt und Sozialleistungen und müssen sich gegebenenfalls eine neue Wohnung oder einen neuen Arbeitsplatz suchen. Angesichts der Vielzahl von tatsächlichen Problemen und rechtlichen Fragen unterstützen
Zu Protokoll gegebene Reden
wir Liberalen die Forderung nach einer Erweiterung
von Kindertagesstätten zu Familienzentren.
Die finanzielle Situation von Alleinerziehenden verschlechtert sich nach einer Trennung oder Scheidung
deutlich. Sie haben im Normalfall rund die Hälfte weniger Einkommen zur Verfügung als ein vergleichbarer
Paarhaushalt mit zwei Kindern. Ehepaare, die getrennt
leben, benötigen aber sogar mehr Geld, um den gleichen
Lebensstandard zu erreichen wie eine in einem Haushalt
zusammenlebende Familie. Das zusätzlich benötigte
jährliche Haushaltsnettoeinkommen beträgt im Durchschnitt fast 10 000 Euro.
Die finanzielle Situation ist für das Leben und die Gesundheit von Alleinerziehenden und ihren Kindern aber
von entscheidender Bedeutung; viel zu viele Kinder aus
Alleinerziehendenfamilien leben mit einem Armutsrisiko. Der Anteil der Alleinerziehendenhaushalte, die
ALG-II-Leistungen oder Sozialgeld beziehen, ist überdurchschnittlich hoch. Hier werden wir Lösungen und
Wege finden, wie diesem Trend entgegengewirkt werden
kann. Das Merkmal „alleinerziehend“ darf nicht in direkter Verbindung mit prekären finanziellen Verhältnissen stehen.
Zwei Drittel der nicht erwerbstätigen Alleinerziehenden würden aber gerne arbeiten. Wir werden daher neue
Wege finden müssen, um alleinerziehenden Elternteilen
den Weg in den Beruf zu ermöglichen. So ist zu prüfen,
wie durch Anreizsysteme die Teilzeitbeschäftigung attraktiver ausgestaltet werden kann, um die Vereinbarkeit
von Familie und Erwerbsleben zu erleichtern und Alleinerziehenden so die schrittweise Rückkehr in das Erwerbsleben zu ermöglichen.
Was junge Alleinerziehende ohne Abschluss einer
Ausbildung oder mit dem Wunsch nach Weiterbildung
betrifft, werden wir innerhalb des jetzigen Finanzierungssystems bessere Unterstützungsmaßnahmen schaffen. Überlegungen wie etwa besondere Darlehen und
Stipendien oder Zuschüsse für die Kinderbetreuung für
Alleinerziehende während einer ({0})Ausbildung
oder eines Fernstudiums sind hier mögliche Optionen.
Die Regierungsfraktionen setzen sich außerdem dafür
ein, als Sofortmaßnahme im Rahmen der bestehenden
Ausbildungsförderung für junge Menschen ein BabyBAföG einzuführen. Danach wird jeder Mutter, die
BAföG bezieht, die Möglichkeit eingeräumt, anstelle des
jetzt vorgesehenen Darlehensteilerlasses nach Abschluss des Studiums für die Dauer ihres BAföG-Bezugs
eine Zulage - Baby-BAföG - zu beziehen. Gleichzeitig
wollen wir uns bei den Hochschulen, Ländern und Gemeinden für einen qualitativen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung an Hochschulen bzw. an
Hochschulstandorten einsetzen.
Flexible Arbeitszeitmodelle oder auch Sabbaticals
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
werden wir gerade auch mit Blick auf die steigende Zahl
von Alleinerziehenden ausbauen. Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sind auch
im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.
Großbetriebe gehen zu 66 Prozent davon aus, dass familienfreundliche Maßnahmen zukünftig an Bedeutung bei
der Suche nach qualifiziertem Personal gewinnen werden; denn trotz Krise hätten derzeit fast 29 Prozent der
Unternehmen Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu
finden.
Die Bundesregierung hält klar am ab 2013 geltenden
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz fest. Im Bericht 2008 über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder
unter drei Jahren wird festgestellt, dass das aktuelle Angebot an Tageseinrichtungen und der Tagespflege für
Kinder im Alter von unter drei Jahren noch gesteigert
werden muss, um bis 2013 eine durchschnittliche Betreuungsquote von 35 Prozent zu erreichen. Hier sind
deutliche Anstrengungen in Ländern und Kommunen gefragt. Wir befinden uns hierbei aber auf einem sehr guten Weg - in Ostdeutschland liegt die Betreuungsquote
schon jetzt bei teilweise 60 Prozent.
Im Koalitionsvertrag haben wir weitere Maßnahmen
für einen verbesserten qualitativen und quantitativen
flexiblen Ausbau bei Trägervielfalt auch unter Einbeziehung der Tagespflege vereinbart. Hierzu gehört nach
Auffassung der Liberalen ein Mix von Elterninitiativen,
Kinderbetreuungseinrichtungen, Tagesmüttern und -vätern, privaten und privat-gewerblichen Initiativen und
betriebsnahen Einrichtungen, die sich durch Flexibilität
der Betreuungszeiten, ein qualitativ hochwertiges Angebot oder durch Hol- und Bringdienste der veränderten
Nachfragesituation anpassen.
In einer Allianz von Bildungs- und Familienpolitik
gehören Kindertageseinrichtungen und Tagespflege zum
Fundament des Bildungssystems. Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen müssen personell und strukturell verlässlich ausgestaltet sein, um ihrem Bildungsund Betreuungsauftrag umfassend gerecht werden zu
können. Ganztagsangebote mit Mittagessen müssen verstärkt angeboten werden.
Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest: Die Verbesserung der Situation von Alleinerziehenden stellt
klare Forderungen an den Staat, bis zu deren Erfüllung
es noch viel zu tun gibt. In diesem Zusammenhang sind
jedoch Maßnahmen wie ein flächendeckender Mindestlohn, wie er im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gefordert wird, nicht der richtige Ansatz. Anstatt
Arbeitsplätze zu riskieren, geht es vielmehr darum, bessere Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders auch für Alleinerziehende zu
schaffen. Dafür setzen wir uns ein.
