Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Abschluss und Anschluss Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss.
Das Wort für die einleitende fünfminütige Berichterstattung hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung Frau Dr. Annette Schavan.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Kabinett
hat sich heute mit den Schritten der Umsetzung eines
Sonderprogramms beschäftigt, das einem bildungspolitischen Schwerpunkt der Bundesregierung dient, nämlich
Jugendliche, die in der Gefahr sind, keinen Schulabschluss zu machen, besser zu fördern und zu begleiten.
Damit wollen wir, wie wir es uns zwischen Bund und
Ländern vorgenommen haben, Sorge dafür tragen, dass
jeder Jugendliche einen Schulabschluss macht.
Das Programm basiert auf gemeinsamer Arbeit, auf
einem Konzept, das von Bund und Ländern verabschiedet worden ist. Bereits beim Dresdner Bildungsgipfel
gab es den Auftrag, ein solches Konzept zu erarbeiten.
Dem Konzept liegt die Analyse zugrunde, dass die größten Probleme im Bildungssystem in den Übergängen stecken, in diesem Fall in dem Übergang von der Schule in
die Ausbildung. Deshalb auch der Begriff „Abschluss
und Anschluss“: Es geht darum, Sorge dafür zu tragen,
dass Jugendliche, die sich mit dem Schulabschluss
schwertun, die für eine Ausbildung keine ausreichenden
Leistungen nachweisen können, nicht einfach weiter zur
Schule geschickt werden; darüber ist in diesem Hohen
Hause mehrfach diskutiert worden. Diese Jugendlichen
bekommen künftig eine individuelle Unterstützung.
Wir führen mit diesem Programm Erfahrungen mit
unterschiedlichen Instrumenten zusammen. Dazu gehört
die sogenannte Potenzialanalyse in Klasse 7, also zu einem frühen Zeitpunkt, nicht erst kurz vor dem Abschluss. Es handelt sich nicht um eine Analyse der
Schwächen, sondern um eine Analyse der Stärken, des
Potenzials des jeweiligen Schülers und der jeweiligen
Schülerin. Auf dieser Grundlage wird ein individuelles
Förderprogramm vereinbart.
Dazu gehört insbesondere die Berufsorientierung. Bei
Modellversuchen hat sich herausgestellt, dass Jugendliche, die in unterschiedlichen Berufsfeldern Erfahrungen
sammeln können, eine Ermutigung für weiteres Lernen
erfahren. Ebenfalls dazu gehört die Begleitung durch
den Berufseinstiegsbegleiter bis in das erste Ausbildungsjahr hinein. Wir werden noch im Laufe des Jahres
zunächst insgesamt 500 Stellen für Berufseinstiegsbegleiter schaffen; im kommenden Jahr folgen weitere
700 Stellen; 1 000 solcher Stellen sind bereits geschaffen. Mit Blick auf die Begleitung von Jugendlichen im
ersten Ausbildungsjahr werden zusätzlich ehrenamtlich
tätige Begleiter eingesetzt werden, von denen sich jeder
um einen einzigen Jugendlichen kümmert. Hier ist vor
allen Dingen an Jugendliche mit einem außerordentlich
schwierigen Umfeld, aus schwierigsten familiären Verhältnissen gedacht, also kurz gesagt an Jugendliche, die
kaum einen Erwachsenen an der Seite haben, der sie in
dieser außerordentlich wichtigen Phase begleitet.
Alle Experten - wir haben mit vielen Experten darüber diskutiert, vor allen Dingen von der Bundesanstalt
für Arbeit und vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales - sind davon überzeugt: Das ist eine neue Qualität im Übergangssystem, weil ein stark personaler Faktor hinzukommt, weil sich die Jugendlichen damit in einem Prozess der Begleitung befinden, durch den ihnen
eine individuelle Beratung ermöglicht wird.
Die Maßnahme kann im November starten. Das Kabinett hat heute die Freigabe der entsprechenden Verwaltungsvereinbarung mit der Bundesagentur für Arbeit beschlossen. Ich bin davon überzeugt, dass damit ein erster
zentraler Schritt getan ist, um das Übergangssystem neu
zu ordnen. Sowohl das Arbeitsministerium und das BilRedetext
dungsministerium als auch andere beteiligte Ministerien
wie das Familienministerium werden sich auf dieser
Grundlage an die Arbeit machen, die bestehenden Maßnahmen zu analysieren, um darauf basierend das Übergangssystem in der nächsten Zeit deutlich wirksamer zu
gestalten, im Sinne der Jugendlichen und im Sinne einer
früher beginnenden Ausbildung. Das ist besonders bedeutsam, weil wir aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren dafür Sorge tragen
müssen, dass jeder Jugendliche für eine Ausbildung zur
Verfügung steht.
Letzter Satz: Diese Maßnahme wird uns helfen, dem
Ziel, die Zahl der Jugendlichen ohne Abschluss deutlich
zu senken, bis es am Ende keinen Jugendlichen mehr
ohne Abschluss gibt, und für jeden Jugendlichen die
Möglichkeit zu schaffen, in Ausbildung zu kommen,
Rechnung zu tragen.
Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Ministerin. - Die erste Frage
stellt der Kollege Rupprecht.
Frau Ministerin, wir finden den Ansatz hervorragend,
weil wir der festen Überzeugung sind, dass das Übergangssystem verbessert werden muss. Diesen Ansatz
systematisch und flächendeckend zu gestalten, ist der
richtige Weg. Hierzu gibt es einzelne Initiativen vor Ort.
Manche Länder werden aktiv, manchmal sind es auch
kleinere Regionen. Meine Frage ist: Wie wollen Sie die
Subsidiarität gewährleisten? Wie wollen Sie die regionalen Initiativen ergänzen und in das Gesamtkonzept integrieren?
Die Verzahnung wird auf unterschiedliche Weise geschehen. Der erste wichtige Schritt war, das Konzept gemeinsam mit den einzelnen Ländern zu erarbeiten. Zweitens ist bei der Auswahl der Schulen, die in das Programm
aufgenommen werden, darauf zu achten, dass dort, wo
bereits gut funktionierende Maßnahmen existieren, keine
weiteren eingeführt werden, um Doppelmaßnahmen zu
vermeiden. Vielmehr soll man sich auf die Schulen konzentrieren, die bislang an keinem vergleichbaren Programm teilnehmen. Drittens bleibt es nicht bei der angekündigten Maßnahme. Sie ist prototypisch für die neue
Art, wie wir mit dem Übergangssystem umgehen wollen,
mit dem Ziel, dass an anderer Stelle auch andere Maßnahmen gebündelt werden. Das soll gemeinsam mit den Ländern, gemeinsam mit den Kammern entstehen, sodass ein
konsistentes und über die 16 Länder hinweg vergleichbares System der Förderung zustande kommt.
Die nächste Frage stellt der Kollege Brase.
Frau Ministerin, wir begrüßen die Absicht, den Bereich des Übergangssystems neu zu ordnen. Ich möchte
aber wissen, ob wir Sie richtig verstanden haben. Vor
Wochen hatten Sie vorgeschlagen, Berufsbildungslotsen
einzusetzen; in Ihren heutigen Ausführungen wurde jedoch deutlich, dass es bei der Berufseinstiegsbegleitung
bleibt, die es schon etwas länger gibt und die über den
Haushalt der Bundesagentur für Arbeit finanziert wurde.
Ist das die Weiterentwicklung des Konzeptes zur Berufseinstiegsbegleitung des BMAS in Zusammenarbeit mit
der Agentur für Arbeit?
Haben Sie im Kabinett auch darüber gesprochen, was
man mit den jungen Menschen zwischen 20 und
29 Jahren - circa 1,5 Millionen - machen will, die keinen Berufsabschluss bzw. keinen Hauptschulabschluss
haben? Es gibt eine Menge von Menschen in unserem
Land, die keinen vernünftigen Abschluss haben. Gibt es
für sie Perspektiven?
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Kollege Brase: Es handelt
sich nicht um ein verändertes Konzept. Es ist das Konzept, das ich vor einigen Wochen in Grundzügen vorgestellt habe. Was die Begriffe „Berufseinstiegsbegleitung“
und „Bildungslotse“ angeht, so haben wir uns auf die
erste Bezeichnung geeinigt. Letztendlich ist die Rolle
aber die eines Bildungslotsen - genau darum geht es -,
denn es wird sehr viel früher begonnen; nicht nur der Berufseinstieg, sondern bereits der Weg zum Schulabschluss spielt eine zentrale Rolle. Es geht darum, früher
Schwierigkeiten und Potenziale zu erkennen. Ich glaube,
psychologisch gesehen ist es für Jugendliche sehr wichtig, nicht am Ende der Schulzeit aufgrund festgestellter
Schwäche irgendwohin geschickt zu werden, sondern
zwei, drei Jahre früher aufgrund von festgestelltem Potenzial eine gezielte Förderung zu erhalten. Entsprechend
werden die Mittel dafür aus dem Bildungsressort der
Bundesagentur, die im Sinne eines Projektträgers tätig
wird, zur Verfügung gestellt. Wir sind davon überzeugt,
dass in diesem Bereich niemand so viel Erfahrung hat wie
die Bundesagentur.
Der Unterschied zwischen der bisherigen und der
heutigen Situation ist, dass wir mit diesem Konzept in
Modellversuchen bereits Erfahrungen gesammelt haben
und jetzt in die Fläche gehen. Wenn ich das einmal in
Zahlen ausdrücken darf: Wir haben in Deutschland etwa
5 500 Hauptschulen; dazu kommt die Gruppe der Förderschulen. Das sind die Schulen, die im Wesentlichen
angesprochen werden. Am Ende können mindestens
2 000 Schulen in dieses Programm aufgenommen werden. Bekanntlich gibt es viele kleine Standorte, die nicht
wirklich mit diesem Problem zu kämpfen haben. Also
geht es um die Konzentration auf das, was wir häufig als
soziale Brennpunkte ansehen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Selbstverständlich haben wir
auch die von Ihnen genannte Gruppe im Blick. Sie wissen, dass wir an mehreren Stellen versuchen, Verbesserungen zu erreichen. Das bezieht sich nicht auf dieses
Programm, sondern vor allen Dingen auf Angebote, die
im Kontext der Weiterqualifizierung und der überbetrieblichen Werkstätten eine Rolle spielen. Ich bin davon
überzeugt, dass wir auch da in den nächsten Jahren deutliche Fortschritte erzielen können. Auch diese Gruppe
bedarf nicht nur dringend der Qualifizierung, sondern es
muss auch dafür gesorgt werden, dass sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht.
Die Kollegin Alpers ist die nächste Fragestellerin.
Frau Ministerin, ich möchte daran gleich anschließen.
Wir haben nicht nur die 1,5 Millionen jungen Menschen
ohne Berufsabschluss aus dem letzten Jahr und aus 2008,
sondern inzwischen schon mehr. Laut einer dpa-Pressemitteilung von gestern wird davon ausgegangen, dass in
den nächsten 15 Jahren mindestens 1,3 Millionen junge
Menschen zwischen 20 und 30 Jahren keinen Ausbildungsplatz haben werden. Mit Ihrem Programm wollen
Sie zwar früher ansetzen. Aber wenn davon ausgegangen
wird, dass die Zahl von 1,3 Millionen Jugendlichen nicht
unterschritten wird, frage ich mich: Welche Maßnahmen
wollen Sie ergreifen, um Bildung wirklich von sozialer
Herkunft zu entkoppeln? Wie wollen Sie gewährleisten,
dass all diejenigen, die sich schon jetzt im Übergangssystem befinden, sehr schnell in Ausbildung kommen? Bei
Hauptschülern dauert das normalerweise mindestens
zwei Jahre; jeder vierte Hauptschüler hat nach vier Jahren
immer noch keinen Ausbildungsplatz. Wie wollen Sie
perspektivisch all diese jungen Menschen eingliedern?
Ihr Programm ist vielleicht ein kleiner Anfang. Ich denke
aber nicht, dass es ausreicht, um das Problem grundsätzlich in den Griff zu bekommen.
Das Programm, das ich Ihnen vorgestellt habe, konzentriert sich in der Tat auf eine Gruppe von Schülern,
bei denen sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat,
dass sie am meisten gefährdet sind, ohne Schulabschluss
zu bleiben. Vor einigen Jahren waren dies noch um die
80 000 Schüler pro Jahr. Die Zahl derer, die keinen
Schulabschluss machen, ist gesunken. Sie liegt jetzt
- wenn ich das letzte Jahr zur Grundlage nehme - bei
ungefähr 60 000. Auf diese Gruppe bezogen ist dieses
Programm angelegt.
Die Fragen, die Sie aufwerfen, beziehen sich auf den
Ausbildungspakt. In der letzten Legislaturperiode wurde
bereits eine Reihe von Maßnahmen begonnen. Ein Beispiel ist die Einstiegsqualifikation. Sie bietet denen, die
noch Schwächen haben, die Möglichkeit, nicht sofort in
eine Ausbildung im Sinne eines klassischen Ausbildungsvertrages einzusteigen, sondern zunächst eine Vereinbarung über eine Einstiegsqualifikation abzuschließen, mit der besondere Förderung und Entwicklung
verbunden sind, um auf dieser Grundlage in Ausbildung
zu kommen.
Bei den Zahlen aus dem letzten und aus diesem Jahr
ist unübersehbar, dass die Entwicklung im Vergleich zu
den Vorjahren deutlich positiver ist. Dies liegt an dem
Rückgang der Zahl der Bewerbungen aufgrund der demografischen Entwicklung. Das hat schon im letzten
Jahr dazu geführt, dass ein größerer Anteil der sogenannten Altbewerber, auf die Sie sich beziehen, in Ausbildung gekommen ist. Diesen Prozess wollen wir konsequent fortsetzen. Altbewerber kommen nun eher in
Ausbildung - auch wenn aufgrund der wirtschaftlichen
Situation hier und da ein Rückgang der Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze zu verzeichnen war -, weil die
Zahl der Bewerbungen so deutlich gesunken ist. Allein
in den nächsten zehn Jahren wird es einen Rückgang der
Zahl der Schüler um insgesamt 20 oder 25 Prozent geben. Daher glaube ich, dass die Situation im Vergleich zu
den Jahren, die hinter uns liegen, deutlich besser werden
wird.
Der Ausbildungspakt hilft, weil er um qualifizierende
Elemente erweitert worden ist und sich nicht nur auf die
Frage konzentriert, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Deshalb ist die Perspektive besser, als sie
war.
Herr Professor Neumann, bitte.
Sehr geehrte Frau Ministerin, bei einem wichtigen
Programm, das in der Zielrichtung richtig und dringend
notwendig ist, stellt sich immer auch die Frage nach der
Treffsicherheit. Meine konkrete Frage an dieser Stelle
lautet: Wie beurteilen Sie die Nachhaltigkeit dieses
neuen Programms? Denn es kommt ja darauf an, nicht
nur weitere Programme aufzulegen, sondern auch ein
Problem langfristig tatsächlich zu lösen. - Ich bedanke
mich.
Ich bewerte die Nachhaltigkeit und die Wirksamkeit
- auch in Kenntnis der Programme, die es bislang gibt als sehr hoch. Die zentrale Institution ist, den Schulen
die Kompetenz zu geben, eine Potenzialanalyse zu machen. Schulen, die in das Programm aufgenommen werden wollen, müssen zum Beispiel nachweisen, dass es
eine Lehrkraft gibt - so wie es Lehrer gibt, die andere
Sonderaufgaben haben -, die den Schwerpunkt Berufswahlorientierung übernimmt. Hierbei handelt es sich um
einen Kollegen oder eine Kollegin, der oder die die Aktivitäten koordiniert und die Verbindungen im Blick auf
die Berufsorientierung herstellt. Es soll einen sogenannten Berufswahlpass geben.
Die Grundstruktur ist, Jugendliche, ausgehend von
der Stärkenanalyse, zu begleiten, zu ermutigen und zu
vermitteln. Dabei muss man schauen, welche individuelle Förderung notwendig ist. Dies geschieht über den
Zeitpunkt des Schulabschlusses hinaus bis in das erste
Ausbildungsjahr hinein. Diese personale Begleitung ist
verbunden mit Elementen, mit Instrumenten, die wir
kennen und von denen die Experten sagen, dass sie uns
viel Aufschluss über das geben, was möglich ist. Ich
glaube, dass diese Verzahnung von unterschiedlichen
Elementen und diese starke personale Komponente eine
hohe Wirksamkeit ermöglichen. So war es jedenfalls bei
den Modellversuchen, in denen die Erfolgsquoten deutlich höher lagen als in den - so haben wir es bislang hin
und wieder bezeichnet - Warteschleifen.
Frau Hinz, bitte.
Frau Ministerin, wenn ich Sie recht verstanden habe,
dann legen Sie kein neues Programm auf, sondern weiten das alte Programm „Berufseinstiegsbegleitung“ aus.
Jetzt sprechen Sie allerdings von Bildungsketten. Um
Bildungsketten tatsächlich sicherzustellen, braucht man
einen Anschluss. Meine Frage ist, ob Sie auch mit den
Kammern Kooperationsvereinbarungen geschlossen haben. Sie hatten im Frühjahr angekündigt, dass Sie mit
den Unternehmen und den Kammern reden und Kooperationsvereinbarungen schließen, weil es notwendig ist,
dass die jungen Menschen, die eine Berufsorientierung
bekommen haben, hinterher auch eine Ausbildungsstelle
finden. Sonst landen wir wieder bei 1,9 Millionen jungen Menschen, die ohne Ausbildung irgendwo in Jobs
sind und oft keine Möglichkeit haben, jemals eine Berufsausbildung nachzuholen.
Ganz konkret: Sehen solche Kooperationsvereinbarungen vor, dass auch ein Übergang in die Ausbildung
stattfindet, und wollen Sie, ähnlich wie beim Hamburger
Modell, die Kooperationsvereinbarungen mit der Wirtschaft so absichern, dass ein Qualifizierungsjahr nach
der Schule dazu führt, dass das erste Jahr nach dem Curriculum des Berufsbildungsgesetzes stattfindet und auch
auf die Ausbildung anrechenbar ist?
Die Frage ist: Was ist jetzt neu? Neu ist: Erstens. Wir
gehen vom Modell in die Fläche.
Zweitens. Wir haben ausgewertet, welche Erfahrungen im Modell gesammelt wurden, und daraufhin das
endgültige Konzept erarbeitet.
Drittens. Kooperationsvereinbarungen mit den Kammern, mit der Wirtschaft sind Teil der Verhandlungen im
Ausbildungspakt und, so wie angekündigt, geplant. Die
Kammern werden sich voraussichtlich an genau diesem
Programm stark beteiligen. Das ist vergleichbar mit
dem, was wir bei den Einstiegsqualifikationen schon
praktiziert haben.
Ich bin auch deshalb zuversichtlich - Sie haben auf
das Beispiel Hamburg hingewiesen -, weil die Unternehmen bei diesem Thema die gleiche Perspektive haben wie der schulische Bereich. Sie stellen fest: Jetzt ist
für uns in allen Regionen in Deutschland zentral und bedeutsam, dass wir Qualifizierungsmaßnahmen mit dem
Einstieg in die Ausbildung verbinden, weil wir diese
jungen Leute brauchen.
Ich fasse zusammen: Es geht um Kooperationsvereinbarungen im Kontext des Ausbildungspaktes und die
Beteiligung der Kammern, übrigens auch als Bildungsträger, nämlich dann, wenn es um die neuen Personalmöglichkeiten geht. Ich glaube, dass auch hier gilt: Die
demografische Entwicklung - denken Sie nur an die
neuen Länder, wo es einen massiven Einbruch gibt wird bei den Unternehmen eine große Bereitschaft erzeugen, diese jungen Leute auch tatsächlich zu nehmen.
Herr Kretschmer, bitte.
Frau Bundesministerin, Sie sind für dieses Programm
sehr gelobt worden, auch von den Kammern. Können
Sie uns etwas zur Nachhaltigkeit sagen? Wie ist gesichert, dass dies nicht ein Prozess ist, der irgendwann endet, sondern dass wir das, womit wir jetzt beginnen, auf
Dauer haben werden?
Ein noch nicht genanntes Element der Nachhaltigkeit
ist, dass mit dem Einstieg in die Ausbildung, also in dem
Moment, in dem der Jugendliche in eine Ausbildung gekommen ist, die Begleitung nicht aufhört. Wenn der Eindruck entsteht, dass es wichtig ist, einen bestimmten Jugendlichen weiter zu begleiten, dann setzt der Teil des
Programms ein, der die ehrenamtliche Begleitung eines
Einzelnen, also im Verhältnis eins zu eins, vorsieht, und
zwar - sofern erforderlich - über die gesamte Ausbildung. Deshalb wird auch von „Kette“ gesprochen. Denn
wir wissen: Im ersten Ausbildungsjahr ist die Abbruchquote am höchsten. In der Zeit, in der es diese Klippe
gibt, wird die Begleitung des Jugendlichen fortgesetzt
werden. Auch das halte ich für ein gutes Zeichen von
Nachhaltigkeit.
Herr Rossmann.
Frau Ministerin, ich möchte zwei kleine Vorbemerkungen machen: Wäre es nicht günstiger, wenn wir von
„Bildungsbrücken“ und nicht von „Bildungsketten“
sprechen würden? Denn die jungen Menschen sollen
sich ja angenommen und geleitet fühlen, und die Assoziationen bei dem Wort „Kette“ sind manchmal eher andere.
Meine zweite Vorbemerkung. Der Herr Kollege
Kretschmer hat eben angesprochen, dass Sie für das Programm gelobt worden sind. Ich erinnere aber auch daran,
dass sich gerade die Kammern gefragt haben, weshalb
eigentlich aus dem Bundesbildungsministerium heraus
ein Parallelprogramm zu dem, was das Bundesarbeitsministerium schon lange gemacht hatte, entwickelt werden sollte. Wir freuen uns, dass Sie an dieser Stelle auf
das Bundesarbeitsministerium und die BA zugegangen
sind. Insoweit ist das Programm die Verlängerung dessen, was die zuständigen Minister in der Großen Koalition mit vorbereitet haben. Damit können SPD und
CDU/CSU jetzt entlang der gleichen Linie weiterarbeiten - auch über Sie.
Meine zwei Fragen: Erstens. Ist beabsichtigt, die Berufseinstiegsbegleiter entsprechend einer Quotierung auf
die Bundesländer zu verteilen, oder soll das unabhängig
von einer Zuteilung auf die jeweiligen Bundesländer erfolgen?
Zweitens. Wir verstehen es so, dass es eine Profilanalyse geben soll. Ist vorgesehen, dass diese Profilanalyse
bei allen Schülern der jeweiligen ins Auge gefassten
siebten Klassen vorgenommen werden soll, oder geschieht das individuell?
Ich stelle diese Fragen, damit wir dieses Programm
auch in der Fläche gut erklären können.
Zu Ihrer ersten Frage. Es gibt keine Länderquote, sondern die Verteilung ergibt sich letztlich aus dem Anteil
junger Leute ohne Hauptschulabschluss in einem Bundesland. Eine entsprechende Liste und die Prozentzahlen
liegen vor. Der Anteil der Hauptschüler ohne Abschluss
liegt in den 16 Bundesländern zwischen 0,8 Prozent und
um die 22 Prozent. Aufgrund der Logik, die ich eben beschrieben habe, ist klar: Das muss der Schlüssel sein.
Zur zweiten Frage. Hinsichtlich der Potenzialanalyse
beziehen wir uns in diesem Programm natürlich auf die
Schüler, die in diesem Kontext seitens der Schule als
diejenigen ausgewählt werden, von denen man sagt: Da
ist es besonders wichtig. - Die Potenzialanalyse spielt in
den Plänen der Länder aber generell eine sehr viel größere Rolle. Wenn ich es richtig sehe, dann gehört zu
einer anderen Vereinbarung auf dem Dresdener Gipfel
- und zwar in dem Kontext der Verringerung der Schulabbrecherquote - genau dieses Instrument als ein generelles Instrument in Klasse 7.
Herr Schummer.
Frau Ministerin, Sie haben noch einmal ein gemeinsames Ziel von Bund und Ländern benannt, nämlich die
Halbierung der Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss.
Ist erkennbar, dass durch die frühzeitige Berufsorientierung, die von der Bundesregierung jetzt seit einigen Jahren vollzogen wird, diese Abbrecherquote der Schüler
zurückgegangen ist?
Die Zahl der Schüler und Schülerinnen ohne Schulabschluss ist zurückgegangen. Die Zahl, die mir noch vor
einigen Jahren vorlag und über die wir auch in diesem
Hause gesprochen haben, lag bei 80 000. Sie war schon
deutlich höher. Selbst wenn man einen längeren Zeitraum in den Blick nimmt, muss man feststellen: Die
Zahl derer ohne Schulabschluss ist nicht gestiegen, sondern sie ist kontinuierlich abgebaut worden - mit unterschiedlichem Erfolg in den Bundesländern, wie die Zahlen zeigen; das ist wahr.
Wir haben jetzt über einen Zeitraum von, ich glaube,
drei Jahren eine Reduzierung von 80 000 auf 60 000 erlebt, sodass ich das Ziel, das wir uns gesetzt haben, nicht
für unrealistisch halte, zumal hinzukommt - das sage ich
auch noch im Hinblick auf das, was Herr Rossmann gesagt hat -, dass wir nicht nur mithilfe der BA an der einen oder anderen Stelle etwas tun - das war ja schon in
der letzten Legislaturperiode auf unsere Anregung hin
mit einzelnen Ländern so vereinbart -, sondern dass wir
das jetzt zu einem regulären Instrument in allen 16 Bundesländern machen.
Frau Hein.
Frau Ministerin, wir haben nicht nur eine geringere
Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern, sondern auch
Fachkräftemangel und sinkende Ausbildungsplatzzahlen. Insofern ist es schwierig, das zu vermitteln.
Ich glaube nicht, dass das Programm der Bildungsbegleiter die eigentliche Ursache beheben kann. Ich denke,
sie liegt im System Schule begründet; es geht nicht so
sehr um die Frage, wie man die Jugendlichen in den Beruf begleitet. Ein solches Programm kann das Problem
sicherlich lindern, aber nicht beheben.
Meine erste Frage ist, welche Förderinstrumente zusammengeführt werden sollen bzw. welche wegfallen.
Meine zweite Frage ist, was Sie unter bildungsgefährdeten Schülerinnen und Schülern verstehen.
Zu Ihrer letzten Frage: Das sind Schülerinnen und
Schüler, bei denen die Gefahr besteht, dass sie Bildungsangebote, die ihnen in der Schule gemacht werden, nicht
in Anspruch nehmen. Die Bildungsforscher haben in
vielfacher Weise einen engen Zusammenhang zwischen
dem soziokulturellen Umfeld, zum Beispiel schwierigsten familiären Verhältnissen, und der Möglichkeit beschrieben, die vorhandenen Chancen zu nutzen.
Bei Fachbegriffen kann man sich sicherlich die Frage
stellen, ob das, was damit gemeint ist, darin auch zum
Ausdruck kommt. Man kann immer neue Begriffe erfinden. Ob man Kette oder Brücke sagt, sei dahingestellt;
die Tatsache ist jedenfalls klar.
Wenn Sie die Ursache des Problems im System Schule
sehen, dann möchte ich darauf hinweisen - auch das gehört zu der Diskussion über unser Bildungssystem -, dass
zwischen 2007 und 2009 im OECD-Vergleich ein Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit - dazu zählen Jugendliche bis 25 Jahre - um 6 Prozent zu verzeichnen war. Im
Durchschnitt liegt die Jugendarbeitslosigkeit in dieser
Altersgruppe bei 19 Prozent. In Deutschland gab es in
dem genannten Zeitraum einen Rückgang, und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 10 Prozent.
