Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich eröffne die Sitzung.
Ich begrüße Sie sehr herzlich zur Fortsetzung unserer
heutigen Beratungen, bei denen es um die weitere Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin geht. Ich erinnere daran, dass wir am Dienstag für
heute dreieinhalb Stunden vorgesehen haben.
Wir beginnen mit dem Themenbereich Gesundheit.
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Bundesminister für Gesundheit Dr. Philipp Rösler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gesundheit ist für die Menschen in Deutschland
ein enorm hohes Gut. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP steht dafür, dass jeder, unabhängig von Einkommen, Alter, sozialer Herkunft und gesundheitlichen Risiken, den Zugang zu unserem Gesundheitssystem erhalten kann und dass unsere Gesundheitssysteme auch
zukünftig finanzierbar bleiben. Das ist das erklärte Ziel
dieser neuen Regierungskoalition.
({0})
In den letzten 20 Jahren gab es alle zwei bis drei Jahre
eine Gesundheitsreform. Allzu häufig hatten die Menschen das Gefühl, dass es zwar teurer, aber nicht immer
besser geworden ist. Wir sind angetreten, genau das zu
ändern.
Die meisten Reformen waren der Versuch, die Lohnzusatzkosten, die Beitragssätze zu senken oder wenigstens stabil zu halten. Aber angesichts der demografischen Entwicklung und des medizinisch-technischen
Fortschrittes mussten diese Versuche immer wieder in
Kostendämpfungsgesetzen enden.
Wer aber wirklich will, dass die künftigen Kostensteigerungen im Gesundheitssystem nicht automatisch
zulasten des Faktors Arbeit gehen, muss zu einer weitestgehenden Entkopplung von den Krankenversicherungskosten und den Lohnzusatzkosten kommen. Nicht
weil wir den Arbeitgebern einen Gefallen tun wollen,
({1})
sondern weil wir Arbeitslosigkeit verhindern müssen.
({2})
Deswegen ist es richtig, den sogenannten Arbeitgeberanteil festzuschreiben. Das schafft nicht nur neue Möglichkeiten im Krankenversicherungssystem,
({3})
sondern sorgt insgesamt für Wachstum und Beschäftigung.
({4})
Die Gesundheitsbranche ist mit über 4 Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mehr als
250 Milliarden Euro heute schon der größte Arbeitgeber
in Deutschland. Es gibt darüber hinaus erhebliche
Wachstumspotenziale.
({5})
Wer diese Potenziale heben will, der braucht ein wettbewerbliches System.
({6})
Es gibt in Deutschland kaum ein System, das regulierter
und mit mehr Bürokratie belastet ist als das deutsche Gesundheitssystem. Das gilt es in dieser Legislaturperiode
zu ändern.
({7})
Wir brauchen in der Krankenversicherung ein klares
System der Ordnung, das sich aber nicht anmaßt, alles
ständig lenken zu wollen. Der freie und faire Wettbewerb ist auch in der Krankenversicherung der bessere
Weg,
({8})
Redetext
besser als der Weg der Einheitskasse und der staatlichen
Zwangswirtschaft.
({9})
Deswegen ist „eine Kultur des Vertrauens“ ein wesentlicher Bestandteil in unserem Koalitionsvertrag.
({10})
Ich habe angefangen, Medizin zu studieren, weil ich
mit Menschen zu tun haben wollte, die sich auch so benehmen.
({11})
Nach meinem Studium musste ich feststellen, dass Qualitätssicherungsbögen und Arbeitsdokumentationen offensichtlich wichtiger sind als die Qualität und die Arbeit am und mit den Menschen.
({12})
Da habe ich mich entschieden, in die Politik zu gehen,
die Bürokratie zu beenden und endlich mehr Zeit für
Menschen zu schaffen.
({13})
Wir vertrauen den Menschen, die Leistung in Anspruch nehmen, aber wir vertrauen auch den Menschen,
die Leistung erbringen, immerhin mit dem hohen ethischen Ziel, Menschen in Not zu helfen.
Wettbewerb in der Krankenversicherung, im Bereich
der Gesundheit heißt Wahlfreiheit für Patienten und
Versicherte, aber auch für Leistungserbringer.
({14})
Wer Kosten wirklich dämpfen will, der braucht keine
Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, sondern sollte
auf den aufgeklärten und mündigen Patienten und auf
den eigenverantwortlich Versicherten setzen.
({15})
Frau Bundeskanzlerin Merkel hat am Dienstag in der
Regierungserklärung für diese Koalition deutlich auf den
Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung
hingewiesen. Verantwortung heißt eben auch, zu erkennen, dass es einen Unterschied zwischen einem freien
und wettbewerblichen Gesundheitssystem als Teil eines
sozialen Sicherungssystems auf der einen Seite und einem beliebigen wettbewerblichen System auf der anderen Seite gibt.
({16})
Der Unterschied lässt sich in einem Begriff zusammenfassen: Solidarität.
({17})
Solidarität und Eigenverantwortung sind keine Gegensätze. Ganz im Gegenteil:
({18})
Wir setzen auf die Eigenverantwortung. Wir wissen aber,
dass jeder in eine Situation kommen kann, in der er auf
die Solidarität der anderen angewiesen ist. Solidarität
heißt: Der Starke hilft dem Schwachen; nicht mehr, aber
eben auch nicht weniger. In Bezug auf das Krankenversicherungssystem heißt das eben, dass die starken Gesunden den schwächeren Kranken helfen müssen. Dieses
Ausgleichssystem gehört in die gesetzliche Krankenversicherung.
({19})
Aber den weiteren Ausgleich, den es dort gibt, den Ausgleich zwischen Arm und Reich, halten wir in der Gesundheitsversicherung für wenig treffsicher und deswegen für sozial ungerecht.
({20})
Ich möchte hier ausdrücklich festhalten: Es wird in jeder Gesellschaft einen Ausgleich zwischen Arm und
Reich geben müssen, aber eben nicht im Gesundheitssystem. Dieser Ausgleich ist besser aufgehoben im
Steuer- und Transfersystem; denn im Gesundheitssystem
gibt es einen einheitlichen Beitragssatz von 14,9 Prozent, und die Solidarität endet bei der Beitragsbemessungsgrenze. Im Steuersystem hingegen wird jeder mit
all seinen Einkünften nach seiner Leistungsfähigkeit besteuert,
({21})
und jeder, übrigens auch die privat Versicherten, wird finanziell für die Gemeinschaft verpflichtet. Für CDU,
CSU und FDP enden Solidarität und Gerechtigkeit eben
nicht bei einer Beitragsbemessungsgrenze von 3 750 Euro.
({22})
Verantwortung heißt aber auch, die Frage zu beantworten, wie wir das bestehende System in ein neues
überführen können, ohne dabei die Menschen und die
sozialen Sicherungs- und Transfersysteme zu überlasten.
Jeder von uns weiß: Das wird nicht von heute auf morgen geschehen. Aber trotzdem muss man den Mut haben, in dieser Legislaturperiode zu beginnen. Angesichts
der demografischen Entwicklung stehen wir in der Verantwortung, für mehr als 80 Millionen Menschen ein robustes Krankenversicherungssystem auf den Weg zu
bringen. Robust heißt, dass die Menschen die Gewissheit
haben können, dass das Geld, das sie heute einzahlen,
auch morgen für Vorsorge und Versorgung zur Verfügung steht. Diese Gewissheit ist ein wesentliches Element einer erfolgreichen Gesundheitsreform.
({23})
Ebenso müssen wir unsere Pflegeversicherung reformieren. Nicht jeder von uns hat Kinder, aber jeder von
uns hat Eltern. Genauso wie Verantwortung in der Gesellschaft heißt, dass Eltern für ihre Kinder Verantwortung übernehmen, müssen auch Kinder eines Tages, in
Alter und Pflege, für ihre Eltern Verantwortung übernehmen. Darauf müssen wir unser Pflegeversicherungssystem ausrichten. Die Einführung der Pflegeversicherung
Mitte der 90er-Jahre hat vielen Menschen geholfen.
Aber jetzt ist es dringend an der Zeit, das Umlageverfahren Pflegeversicherung um eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung zu ergänzen;
({24})
denn Solidarität in der Pflege heißt, dass die Jungen den
Älteren helfen. Aber wir brauchen nicht nur Solidarität,
sondern auch Gerechtigkeit. Deswegen ist es richtig, die
Pflegeversicherung endlich generationengerechter auszugestalten als bisher.
({25})
Die Reformen der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung werden in dieser Legislaturperiode vielleicht nicht die einfachsten Aufgaben für diese Koalition
sein. Aber wenn es einfach wäre, dann hätten ja auch Sie
regieren können.
({26})
Der Wähler hat anders entschieden. Das Ziel ist klar. Packen wir es an.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({27})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr geehrter Herr Rösler, zunächst einmal möchte ich
Sie im Namen der SPD-Bundestagsfraktion zu Ihrer Ernennung beglückwünschen. Ich hätte Ihnen auch gern
viel Erfolg für Ihre Arbeit gewünscht, aber Ihre Gesundheitspolitik ist so grundlegend falsch, dass man das beim
besten Willen nicht machen kann.
({0})
Ich muss sagen: Ich war bei Ihrer Rede schon etwas
erstaunt, dass Sie als Arzt nicht den Patienten und die
Patientin in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik
stellen,
({1})
sondern eine Kopfpauschale, die zu einer Dreiklassenmedizin führen würde.
({2})
Sie haben eine Koalitionsvereinbarung für den Bereich Gesundheit und Pflege gemacht, die eine Aneinanderreihung von Formelkompromissen ist. Offenbar waren alle, die da zusammengesessen haben, so berauscht
von ihrem Wahlsieg, dass sie gar nicht gemerkt haben,
was sie da aufgeschrieben und unterschrieben haben.
Dann war der Kater über die künftige Gesundheitspolitik
so groß, dass das alles sehr unterschiedlich interpretiert
worden ist.
Ich möchte eine kleine Auswahl vortragen. Markus
Söder: „Der Fonds ist Geschichte. Es wird ein neues
System etabliert.“ Alexander Dobrindt: „Es steht kein
Systemwechsel an.“ Ronald Pofalla: „Der Fonds bleibt.
Er ist der richtige Weg.“ Birgit Homburger: „Der Fonds
kann nicht bleiben. Das ist ganz klar vereinbart. Wir
brauchen einen schnellen Systemwechsel.“ Horst
Seehofer: „Ein Gesundheitssystem, in dem die Lasten
solidarisch verteilt sind, gehört zu meinem MarkenKern. Der steht nicht zur Disposition. Punkt.“ Das ist die
Bandbreite in dieser Koalition. Herr Schäuble sagt dann
auch noch: „Im Koalitionsvertrag steht, was wir anstreben.“ Ich füge hinzu: Aber nicht das, was wir machen
werden. - Das ist die Politik, die Sie hier der Bevölkerung bieten.
({3})
Sie wollen vor der NRW-Wahl die Katze nicht aus
dem Sack lassen. Auch haben Sie keinen Gestaltungswillen. Denn diese Koalition stützt auch in der Gesundheitspolitik eine Regierung, die die Probleme konsequent ausblendet, liegen lässt und sogar noch verschärft.
Sie machen Politik gegen die Mehrheit der Menschen in
unserem Land. Das ist das Schlimmste an dem, was in
Ihrem Koalitionsvertrag steht.
({4})
Wer den Anspruch erhebt, unser Land regieren zu
wollen, muss sich den Aufgaben stellen und die Verantwortung für politische Entscheidungen übernehmen, anstatt sich hinter Regierungskommissionen und Prüfaufträgen zu verstecken. Konkret werden Sie dann, wenn es
um die Begünstigung Ihrer eigenen Klientel geht. In einer Zeit, in der Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen,
viele bereits arbeitslos oder in Kurzarbeit sind oder auf
Einkommen verzichten, um Arbeitsplätze zu retten, stellen Sie Ärzten, Apothekern und Pharmaindustrie zusätzliche Einkünfte in Aussicht.
Die Rechnung für diese Wahlgeschenke geht allein an
die gesetzlich Versicherten; denn die Arbeitgeber sollen
an den Ausgabensteigerungen künftig nicht mehr beteiligt werden. Sie haben vereinbart - Herr Rösler sagte das
ja eben -, den Arbeitgeberbeitrag einzufrieren. Damit
kündigen Sie das bisher tragende Prinzip der paritäti276
schen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auf.
({5})
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Rentner und
Rentnerinnen müssen dann deutlich tiefer in die Tasche
greifen. Aber auch die privat Versicherten kommen nicht
ungeschoren davon; denn sie müssen bei den ohnehin
schon ständig überproportional steigenden Versicherungsprämien mehr zahlen, weil auch ihr Arbeitgeberzuschuss eingefroren wird. Sie wälzen damit alle künftigen
Kostensteigerungen, ob wegen des demografischen
Wandels oder wegen des medizinischen Fortschritts, alleine auf die Versicherten ab. Das bedeutet, dass sich in
Zukunft kaum einer noch eine vernünftige Krankenversicherung wird leisten können.
({6})
Sie entlassen die Arbeitgeber auch aus der Kostenverantwortung. Bisher hat die Arbeitgeberseite über die
Verwaltungsräte in den Krankenkassen immer mit darauf
geachtet, dass die Kosten nicht aus dem Ruder laufen.
Das wird künftig anders sein. Das heißt, die Versicherten
werden noch mehr belastet. Das ist alles andere als mehr
Netto vom Brutto. Das ist weniger Netto vom Brutto.
({7})
Besser, als Norbert Blüm es am 26. Oktober dieses Jahres gesagt hat: „Die Sozialpartnerschaft wird langsam,
aber stetig plattgemacht“, kann auch ich das nicht charakterisieren.
Sie gehen noch einen zweiten Weg, nämlich den Weg
„Privat vor Staat“. Sie wollen das größte Lebensrisiko,
das Risiko, krank oder pflegebedürftig zu werden,
Schritt für Schritt privatisieren, koste es den oder die
Einzelne, was es wolle, Hauptsache, die eigene Klientel
ist gut versorgt. Bei der FDP kennen wir das nicht anders, das wundert niemanden, aber CDU und CSU verabschieden sich in der Gesundheitspolitik gerade von ihrem Status als Volkspartei.
({8})
Es sollte Ihnen zu denken geben, dass Ihr Koalitionsvertrag nur von der Arbeitgeberseite, der Ärzteschaft,
der Apothekerschaft und der Pharmaindustrie gelobt
wird, aber nicht von den Krankenkassen, den Gewerkschaften, den Sozial- und Patientenschutzverbänden und
den Verbraucherverbänden. Die lassen an Ihrem Koalitionsvertrag kein gutes Haar. Sie machen eine Gesundheitspolitik gegen mehr als 70 Millionen gesetzlich Versicherte in unserem Land. Sie wollen das solidarischste
Sozialversicherungssystem, das wir haben, dem Ellenbogenprinzip preisgeben.
({9})
Mit dem, was Sie vorhaben, gehen Sie den Weg in die
Dreiklassenmedizin, anstatt die Zweiklassenmedizin zu
überwinden.
({10})
Das untere Drittel unserer Gesellschaft wird zu Bittstellern, um die von Ihnen geplante unsoziale Kopfprämie
überhaupt bezahlen zu können. Das zweite Drittel - diejenigen, die noch genug Geld haben und noch gesund
genug sind, um sich zusätzlich zu versichern - kann
dann vielleicht gerade noch am medizinischen Fortschritt teilhaben. Und die privat Versicherten nehmen
nach wie vor im Erste-Klasse-Wartezimmer mit schneller Terminvereinbarung Platz. Sie planen nichts anderes
als den Kahlschlag in unserem Gesundheitssystem
({11})
- um das uns viele im Ausland beneiden -, nur um Ihre
neoliberale und marktradikale Ideologie durchzusetzen.
({12})
Die FDP ist wenigstens so ehrlich gewesen, dies vor
der Wahl klipp und klar zu sagen, die CDU hat, ohne es
den Wählern zu sagen, auf ihr Kopfprämienmodell zurückgegriffen, und die CSU, deren Vorsitzender Horst
Seehofer immer gegen die Kopfprämie gewesen ist, ist
nach der Wahl umgefallen wie ein nasser Sandsack.
({13})
Das alles läuft nach dem Motto: Vor der Wahl links blinken, nach der Wahl rechts abbiegen. Das haben Sie sich
in Nordrhein-Westfalen abgeguckt. Das werden Ihnen
die Wählerinnen und Wähler aber nicht durchgehen lassen.
({14})
Ihre unsoziale Kopfprämie heißt im Klartext, dass die
alleinerziehende Sekretärin in Zukunft genauso viel für
ihre Krankenversicherung bezahlt wie der Bankdirektor.
Der Unterschied zwischen den beiden ist, dass der Bankdirektor weniger bezahlt als vorher, durch den ungerechten Kinderfreibetrag mehr Familienförderung erhält und
durch Ihre unfinanzierbaren Steuersenkungen auch noch
deutlich stärker entlastet wird als seine alleinerziehende
Sekretärin. Mehr Netto vom Brutto für den Bankdirektor, weniger Netto vom Brutto für die Sekretärin, das ist
Ihre Politik.
({15})
Sie von der FDP bezeichnen den Gesundheitsfonds
als Bürokratiemonster. Erklären Sie uns doch einmal,
wie Sie dafür sorgen wollen, dass für mehr als
70 Millionen Versicherte Konten bei den Krankenkassen
und bei der Sozialausgleichsbehörde, die Sie einrichten
wollen, verwaltet werden und wie die Anträge von
20 bis 30 Millionen Versicherten auf Gewährung eines
Sozialausgleichs bearbeitet und beschieden und die entsprechenden Widersprüche bearbeitet werden sollen!
Wie wollen Sie das denn machen? Wer den Gesundheitsfonds, wo 21 Leute arbeiten, um 170 Milliarden Euro zu
verteilen, ein Bürokratiemonster nennt, der kann das,
was Sie hier vorhaben, nur noch als Bürokratiewahnsinn
bezeichnen.
({16})
Dieses Geld brauchen wir dringend für die medizinische
Versorgung der Patientinnen und Patienten, und nicht,
um zusätzliche Bürokratie aufzubauen.
Ich sage Ihnen: Ihre unsoziale Kopfprämie ist so
falsch wie ungerecht. Ich sage Ihnen auch: Sie wird
- das werden wir am Ende der vier Jahre sehen, Herr
Rösler - nicht kommen. Dann sehen wir uns hier wieder,
und dann werden die Wählerinnen und Wähler entscheiden können, wer die bessere Gesundheitspolitik für sie
macht.
Wir werden die Kopfprämie verhindern. Wir werden
den Weg in die Dreiklassenmedizin nicht mitgehen. Ich
bin mir ganz sicher, dass die Mehrheit der Bevölkerung
da an unserer Seite steht.
({17})
Was der Sozialtransfer, der nötig wird, wenn Sie auf
die Kopfprämie umstellen, kosten würde, ist diese Woche in den Zeitungen eingehend behandelt worden. Sie
brauchten für diesen Sozialausgleich zusätzlich 24 bis
35 Milliarden Euro. Wo Sie dieses Geld herzaubern wollen, erst recht, da Sie Steuersenkungen im Umfang von
24 Milliarden Euro vornehmen wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Aber Sie können uns im Laufe dieser Wahlperiode darlegen, wie Sie das machen wollen.
Ihre Fantasie ist an dieser Stelle noch nicht erschöpft:
Sie wollen auch noch die Beitragseinnahmen regionalisieren. Das geht, wenn es nach den Vorstellungen der
CSU geht, nach dem Motto: Mein Geld gehört mir. Wie das in Bayern so ist: Wenn ich etwas kriegen kann,
dann nehme ich es, und wenn ich etwas geben soll, dann
behalte ich es. - Das ist das, was Sie unter Solidarität
verstehen. Mit gleichen Lebensverhältnissen in Ost und
West, von denen Frau Merkel diese Woche gesprochen
hat, hat das nichts zu tun, auch nicht damit, dass die Starken für die Schwachen einstehen. Das ist eine Politik,
die sich insbesondere gegen die Versicherten in den
neuen Ländern, aber auch gegen die Versicherten in
strukturschwachen Ländern im Westen richtet. Das werden Ihnen die Menschen nicht durchgehen lassen.
({18})
Wer dann glaubt, eine solche Politik machen zu müssen,
damit sich die Ärzte am Starnberger See auch noch den
Drittporsche leisten können
({19})
und vielleicht die Versicherten in Bayern etwas weniger
Beitrag zahlen, der irrt sich; denn wenn in den neuen
Ländern oder in strukturschwachen Regionen der alten
Länder AOKen in die Knie gehen, muss die AOK Bayern mit haften. Das haben Sie bei den Egoismen, die Sie
immer bedienen, offenkundig nicht bedacht.
({20})
Sie wollen den Risikostrukturausgleich zurückführen.
Den haben wir erst eingeführt, damit die Kassen, die
viele Kranke und Ältere unter ihren Versicherten haben,
einen gerechten Ausgleich für ihre Ausgaben bekommen. Wenn es nach Ihnen geht, sollen die Kassen, die
die Alten und Kranken versichern, schauen, wie sie zurechtkommen, während die Kassen, die die Jungen und
Gesunden versichern, in Geld schwimmen. Das ist doch
kein Wettbewerb, Herr Rösler. Bei Wettbewerb muss es
doch um die beste Versorgung gehen und nicht um die
billigsten Versicherten.
({21})
Dann wollen Sie auch noch an den Leistungsumfang
gehen. Was wir davon zu halten haben, werden wir hoffentlich im Laufe dieser Wahlperiode erfahren. In Ihrem
Koalitionsvertrag heißt es:
Die Versicherten sollen auf der Basis des bestehenden Leistungskatalogs so weit wie möglich ihren
Krankenversicherungsschutz selbst gestalten können.
Was soll das heißen? Wollen Sie vielleicht auch noch
den Leistungskatalog einfrieren? Soll man die Versorgung mit einem künstlichen Hüftgelenk abwählen können? Was ist damit gemeint? Dazu steht in Ihrem Koalitionsvertrag überhaupt nichts. Sie wollen die Einführung
von Festbeträgen prüfen - das wäre endgültig der Weg in
die Dreiklassenmedizin -, und sie wollen die Kostenerstattung einführen.
Bei der PKV bedanken Sie sich umgehend für die
zahlreichen Wahlkampfspenden, die Sie in diesem Jahr
erhalten haben,
({22})
indem Sie ihr die bisher gesetzlich Versicherten schneller zuführen: Schon nach einem Jahr soll der Wechsel
möglich sein. Wer wechselt denn? Es wechseln nicht die
Kranken, es wechseln die, die jung und gesund sind und
gut verdienen. Die anderen bleiben allein zurück. Die
Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung werden
deshalb nicht geringer. Das ist eine Entsolidarisierung,
eine Schwächung der Finanzbasis der gesetzlichen Krankenversicherung. Das scheint Ihr vorrangiges Ziel zu
sein.
({23})
Bei der Pflege wollen Sie eine private Zwangszusatzversicherung einführen, um einen Kapitalstock zu bilden. Ich weiß nicht, was Sie reitet. In der jetzigen Situation, wo jeder Cent zur Stärkung der Binnennachfrage
gebraucht wird, Geld aus dem Wirtschaftskreislauf zu
ziehen und in ein privates Versicherungssystem zu leiten, in dem die Abschlusskosten hoch sind und Rendite
für die Aktionäre erwirtschaftet werden muss, ist, gelinde gesagt, absurd. Ich sage Ihnen: Auch das wird keinen Erfolg haben.
Wenn man dem Gedanken, einen Kapitalstock aufzubauen, nähertreten wollte, könnte man sagen: Wir machen das im System. - Aber wenn Sie eine Bürgerversicherung Pflege und Gesundheit einführen, in der
private und gesetzliche Krankenversicherung die Risiken solidarisch ausgleichen, dann brauchen Sie keinen
Kapitalstock, dann können Sie alles finanzieren, auch
das, was an demografischer Entwicklung und an medizinischem Fortschritt auf uns zukommt und die Kosten natürlich erhöhen wird.
Sie sind ganz klipp und klar ein Sicherheitsrisiko für
unseren Sozialstaat.
({24})
- Da Sie hier so aufbegehren, scheine ich genau den
Punkt zu treffen.
({25})
Sie entsolidarisieren unsere Gesellschaft und bauen in
unserem Land neue Mauern auf. Sie bürden die Kostensteigerungen alleine den Versicherten auf, Sie belasten
die Bezieher unterer Einkommen und entlasten die Bezieher höherer Einkommen, und Sie schwächen auch die
wohnortnahen Versorgungsstrukturen. Das Einzige, was
Sie machen, ist, Ihre Klientel zu bedienen.
({26})
Eigentlich müssten die Patienten und Patientinnen im
Mittelpunkt Ihrer Politik stehen.
({27})
Das ist leider nicht der Fall. Das Schlimmste ist: Sie
werden unser Gesundheitssystem ruinieren. Wir werden
das nicht zulassen.
Herr Rösler, ich sage Ihnen: Sie sind schon gescheitert, bevor Sie angefangen haben.
({28})
Wir werden uns hier regelmäßig wieder sprechen.
({29})
Ich glaube, Sie sollten Ihren Koalitionsvertrag einfach in
den Müll werfen. Damit wäre dem deutschen Gesundheitssystem mehr geholfen als mit dem, was Sie vorhaben.
Vielen Dank.
({30})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Wolfgang Zöller.
({0})
Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Ferner, Ihre Rede war so geglückt wie die Terminierung des SPD-Parteitages. Er beginnt am Freitag, dem 13., und endet am Volkstrauertag.
({0})
- Auf Ihren Zwischenruf habe ich schon ganz lange gewartet, Frau Künast. - Ich möchte Ihnen nur eines zu bedenken geben: Menschen, die verunsichert werden, können krank werden. Wer dies bewusst macht, der ist
krank.
({1})
Jetzt komme ich zu dem, was im Koalitionsvertrag
steht. Bisher war es doch so, dass bei Diskussionen über
das Thema Gesundheit ausgerechnet über die Gruppe,
die es am meisten betroffen hat, am wenigsten geredet
wurde, nämlich über die Patienten. Das wird jetzt erfreulicherweise drastisch geändert. Lesen Sie, was als
unser Ziel im Koalitionsvertrag steht. Ziel ist, die Patientensouveränität und die Patientenrechte zu stärken. Daher haben wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich formuliert:
Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht
das Wohl der Patientinnen und Patienten.
({2})
Was ist denn der beste Schutz für die Patienten? Der
beste Schutz für die Patienten ist nach wie vor ein freies,
pluralistisch organisiertes und sozial abgesichertes Gesundheitswesen. Das wichtigste Patientenrecht ist der
freie, ungehinderte und zeitnahe Zugang zu medizinischen Leistungen, unabhängig von Alter, Geschlecht,
Abstammung und Einkommen.
({3})
Wir wollen eben keine Selektion, und wir wollen
auch keine Wartelisten.
Die Patienten brauchen Sicherheit, dass sie bei einer
schweren Krankheit eine rasche und wirksame Behandlung erhalten. Die Patienten vertrauen mit Recht auf eine
gewissenhafte und qualitätsorientierte Ausführung der
notwendigen medizinischen Leistungen. Deshalb muss
im Gesundheitswesen in erster Linie die Deckung des
medizinischen Bedarfs berücksichtigt werden.
Die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung ist das Leitprinzip des deutschen
Gesundheitswesens, und die finanziellen Mittel müssen
sich am Versorgungsbedarf orientieren und nicht umgekehrt. Deshalb wollen wir keine Budgetierung.
Die Beibehaltung von bestehenden Rechten, wie
freier Arztwahl und freier Krankenhauswahl, ist eine
elementare Voraussetzung für eine vertrauensvolle ArztPatienten-Beziehung. Der Staat und die Krankenkassen
dürfen die Patienten bei der Wahl der von ihnen in Anspruch genommenen Behandler nicht bevormunden.
Deshalb lehnen wir eine Einschränkung der freien Arztwahl und eine Pflicht zur Zuweisung an bestimmte
Krankenhäuser ab.