Wir befassen uns heute in erster Lesung mit dem Antrag der Fraktion der Grünen, die Unterstützung für Alleinerziehende zu verbessern. Im September 2008 habe
ich zu einem fast gleichlautenden Antrag Ihrer Fraktion
festgestellt, dass Ihr Antrag in vielen Dingen die Unterstützung der Linken findet und richtig gedacht ist. Aber
kritisch habe ich auch darauf hingewiesen, dass Ihr Antrag in einigen Positionen nur halbherzig und unkonkret
ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit Interesse habe ich nun den vorliegenden Antrag gelesen. Es bleibt die Frage: Was wollen Sie wirklich - ich
betone: wirklich - mit dem Antrag erreichen? Wie konkret wollen Sie den Alleinerziehenden wirklich helfen?
Ich kann nur feststellen: Den Alleinerziehenden wird mit
Ihrem Forderungspaket nicht wirklich geholfen. Die Alleinerziehenden werden wieder alleine gelassen, weil
Sie in Ihren Forderungen unkonkret und an der Oberfläche bleiben.
Das Interessante jedoch ist: Mir kommen einige Formulierungen in Ihrem Antrag bekannt vor. Ich nenne ein
Beispiel: In Ihrem Antrag fordern Sie auf Seite 2 unter
Punkt II.1, um die spezifischen Benachteiligungen Alleinerziehender auszugleichen, den Rechtsanspruch auf
ganztägige Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen.
Eine langjährige Forderung der Linken! Bei Ihnen gibt
es nur eine kleine Einschränkung: Sie haben sich nicht
getraut, unsere Forderung nach Gebührenfreiheit mit zu
übernehmen.
Weiterhin wollen Sie spezifische Benachteiligungen
in der Steuerpolitik für die Alleinerziehenden ausgleichen. - Wie schön. Welche spezifischen Benachteiligungen meinen Sie? Was wollen Sie ändern? Und - falls es
Ihnen nicht aufgefallen sein sollte - Sie haben den ganzen Abschnitt zu den Steuererleichterungen für die Alleinerziehenden, wie er im alten Antrag noch enthalten
war, im vorliegenden Antrag gestrichen.
Was soll das also? Weiter wollen Sie - Spiegelstrich 10 „… gemeinsam mit den Ländern im BAföG eine Kinderkomponente … ergänzen, die eine bessere Vereinbarkeit
von Elternschaft und Studium während der Ausbildungsphase ermöglicht …“. Diese Kinderkomponente gibt es
bereits. Es wäre doch im Interesse der Alleinerziehenden
besser, über eine Anhebung der Kinderkomponente
nachzudenken.
Ich komme zu Punkt II.2 Ihres Antrages: Mit den Forderungen zu den Regelsätzen gehen wir konform. Wo
bleiben Ihre Forderungen zum Kinderzuschlag? 67 Prozent der Alleinerziehenden nehmen den Kinderzuschlag
in Anspruch; ein Großteil, obwohl er dadurch geringere
Leistungen erhält als beim ALG II, und dies nur, um
Hartz IV zu entkommen. Im Wissen darum, dass die Kinder derjenigen damit zwar aus der Hartz-IV-Statistik,
nicht aber aus der Armut verschwinden, verzichten Sie
auf konkrete Forderungen. Wir fordern die Ministerin
auf, die Einkommensgrenzen zu streichen, den Kinderzuschlag auf wenigstens 200 Euro anzuheben und den
Mehrbedarf für Alleinerziehende als Erhöhungsbetrag
auszuzahlen. Damit wäre den Alleinerziehenden spürbar geholfen.
Ich komme zu Punkt II.3: Ihre Forderungen klingen
genauso unverbindlich, wie die Formulierungen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Ich zitiere aus dem
Koalitionsvertrag:
Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern.
Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel
und niedrigschwellig bereitgestellt werden.
In Ihrem Antrag klingt es sinngemäß: gemeinsam mit
den Ländern Unterstützungsangebote für Alleinerziehende im sozialen Nahraum etablieren, um bei der Bewältigung von multiplen Problemlagen zu helfen. - Was
soll das? Sie bleiben auch hier Ihren unverbindlichen
Forderungen treu.
Zum Schluss noch zum Punkt II.4 Ihres Antrages: Ich
zitiere:
Die Benachteiligung von Transferempfängern beim
Elterngeld, die insbesondere Alleinerziehende betrifft ({0}) zu beseitigen.
Sie wollen hier etwas abschaffen, was noch gar nicht
geltendes Recht ist? Was soll diese Forderung?
Fazit: Wenn Sie den Alleinerziehenden wirklich helfen wollen, dann lassen Sie uns konkrete Vorschläge erarbeiten. Es müssen sofort spürbare Veränderungen auf
den Tisch, wenn die Politik nicht weiter an Glaubwürdigkeit verlieren soll. Mit Ihrem Antrag wollen Sie offene Türen einlaufen? Nein! Sie bleiben wieder vor den
offenen Türen stehen und suchen verzweifelt nach der
Klinke. Eine materielle Sicherstellung der Alleinerziehenden lässt Ihr Antrag vermissen. Lassen Sie uns besser gemeinsam eine Lösung finden - im Interesse aller
Kinder.
Wer Kinder erzieht, verdient Respekt. Doch Respekt
und warme Worte allein reichen nicht! Familien brauchen gute Rahmenbedingungen und tatkräftige Unterstützung. Das gilt umso mehr für Alleinerziehende. Sie
sind im Alltag stärker belastet, müssen viele schwierige
Entscheidungen oft alleine treffen und sind in kritischen
Situationen oft auf sich gestellt. Alleinerziehende sind
öfter von Armut betroffen als Paare mit Kindern. Aufgrund dieser Belastungen haben Alleinerziehende sogar
einen schlechteren Gesundheitszustand. Alleinerziehende sind keine Randgruppe in unserer Gesellschaft.
