Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/11/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Wir können heute ohne zusätzliche Ankündigungen oder Veränderungsmeldungen gleich in unsere Tagesordnung eintreten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehr- und zivildienstrechtlicher Vorschriften 2010 ({0}) - Drucksache 17/1953 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Freiherr zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Am 19. Mai dieses Jahres hat die Bundesregierung den Entwurf eines Wehrrechtsänderungsgesetzes 2010 beschlossen, um den Wehrdienst und in dessen Folge auch den Zivildienst auf sechs Monate zu verkürzen. Ich bin dankbar, dass dieser Gesetzentwurf vonseiten der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufgegriffen wurde und jetzt auch aus der Mitte des Parlaments eingebracht wird. Damit sind wir in der Lage, das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen. Dies entsprach und entspricht der Zielsetzung der Bundesregierung. Bei dem Wehrrechtsänderungsgesetz ging es immer auch um Planungssicherheit für die betroffenen jungen Männer. Es ist mir daher besonders daran gelegen, dass wir das Verfahren auch im Interesse der Betroffenen möglichst rasch zum Abschluss bringen. Frühzeitige Planungssicherheit ist für die von Wehrpflicht und Zivildienst betroffenen jungen Männer ungemein wichtig. Mit dem Gesetzentwurf liegt zudem ein tragfähiges Konzept zur Ausgestaltung des ambitionierten kürzeren Wehrdienstes vor, das auch die Anliegen des Zivildienstes, wie insbesondere die vorgesehene Möglichkeit der freiwilligen Verlängerung des Zivildienstes, entsprechend berücksichtigt. Das ist ein Anliegen, für das die Frau Kollegin Schröder gekämpft hat, die sich dazu sicher auch noch äußern wird. Ungeachtet der aktuellen Entwicklungen behält der Gesetzentwurf seine Aktualität. Gerade angesichts der anstehenden Reform der Bundeswehr, die zu einem gewissen Zeitpunkt auch einen Anpassungsbedarf bei der Wehrform zur Folge haben kann, ist es wichtig, dass die ab 1. Juli dieses Jahres Einberufenen auch für ihre private Lebensplanung jedenfalls Klarheit darüber haben, wie lange sie zu dienen haben. Diese Klarheit und entsprechend auch diese Planungssicherheit sind wir unseren Wehrpflichtigen schuldig. Allein deshalb hatten wir den Kompromiss zur Stichtagsregelung ab 1. Juli 2010 für die erstmalige Einberufung zu W 6 akzeptiert - wir haben das intensiv auch zwischen und mit den Fraktionen diskutiert -, obwohl hierdurch - das muss man sagen - auch die Anstrengungen für die Bundeswehr bei der Umsetzung spürbar erhöht werden; aber es ist machbar und durchführbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die allgemeine Wehrpflicht war in der über 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr immer die richtige Wehrform und weitestgehend eine Erfolgsgeschichte. Die Zusammensetzung unserer Streitkräfte aus Berufs- und Zeitsoldaten, Grundwehrdienst und freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst Leistenden sowie Reservisten hat entscheidend zu den Redetext beiden auch international anerkannten Markenzeichen der Bundeswehr beigetragen: hohe Professionalität und feste Verankerung in Volk und Staat. Ich war und bin daher ein grundsätzlicher Befürworter der allgemeinen Wehrpflicht. Es ist gerade die Zielsetzung der Verkürzung des Grundwehrdienstes, die allgemeine Wehrpflicht auch unter den modernen Rahmenbedingungen und einer möglichst geringen Belastung aufrechtzuerhalten. Sie wissen aber auch, dass Grundlage für unsere bisherigen Planungen ein Streitkräfteumfang von insgesamt 225 