({4})
Damit die Patienten diese Wahlrechte ausüben können, brauchen wir ein flächendeckendes Angebot medizinischer Leistungen in Deutschland. Hier sind wir alle
aufgefordert. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um die drohende und zum Teil schon eingetretene
Unterversorgung besonders in den ländlichen Gebieten
zu verhindern.
({5})
Daneben brauchen wir Transparenz über Qualität,
Leistung und Preise. Die Patienten sollen auch über Art
und Ausmaß der bei ihnen erforderlichen medizinischen
Maßnahmen wesentlich mitbestimmen können. Bei diesem Entscheidungsprozess werden die Patienten durch
vielfältige Ansprechpartner im Gesundheitswesen unterstützt. Wir haben uns vorgenommen, die unabhängige
Beratung von Patientinnen und Patienten auszubauen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Patientenrechte
haben in Deutschland durch Gesetze und Rechtsprechung einen hohen internationalen Standard. Dennoch
gilt: Wie bei allen guten Systemen gibt es auch bei den
Patientenrechten Verbesserungsmöglichkeiten. Dies betrifft insbesondere Rechte bei der Transparenz, der
Mitwirkung an Steuerungsentscheidungen im Gesundheitswesen und der Auswahl von unterschiedlichen Versicherungen und Versicherungsleistungen.
({7})
Wir wollen die Patientenrechte in einem eigenen
Patientenschutzgesetz bündeln, das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen erarbeiten werden. Ich möchte auf einige Punkte hinweisen,
die in der Diskussion angesprochen werden müssen.
Wichtig ist Transparenz. Die Informationsmöglichkeiten der Patienten und Versicherten sollen erweitert
werden. Denn nur ein informierter Patient ist auch ein
mündiger Patient. Nach wie vor werden Patienten oft
wie Bittsteller bei Ärzten und Krankenkassen behandelt.
Es wird Zeit, dass wir dafür sorgen, dass die Patienten
als Partner anerkannt und respektiert werden.
({8})
Unser Gesundheitswesen braucht daher sowohl mehr
ökonomische als auch medizinische Transparenz. Jeder
Patient sollte einen einfachen Zugang zu Informationen
darüber erhalten, was seine Behandlung kostet und welche Leistungen zum Beispiel der Arzt oder das Krankenhaus mit der Krankenkasse abrechnet.
Jeder Patient sollte sich künftig darüber informieren
können, welche Qualifikation, Erfahrungen und Behandlungsergebnisse ein von ihm aufgesuchter Leistungserbringer aufzuweisen hat. Der jeweilige Leistungserbringer, seine Berufsvertretung oder die Krankenkassen
sollen dann darüber Auskunft erteilen.
Jeder Patient hat auch bei anderen Stellen die Möglichkeit, sich über Untersuchungs- und Behandlungsmethoden informieren zu lassen. Dazu sollen Krankenkassen und anerkannte Patientenselbsthilfegruppen oder
staatliche Organisationen eine Verpflichtung zur Auskunft erhalten. Diese Stellen müssen - soweit dies nicht
schon heute der Fall ist - vermehrt als Dienstleister gegenüber den Patienten agieren.
Auf der anderen Seite ist der Schutz der Patientendaten sicherzustellen. Wir brauchen keinen gläsernen
Patienten. Der Schutz der Patientendaten sollte Vorrang
vor den Informationsansprüchen mancher Krankenkassen haben.
({9})
Ein weiterer Punkt sind die Mitwirkungsrechte. Im
Rahmen der Selbstverwaltung der Krankenkassen bestehen schon heute Beteiligungsrechte der Versicherten.
Hierbei muss allerdings sichergestellt werden, dass künftig auch einzelne Versicherte oder Versichertenverbände
bei der sogenannten Friedenswahl überhaupt eine
Chance haben, in diese Gremien gewählt zu werden.
Ebenso müssen die versicherten Patienten bei der
Festlegung des Leistungskatalogs oder bei der Entscheidung über die Aufnahme oder Herausnahme bestimmter
medizinischer Maßnahmen in die bzw. aus der Leistungspflicht der Krankenkassen mehr Mitwirkungsrechte erhalten. Hier stellt sich die Frage, ob die Patientenvertreter
im Gemeinsamen Bundesausschuss ausreichend Einfluss
nehmen können oder ob man dies verbessern kann.
Wir lassen den Versicherten mehr Wahlmöglichkeiten. Die Union hat schon in der letzten Legislaturperiode
Verbesserungen erzielt, zum Beispiel die Möglichkeit
der Kostenerstattung oder die Möglichkeit von Selbstbehalten. Wenn man aber den Versicherten zubilligt, ausreichende sozialpolitische Kompetenz zu haben, und sie
durch eine verbesserte Information und Transparenz
dazu in die Lage versetzt, dann sollte man den Versicherten auch vermehrt Verantwortung übertragen und für sie
mehr Wahlmöglichkeiten erwirken. Hier müssen die
Krankenkassen mehr unterschiedliche Versorgungsangebote machen.
({10})
Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der unbedingt einer Verbesserung bedarf: die Organspende. Bei
Organspende und Organtransplantation haben wir wirklich dringenden Handlungsbedarf.
({11})
Wenn man sieht, dass wir es nach dem letzten Gesetz,
das schon 1997 beschlossen wurde, nicht geschafft haben, mehr freiwillige Spenden zu akquirieren, dann muss
man sagen, dass es notwendig ist, dass wir eine kritische
Bestandsaufnahme machen. Als erste Maßnahme wäre
wichtig, dass man die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen im Krankenhaus so gestaltet,
dass man unserem Ziel näherkommen kann.
({12})
Wir werden zudem mit einer umfassenden Kampagne in
der Bevölkerung weiterhin dafür werben, durch Organspende Leben zu retten.
({13})
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen, der uns sehr am Herzen liegt. Es ist uns ein großes
Anliegen, die Diagnose- und Therapiefreiheit wiederherzustellen. Listenmedizin und enge Behandlungsrichtlinien werden dem nicht gerecht. So ist zum Beispiel der
Arzneimittelbereich völlig überreguliert. Es muss die
Frage beantwortet werden: Wird mit den Rabattverträgen
das politisch gewollte Ziel erreicht, bei patentgeschützten
Arzneimitteln oder anderen Nichtfestbetragsarzneimitteln Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen? Stehen
die erreichten Einsparungen im richtigen Verhältnis zu
den Problemen, die mit der Umstellung auf Rabattverträge bei Patienten und in den Apotheken entstanden
sind? Ich bin fest davon überzeugt - das ist nun einmal
leider eine Tatsache -: Die Verunsicherung der Patienten
darüber, in den Apotheken regelmäßig ein anderes Arzneimittel bekommen zu müssen, ist mit ausschlaggebend
für die große Verunsicherung. Wenn wir ganz ehrlich
sind: Letztendlich bestimmt zurzeit die Krankenkasse
per Rabattvertrag, welches Arzneimittel der Versicherte
erhält. Dies ist mit unseren Vorstellungen von Therapiefreiheit nicht vereinbar.
({14})
Liebe Kollegin Ferner, Sie werden vielleicht anhand
meiner Ausführungen bemerken, dass wir nicht nur über
Patienten reden, sondern dass wir auch schon im Koalitionsvertrag richtungsweisende Punkte für die Patienten
festgelegt haben. Wir sollten in diesem Haus gemeinsam
versuchen, unser Gesundheitswesen ideologiefrei zu gestalten, sodass Versorgungssicherheit für die Patienten,
Planungssicherheit für die Leistungserbringer und
Finanzierungssicherheit unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung langfristig sichergestellt werden können.
Vielen Dank.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Martina Bunge
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine groteske Situation: Der Reformbedarf für die Sicherung einer bedarfsgerechten, wohnortnahen, gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung
der Bevölkerung ist da. Neue Herausforderungen brauchen eine dauerhafte und gerechte Finanzierungsgrundlage. Was geschieht? Die Große Koalition der letzten
vier Jahre hat diese Aufgabe nicht gepackt. Der vorliegende Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb wird jeden
Tag neu interpretiert; Kollegin Ferner hat die entsprechenden Zitate gebracht. Die Meldungen häufen sich,
was alles nicht geht.
Auch wenn Sie Ihre Vorhaben im Detail noch hinter
16 Prüfaufträgen einer Kommission und einer Arbeitsgruppe verstecken, eines ist klipp und klar: Hier ist von
Schwarz-Gelb ganz offen eine Systemwende angesagt,
Neoliberalismus pur. Der Verachtung des Staates stellen
Sie die Vergötterung des Marktes gegenüber. Was Sie
machen, ist keine Gesundheitspolitik. Das ist Wirtschaftspolitik.
({0})
Die Gesundheit aller ist der Linken zu wichtig, als
dass wir auch nur einen Schritt in diese Richtung mitgehen. Wir werden dafür streiten, das Schlimmste zu verhindern. Wir werden Ihrer Marktradikalisierung unsere
solidarische Ausgestaltung als Alternative gegenüberstellen.
({1})
Ihre Lösung ist die Aufkündigung der Solidarität. Mit
dem Einfrieren der Beiträge für die Arbeitgeber entlassen Sie diese vollends aus der Solidarität. Durch die
Kopfpauschale in der gesetzlichen Krankenversicherung
und durch den Kapitalstock in der Pflegeversicherung
wird die Zeche allein den Versicherten und Patientinnen
und Patienten aufgebürdet. Das ist ein sozialpolitischer
Skandal.
({2})
Den Gutverdienenden machen Sie Geschenke. Aber
die Niedrigverdiener sind künftig keine selbstbewussten
Versicherten mehr, sondern sie werden zu Bittstellern
beim Staat. Herr Minister, das machen Sie ganz bewusst,
das haben Sie gerade bestätigt. Sie geben die GesundDr. Martina Bunge
heitspolitik vollends in die Fänge des Finanzministers.
Er hat schon gestöhnt, dass die Gesundheitspolitik sein
größtes „Sorgenkind“ ist. Was dann von einer qualitativ
hochwertigen Gesundheitsversorgung übrig bleibt, liegt
auf der Hand.
Wie könnte es anders sein, gibt es in Ihrem Koalitionsvertrag doch ein klares Bekenntnis zur privaten
Krankenversicherung. Für dieses einzigartige Konstrukt
in Europa, neben der gesetzlichen einen eigenständigen
Vollversicherungszweig der privaten Versicherung zu
haben, schaffen Sie wieder erleichternde Bedingungen.
So können sich Gutverdienende weiter aus der Solidarität verabschieden.
({3})
Wir stellen all dem unseren Vorschlag einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung entgegen. Alle zahlen in diese Versicherung ein. Damit wird
die Beitragslast auf mehr Schultern verteilt. Alle Einkommen, also auch Miet-, Pacht- und Kapitalerträge,
werden einbezogen. Das bringt eine breitere Basis.
({4})
Die Arbeitgeber sind mit hälftigen Beiträgen auf Lohn
und Gehalt paritätisch dabei. Auf dieser neuen Basis
würde ein Beitragssatz von 10 Prozent, also 5 Prozent
für die Arbeitgeber und 5 Prozent für die Versicherten,
ausreichen, um all das zu bezahlen, was heute bezahlt
wird. Die Zuzahlung und die Praxisgebühr könnten sogar abgeschafft werden.
({5})
Sicherlich ist das ein diametral entgegengesetzter Ansatz, aber dieser Ansatz ist gerecht und bildet die gegenwärtigen Verhältnisse ab. Dieser Vorschlag knüpft an das
Leistungsvermögen der Versicherten an, an das, wovon
heutzutage gelebt wird, einer der konstituierenden Gedanken für die solidarische Sicherung.
Davon wird nicht viel übrig bleiben, wenn Sie, Herr
Minister, in Bälde Ihre Regierungskommission einsetzen. Schaut man sich den Hintergrund der Namen an, die
da inzwischen den Ticker durchschwirren, dann kann
man nur empört sein. Eng mit der von den Arbeitgebern
finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und
mit Versicherungsunternehmen verquickte Persönlichkeiten werden geradezu eingeladen, das Schlachtfest der
solidarischen Krankenversicherung auszurichten.
({6})
Das Geschreibsel dieser Versicherungslobbyisten findet sich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag wieder. Es
kommt so nett daher: Es würden mehr Wahl- und Entscheidungsspielräume eingeräumt; auch Sie, Herr Zöller,
haben es gerade gesagt. Man muss sich aber einmal klarmachen: Wer hat eigentlich die Wahl und wer nicht?
Wenn von „Festzuschüssen“ und „Mehrkostenregelungen“ die Rede ist, dann heißt das doch übersetzt, dass es
für bestimmte Leistungen nur noch eine Grundversorgung gibt. Wer eine Versorgung nach dem jeweils aktuellen medizinischen Standard haben will, muss privat
zuzahlen oder eine private Zusatzversicherung abschließen.
({7})
- Man kann auch einmal drei Jahre weiter denken. Dann
ist die Wirkung so, Herr Spahn.
({8})
- Das werde ich Ihnen gleich darlegen. - Wer eine Versorgung nach dem jeweils aktuellen medizinischen Standard haben will, muss privat zuzahlen. Das wird klar
werden. Damit wird die Versorgung vom Portemonnaie
der Versicherten abhängig. Der Arme kann sich nur das
Günstigste leisten. Das ist das Ende des freien Zugangs
zu Leistungen für alle. Das ist Zwei- oder Dreiklassenmedizin in Reinkultur. Die Linke lehnt das entschieden
ab.
({9})
Sicher wird sich die Regierungskommission auch mit
dem Gesundheitsfonds beschäftigen, sich ihn vorknöpfen. Dieser ist nicht per se schlecht, sondern er ist unterfinanziert und sozial ungerecht, müssen den Zusatzbeitrag doch allein die Versicherten tragen. Wenn Sie jetzt
im Koalitionsvertrag festhalten, dass es mehr - ich
zitiere - „regionale Differenzierungsmöglichkeiten“ im
Gesundheitsfonds geben muss und Bayerns Gesundheitsminister in Ihrer Kommission sein soll, dann weiß
man, wohin die Reise gehen soll. Es wird Hand an den
sogenannten Morbi-RSA gelegt werden, der den Krankenversicherungen mit mehr und teuren Kranken mehr
Geld brachte. Damit würde aber die gerade erst erreichte
Solidarität des reichen und gesünderen Südens Deutschlands mit dem ärmeren und kränkeren Norden aufgekündigt. Doch damit stellen Sie die Honorarangleichung für
Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundesländern wieder
infrage. Diese hat gerade eine Trendwende in der Bewältigung des Ärztemangels eingeläutet. Wollen Sie wirklich den Osten in eine dramatische medizinische Versorgungskrise hineinsteuern? Das kann doch wohl nicht Ihr
Ernst sein.
({10})
Wenn ich mir Ihre Rezepte gegen den Ärztemangel
anschaue, dann ist sichtbar, wie weit weg Sie vom realen
Leben sind. Ihre Lösung heißt „Ausbau der Anreize bei
der Niederlassung von Ärztinnen und Ärzten“. Vor Ort
wird aber über neue Versorgungsformen nachgedacht.
Haben Sie schon einmal etwas von der Feminisierung
des Arztberufes gehört? Mehr und mehr Absolventinnen
wollen sich nach dem Medizinstudium nicht niederlassen, sondern sie streben auch im ambulanten Bereich
nach Möglichkeiten, angestellt zu arbeiten, um damit
Beruf und Familie vereinbaren zu können. Aber was machen Sie? Sie stellen die medizinischen Versorgungszentren infrage. Unseres Erachtens gehört dieser bisherige
Ansatz novelliert, aber nicht abgeschafft.
({11})
Neue Ideen, für die der Osten ein „Labor“ ist, wie die
Financial Times letzte Woche schrieb, finden in Ihrem
Koalitionsvertrag keine Widerspiegelung. Im Gegenteil:
Ihre Weichenstellung zur Marktradikalisierung, deutlich
in dem Postulat, dass das „allgemeine Wettbewerbsrecht
als Ordnungsrahmen grundsätzlich auch im Bereich der
gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung“ finden
soll, steht neuen Versorgungsformen diametral entgegen;
denn diese setzen auf Kooperation. Ihre Vorhaben sind
damit auch fortschrittsfeindlich.
({12})
Gesundheitsförderung und Prävention einen ganz
anderen Stellenwert zu geben, wäre auch ein Zukunftsvorhaben. Der Begriff der Gesundheitsförderung fehlt
im Koalitionsvertrag völlig. Fremd ist dieser Koalition,
dass Gesundheit mit mehr zusammenhängt als nur mit
Wissen über Ernährung und Sport. Sie verlieren kein
Wort über die unterschiedliche Lebenserwartung von
Armen und Reichen. Die Reichen leben zehn Jahre länger als die Armen. Sie verlieren kein Wort dazu, dass
dies empörend ist und endlich beseitigt werden muss.
({13})
Man fragt sich doch wirklich, ob die Regierung die
Debatte um die Gesundheitsförderung und Prävention
der letzten 20 Jahre völlig verschlafen hat. Für die Linke
sind Gesundheitsförderung und Prävention ein Beitrag
zur gesundheitlichen Chancengleichheit. Angesetzt werden muss in den Lebenswelten der Menschen, in Kindergärten, in Schulen, in Stadtteilen und vor allem am Arbeitsplatz. Aber von einem Präventionsgesetz will die
Koalition bekanntlich nichts hören. Mit ein paar Schönheitsreparaturen wursteln Sie weiter wie bisher. Das haben die unzähligen Engagierten, die dringend auf ein
Präventionsgesetz warten, nicht verdient.
({14})
Auch in der Pflegeversicherung betreibt die neue
Koalition reine Klientelpolitik. Mit dem Kapitalstock,
der allein von den Versicherten zu tragen ist, wird die
Pflegeversicherung den Risiken des Kapitalmarktes ausgesetzt. Es ist nicht zu fassen! An die wirklichen Probleme will Schwarz-Gelb nicht herangehen. Die Pflegeversicherung leidet an chronischer Unterfinanzierung,
und zwar jetzt. Pflegebedürftige Menschen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte bekommen das täglich zu
spüren. Pflege ist aber mehr als die drei „s“: still, satt
und sauber.
({15})
Pflege und Assistenz müssen ein Leben in Würde und
Selbstbestimmung ermöglichen. Dazu brauchen wir endlich ein neues Verständnis davon, was Pflege ist. Der
Vorschlag zum neuen Pflegebegriff liegt auf dem Tisch.
Der Beirat hat ihn im Januar 2009 vorgelegt. Was wollen
Sie prüfen? Es muss umgesetzt werden. Der politische
Wille dazu ist notwendig; aber die Union hat schon
durchblicken lassen, dass sie nur eine kostenneutrale
Umsetzung anvisiert. Das ist eigentlich nicht zu machen.
Mehr Leistungen für mehr Menschen erfordern mehr
Geld.
({16})
Resümierend muss ich für die Linke feststellen: Ihre
Pläne sind an sozialer Kälte nicht zu überbieten. Im
Wettbewerb ohne soziale Schranken wird Gesundheit
zur Ware. Aber eins kann ich Ihnen versichern: Nicht mit
uns!
({17})
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat
nun das Wort die Kollegin Birgitt Bender.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schön
schwätzen kann er ja, der neue Gesundheitsminister;
aber er vertritt ein hässliches Politikmodell.
({0})
Lassen Sie mich sagen, warum.
Herr Minister, Sie sprechen vom gleichen Zugang aller Menschen zum Gesundheitssystem. Aber wissen Sie,
mit der Gleichheit ist das so eine Sache: Die Gleichheit
umfasst sowohl das Recht, unter Brücken zu schlafen,
als auch, in Palästen zu wohnen. Das heißt, bei Ihnen
muss man sich diese Gleichheit leisten können. Das Gesundheitssystem, das Sie anstreben, wird für viele Menschen nicht mehr bezahlbar sein.
({1})
Wie ist es denn mit einem Kopfgeldsystem, wie Sie es
anstreben? Das würde für jeden dritten Menschen im
Westen dieser Republik bedeuten, dass der Krankenversicherungsschutz teurer wird. Im Osten der Republik würde das für jeden zweiten Menschen gelten.
({2})
Selbst wenn Sie den sozialen Ausgleich durch Steuern
ernst meinen, dann würde es immer noch bedeuten, dass
Menschen mit geringem Einkommen, die jetzt 7,9 Prozent ihres Einkommens für den Gesundheitsschutz aufwenden müssen, prozentual mehr zahlen müssten als
Menschen, die bisher Höchstbeiträge gezahlt haben; bei
denen wären es dann gerade noch 3,8 Prozent, also nur
etwa die Hälfte.
({3})
Das ist Umverteilung von unten nach oben. Man kann
auch sagen: Klassenkampf von oben.
({4})
Dass so etwas in Deutschland nicht wirklich gut ankommt, das hat die Kanzlerin schon seit einer Weile verBirgitt Bender
standen. Sie wollte ein solches Modell seit dem Leipziger Parteitag. Aber für die Union hieß die Parole im
Wahlkampf: Gesundheitspolitik findet bei uns nicht
statt; da legen wir uns in die Ackerfurche. Vielleicht hätten Sie einmal untereinander darüber diskutieren sollen;
jetzt werden Sie es jedenfalls müssen.
({5})
Herr Minister, Sie gelten als das, was man in BadenWürttemberg „ein Käpsele“ nennt; das ist jemand, der
besonders schlau ist. Ich will Ihnen das gerne zugestehen. Ich will Ihnen aber auch sagen: Sie können nicht
rechnen, oder Sie wollen nicht rechnen.
({6})
Sie streben ein System mit Kopfgeld und Steuerausgleich an, von dem Ihnen die Experten bereits jetzt sagen, dass es schon bei der Einführung 22 Milliarden
Euro kostet. Gleichzeitig geht die Regierung mit der
höchsten Staatsverschuldung aller Zeiten spazieren. Zu
Beginn senkt sie die Steuern und verspricht weitere
Steuersenkungen. Das Ganze geht nicht auf. Entweder
haben Sie ein Pisa-Problem, weil Sie das nicht begreifen,
oder Sie meinen es mit dem steuerlichen Ausgleich gar
nicht ernst und wollen den Krankenversicherungsschutz
für Millionen von Menschen unbezahlbar machen. Sowohl das eine wie auch das andere wäre eine schlechte
Nachricht.
({7})
Im Übrigen habe ich gehört, Herr Minister, Sie strebten Bürokratieabbau an.
({8})
Dazu muss ich erst einmal sagen: Wenn Sie als Stabsarzt
bei der Bundeswehr so viel Bürokratie erfahren haben
und daran jetzt etwas ändern wollen, hätten Sie vielleicht
Verteidigungsminister werden sollen. Aber das nur am
Rande.
({9})
Wenn man nun ein solches System anstrebt, sollte
man zuvor einmal in andere Länder schauen, wo es der
Spur nach schon so etwas gibt. Nehmen Sie zum Beispiel die Niederlande. Da gibt es ein System mit Kopfpauschale; allerdings gibt es da nicht zusätzlich noch
eine private Krankenversicherung. In diesem System bekommen die Menschen steuerlichen Ausgleich. Zurzeit
bekommen 60 Prozent der Menschen in den Niederlanden diesen Ausgleich; das heißt, sechs von zehn Menschen müssen dort in Kontakt mit Ämtern treten, um einen Ausgleich zu bekommen. Sie würden demnach
ähnlich viele Menschen mit Anträgen zum Amt schicken
und eine Vielzahl an bürokratischen Bearbeitungsverfahren hervorrufen. Dazu kann ich nur sagen: Um Bürokratieabbau ging es vielleicht gestern in Ihrem Wahlkampf,
aber nicht in Ihrem jetzt vorgelegten Politikmodell.
({10})
Seien wir doch einmal ehrlich: Herr Minister Rösler,
Sie haben bereits bei einem Vortrag, den Sie letzten
Sommer vor niedersächsischen Zahnärzten gehalten haben, gesagt, worauf das Ganze hinauslaufen soll, nämlich auf einen Abbau der Leistungen. Sie haben dort davon gesprochen, dass man erst einmal 10 Prozent der
derzeitigen Leistungen aus dem Solidarsystem herausnehmen könne. Ich glaube, daran merkt man, wo es
langgehen soll.
Anders gesagt: Ihre Kopfprämie ist eine Abwrackprämie für das Solidarsystem. Dass es dazu kommt, werden
wir nicht zulassen, meine Damen und Herren.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Bender, es ist wirklich erstaunlich, was Sie alles aus
Koalitionsverträgen herauslesen.
({0})
Ansonsten sagen Sie ja gemeinhin, sie seien so allgemein, dass man damit überhaupt nichts anfangen könne.
Eine gehörige Portion Fantasie muss man wohl den Grünen genauso wie den Linken und den Roten zugestehen.
Liebe Kollegen, die Gesundheitspolitik bedarf wie
kaum ein anderes Feld der Verlässlichkeit und des Vertrauens der Bürger. Wir brauchen eine Kultur des Vertrauens anstelle einer Kultur der ständigen Kontrolle und
der Zwangsmaßnahmen. Das ist genau der Unterschied
zu dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben.
({1})
Wir müssen unseren Bürgern die Gewissheit geben,
dass im Krankheitsfall alle gut versorgt sind. Dafür stehen wir.
({2})
Das mögen Sie noch so polemisch angehen, das ist die
Maxime der schwarz-gelben Koalition. Daran werden
wir uns in den nächsten vier Jahren messen lassen.
({3})
Was auch immer heute hier gesagt und draußen in der
Presse verkündet wird: Diese Koalition wird dafür sorgen, dass dieser elementare Grundsatz unserer Gesellschaft beibehalten wird. Es ist gelebte Solidarität, liebe
Kollegen, dass jeder Bürger die Möglichkeit haben
muss, über einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu verfügen. Das bedeutet aber nicht, dass man
den Fehler einer Bürgereinheitszwangsversicherung begehen muss.
({4})
Wir gehen einen anderen Weg: Wir wollen unseren Bürgerinnen und Bürgern mehr Möglichkeiten geben, dass
sie ihren Krankenversicherungsschutz optimal auf die eigenen Bedürfnisse hin gestalten können.
({5})
Das deutsche Krankenversicherungssystem ist durch
die letzten Reformen deutlich in Richtung eines zentralistischen, staatsgesteuerten Einheitskassensystems verschoben worden. Genau das, liebe Frau Ferner, werden
wir ändern.
({6})
Wir wollen zudem dafür sorgen, dass die Beiträge auf
eine andere, gerechtere Grundlage gestellt werden. Der
soziale Ausgleich ist viel besser über das Steuer- und
Transfersystem zu organisieren als in einer Versicherung, die dazu da ist, den Ausgleich zwischen Kranken
und Gesunden herzustellen.
Wir sind da in guter Gesellschaft, liebe Frau Bender.
Ich erinnere mich an einen bemerkenswerten Artikel der
hochgeschätzten ehemaligen Kollegin und Gesundheitsministerin Frau Fischer - sie ist bekanntlich Mitglied der
Grünen -, die vor wenigen Tagen Folgendes gesagt hat:
Es ist im Prinzip kein falscher Gedanke, mit einer
solchen Prämie für jeden Menschen festzulegen,
welchen Preis er für seine Gesundheit in einem solidarischen System aufbringen muss.
({7})
Die Umverteilung ist eine sozialpolitische Aufgabe
danach - und getrennt von der Gesundheitspolitik.
Mit diesem für alle gleichen Betrag sollte niemand
überfordert werden, nicht die Einkommensarmen,
nicht die Menschen mit Familie. Das Steuersystem
ist der Ort, an dem die gesamte finanzielle Situation
eines Menschen erfasst
({8})
und wo er entsprechend seiner Leistungsfähigkeit
zu Abgaben verpflichtet wird. Eigentlich also genau das richtige System, um Solidarität konkret
werden zu lassen.
({9})
Das sagt Frau Fischer.
({10})
Frau Kollegin Flach, würden Sie kurz vor Ende Ihrer
Rede noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bender zulassen?
Nein. Ich möchte diesen Gedanken weiter ausführen,
sonst kommt er zu kurz. Diese Diskussion können wir in
den nächsten Wochen noch beliebig oft führen.