Nahezu jedes siebte Kind in den alten Bundesländern
wird von einem Elternteil allein großgezogen. In den
neuen Bundesländern ist es sogar jedes fünfte Kind. Familie in Deutschland ist bunt und vielfältig. Dem müssen
die Unterstützungsstrukturen in der Familienpolitik
Rechnung tragen.
Ein Blick in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag
macht einen fast glauben, Union und FDP hätten das
verstanden. Denn dort heißt es: „Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern. Dieses soll insbesondere in
verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende
lückenlos, flexibel und niedrigschwellig bereitgestellt
werden.“ Der Blick auf das Regierungshandeln ist umso
ernüchternder. Was unternimmt die Bundesregierung
denn tatsächlich für Alleinerziehende? Den Anspruch
auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren zu verteidigen, reicht nicht. Die Herausforderungen in diesem
Bereich sind riesig: Nicht nur quantitativ, auch qualitativ brauchen wir deutliche Verbesserungen. Wo sind die
Ganztagsplätze, auf die berufstätige Mütter so dringend
angewiesen sind? Was unternimmt die Bundesregierung,
Zu Protokoll gegebene Reden
um die Einkommenssituation von Alleinerziehenden zu
verbessern? Passiert etwas in Richtung sozialer und gesundheitlicher Unterstützung? Nein, passiert ist nichts.
Im Gegenteil: Die Koalition hat sich gerade von der Reform des Kinderzuschlags verabschiedet, von der vor allem Alleinerziehende profitieren sollten. Auch in der
Versenkung verschwunden sind Pläne zur Verbesserung
des Unterhaltsvorschusses, der gezahlt wird, wenn unterhaltspflichtige Väter keinen Unterhalt leisten.
Die Koalition macht Politik mit sozialer Schieflage,
von der Alleinerziehende entweder gar nicht profitieren
oder die sie stärker als andere Familien belasten. Dazu
ein Beispiel: Die Kindergelderhöhung auf 184 Euro
bringt 38 Prozent der Alleinerziehenden keine Verbesserung; denn sie bekommen ALG-II-Leistungen und das
Kindergeld wird komplett angerechnet. Für diese Kinder
und ihre Eltern bedeutet es nicht nur leer auszugehen,
sondern noch weitere 20 Euro weniger zu haben als andere. Ebenso sind Alleinerziehende durch die Streichung
des Sockelbetrages beim Elterngeld überproportional
betroffen. Und Arbeitsministerin von der Leyen setzt
dem allen die Krone auf. Sie garniert die geltende Gesetzeslage zur Arbeitsförderung und Arbeitsvermittlung mit
Allgemeinplätzen und Propaganda und nennt das Vermittlungsoffensive für Alleinerziehende. Die Koalition
befindet sich seit acht Monaten in permanenten Startschwierigkeiten. Zu Taten wird sie sich wohl schwerlich
durchringen. Zu leiden haben darunter gerade die Familien und Kinder, die sowieso schon mehr schultern
müssen als andere.
Alleinerziehende brauchen gezielte Unterstützung.
Sie brauchen wirksamen Schutz vor Armut und Arbeitslosigkeit, und daher eine funktionierende adäquate Arbeitsvermittlung und eine gerechte Kindergrundsicherung. Sie brauchen qualitativ hochwertige ganztägige
Kinderbetreuung, und damit es mit dem Rechtsanspruch
schnell klappt und überhaupt klappt, muss sich die Bundesregierung noch mal mit Ländern und Kommunen zusammensetzen, realitätstaugliche Zahlen auf den Tisch
legen und ein faires, solides Finanzierungssystem verabreden. Alleinerziehende brauchen aber auch niedrigschwellige Unterstützungsangebote, die ihnen den Alltag erleichtern und ihre Gesundheit stärken statt
Sparmaßnahmen bei Gesundheit und Jugendhilfe.
Bislang verweigern Sie diesen Familien die notwendige Unterstützung. Angesichts der Aussage im Koalitionsvertrag will ich aber die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass wir auf der Grundlage der Vorschläge in
unserem Antrag gemeinsam Maßnahmen in die Wege
leiten, um Alleinerziehende und ihre Kinder besser zu
unterstützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2330 an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Ingrid Nestle, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen
- Drucksache 17/2142 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden
der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Rolf
Hempelmann, Paul K. Friedhoff, Ulla Lötzer und Oliver
Krischer.
Das Thema Steinkohlesubventionen ist ein schwieriges und emotionales Thema. Dies hat vielerlei Gründe.
Zum einen entsteht diese Emotionalisierung durch die
große Bedeutung der Steinkohle in unserem derzeitigen
Energiemix und die langjährige Tradition in Deutschland, zum anderen aufgrund ihrer Bedeutung als langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrgebiet.
Erstens. Bedeutung von Steinkohle: Stein- und Braunkohle sind die einzigen heimischen fossilen Energierohstoffe und haben daher eine besondere Bedeutung für
Deutschland. Weltweit ist Deutschland mit circa 24 Millionen Tonnen geförderter Steinkohle im Jahr hinter beispielsweise China, den USA, Indien, Australien und Russland weltweit auf Platz zehn bei der Förderung von
Steinkohle. Innerhalb der EU liegt Deutschland nach
Polen auf Platz zwei. Bei der aktuellen Förderquote liegt
die Reichweite der deutschen Kohle bei etwa 400 Jahren.
Insbesondere die Menschen in der Region haben eine
besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem
historische Gründe. Das Ruhrgebiet gilt als eine der bedeutendsten deutschen und europäischen Industrieregionen. Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewesen. Die heimische Steinkohle hat über
Jahrzehnte entscheidend zum Aufbau unseres Landes
und der Steigerung unseres Wohlstandes beigetragen.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg war der Steinkohlebergbau ein Fundament für den Wiederaufbau. In
den 50er-Jahren erreichte der Steinkohlebergbau einen
Anteil von über 10 Prozent am Bruttosozialprodukt.