Das zeigt, dass unser Zusammenspiel von allgemeiner
und beruflicher Bildung eine sehr starke Vorbeugung gegen Jugendarbeitslosigkeit darstellt, und zwar auch in
wirtschaftlich schwierigen Zeiten. In Deutschland
kommt wie in manch anderem europäischen Land eine
demografische Entwicklung hinzu, die das Interesse der
Unternehmen steigen lässt, ihre Ausbildungsplätze zu
besetzen.
Es ist richtig, dass die Zahl der Ausbildungsverträge
zurückgegangen ist, und zwar der letzten Statistik im
Berufsbildungsbericht zufolge um 8,2 Prozent. Die Zahl
der ausbildungsinteressierten Jugendlichen ist noch stärker zurückgegangen. Insofern hat sich die Situation, zumindest was die Chancen der Jugendlichen angeht, verbessert, und das wird sich in den nächsten Jahren massiv
fortsetzen.
Welche Elemente sind zusammengeführt worden?
Zusammengeführt wurden, wie gesagt, die Potenzialanalyse, also die Analyse von Stärken, und das darauffolgende Erstellen eines individuellen Förderplans für die
letzten Schuljahre, verbunden mit einer Berufsorientierung. Die Berufsorientierung wird zu unterschiedlichen
Zeiten angeboten. Berufsorientierung klingt lapidar, aber
die Erfahrung hat gezeigt, dass genau dadurch die Jugendlichen neu motiviert wurden, zu klären, welche
Richtung sie einschlagen wollen und welche Kompetenzen, bis hin zu zusätzlichen Qualifizierungsmaßnahmen,
dafür notwendig sind. Bei Qualifizierungsmaßnahmen in
der Ausbildung denke ich etwa an die sozialpädagogischen Ausbildungshilfen, die gerade in schwierigen Fällen in der ersten Ausbildungsphase eine wichtige Rolle
spielen und die Arbeit der Ausbilder unterstützen.
Herr Kamp, bitte.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich hätte gerne gewusst,
ob die Potenzialanalyse bundesweit und zeitlich einheitlich verläuft, und wenn nicht, wer die Kriterien festlegt.
Seitens des Bundes sind von einer Expertengruppe
Mindeststandards für diese Potenzialanalysen erarbeitet
worden, die jetzt allen 16 Ländern zur Verfügung stehen.
Auf dieser Grundlage werden die Analysen erstellt werden.
Frau Deligöz.
Frau Ministerin, man kann heute der Zeitung entnehmen, dass der Anteil der Migranten, die die Schule ohne
Abschluss verlassen, von Tag zu Tag zunimmt und inzwischen eine sehr hohe Zahl erreicht hat. In der Altersgruppe der über 20-Jährigen besitzt derzeit jeder dritte
Mensch mit Migrationshintergrund keinen Abschluss.
Ihre Kollegin in Niedersachsen, Frau Özkan, sagt in diesem Zusammenhang, Begleitung allein reiche da nicht
aus, sondern man brauche mehr. Erstens würde mich natürlich interessieren, wie Sie zu den diesbezüglichen
Forderungen Ihrer Kollegin stehen, die ja eindeutig sagt,
dass eine Bildungskette mit Profiling und Begleitung,
wie Sie es nennen, in der Form nicht ausreichend ist.
Bei meiner zweiten Frage geht es um den von Ihnen
verwendeten Begriff Zielgenauigkeit. Wie werden Sie
die Bildungslotsen qualifizieren und auswählen, um
ganz besonders auch Migrantinnen und Migranten zu erreichen?
In der Gruppe der Menschen ohne Schulabschluss
liegt in der Tat der Anteil der Migranten je nach Land bei
bis zu 40 Prozent. Deshalb ist klar, dass dieses Programm nicht die einzige Antwort auf dieses Thema sein
kann. Wir haben schon in den letzten Jahren viel erreicht, bis hin zu Regionalkonferenzen etwa mit Unternehmern mit eigener Migrationsgeschichte, um diese
Unternehmen und Unternehmer sowie ihre Ausbilder als
Brückenbauer zu gewinnen. Sowohl im Bereich der
Ausbilder als auch im Bereich der Berufsbegleiter ist es
wichtig, auch Menschen mit eigener Migrationsgeschichte zu finden, die die spezifischen Probleme kennen. Hinzu kommen natürlich die Maßnahmen, die im
Nationalen Integrationsplan vereinbart worden sind. Für
diese Gruppe der Jugendlichen spielt zum Beispiel die
Erweiterung der Sprachkompetenz eine große Rolle.
Ebenso wichtig ist es, Unternehmen zu finden, die unsere deutsche Ausbildungskultur auch praktizieren. Ein
hoher Prozentsatz der Unternehmen, deren Besitzer eine
Migrationsgeschichte haben, hat über eine lange Zeit
diese Ausbildungskultur gar nicht praktiziert. Im Zusammenhang mit dem Nationalen Integrationsplan ist hier
ein sehr viel weitergehendes Bündel verabredet worden.
Das ist nur ein Baustein, allerdings wird dieser Baustein
auch bei diesen Jugendlichen eine hohe Wirksamkeit
entfalten.
Herr Feist, bitte.
Frau Ministerin, auch ich möchte gern noch einmal
bei den Berufseinstiegsbegleitern, den sogenannten Bildungslotsen ansetzen. Im Gespräch mit den Kammern ist
mir signalisiert worden, dass vor allen Dingen die älteren Menschen ein sehr großes Interesse haben, ihre Erfahrungen in diesem Bereich mit einzubringen. Deswegen meine Frage: Inwiefern wird die Arbeit der
hauptamtlichen Berufseinstiegsbegleiter möglicherweise
durch ehrenamtliches Engagement erweitert und verstärkt werden können?
Neben den hauptamtlichen Begleitern wird es ehrenamtliche Begleiter geben, nicht so sehr für die Phase der
Schulzeit, sondern für die Begleitung insbesondere nach
dem ersten Ausbildungsjahr, also gleichsam eine Begleitung mit Blick auf die Kontinuität des Ausbildungsverhältnisses. Diese ehrenamtlichen Begleiter können sich
beim Senior-Experten-Service bewerben, der ja bereits
existiert. Das Arbeitsministerium ist mit einbezogen. Es
ist in der Tat interessant, dass sich schon am Tag der
Pressekonferenz eine Menge älterer Menschen oder Senioren gemeldet haben, die zum Teil eine pädagogische
Qualifikation besitzen oder auf eine pädagogische Laufbahn oder eine Ausbilderlaufbahn zurückblicken und
nun sagen: Hier würde ich mich gerne engagieren. - Ich
finde, das ist eine gute Ergänzung und ermöglicht uns,
nicht am Tag des Beginns der Ausbildung aufzuhören,
sondern sehr individuell etwas für die Kontinuität der
Ausbildung zu tun, weil sich ein Begleiter um einen Jugendlichen kümmert.
Die letzte Frage kommt von Frau Sager.
Frau Ministerin, die Risikogruppe, über die wir sprechen, wird zum Teil mit Mitteln der Bundesagentur für
Arbeit - ich nenne als Stichworte das Nachholen eines
Hauptschulabschlusses oder die Berufsausbildungsbeihilfe - gefördert. Nun haben wir aber erfahren, dass es
im Rahmen des Sparpakets der Bundesregierung erhebliche Einsparungen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik geben soll. Die Rede ist von 16 Milliarden Euro
bis 2014. Jetzt stellt sich die Frage: Werden die Maßnahmen für die Risikogruppe, über die wir reden, von diesen
Einsparungen betroffen sein? Kann das Bundesbildungsministerium etwas dafür tun, dass sich die Chancen dieser Risikogruppe, einen Hauptschulabschluss nachzuholen, nicht verschlechtern?
Ja, das kann es. Das Programm sieht vor, dass der
Wechsel vom Modell in die Fläche ergänzend aus dem
Bildungshaushalt bezahlt wird und dass die Bundesagentur für Arbeit in diesem Kontext die Rolle des Projektträgers wahrnimmt, und zwar mit Investitionsmöglichkeiten im Rahmen des Bildungsetats. Das ist die Chance,
damit in die Fläche zu gehen. Die gemeinsame Finanzierung aus BA-Mitteln wie bisher und den Mitteln des
BMBF ist gesichert und wird nicht von den Sparmaßnahmen betroffen sein.
({0})
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/2059, 17/2111 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziffer 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage 1 der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink auf
Drucksache 17/2111 auf:
Was plant die Bundesregierung sofort zu tun, um im Falle
einer Insolvenz der City BKK oder der BKK Heilberufe oder
beider Betriebskrankenkassen, von der verschiedene Zeitungen ({0}) am 14. Juni 2010 berichteten, den Verbund der Betriebskrankenkassen durch die Haftung für die Insolvenz nicht
selbst in Bedrängnis zu bringen und einen Dominoeffekt innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen zu verhindern?
Es geht um den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Der Parlamentarische Staatssekretär Daniel Bahr steht zur Beantwortung bereit.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Klein-Schmeink, die Bundesregierung sieht derzeit keinen gesetzlichen Handlungsbedarf. Akut von einer
Schließung bedroht ist nach unseren Erkenntnissen nur
die City BKK, da Bemühungen, eine Vereinigung dieser
Krankenkasse mit anderen Krankenkassen herbeizuführen, keinen Erfolg gehabt haben. Bei anderen Betriebskrankenkassen ist die Finanzlage als nicht so vergleichbar kritisch anzusehen wie bei der City BKK. Außerdem
ist es nicht ausgeschlossen, dass bei diesen Krankenkassen eine Vereinigung mit einer anderen Betriebskrankenkasse zustande kommt. Das im Fall einer Schließung der
City BKK von den übrigen Betriebskrankenkassen zu
tragende Haftungsvolumen dürfte nicht zu einer Überforderung des Systems der Betriebskrankenkassen führen. Der BKK-Bundesverband prüft derzeit zusammen
mit den Landesverbänden der Betriebskrankenkassen
eine tragfähige Umsetzung.
Frau Klein-Schmeink, eine Nachfrage?
Ihrer Antwort entnehme ich, dass es aus Ihrer Sicht
keinen ausdrücklichen Handlungsbedarf gibt. Können
Sie für dieses Jahr ausschließen, dass eine größere Ersatzkrankenkasse in Zahlungsschwierigkeiten gerät, und,
falls ja, welche Auswirkungen hätte dieser hypothetische
Fall für das System der Ersatzkrankenkassen?
Die mir in der Frage unterstellte Äußerung, es gebe
keinen Handlungsbedarf, weise ich zurück; das habe ich
nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass es keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt; denn es gibt klare
Regeln, die der letzte Bundestag in Gesetzesform gegos4896
sen hat, die den Umgang mit der Zahlungsunfähigkeit
von Krankenkassen betreffen, wozu deren mögliche
Schließung, aber auch andere Wege gehören. Insofern
gibt es einen Rahmen für genau solche Fälle. Es besteht
Handlungsbedarf. Ich habe lediglich gesagt, dass es im
Falle der City BKK keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt.
Zu Ihrer zweiten Frage: Das Bundesministerium für
Gesundheit beschäftigt sich nicht mit hypothetischen
Fällen. Es gibt einen klaren gesetzlichen Rahmen. Wir
sind in Gesprächen mit dem Bundesversicherungsamt,
der Aufsicht für die bundesunmittelbaren Kassen, und
auch mit den Landesaufsichten, die für die Krankenkassen zuständig sind, die ihnen unterstellt sind. Wir wissen
um die finanzielle Lage einiger Krankenkassen, die als
schwierig bzw. ernst zu bezeichnen ist. Die Krankenkassen haben Möglichkeiten, im heutigen System mit dem
Gesundheitsfonds und den Zusatzbeiträgen auf schwierige Finanzlagen zu reagieren. Es gibt auch Gespräche in
den Verbänden der Kassenarten über die Lösung finanziell schwieriger Lagen in einzelnen Krankenkassen. Es
gibt mehrere Möglichkeiten, diese Probleme zu lösen,
unter anderem kann man über Fusionen Krankenkassen
mit einer schwierigen Finanzlage helfen. Wir sehen im
Moment neben der City BKK keinen zweiten Fall. Sie
haben auf die Finanzlage einer großen Ersatzkrankenkasse angespielt. Deren Lage bessert sich durch die
Möglichkeiten, die der Gesundheitsfonds und Zusatzbeiträge schon heute bieten.
Eine weitere Nachfrage, bitte sehr.
Die Zusatzbeiträge haben zu der Schieflage der in der
Presse genannten Betriebskrankenkassen erheblich beigetragen, weil sie dazu geführt haben, dass es einen zusätzlichen Mitgliederschwund gegeben hat. Jetzt wird in
der Diskussion auch erwogen, die Beschränkung der
Einkommensgrenze bei den Zusatzbeiträgen aufzuheben
oder auf 2 Prozent zu erhöhen. Wie schätzen Sie das ein?
Kann ein solches Instrument überhaupt dazu führen, den
Mitgliederschwund bei den kleineren Krankenkassen zu
stoppen?
Dass es zu Mitgliederbewegungen zwischen gesetzlichen Krankenkassen kommt, ist ein Wunsch aller Fraktionen hier im Deutschen Bundestag in den vergangenen
Jahren gewesen, weil wir den Wettbewerb zwischen den
Krankenkassen wollten. Die Mehrheit des Deutschen
Bundestages in der letzten Legislaturperiode hat mit dem
Aufbau des Gesundheitsfonds und der Schaffung der
Möglichkeit, Zusatzbeiträge zu erheben, den Wettbewerb intensivieren wollen. Man wollte über die Zusatzbeiträge einen zusätzlichen Wettbewerbsparameter setzen, damit für die Versicherten klarer wird, wie die
Leistungsfähigkeit einer Krankenkasse ist. Insofern ist
es nicht Ziel der aktuellen Bundesregierung, Maßnahmen zu ergreifen, die den Kassenwechsel erschweren. Es
ist in einem System des Wettbewerbs zwischen den
Krankenkassen in unserem Interesse, dass Versicherte
die Wahlmöglichkeit haben, auch um die Erhebung eines
Zusatzbeitrags für sich persönlich zu vermeiden.
Wir arbeiten angesichts der aktuellen Defizite in diesem Jahr und des Defizits der gesetzlichen Krankenversicherung im nächsten Jahr daran, die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt nachhaltig,
stabil und gerecht auszugestalten. Das Konstrukt des Gesundheitsfonds mit den Zusatzbeiträgen und der Überforderungsgrenze von 1 Prozent gibt den gesetzlichen Krankenkassen nicht den nötigen Spielraum, auf dieses Defizit
zu reagieren und der Finanzlage gerecht zu werden. Deswegen hat sich die Koalition in der Koalitionsvereinbarung das gemeinsame Ziel gesetzt, zu einer anderen Finanzierung zu kommen. Es finden derzeit Gespräche in
den Koalitionsfraktionen statt - das können Sie der öffentlichen Berichterstattung entnehmen -, wie diese Vorgabe im Koalitionsvertrag umgesetzt werden kann. Dabei
wird es auch um Einsparungen bei den Ausgaben gehen,
um das Defizit im nächsten Jahr zu senken. Es geht aber
auch um die Frage, wie wir die Finanzierung so nachhaltig gestalten, dass Krankenkassen nicht durch das Konstrukt des Gesundheitsfonds und des Zusatzbeitrags in
Schwierigkeiten kommen und die Gesamtsumme, die sie
vielleicht bräuchten, gar nicht zusammenkommt.
Herr Terpe.
Herr Staatssekretär, noch eine Nachfrage. Sie haben
berechtigterweise gesagt, dass Sie aktuell keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen. Ich möchte Sie in
diesem Zusammenhang fragen, ob Sie in Zukunft einen
solchen Bedarf sehen werden. Inwieweit spielen in der
Koalition Überlegungen zur Regionalisierung der Kassenbeiträge als Reaktion auf die Insolvenz von Krankenkassen eine Rolle?
Ihre Frage danach, ob es in Zukunft gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt, kann man leicht beantworten: Ja, ihn wird es weiter geben. Wir werden nämlich
immer nachprüfen müssen, ob die Vorgaben passen. Wie
ich eben gesagt habe, gibt es auch im Hinblick auf das
Finanzsystem der gesetzlichen Krankenversicherung
akuten gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Was die Finanzierungsregelung für die gesetzlichen Krankenkassen
angeht: Daran arbeiten wir gemeinsam in der Koalition.
Noch in diesem Jahr wird es zu dem angekündigten Gesetzgebungsverfahren kommen.
Darüber hinaus haben Sie nach Überlegungen zur Regionalisierung der Kassenbeiträge gefragt. Mir ist nicht
klar, inwiefern das im Zusammenhang mit einer Insolvenz einer Krankenkasse wie der City BKK eine Rolle
spielt. Ich darf aber sagen: Auch hier ist der Koalitionsvertrag eindeutig. Wir wollen auch hier durch das neue
Finanzsystem eine stärkere Regionalisierung erreichen.
Die Beiträge an die regionalen Krankenkassen sollen
also weiterhin für die Versorgung in der Region zur Verfügung stehen. Die Koalition hat sich das Ziel einer Beitragsautonomie - die Krankenkassen sollen selbst über
die Höhe ihrer Beiträge entscheiden können - gesetzt;
das können Sie dem Koalitionsvertrag entnehmen. Ihm
fühlen sich alle drei die Koalition tragenden Parteien
verpflichtet.
Herzlichen Dank. - Nach der dringlichen Frage auf
Drucksache 17/2111 kämen wir jetzt zur Frage 42 des
Kollegen Harald Weinberg auf, ebenfalls zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Diese Frage wird gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien
für die Fragestunde vorgezogen. Diese Frage wird jedoch schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den übrigen Fragen auf Drucksache 17/2059 in der üblichen Reihenfolge.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim
Fuchtel bereit.
Zunächst kommen wir zur Frage 1 der Abgeordneten
Martina Bunge. Dabei geht es um die Ungleichbehandlung unverheirateter gegenüber verheirateten Paaren bei
der Arbeitslosigkeit eines Partners in Bezug auf Arbeitslosengeld II und Krankenversicherung. Diese Frage wird
schriftlich beantwortet.
Bei den Fragen 2 bis 8 geht es um den missbräuchlichen Einsatz von Zeitarbeit.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Matthias
Birkwald auf:
Bei wie viel Prozent der Verleihunternehmen nehmen die
Regionaldirektionen der Bundesagentur für Arbeit jährlich
örtliche Prüfungen vor, und was sind die häufigsten festgestellten Mängel?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Birkwald, zunächst einmal möchte ich
darauf hinweisen, dass die Prüfung durch die Regionaldirektionen der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt
wird; das ist Ihnen bekannt. Sie haben im Jahr 2008 insgesamt 1 440 und im Jahr 2009 1 429 örtliche Prüfungen
vorgenommen. Ins Verhältnis zur Anzahl der Erlaubnisinhaber gesetzt, sind dies im Jahr 2008 9,02 Prozent und
2009 8,58 Prozent. Bis zum 4. Juni dieses Jahres wurden
insgesamt 686 örtliche Prüfungen durchgeführt. Ich möchte
darauf hinweisen, dass neben den örtlichen Prüfungen
weitere Prüftätigkeiten durch die Agenturen erfolgen. Die
Regionaldirektionen prüfen darüber hinaus Geschäftsunterlagen sowie Arbeits- und Überlassungsverträge, die sie
sich vorlegen lassen, auf Verletzung arbeitsrechtlicher
und arbeitnehmerüberlassungsrechtlicher Regelungen.
Was sind nun die am häufigsten festgestellten Mängel? Ich nehme zum einen Bezug auf den Elften Bericht
der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes; Details
dazu enthält Drucksache 17/464, Seiten 15 bis 17. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Ich nenne vielmehr
neun Beispiele, die besonders gravierend sind:
Erstens verweise ich auf die falsche Anwendung der
Tarifverträge, insbesondere auf nicht korrekte Einstufungen gemäß der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit und der
im Tarifvertrag bezeichneten Tätigkeitsmerkmale.
Zweitens gibt es sehr viele Verstöße beim Thema Urlaub. Urlaubsansprüche bzw. Urlaubsabgeltungen werden oft nicht vollständig gewährt.
Drittens. Verstöße gegen das Entgeltfortzahlungsgesetz, insbesondere bezüglich Feiertagen.
Viertens. Verstöße gegen das Teilzeit- und Befristungsgesetz.
Fünftens. Unzureichende und verspätete Abführung
der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern. Das
kennen wir aber auch aus anderen Bereichen; das ist hier
kein Spezifikum.
Sechstens. Mangelhafte Büroorganisation, fehlende
bzw. fehlerhafte Dokumentationen der Geschäftsvorfälle,
insbesondere der Arbeitszettel.
Siebtens. Falsche Lohn- und Gehaltsabrechnungen.
Achtens. Verstöße gegen Mindestlohnbestimmungen.
Insbesondere im Maler- und Lackiererhandwerk wurden
solche Verstöße festgestellt.
Neuntens. Verletzungen des sogenannten Gleichstellungsgrundsatzes.
Das sind die wesentlichen Monita, die hier auftreten.
Eine Nachfrage, Herr Birkwald.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr
Staatssekretär, für die Antwort. Ich möchte Sie vor dem
Hintergrund der Tatsache, dass jetzt aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein Diskussionsentwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vorliegt, fragen, wie die Bundesregierung diese
Ergebnisse bewertet, welchen Handlungsbedarf sie daraus ableitet und ob sie die Prüfmöglichkeiten der BA
und deren personelle Ressourcen insofern für ausreichend hält.
Die personellen Ressourcen haben wir um 30 Prozent
erhöht. Gleichzeitig haben wir der BA empfohlen, weitere Aktivitäten zu entfalten, um die Prüfungsprozesse
noch effizienter zu machen. - Das zum Ersten.
Zum Zweiten. Die Möglichkeiten, gegen solche Verstöße vorzugehen, sind sehr umfassend, dazu gehören
auch Sanktionsmöglichkeiten. Es wird nicht nur gebellt,
sondern es wird auch gebissen. Es können Sanktionen
von bis zu 500 000 Euro verhängt werden.
Ich darf noch ein paar Zahlen anfügen, damit man die
Entwicklung sieht. Wir hatten im Jahr 2005 514 Bußgeldverfahren und im Jahr 2008 - das ist die jüngste
Zahl, die mir vorliegt - 2 139. Die gröbsten Verstöße liegen dann vor, wenn die Verleihung praktisch ohne gültige Erlaubnis stattfindet. Wie ich schon gesagt habe,
sind in diesen Fällen Bußgelder bis zur Höhe von
500 000 Euro möglich. Dieser Rahmen als solcher ist
aus unserer Sicht wirksam und ausreichend.
Sie haben darauf hingewiesen, dass es Bemühungen
gibt, durch weitere gesetzliche Maßnahmen Löcher, die
sich immer wieder auftun, künftig zu vermeiden bzw. zu
schließen. Dem gelten unsere künftigen Bemühungen.
Wir möchten erreichen, dass die Verleiharbeitsverhältnisse sehr sauber und auch fair gehandhabt werden.
Sie haben noch eine zweite Nachfrage. Bitte sehr.
Ich möchte an das Stichwort „Bemühungen“ anknüpfen und Sie fragen, wie Sie denn sicherstellen, dass die
vor Ort bemängelten Probleme tatsächlich behoben werden. Inwiefern erfolgen Nachkontrollen vor Ort, und
welche Ergebnisse gibt es?
Das werden wir sehen, wenn die Ergebnisse vorliegen. Zunächst einmal müssen wir die Vorbereitungen
treffen, um das entsprechend zu gestalten. Wir werden
uns darum bemühen, die Punkte besonders aufmerksam
zu verfolgen, die ich vorher genannt habe.
({0})
Sie dürfen nicht mehr fragen, weil Sie nur zwei Nachfragen stellen dürfen.
Ich kann das gern noch vervollständigen. Natürlich
wird es verstärkt Nachkontrollen geben.
Frau Krellmann, bitte.
Sehr geehrter Herr Fuchtel, meine erste Frage lautet:
War die Strafe von 500 000 Euro, von der Sie gerade gesprochen haben, das Ergebnis eines Verstoßes oder das
Ergebnis einer Summe von Verstößen? Wenn es ein einzelner Verstoß war, würde mich interessieren, aus welchem Grund man eine Strafe in der Größenordnung von
500 000 Euro bekommt.
Zweitens. Gab es Fälle, in denen die Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis komplett entzogen wurde?
Ich habe hier nicht von einem Fall berichtet, sondern
ich habe den Rahmen für das Bußgeld aufgezeigt. Ich
habe keine Aussage getroffen, in wie vielen Fällen ein
Bußgeld in einer bestimmten Höhe verhängt worden ist.
Das kann ich anhand der Unterlagen, die mir hier vorliegen, auch nicht leisten. Wenn Sie allerdings genauere
Auskunft wünschen, würde sich mein Haus bemühen,
Ihnen noch einmal nähere Details mitzuteilen.
Die Frage 3 der Abgeordneten Dittrich:
Wie definiert die Bundesregierung einen „unsachgerechten Einsatz“ von Leiharbeit, wenn neben der Personalplanung
und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten auch der „sachgerechte Einsatz“ der Zeitarbeit nach
Auffassung der Bundesregierung gemäß ihrer Antworten auf
die Kleinen Anfragen der Fraktion Die Linke „Leiharbeit in
Krankenhäusern“ und „Lohndumping-Leiharbeit von Redakteurinnen und Redakteuren in Zeitungsverlagen“ ({0}) in der Verantwortung
der Krankenhäuser und Zeitungsverlage liegt, und auf welche
gesetzliche Regelung stützt sich die Bundesregierung bei ihrer
Definition?
Zur Interpretation von „unsachgerechtem Einsatz“
von Leiharbeit darf ich Ihnen sagen: Die Entscheidung
darüber, wann der Einsatz von Zeitarbeit in einem Unternehmen nicht mehr sachgerecht ist, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Dabei spielt neben der Beachtung des
rechtlichen Rahmens des Einsatzes insbesondere die unternehmerische Entscheidung eine Rolle, mit welchem
Personaleinsatz die unternehmerischen Ziele verfolgt
werden sollen. Sofern der Einsatz von Zeitarbeit allerdings dazu genutzt wird, um Stammbelegschaften systematisch zu ersetzen - um damit ganz konkret auf Ihre
Frage zu antworten -, entspricht das nicht den Intentionen des Gesetzgebers. Ein solcher Personaleinsatz kann
nicht als sachgerecht angesehen werden.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Vielen Dank zunächst für die Beantwortung der
Frage. - Meine Nachfrage lautet: Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen unter den derzeitigen Bedingungen für die Beschäftigten - das sind Leiharbeitskräfte
und Beschäftigte im Entleihbetrieb -, weiterhin für Betriebsräte, Gewerkschaften oder auch für die Bundesagentur für Arbeit, um gegen einen unsachgerechten
Einsatz von Leiharbeit, nämlich die systematische Ersetzung der Stammbelegschaft, vorzugehen? Erachtet die
Bundesregierung diese als ausreichend?
Das ist ein ganzes Bündel von Einzelpunkten.
Erstens zu den Möglichkeiten des Arbeitnehmers: Er
kann sich an die Agentur wenden und auf entsprechende
Situationen hinweisen.
Zweitens. Was vonseiten der Agenturen getan werden
kann, habe ich vorhin schon aufgezeigt.
Das sind im Wesentlichen die Möglichkeiten, wie hier
agiert werden kann und auch in der Praxis agiert wird.