Das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen. Es
scheint in Ihren Kreisen aber inzwischen Comment zu
sein, dass man auch so etwas denken kann. Wir werden
dafür sorgen, dass entsprechende Schritte unternommen
werden, nämlich dass die Effizienzpotenziale aktiviert
werden, dass Verluste aufgrund von Bürokratie reduziert
werden und dass Flexibilität und Wettbewerb ins System
kommen.
So wie wir die Schuldenbremse vereinbart haben, die
uns alle zwingt, in den nächsten Jahren einen Korridor
des Schuldenabbaus zu schaffen, so darf auch das Gesundheitssystem nicht immer neue Lasten für die Zukunft aufbauen. Deshalb werden wir eine Lösung, die
auch die nachfolgende Generation im Blick hat, schnell
und sehr stringent angehen.
Die Zeit des Füllhorns ist vorbei. Wir werden eine
bürgergerechte, für alle sorgende neue Gesundheitswelt
anstoßen. Ich bin froh, dass wir einen Minister haben,
der dies persönlich glaubwürdig verdeutlicht. Er hat sich
heute klar dazu geäußert. Es wird eine schwierige Aufgabe. Aber wir werden sie angehen.
({0})
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade einmal gut zwei Wochen steht die neue
Koalition. Aber in kürzester Zeit ist es CDU, CSU und
FDP gelungen, auf breiter Front Verunsicherung zu
schaffen.
({0})
Was Sie verklausuliert in Ihrem Koalitionsvertrag zur
Gesundheit und Pflege hineingeschrieben haben, ist
nichts anderes als die Aufgabe der paritätischen
Finanzierung und die Privatisierung gesundheitlicher
Risiken.
({1})
Die Lasten sollen zukünftig einseitig allein auf die
Versicherten abgewälzt werden in Form von Kopfpauschalen, von höheren Zuzahlungen und von privaten ZuDr. Carola Reimann
satzzwangsversicherungen in der Pflege. Dieser Koalitionsvertrag hat ein entsolidarisiertes Gesundheitssystem
zum Ziel. Das wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
({2})
Im Gesundheitsbereich hat sich eine unheilvolle
Allianz zusammengefunden. Die CDU hat kein Konzept
und überlässt ihren Partnern von CSU und FDP das gesundheitspolitische Feld. Das bedeutet: zahlreiche bayerische Extrawürste auf Kosten anderer Bundesländer
dank der CSU
({3})
und die Privatisierung gesundheitlicher Risiken auf breiter Front, wie es die FDP seit Jahren und heute Frau
Flach angekündigt haben.
Das alles wird noch getoppt von einer Klientelpolitik, wie wir sie im Gesundheitsbereich noch nie erlebt
haben. Die Lobeshymnen von Pharmaherstellern, Ärzteverbänden und privaten Krankenversicherungsunternehmen sprechen Bände. Sie können sich wahrlich nicht
beklagen. Bei den Ärzten wird nach zweistelligen Einkommenszuwächsen in diesem Jahr erneut draufgesattelt, und unliebsame Konkurrenz durch medizinische
Versorgungszentren wird eingeschränkt. Der privaten
Krankenversicherung wird die Abwerbung von Gutverdienern aus der gesetzlichen Krankenversicherung wieder erleichtert. Der Basistarif - eingeführt, damit niemand mehr ohne Versicherungsschutz ist - soll geprüft
werden.
Ganz besonders freuen kann sich die Pharmaindustrie.
Unliebsame, weil wirksame Preisregulierungsinstrumente wie Rabattverträge, Festbeträge und Höchstbeträge
sollen überprüft werden. Man muss kein Gesundheitsexperte sein, um zu wissen, was das bedeutet: teurere
Arzneimittel und steigende Gewinne für die Unternehmen, selbstverständlich auf Kosten der Beitragszahler
und der Versicherten.
({4})
Sie geben ein wichtiges Instrument zur Förderung des
Wettbewerbs im Sinne der Versicherten freiwillig aus
der Hand und riskieren dabei, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen völlig aus dem Ruder läuft.
({5})
All diese Geschenke an Ihre Klientel lassen Sie sich
teuer von den Versicherten bezahlen. Süße Medizin für
Ihre Klientel und bittere Pillen für die Patienten - so
sieht Ihr gesundheitspolitischer Neuanfang aus.
({6})
Ich sage Ihnen: Damit werden Sie nicht weit kommen;
denn so viel süße Medizin, wie im Gesundheitswesen
von allen Interessenverbänden gefordert wird, werden
Sie gar nicht aufbringen können. Deshalb ist dieser Neustart komplett misslungen.
({7})
Diese Kostensteigerungspolitik wird noch dadurch
verschärft, dass der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird
und somit alle zusätzlichen Kosten - das haben wir heute
schon gehört - auf die Versicherten abgewälzt werden.
Sie kündigen damit das bewährte paritätische Prinzip
und entlassen Wirtschaft und Arbeitgeber aus ihrer Verantwortung. Und als ob das nicht genug wäre, krönen Sie
dieses Sammelsurium der sozialen Spaltung noch mit
der Kopfpauschale. Egal ob Sekretärin oder Bankdirektor, Mechaniker oder Managerin, alle zahlen den gleichen Beitrag. Das ist unsozial und ungerecht.
({8})
Dann wird natürlich der Sozialausgleich ins Spiel gebracht. Aber abgesehen davon, dass Millionen Versicherte plötzlich zu Bittstellern beim Staat werden - in allen Staaten, die dies eingeführt haben, sehen wir diese
Entwicklung -, frage ich mich, wo Sie angesichts der
derzeitigen Haushaltslage die von den Experten berechneten 22 Milliarden Euro - IGES hat das schon berechnet - herholen wollen. Gleichzeitig wollen Sie die Steuern senken. Das passt, mit Verlaub, vorne und hinten
nicht zusammen. Weil das alles nicht so ganz zusammenpassen will und weil die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ins Haus steht, schieben Sie das alles in
eine Kommission. Oder soll ich besser sagen: „in eine
Regierungskommission“?
({9})
Denn diese Regierungskommission wird von einer CSUeigenen Kommission begleitet, die diesen Prozess kritisch verfolgt.
({10})
Für Herrn Bahr ist das ein ganz normaler Vorgang. Deshalb schlage ich vor, dass auch die FDP eine FDP-Kommission einberuft,
({11})
damit die Arbeit der CSU-Kommission kritisch begleitet
wird.
({12})
Das ist mal ein zielgerichtetes Vorgehen.
({13})
Man könnte sich ja blendend über dieses Schauspiel
amüsieren. Aber es geht hier um nicht weniger als um
die Zukunft der Gesundheitsversorgung von Millionen
Versicherten. Da hört der Spaß auf. Mit Ihrer „Kommissionitis“, mit Ihren immer neuen Vorschlägen, die dann
am nächsten Tag vom Koalitionspartner relativiert werden,
({14})
und mit immer neuen Interpretationsmöglichkeiten bezüglich des Koalitionsvertrags verunsichern Sie die Bürgerinnen und Bürger und zerstören Vertrauen in ein gut
funktionierendes solidarisches Gesundheitssystem.
({15})
Eigentlich wäre es Aufgabe des zuständigen Ministers, Ordnung in dieses gesundheitspolitische Chaos zu
bringen. Aber das Gegenteil ist der Fall: erst das Durcheinander bei der elektronischen Gesundheitskarte, dann
noch das zögerliche Vorgehen bei der Schweinegrippe.
Angesichts der Infektionszahlen hätte man schon vor
zwei Wochen einen Impfgipfel einberufen müssen, statt
in Interviews, Herr Rösler, den Eindruck zu erwecken,
die Schweinegrippenimpfung sei zweitrangig.
({16})
Als ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident in
Niedersachsen hätten Sie wissen müssen, wie schlecht es
um die Vorbereitungen in den Ländern, insbesondere in
Niedersachsen, steht. Souveränes Krisenmanagement
sieht anders aus.
({17})
Das, was wir in den vergangenen Wochen von der
neuen Regierung geboten bekommen haben, war tagespolitisch äußerst dürftig, ganz zu schweigen von den Interpretationsmöglichkeiten, die die Pläne im Koalitionsvertrag eröffnen. Die SPD und Ulla Schmidt haben in
den letzten Jahren eine Politik im Sinne der Versicherten
verfolgt, häufig auch gegen den erbitterten Widerstand
der zahlreichen Lobby- und Interessengruppen. Wir haben dafür gesorgt, dass unser solidarisch finanziertes
Gesundheitssystem auch unter sich verändernden Rahmenbedingungen funktioniert. Wir setzen mit unseren
Konzepten in der Pflege- und der Gesundheitspolitik
künftig auf solide, solidarisch finanzierte Sicherungssysteme. Das heißt, alle zahlen nach ihrer Leistungsfähigkeit. Niemand wird aus der Verantwortung entlassen,
und alle können sicher sein, dass sie eine gute medizinische Versorgung auf neuestem Stand erhalten. Das ist solidarisch und gerecht.
({18})
Genau das setzt Schwarz-Gelb aufs Spiel. Mit Solidarität hat das, was Sie vorgelegt haben, nichts mehr zu
tun. Profiteure Ihrer Klientelpolitik sind Pharmaunternehmen, Ärzteschaft, Apotheker und private Versicherungsunternehmen; bezahlen müssen es die Versicherten
und dank der Kopfpauschale auch noch diejenigen in
verstärktem Maße, die ohnehin am wenigsten haben,
beispielsweise die Rentner. Wer dies tut, wird die Sozialdemokraten als entschiedene Gegner haben.
({19})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Rolf Koschorrek,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! So richtig Angst hat uns dieser Angriff der Opposition in den letzten Minuten natürlich nicht gemacht.
Wenn man meint, mit Konzepten, die sich schon in den
70er- und 80er-Jahren als überholt erwiesen haben, unseren zukunftsweisenden Weg angreifen zu können,
({0})
dann wird es in den nächsten Monaten sicherlich noch
eine sehr spannende Auseinandersetzung geben.
({1})
Es gibt kaum ein Thema, das die Bürgerinnen und
Bürger so interessiert, wie das Thema Gesundheitspolitik. Hier ist, wie alle wissen, jeder betroffen. Gleichzeitig wissen wir, dass wir so nicht weitermachen können
wie in den letzten zehn, elf Jahren. Wir brauchen mehr
Eigenverantwortung und mehr Transparenz im System. Aber eines brauchen wir mit Sicherheit nicht: den
Umbau des Bundesgesundheitsministeriums zu einem
Amt für Volksgesundheit, wie es in den letzten Jahren
vorangetrieben worden ist.
({2})
Unsere christlich-liberale Koalition hat die Weichen
anders gestellt. Wir haben uns klar entschieden: gegen
weitere Zentralisierung und für die Stärkung von Eigenverantwortung und Transparenz im deutschen Gesundheitswesen. Diese Begriffe sind untrennbar miteinander
verbunden. Eigenverantwortlich handeln kann nur, wer
ein System durchschaut und es versteht. Die Regelungsdichte im SGB V lässt eigenverantwortliches Handeln
kaum zu. Ich spreche hier ausdrücklich von Verantwortung, nicht von Egoismus, nicht, wie meine Vorredner
polemisch behaupten, von Selbstbedienungsmentalität
und schon gar nicht von einer Aufkündigung der Solidarität im Sozialsystem.
({3})
Im Gesundheitswesen haben sich viele in der Intransparenz sehr gut eingerichtet. Kontrollmechanismen und
bürokratische Auswüchse sind bisher oft die einzige
Antwort darauf gewesen. Seit Jahrzehnten befinden wir
uns in einem Teufelskreis von Regulierung und Bürokratie.
Nein.
({0})
Die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP
weist einen anderen, einen neuen Weg. Wir werden das
System einfacher und verständlicher machen. Die drei
großen Bereiche, die wir in den kommenden Jahren angehen werden, sind: zunächst die Finanzen auf eine sichere Basis zu stellen, einen fairen Wettbewerb im System zu stärken sowie überflüssige Bürokratie abzubauen
und Transparenz und Qualität im Gesundheitssystem zu
steigern.
Zum Bereich Finanzen: Für die Union war von Anfang an klar, dass wir den Gesundheitsfonds, wie es die
Kanzlerin auch vor der Wahl schon eindeutig sagte, in
seiner Grundstruktur erhalten und weiterentwickeln,
({1})
weil er eine gute Basis für die verlässliche Finanzierung
der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland ist und
ein beachtliches Gestaltungspotenzial bietet.
({2})
Er hat dafür gesorgt, dass die Verschuldung der Krankenkassen geordnet abgebaut werden konnte, dass die
Kassen heute wesentlich effektiver kooperieren und
auch fusionieren können. In der Wirtschaftskrise hat der
Fonds einen unkomplizierten und schnellen Ausgleich
von konjunkturbedingten Einnahmedefiziten durch Steuermittel ermöglicht und damit letztendlich auch Beitragserhöhungen erübrigt.
Zukünftig werden wir den bundeseinheitlichen Beitragssatz auflösen, indem die Arbeitgeberbeiträge festgeschrieben werden und wir den Kassen wieder eine
wettbewerblich relevante Beitragsgestaltung ermöglichen werden. Dazu werden wir eine Kommission aus
politischem und externem Sachverstand einsetzen, die
die Details in den kommenden Monaten erarbeiten wird.
Bei der Weiterentwicklung der Finanzierung der
GKV werden wir sehr sorgsam darauf achten, dass es
nicht zu sozialen Schieflagen kommt.
({3})
Das hohe Niveau unserer Gesundheitsversorgung wird
auch weiterhin den Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrem persönlichen Geldbeutel zugänglich sein.
Wettbewerb im Gesundheitswesen ist kein Selbstzweck, sondern dient der bestmöglichen Versorgung.
Unsere Grundposition heißt: Im Mittelpunkt stehen
Patienten und Versicherte, stehen Menschen, die nicht
zur Verschiebemasse egoistischer oder wirtschaftlicher
Interessen werden dürfen.
Wettbewerb im System gibt es heute schon; nur sind
die Regeln nicht konsequent, die Bedingungen nicht fair
für alle und vor allem nicht eindeutig.
Bestes Beispiel sind die Auswirkungen von Rabattverträgen und Ausschreibungen. Hier erzielen wir zwar
in den ersten Tranchen erhebliche Einsparungen, laufen
aber große Gefahr, für eine zweite Ausschreibung in einigen Jahren keinen Wettbewerb mehr zu haben, weil die
Verlierer von Ausschreibungen sich nicht am Markt halten können und schlicht und ergreifend vom Markt verschwunden sein werden.
Wir werden für die Arzneimittel und Hilfsmittel
schnell und durchgängig das Instrumentarium des Wettbewerbsrechts, das in unserer sozialen Marktwirtschaft
in allen anderen Bereichen sicher und gerecht funktioniert, einführen. Losgrößen und Regionalbezug müssen
dem Markt entsprechen; Monopole - das wissen wir
alle - sind das Ende der sozialen Marktwirtschaft und
der sozialen Ausgewogenheit. Wettbewerb ist kein
Selbstzweck; doch wo er sich zum Nutzen von Patienten
und Versicherten entfalten kann, werden wir ihm eine
Chance geben.
Bürokratieabbau, Transparenz und Qualität sind
Ziele, die uns sehr wichtig sind und die zusammengehören. Vorschriften sind notwendig, aber auch hier gilt das
SGB V: Bürokratie darf nur ausreichend sein, darf das
Maß des Notwendigen nicht überschreiten und muss
wirtschaftlich vertretbar sein. Hier haben wir einiges zu
tun.
Heute haben wir eindeutig zu viele und durchaus
überflüssige Vorschriften. Mit der Reduzierung von Bürokratie entlasten wir vor allem die niedergelassenen
Ärzte von Verwaltungs- und Büroarbeiten. Wir entlasten
sie von Tätigkeiten, die dem Arztberuf fremd sind, sodass sie wieder mehr Zeit für die Zuwendung zu ihren
Patienten haben. Wir müssen dafür sorgen, dass der
Frust im Bereich der Leistungserbringer zurückgefahren
wird. Wir brauchen wieder Ärzte, die Spaß an ihrem Beruf haben.
({4})
Bei allen Reformen gilt: Regeln müssen sein, aber wo
sie keinen Sinn mehr ergeben oder sich gar selbst blockieren, müssen sie weg. Transparenz ist dringend erforderlich, nicht zuletzt, um die Qualität besser definieren
zu können und deren Einhaltung und Steigerung zu gewährleisten. Wir werden das Zusammenspiel von zentraler Rahmengesetzgebung und regionaler Ausgestaltung
neu beleben, sei es in der Bedarfsplanung oder bei Innovationen, bei der Vertragsgestaltung oder der Telemedizin. Gerade hier haben wir ein großes Potenzial in der
Verbesserung der Versorgung.
Basis der Qualitätssicherung ist eine möglichst gute
Kenntnis der Versorgungssituation. Hier haben wir aber
in Deutschland erheblichen Nachholbedarf. Der Ausbau
der Versorgungsforschung muss dringend vorangebracht
werden. Es ist eine Querschnittsaufgabe mehrerer beteiligter Ministerien. Nur auf Basis valider Daten lassen
sich zukunftsfeste Systeme entwickeln, lässt sich Quali288
tät definieren, und nur auf dieser Basis können wir unsere Planungen für die hochwertige medizinische Versorgung optimal am Bedarf unserer Bevölkerung
ausrichten.
Telematik in der Medizin ist eine Riesenchance. Sie
darf nicht zum Synonym für übertriebene Datensammlung und gläserne Ärzte bzw. Patienten werden. Ohne
Telemedizin werden wir die Herausforderungen aus medizinisch-technischem Fortschritt, veränderter demografischer Basis und zunehmender Versorgung chronisch
Kranker nicht bestehen können. Wir werden auf diesem
Gebiet ganz besondere Anstrengungen unternehmen, zusammen mit der Industrie und den Leistungserbringern
verlässliche, zukunftsfeste und akzeptierte Lösungen zu
entwickeln.
({5})
Wir haben uns viel vorgenommen. Unsere gemeinsamen Vereinbarungen tragen deutlich über eine Legislaturperiode hinaus. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren,
nicht zuletzt mit der Opposition. Da muss man allerdings
sagen: Sicherlich ist, wer lesen kann, klar im Vorteil.
({6})
Den Koalitionsvertrag haben Sie sicherlich auch gelesen. Unbedingt dazu gehört aber, dass man das, was man
gelesen hat, auch versteht, und da haben Sie offensichtlich ein wenig Nachholbedarf.
({7})
Bisher ist in den Reden der Opposition wenig Erhellendes gesagt worden. Panikmache, substanzlose Schlagworte und völlig überholte Konzepte wie der Ladenhüter
Bürgerversicherung
({8})
sind nun wirklich nicht das, was die deutsche Öffentlichkeit braucht und was das deutsche Gesundheitswesen in
den nächsten Jahren nach vorne bringen wird.
Ich freue mich aber vor allem auf die Zusammenarbeit mit unserem neuen Minister, mit den Staatssekretären und Staatssekretärinnen im Ministerium sowie mit
den Kolleginnen und Kollegen von FDP, CDU und CSU
in den Arbeitsgruppen. Wir werden gemeinsam dafür
sorgen, unser Gesundheitswesen in den nächsten Wochen und Monaten nachhaltig zu verbessern, für alle Beteiligten im System, für alle Bürger und Bürgerinnen in
unserem Lande. Ich freue mich auf die Arbeit. An die
Arbeit!
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Die Kollegin Elisabeth Scharfenberg hat nun das
Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, Schwarz-Gelb setzt
nun also auch im Bereich der Pflege den Kurs fort und
tritt wie bei vielem anderen für mehr soziale Ungerechtigkeit ein. Schwarz-Gelb will den Ausstieg aus dem Solidarsystem organisieren, und Sie, Herr Minister, haben
keine zehn Minuten gebraucht, um uns das klarzumachen.
({0})
Im Koalitionsvertrag heißt es, dass „eine Ergänzung
durch Kapitaldeckung, die verpflichtend, individualisiert
und generationengerecht ausgestaltet sein muss“, gewährleistet sein muss.
({1})
Die Kanzlerin selbst hat am Dienstag hier erklärt, das
sei nötig, um die Akzeptanz der Pflegeabsicherung zu
erhalten und für mehr Solidarität zwischen den Generationen zu sorgen.
({2})
Die FDP hat in der Rheinischen Post vom 5. November näher erörtert, wie die Koalition das bewerkstelligen will. Man konnte dort lesen:
Es wäre sinnvoll, die kapitalgedeckte Säule der
Pflegeversicherung über eine kleine Prämie pro
Versichertem aufzubauen.
Union und FDP wollen also eine einkommensunabhängige Pauschale einführen, und die Koalition findet das
solidarisch. Wenn Sie, Herr Minister, genauso viel zahlen wie eine Friseurin, die, wenn es nach Ihnen ginge,
nicht einmal einen Mindestlohn bekommen soll, ist das
nicht solidarisch.
({3})
Die FDP beruhigt uns damit, dass dabei von einstelligen Eurobeträgen pro Monat ausgegangen werden kann.
6,99 Euro für die Pflege im Sonderangebot wird doch
wohl jeder übrig haben. Leider verschweigen die Liberalen, dass einstellige Prämien in allen bekannten Modellen nur möglich sind, wenn Leistungen gekürzt werden.
All diese Modelle sehen eine Kürzung der stationären
Leistungen vor. Sie verschweigen weiter, dass es natürlich nicht bei einstelligen Beträgen bleibt.
({4})
Die Prämien steigen nämlich in all diesen Modellen jährlich an und sind ruck, zuck zweistellig.
Die Koalition wird alle Versicherten verpflichten, einen individuellen Kapitalstock aufzubauen. Solidarität
heißt bei Schwarz-Gelb also nicht mehr: Starke für
Schwache, Jung für Alt und Alt für Jung, sondern nur
noch: Jeder für sich. Nicht starke Schultern, sondern
kräftige Ellbogen werden zukünftig gefragt sein.
({5})
Wer sich diese Solidarität nicht leisten kann, der darf
beim Finanzamt einen Sozialausgleich aus Steuern beantragen. Zugleich will die Koalition Steuern senken.
Ich frage mich: Wie soll das überhaupt zusammengehen?
({6})
Das ist Solidarität auf Pump. Diese Schuld muss einmal zurückgezahlt werden, und zwar von der jungen Generation, für die Sie das angeblich alles machen. Es wird
immer deutlicher: Die schwarz-gelbe Solidarität richtet
sich in Wirklichkeit nur an ausgesuchtes, handverlesenes
Publikum.
({7})
Die Arbeitgeber müssen sich an den steigenden Pflegekosten nicht beteiligen. Die Privatversicherungen freuen
sich schon jetzt auf ihr - grotesk genug - staatlich verordnetes Zusatzgeschäft. Bei denen stoßen Ihre Pläne sicherlich auf große Akzeptanz.
Besonders pikant ist, dass das Geld der Versicherten
auf den Kapitalmärkten angelegt wird, die uns derzeit
sehr nachhaltig vorführen, dass sie von nachhaltigem
Wirtschaften überhaupt nichts verstehen.
({8})
All das ist Klientelpflege. Ansonsten hat das mit Pflegepolitik nichts zu tun.
({9})
Herr Minister, reformieren Sie lieber vernünftig das
bestehende System. Denken Sie an die betroffenen Menschen. Als Erstes wäre doch jetzt eine Neujustierung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffs notwendig. Das ist die Aufgabe, die Sie zu erledigen haben, bevor Sie an die Finanzierung gehen. Ich glaube, dieser Weg muss eingeschlagen werden, damit der zukunftsweisende Weg, den sie
erwähnt haben, Herr Koschorrek, nicht ganz schnell eine
Sackgasse wird und Ihnen, Herr Minister, nicht das Lachen ganz schnell im Halse steckenbleibt.
({10})
Die Vorschläge von uns Grünen kennen Sie. Wir wollen erstens die solidarische Bürgerversicherung und
zweitens die solidarische Demografiereserve. Das ist
auch eine Form der Kapitaldeckung, aber auf gerechte,
solidarische und nachhaltige Art und Weise.
Vielen Dank.
({11})
Letzter Redner zu diesem Themenkomplex ist der
Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kolleginnen Bunge, Bender, Ferner,
Reimann und Scharfenberg, Sie mögen verwundert darüber sein, vielleicht auch entsetzt oder enttäuscht, dass
diese Koalition der Mitte nicht das Schreckgespenst ist,
das Sie schon im Wahlkampf an die Wand gemalt haben;
das würden Sie jetzt wahrscheinlich weiterhin gerne tun.
Doch in unserem Koalitionsvertrag ist die nötige Ausgewogenheit zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit enthalten. Diese Enttäuschung ist ja
noch verständlich. Dass Sie es intellektuell aber nicht
schaffen, auf die Ausgewogenheit des Koalitionsvertrages
({0})
und die gelungene, weil grundsätzlich tiefgründige und
die Zukunftsthemen benennende Antrittsrede des Ministers anders zu reagieren als mit linkem Überschriftengezeter oder einer Parteitagsbewerbungsrede - etwas anderes war das gerade ja wohl nicht, Frau Kollegin Ferner -,
das zeugt von großer Kleinkariertheit und ist ein Armutszeugnis.
({1})
Frau Kollegin Hendricks hat eine Zwischenfrage,
glaube ich.
({2})
Ich bin gerade dabei, ein geordnetes Verfahren zu Beginn der Legislaturperiode einzuüben. Ich stelle fest,
dass die Bereitschaft zur Beantwortung einer Zwischenfrage besteht. - Sie haben das Wort.
Herr Kollege Spahn, halten Sie Ihre ersten Sätze für
intellektuell redlich?
({0})
Ja.
({0})
Ich könnte die Beantwortung eigentlich damit beenden: Ja, dafür halte ich sie. Das Einzige, was wir heute
Morgen gemerkt haben, ist, dass Sie Ihre Reden ge290
schrieben haben, lange bevor Sie dem Minister zugehört
und den Koalitionsvertrag gelesen haben. Das Einzige,
was wir gehört haben, waren linke Überschriften mit wenig Substanz.
({1})
Frau Kollegin Bunge, ich kann Ihnen folgende Bemerkung nicht ersparen: Ich weiß, wie die Zustände bei
der Dialyseversorgung in der ehemaligen DDR waren,
wie es in den Altenpflegeeinrichtungen ausgesehen hat
und wie die Versorgung chronisch kranker Menschen
war.
({2})
Ich weiß auch, dass für die Nomenklatura der SED
heimlich Arzneimittel aus Westdeutschland und Westeuropa importiert worden sind. Ich lasse mir von Vertretern einer Partei, die etwa in Brandenburg jetzt genau
dieser Nomenklatura und den Mittuern dieses Systems
wieder in Ämter und Funktionen hilft, nicht Zweiklassenmedizin vorwerfen, nicht heute und auch morgen
nicht.
({3})
In unserem Koalitionsvertrag haben wir - der Minister hat darauf hingewiesen - drei entscheidende Zukunftsfelder benannt, die wir in den nächsten vier Jahren
angehen wollen:
Der erste wichtige Punkt - der war in den letzten vier
Jahren mit Ihnen leider nicht zu regeln - ist der Einstieg
in die ergänzende Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung.
({4})
In einer Gesellschaft, in der auch der Anteil der Pflegebedürftigen in den nächsten 10, 20, 30 Jahren enorm
steigen wird, haben wir die Verantwortung - eigentlich
stehen wir gemeinsam davor, aber Sie wollen ja nicht
mitmachen -, das System auf diese Entwicklung vorzubereiten und zukunftsfest zu machen.
({5})
Das ist nicht nur gerecht gegenüber den nachfolgenden
Generationen, sondern auch vorausschauend und zeugt
davon, dass wir für diejenigen, die in 30 oder 40 Jahren
pflegebedürftig sein werden, mitdenken.
({6})
Auch diese Menschen haben nämlich einen Anspruch
darauf, dass wir uns schon heute Gedanken darüber machen, wie wir die Pflege in 20 oder 30 Jahren finanzieren
wollen. Deswegen ist dieser Schritt wichtig.
({7})
Der zweite wichtige Paradigmenwechsel ist der Einstieg in eine lohnunabhängige Finanzierung des Gesundheitswesens.