Heute hat die Steinkohle einen Anteil von 14 Prozent
am Endenergieverbrauch und 18 Prozent am Bruttostromverbrauch. Kurz- und mittelfristig wird sie nicht
ohne Weiteres substituiert werden können. Dies ist besonders daran erkennbar, dass die Absicherung der Mittellast fast ausschließlich von Steinkohlekraftwerken bereitgestellt wird. Mögliche Alternativen sind zwar Erdund Biogas. Verglichen mit den Herstellungskosten von
rund 3 Cent - ohne Subventionen - für die Herstellung
einer Kilowattstunde Strom aus Steinkohle, sind trotz der
Erhöhung des Herstellungspreises aufgrund des Wegfalls der Subventionierung Erdgas oder Biogas eine sehr
unwirtschaftliche Alternative zur Bereitstellung der Mittellast. Demnach wird mittelfristig die Steinkohle auch
weiterhin eine wichtige Rolle in unserem Energiemix
spielen.
Der starke Ausbau der erneuerbaren Energien in
Deutschland ermöglicht höhere Minderungsziele für den
CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber auch - und das
sage ich in aller Deutlichkeit - den Neubau von Kohlekraftwerken notwendig. Diese werden zur Ergänzung
des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwankenden
Angebots an erneuerbaren Energien dringend gebraucht.
Zudem ermöglicht der Bau von neuen, hoch effizienten Kraftwerken das Abschalten alter und ineffizienter
Anlagen aus Klimaschutzgründen. Exemplarisch ist das
zurzeit im Bau befindliche Kohlekraftwerk Datteln, das
zu den modernsten seiner Art gehört. Mit einem Wirkungsgrad von 45 Prozent ist Datteln eines der effizientesten Steinkohlekraftwerke weltweit und spart gegenüber Altkraftwerken 20 Prozent CO2 pro erzeugter
Kilowattstunde Strom. Mithilfe von Kraftwärmekopplung - KWK - kann dabei ein Nutzungsgrad von über
50 Prozent erreicht werden.
Andere Länder setzen zunehmend auf Steinkohle. In
China gehen jede Woche mehrere Kohlekraftwerke ans
Netz. Obwohl die Chinesen bereits der größte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren sie sogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massiven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidung der EU für
CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Steinkohle durchaus Zukunft hat.
Zweitens. Steinkohleförderung in Deutschland: Was
die Zukunft der Steinkohleförderung in Deutschland angeht, ist Folgendes zu sagen: Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz aus 2007 ist eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzentscheidung getroffen und der größte
Subventionsabbau seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen worden. Der deutsche Steinkohlebergbau ist
seit vielen Jahren aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen international nicht wettbewerbsfähig. Milliardenschwere Subventionen, fast zwei Milliarden Euro pro Jahr in den letzten Jahren waren bisher
notwendig, damit der deutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt.
Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt bereits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle
in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht erreichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirtschaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit
aus sicheren Lieferländern bezogen werden.
Dies soll nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist,
sondern dass die Förderung unter der Prämisse der
Wirtschaftlichkeit stehen muss, was übrigens für alle
Energieträger gilt.
Folglich teile ich die Meinung der Antragsteller, dass
die Beendigung der Steinkohlesubventionierung dringend notwendig war. Der Ausstiegsbeschluss von 2007
war somit richtig und wichtig und stellt meines Erachtens einen gelungenen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Subventionsabbaus und dem Schutz der
Arbeitnehmer in dieser Branche dar.
Drittens. Revisionsklausel: Im Steinkohlefinanzierungsgesetz wurde festgelegt, dass dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Bericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmals geprüft werden
soll, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung der Energieversorgung und der übrigen politischen Ziele weiter
gefördert werden soll.
In Ihrem Antrag fordern Sie, dass dieser Bericht und
somit die Revision der Steinkohleförderung vorgezogen
werden soll. Ein Vorziehen der Revision erachte ich
nicht nur für unnötig, sondern auch für falsch.
Die wichtigste Komponente der Wirtschaftspolitik ist
es, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich
die Unternehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen
können. Es wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die sich die Region und die Menschen dort verlassen. Diesen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit dürfen wir keinesfalls gefährden. Im Sinne
einer verlässlichen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an der derzeitigen Regelung für notwendig.
Zudem halte ich es für sinnvoll, den Abschluss der
Szenarienberechnungen für das Energiekonzept am
27. August und das vollständige Energiekonzept, das
Ende November dieses Jahres fertiggestellt sein wird,
abzuwarten. Darin werden die Strategien und Ziele für
die Energiepolitik der nächsten Jahre festgelegt;
ebenso, wie der künftige Energiemix aussehen wird.
Auch die Bedeutung von Steinkohle wird hierin klargestellt werden. Demnach bin ich der Meinung, dass das
Energiekonzept zunächst abgewartet werden sollte.
Ferner machen eine erneute Überprüfung und ein Bericht zu dieser Frage durch die Bundesregierung erst auf
Grundlage des Energiekonzepts Sinn, da darin energiepolitische Ziele und Aspekte der Energieversorgung zugrunde gelegt werden müssen, was erst abschließend mit
Verabschiedung des Energiekonzepts erfolgen wird.
In dem Bericht muss ergebnisoffen und sachlich festgestellt werden, ob der Steinkohleabbau in Deutschland
wirtschaftlich und wettbewerbsfähig ist und welche
Rolle Steinkohle im Energiemix der nächsten Jahre und
Jahrzehnte in Deutschland spielen wird. In dem Bericht
der Bundesregierung müssen alle Belange abgewogen
und Veränderungen, die seit Verabschiedung des Beschlusses eingetreten sind, mit einbezogen werden.