Sie haben eine zweite Nachfrage.
Welche konkreten gesetzgeberischen Änderungen plant
denn die Bundesregierung, um den unsachgemäßen Einsatz von Leiharbeit zu verhindern? Können Sie bitte darstellen, wieso der Presse, zum Beispiel einem Artikel im
Tagesspiegel, bereits am 12. Juni zu entnehmen war,
dass es Diskussionsvorschläge zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes gibt, diese Information
aber nicht den Abgeordneten zur Verfügung gestellt
wurde.
In Ihrer Frage schwingt ein wenig ein Vorwurf mit;
diesen möchte ich als Erstes einmal ausräumen. Das
Ministerium sieht sich veranlasst, in Überlegungen einzutreten, wie man auch im gesetzlichen Bereich weitergehende Regelungen treffen könnte. Dazu besteht auch
aus anderen Gründen Anlass, weil eine europäische
Richtlinie kommen und dadurch im nächsten Jahr in Europa noch mehr Freizügigkeit gelten wird.
Nun zum Ablauf: Dieser erste Diskussionsentwurf,
der zunächst einmal keinerlei weitergehende Verbindlichkeit besitzt, als dass entsprechende Überlegungen im
Ministerium angestellt wurden, soll nun in einem weiteren Bereich besprochen werden. In einer zweiten Phase
wird dies sicherlich in einen Referentenentwurf münden,
der dann, wie üblich, in das Gesetzgebungsverfahren
eingebracht wird. So weit sind wir allerdings im Augenblick noch nicht. Wir stehen ganz am Anfang der Überlegungen. Diese Überlegungen haben zum Ziel, dort, wo
der Tarifvertrag notwendige Regelungen nicht enthält,
weitergehende rechtliche Regelungen zu treffen, die in
mehreren Bereichen angesiedelt sein werden. Damit tragen wir der Bedeutung der Gesamtmaterie Rechnung. Es
geht dabei auch um den sogenannten Drehtüreffekt, den
wir im Fall von Schlecker kennengelernt haben. Dieser
Effekt muss unbedingt vermieden werden. Wir müssen
zum Beispiel Maßnahmen ergreifen, um die Verleiharbeit auf eine noch sicherere Grundlage zu stellen und
entsprechend abzugrenzen.
({0})
Eine Nachfrage der Kollegin Zimmermann.
Danke schön. - Herr Staatssekretär, ich finde es gut,
dass wir uns heute so intensiv mit dem Thema Leiharbeit
beschäftigen. Sie haben davon gesprochen, dass es in
den Leiharbeitsfirmen viele Kontrollen gibt. Angesichts
der Tatsache, dass 95 Prozent der Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter zum Lohn für Helfertätigkeiten arbeiten,
obwohl sie eine Facharbeiterausbildung haben und dementsprechend eingesetzt werden, muss ich Sie fragen, ob
auch Sie der Meinung sind, dass es zu wenige Kontrollen gibt.
Zur Intensivierung der Kontrollen steht den Arbeitsagenturen zusätzliches Personal zur Verfügung. Dies
zeigt schon Wirkung. Ich habe vorhin die Zahlen vorgelesen. Fast 10 Prozent der Betriebe werden jedes Jahr geprüft. Das ist schon eine sehr beachtliche Zahl. Der überwiegende Teil der Unternehmen in diesem Sektor
beachtet die Vorschriften. Es ergibt also keinen Sinn, alle
Unternehmen jedes Jahr nur um der Prüfung willen zu
überprüfen.
Wenn man allerdings feststellen sollte, dass sich ein
erhöhter Prüfbedarf ergibt, dann sollte die Anzahl der
Prüfungen erhöht werden. Es ist ganz klar, dass hier, sobald Bedarf besteht, gehandelt werden muss. Dieser
Aufgabe muss nachgekommen werden.
Frau Krellmann, bitte.
Vielen Dank. - Ich möchte anknüpfen an Ihre Antwort auf die Frage meiner Kollegin Heidrun Dittrich, die
richtigerweise gesagt hat, dass es anscheinend einen Diskussionsentwurf gibt - auch ich habe das gelesen -, den
die Presse zwar kennt, aber den wir als Parlamentarier
nicht kennen, was ich persönlich ausgesprochen schade
finde. Da es also kein Geheimnis ist, kann man hier auch
darüber reden. Daher hätte ich von Ihnen gerne gewusst,
wie Sie diesen Drehtüreffekt in Ihrem Gesetzentwurf behandeln wollen.
Ich gehe davon aus, dass Ihnen parlamentarische Abläufe bekannt sind. Auch Sie würden dann, wenn Sie
neue Konzeptionen auf den Weg bringen wollen, erst
einmal eine Diskussionsgrundlage schaffen. Auch das
Ministerium muss zunächst einmal diese Grundlage
schaffen. Ich halte es für wichtig, dass dies zum jetzigen
Zeitpunkt geschieht. Man hätte sich auch andere Handlungsszenarien vorstellen können, bei denen ein entsprechendes Ergebnis noch lange auf sich warten ließe.
Diese Regierung ist sich ihrer Verantwortung in diesem Bereich bewusst. Deswegen legt meine Ministerin
größten Wert darauf, dass der Diskussionsprozess mit
diesem Papier begonnen wird. Dass es einige Zeit
braucht, bis dieser Prozess in den parlamentarischen
Kreisen Einzug hält, habe ich vorhin erläutert. Denn bevor eine Grundlage in Form eines Gesetzentwurfes oder
eines Referentenentwurfes geschaffen wird, muss es eine
Diskussion geben, die in der Öffentlichkeit beginnt, die
aber aufgrund des üblichen Ablaufs den parlamentarischen Bereich zunächst noch nicht umfasst.
Ich möchte trotzdem auf die von Ihnen gestellte
Frage, wie man einen solchen Drehtüreffekt vermeiden
könnte, noch etwas sagen. Es geht zunächst einmal um
die Frage, welche Konstruktion umfasst werden soll.
Hier muss man abklären, ob auch die Auszubildenden
davon erfasst werden sollen, weil es sonst in der Praxis
Handhabungen dergestalt geben könnte, dass jemand
ausgebildet wird und es anschließend heißt: Du kannst in
diesem Unternehmen nicht arbeiten; aber du kannst natürlich in unserem Zeitarbeitsunternehmen zu anderen
Bedingungen arbeiten.
Hier muss man einen Zeitfaktor einführen. Ein solcher Zeitfaktor müsste im Gesetzentwurf angesetzt werden. Es könnte ein halbes Jahr vergehen, bis jemand wieder als Zeitarbeitnehmer beschäftigt werden kann, ohne
dass er als vorherbeschäftigt gilt. Das wollte ich Ihnen
ganz konkret dazu sagen.
Jetzt kommt die Frage 4 der Abgeordneten
Zimmermann:
Welche Ergebnisse hat das Prüfverfahren des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ({0}) bisher gebracht, insbesondere
bezogen darauf, ob die Firma Schlecker im letzten Jahr durch
die Kooperation mit der Leiharbeitsfirma Meniar gegen die
bestehenden Vorschriften der Leiharbeit verstoßen hat und ob
die bereits bei Meniar beschäftigten Arbeitnehmer/-innen
weiter an Schlecker ausgeliehen werden?
Zur Frage 4 darf ich Ihnen wie folgt antworten: Die
vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales durchgeführte Prüfung hat keinen belastbaren Hinweis ergeben, dass das Unternehmen Schlecker XL GmbH im
letzten Jahr durch die Kooperation mit dem Zeitarbeitsunternehmen Meniar gegen Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes verstoßen hat. Wie bereits in
der Antwort vom 20. Januar 2010 auf eine schriftliche
Frage von Ihnen dargestellt worden ist und zu lesen ist,
hat das Unternehmen Schlecker am 12. Januar 2010 mitgeteilt, „das 2009 erprobte Personalmodell unter Inanspruchnahme von Personaldienstleistern … nicht mehr
weiter fortzusetzen“.
Darüber hinaus hat mir mein Haus mitgeteilt: Gegen
die Mitteilung von einzelnen auf ein bestimmtes Unternehmen bezogenen Daten im Rahmen der öffentlichen
Fragestunde bestehen datenschutzrechtliche Bedenken.
Sie haben eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Danke schön. - Es ist wichtig, zu wissen, ob es wirklich einen Gesetzentwurf gibt. Sie haben sich dazu nicht
konkret geäußert, haben aber davon gesprochen, dass Sie
schon Fristen festgelegt haben. Gibt es jetzt einen Gesetzentwurf, den wir als Abgeordnete noch nicht kennen,
oder gibt es ihn noch nicht? Zumindest im Tagesspiegel
vom 12. Juni ist ein solcher zitiert worden.
Sie sprechen hier von einem Gesetzentwurf, der noch
keiner ist. Ich habe ausdrücklich gesagt, dass dies ein
Diskussionsentwurf ist, der in der Koalition besprochen
werden wird. Daraus werden sich weitere Entwicklungen gestalten lassen, die zu einem Gesetzentwurf führen
können. So ist der Sachverhalt und nicht anders.
Wenn ich Ihnen jetzt ein Detail genannt habe, dann
deswegen, weil ich Ihnen durchaus sagen wollte, was in
dem Diskussionsentwurf steht, auch wenn es noch kein
Gesetzentwurf ist. Insofern habe ich Ihnen heute einen
Service zu diesem Thema geboten.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Ich habe eine zweite Nachfrage. Herr Fuchtel, Sie
bringen immer alles so schön auf den Punkt. Was passiert jetzt mit den Beschäftigten, die bei Schlecker diesen Drehtüreffekt durchgemacht haben? Wie gehen Sie
damit um? Was können Sie den Kolleginnen und Kollegen empfehlen?
Hierzu liegen mir im Augenblick keine weiteren Erkenntnisse vor. Es ist hier wie überall - darüber haben
wir vor längerer Zeit diskutiert -: Es gibt die verschiedensten Mechanismen und Möglichkeiten, wie sich die
Beschäftigten mit dieser Angelegenheit auseinandersetzen können. Das werden sie dann auch tun, wenn Grund
dazu besteht. Da ist die Bundesregierung augenblicklich
nicht an vorderster Front gefragt.
Die Kollegin Krellmann hat eine Nachfrage.
Vielen Dank. - Ich möchte bezüglich des besonderen
Service, den Sie uns gerade geboten haben, nachhaken.
Dies bezieht sich auch auf den Drehtüreffekt; darüber
haben wir eben kurz geredet. In Ihren Ausführungen im
Zusammenhang mit der Frage 3 haben Sie von den Auszubildenden und einem Zeitfaktor - ein halbes Jahr - gesprochen. Trifft es auch für Auszubildende zu, dass sie
nach einem halben Jahr zu einer Leiharbeitsfirma gehen
können oder dass sie ein halbes Jahr lang nicht beschäftigt sein dürfen, um dies zu tun? Was heißt das konkret?
Sie müssen das so sehen: Wenn man solch eine Regelung trifft, gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Die eine Möglichkeit ist eine Regelung, bei der man
die Auszubildenden gar nicht mit einbezieht. Es gibt
durchaus Anhänger einer solchen Regelung, die die Auffassung vertreten: Ausbildung ist die eine Sache; wir
sind froh, dass die Leute überhaupt eine Ausbildung machen können. Die Zeiten, als man um jeden Ausbildungsplatz froh war und durchaus akzeptiert hätte, hier
in einer eigenen Kategorie zu denken - nach Abschluss
der Ausbildung beginnt ein völlig neues Spiel, egal wo
man angestellt wird -, sind noch nicht allzu lang her.
Das ist die eine Möglichkeit, an die man hier denken
könnte.
Die andere Möglichkeit ist eine Regelung im Interesse der Auszubildenden, um zu vermeiden, dass sie
nach ihrer Ausbildung als Leiharbeiter, unter schlechteren Bedingungen, in die Arbeitswelt geführt werden, mit
dem Hinweis: Hier bei uns kannst du auf gar keinen Fall
arbeiten; du kannst vielleicht für ein Leiharbeitsunternehmen arbeiten. Wenn man hier zugunsten der Auszubildenden verfahren möchte, kommt man zu der Überlegung, ob man sie in die gesamte Regelung einbezieht.
Ich betone nochmals: Hier geht es im Augenblick um
einen ersten Diskussionsstand; es wird jetzt unter Federführung des BMAS darüber gesprochen. Ich kann noch
lange nicht sagen, wie sich die Diskussion im Weiteren
fortsetzen wird. Ich kann Ihnen nur sagen, was im Augenblick der Stand der Überlegungen in unseren Diskussionen ist. Ich habe mir erlaubt, Sie darüber zu informieren.
({0})
Nein, das dürfen Sie nicht. Jetzt ist nämlich die Kollegin Dittrich dran. Auch Herr Birkwald hat sich gemeldet. - Bitte, Frau Dittrich.
Herr Fuchtel, Sie haben zugegeben, dass Sie eine Diskussion zur Vorbereitung eines Gesetzentwurfs führen;
es handelt sich nicht nur einfach um eine Diskussion in
der Bundesregierung. Vielleicht trägt es zur Meinungsfindung bei, wenn wir den Drehtüreffekt besprechen.
Um diesen Effekt zu verhindern, wollten Sie, gerade
auch für Auszubildende, einen Zeitfaktor in die entsprechende Regelung einfügen. Jetzt kommt meine Frage:
Kann die Bundesregierung sicherstellen, dass solch eine
Regelung nicht durch den Einsatz von Firmen, in denen
Beschäftigte eine Zeit lang geparkt oder unter Werksvertragsbedingungen eingesetzt werden, umgangen wird?
Wenn ich nicht schon so lange im juristischen Geschäft als Anwalt tätig gewesen wäre, wenn ich noch
nicht so lange Parlamentarier gewesen wäre, wie ich es
bereits gewesen bin, dann würde ich etwas leichter auf
diese Frage antworten können. Wir stellen aber fest, dass
es immer wieder neue Bemühungen gibt, neue Wege zu
finden, um an geltenden Bestimmungen vorbei tätig zu
werden. Wenn das nicht der Fall wäre, bräuchten wir die
gesamten Mechanismen nicht, mit denen wir die ständigen Prüfungen durchführen. Insoweit kann ich nur sagen: Wenn man über solch eine Sache spricht und sie
konkretisiert, muss man prüfen, welche Regelung hier
welchen Effekt bewirken kann. Wir sind aber aufgrund
des Diskussionsstandes natürlich noch nicht so weit,
dass wir hier abschließende Aussagen treffen könnten.
Herr Birkwald.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich habe eine Nachfrage zum Thema Schlecker und zur
Praxis bei der Leiharbeitsfirma Meniar. Ich wollte Sie
fragen, ob gesichert ist, dass die Beschäftigten, die von
dieser Leiharbeitsfirma Meniar eingestellt worden waren, in Zukunft zu Equal-Pay-Bedingungen entlohnt
werden.
Ich kenne keine Mitteilung der Firma Schlecker zu
diesem Thema. Ich kann Ihnen hierzu auch nicht originär, aus meiner Kenntnis, berichten. Wenn Sie Ihre
Frage beantwortet haben möchten, kann ich Ihnen die
Antwort gerne schriftlich nachreichen.
({0})
Ich rufe die Frage 5 der Abgeordneten Sabine
Zimmermann auf:
Teilt die Bundesregierung die Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit zum Fall der Firma Schlecker vom 11. Januar 2010, die lautete: „Schlecker hat offenbar Stammbelegschaft entlassen, um sie dann in einer eigens gegründeten
Zeitarbeitsfirma zu niedrigeren Löhnen wieder einzustellen“
und weiter: „Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verbietet
so etwas nicht. Hier sind politische Entscheidungen nötig“,
und stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass die
Bundesagentur für Arbeit zwar die gewerberechtliche Zulässigkeit von Zeitarbeitsfirmen prüfen darf, aber gegen die von
der Bundesregierung gewählte Definition eines missbräuchlichen Einsatzes von Zeitarbeit ({0}) nicht vorgehen kann, weil das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, AÜG, keine gesetzliche Definition eines derart definierten missbräuchlichen Einsatzes von
Zeitarbeit kennt und damit auch kein Verstoß gegen das AÜG
festgestellt werden kann?
Es geht nochmals um das Thema Schlecker, das sage
ich auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer auf der
Tribüne. - Ich beantworte die Frage wie folgt: Erstens.
Der Bundesregierung ist eine unmittelbare Beteiligung
der Unternehmen Schlecker e. K. oder Schlecker XL
GmbH an der Gründung des Zeitarbeitsunternehmens
Meniar nicht bekannt. Zweitens. Bekannt ist, dass personelle Verbindungen bestanden haben und dass eine Geschäftsbeziehung zwischen Schlecker XL GmbH und
Meniar bestanden hat.
Sie fragen nach dem Prüfungsumfang der Bundesagentur für Arbeit hinsichtlich der Erlaubnis für die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG.
Ich kann Sie in zweierlei Hinsicht beruhigen. Erstens bezieht sich die Prüfung der gewerberechtlichen Zulässigkeit unter anderem auch auf die ordnungsgemäße Abführung von Steuern und Sozialabgaben sowie die
Einhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften durch den
Verleiher. Zweitens prüft die Bundesregierung zusätzlich
zu der von den Tarifvertragsparteien der Zeitarbeit vereinbarten Antimissbrauchsklausel Inhalte einer gesetzlichen Regelung. Ich habe das eben ausgeführt. Ich habe
wiederholt dargestellt, dass diese Prüfungen innerhalb
der Bundesregierung bislang noch nicht abgeschlossen
sind.
Sie haben eine Nachfrage? - Bitte schön.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Fuchtel, wir
beschäftigen uns schon seit November letzten Jahres mit
der Firma Schlecker, und ich möchte auch nicht nachlassen. Ist der Firma Meniar die Genehmigung entzogen
worden? Es ist wichtig, zu wissen, dass es sittenwidrig
war, die Kolleginnen und Kollegen zu entlassen und
über die Leiharbeitsfirma wieder bei Schlecker einzuführen. Falls die Genehmigung nicht entzogen worden
ist, stellt sich die Frage, wie Sie die Wiederholung eines
solchen Vorgangs zukünftig verhindern wollen.
Ich kann Ihnen im Augenblick keinen weiteren Sachstand darstellen. Ich verweise auf das, was ich eben ausgeführt habe. Sie können sicher sein, dass das Ministerium gerade diesen Vorgang besonders im Blick hat. Ich
darf darauf hinweisen, dass die Ministerin umgehend aktiv geworden ist, nachdem dem Bundesministerium der
Vorgang in seiner gesamten Breite bekannt wurde.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Sie sprechen davon, dass Drehtüreffekte verhindert
werden sollen, indem ein Leiharbeiter nach dem EqualPay-Prinzip den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit erhält. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es dann zu
einer Ausweitung der befristeten Arbeitsverhältnisse
kommen wird, das heißt, dass wir durch die Leiharbeitsfirmen ein anderes Phänomen erreichen werden?
Ich möchte keine weitgehenden Prognosen darüber
abgeben, was auf der Welt noch alles passieren kann. Ich
sage nochmals: Wir gehen dieses Thema an, weil es für
eine beachtliche Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wichtig ist. Wir werden in diesem Zusammenhang abklären, welche Wirkungen Leiharbeit haben
kann. Sollte es zu einem Gesetzgebungsprozess kommen, wird man noch einmal darüber diskutieren, was in
welchem Umfang zu tun ist.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Krellmann auf:
Wenn nach eigener Definition der Bundesregierung der
missbräuchliche Einsatz von Zeitarbeit dort vorliegt, „wo
Zeitarbeit dazu genutzt wird, systematisch Stammbeschäftigte
durch Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer zu ersetzen, um die Arbeitsbedingungen der Einsatzbranche zu umgehen und sich den Pflichten eines verantwortungsvollen Arbeitgebers zu entziehen“ ({0}), trifft es dann zu, dass aufgrund der Tatsache, dass
die Personalservice GmbH, PSG, als hausinterne Leiharbeitsfirma und 100-prozentige Tochter des Universitätsklinikums
Essen rund 300 Beschäftigte, die bei der PSG angestellt sind,
an das Mutterunternehmen verleiht und diese dort bis zu
30 Prozent weniger Lohn als Festangestellte für die gleiche
Arbeit, sechs Tage weniger Urlaub, keine betriebliche Altersvorsorge und keine Jahressonderzahlung erhalten und dass
Beschäftigte mit einem zuvor befristeten Vertrag mit dem
Universitätsklinikum nach dessen Auslaufen nur ein Angebot
über die PSG als Leiharbeitskraft bekommen, es sich gemessen an der Definition der Bundesregierung hierbei um einen
missbräuchlichen Einsatz von Zeitarbeit handelt?
Diese Frage beantworte ich wie folgt: Was die unternehmerische Motivation des geschilderten Einsatzes der
Zeitarbeit am Universitätsklinikum Essen betrifft, ist der
Bundesregierung Näheres nicht bekannt. Dass es darum
geht, die Arbeitsbedingungen in Einsatzbranchen zu umgehen und sich den Pflichten eines verantwortungsvollen
Arbeitgebers zu entziehen, kann daher nicht bestätigt
werden.
Eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Vielen Dank. - Wissen Sie, es fällt mir schwer, das so
zu akzeptieren, weil das ziemlich allgemein ist. Das ist
irgendwie gar keine Antwort. Sie erklären hier, dass sich
Ihr Ministerium mit den Themen „Meniar“ und „Schlecker“ beschäftigt. Über Schlecker hat ganz Deutschland
geredet. Da hätte es für Sie doch interessant sein müssen,
zu untersuchen - Sie bekommen sicher auch Schreiben
von vielen anderen -, wo denn noch Missbrauch und
Verstöße stattfinden. Haken Sie denn als Ministerium da
nicht nach, um zu schauen, was dort konkret passiert?
Stellen Sie nicht die Fragen: Was läuft da möglicherweise an uns vorbei? Müssen wir das vielleicht im Interesse der Menschen, aber auch im Interesse der Sozialkassen in unseren Gesetzentwurf aufnehmen? An dieser
Stelle reden wir ja auch über den Niedriglohnbereich,
über Aufstocker usw.
Aus Ihnen spricht eine engagierte Sozialpolitikerin.
Daher verstehe ich, dass Sie diese Themen sehr stark auf
das Ministerium konzentrieren. Allerdings muss man sehen, dass es einen großen Mechanismus gibt - ich habe
ihn vorhin in aller Breite dargestellt -, der dazu da ist,
solche Problematiken zu klären.
Ich kann mich hier nur auf die Antwort stützen, die
ich Ihnen vorhin gegeben habe. Ich bin aber durchaus
bereit, diese konkrete Situation etwas stärker prüfen zu
lassen, weil auch ich sehe, dass wir gut daran tun, diese
Fragen bei entsprechenden Hinweisen, vor allem, wenn
sie aus dem Parlament kommen, an die Beteiligten heranzutragen.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Herr Fuchtel, mir fällt es superschwer, das so hinzunehmen. Im Grunde beschäftigen wir uns mit dem
Thema „Leiharbeit“ schon seit über einem halben Jahr.
Wir bekommen immer wieder neue Beispiele, bei denen
wir sagen: Das ist nicht in Ordnung.
Die Antworten, die wir auf unsere Fragen bekommen,
sind oftmals sehr allgemein. Mit Datum vom 11. Juni
2010 habe ich eine Kleine Anfrage gestellt. Ich wollte
wissen, wie viele Lohnkostenzuschüsse es im Bereich
der Leiharbeit gibt. Ihre Antwort darauf war: Dazu liegen der Bundesregierung keine statistischen Daten vor.
Ich habe aber statistische Daten von der Bundesagentur
für Arbeit. Ich frage mich tatsächlich: Werten Sie diese
Daten nicht aus? Es gibt einen riesigen Verwaltungsausschuss bei der Bundesagentur für Arbeit, die viel erfasst
und untersucht. Es gibt interessante Untersuchungen
ohne Ende, und Sie geben mir die Mitteilung, dass keine
statistischen Erkenntnisse vorliegen. Wie passt das zusammen?
Zeigen Sie mir die Unterlagen, die Sie haben. Sollten
solche vorliegen und diese uns von der Bundesagentur
für Arbeit nicht vorgelegt worden sein, dann werden wir
das klären. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das
so gewesen ist.
Im Übrigen kann ich nur mitteilen, dass die Unterlagen, die vorhanden sind, in meinem Haus sorgfältig ausgewertet werden und wir die notwendigen Schlüsse daraus ziehen, wenn es Anlass dazu gibt.
Ich gebe Ihnen gerne eine Kopie.
Wir werden uns das nächste Mal darüber unterhalten.
Insoweit werden wir diese Fragen aufklären können.
Das ist ein Dialog, den Sie gerne woanders führen
können. - Jetzt hat die Kollegin Dittrich das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! - Ich möchte mit meiner Nachfrage kurz an die Antwort anknüpfen, die wir
eben gehört haben. Die Statistik der Bundesagentur für
Arbeit ist für uns leicht zugänglich, liegt dem Ministerium aber nicht vor. Kann das bedeuten, dass das Ministerium gar nicht wirklich daran interessiert ist, anderen
Missbrauchsfällen nachzugehen, und vielleicht auch gar
nicht daran interessiert ist, die Erkenntnisse, die wir hier
erörtern, in den Gesetzentwurf einfließen zu lassen?
Frau Kollegin, Sie haben meine Antwort etwas gedreht, sodass herauskommt, dass das Ministerium keine
Unterlagen von der Bundesagentur bekommen würde.
So will ich das nicht verstanden wissen. Ich habe gesagt:
Mir liegen im Augenblick keine Unterlagen vor; wir
werden nochmals prüfen, ob Unterlagen verfügbar sind
und diese verfügbar gemacht werden können, um das näher untersuchen zu können.
Die Kollegin Zimmermann.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Fuchtel, es gibt
in Deutschland 720 000 Leiharbeitsverhältnisse. Das ist
eine ziemlich große Branche, die mit dem Aufschwung,
der hoffentlich eintritt, wieder wachsen wird. Ich frage
Sie: Wie wollen Sie verhindern - nennen Sie bitte ein
konkretes Beispiel -, dass Leiharbeiter in einer Firma
Menschen zweiter Klasse sind?
Es gibt bestimmte Spielregeln, die durch die gesetzliche Grundlage vorgegeben sind. Wir haben festgestellt,
dass diese verändert werden muss; denn es gibt Vorgänge, die aus verschiedenen Gründen so nicht weiter
bestehen sollten. Daher steigen wir in Überlegungen zur
Änderung der gesetzlichen Grundlage ein; dies haben
wir mit einem ersten Diskussionsentwurf getan. Genau
das ist unser Vorgehen, um zu Lösungen zu kommen und
zu verhindern, dass solche Situationen, die nicht den
Spielregeln entsprechen, erneut entstehen.
Wir kommen zur Frage 7 der Abgeordneten
Krellmann:
Welcher Unterschied besteht nach Ansicht der Bundesregierung zwischen dem Einsatz von Zeitarbeit beim Universitätsklinkum Essen und deren hausinterner Leiharbeitsfirma,
PSG, wo Neueinstellungen und die Beschäftigung von Personen mit einem befristeten Vertrag mit dem Universitätsklinikum nach dessen Auslaufen häufig nur noch zu deutlich
schlechteren Bedingungen über die Leiharbeitsfirma PSG erfolgen, und den von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Dr. Ursula von der Leyen, auf dem Bundeskongress
des Deutschen Gewerkschaftsbundes, DGB, am 19. Mai 2010
geschilderten Fällen, wonach „Stammbelegschaften rausgeschmissen“ werden und folgende Situation besteht: „Über die
Leiharbeit wird die Stammbelegschaft ersetzt, wie das bei
Schlecker der Fall gewesen ist, und zwar zu kleineren Löhnen, zu schlechteren Arbeitsbedingungen. Wir sehen jetzt in
einem großen Gesundheitsunternehmen, dass junge Menschen
ausgebildet werden, ihnen anschließend aber gesagt wird: Wir
haben für euch in diesem Unternehmen keine Anstellung.