({8})
Das ist kein Selbstzweck. Das ist auch kein Fetisch.
({9})
Wir wollen den Einstieg in eine lohnunabhängige Finanzierung, weil diese Branche - es ist schon darauf hingewiesen worden, dass das Gesundheitswesen mit
4,2 Millionen Beschäftigten die größte Wirtschaftsbranche in diesem Land ist und im Übrigen ein Bereich, den
Sie nicht nach Schanghai oder Peking auslagern können,
weil es Dienstleistungen direkt am Menschen sind - in
den letzten 20, 30 Jahren immer wieder Kostendämpfungsgesetze ertragen musste, da alle Reformen schwerpunktmäßig ein Ziel hatten, nämlich den Beitragssatz zu
stabilisieren. Aus dieser Zielfixierung müssen wir herauskommen und die Dynamik, die in diesem Bereich
steckt, freisetzen. Deswegen wollen wir eine lohnunabhängige Finanzierung. Wenn man sie mit Steuermitteln
sozial gerecht ausgleicht, ist das die zukunftsfestere
Finanzierung dieses Systems.
({10})
Es ist interessant, zu sehen, wie Sie immer wieder
gleich in reflexartiges Gezeter verfallen.
({11})
Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir 2004/2005,
übrigens gemeinsam, die 0,9 Prozent vom Beitragssatz
allein in die Verantwortung der Arbeitnehmer gestellt
haben. Frau Ministerin Schmidt, Sozialdemokratin,
wenn ich mich richtig erinnere, hat den Schritt, die Arbeitskosten in Deutschland zu entlasten, befürwortet;
ich habe ein Spiegel-Interview mit Ministerin Schmidt
aus dem Jahr 2005 vorliegen. Darin hat sie das als richtig
beschrieben. Sie hat gesagt, dass es sozial gerecht ist, bei
den Arbeitskosten eine Grenze einzuziehen und eine
Veränderung beim Beitragssatz von 0,9 Prozentpunkten
vorzunehmen, weil das Arbeitsplätze in Deutschland sichert und schafft. Am Ende ist das, was wir tun wollen,
deswegen sozial gerecht.
({12})
Ein dritter Paradigmenwechsel besteht in der Rhetorik - auch das war wohltuend beim neuen Minister -:
Wir haben ein klares Bekenntnis und wollen - nicht als
Selbstzweck - diejenigen klar unterstützen, die unter
großem Einsatz im Gesundheitswesen tätig sind: die
Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger, die
Apotheker, die Physiotherapeuten und viele mehr. Denn
auch Sie wissen aus vielen Gesprächen in den Wahlkreisen und den Diskussionsrunden: Uns droht, dass diese
Menschen, die tagtäglich ihren Dienst am Patienten und
für die Versicherten leisten, die Lust und Freude am Beruf verlieren,
({13})
unter anderem weil es zu viel Bürokratie gibt. Wir müssen in der Bezahlung - wir haben da schon erste richtige
Schritte gemeinsam gemacht - Neuerungen einführen.
({14})
Um die Bürokratie zu verringern, ist es wichtig, die Bedeutung der Freiberuflichkeit und der nötigen Unabhängigkeit,
({15})
die im Übrigen das Leitmotiv dieser Koalition „Freiheit
in Verantwortung“ sehr passgenau beschreibt, in den
Mittelpunkt zu stellen und diesen Berufsgruppen nicht
weiterhin Vorwürfe zu machen.
({16})
Deswegen bin ich für die nächsten vier Jahre sehr zuversichtlich. Ich biete Ihnen, Herr Minister Rösler - ich
denke, auch im Namen der Unionsfraktion -, für die
nächsten vier Jahre eine gute Zusammenarbeit an. Wir
wollen die von Ihnen aufgezeigten Zukunftsthemen in
den nächsten vier Jahren aufgreifen und angehen. Vor allem wollen wir Ihr Denken in linken Überschriften der
80er-Jahre widerlegen, indem wir deutlich machen, dass
das, was wir aufgeschrieben haben, zum Wohle der Versicherten, zum Wohle der Patienten in der Praxis tatsächlich funktioniert.
Ich freue mich jedenfalls auf diese Arbeit.
({17})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Ich rufe nun die Themenbereiche Finanzen und
Steuern und im gleichen Zusammenhang Tagesordnungspunkt 2 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums ({0})
- Drucksache 17/15 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Soziale Gerechtigkeit statt Klientelpolitik
- Drucksache 17/16 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Vielleicht können wir, bevor ich dem Bundesfinanzminister das Wort erteile, den Schichtwechsel hier einigermaßen zügig organisieren.
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,
Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Finanzpolitik bewegt sich in einem konjunkturellen Umfeld, in dem die Mehrzahl aller Experten national, europäisch und global die konjunkturelle Talsohle zur Jahresmitte 2009 für durchschritten hält. Die Herbstprognose
der EU-Kommission sieht die deutsche Wachstumsrate
im kommenden Jahr deutlich und im Jahr 2011 leicht
über dem Durchschnitt der Eurozone.
Aber wir haben national, europäisch und weltweit
auch erhebliche Unsicherheiten bezüglich der Tragfähigkeit und der Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Erholung. Diese wird nach wie vor überall massiv von
staatlichen Konjunkturprogrammen und expansiver
Geldpolitik getragen. Deshalb ist es noch kein selbsttragender Aufschwung.
Ein Risikofaktor für die wirtschaftliche Erholung ist
im Wesentlichen der deutliche Anstieg der Arbeitslosigkeit, mit dem wir im nächsten Jahr rechnen müssen. Wir
dürfen uns nicht darüber täuschen, dass die relativ
glimpfliche Entwicklung der Arbeitslosenzahl nicht korreliert mit einem stärkeren Rückgang von Beschäftigung, der durch die Kurzarbeit richtigerweise aufgefangen wird. Das schafft im nächsten Jahr zusätzliche
Risiken. Es droht - darüber ist gestern hier gesprochen
worden - immer noch eine Kreditverknappung oder eine
Kreditklemme. Wir müssen auch mit dem Risiko der
Rückwirkungen zunehmender Unternehmensinsolvenzen auf die Bankbilanzen rechnen.
Im Übrigen bleibt die globale Exportnachfrage, auch
wenn sich die Weltkonjunktur ein Stück weit erholt, im
Vergleich zu früheren Zeiten nach wie vor schwach.
Die beginnende wirtschaftliche Erholung, die wir
glücklicherweise zu verzeichnen haben und die sich im
Quartalsverlauf deutlicher zeigt, bedeutet noch nicht,
dass wir automatisch eine größere finanzpolitische Ma292
növriermasse haben. Das ist auch das Signal der neuen
Steuerschätzung, und das zeigt auch die Prognose zur
Entwicklung des Schuldenstandes des deutschen Gesamtstaates. Von gut 73 Prozent des BIP im laufenden
Jahr wird er auf annähernd 80 Prozent des BIP im Jahr
2011 steigen. Vor diesem Hintergrund ist das Hauptziel
der finanzpolitischen Strategie der Bundesregierung,
mittels Wachstumsstärkung schneller durch die Krise zu
kommen und alles für einen selbsttragenden Aufschwung zu tun.
({0})
Dabei muss eine wachstumsorientierte Steuerpolitik eine entscheidende Rolle spielen, eine Steuerpolitik,
die durch zielgerichtete steuerliche Entlastungen die produktiven Kräfte in der Gesellschaft stärkt und diesen zusätzliche finanzielle Spielräume eröffnet. Deshalb werden wir Bürger und Wirtschaft zum 1. Januar 2010 - das
ist der Sinn des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes,
dessen Entwurf wir in dieser Debatte in erster Lesung
behandeln - um mehr als 20 Milliarden Euro entlasten:
durch die Umsetzung der schon in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Steuerentlastungen und durch das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
Die wichtigsten Maßnahmen dieses Gesetzes sind:
Zur steuerlichen Entlastung und Förderung von Familien
mit Kindern und zur Berücksichtigung der Betreuungsaufwendungen werden die Kinderfreibeträge ab dem
Veranlagungszeitraum 2010 von insgesamt 6 024 Euro
auf 7 008 Euro angehoben.
({1})
Gleichzeitig wird das Kindergeld ab dem 1. Januar 2010
für jedes Kind um 20 Euro erhöht. Das ist wirklich eine
sozial ausgewogene Maßnahme, die auch der Stärkung
der privaten Nachfrage dient.
({2})
Ich habe in den Debatten der letzten Jahre eigentlich
nie gehört, dass irgendjemand in diesem Hause bezweifelt, dass Verbesserungen beim Familienleistungsausgleich sozial angemessen und im Übrigen auch die private Nachfrage stärkend seien.
({3})
Zweitens werden wir es den Unternehmen durch gezielte, in ihren haushaltsmäßigen Auswirkungen noch
begrenzte, aber dringend notwendige Korrekturen im
Bereich der Unternehmensbesteuerung erleichtern, die
zum Zeitpunkt der Unternehmensteuerreform und übrigens auch zum Zeitpunkt der Erbschaftsteuerreform so
nicht voraussehbare dramatische Wirtschaftskrise besser zu überstehen. Deswegen sind diese Korrekturen in
dieser Krise notwendig.
({4})
Um nur einige Stichworte zu nennen: Der Abzug von
Verlusten bei bestimmten konzerninternen Umgliederungen muss zugelassen werden, um Wachstumshemmnisse
für Unternehmen zu beseitigen. Bei der Zinsschranke
wird dauerhaft eine höhere Freigrenze von 3 Millionen
Euro eingeführt, um die kleinen und mittleren Unternehmen, den Mittelstand, von der Zinsabzugsbeschränkung
auszunehmen
({5})
und sie in konjunkturell schwierigen Zeiten zu entlasten
und zu stärken.
({6})
Ein weiteres Beispiel ist die Regelung zur Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern bis zu
410 Euro,
({7})
die übrigens auch ein Stück weit Bürokratieentlastung
und Steuervereinfachung ist.
({8})
Dadurch, dass wir das Wahlrecht zur Bildung eines Sammelpostens für alle Wirtschaftsgüter zwischen 150 und
1 000 Euro zulassen,
({9})
erhalten die Unternehmen bei der Wahl zwischen den
Abschreibungsmodalitäten mehr Flexibilität; das kann
jedes Unternehmen für sich am besten entscheiden.
({10})
Zur Erbschaft- und Schenkungsteuer: Wer sich die
Entwicklung der Lohnsummen in diesem Jahr anschaut,
wird nicht ernsthaft bestreiten können, dass bei den Regelungen, die wir insbesondere zur Ermöglichung der
Unternehmensnachfolge im Bereich der Erbschaftsteuer
beschlossen haben, Korrekturbedarf besteht. Deswegen
glaube ich, dass das angemessen ist.
({11})
Es ist übrigens auch im Hinblick auf Art. 6 des Grundgesetzes richtig, den Fehler der Erbschaftsteuerreform, Geschwistern und Geschwisterkindern keinen ermäßigten
Steuersatz zuzugestehen, mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu korrigieren.
({12})
Um es offen zu sagen: Natürlich war die Frage des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Beherbergungsleistungen im Hotel- und Gastronomiebereich auch innerhalb der Koalitionsfraktionen streitig und ist intensiv
diskutiert worden. Das gehört zu Volksparteien. Warum
auch nicht? Aber im Ernst: Man kann nicht bestreiten,
dass die Gastronomie und der Beherbergungsbereich im
Wettbewerb mit Anbietern überall in Europa und darüber hinaus stehen, für die geringere Mehrwertsteuersätze gelten. Deswegen ist die Senkung des UmsatzsteuBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
ersatzes bei Beherbergungsleistungen im Hotel- und
Gastronomiebereich eine Maßnahme, die unter Wettbewerbsgesichtspunkten vertretbar ist und die richtig und
angemessen ist. Deswegen schlagen wir das vor.
({13})
Ich bitte für das Gesetz, das wir heute in erster Lesung
beraten, um zügige Beratung, damit es vor Weihnachten
verabschiedet und im Bundesgesetzblatt verkündet werden kann und dann zum 1. Januar 2010 in Kraft treten
kann. Wir werden in dieser Legislaturperiode, wie es in
unserem Koalitionsvertrag vereinbart ist, im Steuersystem weitere strukturelle Vereinfachungen und Verbesserungen vornehmen. Darüber werden wir im nächsten
Jahr zu reden haben. Heute geht es darum, in einem ersten Schritt das zu beraten, was zum 1. Januar 2010 in
Kraft gesetzt werden muss.
({14})
Meine Damen und Herren, für diese Regierung steht
steuerliche Wachstumspolitik nicht in Widerspruch zu
der genauso notwendigen Konsolidierungspolitik. Wir
müssen beides hinbekommen.
({15})
- Klar, Frau Hendricks: Das ist schwierig - das wissen
Sie, das wissen wir -;
({16})
aber beides ist notwendig. Auf Dauer werden wir nur
dann erfolgreich konsolidieren können, wenn wir die
Bedingungen für robustes Wirtschaftswachstum in diesem Land schaffen. Deswegen ist das kein Gegensatz.
({17})
Kein Land ist mit dem Rest der Welt wirtschaftlich so
eng verflochten wie die Bundesrepublik Deutschland.
Deswegen sind wir gerade bei der Durchführung und
Formulierung unserer Finanzpolitik auf internationale
Abstimmung angewiesen. Finanzpolitischer Handlungsrahmen ist für uns nicht nur Deutschland, sondern der
gesamte europäische Binnenmarkt. Dabei müssen politische Maßnahmen - in Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips - in der Sache und auf den Zeitpunkt bezogen der länderspezifischen Situation angepasst werden.
Wir müssen immer wissen: Die Exportnation Deutschland ist essenziell auf offene Märkte und funktionierenden Welthandel mit klaren Regeln angewiesen.
({18})
Deswegen schaden protektionistische Tendenzen der
Weltgemeinschaft insgesamt.
Ich hatte am Freitag/Samstag der vergangenen Woche
beim G-20-Finanzministertreffen und am Montag/
Dienstag bei der Eurogruppe und der Ecofin-Gruppe in
Brüssel die Chance, meine Kollegen in Europa und in
den wichtigsten anderen Industrieländern der Welt kennenzulernen. Ich war von der Offenheit und Ernsthaftigkeit des Meinungsaustauschs und vom Grad der Abstimmung der europäischen und internationalen Politik
beeindruckt.
Die Einschätzung der weltwirtschaftlichen Lage, auch
der Situation an den Finanzmärkten, war bei diesen Treffen ganz eindeutig: Es gibt insgesamt Zeichen für eine
Stabilisierung der globalen Wirtschaft; aber der wirtschaftliche Aufschwung ist weiterhin gestützt durch
massive Maßnahmen der Fiskal- und Geldpolitik und der
Finanzmarktstabilisierung. Die Bedingungen an den
Finanzmärkten haben sich verbessert; von Normalität
sind wir aber noch weit entfernt.
Der Internationale Währungsfonds hat seine globale
Verlustprognose Anfang Oktober von 4 000 Milliarden
US-Dollar auf 3 400 Milliarden US-Dollar gesenkt.
3 400 Milliarden US-Dollar, das ist - damit man weiß,
wovon man redet - ungefähr die Größenordnung unseres
Bruttoinlandsprodukts pro Jahr. Er hat zugleich festgestellt, dass im Bankensektor global noch mehr als die
Hälfte der Wertberichtigungen vor uns liegt. Also ist absehbar, dass die Banken weiteren Kapitalbedarf haben
werden. Dieser Bedarf muss, soweit irgend möglich,
durch private Quellen gedeckt werden. Die Instrumente
des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes - Garantien,
Kapitalisierung, Bad-Bank-Lösungen - bleiben bei Bedarf - so ist die Gesetzeslage auch bei uns, und sie ist
richtig - bis Ende des kommenden Jahres nutzbar.
Ich füge übrigens hinzu: Wir werden die Vergütungsregelungen, die beim G-20-Finanzministertreffen vereinbart worden sind, im nächsten Jahr untergesetzlich
umsetzen und, soweit erforderlich, die entsprechenden
Gesetzesinitiativen einbringen, für die wir um Zustimmung bitten. Ich appelliere aber schon heute an alle
Beteiligten im Finanzsektor, diese Regelungen, die im
G-20-Rahmen beschlossen worden sind, bereits bei ihren Jahresabschlüssen für 2009 freiwillig anzuwenden
und zugrundezulegen.
({19})
Wir haben ein starkes Interesse daran, das Finanzsystem und die Banken so stark zu machen, dass sie ihre
dienende Funktion für die gesamte Volkswirtschaft, also
die Bereitstellung von Finanzierungsmitteln, auch wahrnehmen können. Deshalb wird die Bundesregierung die
Entwicklung an den Kreditmärkten in den kommenden
Monaten sorgsam beobachten und gegebenenfalls bestehende Instrumentarien der Unternehmensfinanzierung
- auch der Kollege Brüderle hat das gestern angesprochen -, also insbesondere den Deutschlandfonds, entsprechend anpassen.
Es herrscht im Übrigen internationaler Konsens, dass
die Krise nicht vorüber ist - ich wiederhole das, weil das
auch für die steuerpolitischen und wirtschaftspolitischen
Diskussionen in unserem Land wichtig ist - und dass es
deswegen heute zu früh wäre, expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen zurückzufahren. Es ist aber dennoch
der Zeitpunkt gekommen - auch darüber besteht Einig294
keit -, einen koordinierten Ausstieg, also eine Exitstrategie, vorzubereiten; denn je besser das koordiniert wird,
umso geringer sind die wettbewerbsverzerrenden Wirkungen, wie sie bei einem nichtkoordinierten Ausstieg
auftreten.
Die momentanen expansiven Schritte waren unvermeidlich; aber sie sind auf Dauer - auch das muss man
klar sagen - nicht durchhaltbar, und sie sind auch nicht
nachhaltig, weil sonst die Geldwertstabilität und die
Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte gefährdet wären, um es vorsichtig zu formulieren - im Übrigen mit
dann unvermeidlichen Konsequenzen für die Zinspolitik
der Zentralbanken. Das Risiko, jetzt die Basis für künftige Blasenbildung auf den Finanzmärkten zu legen, dürfen wir im Sinne der Krisenprävention ebenfalls nicht
aus den Augen verlieren. Die Chance ist gut, dass sich
nicht wiederholen wird, was sich vor zwei Jahren ereignet hat; aber ganz ausgeschlossen ist die Gefahr noch
nicht.
Vor diesem Hintergrund habe ich meinen Kollegen in
Brüssel am Montag und Dienstag etwas zugesagt, was
für Deutschland selbstverständlich ist und was übrigens
auch in unserem Koalitionsvertrag ganz ausdrücklich
formuliert ist, dass wir nämlich den Stabilitäts- und
Wachstumspakt einhalten werden.
({20})
Wenn Deutschland ihn nicht einhalten und verteidigen
würde - das habe ich den Kollegen in Europa gesagt -,
dann würden wir die Grundbedingung, die wir bei der
Schaffung der Währungsunion festgelegt haben, missachten. Das ist eine Weile her; aber wir mussten den
Menschen in Deutschland erklären, dass eine europäische Währung so stabil sein wird, wie die D-Mark war.
Die Grundvoraussetzung ist die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Also werden wir, wie von der EU-Kommission empfohlen, 2011 mit der Konsolidierung beginnen, wenn ein
selbsttragender Aufschwung bis dahin eingetreten ist,
wovon wir heute ausgehen können. Damit werden wir
das Defizitkriterium von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2013 wieder unterschreiten. Das bedeutet
dann auch, dass alle weiteren wachstumspolitischen
Maßnahmen - das steht auch so in unserer Koalitionsvereinbarung - unter Vorbehalt der Vereinbarkeit mit europäischen und nationalen Haushaltsregeln stehen. Im
Übrigen muss dieser Koalition niemand sagen, dass das
Grundgesetz in allen seinen Teilen gilt. Das, was wir in
der Föderalismuskommission II umgesetzt haben, war
richtig und notwendig und wird eingehalten.
({21})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Abschluss noch einen kurzen Blick auf Folgendes
werfen: Es gibt Untersuchungen - diese möchte ich in diesem Zusammenhang wenigstens angesprochen haben zum Beispiel der EU-Kommission, die darauf hindeuten,
dass unser Potenzialwachstum durch die Krise sinkt.
Also sind Strukturreformen notwendig, um das Potenzialwachstum zu steigern, zumal die grundsätzlichen
Trends, wie demografischer Wandel oder Klimawandel,
in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Krise zwar
zeitweilig überlagert, aber in der Substanz weder beseitigt
noch verdrängt worden sind. Wir müssen sie für eine längerfristige Politik bedenken.
Deswegen sind die notwendigen Strukturreformen,
die wir in diesem Land gemeinsam ergreifen müssen,
nicht etwas, wovor sich die Menschen fürchten müssen,
sondern sie sind eine Chance für alle Menschen in diesem Lande, dass wir die Herausforderungen bestehen
und die Chancen, die diese rasch verändernde Welt im
21. Jahrhundert allen Menschen bietet, auch wirklich
nutzen.
Deswegen werden auch in den kommenden Jahren
die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise unser finanzpolitisches Handeln bestimmen. Wir werden
geringere Steuereinnahmen und höhere Schulden haben,
und diese schwächen den ohnehin engen finanzpolitischen Handlungsspielraum. Soweit wir ihn durch Strukturreformen und Wachstum erweitern können, wird es
besser. Deswegen ist das eine kein Gegensatz zum anderen. Es ist eine gemeinsame Aufgabe dieses Hohen Hauses, ein vernünftiges Maß zu finden.
({22})
- Ich schicke Ihnen meine Schulzeugnisse mit den Mathematiknoten, Herr Bonde. Seien Sie vorsichtig! Ich
kann ziemlich gut rechnen. Ich habe es nicht verlernt.
({23})
- Wissen Sie, ich habe gelegentlich zu Ihrem Parteivorsitzenden, dem ich auch persönlich verbunden bin, gesagt: Wenn zwei plus zwei gleich vierzig wären, dann
könnte man mit Lafontaine Finanzpolitik machen. Zwei
plus zwei ist aber vier.
({24})
Zu Beginn der Legislaturperiode wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, im demokratischen Streit ein vernünftiges Maß zu finden.
({25})
- Ja, ja, Sie hören nicht gerne etwas über Aufgaben; Sie
wollen nur Versprechen machen, von denen Sie hoffen,
dass Sie sie nicht selber realisieren müssen. Ich spreche
lieber von unserer gemeinsamen Aufgabe.
({26})
Diese Aufgabe wird sein, ein vernünftiges Maß zu finden,
das sowohl den berechtigten Wünschen der gesellschaftlichen und politischen Akteure und den Bedürfnissen zukünftiger Generationen als auch den Notwendigkeiten
des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und
unseres Grundgesetzes Rechnung trägt. Dazu zähle ich
auf Ihrer aller Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({27})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Joachim
Poß das Wort.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Bundesfinanzminister, lieber Herr Schäuble,
ich wünsche Ihnen für Ihre schwierige Aufgabe eine
glückliche Hand. Sie haben vorhin schon eine Kostprobe dafür geliefert, was wir in den nächsten Wochen
und Jahren erwarten dürfen und wie Sie versuchen, die
Gratwanderung zwischen Frau Merkel und Herrn
Westerwelle zu bewältigen.
Sie haben gerade aber auch bewiesen, dass Sie in der
Lage sind, ökonomisch unnötige Steuergeschenke wortreich zu begründen. Diese Fähigkeit wird, denke ich, bei
Ihrer Schuldenpolitik an Grenzen stoßen.
Ihr ernst gemeintes Bekenntnis zu Europa auch in der
Finanz- und Stabilitätspolitik relativiert sich durch Ihre
konkreten Absichten oder durch das, was Sie noch nicht
aussprechen. Denn diese Bekenntnisse sind nicht durch
konkrete Politik unterlegt, ganz im Gegenteil: Alles, was
Sie - insbesondere bei Ihrer Steuersenkungspolitik verkünden, steht im Gegensatz zu diesen Bekenntnissen.
In der Regierungserklärung von Frau Merkel war das offenkundig. Das werden wir Ihnen bei aller Kooperation,
die nötig ist, nicht durchgehen lassen.
({0})
Wir verstehen unsere neue Rolle sicherlich nicht so, dass
wir blindwütige Angriffe gegen Sie unternehmen. Sie
selber sollten allerdings möglichst versuchen, die Linie
dessen, was in der Großen Koalition gemeinsam erreicht
wurde, um Wachstum und Stabilität anzustreben, auch
fortzusetzen.
Sie sind ganz klar dabei, diese Linie zu verlassen. Der
Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein eindeutiger
Beleg dafür, dass es Ihnen nicht nur um Steuersenkungen zur Wachstumsbelebung geht, sondern dass Sie offenkundig auch Gefangener der Steuersenkungsversprechen Ihrer Partei und insbesondere der von Herrn
Westerwelle geworden sind. Das ist keine komfortable
Lage für eine solide Politik, Herr Schäuble, selbst wenn
Sie beabsichtigen sollten, eine solche zu betreiben. Man
muss bei Ihnen sehr genau hinhören.
({1})
In den Debatten der letzten Tage ist zu Recht die mangelnde Klarheit der Koalitionsvereinbarung kritisiert
worden. Fast alle wichtigen Themen werden in Kommissionen oder Arbeitsgruppen verschoben, auf jeden Fall
aber hinter das Datum der Landtagswahl in NordrheinWestfalen. Die Steuerschätzung im Mai ist keine hinreichende Begründung dafür, nicht sofort mit den notwendigen Vorarbeiten zu einer Steuersenkung zu beginnen,
sondern vielmehr Alibi dafür, die Diskussion zwischen
den Koalitionspartnern darüber - eine turbulente Debatte
durften wir schon in den letzten Tagen erleben - auf
einen Termin nach der Landtagswahl in NordrheinWestfalen zu verschieben. Das ist der wahre Grund, warum Sie die entsprechende Kommission erst nach dieser
Landtagswahl einsetzen wollen.
({2})
Die angekündigte - richtigerweise müsste man „angedrohte“ sagen - Gemeindefinanzreform wird in eine
Kommission verschoben. Ebenfalls wurde eine systematische Änderung der Umsatzsteuer angekündigt, aber nur
zur Prüfung. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Ganz konkret sind die Neukoalitionäre nur zweimal
geworden: einmal bei der bizarren Idee, für die Finanzierung all ihrer unsoliden Versprechungen einen riesigen
Schuldentopf neben den Bundeshaushalt zu schaffen.
Aus dem sollte dann beliebig verteilt werden, und zwar
ohne lästige Rücksichtnahme auf die gerade neu geschaffenen Regeln zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung. Dieser offenkundige Betrugsversuch ist Gott
sei Dank erst einmal vom Tisch genommen und wird,
Herr Minister Schäuble, hoffentlich auch mit dem nächsten Haushalt nicht noch einmal serviert. Sie wissen, worum es dabei geht. Herr de Maizière hat das, glaube ich,
sehr intim miterlebt.
({3})
- Als intimer Kenner der Sache. Er ist schließlich ein guter Jurist.
Ebenfalls konkret und bereits vom neuen Kabinett
beschlossen sind die kurzfristigen steuerlichen Maßnahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Hier betreiben Sie gleich in mehrfacher Hinsicht Etikettenschwindel. Schwindel Nummer eins: Der größte Teil des
Entlastungsvolumens dieses Gesetzes geht auf die Konjunkturpakete bzw. die Gesetzesvorhaben der Großen
Koalition zurück, nämlich 14 Milliarden Euro. Das sind
rund zwei Drittel des gesamten Entlastungsvolumens.
Hinzu kommen 8,5 Milliarden Euro. Das sind sozusagen
die Zückerli für eine ganz bestimmte Klientel. Es handelt sich also um fremde Federn,
({4})
mit denen sich insbesondere die FDP, Herr Kollege
Fricke, schmücken will.
({5})
Mit Wachstumsbeschleunigung hat das alles nichts zu
tun. Das ist Teil einer abenteuerlichen Finanzpolitik.