Viertens. Sofortiger Ausstieg: Ferner fordern Sie eine
frühere Beendigung des Steinkohlebergbaus, als sie im
Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegt wurde - 2018 -,
da dies den Haushalt belasten würde. Angesichts der
derzeitigen Haushaltslage und der empfindlichen Sparanstrengungen, die jedes Ressort zu tragen hat, sind alle
Subventionierungen genauestens auf den Prüfstand zu
stellen. Ich bin grundsätzlich gegen Subventionierungen, jedoch muss in jedem Einzelfall genau abgewogen
werden, welche sonstigen Auswirkungen das hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Richtig ist, dass mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 ein historischer Schritt in Richtung Subventionsabbau getan wurde. Was den endgültigen Zeitpunkt des Auslaufens der Subventionen angeht, ist zu
sagen: Ein früherer Ausstieg als 2018 ist grundsätzlich
möglich, jedoch zu dem Preis, dass viele Tausend Beschäftigte in dieser Branche kurzfristig in die Arbeitslosigkeit entlassen werden - und das in einer ohnehin von
hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Region.
Ich denke, zur Zeit des Ausstiegbeschlusses wurde ein
vernünftiger Konsens mit allen Beteiligten - Beschäftigten, Unternehmen und Politik - geschlossen, der seine
Berechtigung hat. Diese Regelung beendet die Subventionierung im deutschen Steinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. Der vereinbarte Ablaufzeitraum bis
2018 stellt sicher, dass betriebsbedingte Kündigungen
im Steinkohlebergbau vermieden werden können.
Ferner dürfen wir die durch langwierige politische
Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und
die damit entstandene Planungssicherheit und das Vertrauen in die getroffene Regelung nicht zerstören. Angesichts der Größe der Branche, über die wir reden, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstieg aus der
Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will.
Fünftens. Fazit: Die Revision der Vereinbarung zur
Beendigung der subventionierten Förderung der Steinkohle im Jahr 2012 durch den Bundestag wie auch den
Zeitpunkt des endgültigen Ausstiegs 2018 beizubehalten,
halte ich aus den eben genannten Gründen für sinnvoll
und richtig. Ich sehe daher keine Veranlassung, an dem
Auslaufen der Steinkohlesubventionen und der angemessenen Übergangs- und Revisionsfrist zu rütteln. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird Ihren Antrag aus
diesem Grund ablehnen.
In Ihrem Antrag zeigt sich ferner die unsachliche und
ideologisch geprägte Einstellung der Grünen im Bereich
der Energiepolitik. Weder ist der Einsatz moderner Kohlekraftwerke gewünscht noch der Betrieb von Kernkraftwerken als Brücke in das regenerative Zeitalter. Aber
auch Sie müssen einsehen, dass wir bei der Energieversorgung nicht von heute auf morgen auf Wind und Sonne
umschalten können. Sie fordern einen Strukturwandel in
der Energiepolitik, doch wird von Ihnen kein schlüssiges
Konzept vorgelegt, wie ohne fossile Brennstoffe kurzund mittelfristig die Grund- und Mittellast im Besonderen, die Energieversorgung im Allgemeinen sicher und
bezahlbar abgesichert werden soll.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erinnert im vorliegenden Antrag an die Revisionsklausel des Steinkohlefinanzierungsgesetzes von 2007. Hintergrund ist
der 2007 nach intensiven Verhandlungen getroffene
Kompromiss zwischen Bund, Nordrhein-Westfalen, dem
Saarland, der RAG AG und der IGBCE zur weiteren Zukunft des deutschen Steinkohlebergbaus. Der damals
vereinbarte Fahrplan sieht einen sozialverträglichen
Auslaufpfad für die subventionierte heimische Steinkohleförderung bis zum Jahr 2018 vor. Eine darin enthaltene Revisionsklausel eröffnet die Möglichkeit, dass
der Steinkohlekompromiss spätestens im Jahr 2012 noch
einmal im Lichte aktueller energiepolitischer Rahmenbedingungen überdacht wird. Auf diese Weise hat sich
Deutschland die Möglichkeit zur Fortführung der heimischen Steinkohleförderung in Form eines Sockelbergbaus erhalten.
Die SPD hat immer deutlich gemacht, dass die Option der Revision spätestens 2012 - möglichst schon
früher - gezogen werden muss. Insofern kann meine
Fraktion den Antrag der Grünen allein dem Titel nach
unterstützen. Inakzeptabel ist jedoch, dass mit dem Antragstext der Versuch unternommen wird, der geforderten Überprüfung ein Ergebnis vorwegzunehmen. Denn
mit dem Wunsch nach einem frühzeitigeren Auslaufen
des Steinkohlebergbaus fordern die Grünen nichts anderes als die Aufkündigung des Steinkohlekompromisses.
Als SPD-Fraktion sind wir ganz klar der Auffassung,
dass die Revisionsklausel eine ergebnisoffene Prüfung
vorsieht. Beide Pfade - sowohl der Auslaufpfad bis
2018 als auch die Fortführungsperspektive als Sockelbergbau - müssen gleichberechtigt geprüft und im
Lichte aktueller Entwicklungen bewertet werden.
Bei der Ausarbeitung des Steinkohlekompromisses
wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass der notwendige Anpassungsprozess und Strukturwandel sozialverträglich ausgestaltet wird und ohne betriebsbedingte
Kündigungen ablaufen soll. Das Jahr 2018 steht für die
Maßgabe der Sozialverträglichkeit. Der im Jahr 2007
vereinbarte Fahrplan schaffte lang erwartete Klarheit
für die Betroffenen und stellte die Weichen für einen berechenbaren Strukturwandel. Wenn die Grünen jetzt einen frühzeitigeren Ausstieg aus dem heimischen Steinkohlebergbau einfordern, so tun sie das auf Kosten der
hierzulande beschäftigten Bergleute und der mittelbar
vom Bergbau abhängigen Arbeitnehmer.