Aber wenn ihr zu der Zeitarbeitsfirma geht, dann könnt ihr
über die Zeitarbeit zu schlechteren Löhnen und schlechteren
Bedingungen hier wieder eingestellt werden“?
Ich darf Ihnen wie folgt antworten: Erstens. Die Bundesministerin hat auf dem DGB-Bundeskongress deutlich gemacht, dass sie eine gesetzliche Regelung zur
Verhinderung des Missbrauchs des arbeitsmarktpolitischen Instruments Zeitarbeit für erforderlich hält. Zweitens. Die Bundesarbeitsministerin setzt sich dafür ein,
bei einer solchen Regelung die Belange von Auszubildenden nach bestandener Ausbildung zu berücksichtigen.
Eine Nachfrage? - Bitte schön.
Vielen Dank. - Ich frage ganz konkret: Ist es Missbrauch, was im Universitätsklinikum Essen und in vielen
anderen ähnlichen Fällen stattgefunden hat, oder nicht?
Ich kann Ihnen aufgrund der Beratungslage im Augenblick keine weitergehenden Ausführungen dazu machen als die, die ich gerade zu dem Thema gemacht
habe.
Eine weitere Nachfrage von Frau Dittrich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Fuchtel, wir haben jetzt gehört, dass die Bundesministe-
rin Frau von der Leyen gesagt hat: Wir werden die Aus-
wüchse von Missbrauch bekämpfen. - Wir haben auch
von Ihnen gehört, dass Sie einen Gesetzentwurf vorbe-
reiten, den wir natürlich noch nicht kennen, aber die
Presse schon. Wir haben ferner gehört, dass Sie dem
Missbrauch im Moment noch nicht von sich aus nachge-
gangen sind. Wir haben aber sehr wohl Zahlen. Was sol-
len das Parlament und die Bürger davon halten, dass sich
die Bundesregierung nur mit dem Auswuchs von Miss-
brauch bei Schlecker - den Missbrauch bei einer anderen
Firma geben Sie ja nicht zu - befassen möchte? Sollen
die Bürger denken, dass das bei dem einen Fall nur
exemplarisch ist und Sie ansonsten sagen: „Das ist zwar
nicht schön, aber alles andere nehmen wir mit in Kauf“?
Sie unterschätzen die Bundesregierung gewaltig. Der
Bundesregierung liegt natürlich daran, dass wir durch
eine entsprechende Gesetzgebung Vorgänge ausschlie-
ßen, die nach unseren Vorstellungen von dem, was Leih-
arbeit sein soll, nicht akzeptabel sind.
Da Sie immer leicht suggestiv solche Hinweise ge-
ben, möchte ich dazu sagen, dass man diesen Diskus-
sionsprozess miteinander führen sollte und jeder hier im
Parlament die Möglichkeit hat, sich daran zu beteiligen.
Das kann man dann tun, wenn der Gesetzentwurf da ist.
Diese Stunde ist noch nicht gekommen. Ich bitte Sie,
sich noch etwas zu gedulden. Wir werden hier noch in-
tensiver über dieses Thema sprechen. Eine vorwegge-
nommene Gesetzesberatung am heutigen Tag ist mir
nicht möglich und auch nicht Sinn einer Fragestunde.
Vielen Dank. - Die Frage 8 der Kollegin Cornelia
Möhring wird schriftlich beantwortet, ebenso wie die
Frage 9 des Abgeordneten Seifert.
Ich rufe die Frage 10 der Kollegin Katja Mast auf, die
jetzt beantwortet wird:
In welchem Umfang sind angesichts der beabsichtigten
Mittelkürzungen sowie angesichts bestehender Vorbindungen
im nächsten Jahr noch Neubewilligungen für arbeitsmarkt-
politische Maßnahmen möglich, und wie stellt sich die Lage
jeweils in den Rechtskreisen des Zweiten und Dritten Buches
Sozialgesetzbuch dar?
1)
Frau Kollegin Mast, ich darf die Frage wie folgt be-
antworten:1)
Erstens. Welche Pflichtleistungen der aktiven Ar-
beitsförderung in Ermessensleistungen umgewandelt
werden, wird im Zusammenhang mit der für das Jahr
2011 vorgesehenen Neuausrichtung der arbeitsmarkt-
politischen Instrumente geprüft werden; ich denke, das
war schon heute Vormittag Gegenstand unserer Beratun-
gen im Ausschuss und ist von meiner Ministerin auch
dort so dargestellt worden. Aussagen zu einzelnen In-
strumenten sind daher noch nicht möglich.
Wir haben auch noch Evaluierungen vorzunehmen.
Ich möchte hier darauf hinweisen: Man kann nicht um-
fangreiche Evaluierungsmaßnahmen auf den Weg brin-
gen und sie dann nicht umgesetzt sehen wollen. Viel-
mehr geht man dann schon einen Schritt weiter und
1) siehe hierzu Antwort auf Frage 11
wechselt auf die Überholspur. Wenn wir so verfahren
würden, wären die Steuer- und Beitragseinnahmen
schlecht ausgegeben. Wir müssen schauen, dass wir
gründliche Arbeit leisten. Hier geht es ja um recht viel
Geld. Es ist angemessen, dass wir gründlich arbeiten.
Von daher müssen wir die Evaluierung vornehmen und
daraus unsere Schlüsse ziehen.
Zum Zweiten. Die Bundesregierung hat sich mit den
Beschlüssen vom 6./7. Juni 2010 ausdrücklich dazu bekannt, die Zukunftschancen für die Menschen durch Investitionen in Bildung und Forschung, in Wachstumskräfte und Arbeitsplätze zu verbessern. Diese Prämisse
wird auch bei der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente entsprechend berücksichtigt werden.
Frau Mast, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Frage. Ich habe nichtsdestotrotz noch eine
Nachfrage.
Ich habe sehr wohl verstanden, dass die Bundesregierung, bevor sie die Frage beantwortet, welche Pflichtleistungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wo es um
Fördern und Fordern geht, in Ermessensleistungen umgewandelt werden, die Evaluierungs-, also die Überprüfungsergebnisse 2011 abwarten möchte.
Was sich mir als einfache Bundestagsabgeordnete an
dieser Stelle nicht erschließt, ist, wie man sich einerseits
auf verbindliche Einsparziele festlegen und diese über
vier Jahre in Tranchen verteilen kann - 2011 in Höhe von
2 Milliarden Euro, 2012 von 4 Milliarden Euro, 2013 von
5 Milliarden Euro und 2014 von weiteren 5 Milliarden
Euro, also von insgesamt 16 Milliarden Euro -, ohne andererseits zu wissen, wo genau man sparen möchte. Dieser Zusammenhang erschließt sich mir nicht ganz.
Frau Kollegin, Sie sollten Ihr Licht nicht unter den
Scheffel stellen. Sie gelten ja hier als profilierte Sozialpolitikerin.
({0})
Zunächst einmal ist Ihnen noch aus unserer gemeinsamen Regierungszeit bekannt, dass wir die Evaluierung
auch deswegen auf den Weg gebracht haben, weil wir
uns schon damals im Klaren waren, dass nicht jeder
Stein auf dem anderen bleiben wird, wenn wir das untersucht haben. Sonst hätten wir das damals nicht machen
müssen.
Vor diesem Hintergrund war auch Ihrer Fraktion klar,
dass es Veränderungen geben wird, wenn die Evaluierung durchgeführt ist. Das Ziel ist, die Maßnahmen noch
zielgenauer auszurichten. Wir gehen davon aus, dass
sich auch eine Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt ergeben wird und somit weniger Personen an
solchen Maßnahmen partizipieren werden.
Vor diesem Hintergrund ist es vertretbar, den Weg zu
gehen, der jetzt hier beschritten wird.
Frau Mast? - Eine zweite Nachfrage.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär Fuchtel, ich
möchte doch noch einmal auf die Tranchen für 2013 und
2014 eingehen. Wie gesagt: Sie möchten hinsichtlich der
Mittel für Arbeitslosengeld-I-Bezieher - das ist der Bereich SGB III - beim Bund 2 Milliarden Euro und bei
der Bundesagentur für Arbeit 3 Milliarden Euro, insgesamt also 5 Milliarden Euro, einsparen. Können Sie mir
sagen, ob heute im Bereich der Pflichtleistungen insgesamt überhaupt 5 Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben
werden?
Die Antwort auf diese Frage, wie viel ausgegeben
wird, kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Ich
kann zu Beginn eines Jahres oder zur Mitte eines Jahres
noch nicht sagen, wie hoch die Zahlen am Ende des Jahres sein werden. Ich kann das Budget nennen, und ich
kann vielleicht sagen, welche Mittelbindungen es im
nächsten Jahr gibt, aber ich kann jetzt noch nicht abschätzen, in welchem Rahmen diese Mittel verausgabt
werden.
In jedem dieser Einzelbereiche gibt es Maßnahmen,
bei denen der Mittelabfluss größer ist, und solche, bei
denen er kleiner ist, und es gibt auch die Situation, dass
die Mittel im ersten Halbjahr kaum und im zweiten
Halbjahr in viel stärkerem Maße abfließen. Hier liegt
also eine sehr starke Differenzierung vor, die man in der
Gesamtbetrachtung nicht unbeachtet lassen darf. Deswegen kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch keine weitergehenden Aussagen machen.
Frau Lösekrug-Möller, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wir haben ja vor kurzem erlebt,
dass durch eine Haushaltssperre im Umfang von
900 Millionen Euro nicht nur eine große Verunsicherung
hinsichtlich der Fortführung von Maßnahmen herbeige-
führt wurde, sondern dass sie auch zu der ernsthaften
Sorge vieler Träger geführt hat, dass gar nicht gewähr-
leistet ist, dass es kontinuierlich Bildungs- und Qualifi-
zierungsmaßnahmen gibt.
Bei den jetzt avisierten Kürzungen ist es ja so: Auch
wenn die Evaluationsergebnisse erst im kommenden
Jahr vorliegen, weiß man, dass es einen Konflikt zwi-
schen kontinuierlichen, guten und seriösen Angeboten
und der Strategie, das haushalterisch klug zu unterlegen,
gibt. Wie wollen Sie in den nächsten Monaten vorgehen
Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel:1)Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
und sicherstellen, dass einerseits eine seriöse Arbeits-
marktpolitik für die betreffenden Zielgruppen betrieben
werden kann und andererseits Sie mit Ihrer beabsichtig-
ten Kürzung zum Erfolg kommen?
Ich habe es in den letzten Jahren noch nie anders er-
lebt, als dass jede auch noch so kleine Veränderung von
Zahlen in der Szene sofort sehr stark beachtet wird und
dass dabei auch eine sehr starke Verunsicherung zu spü-
ren ist. Wenn man all dem Rechnung tragen und als
Grundlage der Beurteilung von Handlungsmöglichkeiten
der Regierung ansehen würde, dass nicht gehandelt wer-
den darf, sobald jemand sagt, dass er befürchtet, dass er
weniger Geld hat, dann könnte man im Bereich der ar-
beitsmarktpolitischen Instrumente operativ überhaupt
keine Politik mehr machen. Das wollte ich hier einfach
einmal deutlich sagen.
Die Veränderungen sind ja nicht so gravierend, als
dass man sagen müsste: Es ist hier ein so großer Verän-
derungsprozess zu erwarten, dass man als einzelner Trä-
ger überhaupt keine weitergehenden Überlegungen für
die Zukunft mehr anstellen kann. - Man muss sicher se-
hen: In einer Reihe von Bereichen sind die Mittel bei
weitem nicht ausgeschöpft. 2009 lagen die Ergebnisse
unter dem, was wir jetzt zum Beispiel für 2010 etatisiert
haben, und wir sehen, dass auch im Jahre 2010 noch
Spielräume sind. Insoweit wissen die Träger selbst, wo
ihre Möglichkeiten liegen und wie weit sie gehen kön-
nen.
Ich gestehe zu, dass auch durch die Reform bei den
Jobcentern ein gewisser verstärkter Klärungsbedarf ge-
geben ist.
Wir sind sicher, dass man, sobald die Jobcenter-Re-
form auf den Weg gebracht worden ist, klare Konturen
aufzeigen kann, was die Größenordnung und Potenziale
der einzelnen Förderinstrumente betrifft, und dass die
Träger damit zurechtkommen. Wir haben seit den Jahren
2006 und 2007 einen Aufwuchs auf die derzeitige Grö-
ßenordnung zu verzeichnen. Wir alle - darunter auch
Ihre Fraktion - gehen aus vielerlei Gründen von einem
gewissen Rückgang der Mittel aus. Ich denke, dass sich
der Sparprozess in diesem Rahmen gut gestalten lässt.
Der nächste Fragenkomplex beschäftigt sich mit der
Umwandlung von Pflicht- in Ermessensleistungen im
Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Wir kommen zur Frage 11 der Abgeordneten Katja
Mast:
Welche konkreten Folgen ergeben sich nach Auffassung
der Bundesregierung durch die Umwandlung von sogenann-
ten Pflicht- in Ermessensleistungen im Bereich der aktiven
Arbeitsmarktpolitik, beispielsweise für das Recht auf Nach-
holen des Hauptschulabschlusses, das Recht auf Ausbildung
für Altbewerber - Ausbildungsbonus - sowie das Recht auf
Spracherwerb, und inwiefern sieht die Bundesregierung in
diesem Zusammenhang ihr Ziel noch als gegeben an, keine
Mittelkürzungen im Bereich der Bildungspolitik vorzuneh-
men?
1)
Hierbei geht es um Bindungen für Eingliederungs-
maßnahmen, die sich auf das Folgejahr erstrecken. Sie
können höchstens im Umfang der im Bundeshaushalt so-
wie im Haushalt der BA ausgebrachten Verpflichtungs-
ermächtigungen mit Fälligkeit im Jahr 2011 eingegan-
gen werden. Das gebietet das geltende Haushaltsrecht.1)
Erst wenn der Regierung im Wege der Rechnungslegung für das Jahr 2010 bekannt ist, auf welche Summen
sich die eingegangenen Verpflichtungen aus Vorjahren
belaufen, kann eine Aussage dazu getroffen werden, in
welcher Höhe Ausgabemittel für neue Bewilligungen im
Haushaltsjahr 2011 möglich sind.
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass sich unterjährig immer wieder Ausgabemittel freirechnen - ich habe das bereits ansatzweise dargestellt -, zum Beispiel aus vorzeitig beendeten oder, was
nicht allzu selten vorkommt, nicht durchgeführten Maßnahmen, wenn etwa mithilfe der Agentur für Arbeit der
Erwerb des Führerscheins möglich wäre, sich aber nicht
genügend Teilnehmer finden. In einem solchen Fall können die Mittel nicht abfließen und stehen für Neubewilligungen zur Verfügung.
Wenn es Sie interessiert, kann ich noch auf die für
2011 eingegangenen Verpflichtungen eingehen; denn
auch das gehört zur Haushaltspolitik. Für den Rechtskreis Sozialgesetzbuch II belaufen sich die eingegangenen Verpflichtungen für das Haushaltsjahr 2011 mit
Stand vom 31. Mai 2010 auf etwa 1,2 Milliarden Euro.
Für den Rechtskreis SGB III belaufen sich die eingegangenen Verpflichtungen für 2011 auf circa 1,03 Milliarden Euro, und zwar ebenfalls mit Stand vom 31. Mai
2010.
Eine Nachfrage, bitte schön.
Vielen Dank für die Antworten, Herr Staatssekretär. -
Ich beziehe mich jetzt noch einmal auf die Frage 11, in
der es insbesondere darum geht, ob es durch die Spar-
vorschläge der Bundesregierung zu Bildungskürzungen
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kommt. Die Bundes-
regierung sagt immer, dass es im Bereich der Bildungs-
politik keine Kürzungen gibt. Meine sehr konkrete Frage
lautet deshalb: Bedeutet das auch, dass es im Bereich der
Arbeitsmarktpolitik überall dort, wo es um Bildung geht,
keine Kürzungen gibt? Das betrifft beispielsweise das
Recht auf Nachholen eines Hauptschulabschlusses, den
Ausbildungsbonus und das Recht auf Spracherwerb für
diejenigen, die die deutsche Sprache noch nicht spre-
chen.
Wie Sie wissen, haben wir in unserer gemeinsamen
Regierungsverantwortung in der Großen Koalition mit
viel Mut viele Rechtsansprüche geschaffen. Denn wir
wollten gerade nicht, dass Bildungsansprüche Haus-
1) siehe hierzu Antwort auf Frage 10
haltskürzungen zum Opfer fallen. Deshalb frage ich Sie:
Bleiben Sie bei der Strategie unserer Politik, oder müssen wir im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit
Bildungskürzungen rechnen?
Ich fürchte, dass ich hierzu an der Stelle noch keine
bindende Aussage machen kann, und weise darauf hin,
dass das vorgegebene Sparziel zunächst in den Koalitionsfraktionen debattiert wird. Dann sind die Festlegungen im Einzelnen zu treffen. Es ist nicht meine Aufgabe,
dem vorzugreifen.
Die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Anette
Kramme werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Dagmar
Enkelmann auf:
Wie bewertet die Bundesregierung aktuelle Anweisungen
der Bundesagentur für Arbeit an Jobcenter, nach denen die
Eingliederungsleistungen für Bezieherinnen und Bezieher von
ALG II allein auf die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt auszurichten sind, und stehen diese Weisungen im Zusammenhang mit der von der Bundesregierung geplanten Umwandlung der Eingliederungshilfen von einer Pflicht- in eine
Ermessensleistung?
Frau Kollegin Enkelmann, ich darf Ihre Frage wie
folgt beantworten: Eine Weisung der Bundesagentur,
wonach Eingliederungsleistungen für Bezieherinnen und
Bezieher von Arbeitslosengeld II allein auf die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind,
existiert nach meiner Kenntnis nicht.
Eine Nachfrage.
Ich verweise zunächst auf einen Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. Juni über ein Gespräch mit dem Vorstand der Bundesagentur, Heinrich
Alt, in dem sich so etwas unter anderem findet. Aber
auch wenn Sie sagen, Sie kennen eine solche Anweisung
nicht, würde ich gerne nachfragen.
Die Umwandlung von Pflicht- in Ermessensleistungen ist ja Teil des Kürzungsprogramms, das die Bundesregierung vor zwei Wochen angekündigt hat. Inwieweit
gibt es eigentlich ernsthafte Gespräche mit der Bundesagentur über wirkliche Einsparmöglichkeiten, zum
Beispiel beim bürokratischen Aufwand, der der Bundesagentur abverlangt wird - hier gibt es durchaus Vorschläge -, sodass Kürzungen nicht zulasten der Langzeitarbeitslosen gehen, sondern im Gegenteil
Einsparungen sogar zu einer Entlastung führen können?
Gibt es ernsthafte Gespräche mit der Bundesagentur
auch über Alternativen, statt bei Maßnahmen zu kürzen?
Sie können davon ausgehen, dass keiner unserer Mitarbeiter aus dem Ministerium zum Spaß nach Nürnberg
fährt, nur um dort Kaffee zu trinken, sondern dass immer
sehr ernsthaft über die zu lösenden Aufgaben gesprochen wird. Natürlich ist eine Daueraufgabe, die Effektivität zu verbessern und überall dort, wo es möglich ist,
Bürokratie abzubauen. Gerade diese Koalition hat sich
Bürokratieabbau aufs Panier geschrieben. Wenn Sie uns
dazu Vorschläge machen können, würden Sie damit sicher einen guten Dienst erbringen. Wir warten gerne darauf.
Eine zweite Nachfrage.
Bei meiner Frage ging es darum, inwieweit die durchaus vernünftigen Vorschläge der Bundesagentur es tatsächlich von Nürnberg bis nach Berlin schaffen.
Ich möchte aber noch eine zweite Frage nachschieben: Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass alleiniges Kriterium für den Sinn von Maßnahmen tatsächlich die Eingliederungsquote ist, oder sieht die
Bundesregierung nicht auch andere wichtige Kriterien?
Die Kriterien haben gerade bei der Beantwortung ja auch
eine Rolle gespielt.
Natürlich ist Nachhaltigkeit ein wichtiges Kriterium.
Es kann ja nicht nur um eine Vermittlung gehen, sondern
die Frage ist, ob diese Vermittlung von Dauer ist und für
den Einzelnen zu einem Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt führt. Darauf sind unsere arbeitsmarktpolitischen Instrumente ausgerichtet, und sie sollen künftig
noch stärker auf die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet werden.
Ich möchte darüber hinaus noch sagen, dass die Steuerung der gemeinsamen Einrichtungen und der zugelassenen kommunalen Träger mit der Neuorganisation der
Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 2011 mit Sicherheit auch zu Verbesserungen führen wird. Hier sehen wir
noch erhebliches Potenzial. Ferner möchte ich darauf
hinweisen, dass sich die Effizienzsteigerungen nach Beendigung der notwendigen organisatorischen Umstellungen noch stärker entfalten werden. Bei meinen Beobachtungen in jüngerer Zeit habe ich festgestellt, dass es sehr
viel effektiver ist, bereits in einem frühen Stadium zu
prüfen, ob Personen für bestimmte Tätigkeiten tatsächlich geeignet sind. Dafür planen wir Phasenmodelle beispielsweise für die Bürgerarbeit, wie wir sie auch schon
aus Programmen der Berliner Busunternehmen kennen,
in denen in einem sehr frühen Stadium Prüfungen durchgeführt werden, um festzustellen, ob jemand für eine
Ausbildung oder Umschulung zum Busfahrer geeignet
ist. Dann werden wir hier erhebliche Effizienzsteigerungen erreichen, die auch für den Einzelnen gewinnbringend sind; das war auch Gegenstand Ihrer Frage. Es soll
nicht nur um nüchterne Zahlen gehen; denn hinter jeder
Zahl stehen Menschen, stehen Schicksale. Wir müssen
uns mit den Schicksalen auseinandersetzen, den Menschen gerecht werden und die passenden Maßnahmen
für die Menschen finden. Dem dient unsere Arbeit.
Frau Dittrich, bitte.
Sehr geehrter Herr Fuchtel, bekommen Sie keinen
Schreck! Es wird jetzt keine Unterstellung geben. Ich
werde Ihnen auch nicht sagen, dass Sie den Vorwurf
nicht ausgeräumt haben.
Sie haben angesprochen, dass Sie bei den Jobcentern
einen Bürokratieabbau planen; das gehört zum Kahlschlag im Sozialstaat. Wenn Sie die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst verringern und für Arbeitslose, die eingegliedert werden sollen, Pflichtleistungen
in Ermessensleistungen umwandeln, dann müssen wir
doch Angst haben, dass viele Leistungen, die zuvor
Pflichtleistungen waren, als Ermessensleistungen nicht
mehr erbracht werden können. Das bedeutet einen geringeren Anspruch an die Qualifikation der Beschäftigten
im öffentlichen Dienst - hier wollen Sie abbauen - und
geringere Betreuungsmöglichkeiten für die Arbeitslosen,
die eingegliedert werden sollen.
Die Menschen werden so viel Willkür erleben und
feststellen, dass eine Ermessensleistung in einem Jobcenter gewährt wird und in einem anderen nicht. Ich
frage Sie daher: Wie wollen Sie angesichts dieses Umgangs mit Arbeitslosen und Beschäftigten Arbeitsplätze
schaffen, wohl wissend, dass es bundesweit nur 485 000
offene Stellen gibt?
Wenn ich das bewerten dürfte, was ich nicht machen
möchte, würde ich sagen: Ihre Frage ist eine regelrechte
Breitseite. Ich beantworte Ihre Frage aber gerne im Einzelnen. Ich möchte zuerst auf den Bereich von ALG II
bzw. SGB II zu sprechen kommen. Je nachdem, wie viel
Zeit mir gegeben wird, kann ich auch auf den Bereich
des SGB III eingehen.
Zuerst zum SGB II. Ich weise mit dem Ausdruck
höchster Empörung zurück, dass hier willkürlich gehandelt werden soll. Ich verweise darauf, dass wir mit den
Festlegungen, die das Gesetz nun vorsieht, einen Betreuungsschlüssel bekommen, der noch nie so gut war. Ich
kann hierin nur einen Vorteil für den Einzelnen sehen
und nicht, dass weniger getan wird. Hier wird mit sehr
viel Geld sehr viel getan, damit die Menschen sehr individuell betreut werden können. Ich wäre Ihnen sehr
dankbar, wenn Sie das wenigstens zur Kenntnis nähmen
und das in Ihren Ausführungen zum Ausdruck käme.
Zweitens. Wenn Pflichtleistungen in Ermessensleistungen überführt werden, muss das nicht heißen, dass
weniger Leistung erbracht wird. Aber es liegt im Ermessen derjenigen, die die Aufgabe durchführen. Wir wandeln extra 3 200 bisher befristete Arbeitsverhältnisse in
Dauerarbeitsverhältnisse um - das wurde im Haushaltsausschuss beschlossen -, mit dem Ziel, künftig die Qualität im Bereich der Entscheider durch einen gefestigten
und kontinuierlich arbeitenden Personalkörper zu steigern. Auch das muss von Ihnen wenigstens zur Kenntnis
genommen werden. Ich darf noch darauf hinweisen, dass
bei jeder Ermessensentscheidung der Anspruch auf Fehlerfreiheit besteht. Dadurch ist gesichert, dass die Entscheidungen sehr sorgfältig getroffen werden und im
Rahmen der Möglichkeiten, die der Entscheidungsrahmen vorgibt, nachprüfbar sind.
Vor dem Hintergrund ist es nach meiner Auffassung
äußerst gewagt, Formulierungen zu gebrauchen, wie Sie
sie gerade in den Raum gestellt haben.
Die Frage 15 der Kollegin Iris Gleicke wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zu dem Fragenkomplex, der die
Abschaffung der Rentenversicherungsbeiträge für Empfänger von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II behandelt.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Ottmar
Schreiner auf:
Begründet die Bundesregierung die Abschaffung der Rentenversicherungsbeiträge für Empfängerinnen und Empfänger
von Leistungen nach dem SGB II tatsächlich damit, dass zur
Bekämpfung von Altersarmut ja die Grundsicherung im Alter
zur Verfügung steht, und soll die Arbeit der Regierungskommission, die laut Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP eingesetzt werden soll, sich an dieser sozialpolitischen
Philosophie orientieren, dass beitragsgedeckte Versicherungsleistungen durch fürsorgeorientierte Leistungen ersetzt werden?
Wenn dieser Fragenkomplex beantwortet ist, sind wir
durch den Geschäftsbereich Arbeit und Soziales in einer
Fragestunde einmal durchgekommen. Es ist mir eine
Freude, auch noch die Fragen zur Rente zu beantworten.
Ich darf das wie folgt tun: Die Bundesregierung begründet die Abschaffung der Rentenversicherungsbeiträge
für die Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen
nach dem SGB II keineswegs damit, dass zur Bekämpfung von Altersarmut die Grundsicherung im Alter zur
Verfügung steht.
Der Kollege Schreiner gehört wie ich schon länger
dem Deutschen Bundestag an. Wenn ich es richtig weiß,
haben in der letzten Legislaturperiode auch Sozialdemokraten an der Regierungskoalition mitgewirkt.