({6})
Schwindel Nummer zwei: Die meisten Maßnahmen
dienen offensichtlich nicht primär der Wachstumsförderung, sondern der Bedienung der eigenen Klientel. Die
Steuergeschenke für die Unternehmenserben - ich hatte
gestern Abend Gelegenheit, mit einem Praktiker aus der
Steuerverwaltung zu sprechen, der durchaus über ökonomische Kenntnisse verfügt
({7})
- das mache ich auch öfter - ebenso wie die Änderungen
der Unternehmensbesteuerung oder die isolierte Herabsetzung des Mehrwertsteuersatzes für Beherbergungen haben mit Wachstumsförderung - das wissen Sie
auch, Herr Schäuble - nichts zu tun, ganz im Gegenteil.
Wie zu lesen ist - damit werden wir uns noch ausführlich befassen -, wird die Maßnahme zugunsten der Beherbergungsgewerbe nicht wie angekündigt 1 Milliarde
Euro kosten. Es gibt - möglicherweise auch unionsgeführte - Länder, die einen Steuerausfall in Höhe von
3 bis 4 Milliarden Euro befürchten. In einer Umfrage des
einschlägigen Verbandes ist zu lesen, dass sich die Senkung des Mehrwertsteuersatzes nicht in den Preisen für
die Kunden niederschlagen wird, wenn überhaupt, dann
höchstens zu 10 oder 20 Prozent. Das hat mit der ursprünglichen Begründung der Maßnahme überhaupt
nichts zu tun. Etikettenschwindel, wohin man blickt!
({8})
Viel wichtiger wäre es dagegen gewesen, sich Gedanken zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes zu machen
und durch weitere Maßnahmen die Nachfrageseite unserer Wirtschaft zu stärken. Wir fordern zu diesem Zweck
die Verlängerung der geförderten Altersteilzeit um fünf
Jahre und werden beantragen, den Entwurf des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes um unseren diesbezüglichen Gesetzentwurf zu ergänzen.
({9})
Ich komme zu Schwindel Nummer 3: Auf der Ebene
der Länder und Gemeinden, also genau dort, wo die unmittelbar vor Ort beschäftigungswirksamen öffentlichen
Investitionen getätigt werden, werden die Wachstumskräfte durch die Regelungen Ihres Gesetzentwurfs nicht
nur nicht gestärkt. Sie werden geschwächt und konterkariert. Es ist doch absurd: Während sich Städte und
Gemeinden auf der einen Seite auch im kommenden Jahr
noch aus dem kommunalen Investitionsfonds des Konjunkturpaketes II bedienen können, werden ihnen auf der
anderen Seite von der neuen Bundesregierung gleichzeitig Steuereinnahmen in Milliardenhöhe entzogen. Das ist
Wachstumsverhinderung, nicht Wachstumsbeschleunigung.
({10})
Die Zahlen der Steuerschätzung, Herr Schäuble, sind
gut eine Woche alt. Selbst ohne die neuerlichen Maßnahmen fehlen den Ländern in 2010 gegenüber 2008 gut
20 Milliarden Euro und den Städten gut 10 Milliarden
Euro. Jeder Euro weniger an Steuereinnahmen heißt einen Euro weniger Investitionen oder einen Euro mehr
Schulden. Wer Ländern und Kommunen nur die Wahl
zwischen Investitionskürzung und noch mehr Schulden
lässt, der gestaltet Zukunft nicht - diesen Anspruch haben Sie in Ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht,
Frau Merkel -, sondern verhindert sie. Das ist doch genau die Art von Steuer- und Finanzpolitik, die unser
Land am Ende der letzten schwarz-gelben Regierungszeit in den 90er-Jahren in die völlige Bewegungsunfähigkeit getrieben hat.
({11})
Jetzt fangen Sie das gleiche Spiel wieder an. Deswegen
stehen Sie nicht in der Kontinuität einer auf Solidität und
Wachstum angelegten Politik der Großen Koalition.
({12})
Nun mag der Bund in der Lage sein, in 2010 mit den
ohnehin vorgesehenen 86 Milliarden Euro neuen Schulden auch seinen Anteil an den zusätzlichen Steuersenkungen zu finanzieren. Aber nun ein Wort zum Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa und zur zukünftigen
Politik, Herr Schäuble: Auch beim Bund erhöhen die zusätzlichen Einnahmeausfälle das strukturelle Defizit,
das nach den Regeln der Schuldenbremse bis 2016 abgebaut werden muss. Das heißt, allen Bürgerinnen und
Bürgern, die jetzt mit Entlastungen beglückt werden,
wird die Rechnung dafür noch präsentiert werden, und
zwar in Form höherer Steuern oder - das ist wahrscheinlicher - in Form von Leistungskürzungen. Das ist eine
Mogelpackung. Das wird die heute scheinbar Begünstigten, die sich freuen, noch teuer zu stehen kommen.
({13})
Dabei geht es nicht darum, dass wir den Familien mit
Kindern nicht ein höheres Kindergeld wünschen, wenn
es denn solide finanziert würde. Aber was ist denn das
bitte schön für eine Entlastung für Familien, mit der, allen Bekenntnissen hier zum Trotz, sehenden Auges den
Kindern selbst die vollen Kosten zuzüglich Zins und
Zinseszins aufgebürdet werden? Das kann doch nicht
unser Weg in die Zukunft sein. Kehren Sie um, Frau
Merkel und Herr Schäuble, bevor es zu spät ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Finanzminister Schäuble, zunächst möchte ich Ihnen in dem neuen Amt viel Erfolg
wünschen. Ich habe es begrüßt, dass Sie in Brüssel waren.
Wir, CDU, CSU und FDP, haben damals gemeinsam
den Euro eingeführt. Wir haben uns gemeinsam für den
Vertrag von Maastricht mit seinen Kriterien eingesetzt.
Wir wollten unsere Währung stabil halten und sind froh,
dass es uns gelungen ist, das international zu implementieren. Wenn es derzeit Schwierigkeiten gibt, in unserem
Land wie auch in anderen europäischen Ländern, dann
besteht unser Weg, anders als das unter rot-grüner RegieCarl-Ludwig Thiele
rungszeit der Fall war, nicht darin, die Kriterien zu verändern, sondern er besteht darin, zu den Kriterien zu stehen und in diesen schwierigen Zeiten gleichwohl dafür
einzutreten, dass diese Kriterien Bestand haben. Das
sind wir den Bürgern und der Wirtschaft unseres Landes
schuldig.
({0})
Ich freue mich natürlich auch darüber, dass die FDP
nach elf Jahren die Zukunft unseres Landes wieder mitgestalten darf. Ich gestehe allerdings ganz freimütig,
dass ich mir wirtschaftlich schönere Zeiten gewünscht
hätte, als wir sie derzeit haben. Aber das ist eine Herausforderung mehr. Wir erleben allerdings auch gerade in
der Koalition eine Premiere in der Geschichte unseres
Landes. Frau Merkel ist die erste Bundeskanzlerin unseres Landes, die in einer neuen Koalition Kanzlerin
bleibt. Das hat es in der Geschichte unseres Landes noch
nicht gegeben, auch nicht bei Beendigung der Großen
Koalition 1969. Diese Tatsache hat Auswirkungen:
Weite Teile der Union sehen sich weiterhin in der Kontinuität des bisherigen Regierungshandelns,
({1})
die FDP will aber einen politischen Neuanfang, und
den brauchen wir in unserem Land, sowohl in der Sache
als auch bei den Personen. Wir sind froh, dass unsere
Personen neu in das Kabinett eingezogen sind.
({2})
Aber - auch das sage ich ganz klar - ich bekenne mich
zu dieser Koalition. Wir wollen gemeinsam in dieser
Koalition in schwierigen Zeiten jetzt Politik neu gestalten. Das ist die Aufgabe, die wir haben.
({3})
Anfang des Jahres wurde noch mit einem Wirtschaftseinbruch von 6 Prozent gerechnet. Wir haben derzeit
Voraussagen, dass es 3,9 Prozent sind. Das ist immer
noch der stärkste Wirtschaftseinbruch in der Geschichte
unseres Landes. Durch diesen Wirtschaftseinbruch haben viele Menschen ihre Arbeitsplätze verloren, viele
sind in Kurzarbeit, und viele Bürger haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Ziel liberaler Politik und der Politik
dieser Koalition ist es daher, die Rahmenbedingungen
für Wachstum zu verbessern, damit die bestehenden Arbeitsplätze sicherer und Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass neue Arbeitsplätze in unserem Lande
entstehen können.
({4})
Die Bürger hatten bei der Bundestagswahl die Wahl
zwischen Parteien, die in der Krise die Steuern erhöhen
wollten, und zwischen Parteien, die die Steuern senken
wollten. Die Bürger haben sich klar für die Parteien entschieden, die die Steuern senken wollen. Damit die Bürger aber auch sehen, dass Union und FDP nicht nur von
Wachstum und „mehr Netto vom Brutto“ sprechen, sondern auch wirklich entsprechend handeln, freue ich
mich, dass heute während der Debatte über die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin die erste Lesung
des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes durchgeführt
wird, damit wir dieses Gesetz in diesem Jahr noch zum
Abschluss bringen. Die erste Lesung haben wir heute sogar vor der Konstituierung der Ausschüsse. Aber das ist
wichtig, es soll sich jeder darauf einrichten können, die
Opposition auf das Verfahren, aber auch die Bürger auf
die steuerlichen Entlastungen.
({5})
Wir wollen mit diesem Gesetz ein ganz klares Zeichen setzen. Die Familien in unserem Land sollen spürbar entlastet werden. Das Kindergeld wird um 20 Euro
erhöht, der Kinderfreibetrag auf 7 000 Euro. Mir ist dabei unbegreiflich, wie die Opposition angesichts dieser
Maßnahmen gegenüber der Koalition erklären kann, sie
betreibe soziale Kälte oder Klientelpolitik. Ich möchte
eines an dieser Stelle klarstellen: Wenn der Einsatz für
die Familie in unserem Lande von Ihnen als Klientelpolitik bezeichnet wird, dann bekennen wir uns ausdrücklich zu dieser Art der Klientelpolitik; denn die Familien sind die Wurzeln unserer Gesellschaft, und wenn
wir dort ansetzen, die Wurzeln zu stärken, tun wir Gutes
für unser Land.
({6})
Außerdem werden wir Fehler bei der Unternehmensteuerreform korrigieren, die für die Betriebe krisenverschärfend wirken und Arbeitsplätze gefährden, wie zum
Beispiel die steuerpolitisch völlig verfehlte Heranziehung von Kosten als Bemessungsgrundlage für die Erhebung von Steuern. Wir werden ferner im Bereich der
Erbschaftsteuer zwei Maßnahmen der Großen Koalition direkt korrigieren. Geschwister wurden durch die
Erbschaftsteuerreform der Großen Koalition steuerlich
wie völlig Fremde behandelt. Dazu wurde ein neuer Begriff eingeführt, nämlich der Begriff der sogenannten
Kernfamilie. Zur Kernfamilie sollten nur noch Eltern,
Kinder, Großeltern und Enkel zählen. Welches gesellschaftspolitische Bild steckt hinter einer solchen Familiendefinition? Geschwister sind diejenigen Personen,
die uns die längste Zeit durch das Leben begleiten. Diese
Personen zählten für die FDP schon immer zur Familie.
Ich freue mich darüber, dass mit unserer Forderung einer
Besserstellung der Geschwister bei der Union - trotz
finanzieller Auswirkungen - offene Türen eingerannt
wurden; denn auch dort hat es vielen überhaupt nicht geschmeckt, welcher Unfug mit der Erbschaftsteuer auf
den Weg gebracht worden war.
({7})
Ferner werden wir im Bereich der Erbschaftsteuer
eine erste Entlastung von Erben mittelständischer Betriebe durch eine deutliche Erleichterung der Fortführungsklausel beschließen. Die Benachteiligung der mittelständischen Betriebe gegenüber börsennotierten
Kapitalgesellschaften bei der Erbschaftsteuer muss allerdings weiter abgebaut werden.
Wir wollen die Wachstumsbedingungen dadurch
verbessern, dass geringwertige Wirtschaftsgüter wieder
abgeschrieben werden können. Das erspart Bürokratie
und hilft gerade den kleinen Betrieben.
Auch über das Beherbergungsgewerbe - Minister
Schäuble hat es angesprochen - gab es eine Diskussion.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir versuchen, diesen Teil
unserer Wirtschaft international gleichzustellen. Deshalb
haben wir diese Regelung in den Gesetzentwurf aufgenommen.
({8})
Nun kritisiert die Opposition den Entwurf des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und unsere weiteren steuerpolitischen Vorhaben als Steuersenkung auf Pump.
({9})
Sie wollen dadurch anscheinend suggerieren, Sie hätten
in Ihrer Regierungszeit - das betrifft auch die Regierungszeit von Rot-Grün, Herr Trittin - Steuersenkungen
nur beschlossen, wenn der Staat Überschüsse erwirtschaftet hat. Das hat er aber nicht.
({10})
Das heißt, auch Ihre Steuersenkungen gingen mit einer
Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte einher. Das
muss man an dieser Stelle sehen.
Schauen wir uns die letzten Jahre an: Zuletzt wurden
zwei Konjunkturprogramme in einer Größenordnung
von mehr als 80 Milliarden Euro aufgelegt. Diese Konjunkturprogramme wurden ausschließlich - das sage ich
ganz deutlich an die Adresse der SPD - durch eine Erhöhung der Neuverschuldung finanziert. Das ist der Grund,
warum Finanzminister Steinbrück im Sommer dieses
Jahres einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2010 eingebracht hat, in dem sämtliche Schuldenrekorde unseres
Landes gebrochen werden; das nächste Jahr sollte mit
einer Neuverschuldung von 86,1 Milliarden Euro angegangen werden.
({11})
Dass wir in der Krise etwas für die Konjunktur tun
müssen, ist vollkommen richtig. Aber wir wollen konsolidieren, und wir wollen Wachstum fördern. Das gehört
für uns zusammen. Das sind zwei Seiten derselben Medaille, und dafür werden wir uns einsetzen.
({12})
In den letzten vier Jahren hat die Große Koalition
über die Verhältnisse unseres Landes gelebt.
({13})
Die jährlichen Ausgaben des Bundeshaushaltes, Herr
Kollege Kauder, sind um 4 Prozent gestiegen, und die
Volkswirtschaft ist nur um 1,4 Prozent gewachsen. Ich
freue mich, dass es gelungen ist, in der Koalitionsvereinbarung festzulegen, dass wir mit dem Wachstum der öffentlichen Ausgaben unterhalb des Wachstums der
Volkswirtschaft bleiben wollen. Unser Ziel ist ein
schlanker und ein starker Staat. Dazu bekennen wir uns.
Dafür werden wir uns weiter einsetzen. Dieses Gesetz ist
ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben gemeint,
hier über die Rechenkünste von Herrn Lafontaine sprechen zu müssen. Ihn muss ich nicht verteidigen; das
kann er selber ganz gut.
Aber an Ihre Rechenkünste möchte ich gerne erinnern. Sie und Ihr Freund, Helmut Kohl, haben vor
20 Jahren geglaubt, die deutsche Einheit könne aus der
Portokasse bezahlt werden. Da haben Sie bewiesen, wie
schlecht Sie rechnen können.
({0})
Die Kanzlerin hat von der schwersten Krise in der
Geschichte der Bundesrepublik gesprochen. Da hat sie
recht. Die Bürger haben zu Recht erwartet, dass sich die
Kanzlerin gleich nach der Vereidigung an sie wendet,
um Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Krise vorzustellen. Nötig wären die sofortige Einführung einer
Börsenumsatzsteuer, die sofortige Rücknahme der Deregulierungsgesetze für den deutschen Finanzmarkt, die
sofortige direkte Kreditvergabe an kleine und mittlere
Unternehmen durch den Staat und die sofortige Erhöhung der Hartz-IV-Sätze für Kinder. Das alles ist nicht
geschehen, und das ist verheerend.
({1})
Stattdessen flog die Kanzlerin lieber über den Großen
Teich, um erst einmal alles mit dem Großen Bruder in
Amerika abzusprechen. Gerade im Osten sah ich da ein
Schmunzeln in den Gesichtern vieler Menschen, die sagten: Na, das kennen wir doch. Erich Honecker musste
auch erst in Moskau erscheinen, um den Bürgern dann
mitteilen zu können, wie es im Lande weitergeht.
({2})
- Die Reflexe funktionieren - ich sehe das - sehr gut.
Weil wir ja nun seit einem Jahr den Mauerfall feiern
und jetzt ein weiteres Jahr die Deutsche Einheit, will ich
noch kurz etwas zu diesem Thema sagen: Die Ostdeutschen hatten in der letzten Zeit viel zu schmunzeln.
({3})
Überhaupt: Ich kenne keine Jammerossis, ich kenne vor
allem Schmunzelossis. „Das kennen wir doch!“, sagen
die schmunzelnden Ostdeutschen.
Die Kanzlerin hat vor der Wahl nicht gesagt, wer die
Kosten der Krise bezahlen soll, und sie hat es auch in der
Regierungserklärung nicht gesagt. Die Menschen können mit der Wahrheit umgehen, und sie können auch mit
schlechten Nachrichten umgehen, sie können es aber
nicht ertragen, wenn die Regierung sie belügt.
({4})
Schon die Koalitionsverhandlungen machten deutlich,
welche Schwierigkeiten die Regierung mit der Wahrheit
hat. In einem Schattenhaushalt sollten die Wahlgeschenke an die Unternehmen und an die Erben großer
Vermögen versteckt werden.
({5})
Aber die Proteste gegen diese Klientel- und Verschleierungspolitik waren so groß, dass der Schattenhaushalt
erst einmal zurückgezogen werden musste. Das Ergebnis
allerdings ist: Der gesamte Bundeshaushalt ist jetzt ein
einziger großer Schattenhaushalt. Alles, was die Bundesregierung im Schattenhaushalt verstecken wollte, wird
sie im nächsten Bundeshaushalt verstecken. Da frage ich
mich: Ist Herr Schäuble vielleicht nur ein Schattenminister?
Die Kanzlerin verteidigte in ihrer Rede noch einmal
die Steuersenkungen auf Pump. Sie wolle die Arbeitnehmer in der Krise nicht zusätzlich belasten. Auch das ist
eine Lüge. Es ist eine Lüge, weil Sie von der Koalition
die Beiträge zur Arbeitslosen- und Krankenversicherung
erhöhen werden. Sagen Sie den Menschen doch wenigstens die Wahrheit!
({6})
Wir als Linke sagen: Es gibt eine andere Möglichkeit,
die die Kanzlerin allerdings verschwiegen hat: die Anhebung der Steuern auf große Vermögen, Dividenden, Boni
und unanständig hohe Gehälter. Mit diesen Mehreinnahmen hätte die Bundesregierung die Kosten der Krise finanzieren können. Der vorliegende Entwurf eines Wachstumsbeschleunigungsgesetzes ist in Wirklichkeit der
Entwurf eines Umverteilungsbeschleunigungsgesetzes.
Meine Damen und Herren, Sie bedienen Ihre Klientel wie
schon in der letzten Legislaturperiode, bloß dass Sie jetzt
noch dreister und schneller von unten nach oben umverteilen wollen. Dem stellen wir uns entgegen.
({7})
Herr Schäuble, Sie haben erklärt, dass der
Haushalt 2010 auf Sicht gefahren werden soll. Ich sage
Ihnen: Da kann einem nur angst und bange werden.
Schon der Kapitän der „Titanic“ fuhr nur auf Sicht.
({8})
Wir wissen, wie diese Sache ausgegangen ist. Auch in
der Krise braucht eine Regierung wenigstens eine mittelfristige Strategie; es reicht kein Hüpfen von Jahr zu Jahr.
Meine Damen und Herren, zu der von Herrn Schäuble
wiederum aufgestellten Behauptung, dass die Finanzmärkte nur international reguliert werden können, ist zu
sagen: Das ist eine weitere Lüge. Natürlich brauchen wir
internationale Regeln, aber Sie müssen doch einsehen,
dass ein Teil der Finanzkrise hausgemacht ist. Wir brauchen also nicht zu warten, bis alles international geregelt
ist. Wir müssen heute schon in unserem eigenen Haus
wieder Ordnung schaffen.
({9})
Der Finanzminister - Sie haben das gesagt, Herr
Schäuble - muss im nächsten Jahr 86 Milliarden Euro an
neuen Schulden aufnehmen, um die dramatischen Auswirkungen der Krise in den Griff zu bekommen. Aber
gleichzeitig entlasten Sie Manager, Erben und Bankdirektoren, die für diese Krise mit die Verantwortung tragen. Und Sie wälzen in unverantwortlicher Weise die
Lasten auf die Länder und Kommunen ab. Ich nenne Ihnen nur einmal ein Beispiel: Meine Heimatstadt, das
Bundesland Berlin, wird durch Ihre Steuerpolitik
700 Millionen Euro weniger haben. Das entspricht einem Gegenwert von 100 000 Kita-Plätzen. Da reden Sie
hier von Familienfreundlichkeit? Das ist doch ein Widerspruch.
({10})
Meine Damen und Herren, ab 2011, so haben wir gelesen, soll wieder gespart werden. Dazu gibt es schon
eine Menge an Vorschlägen von sogenannten Experten
wie Herrn Sinn, der den Hartz-IV-Satz regionalisieren,
also wieder eine Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland aufbauen will. Wir sagen Ihnen: Dieser Vorschlag
ist nicht nur unsinnig, er ist auch juristisch nicht haltbar,
er ist unsozial und spalterisch - und das angesichts der
20-Jahr-Feiern, die wir gerade erleben. So geht das
nicht.
({11})
Eine wirkliche finanzpolitische Linie ist weder im
Koalitionsvertrag noch in den Reden der Regierungsmitglieder zu erkennen. Nur wenn man zwischen den Zeilen
liest, was wir ja gelernt haben, findet man heraus, dass
diese Regierung nicht das Wohl der Menschen in diesem
Land im Auge hat, sondern ausschließlich das Wohl von
Leuten wie Herrn Ackermann, mit denen sie auch gerne
im Kanzleramt Geburtstagspartys feiert.
({12})
Wir als Linke werden in dieser Legislaturperiode den
Bundeshaushalt gut ausleuchten und die Bürger über die
Schattenspiele der Regierung ausführlich informieren.
Darauf können Sie sich verlassen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Bonde vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Finanzminister Schäuble, als Mitglied der Opposition will ich Ihnen zu Ihrem neuen Amt gratulieren und
Ihnen viel Glück in diesem schwierigen Amt, das Sie
übernommen haben, wünschen. Denn Glück werden Sie
angesichts der Widersprüche, die Sie in der Finanz- und
Haushaltspolitik von Ihrem Koalitionspartner in einer
wirtschaftlich schwierigen Zeit ins Gepäck gelegt bekommen haben, brauchen.
Diese Koalitionsverhandlungen waren ein denkwürdiges Ereignis. Man muss sich einmal daran erinnern:
Einen Kassensturz hat die neue Koalition nicht vorgenommen. Sie alle sagen: Wir fahren jetzt auf Sicht. Aber
jeder in diesem Haus weiß, wo eine Strategie „Auf Sicht
fahren und die Augen zumachen“ endet.
({0})
Mit einem faulen Trick haben Sie versucht, die wirklich
schwierige Situation unter den Teppich zu kehren. Ein
riesiger Schattenhaushalt war Ihre Antwort, um sich
aus der Verantwortung zu stehlen.
Man kann sich einmal eine Auswahl der öffentlichen
Meinung anschauen: Die Frankfurter Rundschau schrieb
am 6. November „An den Jungen bleibt es hängen“. Die
Financial Times Deutschland schrieb am 20. Oktober
„Schwarz-Gelb spendiert auf Pump“, und die FAZ
schrieb am 2. November „Mit Vollgas in den finanzpolitischen Nebel“. Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen. Finanz- und haushaltspolitische Solidität sieht
anders aus als das, was Sie hier an wochenlangem Haushaltschaos inszeniert haben.
({1})
Die Liste der Zitate über Ihr Unvermögen ließe sich,
wie schon gesagt, beliebig fortsetzen. Schwarz-gelbe
Landesminister - ich denke an Herrn Linssen in NRW -,
schwarze Oberbürgermeisterinnen - ich denke an Frau
Roth aus Frankfurt -, Ministerpräsidenten - ich denke an
Herrn Tillich aus Sachsen - und viele mehr haben begriffen, dass Sie einen Rest an Solidität nur durch das
Verschieben der Lasten auf andere Ebenen bewahren
wollen: verschieben zulasten der Länder und der Kommunen, also dorthin, wo wirklich Investitionstätigkeit
der öffentlichen Hand stattfindet. Sie schieben den
Schwarzen Peter also den Ländern und Kommunen zu.
({2})
Die Strategie der Schattenhaushalte ist erst einmal
grandios gescheitert. In Ihrem Koalitionsvertrag ist dieser Punkt aber noch enthalten. Wir werden genau aufpassen, dass das Comeback der großen Lüge nicht kommt.
Die absurde Linie geht aber weiter. Denn Ihr neues
Credo lautet, dass Steuersenkungen auf Pump einen
Wachstumseffekt hätten. Das Gegenteil ist der Fall, wie
wir wissen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass in dieser
Debatte die FDP eine besonders peinliche Figur macht.
({3})
Bis kurz vor Ende der Legislaturperiode gab es die
Föderalismuskommission II. Ich kann mich an unsere
Sitzungen noch gut erinnern. Besonders gut kann ich
mich an die Vertreter der FDP in diesem Gremium erinnern, die jedes Mal lautstark ein Schuldenverbot gefordert haben. Ich präzisiere: ein vollständiges Verbot von
Verschuldung.
({4})
Herr Burgbacher war einer der Fürsprecher eines Schuldenverbots. Er ist heute Staatssekretär beim Wirtschaftsminister Brüderle. Der Minister hat uns gestern an dieser
Stelle erklärt, es gebe nichts Besseres für das Wachstum
als Steuersenkungen auf Pump, es gebe nur eine Chance,
Wachstum zu erreichen, nämlich durch Verschuldung. Je
mehr Verschuldung, desto besser sei dies für das Wachstum.
({5})
Diesen Spagat, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, sollten Sie uns einmal erklären. Ich verstehe, dass
Sie Angst davor haben, dass die Leute begreifen, was da
passiert ist. - Da Sie sich so aufregen, Herr Thiele: Ich
habe daheim zwei kleine Kinder. Ich weiß, wie einer
aussieht, der die Hose voll hat. Das sehe ich genau.
({6})
Lassen Sie mich auf die Kanzlerin zu sprechen kommen. Hier gibt es ja ähnliche Fragestellungen. Vor der
Wahl haben Sie uns erklärt, die Defizite der Bundesagentur für Arbeit seien kein Problem; das sei ein Darlehen. Jetzt geben Sie zu: Dies ist kein Darlehen. Nach
der Wahl ist klar: Das führt zu einer zusätzlichen jährlichen Verschuldung im Rahmen des Bundeshaushaltes.
Sie wissen, das führt jährlich zu einer massiven Milliardenlücke. Sie addiert sich bis 2013 auf 40 Milliarden
Euro.
Deshalb ein Merksatz an die FDP zum Mitschreiben:
Für einen Steuerzuschuss brauche ich Steuereinnahmen.
Das ist mathematisch zu erklären.
({7})
Wenn ich Steuereinnahmen brauche, kann ich die Steuern nicht senken. Ihre Refinanzierungskurven werden
am Ende dazu führen, dass die Handlungsfähigkeit des
Staates abnehmen wird.
({8})
Sie argumentieren immer damit, dass uns Wachstum
retten wird. Sie müssen aber absurd hohe Wachstumsraten generieren, um das hinzubekommen, was Sie hier
immer behaupten. Wenn Sie an Ihre Steuersenkungspläne denken und gleichzeitig Ihr Bekenntnis zu den
Maastricht-Kriterien ernst nehmen - das bedeutet zum
Beispiel, dass Sie, was die Staatsverschuldung angeht,
60 Prozent des BIP nicht überschreiten -, dann bräuchten Sie bis ins Jahr 2030 ein jährliches Wirtschaftswachstum von 4,2 Prozent, um Ihre Pläne und die
Maastricht-Kriterien unter einen Hut zu bekommen. Da
muss man wirklich fragen: Wo leben Sie denn eigentlich?