Neben dem Strukturwandel ist das Thema der heimischen Steinkohleförderung aber auch eine Frage der
Energieversorgungssicherheit. Die Wirtschaftlichkeit
des deutschen Steinkohlebergbaus wird in dem Antrag
der Grünen kategorisch verneint. Die Schlussfolgerung
ist der frühzeitige Ausstieg. Ganz so einfach darf man
sich es nicht machen. Es ist keine Frage, dass der
Steinkohlebergbau in Deutschland wegen der schwierigen Förderbedingungen heute nicht wettbewerbsfähig
ist. Die Versorgung mit Importkohle gilt als zuverlässig
und sicher. In der Zukunft droht das Marktgleichgewicht
jedoch durcheinander zu geraten, weil die stark wachsende Nachfrage in Asien nicht gleichgewichtig durch
die Erschließung neuer Quellen ausgeglichen wird. Wir
wissen, dass wir in hohem Maße von Energieimporten
abhängig und damit Preisentwicklungen an den internationalen Rohstoffmärkten weitgehend ausgeliefert sind.
Der Weltenergierat warnte kürzlich in einer Studie, dass
Deutschlands Energieversorgungsrisiko wesentlich
höher sei als das in anderen Industriestaaten. Daher
muss im Rahmen einer Prüfung zumindest in Erwägung
gezogen werden, uns den Zugang zu hiesigen Förderstätten zu erhalten. Denn einmal aufgegebene Förderquellen können nicht wieder reaktiviert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch die Preisentwicklung zeigt in der Tendenz, dass
eine zunehmende Annäherung der hiesigen Förderkosten an den Weltmarktpreis nicht ganz unwahrscheinlich
ist. Im Jahr 2008 schraubten sich die Energiepreise infolge steigender Ölpreise drastisch nach oben. Die
Kraftwerkskohle stieg im Preis von 62 Euro pro Tonne
im Jahr 2006 um 64 Prozent auf 112 Euro im Jahr 2008.
Im Zuge der Rezession brachen die Kohlepreise wieder
ein. Aber das dürfte nicht von Dauer sein - der Trend
zeigt inzwischen wieder nach oben. Daher muss die
Überprüfung des Steinkohlekompromisses ergebnisoffen
und im Lichte dieser neuen Entwicklungen durchgeführt
werden. Das bedeutet auch, dass vorab keine Fakten geschaffen werden dürfen, die den sozialverträglichen Auslaufpfad bis 2018 gefährden bzw. eine Fortführungsperspektive als Sockelbergbau über 2018 hinaus von
vornherein ausschließen.
Die SPD-Fraktion plädiert dafür, den allzu einseitigen Antrag abzulehnen. Wir sehen die Bundesregierung
vielmehr in der Bringschuld, endlich ihr lang angekündigtes Energiekonzept vorzulegen und konkrete
Maßnahmen aufzuzeigen, die den erfolgreichen Ausbau
der erneuerbaren Energien fortführen und darüber
hinaus erlauben, die enormen Potenziale im Bereich der
Energieeffizienz und der Energieeinsparung zu heben.
Denn neben den existierenden Optionen wie der heimischen Steinkohle sind diese beiden Themen zentrale
Baustellen auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit von internationalen Rohstoffmärkten..
Die FDP im Deutschen Bundestag setzt sich bereits
seit über 20 Jahren für ein geordnetes Auslaufen des
subventionierten Steinkohlebergbaus in Deutschland
ein. Zusammen mit der erfolgreichen Koalition von
CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen wurde eine Einigung über das Ende des Steinkohlebergbaus auf den
Weg gebracht. An dieser Stelle möchte ich noch einmal
betonen, dass die FDP grundsätzlich nichts gegen den
Abbau von Steinkohle in Deutschland hat, zumindest so
lange nicht, wie dieser ohne Subventionen auskommt
und keine Gefahren für die Menschen und die Umwelt
schafft. Wenn beim Abbau Schäden verursacht werden,
so müssen die aus der abgebauten Steinkohle gewonnenen Erträge ausreichen, um für die entstehenden
Schäden dauerhaft aufzukommen. Diese Voraussetzungen aber sind in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr erfüllt. So hat sich beispielsweise der
Preis für eine Tonne Importkohle nach einem kurzen
Hoch im Herbst 2008 schon im Jahr 2009 wieder bei einem Wert eingependelt, der etwa einem Drittel dessen
entspricht, was für eine Tonne deutsche Steinkohle ausgegeben werden muss. Deshalb hat sich die FDP als einzige politische Partei bereits in den 80er-Jahren für eine
konsequente Beendigung der Steinkohlesubventionen
eingesetzt. Zu jener Zeit haben die Vorgänger derjenigen, die heute hier mit ihrem Antrag einen schnelleren
Ausstieg fordern, gegen uns massiv demonstriert.
Wie nötig aber unser langfristiger Einsatz für den
Ausstieg war und weiter ist, zeigt sich daran, dass der
deutsche Steuerzahler seit 1990 bereits über 137 Milliarden Euro für die unrentable Steinkohleförderung in
Deutschland ausgeben musste. Fast 10 Prozent aller direkten Subventionen gehen in Deutschland noch immer
in dunkle Schächte statt in helle Köpfe. Der Rohstoff Bildung ist unsere Zukunft und nicht die unrentable Steinkohleförderung.
Der Ende 2007 errungene Kompromiss im Steinkohlefinanzierungsgesetz hat zu Recht die Weichen Richtung Auslaufbergbau gestellt und einen realitätsfernen
Sockelbergbau abgelehnt. Das Ziel bleibt klar: In enger
Abstimmung mit den Landesregierungen muss weiterhin
geprüft werden, ob und wie der Ausstieg aus der subventionierten deutschen Steinkohle beschleunigt werden
kann, ohne dass geschlossene Verträge und Zusagen gebrochen werden. Angesichts des hohen Qualifikationsniveaus der deutschen Bergleute habe ich jedoch auch
keine Bedenken, dass die Beschäftigten sozialverträglich unsubventioniert in anderen Bereichen eingesetzt
werden können. Sozialverträglichkeit muss in diesem
Zusammenhang auch heißen: verträglich für alle Steuerzahler. Denn sie müssen die Gelder erarbeiten, mit
denen der Staat die unrentablen Kohlearbeitsplätze aufrechterhält.