({0})
Damals haben wir gemeinsam beschlossen, den damaligen Ansatz zu halbieren. Damals habe ich eine solche
Argumentation nicht gehört. Jetzt höre ich sie. Ich muss
sie zur Kenntnis nehmen; aber sie ist etwas verwunderlich, weil sich die Situation im Grunde seit der damaligen Veränderung, die wir vorgenommen haben, nicht geändert hat. Das ALG II soll immer eine Leistung sein,
die in der aktuellen Bedürfnislage Hilfe gibt. Sie hat weniger das Ziel, dass gleichzeitig auch noch für das Alter
vorgesorgt werden soll. Vor diesem Hintergrund muss
man das Ganze sehen.
Das, was jetzt noch an die Deutsche Rentenversicherung überwiesen wird, hat - das muss man hier deutlich
sagen - für den Einzelnen im Alter einen Wert von derzeit 2,09 Euro monatlich. Ich wage zu behaupten, dass
eine Rente von 2,09 Euro im Alter für jemanden, der
eine normale Erwerbsbiografie hat, nicht ausschlaggebend für seine Situation im Alter ist. Wenn allerdings jemand langzeitarbeitslos ist, dann kommt er auch dann,
wenn wir es bei dem jetzigen Betrag belassen, nicht zu
einer Absicherung im Alter, die über die Grundsicherung
hinausführt. Vor diesem Hintergrund ist diese Maßnahme akzeptabel; denn man muss bei den Sparmaßnahmen, deren Notwendigkeit jeder hier im Haus bestätigt
und die auch jede andere Regierung ergreifen müsste,
eine Lösung suchen, die ordnungspolitisch begründbar
ist. Das wurde zum damaligen Zeitpunkt nicht anders
diskutiert als heute.
Kollege Schreiner, Nachfrage? - Bitte.
Das kann man nicht so stehenlassen; denn die Argumentation, 2,09 Euro seien etwas wenig und deswegen
könne man sie ganz streichen, entspricht einer Logik, die
besagt, dass man demjenigen, der so wenig zu Essen hat,
dass er hungert, gleich gar nichts zu geben braucht. Was
ist denn das für eine Argumentation? Ich kenne eine
ganze Reihe von Szenarien über drohende Altersarmut,
Herr Kollege Fuchtel. In all diesen Szenarien wird die
mehrfache Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge
für Langzeitarbeitslose massiv kritisiert, weil das ein eigenständiger Zugang zu zusätzlicher Altersarmut sei.
Wenn man schon kritisiert, 2,09 Euro seien reichlich wenig, dann wäre die zwingende Konsequenz gewesen, die
Beitragssätze anzuheben, um die Leute vor drohender
Altersarmut besser zu schützen. Das wäre einigermaßen
logisch gewesen. Sie haben eben in einem anderen Zusammenhang gesagt: Die Bundesregierung bellt nicht
nur, sie beißt auch. - Können Sie nachvollziehen, dass
die Bundesregierung nicht nur in diesem Fall, aber in
diesem Fall ganz besonders, die völlig falsche Gruppe
gebissen hat?
Ich danke zunächst einmal dafür, dass Sie meinen
Worten so genau Ihr Ohr geliehen haben, und darf jetzt
Adam Riese bemühen. Das Doppelte von 2,09 Euro, die
die Große Koalition beschlossen hat, sind 4,18 Euro.
Das würde unter anderem Zusatzkosten für Beitragszahlungen in Höhe von 1,8 Milliarden Euro bedeuten. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass die Haushalts- und Finanzpolitiker Ihrer Bundestagsfraktion das als auch nur
annähernd realistisch ansehen.
Ich komme vor diesem Hintergrund auf die Argumentation zurück, dass wir für ALG-II-Empfänger in einer
Bedürfnislage im Alter, in der andere finanzielle Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, eine Absicherung
durch die Grundsicherung haben. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie für das Alter vorgesorgt wird. Mit
diesen 2,09 Euro kann man ganz sicher nicht entsprechend für das Alter vorsorgen.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: So
werden wir das Problem der Altersarmut sowieso nicht
lösen können. Wir müssen uns darüber klar sein, dass es
hier um eine Absicherung in einer bestimmten Bedürfnislage geht und dass eine Bekämpfung der Altersarmut
mit Sicherheit nicht durch 2,09 Euro zusätzlich möglich
ist.
Zweite Nachfrage, bitte schön.
Es hat auch niemand behauptet, dass das möglich sei.
Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es ein wichtiger
Baustein ist, der, so wie er geregelt ist und wie er jetzt
neu geregelt werden soll, den Weg in die Altersarmut beschleunigen wird. Das lässt sich überhaupt nicht bestreiten. Sie müssten bei Gelegenheit erklären, was das mit
christlicher Politik zu tun hat.
Ich will noch eine zweite Frage stellen. Sie haben in
der Ausschussdrucksache 17({0})187, Unterrichtung
durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
zur Begründung drei interessante Sätze geschrieben, die
ich, Herr Präsident, zitieren will:
Hingegen erhöht die bisherige Rentenbeitragszahlung
des Bundes für Bezieher von Arbeitslosengeld II deren spätere monatliche Rente nur um rund 2 Euro je
Jahr des Bezugs von Arbeitslosengeld II. Menschen
mit sehr langen Leistungsbezugszeiträumen wären
deshalb ohnehin auf die Grundsicherung im Alter
angewiesen. Um das zu vermeiden, ist es besser, sie
in Arbeit zu integrieren statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Das ist eine doppelte Täuschung, weil Sie damit behaupten, Sie sparten hier zulasten der Langzeitarbeitslosen,
um das eingesparte Geld zur Förderung ebendieser
Langzeitarbeitslosen einzusetzen. Das ist eine grottenfalsche Behauptung. Sie setzen das eingesparte Geld
nämlich nicht ein, um Arbeit besser zu fördern; vielmehr
kassieren Sie gleichzeitig bis zum Jahr 2014 arbeitsmarktpolitische Mittel der Bundesagentur für Arbeit in
Höhe von rund 16 Milliarden Euro. Können Sie meiner
Bewertung folgen, dass es sich hier nicht um eine Unterrichtung der Bundesregierung handelt, sondern um eine
grobe Täuschung?
Herr Kollege Schreiner, Sie können sich vorstellen,
wie die Antwort ausfällt: Ich kann Ihnen hier natürlich
nicht folgen.
Ich möchte Bezug nehmen auf meine schon reichlichen Ausführungen zu ordnungspolitischen Fragen. Darüber hinaus stelle ich fest: Wir müssen auf jeden Fall
eine Konsolidierung des Bundeshaushalts erreichen - ich
verweise auf die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, an deren Gestaltung ein größerer Teil dieses Hauses mitgewirkt hat -, damit die Staatsfinanzen stabil sind.
Wir müssen auch einen höheren Investitionsanteil am gesamten Haushalt erreichen; denn es ist bekannt: Wenn Investitionen erfolgen, dann können neue Arbeitsplätze entstehen und mehr Leute eingestellt werden. Das kann unter
diesem sektoralen Gesichtspunkt zu einer Verbesserung
der Gesamtsituation führen. Vor diesem Hintergrund ist
das, was da geschrieben wurde, zu verstehen. Die Umsetzung dieses Beschlusses wird dazu führen, dass wir wieder Spielräume bekommen, die es uns ermöglichen, im
Bereich der Investitionen tätig zu werden und damit die
Schaffung von Arbeitsplätzen zu begünstigen und mehr
Leute in Arbeit zu bringen. In Verbindung mit der demografischen Entwicklung, wie wir sie derzeit haben, gibt
uns das durchaus die Hoffnung, dass wir mit diesem Weg
mehr Leute in Arbeit bekommen und damit die Kosten
der Arbeitslosigkeit reduzieren können.
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Birkwald noch
eine Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben eben noch einmal darauf abgehoben, dass es
um die Vermittlung in Arbeit geht. Können Sie mir denn
bestätigen, dass wir derzeit eine Situation haben, in der
auf eine ungeförderte offene Stelle neun Erwerbslose
kommen, wenn man die offiziellen Erwerbslosenzahlen
zugrunde legt - wenn man alle die mitrechnet, die in den
vergangenen Jahren aus der Statistik herausdefiniert
wurden, haben wir die Situation, dass auf eine ungeförderte offene Stelle zwölf Erwerbslose kommen; ich
nenne einmal die Zahl: Es sind derzeit 355 000 offene
ungeförderte Stellen -, dass es unter dieser Voraussetzung eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass
Langzeiterwerbslose auch bei bestem Willen und größter
Anstrengung gar nicht in Arbeit vermittelt werden können, und das vor dem Hintergrund der Entwicklung der
vergangenen Jahre: Der eingezahlte Beitrag für Langzeiterwerbslose, der in den 90er-Jahren noch 200 Euro betrug, wurde nach Art einer Salamitaktik über 100 Euro
auf 78 Euro und schließlich auf 40 Euro gesenkt; dieser
Minibeitrag führt zu der Minileistung von 2,09 Euro.
Dies war falsch, und wäre es der richtige Weg, den Beitrag deutlich anzuheben, so wie es der DGB, der VdK,
der SoVD, die IG Metall und alle, die sich damit beschäftigen, fordern, also zum Beispiel auf die Höhe eines
halben Entgeltpunktes, was dann 13,60 Euro im Monat
brächte?
Herr Kollege Birkwald, würden Sie, wenn Sie das
hier so locker sagen, bitte auch noch darstellen, welche
Kosten das im Bundeshaushalt auslösen würde? Würden
Sie uns freundlicherweise außerdem noch die Mitteilung
machen, wie Sie das unter Einhaltung der Schuldenbremse kompensieren wollen?
Ich wollte das hier nur so in den Raum gestellt haben.
Ich weiß ja, dass Sie mir darauf keine Antwort geben
können,
({0})
die die Kriterien, die ansonsten für die Gestaltung des
Bundeshaushalts gelten, berücksichtigt. Es würde zu erheblichen Zusatzbelastungen kommen. Sie bestätigen
das ausdrücklich. Damit zeigt sich, dass hier ein Pfad beschritten werden soll, dem außer Ihrer Fraktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahrscheinlich niemand in diesem Hause zustimmen würde. Deswegen darf das hier
auch als nicht ganz so realistisch bezeichnet werden. So viel dazu.
Wenn Sie solche negativen Prognosen an die Wand
malen, möchte ich Sie fragen oder, besser - ich soll ja
nicht fragen; ich bin derjenige, der gefragt wird -, darf
ich Ihnen sagen, dass allein im Bereich des Ingenieurwesens nach jüngsten Mitteilungen 31 000 Stellen besetzt
werden müssen. Ähnliches ist in anderen Bereichen der
Fall. Eine Anhörung über die Öffnung der Grenzen nach
Osteuropa, was Beschäftigung angeht, die die CDU/
CSU-Fraktion jüngst durchgeführt hat, hat ergeben, dass
das IAB, das Institut der Bundesagentur, keine gravierenden Auswirkungen negativer Natur erwartet, wenn
die Grenzen geöffnet werden, weil so viel Nachfragepotenzial vorhanden ist, dass das, was an zusätzlichem Arbeitskräftepotenzial zur Verfügung stehen würde, aufgefangen werden könnte.
Dann möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir von
einem Lehrstellenmangel jetzt in eine Situation kommen, in der Auszubildende gesucht werden, wie wir das
in einigen Teilen Deutschlands schon feststellen; wahrscheinlich wird das in nächster Zeit auch noch in weiteren Landesteilen der Fall sein. Auch der demografische
Faktor wird eine große Wirkung auf den Arbeitsmarkt
insgesamt haben. Vor diesem Hintergrund trifft die Analyse, die Sie hier vorgenommen haben, für die Zukunft
so mit Sicherheit nicht zu.
({1})
Vielen Dank, aber in der Fragestunde fragen die Abgeordneten die Bundesregierung, und diese antwortet
und stellt keine Gegenfragen. Falls doch, werden diese
nicht beantwortet. Nur, damit das klar ist. Der Kollege
Fuchtel weiß das als alterfahrener Kämpfer hier im
Hause.
Wir kommen jetzt zur Frage 17 des Kollegen
Schreiner:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Änderung des § 10 a des Einkommensteuergesetzes notwendig
ist, damit nach dem geplanten Wegfall der Beitragszeiten in
der Rentenversicherung von Bezieherinnen und Beziehern der
Grundsicherung für Arbeitsuchende diese weiterhin einen Anspruch auf die geförderte Altersvorsorge besitzen?
Entschuldigung, aufgrund der Vielzahl der Fragen
sind meine Unterlagen etwas durcheinandergeraten.
({0})
Ich müsste sie jetzt erst einmal insgesamt sortieren, um
die Antwort auf Frage 17 zu finden.
Sie können die Frage ja schriftlich beantworten. Sie
haben jetzt wirklich eine schöpferische Pause verdient.
Das ist ein humaner Akt, Herr Kollege, für den ich
mich außerordentlich bedanke. Ich werde deswegen Ihre
Frage besonders ausführlich schriftlich beantworten.
Wenn Sie mir noch ein bisschen Zeit für die Suche gegeben hätten, hätte ich die Antwort sicherlich auch noch
gefunden. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie denken,
ich wollte der Sache ausweichen.
Dann können wir in der Fragestunde fortfahren. Vielen Dank, Herr Kollege Schreiner, für das Entgegenkommen. Vielen Dank, Herr Fuchtel, für Ihre Antworten.
({0})
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz. Die Frage 18 des Kollegen Hans-Josef
Fell soll schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Verteidigung. Der Kollege Arnold ist
nicht anwesend. Deswegen wird bei den Fragen 19 und 20
so verfahren, wie in unserer Geschäftsordnung vorgese-
hen. Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Fritz Rudolf
Körper, die Fragen 23 und 24 des Kollegen Jan van
Aken, die Frage 25 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele sowie die Fragen 26 und 27 des Kollegen Tom
Koenigs sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Fragen 28 und 29 des Kollegen Kai Gehring sowie
die Fragen 30 und 31 des Kollegen Sönke Rix sollen
schriftlich beantwortet werden. Die Abgeordnete Petra
Crone ist auch nicht anwesend. Bei den Fragen 32 und 33
wird deshalb so verfahren, wie in der Geschäftsordnung
vorgesehen. Die Fragen 34 und 35 der Kollegin Caren
Marks sowie die Fragen 36 und 37 der Kollegin Christel
Humme sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit. Die Frage 38 der Kollegin
Dr. Martina Bunge soll schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 39 des Kollegen Dr. Harald
Terpe von Bündnis 90/Die Grünen. - Er ist auch nicht
anwesend. Damit wird bei den Fragen 39 und 40 so ver-
fahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Die
Frage 41 des Kollegen Harald Weinberg soll schriftlich
beantwortet werden.1)
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Der Kollege Dr. Hofreiter von den Grünen ist auch
nicht anwesend. Deswegen wird bei den Fragen 43 und
44 ebenfalls so verfahren, wie in unserer Geschäftsordnung vorgesehen. Die Fragen 45 und 46 der Kollegin
Silvia Schmidt ({1}) sollen schriftlich beantwortet
werden.
Ich rufe Frage 47 des Kollegen Ostendorff auf:
Wie passt es zusammen, dass der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Dr. Peter Raumsauer, sich
besonders dafür einsetzt, „die ländlichen Räume gut und bestmöglich zu entwickeln“ ({2}),
und dann die Mittel für das dafür neu aufgelegte Programm
zur Förderung von kleineren Städten und Gemeinden gleich
wieder gekürzt werden, und wie sieht dann die Strategie der
Bundesregierung für kleinere Städte und Gemeinden vor dem
Hintergrund des demografischen Wandels im ländlichen
Raum aus?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege
Ostendorff, diese Frage möchte ich namens der Bundes-
regierung wie folgt beantworten: Gemäß § 6 Abs. 9 des
Haushaltsgesetzes für das Jahr 2010 wurden die Ver-
pflichtungsermächtigungen aller Investitionstitel um
10 Prozent gekürzt, so auch die Mittel für das neue Städ-
tebauförderungsprogramm „Kleinere Städte und Ge-
meinden - überörtliche Zusammenarbeit und Netz-
werke“. Dementsprechend stehen im Jahr 2010 statt
20 Millionen Euro nun 18,083 Millionen Euro für Inves-
titionszuschüsse bereit.
An der Strategie der Bundesregierung hat sich durch
diese pauschale Kürzung nichts geändert. Ziel ist es,
Klein- und Mittelstädte in ländlichen Räumen in ihrer
zentralörtlichen Funktion als Ankerpunkte der Daseins-
vorsorge zu sichern und zu stärken. Die Kommunen sol-
len insbesondere bei der Bündelung ihrer Kräfte und
Ressourcen, weitgehender Kooperation bei Infrastruktur-
angeboten und in der Zusammenarbeit in Netzwerken
durch dieses Programm unterstützt werden.
Herr Kollege Ostendorff, Ihre erste Nachfrage, bitte.
1) Die vorgezogene Frage 42 des Kollegen Dr. Harald Terpe wird
auch schriftlich beantwortet.
Herr Staatssekretär Mücke, schönen Dank für die Beantwortung der Frage. - Zur Präzisierung: Wie wollen
Sie angesichts der 10-prozentigen Kürzung, die Sie angesprochen haben, den Herausforderungen des demografischen Wandels im ländlichen Raum begegnen? Welche
Schwerpunkte des Förderprogramms wollen Sie in kleinen Städten und Gemeinden angesichts knapper werdender Mittel und des demografischen Wandels setzen?
Geschätzter Herr Kollege Ostendorff, dieses Programm ist neu. Wir haben es in diesem Haushaltsjahr das
erste Mal aufgelegt. Das heißt, in allen Jahren zuvor hat
dieses Thema bei den Städtebauförderprogrammen nie
eine Rolle gespielt. Wir haben es ganz bewusst neu aufgenommen, weil wir Handlungsbedarf gerade im ländlichen Raum, in den kleineren Städten und Kommunen
erkannt haben. Wir sehen dieses Programm als einen
Einstieg in eine größere Förderkulisse an.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich die
Haushaltssituation erheblich verschlechtert hat und dass
natürlich auch unser Haus davon nicht verschont bleibt.
Wir wollen den Kommunen trotz allem signalisieren,
dass uns die Schwierigkeiten, alle örtlichen Funktionen
in einer Kommune vorzuhalten, durchaus bekannt sind.
Wir wollen insbesondere Kooperationen zwischen verschiedenen Gemeinden in Gemeindeverbünden anregen, um diese zentralörtlichen Funktionen in Kooperation durch mehrere wahrnehmen zu lassen. Es kommt
darauf an, dass wir gerade den ländlichen Raum sowie
kleinere Städte und kleinere Gemeinden als einen lebenswerten Lebensraum für ganz viele Menschen erhalten. Die Bundesregierung legt ein besonderes Augenmerk auf dieses Handlungsfeld. Es kommt uns darauf an,
dass wir eine Kommunikationsplattform und damit
Möglichkeiten schaffen, sich auszutauschen und BestPractice-Beispiele zu finden, um einer verstärkten Abwanderung aus dem ländlichen Raum entgegenzuwirken.
Dieses Programm ist als ein Anfang zu sehen. Ich verweise noch einmal darauf, dass wir erst in diesem Jahr
mit diesem Programm begonnen und dazu kürzlich ein
Konzept vorgelegt haben. Wir wollen es gemeinsam mit
unserem Fachausschuss, dem Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung, in den nächsten Jahren fortentwickeln. Wir denken, dass uns die Beteiligung der
Kommunen in unserer Einschätzung recht geben wird,
dass wir versuchen sollten, dieses große Problem gemeinsam zu lösen.
Zweite Nachfrage, Kollege Ostendorff.
Herr Staatssekretär, bei vielen Punkten, die Sie über
den ländlichen Raum ausgeführt haben, liegen wir nahe
beieinander. Wie Sie wissen, bin ich der agrarpolitische
Sprecher der Grünen. Man kann sich also die Frage stellen, warum ich zu diesem Geschäftsbereich frage. Ich
tue dies deswegen, weil es auch um die Frage geht - das
wäre meine nächste Frage -, ob vonseiten der Bundesregierung beabsichtigt ist, das Programm für den ländlichen Raum mit dem Städtebauförderungsprogramm zu
vernetzen. Wir glauben, dass es da Überschneidungen
geben könnte. Es gibt in diesem Zusammenhang sehr
viele Probleme - Abwanderung, demografischer Wandel
und Verödung - zu meistern. Optimistisch in die Zukunft
gedacht, müssen wir das, was noch an Potenzial da ist,
stärken.
Wir haben einen guten fachlichen Austausch mit dem
Haus von Frau Bundesministerin Aigner, die natürlich in
erster Linie für die Landwirtschaft verantwortlich ist.
Bei uns ist nicht so sehr der wirtschaftliche Aspekt entscheidend. Uns geht es vielmehr um die Funktion der
Gemeinde in einem räumlichen Zusammenhang. Wir
versuchen natürlich, diese Programme aufeinander abzustimmen.
Generell gilt, dass wir alle Städtebauförderprogramme als lernende Programme ansehen. Das heißt,
dass wir immer flexibel reagieren können, wenn sich
neue Bedarfe ergeben, und dass wir neuere und bessere
Erkenntnisse sammeln. Insofern setzen wir natürlich auf
die Zusammenarbeit insbesondere der Politiker, die in
diesem Bereich tätig sind. Sie sollen uns dabei unterstützen, dieses Programm weiterzuqualifizieren. Wir müssen sehen, dass wir es in den nächsten Jahren in einer
Zeit knapper werdender Haushaltsmittel auf dem jetzigen Niveau fortführen können. Wir können das natürlich
nur gemeinsam und nicht gegen die Interessen anderer
Häuser tun. Man muss auch berücksichtigen: Eine Gemeinde ist ein Sozialgefüge. Man muss alle Aspekte betrachten. Dazu gehört ausdrücklich auch die Möglichkeit, dort Einkommen zu erzielen.
Insofern betrachten wir es als ein ganzheitliches Programm. Aber es geht uns nicht so sehr darum, damit Investitionen zu fördern, sondern wir wollen mit diesem
Programm die Zusammenarbeit fördern. Wir wollen zur
Kooperation anregen. Ich glaube, dieses Programm bietet eine gute Gelegenheit dafür, im Sinne von - auf Neudeutsch - Best Practice Beispiele auszutauschen und den
betroffenen Kommunen die Anregung zu geben, über
Funktionsteilungen nachzudenken und Aufgaben über
einen größeren Raum hinweg gemeinsam wahrzunehmen.
Es gibt eine weitere Frage. Bitte schön.
Herr Mücke, Sie haben gerade gesagt, dass Sie die
Mittel für die Förderprogramme im Städtebau pauschal
um 10 Prozent kürzen wollen.
Nein.
Oder nur die Mittel für Programme im ländlichen
Raum?
Das habe ich nicht gesagt.
Dann erklären Sie es doch einmal bitte; ich habe Sie
so verstanden. Falls es so wäre, habe ich die Frage:
Wieso kürzen Sie beim Städtebau? Dieser Bereich
nimmt den geringsten Teil des Volumens des Etats des
Bau- und Verkehrsministeriums ein. Das sind etwas über
600 bzw. knapp 700 Millionen Euro, während fast
10 Milliarden Euro im Verkehrsbereich zur Verfügung
stehen. Es wäre also wesentlich einfacher, mit kleinen
Maßnahmen Geld im Verkehrsbereich einzusparen; denn
die Städtebauförderung ist natürlich wesentlich wichtiger und betrifft nur eine ganz kleine Summe.
Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, dass Sie Ihre
Frage im Zusammenhang mit der Spardiskussion, betreffend das nächste Haushaltsjahr, stellen. Wir reden hier
aber über das Haushaltsjahr 2010, über den laufenden
Haushalt. Dort stehen noch relativ große Summen für
Städtebauförderprogramme zur Verfügung. Die aktuelle
Diskussion, die wir heute im Ausschuss angerissen haben, bezieht sich vor allem auf die Haushaltsplanung für
das nächste Jahr. Aber für dieses Jahr gilt nach § 6
Abs. 9 des Haushaltgesetzes, dass alle investiven Verpflichtungsermächtigungen im Haushalt diese Kürzung
um 10 Prozent haben hinnehmen müssen. Es ist also keineswegs so, dass wir diese Kürzungen für das Jahr 2010
nur bei diesem Programm, nur bei den Städtebaufördermitteln oder möglicherweise nur zugunsten von Infrastrukturmaßnahmen im Straßenbereich vornehmen
mussten. Diese Kürzung betrifft vielmehr alle Verpflichtungsermächtigungen im investiven Teil quer über den
gesamten Haushalt.
Wir kommen zur Frage 48 des Kollegen Ostendorff:
Wie will die Bundesregierung den städtebaulichen Herausforderungen durch Klima- und demografischen Wandel
begegnen, wenn die finanzielle Ausstattung der Städtebauförderprogramme gekürzt wird?
Die Bundesregierung nimmt die städtebaulichen Herausforderungen durch den Klima- und demografischen
Wandel sehr ernst. Auch zukünftig wird der Bund über
die Städtebauförderungsprogramme die Kommunen dabei unterstützen, Investitionen in die nachhaltige Stadtund Ortsentwicklung durchzuführen. Dies betrifft die Innenentwicklung, die Aufwertung des Stadtbildes und das
Brachflächenrecycling sowie den familien-, generationen- und klimagerechten Umbau von Stadtquartieren zur
Bewältigung des strukturellen und demografischen Wandels.
Der Bund wird in enger Abstimmung mit den Ländern, Kommunen und Verbänden prüfen, wie die verschiedenen Programme im Bereich der Stadtentwicklung
in Zukunft noch gezielter gebündelt und effizienter gemacht werden können.
Nachfrage, Kollege Ostendorff?
Ja. - Das führt mich natürlich sofort zu einer Nachfrage: Wenn Sie bündeln, werden Sie in diesem Förderkatalog natürlich auch Prioritäten schaffen, die möglicherweise nicht von Kürzungen betroffen sind. Oder ist
das nicht angedacht?
Darüber kann ich heute noch keine verbindliche Auskunft geben. Ich habe Ihnen gerade genannt, welche
Punkte für uns von besonderer Bedeutung sind. Wir sehen beim Strukturwandel und bei der demografischen
Entwicklung einen Schwerpunkt; das ist, glaube ich, bei
allen Fraktionen hier im Haus Common Sense.
Ich kann Ihnen heute noch nicht verbindlich sagen,
wie wir die Städtebauförderprogramme im nächsten Jahr
gestalten werden. Es braucht eine gewisse Zeit, mit den
neuen Haushaltsansätzen - wir haben noch keinen Kabinettsbeschluss darüber - eine neue Struktur dafür zu entwickeln. Wir werden das aber natürlich im Laufe dieses
Jahres tun. Wir wollen in Zusammenarbeit mit allen
Fraktionen versuchen, die Städtebauförderprogramme so
weiterzuentwickeln, dass wir die dringendsten Entwicklungsbedarfe in diesem Bereich auf jeden Fall mit abdecken.
Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, dass für uns das
Thema „Strukturwandel und demografische Entwicklung im ländlichen Raum“ ein neuer Schwerpunkt ist.
Deshalb haben wir das Programm, zu dem Sie mich vorhin gefragt haben, in diesem Jahr aufgelegt. Wir werden
alles daran setzen, dass wir das Programm fortführen.
Es gibt die Überlegung, ob wir auch künftig beispielsweise beim städtebaulichen Denkmalschutz und beim
Stadtumbau eine Unterscheidung zwischen Ost und
West vornehmen; sicherlich gibt es hier unterschiedliche
Betroffenheiten und Probleme. Dies alles steht aber noch
nicht fest. Ich lade Sie ein, gemeinsam mit uns an der
Weiterentwicklung der Städtebauförderprogramme zu
arbeiten.