({9})
Das sind keine Zahlen, die wir erfunden haben, sondern die hat UniCredit berechnet, die nicht als volkswirtschaftliche Unterabteilung der grünen Parteizentrale bekannt ist. Das, was Sie hier machen, ist Traumtänzerei.
Das Wachstum, das Sie zur Umsetzung Ihrer Pläne brauchen, muss das Doppelte bis Dreifache des deutschen
Potenzialwachstums sein. Die Gefahren, die darin bestehen, hat der Bundesminister ausgeführt, nämlich das
eher zu erwartende Sinken des Potenzialwachstums. Was
Sie hier versprechen, passt hinten und vorne nicht zusammen.
Die Entlastung bei den Beherbergungsleistungen ist
ein teures Wahlgeschenk. Es kostet Ihrer Meinung nach
1 Milliarde Euro. Die von Ihrer Partei regierten Länder
sprechen von 3 bis 4 Milliarden Euro; dies wurde schon
ausreichend kommentiert. Der Wachstumsimpuls ist
null.
Ungerecht ist, was Sie bei den Familien planen. Zukünftige Generationen sollen es bezahlen. Die Eltern bekommen jetzt 20 Euro pro Kind mehr im Monat. 1,8 Millionen Kinder bekommen überhaupt nichts, weil Ihnen
arme Kinder nichts wert sind. So viele Kinder leben in
Hartz-IV-Familien. Und da wird das Kindergeld komplett angerechnet.
({10})
Ähnlich ungerecht gehen Sie bei den Kommunen vor.
Wenn Sie schon auf uns von der Opposition nicht hören, dann hören Sie zumindest auf die Notenbanken, die
inzwischen laut vor Ihrem Kurs warnen. Luxemburgs
Premierminister Jean-Claude Juncker sagt zu Recht: Der
Stabilitätspakt gilt. Er lässt Flexibilität zu, lässt aber Verantwortungslosigkeit nicht zu.
Sehr geehrte Koalition, er lässt Verantwortungslosigkeit nicht zu. Nehmen Sie deshalb endlich eine verantwortungsbewusste Position ein! Stampfen Sie den Entwurf Ihres Wahlgeschenkebeschleunigungsgesetzes, den
Sie heute einbringen, ein! Hören Sie auf, eine Haushaltspolitik auf Pump zu machen, die die soziale Spaltung
dieses Landes vorantreibt und die Investitionsfähigkeit,
die wir gerade in dieser Krisensituation brauchen, beschädigt! Drehen Sie um! Sie haben heute keine Antwort
auf die wirklichen Fragen der Finanz- und Haushaltspolitik geliefert. Sie wollen jetzt nur Ihre Wahlversprechen,
die damals unsolide waren, in Regierungsversprechen
ummünzen, von denen Sie wissen: Nicht eines davon
werden Sie halten können. Lassen Sie uns es gleich ehrlich machen! Alles andere nimmt Ihnen sowieso keiner
ab.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Meister
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir führen diese finanzpolitische Grundsatzdebatte über die neue Wahlperiode mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir sollten uns als Erstes
klarmachen, dass eine positive Antwort auf die Frage, ob
es uns gelingt, ein Fundament für die neue Wahlperiode
zu legen, indem wir Vertrauen auf dem Finanzsektor
schaffen und dafür sorgen, dass sich ein Ereignis wie die
Insolvenz von Lehman Brothers vor gut einem Jahr nicht
wiederholen kann, die Basis für alle Überlegungen in der
Finanzpolitik ist. Wenn uns ein Lehman II passiert, dann
sind alle Debatten, die ich heute Morgen gehört habe,
gegenstandslos. Deshalb betrifft die Frage, die als erste
angegangen werden muss, die Konsolidierung der internationalen Finanzmärkte, Stabilisierung und Vertrauensbildung. Darauf werden wir Wert legen.
({0})
Ich glaube nicht, dass die internationalen Finanzmärkte bereits stabil sind. Die Gesundung geht langsam
voran. Es ist nach wie vor Labilität zu erkennen. Deshalb
müssen wir mit den Instrumenten, die wir in der Großen
Koalition beschlossen haben und die nach wie vor gültig
sind, an dieser Stabilisierung und Vertrauensbildung arbeiten und die Finanzmärkte als öffentliches Gut sichern, aber für die Zeit nach der Krise - dies hat Herr
Schäuble aus meiner Sicht richtig beschrieben - sollten
wir über eine intelligente Exitstrategie verfügen, mit
der wir uns von dem Eingriff des Staates, der notwendig
war, um Vertrauen zu bilden, zurückziehen und die soziale Marktwirtschaft auch im Bereich der Finanzmärkte
wieder wirksam werden lassen. Das ist die Aufgabe, vor
der wir stehen. Das heißt, wir müssen darüber diskutieren: Wie sieht diese intelligente Exitstrategie nach der
Krise aus?
({1})
Wir haben in der Krise die Notwendigkeit erkannt
- das ist der mittel- und langfristige Auftrag, der im Rahmen von G 20 und EU, aber auch national diskutiert
werden muss -, eine bessere Ordnung für die Märkte zu
bekommen. Es geht nicht darum, Märkte aufzuheben; es
geht auch nicht darum, Ordnung zu beseitigen. Vielmehr
diskutieren wir über die Frage: Wie können wir eine bessere Finanzmarktverfassung bekommen?
Dabei geht es für uns zum Ersten um mehr Information, um mehr Transparenz für die Verbraucher, weil wir
als Koalition vom mündigen Bürger ausgehen und deshalb Verbraucherschutz für einen mündigen Bürger organisieren wollen. Zum Zweiten geht es um die Frage,
wie wir Defizite in der internationalen Finanzmarktregulierung beseitigen können, damit früher solche
Phänomene erkannt werden können, die zu dieser Krise
geführt haben, sodass sie sich nicht wiederholen kann.
Zum Dritten müssen wir überlegen, wie wir nach der
Krise die Eigenkapitalanforderungen an die Finanzinstitutionen erhöhen können. Aus meiner Sicht ist dies alles
dringend notwendig. Erst dann können wir über unsere
Aufgaben in der Haushaltspolitik und der Steuerpolitik
diskutieren. Deshalb möchte ich die Bundesregierung ermutigen, die internationalen Aufgaben, aber auch die nationalen Hausaufgaben mutig anzupacken.
({2})
Wenn wir aus der Krise herauswollen, dann darf die
Schlussfolgerung nicht sein, dass wir in Zukunft die Finanzmärkte überregulieren. Wir brauchen mehr Unternehmensgründungen und mehr Wachstumskapital in
Deutschland. Deshalb müssen wir die Finanzmärkte so
organisieren, dass Gründungskapital und Wachstumskapital zur Verfügung gestellt werden kann, dass kleine
und mittelständische Unternehmen sich entwickeln und
wachsen können.
({3})
Ferner müssen wir im Zusammenhang mit dem Problem der Kapitalknappheit bei mittelständischen Unternehmen überlegen, wie wir hohe qualitative Standards
festschreiben können, sodass Verbriefungen wieder
möglich sind: Ich meine nicht Verbriefungen von Schrottpapieren, sondern Verbriefungen von hochwertigen Mittelstandskrediten aus Deutschland. Unter Zugrundelegung von hohen Qualitätsstandards müsste dies möglich
sein, um so die Finanzknappheit im deutschen Mittelstand dauerhaft zu überwinden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich danke dem Bundesfinanzminister ausdrücklich dafür, dass er in Brüssel ein
klares Signal an alle Partner in der EU gegeben
({5})
und deutlich gemacht hat: Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zum Maastricht-Vertrag.
({6})
Das ist ein klares Signal an die anderen Mitgliedstaaten,
die damit bei dieser Debatte einen Anker haben. Es ist
aber auch ein klares Signal im Hinblick auf die Geldwertstabilität unserer gemeinsamen Währung. An dieser
Stelle möchte ich sagen: Es wird ja sehr oft ein Widerspruch zwischen Haushalts- und Sozialpolitik gesehen.
Meine Einschätzung ist: Geldwertstabilität ist das Fundament jeder Sozialpolitik. Wer Inflation befördert, handelt in hohem Grad unsozial. Dies wollen wir nicht.
({7})
In diesem Sinne werden wir eine Politik der Geldwertstabilität und des Nichtzulassens von Inflation ausdrücklich mittragen. Dies erkläre ich Herrn Schäuble für
unsere Fraktion, aber auch, wie ich glaube, für die Koalition insgesamt. Ich weiß, dass wir uns hiermit einer massiven Anstrengung unterziehen; denn dies bedeutet: Wir
müssen die Konsolidierung nach der Krise in Angriff
nehmen. Dazu sollten wir uns gemeinsam bekennen.
Jetzt will ich die Debatte aufgreifen: Brauchen wir
mehr oder brauchen wir weniger Schulden? Das ist die
falsche Debatte. Es wäre absolut verrückt, in der Krise
zu sparen. Da müssen wir die automatischen Stabilisatoren wirken lassen und über die von uns beschlossenen
Konjunkturprogramme versuchen, die wirtschaftliche
Aktivität zu befördern.
In dem Moment aber, in dem die Krise überwunden
ist, müssen wir den Staat ein Stück weit zurücknehmen
und die Konsolidierung einleiten. Die Kunst wird sein,
den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Wir haben und
brauchen also keine Debatte über die Frage „Brauchen
wir mehr oder brauchen wir weniger Schulden?“, sondern wir müssen ganz klar sagen: Während der Krise lassen wir die automatischen Stabilisatoren wirken, und
nach der Krise fahren wir eine entschlossene und konsequente Konsolidierungspolitik. Das ist die Strategie, mit
der wir an die Aufgabe herangehen.
({8})
Jetzt wird zu Recht gesagt, dass zu einer Konsolidierungsstrategie Sparen gehört. Ich bin immer für eine
sparsame Haushaltsführung,
({9})
und ich bin auch der Meinung, dass zu einer Konsolidierungsstrategie gehört, dass wir schauen, wo wir die Steuergelder unserer Bürger effizienter einsetzen können.
({10})
Da werden wir uns die Strukturen unseres Staates anschauen müssen, nicht die einzelnen Haushaltstitel.
({11})
Wir müssen sehen, ob wir Strukturen schaffen können,
die effizienter funktionieren, als es heute der Fall ist. Das
ist die Aufgabe, die vor uns liegt.
Wer jetzt sagt, wir sollten einfach nur sparen, greift zu
kurz. Ich erinnere an das Platzen der Dotcom-Blase zu
Beginn dieses Jahrzehnts. Damals gab es eine Bundesregierung, die ausschließlich mit Sparen darauf reagiert
hat. Die Folgen waren mehrere Jahre Nullwachstum,
steigende Arbeitslosigkeit und steigende Haushaltsdefizite. Deshalb ist aus meiner Sicht Sparen zwar zwingend notwendig, aber es reicht zur Lösung des Problems
nicht aus; es ist notwendig, aber nicht hinreichend.
Wir sind der Meinung, dass Sparen durch Investitionen, Arbeitsplatzpolitik und Wachstumspolitik flankiert
werden muss. Erst mit diesem Gesamtkonzept sind wir
in der Lage, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
Deshalb sind wir für Sparen, für Wachstum und für Arbeit.
({12})
Ich unterstreiche ausdrücklich: Wir sind auch der
Meinung, dass eine Politik für mehr Wachstum und Arbeit nicht im Widerspruch zur Haushaltskonsolidierung
steht, sondern sie unterstützt. Deshalb bringt unsere
Fraktion heute das Wachstumsbeschleunigungsgesetz
mit ein; denn damit wollen wir einen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten und vermeiden helfen, dass
Haushaltslücken vergrößert werden.
({13})
- Nein, das machen wir nicht. Herr Schäuble hat deutlich
angekündigt, dass es noch vor Weihnachten einen Haushaltsentwurf des neuen Kabinetts geben wird.
({14})
Wenn ich es richtig vernommen habe, hat er angekündigt, dass in diesem Haushaltsentwurf für 2010 die Nettokreditaufnahme nicht höher liegen soll als im Kabinettsentwurf für 2010 vom Juli dieses Jahres. Das heißt,
wir tun etwas für Wachstumsbeschleunigung und für
mehr Arbeit, ohne die Nettokreditaufnahme zu steigern.
({15})
Das ist die richtige Politik, und damit sind wir auf dem
richtigen Weg.
({16})
Das ist doch keine Umkehr. Wenn ein Unternehmen
in der Krise in die Situation geraten ist, dass die Erträge
sinken und Finanzierungslasten wachsen, kann man das
bei den Themen Verlustbesteuerung oder Zinsschranke
nicht einfach ignorieren. Das wirkt sich doch unter den
Rahmenbedingungen geringerer Erträge und höherer Finanzierungskosten anders aus als in normalen Zeiten.
({17})
Deshalb ist es richtig, dass wir die Wachstumsbremsen,
die Arbeitsplätze kosten und das Wachstum behindern,
entfernen, und zwar nicht irgendwann, sondern sehr zeitnah, um damit an die Wirtschaft das Signal zu geben,
dass die Mitarbeiter in den Unternehmen gehalten und
nicht bei der Bundesagentur für Arbeit auf die Payroll
gesetzt werden.
({18})
Ich komme zum Punkt Erbschaftsteuer. Da haben
wir dieselbe Situation. Wir alle wollen den Unternehmen
die Möglichkeit geben, den Weg in die nächste Generation zu schaffen, sodass Arbeitsplätze erhalten werden.
Wir haben im Zusammenhang mit dem Generationenübergang das riesige Problem, dass wir deutlich machen
müssen, warum hier eine Privilegierung stattfindet. Das
machen wir über die Lohnsummenregel. Ich glaube, gerade beim Thema Kurzarbeit - wir haben dieses Instrument gemeinsam eingeführt, weil es den Arbeitsmarkt
stabilisiert - muss man bedenken: Wir können es einem
Unternehmen im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang an die nächste Generation nicht anlasten, dass es
die Bestimmungen zur Kurzarbeit in Anspruch nimmt.
Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir
werden im Verfahren versuchen, trotz Zeitknappheit eine
ordentliche Beratung hinzubekommen. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, nicht nur die
Kollegen der Koalition, zu diesen Beratungen ein und
bitte Sie, etwas für das Land zu tun und nicht immer nur
an die eigene Partei und die eigene politische Gruppierung zu denken. Ich freue mich auf die Wahlperiode.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Schäuble, auch ich möchte Ihnen zur
Übernahme dieser schweren Aufgabe gratulieren. Im
Namen der SPD-Fraktion biete ich Ihnen eine konstruktive Zusammenarbeit an. Sie sind der vierte Minister,
den ich im Finanzausschuss erlebe. Nicht alle gehörten
der SPD an. Sie haben eine sehr schwere Aufgabe vor
sich. Sie werden der Minister sein, der im nächsten Jahr
den Haushalt mitzuverantworten hat, der die höchste
Neuverschuldung in der Nachkriegsgeschichte ausweisen wird. Das ist kein persönlicher Vorwurf an Sie, das
wäre jedem anderen Minister auch so gegangen.
Aber die Frage ist: Wie geht man mit dieser Erkenntnis vor der Wahl und nach der Wahl um? Dass die Situation so ist, wie ich sie beschrieben habe, war vor der
Wahl klar. Da haben Sie, Union und FDP, Schwarz und
Gelb, wissend, dass sich der Haushalt in einer dramatischen Schieflage befindet, den Wählern vorgegaukelt,
man könne noch etwas oben draufpacken, man könne
Steuersenkungen durchführen, das über Schulden finanzieren - und das alles noch auf die 86 Milliarden Euro
obendrauf. Sie schlagen den falschen Weg ein, und das
kritisieren wir.
Wir werden uns das Recht nehmen, den Finger in die
Wunde zu legen. Wir werden Sie damit konfrontieren.
Denn das, was Sie tun, nämlich Steuersenkungen auf
Pump zu versprechen, treibt die Verschuldung weiter
nach oben. Das ist unverantwortlich. Ich finde, das kann
man nicht akzeptieren.
({0})
Ich will noch etwas zu einem Thema sagen, das in der
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin nicht vorgekommen ist, nämlich zu der Lage der Kommunen. Die
Bundeskanzlerin hat uns vorgestern eine Stunde lang
ihre Regierungserklärung vorgetragen. Darin kam das
Wort „Kommunen“ ein einziges Mal vor, und zwar in einer Aufzählung, wie schlimm die Krise für die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen sei. Das war
die einzige Aussage zur Lage der Kommunen. Es gab in
der Regierungserklärung keine Hinweise darauf, wo die
Bundesregierung Wege aus der Krise für die Kommunen
sieht. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Hinweisen
darauf, wie Sie die Krise für die Kommunen noch verschärfen wollen. Das werden wir kritisieren.
Das bezieht sich im Wesentlichen auf das Problem der
Mittel. Die Steuersenkung, die ich eben angesprochen
habe, spielt beispielsweise eine Rolle. Das, was Sie mit
Ihrem „Wachstumsverhinderungsgesetz“ vorlegen, belastet Kommunen mit 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich und belastet die Länder mit 2,2 Milliarden Euro
zusätzlich. Wer weiß, wie die Länder mit den Kommunen umgehen, der weiß auch, dass es für die Kommunen
nicht bei den minus 1,5 Milliarden Euro bleiben wird.
Sie werden vielmehr auch durch verminderte Zuweisungen und Ähnliches mehr unter dieser Finanzpolitik leiden. Das werden wir deutlich machen. Wir sind an der
Seite der Kommunen.
({1})
- Ihr nicht, Otto. Ihr seid nicht an der Seite der Kommunen, um es ganz deutlich zu sagen. Also die FDP schon
mal nicht; das steht auf alle Fälle fest.
({2})
Das wesentliche Thema ist die Gewerbesteuer.
({3})
Diese Einnahmequelle macht für viele Kommunen fast
die Hälfte ihres Haushaltes aus. Sie ist also wichtig für
die Kommunen, wenn es darum geht, die Erledigung von
Aufgaben für den Bürger zu finanzieren. Die Kommunen verlassen sich auf das, was die Bundeskanzlerin am
13. Mai vor dem Städtetag in Bochum gesagt hat. Sie hat
wörtlich gesagt: Die Gewerbesteuer bleibt unangetastet. Dem könnten wir zustimmen, wenn es denn so bliebe.
Was Sie heute jedoch vorlegen, ist der erste Wortbruch. Das werden wir kritisieren.
({4})
Diesen ersten Wortbruch begehen Sie, indem Sie die
Hinzurechnung bei den Mieten von 65 auf 50 Prozent
absenken. Das heißt, die Gewerbesteuer bleibt schon bei
diesem ersten Zugriff nicht unangetastet.
Der zweite Wortbruch in diesem Zusammenhang liegt
in dem Hinweis auf die Einrichtung einer Kommission.
Wer sagt: „Die Gewerbesteuer bleibt unangetastet“, der
braucht keine Kommission. Im Übrigen hat es mehrere
Kommissionen zu diesem Thema gegeben. 2002/2003
ist die ganze Thematik unter Beteiligung dieses Hohen
Hauses und aller Verbände, die daran ein Interesse haben, mehrfach diskutiert worden. Man ist auch zu einem
Ergebnis gekommen. Das Ergebnis von 2003 lautete: Es
bleibt bei der Gewerbesteuer, und sie muss gestärkt werden. Danach haben wir in der Großen Koalition in den
letzten vier Jahren noch stärker, als wir es in der rot-grünen Koalition konnten, gehandelt. Wir sind Ihnen noch
heute dankbar dafür, dass das ging. Die Gewerbesteuer
ist in den letzten vier Jahren gestärkt worden. Aber jetzt
machen Sie eine Kehrtwendung um 180 Grad und wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist Wortbruch,
und den lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({5})
Zur Frage, wie in der Zukunft die Lasten verschoben
werden: Sie gaukeln den Menschen etwas vor, wenn Sie
ihnen sagen, dass ihnen demnächst mehr Geld in der Tasche verbleibt; mehr Netto vom Brutto, behaupten Sie.
Das Gegenteil wird der Fall sein: Die Menschen werden
feststellen, dass sie weniger Netto vom Brutto haben;
denn das, was sie möglicherweise weniger an Steuern
zahlen, dürfen sie im nächsten Jahr an Abgaben für die
sozialen Sicherungssysteme und an kommunalen Abgaben mehr bezahlen.
Ihre Koalition empfiehlt, darüber nachzudenken, ob
Kommunen, die jetzt im Rahmen der Daseinsvorsorge
von der Mehrwertsteuer befreit sind, zukünftig den
Satz zahlen sollten, den private Unternehmen zahlen
müssen. Das würde zum Beispiel bei den Abgaben für
Müllabfuhr und Abwasser 19 Prozent Mehrwertsteuer
bedeuten. Die Bürgerinnen und Bürger werden anhand
des Gebührenbescheides möglicherweise feststellen,
dass sie zwar 10 Euro weniger Steuern zahlen, dafür
aber 50 Euro mehr Abgaben. Das ist der falsche Weg.
({6})
- Sie müssen den Koalitionsvertrag einmal lesen.
({7})
Ihre Aussagen sind sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite sagen Sie, dass Sie die Daseinsvorsorge nicht
steuerlich belasten wollen. Auf der anderen Seite sagen
Sie aber, dass das zum Beispiel im Abfallbereich nicht
gelten solle. Was ist denn Daseinsvorsorge, wenn nicht
der Abfallbereich? Was soll denn dann noch Daseinsvorsorge sein? Das ist ein klassisches Feld der Daseinsvorsorge. Da wollen Sie die Bürger belasten, und das machen wir nicht mit.
({8})
Auch zur U-3-Betreuung gibt es im Koalitionsvertrag keinen wirklich verwertbaren Hinweis. Sie sagen
nebulös, dass Sie die Qualität der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher verbessern wollen. Wenn Sie dazu
konkrete Schritte vorschlagen, werden Sie uns an Ihrer
Seite haben. Zur Erhöhung der Quantität sagen Sie aber
nichts. Auch das ist eine Kehrtwende um 180 Grad und
ein Wortbruch; denn wir waren uns eigentlich einig, dass
die Betreuung der unter Dreijährigen, die wir gemeinsam auf die Schiene gesetzt haben, nur ein Anfang sein
sollte. Das sollte ausgebaut werden. Dazu findet sich in
Ihrer Vereinbarung nichts.
Frau von der Leyen ist gerade leider nicht anwesend.
({9})
- Hallo, Frau von der Leyen! Sie haben in den letzten
vier Jahren - das muss man neidlos anerkennen - eine
sehr gute Familienpolitik gemacht.
({10})
Ja, die hat sie gemacht. Aber sie konnte diese Familienpolitik nur mit uns machen. Das ging nur mit der SPD.
({11})
Sie hat 100 Prozent unserer Familienpolitik umgesetzt.
Sie hat geschaut, was in den Schubladen von Renate
Schmidt übrig geblieben ist. Wir haben es sehr begrüßt,
dass Sie das getan haben. Manchmal haben wir das auch
etwas kritisch beäugt, weil Sie das medial sehr gut rübergebracht haben.
({12})
Aber jetzt schweigen Sie. Sie machen eine Kehrtwende um 180 Grad. Über die U-3-Betreuung wird nicht
mehr geredet. Stattdessen kommt jetzt das Betreuungsgeld, das Sie selbst als Katastrophe bezeichnet haben.
Ich hätte von Ihnen ein klares Wort erwartet, dass es der
falsche Weg ist, dass es vielmehr Eltern dazu verleitet,
ihre Kinder nicht in Einrichtungen zu bringen, und sie
dafür belohnt, dass ihre Kinder nicht mit anderen gemeinsam lernen. Das ist der falsche Weg.
({13})
Wenn Sie uns das nicht glauben, empfehle ich Ihnen
einen Blick in die Zeitungen.
({14})
In der Financial Times Deutschland, die nicht gerade im
Verdacht steht, uns besonders nahezustehen, liest man:
„Zusätzliches Kindergeld verfehlt Kinder“. Oder: „Goldene Zeiten für reiche Eltern“. Das ist die Klientelpolitik, die Sie betreiben, und die werden wir nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der
FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzter Vizepräsident! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Zu Ihrer Pauschalkritik in den letzten Tagen sage ich: Wenn Sie intelligente Kritik anbringen
würden, wäre es ja gut. Aber bei Ihnen ist das doch so:
Selbst wenn die Kanzlerin und der Vizekanzler über
Wasser laufen könnten, dann würde Ihnen nur einfallen:
Guckt mal, die können nicht schwimmen. So ungefähr
ist inzwischen Ihre Kritik an dieser neuen Koalition.
({0})
Eine Analyse der Lage betreiben Sie gar nicht. Das
hätte ich von Rot-Grün und auch von den Linken ein wenig erwartet; von den Linken natürlich weniger. Wie
sieht denn die Analyse der Lage aus? Die Verschuldung
des Bundes wird dieses Jahr über 1 Billion Euro hinausgehen, und zwar nicht deswegen, weil das die neue
Koalition so gemacht hätte, sondern weil es insbesondere eine Hinterlassenschaft von elf Jahren SPD-Regierung ist. Das darf man doch auch noch einmal deutlich
sagen.
({1})
350 Milliarden Euro Neuverschuldung gab es unter der
Regierung der SPD. Die Grünen haben kräftig mitgemacht.
Schauen wir uns noch an, welche Verschuldung Sie
uns für die nächsten Jahre mitgegeben haben. Herr Kollege Scheelen, Sie haben es richtig gesagt: Das hätte jeden getroffen, der als Nächster Finanzminister geworden
wäre. Aber schauen wir uns die von der SPD mitbeschlossene Finanzierungslücke für den Finanzplan der
nächsten Jahre an. Das sind noch einmal 300 Milliarden
Euro, mit denen Sie diese neue Koalition belasten.
({2})
Zusammen sind das 650 Milliarden Euro, für die die
SPD nach gegenwärtigem Stand Verantwortung trägt
und gegen die wir arbeiten müssen.
({3})
Woran liegt denn das? Was ist denn das eigentliche
Problem? Jetzt tun hier alle auf einmal so, als sei das eigentliche Problem die Steuersenkungen.
({4})
Das Problem ist die Verschuldung der Vergangenheit,
die man uns hinterlassen hat. Das Problem sind die
Schulden der Vergangenheit.
({5})
Die Steuersenkungen dagegen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sind ein Teil der
Lösung. Das einzusehen, sind Sie aber nicht bereit.
({6})
Was müssen wir tun? Wir müssen auf Wachstum setzen. Wir müssen uns über die Qualität des Wachstums
unterhalten; das ist gar keine Frage. Wir dürfen nicht an
Wachstum alleine glauben, aber ohne Wachstum werden
wir es nicht schaffen. Nun komme ich zum Unterschied
zwischen Ihrem Denken und unserem Denken. Wir setzen beim Wachstum auf den Bürger, auf den Unternehmer und damit auf den Markt und nicht auf den Staat,
der vorgibt, wie Wachstum entstehen soll. Denn das
- das hat die Vergangenheit gezeigt - funktioniert nicht.
({7})
Ich will Ihnen zur Erklärung der aktuellen Situation
noch ein Bild nennen, auch um das für die Zuschauer ein
bisschen zu verdeutlichen.
({8})
Dieses Land steht vor einem Graben, der durch eine
Finanz- und Wirtschaftskrise entstanden ist. Was machen Sie, wenn Sie vor dem Graben stehen? Die Linken
sagen erst einmal: Den Graben gibt es gar nicht, das ist
alles Quatsch, und dahinter fließen Milch und Honig. Die Grünen diskutieren erst einmal über die Frage, ob irgendetwas Schützenswertes in dem Graben ist. Die SPD
geht einfach einen Schritt vorwärts und fällt hinein.
({9})
Was macht die Koalition? Die Koalition sagt: Wenn man
vor einem Graben steht, dann muss man erst zwei Schritte
zurückgehen und Anlauf nehmen, um darüber zu kommen. Dies ist nur durch Entlastung der Bürger und der
Unternehmen möglich. Auch deswegen wollen wir diese
Entlastung.