An höchster Stelle muss bei allem die Sicherheit derer
stehen, unter deren Wohnstätten noch abgebaut wird.
Erdbeben wie im Saarland 2008 oder eine Gefährdung
durch Hochwasser können nicht hingenommen werden.
Wenn solche Gefahren drohen, ist der Abbau unter den
gefährdeten Regionen sofort einzustellen.
Die FDP-Bundestagsfraktion steht mit der Bundesregierung für den eingeleiteten Strukturwandel. Auch die
weiteren politischen Akteure sind aufgefordert, diese
Aufgabe tatkräftig zu unterstützen.
Die Grünen wollen sich offensichtlich in Berlin
Schützenhilfe für die Koalitionsverhandlungen in NRW
organisieren. Tatsächlich ist die Frage der Kohlepolitik
umstritten zwischen SPD und Grünen. Der hier vorliegende Antrag macht das sehr deutlich. Die Grünen wollen offensichtlich den Steinkohlekompromiss aufkündigen. Bereits jetzt und nicht erst 2012 soll über die Frage
des Sockelbergbaus entschieden werden mit der Absicht,
den Sockel jetzt zu den Akten zu legen und ein vorgezogenes Ende des Steinkohlebergbaus einzuleiten. Das
lehnen wir ab. Natürlich ist die Verstromung von Kohle
eine der Hauptursachen für Treibhausemissionen bei
der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein zum
Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Zusammen mit einer Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken blockieren Kohlekraftwerke den auch in NRW dringend benötigten Umstieg auf erneuerbare Energien.
Die Grünen berücksichtigen aber eines nicht: Die
Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr
als 15 000 Menschen in NRW. Mit dem Erhalt eines
Steinkohlesockels können ein moderner Maschinen- und
Anlagenbau und hoch qualifizierte Stellen erhalten werden. Die hierfür benötigten Mittel des Bundes sollten an
Bedingungen geknüpft und degressiv gestaltet werden.
Deshalb halten wir nach wie vor an einem SteinkohleZu Protokoll gegebene Reden
sockel, verbunden mit einem Ausstieg aus der Kohlverstromung, fest. Das gilt in besonderem Maße auch für
die Ausbildungsplätze. Statt einer Diskussion über die
Aufkündigung der Revisionsklausel sollten die Grünen
in den Koalitionsverhandlungen in NRW endlich einen
Dialog mit Gewerkschaften und Handwerkskammern
über die Zukunft von Jugendlichen in den betroffenen
Bergbauregionen aufnehmen. Das wäre ein Stück notwendiger Politikwechsel für NRW. Mit den Forderungen
in ihrem Antrag stellen die Grünen natürlich die Sozialverträglichkeit des Abbaus infrage. Das betrifft die frühzeitigere Beendigung und vor allem die Prüfung der
Kürzung von Subventionen. Sozialverträglichkeit und
Politikwechsel gehen anders.
Wir treten dafür ein, die freiwerdenden Mittel so
lange für die Bewältigung des Strukturwandels einzusetzen, bis ausreichend Ersatzarbeitsplätze geschaffen
sind. Für die betroffenen Regionen im Ruhrgebiet und
im Saarland ist eine Strukturpolitik zu entwickeln.
Schwerpunkt soll eine gezielte Ansiedlungsstrategie für
Unternehmen im Maschinen- und Anlagebau und im Bereich der erneuerbaren Energien werden.
Sie fordern Transparenz in der Verwendung der Subventionen und der Mittel der RAG-Stiftung. Das reicht
nicht. Wir haben schon 2007 davor gewarnt, dass durch
die privatrechtliche Steinkohle-Stiftung unter dem Dach
der RAG auf jegliche Einflussnahme der öffentlichen
Hand beim Ausstieg verzichtet wurde. Das Konzept der
Bundesregierung, über die private RAG-Stiftung den
Steinkohlebergbau abzuwickeln, ohne die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler noch mehr zu belasten, ist gescheitert, bevor es losging. Die öffentliche Stiftung hätte
die strukturpolitischen Aufgaben im Ausbildungsbereich, im öffentlichen Beschäftigungssektor und bei den
Wohnungsbauunternehmen übernehmen können. Man
hätte so einen Strukturwandel organisieren können, hin
zu einer verstärkten Energieeffizienz und zu einer verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien.
Der DGB und der Naturschutzbund in NordrheinWestfalen sind sich der Verantwortung im größten Industrie- und Energieerzeugerland bewusst. Sie fordern:
Der sozial-ökologische Umbau dieses Bundeslandes
braucht gesellschaftlichen Dialog statt Konfrontation.
Sie gehen mit dem Antrag den Weg der Konfrontation.
Das lehnen wir ab. Wir werden dies auch im Landtag
zum Thema machen.
Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2007 das Gesetz
zur Finanzierung der Beendigung des subventionierten
Steinkohlebergbaus zum Jahr 2018 verabschiedet. Die
Entscheidung, den subventionierten Steinkohlebergbau
zu beenden war richtig und überfällig, auch wenn der
Ausstieg sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbedingte Kündigungen, unserer Meinung nach auch schon
deutlich früher möglich gewesen wäre. Der deutsche
Steinkohlebergbau hat mit seinen Revieren im Ruhrgebiet, im Saarland und in der Aachener Region eine
große Geschichte. Ohne ihn wäre die Industrialisierung
unseres Landes und auch der Wiederaufbau nach dem
Zweiten Weltkrieg kaum vorstellbar gewesen. Doch
schon in den 1960er-Jahren zeichnete sich ab, dass die
Steinkohle aufgrund der geologischen Gegebenheiten
hierzulande auf Dauer nicht mehr wirtschaftlich gewinnbar sein würde. Importkohle war billiger und außerdem sank die Bedeutung der Steinkohle im deutschen
Energiemix. Um den Steinkohlebergbau dennoch zu erhalten, wurden mehr und mehr staatliche Subventionen
eingesetzt. Doch den Niedergang des Bergbaus konnten
die staatlichen Mittel nicht aufhalten. Heute sind es gerade noch einmal 5 Bergwerke, die übrig geblieben sind.