({0})
Keine weitere Nachfrage? - Dann kommen wir zur
Frage 49 der Kollegin Bettina Herlitzius:
In welcher Gesamthöhe soll es bei den Städtebauförderprogrammen die vom Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, Dr. Peter Ramsauer, in der Sitzung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom
9. Juni 2010 angekündigten Einsparungen geben, und wie sehen diese Einsparungen konkret für die einzelnen Städtebauförderprogramme in den Haushaltsjahren 2011 bis 2014
aus?
Herr Staatssekretär, bitte schön.
Frau Kollegin Herlitzius, die vorgesehene Einsparung
bei den Programmmitteln im Rahmen der Städtebauförderung 2011 liegt bei 305 Millionen Euro. Aufgrund des
fünfjährigen Zeitraumes der Ausfinanzierung der entsprechenden Mittel wird sich das vorgenannte Einsparvolumen nicht in voller Höhe unmittelbar im nächsten
Haushaltsjahr bemerkbar machen. Vielmehr wirken sich
die jeweils anteiligen Einsparungen bis 2015 in geringeren Jahresbeträgen aus, die in der Gesamtsumme dem
oben genannten Einsparvolumen entsprechen. Die Konkretisierung der Einsparungen bei den einzelnen Programmen erfolgt im Rahmen der Aufstellung des Regierungsentwurfs zum Bundeshaushaltsplan 2011, welche
noch nicht abgeschlossen ist.
Ihre Nachfrage, Frau Kollegin.
Verstehe ich Sie richtig, dass die Mittel um
305 Millionen Euro gekürzt werden, aber schon in 2011? Also: ja. Das ist eine Halbierung des Ansatzes. Ihnen ist
klar, welche Auswirkungen das hat: Bei den Förderprogrammen, die in der Regel über mehrere Jahre laufen,
werden im Hinblick auf zu erwartende Mittel die Anträge gestellt. Wie groß ist das Fördervolumen, das die
Bezirksregierungen für die Folgejahre bereits beantragt
haben? Die Kürzung bedeutet, dass sich ganz viele Projekte weiter verschieben. Können Sie eine Größenordnung der Projekte nennen, die hier verschoben werden?
Das kann ich jetzt nicht konkret beantworten; zum
jetzigen Zeitpunkt könnte das auch niemand sonst tun.
Zunächst einmal gestaltet sich das Verfahren so: Es gibt
einen Kabinettsbeschluss über den Haushaltsentwurf,
dann tagt der Haushaltsgesetzgeber - also Sie - von September bis wahrscheinlich November und beschließt
über den Bundeshaushalt; erst im Nachgang zum Beschluss über den Bundeshaushalt verhandelt die Bundesregierung mit den Ländern über den Abschluss einer
Verwaltungsvereinbarung. In dieser Verwaltungsvereinbarung sind quasi die Durchführungsbestimmungen für
jedes einzelne Städtebauförderprogramm enthalten, auf
dessen Grundlage Anträge gestellt werden. Die Anträge,
die für dieses Jahr eingehen, werden mit der Haushaltslinie dieses Jahres - über 500 Millionen Euro in den Städtebauförderprogrammen - finanziert.
Was wir im nächsten Jahr angesichts der zugegebenermaßen erheblichen Kürzungen tun können, kann
heute niemand beantworten. Ich will nicht ausschließen,
dass das eine oder andere Projekt, das über mehrere
Jahre läuft, vielleicht gestreckt werden muss. Die Konsequenz, wenn man sparen muss, ist, dass man bestimmte
Projekte möglicherweise auf der Zeitachse verschieben
muss. Aber wir wollen die Städtebauförderung insgesamt auf diesem Niveau fortführen, wohl wissend, dass
der Bedarf immer höher sein wird.
Ich möchte Ihnen erläutern, warum das möglicherweise verantwortbar ist; denn Sie müssen die Städtebauförderung nicht nur mit der Brille des Bundes sehen
- natürlich tragen wir eine große Verantwortung -, sondern es gibt auch jede Menge anderer Akteure, beispielsweise die Länder und natürlich die Kommunen selber,
die in diesem Bereich gefragt sind. Das ist beispielsweise bei den Investitionen aus dem Bundeshaushalt für
die Verkehrsinfrastruktur nicht der Fall. Wenn der Bund
in diesem Bereich nicht investiert, tut es keiner.
({0})
Wenn wir bei den Städtebauförderprogrammen kürzen,
dann gibt es zumindest noch die Länder, die Kommunen
und natürlich auch Private, die etwas zum Stadtumbau
und zur Städtebauförderung beitragen können. Insofern
sind diese Kürzungen für uns alle schmerzlich, aber sie
sind verantwortbar.
Weitere Nachfrage?
Ja. - Wie will die Bundesregierung den Kommunen
Planungssicherheit für bereits bestehende Projekte geben, bei denen die Finanzvolumen einfach benötigt werden?
Wir werden gemeinsam mit den Ländern, die für uns
die Städtebauförderprogramme administrieren, darauf
achten, dass wir durch die Kürzung der Programme nicht
für einen Abbruch von langfristigen Entscheidungen sorgen. Das ist ganz verständlich. Es wird möglicherweise
nicht möglich sein, neue Projekte zu beginnen, wenn
man laufende Projekte noch ausfinanzieren muss. Ich
kann Ihnen das heute konkret auf einzelne Länder oder
konkrete Vorhaben bezogen nicht benennen, weil die
Städtebauförderprogramme durch die Länder verwaltet
werden. Die Länder stehen für uns in der Verantwortung,
diese Entscheidung sinnvoll zu treffen. Ich gehe aber davon aus, dass auch in den Ländern verantwortliche Entscheidungen getroffen werden. Wir wollen alles versuchen, die Auswirkungen der schmerzhaften Kürzungen
so gering wie möglich zu halten. Aber selbstverständlich
ist es so, dass es Auswirkungen haben wird.
Wir können gerade noch die Frage 50 der Kollegin
Herlitzius abhandeln. Eigentlich sind wir schon am Ende
der Tagesordnung, aber das machen wir jetzt noch. Danach kommen wir zur Aktuellen Stunde.
Ich rufe die Frage 50 der Kollegin Herlitzius auf:
Wie passt es zusammen, dass in dem von der Bundesregierung in der letzten Wahlperiode vorgelegten Stadtentwicklungsbericht 2008 für die Jahre 2007 bis 2013 ein Jahreswert
von 700 Millionen Euro an direkten Städtebaufördermitteln
des Bundes empfohlen wird, die tatsächliche Höhe der Bundesmittel in den letzten Jahren aber nur 500 bis 550 Millionen
Euro jährlich betrug und die Städtebaufördermittel jetzt noch
weiter gekürzt werden sollen, und wie beurteilt die Bundesregierung den angesprochenen Stadtentwicklungsbericht 2008
in diesem Zusammenhang?
Frau Kollegin, die Mittelbereitstellung richtete sich
nach den haushaltsmäßigen Spielräumen der entsprechenden Bezugsjahre unter Maßgabe fachpolitischer Prioritätensetzungen aus. Unabhängig davon darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Städtebauförderung in diesem
Zeitraum überdurchschnittlich von Programmmittelverstärkungen profitiert hat. So markiert zum Beispiel der
für 2009 zur Verfügung gestellte Mittelumfang von rund
870 Millionen Euro einschließlich des Investitionspakts
zur energetischen Sanierung von Schulen, Kindergärten,
Sportstätten und sonstiger sozialer Infrastruktur in den
Kommunen einen in der Vorzeit nie erreichten Höchststand. Darüber hinaus flossen der Städtebauförderung
zusätzliche Programmmittel aus dem Konjunkturpaket I
zu.
Die aktuell vorgesehene Kürzung ist notwendig, da
sie einen nicht unerheblichen Beitrag zur zwingend notwendigen Konsolidierung des Bundeshaushalts ermöglicht, ohne dabei die Förderung der Stadtentwicklung
einzustellen. Die vorgesehene Kürzung geht einher mit
einer künftig noch weiter verstärkten Bündelung und Effektivierung der Förderprogramme.
Nachfrage?
Herr Staatssekretär, es erklärt sich mir trotzdem nicht,
warum Sie einen Etat kürzen, der 20-mal niedriger ist als
der Verkehrsetat mit seinen 10 Milliarden Euro, wo Sie
wesentlich schneller einsparen können. Warum kürzen
Sie beim Städtebau, obwohl Sie wissen, dass 1 Euro in
der Stadtentwicklung 9 Euro private Gelder akquiriert?
Warum machen Sie das?
Weil schlicht und einfach jedes Ressort die Verantwortung für den Gesamthaushalt trägt. Wir müssen genauso wie jedes andere Haus zur Konsolidierung beitragen. Es ist keineswegs so, dass der Rotstift an den
Verkehrsinvestitionen ganz vorbeigegangen ist. Wir versuchen, eine hohe Investitionslinie fortzuschreiben. Ich
habe Ihnen vorhin erläutert, aus welchen Gründen wir
das tun. Ich will sie noch einmal wiederholen: Wenn
nicht wir in die Infrastruktur des Bundes investieren, tut
es keiner. Wenn wir eine verantwortbare Kürzung bei
den Städtebauförderungsprogrammen vornehmen, gibt
es immer noch andere an diesem Prozess Beteiligte, die
investieren können. Diese wollen wir ausdrücklich ermuntern, sich in diesem Bereich zu engagieren.
Ich hatte vorhin gesagt, dass wir nur noch diese Frage
zulassen können. Wir können das jetzt nicht erweitern.
Eigentlich sind wir schon außerhalb der Zeit. - Haben
Sie eine zweite Nachfrage?
Nein, die habe ich nicht. Das reicht mir. Es wird nicht
besser.
Die Zeit für die Fragestunde ist bedauerlicherweise
abgelaufen. Die restlichen Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Bedrohliches Anwachsen linksextremer Straftaten in Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Bosbach das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Um eines gleich vorweg zu
sagen, damit wir in dieser Debatte keine Schieflage bekommen: Wir haben seit Jahren ein hohes, ein viel zu
hohes, ein erschreckend hohes Niveau an rechtsradikalen Straf- und Gewalttaten. Wir erleben seit einiger Zeit
ein deutliches Anwachsen linksradikaler Gewalttaten.
Durch diesen Anstieg an linksradikaler Gewalt wird aber
keine einzige rechtsradikale Straftat relativiert oder gar
bagatellisiert. Für uns als Christliche Demokraten ist
Folgendes entscheidend: Es ist für uns völlig unerheblich, ob dieses Land von Rechtsradikalen angegriffen
wird, von Linksradikalen oder von religiös motivierten
Straftätern. Wir wollen unsere demokratische Ordnung
gegen jeden Feind verteidigen, ganz gleich aus welcher
Richtung er antritt.
({0})
Es hat auch keinen Zweck, einzelne Straftaten gegeneinander aufzurechnen. Wir sollten es uns ersparen, uns gegenseitig die Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik vorzulesen oder gar vorzuhalten.
Die Frage ist: Welche Konsequenzen sind zu ziehen?
Die erste Konsequenz: Wehret den Anfängen. Wir dür4916
fen in Deutschland keine rechtsfreien Räume, auch keine
strafverfolgungsfreien Räume dulden. Wir müssen nach
beiden Seiten die Augen offenhalten. Machen wir uns
selbst bitte nichts vor - selbst wenn der eine oder andere
das nachher bestreiten sollte; genau so ist es -: Hätten
Rechtsradikale die Hamburger Hafenstraße besetzt, hätte
der Rechtsstaat nicht die Geduld gehabt, die er jahrelang
aufgebracht hat.
Zweitens. Es geht hier nicht um das Demonstrationsrecht. Diejenigen, die am vergangenen Wochenende
schwere Straftaten begangen haben, können sich nicht
auf das Recht auf Demonstrationsfreiheit - „friedlich
und ohne Waffen“ - berufen. Hooligans sind keine Fußballfans. Hooligans sind Kriminelle. Sie nehmen ein
Fußballspiel zum Anlass, schwere Straftaten zu begehen.
Der echte Fußballfan hat mit einem Hooligan nichts zu
tun. Der Demonstrant, der friedlich und ohne Waffen demonstrieren will, für was auch immer, hat dazu ein gutes
Recht, aber er sollte auch Obacht geben, dass er bei den
Demonstrationen nicht jenen unfreiwillig Deckung bietet, die diese Demonstration zum Anlass nehmen, um
schwere Straftaten zu begehen.
Wenn unsere Polizistinnen und Polizisten - zum Teil
noch blutjung - in dieser Art und Weise angegriffen werden, dann werden sie nicht „nur“ in ihrer Eigenschaft als
Polizeieinsatzkräfte angegriffen, sondern auch als Repräsentanten, als Verteidiger dieses Rechtsstaates. Deshalb gebührt all jenen ein ausdrückliches Dankeschön,
die sich zum Teil Woche für Woche und Tag für Tag in
den Dienst des Staates stellen, die sich bei Demonstrationen zum Teil Unsägliches anhören müssen, die ihr Leben riskieren, um diesen Staat zu verteidigen.
({1})
Zu den rechtlichen Konsequenzen möchte ich nur
zwei Punkte kurz ansprechen. Ein Thema ist sicherlich
der bessere strafrechtliche Schutz von Polizeieinsatzkräften und anderen Kräften, die den Rechtsstaat schützen sollen. Darüber sind wir uns in der Koalition noch
nicht ganz einig,
({2})
aber vielleicht gelingt es uns in den nächsten Wochen,
uns hier einig zu werden.
Der zweite Punkt, der mir am Herzen liegt, ist § 125
des Strafgesetzbuches, Landfriedensbruch, der in seiner
jetzigen Ausgestaltung die Polizeieinsatzkräfte vor erhebliche Probleme stellt. Ich möchte einmal aus dem
Abschlussbericht einer Polizeibehörde im Ruhrgebiet
vorlesen. Dieser Abschlussbericht, der erstellt wurde,
bevor die Staatsanwaltschaft zu entscheiden hatte, ob sie
Anklage erhebt oder nicht, sagt viel darüber aus, wie es
im Alltag von Polizeieinsatzkräften, die massiv angegriffen werden, aussieht, wenn es um die strafrechtliche
Verfolgung geht. Ich zitiere:
Als sich die Gruppe der Businsassen auf der mittleren Fußgängerinsel des Königswalls befand,
stürmte die vor dem Hauptbahnhof wartende
Menge unter lautem Rufen und Schreien unvermittelt in geordneter Form auf den Königswall, entfaltete dort ein rotes Transparent und bewegte sich
sehr zügig in Richtung Freistuhl. Auf diesem Teilstück wurden bereits die ersten Feuerwerkskörper
gezündet. Durch eingesetzte Polizeikräfte war zuvor beobachtet worden, dass die hier bekannten
Dortmunder Aktivisten und ebenfalls Beschuldigten …
- an dieser Stelle werden die Namen genannt die Wartenden mit Handzeichen … zum Loslaufen
animiert hatten. … Auf dem folgenden Weg in die
Dortmunder Innenstadt missachtete die Gesamtgruppe dauerhaft Weisungen der Polizei, es wurden
Steine geworfen und pyrotechnische Gegenstände
abgefeuert. Die Menschenmenge von nunmehr ca.
400 Personen des
- jetzt können Sie aufmerksam zuhören rechten Spektrums begab sich zielgerichtet in den
Bereich der Fußgängerzone, exakt in Richtung der
zu diesem Zeitpunkt auf dem Theatervorplatz befindlichen Teilnehmer der friedlich-bürgerlichen,
traditionellen „1.-Mai-Kundgebung“ …
Dann werden im Einzelnen die Straftaten geschildert,
die begangen worden sind: Werfen von pyrotechnischen
Gegenständen und Steinen, Beschädigung von Fahrzeugen, Nichtbeachtung von weisenden Polizeibeamten,
Widerstandshandlungen gegen die Polizei usw. Personen
werden festgenommen.
Dann beginnt das Problem: Die, die man als Haupttäter ergriffen hatte, konnten nicht angeklagt und verurteilt werden, weil der ganz konkrete jeweilige Tatbeitrag
- von wem stammte nun der Pflasterstein aus der gewaltbereiten Menge? - nicht geführt werden konnte. Dass
das für die ermittelnden Polizeibeamten und die Kollegen, die zum Teil schwer verletzt wurden, ein traumatisches Erlebnis ist, kann man verstehen.
Wir sollten einmal in aller Ruhe gemeinsam mit Richtern, mit Staatsanwälten und mit Polizeieinsatzkräften
darüber nachdenken - wir führen über alles mögliche
Anhörungen durch -, ob das wirklich die optimale Fassung ist, die wir jetzt haben, oder ob wir nicht nur durch
§ 113 des Strafgesetzbuchs, sondern auch durch eine Änderung des Landfriedensbruchrechts unsere Polizeieinsatzkräfte besser schützen können.
({3})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Bosbach.
Wissen Sie, die allerbeste Prävention ist, dass Demokraten in diesem Lande nie gemeinsame Sache machen
mit denen, die diesen Staat angreifen, ganz egal ob von
links außen oder von rechts außen. Es genügt nicht,
nachdem schwere Straftaten begangen worden sind, sich
verbal von den Straftätern zu distanzieren, sondern man
muss deutlich machen, dass sie in der Gemeinschaft der
Demokraten nichts zu suchen haben.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sie haben heute eine Aktuelle Stunde zum Thema „Bedrohliches Anwachsen linksextremer Straftaten in
Deutschland“ beantragt. Ich habe hier jetzt aber nichts
gehört, das dieses bedrohliche Anwachsen belegt. Ich
bin sehr dafür, dass wir differenziert diskutieren und beides, linksextrem und rechtsextrem, in den Blick nehmen,
aber nicht jedes brennende Auto ist automatisch dem
linksextremen Spektrum zuzurechnen.
Gestern hat Innensenator Körting den Verfassungsschutzbericht für Berlin vorgestellt und erklärt, dass von
den 320 brennenden Autos im vergangenen Jahr
145 Brandanschläge den Extremisten, zumeist linken,
zuzuordnen seien. Gott sei Dank geht diese Zahl in diesem Jahr zurück. Bis zum 14. Juni 2010 gab es
97 Brandstiftungen, von denen 16 politisch motiviert
waren. Bei den anderen Anschlägen handele es sich um
Vandalismus, so Körting. Das ist schlimm genug, aber
um das zu belegen, was Sie sagen, muss man die Zahlen
differenziert betrachten. Es sind Straftaten, hier muss ermittelt werden - auch das ist schwierig genug -, und die
Täter müssen bestraft werden.
Der Anschlag auf die Polizeibeamten bei einer Demonstration am vergangenen Samstag in Berlin war gezielt und mit hoher krimineller Energie durchgeführt.
Bei diesem Anschlag gab es 14 verletzte Polizisten, zwei
davon schwer. Wer hinter diesem Anschlag steckt, ist bis
jetzt unklar.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verurteilen diese Angriffe aufs Schärfste. Sie sind durch
nichts zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Gewalt
gegen Menschen oder Sachen ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung.
({0})
Wir müssen uns mit diesen Phänomenen auseinandersetzen. Wir begrüßen es daher, dass die Innenminister
von Bund und Ländern auf der letzten Innenministerkonferenz im Mai die Gremien beauftragt haben, bis zur
Herbstkonferenz einen abgestimmten Vorschlag zur
Bekämpfung der politisch links motivierten Gewalt zu
unterbreiten. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Führung des BKA will einen umfassenden Maßnahmenkatalog und Handlungsempfehlungen erstellen.
Wir müssen mehr über das Phänomen Linksextremismus wissen. Wir müssen wissen, ob es sich um vernetzte
Strategien oder um Einzeltäter handelt. Polizei und
Hilfskräfte müssen besser geschützt und besser ausgestattet werden. Die Polizeitaktik bei Großereignissen
muss sich darauf einstellen, dass sich unter friedliche
Demonstranten auch militante Gewalttäter mischen können. Aber auch die Politik muss eine klare Trennungslinie ziehen.
In der Stuttgarter Zeitung von heute wurde berichtet,
dass der SPD-Fraktionschef im baden-württembergischen Landtag, Claus Schmiedel, anlässlich einer Rede
auf einer Demonstration Opfer von Angriffen geworden
ist; er wurde mit Eiern, Flaschen und Stöcken beworfen.
Diese Angriffe kommentierte der dortige CDU-Generalsekretär Thomas Strobl in einer Pressemitteilung mit den
Worten: „Schmiedel bekommt eins auf den Frack.“ Solche Äußerungen sind unerträglich, und sie verharmlosen
tätliche Angriffe. Gewalttäter von links und rechts müssen verfolgt und konsequent bestraft werden. Aber
Links- und Rechtsextremismus lassen sich nicht vergleichen und schon gar nicht mit denselben Instrumenten bekämpfen.
({1})
Die Programme des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend richten sich an die Zivilgesellschaft, sich gegen Ausländerhass, Antisemitismus,
Demokratiefeindlichkeit und Intoleranz zu wehren. Sie
können nicht eins zu eins auf die Bekämpfung von
Linksextremismus und Islamismus übertragen werden.
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass durch pädagogisch-präventive Konzepte ein Extremist davon abgehalten werden kann, eine Bombe zu basteln - die Anleitungen werden ja in der Szene verbreitet - und diese dann
auch einzusetzen. Deshalb täuschen die Ankündigungen
von Ministerin Schröder, Programme gegen Linksextremismus und Islamismus aufzulegen oder die Programme
gegen Rechtsextremismus auszuweiten, ohne dass sie
sagt, was sie eigentlich tun will, einfach nur Aktionismus vor.
({2})
Der Staatssekretär im Bundesfamilienministerium erklärt immer wieder, man sei in der Sondierungsphase,
man sei in einem Planungsprozess, man mache Anhörungen und führe Gespräche. Doch was genau passieren
soll, ist bis heute unklar.
Auf der Internetseite des BMI heißt es:
Höchsten Stellenwert misst die Bundesregierung
der Bekämpfung des Extremismus zu. Sie setzt hier
einen wesentlichen innenpolitischen Schwerpunkt,
weil Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit das innere Gleichgewicht einer demokratischen
Gesellschaft stören.
Nehmen Sie diese Aufgabe endlich ernst!
Wenn Sie von den Regierungsfraktionen heute feststellen, es gebe ein bedrohliches Anwachsen linksextremistischer Straftaten, ist es wirklich an der Zeit, dass
Sie, Herr Bundesinnenminister, sich dazu äußern und erklären, mit welchen Maßnahmen Sie diesem Problem
begegnen wollen. Extremismusbekämpfung und innere
Sicherheit sind originäre Aufgabe des Bundesinnenministers und nicht der Familienministerin.
Danke sehr.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Fograscher, lassen Sie es mich am Anfang sagen: Die Bekämpfung von Extremismus ist Aufgabe von
uns allen, indem wir zeigen, dass sich die Mitte dieser
Gesellschaft vor extremistischer Gewalt nicht versteckt
und dass sie sie bekämpft, und zwar solidarisch.
({0})
Die Aktuelle Stunde, die wir heute durchführen, hat
einen sehr traurigen Anlass. Deswegen will ich sagen:
Wenn wieder einmal linke Extremisten schwere Gewalttaten begangen haben, ist es unsere Aufgabe - das tue
ich hiermit -, den verletzten Beamten unser Mitgefühl
und beste Genesungswünsche auszusprechen.
({1})
Gerade wenn es manchen an Klarheit fehlt, muss hier
einmal gesagt werden: Wir verurteilen das aufs
Schärfste.
({2})
Wir wissen, dass die linksextreme Gewalt keine neue
Erscheinung ist. Bereits seit Jahren verzeichnet die bundesweite Kriminalstatistik kontinuierlich Anstiege in
diesem Bereich. Langsam wird das linksextreme Milieu
stärker, und die bedrohte Mitte der Gesellschaft
schrumpft. Mit einem Zuwachs von 39,4 Prozent verzeichnete die linksextremistisch motivierte Kriminalität
den höchsten Anstieg seit vielen Jahren, und auch Gewalttaten aus diesem Spektrum nahmen um 53,4 Prozent
zu.
({3})
Die Ereignisse vom Wochenende sind also keinesfalls
Einzelfälle, sondern symptomatisch für eine breite Entwicklung in den letzten Jahren, und davor verschließt
diese Koalition ihre Augen nicht.
({4})
Was ist zu tun? Es ist unsere Pflicht als Demokraten,
dem Phänomen ernst gegenüberzutreten und es zu bekämpfen.
({5})
Wir müssen analysieren, welche Milieus dort genau
agieren. Was eint die Menschen, die Autos anzünden,
mit altkommunistischen Gruppen, mit Menschen, die an
Universitäten zunehmend gewaltbereit werden, mit der
autonomen Szene und mit der Jugend, die soziale Problem hat? Wodurch werden diejenigen geeint, die diesem Phänomen des Linksextremismus anhängen? Hier
müssen wir genauer hinschauen, um dann entsprechende
Gegenstrategien zu entwickeln.
({6})
Ein besonders besorgniserregender Indikator ist dabei
die schrumpfende Mitte unserer Gesellschaft. Sie zu
stärken, ist deshalb oberstes Prinzip liberaler Politik.
({7})
Nach der Analyse - ich komme gleich zu Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linken - ist es aber
wichtig, zu sagen - da hat Frau Fograscher recht -, dass
eine einfache Übertragung der Programme von Rechts
auf Links natürlich nicht sachgerecht ist. Gerade weil
der Rechtsextremismus ein sehr ernstes Problem bleibt,
müssen wir ihm unsere ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, aber wir müssen eben auch gegen Links vorgehen.
({8})
Ich glaube übrigens, ein Mittel wäre, wenn wir uns,
die wir hier agieren - aus SPD, Grünen, FDP und CDU/
CSU -, mitunter etwas einiger zeigen und unsere gemeinsamen Werte, die wir haben, stärker nach vorne
stellen würden.
({9})
- Sie schimpfen an dieser Stelle. Ich sage ganz bewusst:
Ich nehme mir vor, Sie auch dann zu loben, wenn ich
den Eindruck habe, Sie treten für gemeinsame Überzeugungen der Demokratie ein, und ich werde dann nicht
aus parteipolitischem Reflex schlicht dagegenhalten.
({10})
Lassen Sie mich das einmal ganz persönlich sagen:
Ich spreche mitunter auch mit einzelnen Vertretern der
Linken, etwa über die Bekämpfung des Antisemitismus.
Frau Pau ist zum Beispiel hier. Dabei habe ich mitunter
durchaus den Eindruck: Auch Sie bekämpfen den Extremismus und machen sich die Auseinandersetzung damit
nicht leicht. - Das sind die einen Momente. In den anderen Momenten sehe ich dann wieder Frau Jelpke, Frau
Höger, Frau Dağdelen und andere, die sich öffentlich mit
extremistischen Gruppierungen, wie der „militanten
gruppe“, solidarisieren,
({11})
die Anschläge mit Gefährdungen von Menschen als legitimes Mittel erachten - diese Gruppen tun das und nicht
die Abgeordneten - und vor Gericht schon verurteilt
worden sind.
Was passiert dann? Nichts. Das ist doch das Erschreckende. Sie lassen diese Abgeordneten von der Linken
schlicht gewähren. Auch jüngst in Sitzungen, an denen
wir gemeinsam teilgenommen haben, sagten Sie nichts
dagegen, kein Moment der Distanzierung. Das sind die
Momente, in denen man es mit der Angst zu tun bekommt, wenn man daran denkt, was wäre, wenn Sie alleine politischen Einfluss in dieser Republik hätten.