({10})
Noch ein weiterer Punkt: Was ist unsere Aufgabe im
Rahmen der Finanz- und Wirtschaftspolitik in Europa?
Sie erinnern sich doch bestimmt noch daran, wie von
Deutschland gesprochen wurde: Wir seien der kranke
Mann, wir seien der große Tanker, den man mitschleppen müsse. Das haben wir geändert; das sage ich auch
anerkennend in Richtung SPD.
({11})
Durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt, durch Einbringung von Ansätzen einer Kapitaldeckung im Bereich der
Altersvorsorge und durch vieles andere mehr haben Sie
mit dafür gesorgt - das wird sicherlich einmal in den Geschichtsbüchern stehen -, dass dieser kranke Mann vorangekommen ist.
({12})
Jetzt fallen Sie wieder in die alten Regeln zurück und sagen: Wir sollten nichts verändern, den Finanzplan hinnehmen und einfach mal schauen, ob es irgendwie geht.
Dabei wissen Sie doch ganz genau: Wir werden nur vorankommen, wenn wir Reformen durchführen. Wir müssen der Eisbrecher für Europa sein, der dafür sorgt, dass
wir durch diese Krise kommen. Dafür brauchen wir eine
Steuerreform.
({13})
Herr Minister Schäuble, auch ich beglückwünsche Sie
in dem Maße, in dem ein Haushälter einen Finanzminister zu einem solchen Amt beglückwünschen kann, zu alledem, was da noch kommen wird. Sie haben bei Ihrer
Amtseinführung - ich habe Ihren Worten sehr wohl gelauscht - sehr klar und präzise gesagt: Ich bringe den
Mitarbeitern des Finanzministeriums Vertrauen entgegen
bis zum Beweis des Gegenteils. - Für die FDP-Fraktion
gilt im Verhältnis zu unserem Finanzminister genau das
Gleiche.
({14})
Ich bin mir sicher, dass das Gegenteil niemals eintreten
wird.
({15})
Zum Schluss zum Steuersystem. Herr Minister
Schäuble, Sie haben gesagt - das ist heute in der Rheinischen Post zu lesen -, ein grundlegend neues Steuersystem sei nicht Teil der Vereinbarung. Natürlich können
wir in semantischer Hinsicht über das Wort „grundlegend“ streiten. Wenn aber in der Koalitionsvereinbarung
steht, ohne Bedingung und ohne Konjunktiv, dass wir
den Umbau des Steuersystems hin zu einem Stufentarif
vornehmen werden,
({16})
und wenn die Kanzlerin sagt, dass wir ein einfacheres,
niedrigeres und gerechteres Steuersystem wollen, dann
ist das, jedenfalls für die FDP-Fraktion, ein grundlegend
neues Steuersystem. Darauf freuen wir uns.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Fricke, Sie beklagen als Erstes das Erbe von
Schwarz-Rot: die hohen Schulden. Was aber ist Ihre
erste Gesetzesinitiative? Sie treiben die Schulden weiter
nach oben.
({0})
Das Ganze nennen Sie dann Wachstumsbeschleunigungsgesetz und Konjunkturpaket III. So verkaufen Sie
Ihre eiligst zusammengeschusterte erste Initiative. Das
ist von vorn bis hinten Etikettenschwindel.
({1})
Konjunkturpolitisch ist dieses Gesetz nahezu wirkungslos. Führende Wirtschaftsinstitute, zum Beispiel
das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, sehen keinerlei Anlass, ihre Konjunkturprognosen für 2010 deswegen zu korrigieren. Ich zitiere ferner
Joachim Scheide, den Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Er sagt:
Die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen sind vor allem Sozialtransfers und Subventionen. Das ist nicht das, was wir Ökonomen als
Wachstumspolitik bezeichnen.
Der Gipfel der Dreistigkeit ist, dass die Sozialtransfers und Subventionen zum allergrößten Teil an Reiche,
Vermögende und große Unternehmen gehen werden.
({2})
Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und der
kleinen und mittleren Unternehmen wird tatsächlich mit
Almosen abgespeist oder geht gänzlich leer aus. Statt
Wachstum beschleunigen Sie damit nur die Spaltung
zwischen Arm und Reich.
({3})
Skandalös ist, wie eilig Sie es mit dieser Umverteilung von unten nach oben haben. Reiche, Vermögende
und große Unternehmen schlagen sich angesichts dieses
Eifers der schwarz-gelben Koalition auf die Schenkel.
Zudem bekannte sich die Bundeskanzlerin am Dienstag
dieser Woche auch noch ausdrücklich zur Einführung eines Stufentarifs bei der Einkommensteuer.
({4})
Wie auch immer er gestaltet ist, die Besserverdienenden
dürften schon heute Eurozeichen in den Augen haben.
({5})
Was ist mit der Gegenfinanzierung? Herr Solms, mit
Verlaub: Gestern verwiesen Sie hier allen Ernstes auf die
sogenannte Laffer-Kurve. Ich glaube, Sie sind mittlerweile der Letzte, der noch glaubt, dass sich Steuersenkungen im Zeitablauf selber finanzieren. Das ist so überholt, dass sogar im Gabler Wirtschaftslexikon, dem
deutschsprachigen Standard-Wirtschaftslexikon, steht
- ich zitiere -: „Die Realität hat dies widerlegt.“
({6})
Den Skandal, dass dem Staat nicht alle Kinder gleich
viel wert sind, gehen Sie überhaupt nicht an, sondern
verschärfen ihn sogar noch. Das Kindergeld erhöhen
Sie um nur 20 Euro pro Monat. Wer aufgrund seines hohen Einkommens den Kinderfreibetrag ausnutzen
kann, wird von Ihnen weitaus großzügiger bedacht.
Knapp 37 Euro pro Monat sind für die Bezieher entsprechend hoher Einkommen drin, fast doppelt so viel wie
für einen Kindergeldempfänger.
({7})
Die große Mehrheit der Kinder erhält allerdings nur Kindergeld; laut der Einkommensteuerstatistik 2001 waren
es 86 Prozent. Wer gar Hartz IV oder Sozialhilfe bezieht,
geht völlig leer aus.
({8})
Das ist ein riesengroßer Skandal.
Herr Schäuble, ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie erhöhen das Kindergeld für die Kinder von Millionären
um 37 Euro pro Monat, Sie erhöhen das Kindergeld zum
Beispiel für die Kinder einer Lehrerin um 20 Euro pro
Monat, aber eine arbeitslose alleinerziehende Mutter bekommt null Komma nichts. Das haben Sie eben „sozial
ausgewogene Politik“ genannt. Wo leben Sie denn? Was
haben Sie denn für christliche Vorstellungen?
({9})
Die großen Unternehmen dagegen werden durch Ihren Gesetzentwurf mit Steuergeschenken in Höhe von
2,4 Milliarden Euro bedacht. Damit knüpfen Sie nahtlos
an die Politik von Rot-Grün und der Großen Koalition
an. Große Unternehmen werden seit zehn Jahren immer
mehr aus der Steuerpflicht entlassen. Allein die Senkung
der Körperschaftsteuer im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 entlastete die großen Unternehmen
um über 10 Milliarden Euro. Nun werden selbst die wenigen Maßnahmen, die zur Gegenfinanzierung dieser
Unternehmensteuerreform verabschiedet wurden, von
Ihnen aufgeweicht oder abgeschafft. So werden die Verlust- und Zinsabzugsbeschränkungen entschärft, was
zu Steuervermeidung und Steuerhinterziehung geradezu
einlädt. Zur Erinnerung: Die Zinsschranke sollte verhindern, dass Konzerne zwecks Steuerersparnis die Verluste
im Inland geltend machen und die Gewinne ins Ausland
transferieren.
Die Höhe der alten Zinsschranke beträgt 1 Million
Euro. Laut Schätzung des DIW waren von den 3,5 Millionen Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland
nur etwa 1 000 - das sind nicht einmal 0,03 Prozent von der Zinsschranke betroffen. Jetzt soll die Zinsschranke bei 3 Millionen Euro dauerhaft bleiben. Dann
sind noch viel weniger Unternehmen von der Zinsschranke betroffen. Und das nennen Sie Entlastung für
kleine und mittelständische Unternehmen? Das ist ab308
surd; diese Unternehmen haben doch überhaupt nichts
davon.
({10})
Zudem sollen die großen Unternehmen jetzt auch noch
die Möglichkeit bekommen, Zinsaufwendungen über
fünf Jahre so zu verrechnen, dass sie noch weniger Steuern zahlen.
Die Erbschaftsteuer höhlen Sie weiter aus. Dabei
wäre gerade die Erbschaftsteuer ein zentrales Instrument
für steuerliche Mehreinnahmen und für mehr Gerechtigkeit. Auf diesem Wege könnte man erreichen, dass auch
die Vermögenden ihren Beitrag zur Bezahlung der Zeche
für die Krise leisten. Doch das wollen Sie nicht, da
trauen Sie sich nicht ran. Wenn wir eine hohe Verschuldung haben, brauchen wir doch Instrumente, um das
Steueraufkommen zielgerichtet wieder zu steigern. Vermögensteuer als Millionärsteuer, Börsenumsatzsteuer,
Erbschaftsteuerreform - von all dem lassen Sie die Finger, weil Sie sich da in Ihrer Klientelpolitik nicht herantrauen.
({11})
Alles in allem muss man sagen: Schwarz-Gelb bleibt
seinem Ruf treu. Die Reichen sollen ungestört reicher
werden, der Rest zählt nicht; soll er doch sehen, wo er
bleibt. Ich sage Ihnen: Mit uns nicht.
Herr Schäuble, Sie treiben die Staatsverschuldung in
schwindelerregende Höhen - auf Kosten der Länder, der
Kommunen und der Mehrheit der Bevölkerung. Wir
werden Ihnen weiter aufzeigen, wo und wie Sie Geld
einnehmen können, um mehr soziale Gerechtigkeit zu
erzielen. Wir lassen Sie da nicht in Ruhe; das verspreche
ich Ihnen von dieser Stelle aus. Was es mit Ihrer Auffassung von sozial ausgewogen auf sich hat, werden wir
hier weiter entlarven.
Ich danke Ihnen.
({12})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Dr. Thomas Gambke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Dies ist meine erste Rede vor diesem Hohen Haus. Bitte gestatten Sie mir deshalb, gleichsam als eine kurze Vorstellung, mit einer persönlichen
Bemerkung anzufangen: Ich bin vor vier Jahren in die
Politik gegangen, nach mehr als 20 Jahren Tätigkeit für
einen internationalen Technologiekonzern. 15 Jahre davon habe ich ein internationales Geschäft aufgebaut.
Eine Erfahrung habe ich dabei gemacht, die immer wieder bestätigt worden ist: Wer ein erfolgreiches Geschäft
aufbauen will, der muss die Märkte kennen und zielgerichtet die in diesen Märkten nachgefragten Produkte
entwickeln, produzieren und vertreiben.
Herr Bundesminister Norbert Röttgen hat gestern
gleich zu Beginn seiner Ausführungen deutlich gemacht,
dass Wirtschaftskrise und ökologische Krise in einer engen Verbindung stehen. Er hat einen sehr richtigen Satz
gesagt: Nur mit Innovationen und Nachhaltigkeit können
wir die neuen Märkte entwickeln, können wir die Krise
überwinden.
({0})
- Jetzt hören Sie einmal zu! - Innovation und Nachhaltigkeit: Finden wir hierfür wirklich Substanz in Ihrem
Koalitionsvertrag?
({1})
Wirkt so das Wachstumsbeschleunigungsgesetz? Das
Credo des Bundeswirtschaftsministers in seinem überaus
kurzen und nicht gerade von Inhaltsschwere gekennzeichneten Vortrag war,
({2})
der Schlüssel zum Wachstum liege in der Steuerpolitik.
Schauen wir uns doch einmal Ihre steuerpolitischen Details anhand einiger Beispiele an.
({3})
Abmilderung der Zinsschranke: Im Prinzip ist das
eine richtige Entscheidung.
({4})
Gerade in Zeiten mit zusätzlichem Fremdkapitalbedarf
müssen wir weg von einer Substanzbesteuerung. Aber
ohne Gegenfinanzierung entziehen Sie den Kommunen
damit das Geld, das gerade die Kommunen für eine
nachhaltige Bildungspolitik und für die energetische Sanierung kommunaler Gebäude so dringend brauchen.
({5})
Ich bin Stadtrat in Landshut. Am Dienstag fand die
erste Verhandlung über den nächsten Haushalt statt.
({6})
Der Kämmerer hat seinen Offenbarungseid für die Jahre
2011 und 2012 schon angekündigt.
Die Zahlen in der Bundesrepublik sind schon erschreckend. Den deutschen Kommunen fehlen bei der Gewerbesteuer in diesem Jahr voraussichtlich 7,4 Milliarden
Euro - das sind 18 Prozent von den bisherigen 41 Milliarden Euro -, und da kommen Sie mit Gesetzentwürfen, durch die die Kommunen noch einmal erheblich belastet werden! Damit werden Sie Ihrer Verantwortung
für das gesamte Gemeinwesen dieser Republik in keinster Weise gerecht.
({7})
Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen: Wachstumsimpuls? - Fehlanzeige! Soziale oder
ökologische Lenkungswirkung? - Fehlanzeige! Steuervereinfachung? - Fehlanzeige! Im Gegenteil: Das Steuersystem wird komplizierter. Ich bin gespannt auf die
Darstellung des zusätzlichen Bürokratieaufwandes bei
der Abrechnung der Reise- und Bewirtungsrechnungen.
({8})
Die Steuerung der Konjunktur durch die Mehrwertsteuer
ist schlicht Unsinn. Dieser Gesetzentwurf ist nicht nachhaltig, er hat keine konjunkturelle Wirkung, und er ist
ordnungspolitisch kontraproduktiv.
({9})
In Ihrem Koalitionsvertrag beschreiben Sie richtigerweise Handlungsbedarf beim ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Wenn Sie da herangehen wollen, brauchen Sie
aber klare Grundsätze; sonst landen Sie da, wo Sie heute
schon sind und wo Sie mit der vorgeschlagenen Regelung noch tiefer hineinkommen: in einem Wirrwarr von
Regelungen, das von einzelnen Lobbygruppen bestimmt
wird.
({10})
Zum Schluss eine Bemerkung zum Stufentarif. Sie
haben uns jetzt ja einen ganz bunten Strauß an Vorgehensweisen vorgestellt. Die FDP sagt, er komme. In dem
Koalitionsvertrag steht ganz präzise, er solle möglichst
zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Der Finanzminister
sagt: Er kommt nicht in der nächsten Legislaturperiode. - Frau Merkel sagt in ihrer Regierungserklärung,
dass er kommt, schweigt sich aber über die Details aus.
({11})
Ich kann nur eines sagen: Wenn Sie sich des Problems
der kalten Progression wirklich annehmen wollen, dann
verbauen Sie sich gerade mit dem vorgelegten Wachstumsbeschleunigungsgesetz und den daraus resultierenden Belastungen für die Haushalte die Möglichkeit,
irgendetwas in Richtung einer gerechteren Einkommensteuer zu tun. Sie werden so nichts erreichen.
({12})
Übrigens sehe ich in Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz durchaus schon einen Stufentarif, nur in einer vollkommen falschen und unsozialen Art. Ich meine
die soziale Schieflage bei der vorgeschlagenen Anhebung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes.
1,8 Millionen Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, erhalten nichts. Kinder in Familien mit mittlerem
Einkommen erhalten monatlich zusätzlich 20 Euro, und
mit der Anhebung des Kindergeldfreibetrages erhalten
Kinder in wohlhabenden Familien zusätzlich rund
40 Euro im Monat.
({13})
Jetzt wissen wir, wie sich Schwarz-Gelb einen Stufentarif vorstellt. Dieser ist aber alles andere als gerecht und
keinesfalls sozial.
({14})
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit
der Klientelpolitik und den ordnungspolitisch unsinnigen Steuerregelungen schnellstmöglich zurückzuziehen.
Stattdessen wollen wir das Kindergeld für Kinder, die in
Bedarfsgemeinschaften leben, um 20 Euro erhöhen.
Dies wäre unmittelbar wirksam für die Konjunktur. Es
würde die Haushalte weit weniger belasten als die teuren
Steuergeschenke, die Sie vorhaben, und es wäre vor allem ein Schritt in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Herr Kollege Gambke, ich darf Ihnen im Namen des
ganzen Hauses zur Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb
von der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik wird
zweifellos das zentrale Themenfeld der Politik in dieser
Legislaturperiode sein. Schon in den letzten 15 Monaten
hat uns die Haushalts- und Finanzpolitik in besonderer
Weise beschäftigt. Ich denke dabei an die Maßnahmen
zur Finanzmarktstabilisierung, zur Stützung der Konjunktur und zur Abwendung der schlimmen Folgen der
Wirtschaftskrise. Hier haben Regierung und Parlament
auch in den zurückliegenden Monaten ein Höchstmaß an
Verantwortungsbewusstsein an den Tag gelegt und entsprechend gehandelt. Man würde sich wünschen, dass so
manche Akteure auf dem Finanzmarktsektor zumindest
jetzt Konsequenzen zögen und in ähnlicher Weise bereit
wären, verantwortungsbewusst zu handeln, um Gefahren
und solche Ereignisse, wie wir sie erlebt haben, für die
Zukunft abzuwehren.
({0})
Jetzt geht es darum, dass die erkennbaren wirtschaftlichen Erholungstendenzen gestützt werden und dass wir
die Wachstumskräfte, die sich zeigen, stärken. Wir müssen jetzt alles daransetzen, dass die Kriterien des europäischen Stabilitätspaktes und die Vorschriften unseres
Grundgesetzes zur Schuldenbegrenzung so bald wie
möglich eingehalten werden. Deswegen sind wir Bundesminister Schäuble sehr dankbar, dass er in Brüssel
deutlich gemacht hat, dass spätestens ab 2013 die Kriterien des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingehalten werden.
({1})
Ich denke, das steht auch uns Deutschen in besonderer
Weise gut an; denn wir waren es, oder, genauer gesagt,
der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel war
es, der den Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa
konzipiert hat.
({2})
Ich füge hinzu: Die Bürger erwarten von uns zuallererst
- noch vor der Frage der Steuersenkungen und der Leistungsausweitungen -, dass wir alles tun, um Inflationsgefahren abzuwehren und sicherzustellen, dass unsere
Währung stabil bleibt.
Wir haben jetzt eine total veränderte Situation. Die
demografische Entwicklung, die voranschreitende Globalisierung, die weltweit arbeitsteilige Wirtschaft und
die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise werden uns
vor völlig neue Herausforderungen stellen. Dadurch
wird sich auch die Frage der Wettbewerbsfähigkeit der
Bundesrepublik Deutschland neu stellen. Es ist wichtig,
zu erkennen, dass unter dem Begriff Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr nur die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte gesehen werden muss, sondern dass es auch einen
Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter geben wird.
Deshalb kommt der Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik eine immer größere Bedeutung im Hinblick auf die
dauerhafte Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu. Haushalts-, Finanz- und Steuerpolitik werden
zum zentralen Schlüssel für die Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand für die Menschen in unserem Land.
({3})
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz setzen
wir das um, was wir zugesagt und worauf wir uns in der
Koalition verständigt haben. Wir senden ein klares Zeichen an Wirtschaft und Bürger, damit sie wissen, woran
sie sind, worauf sie sich einstellen müssen und worauf
sie sich verlassen können. Es handelt sich also um ein
Zeichen der Verlässlichkeit, das Vertrauen schafft.
Der größte Posten ist - darauf wurde vorhin abgezielt die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages. Ich gebe offen zu, dass man als Haushälter
zweimal durchatmet, wenn man die finanzielle Dimension sieht. Aber die Koalition wollte hier bewusst ein familienpolitisches Zeichen zur Stärkung der Familien setzen. Die Bedeutung der Familien ist vorhin zum
Ausdruck gebracht worden.
({4})
Hier geht es um die Sicherung der Zukunft unseres Landes und aller Generationen.
Ich finde es ganz schlimm, dass Sie, sehr verehrter
Herr Kollege Scheelen, genauso wie andere Kollegen
sowie die Financial Times sofort die Dinge auf den Kopf
stellen und unterstellt wird, das Geld komme nicht bei
den Familien und insbesondere bei den Kindern an. Ich
wehre mich dagegen, immer nur die Problemfälle und
nicht die ganz normalen Familien und Eltern im Blick zu
haben,
({5})
die jeden Tag versuchen, ihrer Verantwortung gerecht zu
werden und mit dem Geld, das sie einnehmen, auszukommen, die arbeiten und solide wirtschaften und ihrem
Erziehungsauftrag gerecht werden.
({6})
Natürlich weiß ich als Kommunalpolitiker, dass es auch
Problemfälle gibt. Auf diese müssen wir achten. Aber
wir dürfen nicht die ganz große Mehrheit der Eltern und
der Familien entmutigen, entmündigen, sie der Verantwortung berauben und bevormunden. Wir müssen ihnen
bei der Erfüllung ihrer Aufgaben Mut machen. Unsere
Politik leistet einen Beitrag dazu.
({7})
Da viel Falsches zum Kindergeld und zum Kinderfreibetrag gesagt wurde, will ich daran erinnern, dass das
Bundesverfassungsgericht in den 90er-Jahren zu Recht
entschieden hat, dass nicht jener Anteil des Einkommens
besteuert werden darf, den andere, die nur von Transfereinkommen leben, steuerfrei bekommen, und dass die
Besteuerung erst ab der Grenze des Existenzminimums
einsetzen darf. Das ist der Hintergrund für die Anhebung
des Steuerfreibetrages.
Natürlich fragt man sich, wenn man Kinder hat, ob
man selber dem Erziehungsauftrag gerecht wird. Ich
halte es hier mit dem Grundgesetz. In Art. 6 Abs. 2 des
Grundgesetzes steht:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.
So ist es, und nicht umgekehrt.
Herr Kollege Kalb, bitte kommen Sie zum Schluss.
({0})
Es tut mir leid, Frau Kollegin. Ich hätte Ihre Zwischenfrage gern noch zugelassen.
Herr Kollege Kalb, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herzlichen Dank.
({0})
Frau Kollegin Hendricks zur Kurzintervention, bitte
schön.
Herr Kollege Kalb, ich möchte Sie und das Hohe
Haus darauf aufmerksam machen, dass die Begründung
für die Anhebung des Kinderfreibetrages nicht das Existenzminimum ist. Es gibt nämlich keinen neuen Existenzminimumsbericht. Wenn Ihre Begründung tatsächlich
zuträfe, müssten Sie unmittelbar die Transferleistungssätze für Kinder erhöhen; denn dann wäre das Existenzminimum für die Betreffenden nicht mehr abgedeckt.
Ihre Begründung ist einfach falsch und nicht zutreffend.
({0})
Wollen Sie erwidern, Herr Kollege Kalb? - Bitte
schön.
Frau Kollegin Hendricks, das trifft momentan zu. Ich
habe aber gesagt, dass diese Koalition bewusst einen familienpolitischen Akzent setzen will. Unabhängig davon
habe ich den Hintergrund für die Existenz des Kinderfreibetrages dargelegt, nämlich die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes.
({0})
Nicht mehr und nicht weniger habe ich gesagt.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Carsten Schneider von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind hier in der neuen Legislaturperiode in der Debatte im
Anschluss an die Regierungserklärung. Herr Bundesminister Schäuble, ich hätte mir gewünscht, Sie hätten für
ein bisschen mehr Klarheit gesorgt und gesagt, worüber
wir hier überhaupt reden. Sie haben keinerlei Zahlen genannt oder erklärt, vor welchen Aufgaben unser Land
steht. Wir haben erlebt, dass Herr Fricke die Schuld für
die ganze Last, die Sie nun als Koalition zu tragen haben,
der SPD aufbürden will. Sei es drum, lieber Otto. Du bist
dabei ja noch nicht einmal rot geworden.
({0})
Wir befinden uns in der Situation, dass die öffentlichen Haushalte extrem angespannt sind. Wir haben vom
Finanzminister ein Bekenntnis zur europäischen Verfassung, zu den Stabilitätskriterien und zum Grundgesetz
gehört. Es wäre ja noch schöner, wenn Sie das nicht gemacht hätten. Sie haben aber keinen Ton dazu gesagt,
wie Sie das Finanzierungsdefizit zurückführen wollen.
Dazu kam kein Vorschlag, keine Ankündigung.
Ich will Ihnen einmal die Zahlen nennen. Neben dem,
was in der mittelfristigen Finanzplanung schon beschlossen wurde, was also die Vorgabe für die Kreditaufnahme
ist, ist im Finanzplanungszeitraum noch eine Globale
Minderausgabe von insgesamt 40 Milliarden Euro eingeplant. Dieses Geld müssen Sie aufbringen. Sie haben
in Ihren Koalitionsverhandlungen nicht beschlossen, wie
Sie diese Lücke decken. Sie haben vielmehr beschlossen, diese Lücke zu vergrößern, nämlich um noch einmal
38 Milliarden Euro. Das macht zusammen etwa 80 Milliarden Euro in vier Jahren. Nicht schlecht! Ich frage
mich nur: Wie wollen Sie dies abtragen?
Wie kann man sich dieser Notwendigkeit zu Beginn
einer Koalition nicht stellen und stattdessen mit Schattenhaushalten arbeiten, obwohl doch alles auf den Tisch
gehört? In der FAZ war richtigerweise von „SchwarzGeld“ die Rede. Von diesem Schwarzgeld hört man zwar
nichts mehr, aber das steht immer noch im Koalitionsvertrag. Jetzt ist es an der Zeit, die Fakten auf den Tisch
zu legen, Maßnahmen zu besprechen, sie durchzusetzen
und der Bevölkerung zu erklären. All das tun Sie nicht.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrem Amt. Ich glaube
aber, dass Sie Ihrer Aufgabe auf dieser Grundlage nicht
gewachsen sein werden.
({1})
Die Frage ist: Wer wird die Zeche bezahlen? Alles,
was Sie bisher vorlegen, führt zu neuen Schulden. Ich
will Ihnen nicht den Titel des Schuldenkönigs anhängen.
Neue Schulden hätte es so oder so gegeben. Die FDP
war ja immer für ein Verbot von Schulden. Ich frage
mich, wie Sie das hätten durchsetzen wollen. Sie haben
immer viel gefordert und jedes Jahr ein Buch mit Einsparvorschlägen vorgelegt, das Liberale Sparbuch.
({2})
Herr de Maizière hat im Fernsehen während der Koalitionsverhandlungen gesagt: Die FDP hat diese Vorschläge in die Verhandlungen noch nicht einmal eingebracht.
({3})
Carsten Schneider ({4})
Ich habe einmal in dieses Buch hineingeschaut, um zu
sehen, was drinsteht.
({5})
Da steht, dass Sie die Zahl der beamteten Staatssekretäre
verringern wollen. In Ihren Ressorts finden sich acht solcher Stellen. Sie haben sie alle besetzt. Herr Westerwelle
hat darüber hinaus den dritten Posten eines Staatssekretärs im Auswärtigen Amt zur Koordinierung der Minister geschaffen.
({6})
- Natürlich, das gebe ich zu. Aber was war die Forderung? Abschaffen! Weg damit! Das brauchen wir nicht! Was macht Herr Westerwelle? Er besetzt diesen Posten
mit seinem FDP-Büroleiter. So viel ist von Ihren Einsparungen übrig geblieben. Herzlichen Glückwunsch!
({7})
Darüber hinaus wollten Sie immer das Entwicklungshilfeministerium abschaffen. Ich gebe zu, für
diese Forderung hatte ich sogar Sympathie. Sie wollten
die Aufgaben dieses Ministeriums ins Auswärtigen Amt
integrieren. Jetzt sind Sie mit an der Regierung. Was machen Sie? Es bleibt dabei: Es gibt einen neuen Minister.
Herr Niebel wird entsorgt. Herzlichen Glückwunsch,
liebe FDP.
({8})
Und wie wollen Sie aus der Krise herauskommen?
Außer Sonntagsreden, in denen Sie zusagen, keine neuen
Schulden zu machen und die Zukunft der Kinder nicht
zu belasten, kommt nichts. Herr Fricke, Sie haben immer
gesagt: Kinder können auf Schuldentürmen nicht spielen.