Die Zahl der Beschäftigten liegt bei unter 5 Prozent, im
Vergleich zu den Hochzeiten in den 1950er-Jahren.
Was immer auch die Motive für die Steinkohlesubventionen waren, den notwendigen Strukturwandel in den
Revieren haben sie eher behindert als gefördert. Die
künstliche und dauerhafte Erhaltung nichtwirtschaftlicher Strukturen ist für betroffene Regionen und die
ganze Volkswirtschaft schädlich statt nützlich. Während
die Förderkosten der deutschen Bergwerke in den letzten Jahren zwischen 122 und 181 Euro je geförderter
Tonne je nach Bergwerk lagen - im Falle des Bergwerks
Ost sogar deutlich über 200 Euro je Tonne -, sind die
Erlöse für die Steinkohle nicht über 70 Euro hinausgekommen. Und selbst 2008, als die Preise für Energierohstoffe weltweit explodiert waren, betrug der Erlös deutscher Bergwerke 116 Euro je Tonne und erreichte damit
trotzdem nicht die Förderkosten. Dabei muss man bedenken, dass diese Angaben zu den Förderkosten nicht
einmal alle Kosten beinhalten, die der Bergbau verursacht. Altlasten und Ewigkosten - wie zum Beispiel die
auf ewig zu zahlenden Kosten der Wasserhaltung und
Polderung im Ruhrgebiet und am Niederrhein, die erforderlich sind, damit die durch den Bergbau um bis zu
25 Meter abgesenkten Gebiete nicht absaufen - sind bei
den Förderkosten gar nicht eingerechnet.
Jeder weitere Bergbau in Zukunft führt zu neuen
Bergschäden, Altlasten und Ewigkosten, die angesichts
der fehlenden wirtschaftlichen Perspektive und der öffentlichen Milliardensubventionen unverantwortlich
sind. Deshalb ist es richtig, den Bergbau so schnell wie
möglich auch schon vor dem im Gesetz verankerten Termin 2018 sozialverträglich zu beenden. Dazu schlagen
wir vor, die im Steinkohlefinanzierungsgesetz verankerte
Revisionsklausel von 2012 auf dieses Jahr vorzuziehen
und schnell zu prüfen, welche Perspektiven der Bergbau
tatsächlich noch hat. Wir wollen für die Belegschaften,
für die Kommunen und für die Bergbaubetroffenen
schnellstmögliche Klarheit, wann die verbliebenen
Bergwerke geschlossen werden. Dann können sich alle
auf die Zeit nach dem Bergbau schon heute einstellen.
Und vielleicht gelingt es uns bei diesem Prozess, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Mittel des Bundes für den
Steinkohlebergbau reduziert werden können. Jedenfalls
ist das ein seriöser Weg, den Bundeshaushalt zu entlasten.
Nicht seriös ist, wenn wie in den letzten Wochen von
einer Reihe von Koalitionspolitikern - so auch von
Herrn Wirtschaftsminister Brüderle - die Senkung der
Steinkohlesubventionen gefordert wird, und danach
kommt dann nichts mehr, kein konkreter Vorschlag, wie
Zu Protokoll gegebene Reden
man in der Sache angesichts der von der Großen Koalition geschaffenen Rechtslage und bis 2013 bereits erteilter Bewilligungsbescheide, die Subventionen reduzieren
will. Solche substanzlosen Forderungen sind nicht anders als Populismus, Effekthascherei für die schnelle
Schlagzeile.
Dass die RAG heute schon angesichts gestiegener
Weltmarktpreise für Steinkohle einen Teil der Subventionen zurückzahlen muss, ist ein Mechanismus, den die
Grünen in der rot-grünen Koalition in Berlin und Düsseldorf 2004 durchgesetzt haben. Davon profitieren die
Haushalte des Bundes und des Landes NRW heute. Vorher war es nämlich so, dass die RAG Subventionen
bekam, unabhängig von den Weltmarktpreisen und den
Erlösen für die deutsche Kohle. So hat die öffentliche
Hand der RAG viele Hundert Millionen Euro, wenn
nicht Milliarden geschenkt, die gar nicht für den Betrieb
der Bergwerke benötigt wurden.
Wir machen heute den konkreten und umsetzbaren
Vorschlag, die Revisionsklausel vorzuziehen. So kann
man vielleicht tatsächlich die Subventionen für den
Bergbau reduzieren und es nicht nur populistisch fordern. Ein schnellerer, sozialverträglicher Ausstieg ist
möglich und sinnvoll, wenn man diese Option im Rahmen der Revisionsklausel ernsthaft prüft. Allen Beteiligten muss aber auch klar sein, dass uns der Steinkohlebergbau noch Milliarden kosten wird, auch wenn das
letzte Bergwerk längst stillgelegt ist. Es gibt erhebliche
Zweifel, ob die Mittel der RAG-Stiftung für die Altlasten
und Ewigkosten reichen werden. Deshalb sollten wir
handeln, damit neue Bergschäden und damit verbundene Altlasten und Ewigkosten erst gar nicht mehr entstehen. Dazu haben wir einen konkreten Vorschlag
unterbreitet, den wir gerne mit Ihnen in der Sache diskutieren würden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2142 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind, wie ich
sehe, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. Juli 2010, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
eine heitere Sommernacht.