({12})
Trotz der vielen guten Gespräche im Einzelfall ist es
also an uns allen, die Werte von Weltoffenheit, Toleranz,
aber auch sozialer Marktwirtschaft in diesem Land zu
verteidigen. Ich hoffe, wir finden dort eine größere Allianz.
Herr Körting hat mit Recht gesagt, dass es sich eine
demokratische Partei schlicht nicht leisten kann, ein gebrochenes Verhältnis zur Gewalt zu haben. Dem ist wenig hinzuzufügen.
({13})
- Es gibt einen präventiven Ansatz. Darauf wird gleich
der zweite Redner meiner Fraktion eingehen.
Ich glaube, dass sich diese Koalition darauf verständigen wird, wie die Probleme zu lösen sein werden. Das
gilt auch in Fragen des Strafrechts; da können Sie sich
sicher sein. Wir werden die Dinge angehen, und wir werden dies einig und gemeinsam mit der CDU/CSU tun.
({14})
Ich würde mir wünschen, dass wir im Kampf gegen
den Linksextremismus nicht nur Grüne und SPD, sondern auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Linken, auf unserer Seite hätten. Dann kämen wir der Sache
deutlich näher. Leider ist von Ihnen wenig zu hören. Besinnen Sie sich: Kehren Sie um und machen Sie es anders!
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer Sprengsätze auf Polizisten wirft, ist nicht links,
ist kein Fußballfan; er ist kriminell.
({0})
Gewalt ist für die Linke kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Gewalt ist aber auch kein
Mittel linker Politik. Nach Ihren Eingangsbemerkungen,
Herr Bosbach, verstehe ich die Überschrift nicht, unter
der Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Sie hätten auch sagen können: Ich suche eine Begründung für
Gesetzesverschärfungen.
Ich möchte im Namen der Linken den Menschen, die
am 12. Juni auf der Demonstration in Berlin verletzt
wurden, eine gute Genesung wünschen. Ich bin froh,
dass die verletzten Beamten aus dem Krankenhaus entlassen werden konnten.
({1})
Es geht darum, Gewalt - egal, von wem sie ausgeübt
wird - zu verhindern. Dafür tragen wir alle hier eine gemeinsame Verantwortung. Ich wiederhole: Gewalt ist
kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Aber
die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt sollte
auch nicht als Mittel benutzt werden, um legitimen politischen Protest insgesamt zu delegitimieren.
({2})
Auch dafür tragen wir eine gemeinsame Verantwortung. Ich bitte all diejenigen, die sich an dieser Debatte
beteiligen, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein.
Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass nun versucht
wird, das berechtigte Anliegen mehrerer Zehntausend
Bürgerinnen und Bürger, die in Berlin und Stuttgart protestiert haben, zu diskreditieren.
({3})
Es ist richtig und wichtig, dass sich Bürgerinnen und
Bürger engagieren: in Vereinen, bei Volksentscheiden,
Volksbegehren und auch bei Demonstrationen und Sitzblockaden. All dies ist Bestandteil einer lebendigen Demokratie, und all dies soll und muss weiter durchgeführt
werden.
Wir als Linke werden auch weiterhin zu gewaltfreien
Demonstrationen und Sitzblockaden aufrufen. Es ist
Zeit, sich zu wehren: gegen unsoziale Politik, Abbau von
Bürger- und Menschenrechten und Auslandseinsätzen
der Bundeswehr.
({4})
Wir glauben an die Überzeugungskraft unserer Argumente und setzen deshalb auf zivilen friedlichen Ungehorsam. Diese Mittel halten wir für legitim.
({5})
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wohne und lebe im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Jährlich gibt es in Berlin eine Auseinan4920
dersetzung um den 1. Mai, insbesondere in diesem
Stadtteil. Gebetsmühlenartig wiederholt die Hauptstadtunion den Vorwurf, dass es dabei zu linksextremistischen
Straftaten kommt. Herr Ruppert hat offensichtlich ordentlich zugehört und es wiederholt. Studien belegen aber
mittlerweile, dass es sich hier im Großen und Ganzen
nicht um politische Gewalt, sondern mehrheitlich um „erlebnisorientierte Jugendliche“ handelt.
({6})
Auch Gewaltausbrüche erlebnisorientierter Jugendlicher sind nicht akzeptabel. Aber es hilft in der Auseinandersetzung nicht weiter, hier ausschließlich einen linksextremistischen Zusammenhang zu konstruieren.
({7})
Es ist gut, dass der rot-rote Senat an seiner Deeskalationsstrategie festhält. Die Deeskalationsstrategie beim
Myfest in Kreuzberg trägt langsam Früchte, und wir alle
wären gut beraten, die damit erreichten Erfolge nicht
kleinzureden, sondern für eine Fortsetzung derartiger
Strategien einzutreten.
({8})
Die Antwort auf Gewalt - im Stadion, in der Wohnung, auf Demonstrationen und nicht zu vergessen die
rassistisch motivierte Gewalt von Neonazis und Faschisten - kann nicht sein, Strafverschärfungen vorzunehmen,
Eingriffsbefugnisse zu erhöhen und politisches Kapital
daraus zu schlagen. Die Antwort darauf muss sein, gemeinsam deutlich zu machen, dass Gewalt nicht ein einziges politisches Problem löst, weder im Inneren noch
im Äußeren.
({9})
Diese Delikte zum Anlass zu nehmen, über eine Strafverschärfung nachzudenken, halte ich für reine Symbolpolitik, die keinerlei Effekt hat. Es gibt einen Strafrahmen für Körperverletzungsdelikte. Diesen auszunutzen
ist Sache der Gerichte.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ein wenig erinnert mich vor allem der Beitrag von
Herrn Ruppert an die Debatte, die jedes Jahr in Berlin
vor dem 1. Mai stattfindet. Hier werden im Vorfeld Ausschreitungen und Gewalttaten in ungeheurem Ausmaß
an die Wand gemalt - eine Voraussage und eine Panikmache, welche die Emotionen hochpeitschen und am
Ende wenig mit dem realen Leben zu tun haben.
({10})
Am Ende stehen Bilder, die uns allen nicht gefallen können, beispielsweise Bilder eines Polizeibeamten, der einen Demonstranten über den Haufen rennt und ihm gegen den Kopf tritt. Auch wenn der Beamte sich in
diesem Fall selbst gestellt hat, ist es schlicht aus rechtsstaatlichen Gründen wichtig, dass wir eine individuelle
Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte einführen.
({11})
Das kann und sollte eine anonymisierte Kennzeichnungspflicht sein. Aber es muss auch klar sein: Polizisten sind Staatsbürger in Uniform, Staatsbürger, die unseren Schutz verdienen, aber nicht im rechtsfreien Raum
agieren.
({12})
Meine Damen und Herren, für die Linke sind Protest
und ziviler Ungehorsam legitime und nötige Mittel
({13})
der politischen Auseinandersetzung. Gewalt ist es nicht.
So einfach ist das.
({14})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! All denjenigen, die wie heute die Berliner Zeitung sich darüber
mokieren, dass nicht der Protest der 20 000 gegen Sozialabbau hier die Debatte bestimmt, sondern die Zündung dieses Explosivkörpers, halten wir ganz deutlich
entgegen: Wir haben hier über das Sparpaket debattiert,
wir werden auch weiter heftig über dieses Sparpaket debattieren, aber es ist genauso richtig und notwendig, angesichts dieses - das kann man in der Tat so sagen - Anschlages von neuer Qualität über ebendiesen Anschlag
zu debattieren. Wir jedenfalls gehen nicht zur Tagesordnung über.
({0})
Ich schließe mich deswegen ausdrücklich den Genesungswünschen an, die hier geäußert wurden, insbesondere gegenüber den beiden inzwischen glücklicherweise
aus dem Krankenhaus entlassenen Polizeibeamten.
({1})
Wenn hier nach der Gemeinsamkeit der Demokraten
gefragt wird, dann wiederhole ich ganz deutlich, was alle
Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses - ich betone: alle - zu diesem Anschlag gesagt haben, nämlich
dass dieser Anschlag eine neue Eskalationsstufe der Gewalt ist, der durch nichts zu rechtfertigen und insgesamt
zu verurteilen ist.
({2})
Die erste Antwort muss deshalb sein, die Täter zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Für diese Antwort - das
sage ich an den Innenminister de Maizière gewandt reicht unser Strafgesetzbuch vollständig aus. Wir haben
keinerlei Verständnis dafür, dass Sie geradezu reflexartig
in der FAZ nach diesem Anschlag wieder eine Verschärfung der Straftatbestände gefordert haben.
({3})
- So ist er zitiert, so sind auch andere von Ihnen zitiert.
({4})
- Sie werden ja noch reden; dann sagen Sie etwas dazu. - So kam die Forderung reflexartig auf diesen Anschlag.
Die Staatsanwaltschaft in Berlin hat in vergleichbaren
Fällen - Molotowcocktail auf Polizeibeamte - wegen
versuchten Mordes angeklagt. Ich brauche Ihnen nicht
zu sagen, Herr Kollege Krings, dass der Strafrahmen in
solchen Fällen von 3 bis 15 Jahren reicht. Selbst wenn
ich hier von einer gefährlichen Körperverletzung ausgehe, beträgt der Strafrahmen 6 Monate bis zu 10 Jahren.
Wer hier eine Debatte über Strafverschärfung führt,
der will in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Der will seinen Nachbarn weichkochen für Strafverschärfungen bei
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; und das halten
wir angesichts dessen, was vorgefallen ist, für nicht angängig. Das halten wir für schäbig; das muss so deutlich
gesagt werden.
({5})
Es ist auch nicht hinnehmbar, Herr Kollege Uhl, dass
Sie in der Bild-Zeitung ankündigen, Sie würden hier ein
Wort zum Versagen des Berliner Innensenators an uns
richten. Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Wenn der
Berliner Innensenator versagt hätte, dann hat lange zuvor
sein Hamburger Amtskollege, Innensenator Ahlhaus,
versagt. In diesem Jahr war am 1. Mai in Hamburg eine
schärfere Randale als in Berlin, und das will schon etwas
bedeuten. Insbesondere der Angriff mit Molotowcocktails auf die Polizeiwache in Hamburg hatte eine Qualität, wie wir sie in Berlin jedenfalls noch nicht gesehen
haben. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Hören Sie
endlich mit der Aufrechnerei auf! Dieser Anschlag eignet sich nicht dafür, parteipolitische Süppchen zu kochen.
({6})
Das bringt an Erkenntnis gar nichts.
Sie wollen zuallererst eine Strafverschärfung. Der
Kollege Bosbach will offenbar - das war mir neu - zum
Landfriedensbruchparagrafen aus Kaisers Zeiten zurückkehren und fordert, dass alle haften, wenn auch nur einer
einen Stein wirft. Hören Sie mit dem Ruf nach Strafverschärfungen auf! Wenn Sie eine gesellschaftliche Offensive gegen Linksextremismus wollen, dann kann man
darüber reden. Auch wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement stärken. Die Kollegin Wawzyniak hat
auf das Myfest hingewiesen, das jedes Jahr am 1. Mai in
Berlin stattfindet. Dieses Fest stellt seit langem eine
zivilgesellschaftliche Antwort dar. Sie müssten irgendwann einmal entsprechende Konzeptionen vorlegen.
Solche fehlen bis heute. Mit Ihrem schematischen Ansatz „rechts gleich links“ - das haben Sie über Jahre
echoartig gesagt - kommen Sie zu schematischen und
damit falschen Antworten auf die Frage, was nötig ist.
({7})
Ich sage nicht: Ändern Sie Ihre Politik, weil Molotowcocktails fliegen und Brandsätze gezündet werden!
Ich will den Tätern nicht Erfolg auf diese Art und Weise
verschaffen. Ändern Sie Ihre Politik, weil sie ungerecht
und unsozial ist! Selbst Ihre Wirtschaftsverbände fordern eine Änderung. Wenn Sie dazu nicht bereit sind,
dann machen Sie wenigstens nicht den Fehler, verbal
aufzumuskeln. Kollege Krings, es geht nicht, wie Sie es
formuliert haben, um kriegstaugliche Waffen. Andere
malen unentwegt das Entstehen einer neuen Rote-Armee-Fraktion an die Wand. Es gibt auch in der Innenpolitik so etwas wie eine Selffulfilling Prophecy. Davor
sollten wir uns alle hüten; denn das ist das Letzte, was
wir gebrauchen können.
({8})
Was nottut, ist eine nüchterne Analyse ohne jede Dramatisierung. Das Vorgefallene ist schlimm genug; das
braucht man nicht zu dramatisieren. Wir brauchen eine
zielgerichtete und erfolgreiche Polizeiarbeit sowie - last,
but not least - eine gesellschaftliche Ächtung jeder Form
von Gewalt.
({9})
Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Thomas de
Maizière.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke
mich dafür, dass jetzt eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema stattfindet. Ich glaube, das sind wir den beiden
schwerverletzten Polizisten, aber auch den anderen
schuldig. Es handelt sich hier, wie Herr Wieland zu
Recht gesagt hat, um eine neue Qualität. Das ist allemal
Anlass genug, um darüber zu diskutieren. Auch von mir
ein herzlicher Genesungswunsch an die beiden Polizisten!
Leider handelt es sich nicht um Einzelfälle. Sie haben
nach Zahlen gefragt. Herr Ruppert hat bereits einige vorgetragen. Von 7 politisch links motivierten Tötungsversuchen im letzten Jahr haben sich allein 4 gegen Polizisten gerichtet. Von 849 Körperverletzungsdelikten aus der
linken militanten Szene richteten sich 440 gegen Polizeikräfte. Welche Zahlen wollen Sie noch? Dieser Entwicklung müssen wir mit einer Reihe von Maßnahmen entgegentreten. Sie haben darauf hingewiesen, was die
Innenministerkonferenz macht. Dazu gehören eine sinn4922
volle Vorbereitung auf Demonstrationen, eine vernünftige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, eine
kluge Einsatztaktik, Schutzkleidung, gezielte und beweissichernde Festnahmen sowie harte und schnelle Verurteilungen; all das ist wahr. Zum Gesamtumfeld gehört
aber auch - sicherlich nicht zur Aufarbeitung dieser beiden Fälle; damit haben Sie recht, Herr Wieland -, dass
wir, die Bundesregierung, auf dem richtigen Weg sind,
wenn wir den strafrechtlichen Schutz von Polizisten und
Einsatzkräften stärken. Wir werden uns vermutlich sehr
bald über alle diese Fragen im Einzelnen einigen.
Ich will aber heute über all diese Fragen nicht im Einzelnen reden, sondern den angesprochenen Fall zum Anlass nehmen, um mit Ihnen Gedanken über den geistigpolitischen Hintergrund dessen, was dort passiert, auszutauschen.
Vor nunmehr einem Jahrhundert hat die bekennende
Kommunistin Rosa Luxemburg den berühmten Satz gesagt - ich zitiere -:
Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, Freiheit nur für die Anhänger einer Partei - mögen sie
noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit
ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden.
({0})
Heute erlauben sich links- und rechtsextreme Autonome ein anderes Freiheitsverständnis. In einer frühen
Ausgabe der autonomen Szenezeitschrift Radikal wurde
folgender Satz geprägt, um ein sogenanntes autonomes
Lebensgefühl zu beschreiben - ich zitiere -:
Freiheit ist … der kurze Moment, in dem der Pflasterstein die Hand verlässt, bis zum Moment, wo er
auftrifft.
Während also Rosa Luxemburg den Freiheitsbegriff
intellektuell zutreffend und pointiert definiert, ist das
zweite Zitat ein erschreckendes Zeugnis geistiger Verirrung, einer Pervertierung des Freiheitsbegriffs. Das ist
alles andere als erlebnisorientiert, Frau Kollegin von der
linken Seite.
({1})
Diesen Missbrauch des Freiheitsbegriffes dürfen wir
in unserem Land nicht dulden. Autonome bestimmen in
diesem Land nicht, was Freiheit ist, und Autonome bestimmen in diesem Land auch nicht, welche Gesetze gelten. Freiheit ist ein kostbares Gut, das es zu verteidigen
gilt.
Sie haben gesagt: Gewalt, nein. - Ich war erfreut, das
in dieser Klarheit von Ihnen zu hören. Ich komme gleich
noch einmal auf diesen Punkt zurück. Sie haben aber
auch gesagt: ziviler Ungehorsam, ja. - Der Meinung bin
ich nicht. Es steht keinem Demonstranten und keinem
Bürger zu, selbst zu bestimmen, dass er gegenüber Gesetzen zivilen Ungehorsam übt. Darin unterscheiden wir
uns fundamental; das will ich einmal sagen.
({2})
Versammlungen und Demonstrationen gehören in unserem Land zum demokratischen Alltag. Demokratie
braucht die Debatte, und die Debatte kann auch auf der
Straße stattfinden. Herr Wieland, natürlich freue ich
mich nicht, wenn 10 000 Demonstranten gegen die notwendigen Sparpakete der Bundesregierung demonstrieren.
({3})
Aber diese Kritik muss ich ertragen, diese Kritik kann
ich ertragen, und ich bin stolz darauf, dass ich diese Kritik ertragen darf. Das ist Teil unserer politischen Kultur
und unseres demokratischen Verständnisses. Nur, wir
dürfen diese Freiheit, für unsere Überzeugung auf die
Straße gehen zu können, nicht durch gewalttätige Chaoten verhunzen oder kaputtmachen lassen. Die Ausübung
von Demonstrationsfreiheit darf für niemanden in diesem Lande gefährlich werden.
({4})
Wir wollen das auch nicht von Menschen kaputtmachen
lassen, die angeblich dadurch ihre Freiheit verwirklichen
oder ihren Frust auslassen, dass sie Pflastersteine oder
Brandgeschosse auf andere Menschen oder Polizisten
werfen. Dies ist nicht nur ein unerhörter Angriff auf unsere Polizisten, dies ist ein Angriff auf den Kern unserer
Demokratie selbst. Insbesondere deswegen sind wir so
stark dagegen.
Wir haben gelernt, dass bei Demonstrationen die
Trennung von Extremisten wichtig ist. Deswegen sage
ich für den Samstag und auch für die Zukunft: Man muss
sich auch während einer Demonstration trennen.
({5})
Ich sage allen Demonstranten: Trennt euch auf der
Straße von dem schwarzen Block! Erlaubt nicht, dass
sich Autonome als Kleingruppen unter euch mischen! Wenn Gewalt aus Demonstrationen heraus ausgeübt
wird, erwarte ich, dass sich friedliche Demonstranten
von dieser Gewaltanwendung auch räumlich trennen,
damit die Polizei Festnahmen durchführen kann, und
nicht geradezu Schutz bieten.
({6})
Demokraten dürfen Antidemokraten keinen Schutz bieten, erst recht keinen räumlichen Schutz. Wenn Sie sich
die entsprechenden Szenen auf YouTube anschauen,
dann sehen Sie, dass davon am vergangenen Samstag
keine Rede sein konnte.
Zur räumlichen Trennung gehört aber auch eine geistige Trennung, eine glasklare politische Abgrenzung.
Links motivierte Gewalt ist deutlich und mit gleichem
Abscheu durch alle Teile der Gesellschaft zu ächten, wie
dies unter allen Demokraten bei rechtsextremer Gewalt
seit langem selbstverständlich ist. Dies kann die Polizei
nicht. Das ist auch nicht die Aufgabe der Polizei. Das
kann und muss die Zivilgesellschaft leisten.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Wir sollten uns überlegen, ob es ausreichend ist, dass
wir hier von politisch motivierter Gewalt sprechen. Wir
zählen in der Polizeilichen Kriminalstatistik rechtsextrem oder linksextrem politisch motivierte Gewalt, das
ist wahr. Aber was ist eigentlich politisch an dem Versuch, einen anderen Menschen zu verletzen oder seine
Tötung billigend in Kauf zu nehmen?
({7})
Nichts. Diese Täter sind Straftäter, Trittbrettfahrer, die
das politische Engagement der anderen als Feigenblatt
für ihre eigenen Gewaltexzesse nutzen.
({8})
Deswegen appelliere ich an alle zukünftigen Veranstalter
und Teilnehmer - der vergangene Samstag war ein
schlechtes Beispiel -: Lassen Sie sich nicht zu Feigenblättern solcher feiger vermummter Gewalttäter machen!
Unterstützen wir die Polizei; aber lassen wir sie in dieser
Auseinandersetzung nicht allein!
Jeder Demonstrant und jeder Veranstalter von Demonstrationen hat auch seine Verantwortung zu tragen,
dass Demonstrationen friedlich bleiben. Das ist, gerade
wenn es schwierig wird, eine demokratische Pflicht
freier Bürger, und auch das zeichnet eine stolze und freie
Demokratie aus.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Meldungen von den Zwischenfällen am Wochenende haben uns erschüttert. Wir hoffen auf eine rasche Genesung
der verletzten Polizisten und auf schnelle Fahndungserfolge, damit die Täter belangt und einer gerechten Strafe
zugeführt werden und damit die Hintergründe dieser Tat
klarer werden. Egal ob es sich um eine politisch motivierte Tat oder Krawalltourismus handelt, das Unverständnis über diese sinnlose Tat wird bleiben.
Die Koalitionsfraktionen nehmen die Geschehnisse
zum Anlass, um über - Zitat - „Bedrohliches Anwachsen
linksextremer Straftaten in Deutschland“ zu diskutieren.
Das könnte ein guter Anlass sein, um über konkrete Problemanalysen, über Zielstellungen und angemessene Methoden zu sprechen. Davon sehe ich hier im Moment allerdings noch relativ wenig. Stattdessen erlebe ich puren
Aktionismus, Polemik und leider viel zu viel Gleichmacherei.
({0})
Sie sprechen von linksextremen Straftaten. Ich persönlich finde, der Terminus „politisch motivierte Gewalt
links“ trifft es besser; denn nicht jeder Idiot, der bei einer
Demonstration Steine auf Polizisten wirft, ist ein Linksextremist.
({1})
Die Polizei ist an vielen Stellen mit Krawalltouristen und
sogenannten - auch die Polizei verwendet den Begriff erlebnisorientierten Jugendlichen konfrontiert. Natürlich handelt es sich dabei um Straftaten, die verfolgt
werden müssen. Ziel politischen Handelns muss neben
der Strafverfolgung aber auch sein, dass es nicht zu einer
weiteren Radikalisierung und Organisation der Szene
kommt. Lassen Sie mich deswegen ganz deutlich sagen:
Beim angemessenen, zielgerichteten Kampf gegen politisch motivierte Gewalt jeder Art können Sie auf die Unterstützung der SPD-Fraktion zählen. Gewalt darf kein
Mittel der politischen Auseinandersetzung sein.
({2})
Die SPD setzt sich für einen differenzierten, besonnenen Umgang mit diesem Thema ein. Es geht darum, das
Problem zu analysieren, die Tätergruppe zu identifizieren und das Phänomen gesellschaftlich einzuordnen.
Dann kann man auch die geeigneten Maßnahmen ergreifen. Wir haben es mit einem Großstadtphänomen zu tun,
das nicht neu ist. Wir haben es mit Straßenmilitanz zu
tun, und in der Tat haben wir in den letzten beiden Jahren in diesem Bereich Zuwächse. Zeitgleich gab es bei
den Anschlägen auf Autos und andere Objekte ein Anwachsen. Hier sind die Zahlen in Berlin laut Verfassungsschutz 2010 glücklicherweise wieder rückläufig.
Innensenator Körting, der in diesem Bereich einen sehr
guten Job macht, hat darauf gestern hingewiesen. Eine
differenzierte Betrachtungsweise ist notwendig, und es
sind weiterhin Verfassungsschutz und Polizei gefragt,
hier differenziert tätig zu werden.
Genaues Hinschauen und abgestimmtes Handeln sind
geboten. Eine weitere Radikalisierung gilt es unbedingt
zu vermeiden. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass am
Samstag 20 000 Menschen, zum Teil auch schwarzgekleidete, friedlich und legitim auf die Straßen gegangen
sind, um gegen ein sozial schlicht ungerechtes Sparprogramm zu demonstrieren. Es muss darum gehen, Demonstrationsanmelder darin zu unterstützen, dass sie alles tun, damit es aus ihrer Mitte nicht zu Gewalttaten
kommt. Veranstalter sollten die Gelegenheit nutzen, sich
klar von Gewalt zu distanzieren.
Aktionismus und Law-and-Order-Gebrüll werden jedoch nicht zum gewünschten Ziel führen, eher im Gegenteil. Dass die Androhung höherer Strafen wirklich
abschreckend wirkt, daran habe ich meine großen Zweifel. Gleichwohl ist es natürlich sinnvoll, darüber zu diskutieren, wie man Polizei und Rettungskräfte gegen die
zunehmende Gewalt, mit der sie aus Teilen der Gesellschaft - nicht nur bei Demonstrationen - konfrontiert
sind, schützen kann. Die SPD wird hierzu Vorschläge
vorlegen.
Das von Frau Dr. Schröder angekündigte Bildungsprogramm gegen Linksextremismus und Islamismus
kann ich wirklich nur als Aktionismus bezeichnen. Da
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Daniela Kolbe ({3})
werden 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Für
was eigentlich?
({4})
Die beteiligten Bildungsträger haben von ihrem Glück
aus der Zeitung erfahren. Wen sie mit welchem Bildungsziel bilden sollen, ist immer noch unklar. Spiegel
Online titelt passend „Bildung gegen Bambule“ und ist
ebenso ratlos wie ich und viele Bildungsträger. Wie soll
denn mit politischer Bildung politisch motivierte Gewalt
vermieden werden, etwa mit Aufklärung zur DDR-Geschichte, wie es in Weimar geplant ist? Das ist doch absurd!
Mich würde da, ehrlich gesagt, die Problemanalyse
der Ministerin interessieren und vor allen Dingen, auf
welchen Daten, Zahlen und Fakten sie beruht. Da sind
- das wollte ich der Frau Ministerin sagen; leider ist sie
heute nicht hier, obwohl das ein Thema ist, glaube ich,
das sie sehr interessiert - viel zu viele Fragen offen.
In Zeiten klammer Kassen kann ich nur empfehlen:
Das Geld wäre in den bewährten Programmen für eine
lebendige Demokratie deutlich besser aufgehoben.
({5})
Ich kann die Koalition nur deutlich davor warnen, der
offenbar vorhandenen Versuchung nachzugeben, die aktuelle Debatte zu instrumentalisieren. In diesem Themenbereich sind kühler Kopf und angemessenes Vorgehen gefragt.
({6})
Es geht um eine ernsthafte, sachliche und reflektierte
Debatte zum Umgang mit politisch motivierter Gewalt
links, die wirklich weiterhilft. Das Thema ist viel zu
ernst, um für Polemik und Stimmungsmache herzuhalten, auch wenn man damit - bei der Themensetzung
hatte ich den Eindruck - gut von anderen Themen ablenken kann.
({7})
Das Wort hat der Kollege Florian Bernschneider von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde hat einen sehr konkreten,
sehr aktuellen und erschreckenden Hintergrund. Ich
glaube, wir tun uns, aber auch der Sache trotzdem einen
Gefallen, wenn wir den Kern dieser Debatte nicht aus
den Augen verlieren. Im Kern geht es eben nicht um
Höchststrafen und die Ausstattung von Gefängnissen,
sondern im Kern geht es um die richtigen präventiven
Ansätze und die Ausstattung von Schulen.
Laut einer Forsa-Befragung fühlt nur jeder fünfte
junge Mensch zwischen 16 und 32 Jahren sich, seine
Probleme und Sorgen von der Politik in ausreichendem
Maße vertreten. Laut der Shell-Jugendstudie interessieren sich nur 24 Prozent aller Jugendlichen aktiv für Politik. Die übrigen 76 Prozent interessieren sich entweder
gar nicht für Politik, haben kein Vertrauen in Parteien
und Parlamente oder empfinden demokratische Abwägungsprozesse als zu langwierig.