({9})
- Schuldenberge. - Das hat eine gewisse Logik. Jetzt beschließen Sie die Erhöhung des Steuerfreibetrages für
Kinder. Man kann im Einzelnen darüber reden. Aber wo
ist die Gegenfinanzierung? Wächst dadurch die Kreditaufnahme des Bundes, oder sinkt sie? Sie wächst.
({10})
Nichts von dem, was Sie in der Opposition angekündigt
haben, haben Sie umgesetzt. Das ist ein Dokument des
Versagens, liebe FDP.
({11})
Dann zur Steuerreform und zum Stufentarif. Der soll
Wachstum bringen; darüber kann man im Einzelnen reden. Ich habe bisher noch nicht gehört, wo das Wachstum sonst herkommen soll. Bei der Finanzplanung haben
Sie ein Wachstum von 2 Prozent unterstellt, und selbst
bei dieser Annahme kommen Sie noch auf eine Kreditaufnahme von über 300 Milliarden Euro. Heute Morgen
haben wir gehört, dass das Potenzialwachstum sinkt.
Wie hoch ist denn das Potenzialwachstum in Deutschland derzeit? Es liegt unter 2 Prozent, und es sinkt noch,
wie Herr Schäuble gesagt hat. Wie wollen Sie eine
Wachstumswirkung erreichen, wenn Sie auf Steuereinnahmen aus rein ideologischen Gründen verzichten?
Sie konterkarieren die Konjunkturmaßnahmen, die
wir mit dem Programm zur Stärkung der Infrastruktur in
den Städten und Gemeinden ergriffen haben. Sie entziehen ihnen jetzt durch den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Hotels das Geld. Die Länder sprechen von
4 Milliarden Euro. Das hat Herr Schäuble auch noch begründen wollen. Er hätte besser dazu geschwiegen. Er
sprach von Wettbewerb. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt für die Bereiche Kultur und Soziales und schafft
einen Ausgleich. Das ist auch in Ordnung. Aber damit
Hotelbetriebe im internationalen Maßstab wieder wettbewerbsfähiger werden? Meine Damen und Herren, das
ist lächerlich, das ist grotesk. Streichen Sie das!
({12})
Schauen Sie auf die Homepage der Bundeskanzlerin.
Da steht - Zitat -: Steuerermäßigungen führen nicht automatisch zu Preissenkungen. - Das wäre ein Argument;
aber nicht einmal das fordern Sie von den Hotelketten
und deren Investoren. Dies ist einfach nur ein Wahlgeschenk, das mit 4 Milliarden Euro dauerhaften Mindereinnahmen bezahlt wird.
({13})
Ich fordere Sie auf: Zahlen Sie wenigstens die Zinskosten an den Bund aus Ihren Parteikassen zurück! Es schadet nichts, wenn Sie ein paar Blättchen weniger drucken.
({14})
Wir werden eine Haushaltspolitik machen, die Substanz hat und auf Konsolidierung abzielt. Wir werden
keine Voodoo-Ökonomie betreiben, sondern für uns gilt:
Die öffentlichen Haushalte müssen stark bleiben. Wir
brauchen einen Staat, der finanzkräftig ist und der nicht
Ihrer puren Ideologie des schwachen Staates anheimfällt.
Es wird sich die Frage stellen, wer wirklich die Zeche
zahlt. Ich vermute, Ihre politische Strategie ist, irgendwie über die NRW-Wahl zu kommen, weil die wichtig
ist, und mit dem Haushalt 2011 beginnen Sie dann. Die
Frage ist: Wer zahlt es dann? Steuererhöhungen haben
Sie ausgeschlossen. Wir haben hohe Defizite in den Sozialversicherungssystemen, angefangen von der Bundesagentur für Arbeit bis hin zur Rentenversicherung.
Ich vermute, dass Sie, da aus dem Darlehen an die Bundesagentur für Arbeit ein Zuschuss wird - das war die
einzige Sparmaßnahme, die wir noch drin hatten -, an
die Sozialversicherungsbeiträge gehen werden. Wie ist
die ökonomische Wirkung, wenn Sie die Sozialversicherungsbeiträge erhöhen? Diejenigen, die wenig verdienen, zahlen am meisten, weil es bei der Sozialversicherung eine Beitragsbemessungsgrenze gibt.
({15})
Carsten Schneider ({16})
Das heißt, es werden vorwiegend diejenigen belastet, die
ab dem ersten Euro Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Sie senken die Steuern für diejenigen, die viel zahlen.
Wer viel Steuern zahlt, wer leistungsfähig ist, zahlt bei
einer Entlastung natürlich weniger. Das ist logisch.
Das heißt, es kommt zu einer Umverteilung von Arm
nach Reich, und es kommt zu einer ökonomischen Wirkung, die vollkommen unsinnig ist; denn wer ohnehin
viel hat, der spart und legt vielleicht noch bei Lehman
an, möglicherweise verliert er dabei etwas, aber er wird
jedenfalls nicht dafür sorgen, dass die Binnennachfrage
gestärkt wird. Daran hat es in den letzten Jahren gekrankt, daran hat es unserem Land gefehlt. Die Stärkung
der Binnennachfrage konterkarieren Sie. Dies ist kein
Auftakt für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, dies
ist bisher ein Zeichen der Mutlosigkeit, der Verzagtheit
und der Zerstrittenheit. Sie werden sehen, dass Sie mit
dieser Politik, die Sie hier eingeschlagen haben, nicht
durchkommen werden. Das prophezeie ich Ihnen.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Schneider, Sie haben hier über Ihren Ordnungsrahmen gesprochen. Ich glaube, Sie haben, was soziale Marktwirtschaft betrifft, Heinz Erhardt mit Ludwig
Erhard verwechselt. Das ist nicht die Art, wie wir die
Probleme künftig lösen wollen. Ich glaube, wir müssen,
wenn wir über den Ordnungsrahmen und über das reden,
was wir jetzt auf den Finanzmärkten tatsächlich erreichen wollen, die richtigen Weichen stellen.
Das macht dieser Koalitionsvertrag. Er macht es zum
Beispiel, was die Bankenaufsicht betrifft. Wir ziehen die
Lehren aus der Finanzkrise in Deutschland. Die zweigeteilte Bankenaufsicht, die wir in Deutschland erlebt haben, hat in verschiedenen Bereichen versagt. Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen wieder eine konsistente
Bankenaufsicht in Deutschland bei der unabhängigen
Bundesbank haben. Das macht nicht nur im Hinblick auf
die Solvenz der Institute Sinn, sondern auch aus geldpolitischer Sicht; denn die Bundesbank ist nach wie vor einer der Spieler, wenn es um die geldpolitischen Weichenstellungen in Europa geht.
Erstens. Die weltweite Krise, die wir bisher erlebt haben, ist letztendlich eine Vermögensgüter-Preisinflation.
Es ist richtig, dass diejenigen, die über eine Vermögensgüter-Preisinflation wachen müssen, künftig auch die
Banken beaufsichtigen müssen. Entscheidend ist, dass
wir die Bankenaufsicht ausschließlich bei der unabhängigen Bundesbank in Frankfurt ansiedeln.
Zweitens. Wir benötigen im Bankenbereich ein konsistentes Insolvenzrecht. Dafür zu sorgen, ist etwas, was
die alte Koalition nicht geschafft hat. Eine Lehre aus der
Krise ist, dass wir es nicht geschafft haben, Eigentum
und Verantwortung im Bankenbereich vernünftig in Einklang zu bringen. Man muss zweierlei feststellen: Wir
müssen erreichen, dass die Sparguthaben der Sparer gesichert werden und dass gleichzeitig die Verantwortlichen in den Banken für ihre Fehlleistungen haften.
({0})
Angesichts der drohenden Kreditkrise - sie wird
zwangsläufig eintreten, weil die Banken eigenkapitalschwach sind - müssen die Eigenfinanzierungskräfte in
der deutschen Wirtschaft gestärkt werden. Es ist gut,
dass wir die Instrumente der Förderpolitik nutzen und
gleichzeitig die Wachstumskräfte hinsichtlich der Eigenfinanzierung stärken. Dazu gehört, dass wir das Beteiligungskapital in Deutschland ausbauen und die Substanzsteuer entsprechend dem Koalitionsvertrag mildern; dies
geschieht mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs. Ein ganz entscheidender Punkt in dieser Phase ist,
dass wir die Eigenfinanzierungskräfte der Unternehmen
stärken.
Drittens. Wir brauchen ein konsistentes Finanzmarktrecht. Durch die Schieflage eines letztendlich in
Deutschland beheimateten Hedgefonds, K1, wird uns
klar, dass die Marktanbieter Ausweichmöglichkeiten haben; denn wir haben kein einheitliches Versicherungsrecht, kein einheitliches Bankenrecht, kein einheitliches
Recht in Bezug auf Zertifikate und den grauen Kapitalmarkt. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier ein einheitliches Regelwerk schaffen.
({1})
Entscheidend ist auch, dass wir dem kleinen Sparer in
Deutschland in dieser Krise keine zusätzlichen Lasten
aufs Auge drücken.
({2})
Das, was in der politischen Linken, aber teilweise auch
bei Konservativen diskutiert wird - Finanztransaktionssteuer, Börsenumsatzsteuer, Tobin-Steuer; wie immer
man es nennt -, ist im Kern der völlig falsche Ansatz;
denn letztendlich muss diese Steuer der kleine Sparer,
der Lebensversicherungssparer, der Riester-Sparer, der
Fondssparer, zahlen.
({3})
Herr Fahrenschon, der bayerische Finanzminister, hat
dargestellt, dass der durchschnittliche Riester-Sparer allein 5 000 Euro für eine solche Finanztransaktionssteuer
zahlen müsste. Diese Steuer bezahlten am Ende also
nicht diejenigen, die sie eigentlich treffen soll, sondern
der kleine Sparer.
({4})
Das halten wir für ein falsches Konzept.
Wir wollen den Rahmen für ein konsistentes Finanzdienstleistungsrecht in Deutschland schaffen.
({5})
Wir wollen keine zusätzlichen Steuern für die Bürger,
sondern wir wollen sie von Steuern entlasten.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es heute zum einen mit der Einbringung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes zu tun, zum anderen steht aber auch die
allgemeine Aussprache zu den Bereichen Finanzmarkt,
Finanzen, Steuern und Haushalt auf der Tagesordnung.
Die Sofortmaßnahmen, die wir nun gemäß Koalitionsvertrag im steuerlichen Bereich ergreifen, sind die
konsequente Umsetzung von dem, was wir kurzfristig
für erforderlich halten. Es ist schon, verehrte Kollegen
von der SPD, erstaunlich, dass Sie die Ergänzung dessen, was wir in der alten Koalition auch mit Wirkung
zum 1. Januar 2010 auf den Weg gebracht haben,
({0})
nun nicht mehr für sinnvoll halten. Es muss mir mal jemand erklären, warum das jetzt so sein soll.
({1})
Die Bereiche, Herr Kollege Poß, die wir jetzt im Unternehmensrecht angehen - ({2})
- Was haben wir denn gemacht? Wir haben doch schon
eine Abflachung des sogenannten Mittelstandsbauches
erreicht, indem wir die Rechtsverschiebung, wie es so
schön heißt, innerhalb der Proportionalzone vorgenommen haben.
({3})
- Das ist schon einmal ein erster Ansatz. - So können
doch die entlastenden Maßnahmen, die wir jetzt zusätzlich noch vorsehen, nicht falsch sein.
({4})
Zu dem, was wir jetzt im Bereich Unternehmensteuern - ein weiterer Bereich - machen, ist vom Grundsatz
her zu sagen, dass das für uns von der Unionsfraktion
nicht auf neuen Erkenntnissen beruht: Wir versuchen
nur, die Folgen der Krise, die sich jetzt immer weiter
verschärft, abzumildern. All dieses kannte ich schon aus
früheren Diskussionen, aber diese Maßnahmen waren
mit Ihnen nicht umsetzbar.
({5})
Deshalb müssen hier jetzt einige Punkte dringend korrigiert werden, damit sie nicht noch weiter krisenverschärfend wirken.
({6})
Wir haben also keinen neuen Erkenntnisstand. Diese
Erkenntnisse gab es damals schon. Nur war damals alles
der fiskalischen Zielsetzung unterworfen, dass eine Entlastung um maximal 5 Milliarden Euro vorgenommen
wird.
({7})
- Auch jetzt haben wir fiskalische Ziele, Herr Kollege
Poß. Sie haben sie eben gehört, von Herrn Meister und
anderen.
({8})
Wir dürfen doch, wenn sich gewisse Dinge krisenverschärfend auswirken, nicht einfach zusehen, sondern wir
müssen das korrigieren und abmildern. Deshalb sind die
Maßnahmen, die wir im Bereich der Unternehmensteuern treffen, der richtige Weg.
({9})
Meine Damen und Herren, da es hier ja auch um die
allgemeine Aussprache über den Finanzbereich geht,
möchte ich mich noch auf einige Finanzmarktaspekte
konzentrieren.
Ich möchte zunächst feststellen, dass wir auch international überzeugend für unser Modell der sozialen
Marktwirtschaft eintreten müssen. Mit diesem ist nämlich auch ein Ordnungsrahmen für internationale Finanzmärkte verbunden. Herr Minister, wir werden Sie und
Ihre Regierung unterstützen, dass die Absichtserklärungen, die bisher im Rahmen von G 20 und anderen Treffen abgegeben wurden, in konkrete Maßnahmen münden. Wir müssen das Zeitfenster nutzen, denn der
angelsächsische Raum ist jetzt noch offen für Maßnahmen zu mehr und besserer Regulierung. Wenn der angelsächsische Raum das demnächst nicht mehr sein
sollte und sich dieses Zeitfenster wieder schließen sollte,
werden wir es nicht mehr schaffen, all die vernünftigen
Absichtserklärungen, die in die richtige Richtung gehen,
in konkrete Maßnahmen münden zu lassen. Dann kann
es sogar passieren, dass sich das in einer Art und Weise
krisenverschärfend auswirkt, wie wir es bisher überhaupt nicht erwarten.
({10})
Deshalb gilt es, dieses Zeitfenster jetzt zu nutzen.
Wir von deutscher Seite müssen zugleich bereit sein, in
einzelnen Fragen - ich denke da zum Beispiel im Bankenbereich an die Frage der Eigenkapitalunterlegung und
der Qualität des Eigenkapitals - nationale Interessen über
die europäische Ebene gegenüber dem angelsächsischen
Raum durchzusetzen. Es darf nämlich nicht dazu kommen - erste Ergebnisse der Basel-Verhandlungen deuten
allerdings darauf hin -, dass die Qualität des Eigenkapitals, das Banken zur Unterlegung ihres Geschäftes aufbringen müssen, sogar für den deutschen und europäischen Bereich gesenkt wird.
({11})
Das Mezzanine-Kapital und stille Beteiligungen, die in
unserem Bankensektor eine dominierende Größe haben,
sollen zukünftig nicht mehr als sogenanntes Kernkapital
berücksichtigt werden. Das dürfen wir nicht akzeptieren,
sonst ist der deutsche und europäische Bankenbereich
gegenüber dem angelsächsischen Bereich benachteiligt.
({12})
Wir haben zukünftig noch weitere Anforderungen, was
die Unterlegung mit Eigenkapital angeht. Deshalb darf
es für unsere Banken in diesem Bereich keine Nachteile
geben.
Der zweite wichtige Bereich: Regulierung, Aufsicht.
Es ist schon gesagt worden, dass wir von der Union gemeinsam mit dem Koalitionspartner die Bankenaufsicht
bei der Bundesbank ansiedeln wollen. Man muss sich
darüber unterhalten, in welcher Organisationsform die
Aufsicht erfolgen soll. Man kann vorschnelle Vorschläge
des Bundesbankvorstandes, die kurzfristig erarbeitet
worden sind, nicht eins zu eins übernehmen. Wir müssen
sorgfältig beraten, wie wir hier vorgehen.
({13})
Wir müssen schauen, wie die Eingriffsverwaltung bei
der Bundesbank erfolgen kann.
Wir müssen zu einer qualifizierten und differenzierten
Aufsicht kommen. Es ist ein Unterschied, ob eine Sparkasse, eine Genossenschaftsbank, die in der Fläche tätig
ist, oder ob eine systemische Bank beaufsichtigt werden
soll.
({14})
Wenn eine systemische Bank beaufsichtigt werden soll,
dann müssen andere Kriterien gelten. Die Aufsicht muss
durchaus Anmerkungen zur Geschäftspolitik und zu Geschäftsmodellen machen können, wenn die Gefahr besteht, dass Märkte nachhaltig gestört werden. Deshalb
muss die Aufsicht die Frage prüfen: Muss ein risikoreicheres Geschäft nicht mit einem wesentlich höheren Eigenkapital unterlegt werden, als das bei Geschäften einer
normalen Bank, die regional verankert ist, der Fall ist?
Damit soll sichergestellt sein, dass das, was jetzt geschehen ist, in Zukunft nicht mehr passiert.
Der dritte Bereich. Wir müssen den Verbriefungsmarkt stärken. Wir müssen von politischer Seite klarstellen, dass Verbriefung nicht gleich Verbriefung ist.
Wir müssen unsere Expertise, die wir im Rahmen der
TSI-Initiative im Pfandbriefbereich gewonnen haben,
noch ausbauen. Es gilt die Aussage des Wirtschaftsministers, dass es auch Verbriefungsformen für den Mittelstandskredit geben soll. Aber was nicht akzeptiert werden kann, ist, dass die Banken diesen Markt teilweise
mittels Garantien anschieben wollen. Nein, diese Verbriefungen müssen von der Qualität her so gut sein, dass
keine Garantien benötigt werden. Wenn der Markt Vertrauen hat, dann brauchen wir keine staatlichen Garantien.
Sie sehen, dass unsere Aufgaben ein breites Feld umfassen. Wir werden den Finanzminister, gerade was
diese internationalen Aufgaben anbelangt, unterstützen.
Ich lade die Opposition ein, konstruktiv mitzuarbeiten.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich will zuallererst dem neuen Bundesfinanzminister zu dieser sicherlich nicht einfachen, aber
hochinteressanten Aufgabe gratulieren.
Es ist ein gutes Signal an die Öffentlichkeit, dass
diese Debatte, die am Dienstagmorgen von der Bundeskanzlerin eröffnet wurde, nun vom Bundesfinanzminister heute sozusagen abgerundet wurde Das entspricht
auch seiner herausgehobenen Stellung im Kabinett.
Diese herausgehobene Stellung wurde im Koalitionsvertrag nochmals fest verankert. Denn darin heißt es ausdrücklich, dass sämtliche Maßnahmen unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Dass der Finanzminister zudem
noch aus dem für seine Sparsamkeit und für seine ausgeglichenen Haushalte bekannten Baden-Württemberg
kommt, ist sicherlich auch keine schlechte Empfehlung.
({0})
Es ist auch ein wichtiges Signal nach draußen, dass in
dieser Debatte ein Haushälter das letzte Wort haben darf.
Ich will an dieser Stelle erinnern, dass das Hohe Haus
das Königsrecht des Parlaments ausübt, nämlich das
Haushaltsrecht. Das ist keine Kleinigkeit; denn wer eine
demokratische Staatsform auf ihre Qualität hin überprüfen will, muss zuallererst schauen, wie es um das Budgetrecht bestellt ist.
({1})
Lassen Sie mich an dieser Stelle daran erinnern, dass
bereits 1849 die Mitglieder der Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche das Budgetrecht in der Verfassung verankert haben - das war ein wichtiger Schritt ({2})
und dass nicht durch Zufall die Nazis 1933 dies dem
Parlament wieder genommen haben. An dieser Stelle
wird also deutlich, wie wichtig dieses Budgetrecht für
uns alle, für das Parlament ist.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, auf einige
grundsätzliche Zusammenhänge hinzuweisen; denn in
dieser Woche wurde sehr viel von Wachstum gesprochen. Das hat sich wie ein roter Faden durch alle Debatten gezogen.
({3})
Die Bundeskanzlerin hat deutlich darauf hingewiesen,
dass ohne Wachstum keine Investitionen, keine Schaffung neuer Arbeitsplätze, keine Bereitstellung von Mitteln für Bildung und keine Hilfen für die Schwachen
möglich sind. Wachstum schafft die Voraussetzung für
die notwendigen Spielräume in der Politik.
({4})
Wachstum ist für uns kein Selbstzweck, sondern der einzige Schlüssel, aus dieser Krise herauszukommen.
({5})
Gleichzeitig ist immer von Sparen die Rede. Lassen
Sie mich deshalb die Ausgabenseite unserer Haushalte
im Hinblick auf eine mögliche Haushaltskonsolidierung
kurz beleuchten. Der Mann auf der Straße sagt immer
zuerst: Spart einfach mal! Nun lernt man als Haushälter
relativ schnell, dass sehr große Bereiche unseres Haushalts - 300 Milliarden Euro - festgeschrieben sind. Das
ist kein großer Haufen Geld, in den man beliebig hineingreifen kann, sondern da gibt es zum Beispiel laufende
Zuweisungen und Zuschüsse insbesondere zur Sozialversicherung bzw. zur Rentenversicherung. In diesem
Jahr sind dadurch rund 175 Milliarden Euro sofort gebunden. Rechnet man dann die Zinsausgaben und die
Personalausgaben - das sind noch einmal rund 70 Milliarden Euro - hinzu, so kommt man zu dem Ergebnis,
dass ein relativ großer Teil des Bundeshaushalts festgeschrieben ist. Das heißt, die verfügbare Masse umfasst
vielleicht noch etwa 20 Prozent. Dazu gehören Mittel für
die Bildung sowie Investitionen in den Verkehr und in
die Infrastruktur. Gerade dort wollen wir nicht sparen.
Im Gegenteil, das wäre schädlich für jede konjunkturelle
Entwicklung. Nichtsdestotrotz werden wir im kommenden Bundeshaushalt jede Ausgabenposition sorgfältig
dahin gehend überprüfen,
({6})
ob es noch Einsparmöglichkeiten gibt; das ist gar keine
Frage.
Wenden wir uns jetzt der Einnahmeseite zu. Bei den
Einnahmeverbesserungen gibt es grundsätzlich drei
Möglichkeiten: Erstens. Man könnte Steuern und Abgaben erhöhen. Zweitens. Man könnte sich weiter verschulden. Drittens. Man kann Wachstum generieren.
Das Erstere - neue Steuern - haben wir, die christlich-liberale Koalition, vor der Wahl deutlich ausgeschlossen. Dabei bleibt es.
({7})
- Der kommt schon.
Das Zweite - höhere Schulden - ist nur begrenzt
möglich. Wir wollen die Verschuldung zurückführen;
das haben wir uns selbst auferlegt.
({8})
Die Schuldenbremse steht unverrückbar im Grundgesetz. Diese Schuldenbremse ist - erlauben Sie mir diese
Anmerkung -, historisch betrachtet, wahrscheinlich die
größte Leistung der vergangenen Koalition.
({9})
Wir haben nun die Aufgabe, eine mit dieser Schuldenbremse zu vereinbarende Lösung für die im kommenden
Jahr sicherlich exorbitant hohe Neuverschuldung zu finden, um wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Das wird nur möglich sein, wenn wir um den Krisenherd herum sozusagen eine Umgehungsstraße bauen.
Dafür braucht es die Kreativität von uns Haushältern genauso wie die des Finanzministers.
({10})
Nun komme ich zur dritten und letzten Möglichkeit,
zum Wachstum.
({11})
Die ersten zwei Wege sind uns ja nahezu versperrt. Deshalb lautet die Faustformel: Wachstum generieren. Das
Bundesfinanzministerium sagt uns immer: 1 Prozent
Wachstum erzeugt mindestens 1 Prozent höhere Steuereinnahmen.
({12})
Schaut man sich das gute Wachstumsjahr 2006 an, so
stellt man fest: Da war das sogar deutlich mehr.
Lieber Herr Kollege Bonde, Sie haben in Ihrer Rede
darauf hingewiesen, dass wir absurd hohe Wachstumsraten bräuchten. Erinnern Sie sich bitte an das Jahr 2006.
Da hat uns das Wachstum Steuermehreinnahmen in
Höhe von fast 40 Milliarden Euro beschert. Das waren
um 2,5 Prozent höhere Steuereinnahmen pro ProzentNorbert Barthle
punkt des Wachstums: eine wunderschöne Rate, die zu
höheren Steuereinnahmen geführt hat. Das Schöne ist:
Wachstum wird auch auf der Ausgabenseite wirksam,
weil wir weniger Geld zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit und der sozialen Sicherungssysteme benötigen.
Wachstum ist also der Schlüssel zum Erfolg.
({13})
Herr Kollege Barthle, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?
Aber immer.
Bitte schön, Herr Schneider.
Herr Kollege Barthle, Sie haben eben gesagt,
1 Prozent Wachstum führe zu 1 Prozent Steuermehreinnahmen. Die Quelle dieser Angaben im Finanzministerium ist mir bisher verborgen geblieben. Ich möchte es
ökonomisch betrachten: 1 Prozent Wachstum bedeutet,
dass das Bruttoinlandsprodukt insgesamt um etwa
25 Milliarden Euro steigt. Die Steuerquote liegt bei etwa
25 Prozent, also etwa bei einem Viertel. Wie kommen
Sie dann darauf, dass die Selbstfinanzierung höher ausfallen soll? Mir ist das jedenfalls nicht bekannt. Bisher
wurde das von keinem Ökonomen in irgendeiner Art und
Weise bestätigt.
({0})
Ist es richtig, dass der Finanzplan, den die Große
Koalition mit der Kanzlerin an der Spitze beschlossen
hat, von einer realen Wachstumsquote von 2 Prozent
ausgeht, das Potenzialwachstum aber darunter liegt? Wie
wollen Sie dann die Steuermehreinnahmen darstellen?
Herr Kollege Schneider, wenn Sie sich beim BMF
oder bei den einschlägigen Wirtschaftsforschungsinstituten kundig machen, werden Ihnen alle sagen, dass die
Faustformel gilt: 1 Prozent Wachstum erzeugt etwa
1 Prozent Steuermehreinnahmen. Genau dies habe ich
dargelegt; so finden Sie es in allen Unterlagen wieder.
({0})
Ich habe dargelegt, dass diese Quote im Jahr 2006 mit
seinem Ausnahmewachstum sogar höher war: In diesem
Jahr gab es ein Wachstum von 3 Prozent, aber Steuermehreinnahmen von annähernd 40 Milliarden Euro. Damit hat 1 Prozent Wachstum in diesem Jahr 2,5 Prozent
Steuermehreinnahmen erzeugt. Das war eine Ausnahmesituation; aber auch eine solche Quote ist möglich. Genau das habe ich eben dargestellt.
Es ist also unser Bestreben, möglichst hohe Wachstumsraten zu erzielen. Wenn wir im kommenden Jahr
eine Wachstumsrate zwischen 1 und 2 Prozent erzielen,
dann führt dies zu entsprechend höheren Steuereinnahmen. Die Größenordnung der Mehreinnahmen ist zwar
nicht vorhersehbar, aber möglicherweise erreichen wir
wieder die Quote aus dem Jahr 2006, als 1 Prozent
Wachstum zu 12 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen
geführt hat.
({1})
Wenn wir im kommenden Jahr 2 Prozent Wachstum erreichen, können wir etwa 24 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen erzielen; das wäre eine tolle Sache.
({2})
Lassen Sie mich zur Frage eines nachhaltigen, verantwortlichen Wachstums zurückkommen. Ein solches
Wachstum kennt nur Gewinner: uns, die Menschen in
diesem Lande. Ich komme zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz zurück, das hinsichtlich des Wachstums als
Treibsatz wirken wird. Dieses Gesetz entlastet insbesondere die Familien. Wer sich das Finanztableau anschaut,
der sieht sehr schnell, dass der größte Teil des Geldes,
das wir in die Hand nehmen, bei den Familien landet.
({3})
Die Entlastungen werden also bei den Menschen in diesem Lande wirksam und führen zu einem größeren
Wachstum.
Herzlichen Dank.
({4})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/15 und 17/16 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. November 2009, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.