Gleichzeitig wissen wir aus Studien, dass gerade in
der Jugend die grundlegende politische Orientierung und
Wertebildung stattfindet. Deswegen ist es so wichtig,
rechtzeitig über die richtigen präventiven Ansätze zu
diskutieren. Deswegen ist es auch richtig und wichtig,
immer wieder zu hinterfragen, wie wir die Mittel und
Programme dazu ausrichten.
Lassen Sie mich, bevor ich dazu komme, noch sagen:
Natürlich tragen auch wir als Abgeordnete einen großen
Teil der Verantwortung, wenn es darum geht, jungen
Menschen das Gefühl zu geben, dass ihre Anliegen hier
ernst genommen werden, aber nicht zuletzt auch dafür
zu sorgen, junge Menschen für Politik zu begeistern. Ich
glaube, zukünftig wird es noch wesentlich wichtiger
sein, in Programmen die Basis für genau diese Begeisterung zu legen. Glauben wir doch nicht, wir hätten junge
Menschen, die wir gegen Rechtsextremismus mobilisiert
haben, automatisch für die Demokratie gewonnen! Es
geht also zukünftig nicht nur darum, gegen etwas zu mobilisieren, sondern auch darum, für etwas zu begeistern,
nämlich für Demokratie und Vielfalt.
({0})
Natürlich brauchen wir auch zukünftig Programme,
die gezielt gegen politischen Extremismus vorgehen,
und das nicht nur aufgrund von Kriminalstatistiken, sondern vor allem auch - das möchte ich ganz deutlich sagen - aufgrund unserer eigenen Geschichte. Deswegen
halte ich es für falsch, unsägliche Vergleiche von Opferzahlen anzustellen und Diskussionen darüber zu führen.
Als ob man an Opferzahlen Verteilungsschlüssel für zukünftige Programme festmachen könnte! Deswegen gehen die Vorwürfe der Opposition gegenüber Regierung
und Koalition völlig fehl. Niemand hier will rechtsextreme Straftaten kleinreden, und niemand hier stellt
infrage, dass wir auch zukünftig zielgerichtete Programme gegen Rechtsextremismus brauchen. Wir stellen
nur fest, meine Damen und Herren, dass Rechtsextremismus nicht die einzige Herausforderung ist, vor der wir
stehen.
Völlig egal, ob Sie es an Kriminalstatistiken festmachen, was ich für falsch halte, ob Sie es aus unserer eigenen Geschichte ableiten oder ob Sie einfach zur Kenntnis nehmen, dass man in der Bibliothek des Deutschen
Bundestages 665 Bücher zum Thema Rechtsextremismus, aber nur 30 zum Thema Linksextremismus findet,
({1})
völlig egal, woran Sie es festmachen: Sie müssen feststellen, dass wir in der Gestaltung unserer Programme
dem Linksextremismus nicht gerecht werden. Deshalb
müssen wir zukünftig darauf einen stärkeren Fokus legen.
({2})
Ich finde es schon bedenklich, wenn der Kollege
Bockhahn von der Linken auf die Frage nach Aussteigerprogrammen für Linksextreme hier im Plenum antwortet: Die werden nicht gebraucht. ({3})
Dass Sie von der Linkspartei ohnehin Schwierigkeiten
haben, Einsparungen zu leisten, wissen wir und erleben
wir gerade in diesen Tagen.
({4})
Dass Sie bei Programmen gegen Rechtsextremismus
nicht sparen wollen, nehme ich Ihnen noch nicht einmal
übel, obwohl ich glaube, dass man auch hier intelligent
sparen kann, ohne der Sache zu schaden. Was ich Ihnen
aber übel nehme, ist, dass Sie Ihrer üblichen Argumentationslinie - so falsch ich sie auch finde - nicht folgen.
Warum fordert hier kein Vertreter der Linkspartei Banker und Besserverdiener zur Kasse, um in Programme
gegen Linksextremismus zu investieren?
({5})
Warum tut das gerade hier keiner?
Meine Damen und Herren, genau das und auch Ihr
Verhalten in der Diskussion hinterlässt bei mir einen faden Nachgeschmack.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Dass das, was am Samstag in Berlin passiert
ist, eine neue Qualität hat, ist von einigen Rednern
- auch von Ihnen, Herr Wieland - bereits gesagt worden.
Ich möchte noch einmal herausstellen, warum es richtig
ist, was sie gesagt haben.
Die Verletzungen der Polizeibeamten rühren daher,
dass Splitterbomben zum Einsatz kamen, die mit Eisenteilen gespickt und perfiderweise auch noch in eine Plastikhülle gesteckt waren, damit die Eisenteile, durch die
Explosion erhitzt, mit dem Plastik verschmelzen und auf
den Uniformen festkleben bzw. sie durchdringen. Deswegen sind die Polizisten auch so schwer verletzt worden.
Das heißt, wir haben es mit einer Gewalt zu tun, wie es sie
in Deutschland in den letzten Jahren nicht gegeben hat.
Dennoch kam das nicht überraschend, wenn man sich
die Gewalttaten der letzten Monate vergegenwärtigt: Vor
einem Jahr am 1. Mai in Berlin, als 440 Polizisten verletzt wurden, kamen Gasgranaten zum Einsatz. Gaskartuschen, die zu Bomben umgebaut worden waren, kamen im Laufe des letzten Jahres immer wieder zum
Einsatz. Im Vorfeld zum diesjährigen 1. Mai kam es zum
Einsatz von Abschussgeräten, mit denen man ganz gezielt metergenau Sprengkörper positionieren kann. Am
Berliner Ostbahnhof wurde eine Rohrbombe sichergestellt, die glücklicherweise nicht explodierte; deswegen
gab es dabei keine Verletzten.
Ich habe gerade noch einmal das Traktat der Linken
mit einer haargenauen Anweisung zum Bombenbau
durchgelesen. Daraus möchte ich Ihnen doch noch einige Vorhaltungen machen.
({0})
Es sind linke Gewalttäter, linksorientierte und nicht irgendwelche Kriminelle,
({1})
die genau wissen, was sie tun. Das können Sie feststellen, wenn Sie sich einmal intensiv das Vorwort durchlesen.
Das ist der eigentliche Gegenstand unserer Debatte.
Es gibt in der deutschen Linken derzeit eine Gewaltdiskussion über die Frage: Ist Gewalt klug bei der Durchsetzung der linken Ziele oder nicht?
({2})
Diejenigen, die solche Bomben legen, wissen genau,
was sie tun.
({3})
Sie sprechen sich für Gewalt aus. Da heißt es zum Beispiel - ich lese nur einen Satz vor -: Schaut euch doch
die Grünen oder die Linkspartei an, die heute selbst auf
der Seite der Mächtigen stehen und Schweinereien
durchsetzen. - So begründen sie dann, dass man es anders machen muss,
({4})
dass man sich nur mit Gewalt zu Wort melden kann, um
etwas durchzusetzen und die Gesellschaft zu verändern.
Thema des Tages ist das Anwachsen der Zahl der gewalttätigen Linken in Deutschland, ein Thema, das wir
vor vielen Jahren auch einmal im Zusammenhang mit
dem rechten Lager in Deutschland hatten.
({5})
Damals haben wir von der Union ganz klar einen Trennungsstrich gezogen und gesagt: Mit Republikanern,
NPD, DVU werden wir niemals etwas zu tun haben.
({6})
An diesem Punkt sind Sie von den Linken noch nicht,
dass Sie sich von dieser Gewalt ganz klar absetzen.
({7})
Wer war Veranstalter? Veranstalter am Samstag waren
die Linke, Verdi, die Sozialistische Jugend und die RosaLuxemburg-Stiftung. Es gab noch weitere Unterstützer
dieser Veranstaltung.
({8})
Auch zwei Bundestagsabgeordnete von der Linken, Frau
Lötzsch und Frau Pau, waren anwesend. Wenn Sie sich
jetzt distanzieren, muss man wissen, ob das ehrlich gemeint ist, und muss man sich diejenigen genau anschauen.
Es gab interessanterweise unter den Veranstaltern
Zank darüber, wer im Demonstrationszug vorne marschieren darf und wer nicht. Die etwa 450 Mitglieder des
antikapitalistischen Blocks, darunter 130 Gewaltbereite,
({9})
haben sich gefügt und sind nicht, wie sie ursprünglich
wollten, an die Spitze, sondern weiter nach hinten gegangen. Das heißt, der Veranstalter hatte Einfluss auf
den antikapitalistischen Block. Wenn jetzt hinterher gesagt wird: „Wir konnten uns doch nicht durchsetzen und
die Gewalttat, die Explosion, verhindern“, dann ist das
heuchlerisch und unwahr.
({10})
Es ist unredlich, diesen Eindruck hier zu erwecken; denn
Sie hatten Einfluss auf den antikapitalistischen Block.
({11})
Nehmen Sie sich bitte einmal die Zeit und geben bei
YouTube die Suchwörter „Splitterbombe“ und „12. Juni“
ein. Dann können Sie ganz genau sehen, was passiert ist:
Nach der Explosion der Bomben gab es Jauchzen und
Freude bei den Demonstrationsteilnehmern. Die Fahnen
der Linken wurden geschwenkt, die Fahne von Verdi
wurde geschwenkt. Nach der Explosion gab es keinerlei
Distanzierung, sondern Freude über das Geschehene und
eine weitere Teilnahme am Demonstrationszug. Das ist
verwerflich.
({12})
Das Recht zu demonstrieren - damit komme ich zum
Schluss -, ist für uns und für alle Parteien, egal welcher
Couleur, ein hohes Gut. Aber wer eine Demonstration
organisiert und anmeldet, hat auch eine besondere Verantwortung für das Geschehen auf der Straße. Er, der
Anmelder, muss wissen, dass er niemals das Forum für
Gewalttäter sein darf. Er darf niemals einen Schutzschirm für randalierende Gewalttäter bilden. Angesichts
des Anstiegs linker Gewalt in Berlin und in anderen
Städten Deutschlands fordern wir den Aufstand der Anständigen, auch im linken Lager.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Edathy von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vorab will ich sagen: Es muss am Ende einer
Aktuellen Stunde eigentlich mehr übrig bleiben als nur
die Feststellung: Schön, dass wir einmal darüber geredet
haben. Mir ist trotz der drei Beiträge aus der Unionsfraktion und dem, was die FDP ausgeführt hat, nicht klar,
was die Position der Koalition bzw. der Bundesregierung
ist.
({0})
Vielleicht sollte man die nächste Debatte über ein solch
wichtiges Thema erst dann beantragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, wenn man selber
weiß, was man will.
({1})
Will man ein grundsätzliches Grußwort halten wie der
Bundesinnenminister, ohne irgendetwas konkret zu benennen? Oder will man, wenn auch eher abstrakt, wie
der Kollege Bosbach Gesetzesverschärfungen fordern?
Das ist zwar legitim. Aber man braucht dafür eine Mehrheit, die mir gegenwärtig nicht gegeben zu sein scheint.
Oder instrumentalisiert man ein Thema, bei dem sich
parteipolitisch motivierter Streit eigentlich verbietet?
Das hat der Kollege Uhl gerade gemacht.
({2})
Um es deutlich zu sagen, Herr Kollege Uhl: Sie sollten sich vor dem Deutschen Bundestag dafür entschuldigen, dass Sie einer Mitgliedsgewerkschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes unterstellt haben, sie würde
Straftaten begrüßen und bejubeln.
({3})
Fakt ist - das zeigt ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik -: Es gibt ein Anwachsen der Gewaltdelikte im Bereich des Linksextremismus. Das muss man
ernst nehmen. Es ist zwar gut, dass von verschiedenen
Rednern gesagt worden ist, dass Gewalt, gleich welcher
Art, zu verurteilen ist. Wenn man eine konkrete Analyse
vornehmen will, reicht das allein aber nicht aus.
Herr Kollege Uhl, warten Sie einmal ab, was die Ermittlungen ergeben. Vielleicht rufen Sie einmal im Bundesamt für Verfassungsschutz an. Ich habe das heute
Nachmittag gemacht, um mich zu informieren, wie der
konkrete Stand im Berliner Fall ist. Sie würden möglicherweise nicht das bestätigt bekommen, was Sie gerade
behauptet haben. Wir als Politiker sollten so viel Verantwortung haben, nicht abschließende Urteile zu fällen,
während die Ermittlungen noch laufen. Ich halte das,
was Sie hier machen, für nicht seriös.
({4})
Schon seit Wochen wird eine Debatte grundsätzlicher
Art über die Frage geführt: Brauchen wir verschärfte
rechtliche Regelungen? Ich empfehle sehr, sich den ersten Bericht von Christian Pfeiffer, dem Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen, für
die Landesinnenministerkonferenz, bei der der Bundesinnenminister Gast ist, anzuschauen. Diese Untersuchung wird noch ergänzt werden. Herr Pfeiffer ist eher
skeptisch, ob es wirklich eine abschreckende Wirkung
hätte, Strafvorschriften zu verschärfen. Auch ich glaube
übrigens nicht, dass es einen überzeugten gewaltbereiten
Extremisten davon abhalten würde, ein Delikt zu verüben, wenn das Strafmaß ein anderes wäre als heute, zumal es, so wie es sich bereits heute darstellt, sehr umfangreich ist.
Wichtig sind aber zwei Dinge; das eine können wir,
die Politik, nicht leisten, das andere sehr wohl. In dem
ersten Fall können wir nur appellieren: Wer eine Demonstration veranstaltet, der muss sich sehr genau anschauen, wer seine möglichen Bündnispartner sind. Mit
Extremisten ein Bündnis zu schließen, weil man vermeintlich das gleiche Ziel hat, ist nach meinem Dafürhalten unredlich und eines Demokraten nicht würdig,
weil das Ziel von Extremisten am Ende ein anderes ist,
als sich nur der Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Gegner zu stellen: Es ist die Überwindung unserer
demokratischen Gesellschaftsordnung. Deswegen kann
ich keiner demokratischen Partei - jedenfalls keiner Partei, die sich selber als demokratisch bezeichnen möchte den Rat geben, mit Extremisten aktive Bündnisarbeit zu
praktizieren.
({5})
Zum Zweiten muss klar sein: Wer das staatliche Gewaltmonopol schützt - Polizeibeamtinnen und -beamte
tun das -, hat seinerseits Anspruch auf Schutz und Fürsorge durch den Staat.
({6})
Es muss klar sein, dass wir durch die Ausbildung gut
vorbereitete Beamtinnen und Beamte brauchen. Sie
müssen auch gut ausgerüstet sein.
Übrigens ist es auch wichtig, dass sie, wenn sie zu
Schaden kommen, von ihrem Dienstherrn Rechtsbeistand erhalten. Ich habe vor wenigen Wochen in meinem
Wahlkreis ein Gespräch mit der Gewerkschaft der Polizei geführt. Da wurde mir ein konkretes Fallbeispiel aus
Niedersachsen geschildert: Das Land Niedersachsen
bzw. der Landesinnenminister hat einem Polizeibeamten, der aufgrund einer Verletzung zivilgerichtlich vorgegangen ist, erstinstanzlich Rechtsbeistand gewährt, und
sich in der zweiten Instanz mit dem Hinweis darauf, dass
es jetzt ein erhöhtes Prozessrisiko gebe, zurückgezogen.
Das ist inkonsequent; da müssen sich Polizeibeamtinnen
und -beamte alleingelassen fühlen. Da gibt es eine Fürsorgepflicht, die auch wahrzunehmen ist.
({7})
Abschließend ein Punkt, der auch nicht zu der von
mir als notwendig erachteten Fürsorgepflicht passt. Ich
finde es gut, dass viele Redner der Koalition gesagt haben: Wir respektieren die Arbeit der Beamtinnen und
Beamten nicht nur, sondern wir schätzen sie auch. Wenn das so ist, Herr Bundesinnenminister, dann verstehe ich nicht, warum Anfang dieser Woche in Form eines Änderungsantrages zum Bundesbesoldungsgesetz
das Begehren auf den Tisch des Hauses gekommen ist,
dass die Polizeibeamtinnen und -beamten des Bundes
ebenso wie die Soldatinnen und Soldaten weitere vier
Jahre auf die Sonderzulage verzichten sollen, während
wir doch versprochen haben, sie zum 1. Januar 2011 in
die allgemeinen Besoldungstabellen einzuarbeiten. Ich
glaube, es kommt bei den Polizeibeamtinnen und -beamten nicht gut an, und zwar zu Recht, wenn sie hier
schöne Worte hören, aber Sie in der tatsächlichen Unterstützung Taten vermissen lassen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Edathy, ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt, ob
Sie sich hier auch so geäußert hätten, wenn wir heute
über Gewaltakte von Neonazis diskutieren würden.
({0})
Wir dürfen auf keinem Auge blind sein. Wir müssen
gleichermaßen mit aller Entschiedenheit gegen Rechts-,
aber auch gegen Linksextremisten vorgehen.
({1})
Sie haben den Kollegen Uhl angegriffen, weil er
Verdi erwähnt hat. Sie selber haben eben gesagt: Wer
eine Demonstration veranstaltet, muss sich ansehen, wer
zu dieser Demonstration aufruft. - Lassen Sie uns anschauen, wer zu der Demonstration vom Sonnabend auf4928
gerufen hat. Es war eine bemerkenswerte Allianz. Zu
den Gruppen gehörten die Antifaschistische Linke Berlin, die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands,
die DKP und die Partei Die Linke sowie der Verdi-Bezirk Berlin.
({2})
Ich halte es für einen Skandal, dass nicht zuletzt Gewerkschaftsgelder in dieser Art und Weise eingesetzt
werden.
({3})
Es war nicht so, dass der Sprengstoffanschlag auf die
Polizeibeamten aus einem gesonderten Block erfolgte.
Die Videos im Internet zeigen deutlich, dass sich in der
Gruppe, aus der heraus der Sprengsatz geworfen wurde,
eine Reihe von Personen befanden, die Fahnen der Partei
Die Linke mit sich führten.
({4})
Die Linke hat sich schon in der Vergangenheit gerade
nicht von Gewalt distanziert. Ich erinnere an die Kritik
der Bundestagsabgeordneten Höger an der Verurteilung
von Gewalttätern, die Autos in Berlin abgefackelt haben.
Die Linke ist eine durch und durch extremistische Partei
mit einem ungeklärten Verhältnis zur Gewalt.
({5})
Deswegen ist es richtig, dass sie vom Verfassungsschutz
beobachtet wird.
({6})
- Frau Wawzyniak, wer Gewalttäter als „erlebnisorientierte Jugendliche“ verharmlost,
({7})
der hat ein gebrochenes Verhältnis zu rechtsstaatlichen
Grundsätzen. Das möchte ich am Ende der Debatte festhalten.
({8})
Die Besonderheit in Berlin ist, dass die Partei Die
Linke auf beiden Seiten der Barrikaden anzutreffen ist:
Sie ist auch Regierungspartei im Senat, gemeinsam mit
der SPD.
({9})
Deshalb ist das ungeklärte Verhältnis der Linken zur Gewalt auch für die SPD ein Thema. Es geht nicht an, dass
die SPD den Brandanschlag auf Polizisten verurteilt,
dann aber im Senat aus reinem Machterhalt mit den geistigen Brandstiftern gemeinsame politische Sache macht.
({10})
Wir fordern die SPD auf: Wenn Ihr Koalitionspartner
nicht eine klare Trennlinie zur Gewalt zieht, dann müssen Sie eine klare Trennlinie zu Ihrem Koalitionspartner
hier in Berlin ziehen.
({11})
Man kann es auf Dauer nicht durchgehen lassen, dass
sich ein Herr Thierse, wenn es um Rechtsextremismus
geht, zur Straßenblockade einfindet und die Arbeit der
Polizei behindert, aber Schweigen herrscht, wenn es um
Linksextremismus geht.
({12})
Herr Thierse hat sich selbst Mut bescheinigt, weil er sich
Rechtsextremisten in den Weg gestellt hat. Mutig wäre
es, am nächsten 1. Mai im Hamburger Schanzenviertel
oder in Berlin-Friedrichshain an der Spitze eines Aufstandes der Anständigen zu marschieren. Wir müssen
gleichermaßen gegen Links und gegen Rechts Zeichen
setzen!
({13})
Auch eine Reaktion der Grünen hier in Berlin halte
ich für erwähnenswert: Der innenpolitische Sprecher der
Grünen im Abgeordnetenhaus, Benedikt Lux, bedauert,
dass durch den Sprengstoffanschlag das „Anliegen der
Demonstranten“ und das „fragwürdige Verhalten von
Polizisten“ untergeht. Zitat:
Jetzt sind automatisch die Polizisten die Opfer und
der schwarze Block die Bösen.
Der Sprengstoffanschlag wird nicht bedauert, weil
dort Menschen verletzt worden sind, sondern es wird bedauert, dass politische Vorurteile der Grünen demaskiert
wurden. Das ist blanker politischer Zynismus.
({14})
Es ist ein Skandal, dass sich die Veranstalter nicht von
dem Sprengstoffanschlag distanziert haben, sondern
scharf das „martialische Auftreten der Polizei“ kritisieren. Eine Distanzierung von der Gewalt gegen Sachen
gibt es bei den Linksextremisten in Berlin schon lange
nicht mehr; jetzt fehlt es sogar an einer Distanzierung
von der Gewalt gegen Personen.
({15})
Bei bestimmten Formen von Gewalt helfen übrigens
auch keine Aufklärungskampagnen und Sozialprogramme mehr. Wir müssen mit der ganzen Härte des Gesetzes gegen diese Form von Linksextremismus vorgehen.
({16})
Das ist die Lehre aus den Vorgängen des Wochenendes.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({17})
Als letzter Redner dieser Aktuellen Stunde hat der
Kollege Kai Wegner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Edathy,
ich bedaure es, wenn Sie nicht verstanden haben, was
wir eigentlich mit der Aktuellen Stunde bezwecken.
({0})
Ich versuche, es Ihnen in ganz einfachen Sätzen nahezubringen. Zum einen wollen wir eine klare Ächtung von
Extremismus, auch von Linksextremismus, erreichen,
Herr Edathy.
({1})
Wir wollen diese Ächtung sowohl durch präventive als
auch durch repressive Maßnahmen erreichen. Herr
Edathy, wenn Sie der Bundesregierung und dem Bundesinnenminister Vorwürfe machen, auch was die Beamten auf Bundesebene und das Sparpaket betrifft,
({2})
empfehle ich Ihnen einfach einmal, mit Beamtinnen und
Beamten aus der Stadt Berlin zu sprechen. Unsere Berliner Polizisten haben die meisten Überstunden, aber das
schlechteste Gehalt. Verantwortlich dafür ist die rot-rote
Landesregierung in Berlin, Herr Edathy.
({3})
Wir wollen eine klare Verurteilung von Gewalt und
Straftaten. Wir wollen, dass Straftaten konsequent bekämpft werden. Außerdem wollen wir, dass die Beamtinnen und Beamten, die wöchentlich, fast täglich, für
uns, unsere Demokratie und unsere Freiheit ihren Kopf
hinhalten, wissen, dass die Bundesregierung und die Koalition hinter ihnen stehen.
({4})
Die neue Qualität von Straftaten aus dem schwarzen
Block, der zweifelsohne dem linken Lager zuzuordnen
ist, wurde bereits mehrfach angesprochen. Es kam die
Frage auf, warum wir das eigentlich thematisieren. Viele
Zahlen wurden genannt. Der Vorfall fand in Berlin statt.
Gerade in Berlin spüren wir die neue Qualität linksextremer Gewalt. Es werden regelmäßig Brandanschläge auf
Institutionen, öffentliche Gebäude und Unternehmen
ausgeübt. Übrigens wurden auch auf Gebäude von Verdi
Brandanschläge ausgeübt,
({5})
denen ein linkes Bekennerschreiben folgte. Wir erleben
tagtäglich Übergriffe auf Polizeibeamte. Wir erleben Angriffe auf Menschen mit Dienstkleidung, zum Beispiel
BVG-Fahrer, und wir erleben weiterhin Brandanschläge
auf Autos.
({6})
Im Jahr 2009 wurden 320 Brandanschläge verübt. Fast
täglich wird in dieser Stadt ein Auto angezündet. Darauf
haben viele hingewiesen. Es hat aber noch keiner angesprochen, wie die Antwort des Innensenators auf diese
Vorfälle lautete. Der Innensenator hat darauf hingewiesen, dass man darauf achten muss, wo man in dieser
Stadt mit welchem Auto parkt,
({7})
und dass es durchaus eine Provokation sein kann, wenn
man mit seinem Fahrzeug in bestimmten Stadtteilen
parkt. Das ist keine Provokation, das ist eine Kapitulation des Rechtsstaats. Nichts anderes sind diese Aussagen.
({8})
Dabei müsste es der Berliner Innensenator eigentlich
besser wissen. Kurz vor dem 1. Mai letzten Jahres hatte
sich Herr Körting in Friedrichshain in einem Café aufgehalten,
({9})
wohlgemerkt - im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die bedroht bzw. Opfer von Straftaten werden mit Personenschutz. Als sich junge Menschen vor dem
Café versammelten, stellte Herr Körting fest: Es könnte
sich um Autonome handeln.
({10})
Er musste fluchtartig das Café in Berlin-Friedrichshain
verlassen.
({11})
Ich frage mich, ob Herr Körting in diesem Fall sagen
würde: provozierend Kaffee getrunken.
({12})
- Das ist die Situation in Berlin.
({13})
- Herr Wieland, wir sind hier in Berlin. Wir sind in der
Hauptstadt unseres Landes. Bei der Innenpolitik des rotroten Senats mache ich mir schon Sorgen, ob die Sicherheit der Hauptstadt unseres Landes gewährleistet ist.
({14})
Ein weiterer Punkt. Wir erleben tagtäglich die Diskussion, ob am 1. Mai richtig gehandelt wurde. Bezüglich der Demonstration am 1. Mai letzten Jahres wurde
das tolle Deeskalationskonzept des Berliner Senats gelobt. Die Erfolge in diesem Jahr hingen übrigens damit
zusammen, dass die Polizei konsequent eingeschritten
ist und wieder Wasserwerfer eingesetzt hat, was sie im
letzten Jahr aufgrund von Anweisungen vonseiten der
Politik nicht durfte. Diese Demonstration mit 479 verletzten Polizeibeamten wurde von einem Mitglied Ihrer
Partei, der Linkspartei, angemeldet.
({15})
Damit tragen Sie, ob Sie das wollen oder nicht, eine Mitschuld, wenn Sie das Mitglied weiterhin in Ihren Reihen
halten.
({16})
Ich komme zum Schluss. Wir haben in Berlin große
Erfolge mit einem runden Tisch gegen Rechts erzielt.
Die Zahl der Straftaten rechtsextremistischer Gewalt
geht zurück.
({17})
Wir fordern seit Jahren auch einen runden Tisch gegen
Linksextremismus in Berlin. Ich fordere Sie auf: Reden
Sie mit Ihren Parteikollegen von der Linken und der
SPD! Ändern Sie Ihre Verweigerungshaltung, die linksextreme Gefahr in dieser Stadt anzuerkennen! Machen
Sie den Weg frei für die gesellschaftliche Ächtung von
Linksextremismus!
Lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen, damit
wir solche Bilder, wie wir sie am vergangenen Samstag
sehen mussten, nie wieder sehen müssen!
Herzlichen Dank.
({18})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Juni 2010,
10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.