000 Soldatinnen und Soldaten war. Nun sind zwei Gesichtspunkte miteinander in Verbindung zu bringen: zum einen eine grundlegende Strukturreform, die bereits zu Beginn auch meiner Amtszeit in ihrer Ausgestaltung und mit Blick auf die Einrichtung einer Kommission auf den Weg gebracht wurde - es ist unbestritten, dass die Bundeswehr strukturell reformiert werden muss -, und zum anderen der Umstand, dass auch der Verteidigungshaushalt seinen Beitrag zur allgemeinen Haushaltskonsolidierung leisten muss. Auch die Bundeswehr bleibt nicht von den gegebenen finanzpolitischen Zwängen und Entwicklungen unberührt. Allerdings dürfen nicht die finanzpolitischen Zwänge und Entwicklungen allein die künftige Struktur der Bundeswehr bestimmen, sondern die künftige Struktur der Bundeswehr muss sich letztlich aus ihrem Auftrag, ihren Zielsetzungen und den künftigen Herausforderungen definieren. Das ist der entscheidende Punkt. ({0}) Ich vertrete von daher die Position, dass letztendlich der entscheidende Maßstab für die Bundeswehr erfüllbar bleiben muss, nämlich die Fähigkeit zum Einsatz im Rahmen des gegebenen und auch des künftigen Aufgabenspektrums. Ein Denken vom Einsatz her ist etwas, was wir letztlich schon seit 20 Jahren als Realität begreifen müssen, auch wenn wir uns einige Male unglaublich schwergetan haben, dieser Realität nachzukommen. Es ist Realität, und es wird Realität bleiben. Wenn ich von der Fähigkeit zum Einsatz spreche, dann ist es für mich selbstverständlich, dass Einsätze unserer Soldatinnen und Soldaten nicht nur rechtlich und politisch legitim, sondern immer auch militärisch vertretbar und verantwortbar sein müssen. Dies bedeutet nicht allein eine angemessene Ausrüstung - das selbstverständlich in besonderer Weise -, sondern auch hinreichende Ausbildungs- und Trainingsmöglichkeiten, richtige Laufbahn- und Personalstrukturen sowie bestmögliche soziale und materielle Rahmenbedingungen. Gerade letztere haben eine bedeutende Auswirkung auf die Sicherstellung der Motivation und damit auf die Fähigkeit, im Einsatz zu bestehen und richtig zu handeln. Dies unter den gegebenen wie künftigen nicht nur finanziellen Bedingungen zu leisten, ist eine erhebliche Herausforderung. Entsprechend der Beschlussfassung, die wir in der Bundesregierung einvernehmlich getroffen haben, werden jetzt Konsequenzen und Auswirkungen von strukturellen Überlegungen und von Einsparleistungen im Verteidigungsetat auf die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit unseres Landes, auf den möglichen Personalumfang der Bundeswehr, ihre Struktur und die Wehrform geprüft und bewertet. Feststellen kann ich schon jetzt, ohne hier ein endgültiges Ergebnis vorwegnehmen zu können, dass Einsparungen im Verteidigungsetat, die kurzfristig wirksam werden, in nennenswertem Umfang kurzfristig nur im Bereich des Personals zu erzielen sind. Von daher führt aller Wahrscheinlichkeit nach an einer erheblichen Personalreduzierung kein Weg vorbei. Wenn wir über künftige Strukturen nachdenken und eine entsprechend gut ausgestattete, aber auch den Einsätzen nachkommende Bundeswehr haben wollen, ist es allerdings wichtig, dass der Weg in diese Richtung weist und wohl auch weisen muss. Das kann durchaus zur Folge haben, dass mit Blick auf das Gesamtpersonalgefüge sich der Grundwehrdienst nicht, jedenfalls nicht mehr in der jetzt vorgesehenen Form, aufrechterhalten lässt. Aber wir nehmen uns Zeit, die künftige Ausgestaltung entsprechend ergebnisoffen zu diskutieren. Wir werden - das ist wichtig - dieses Thema in den nächsten Wochen und Monaten gemeinsam mit dem Parlament diskutieren. ({1}) Aber bei geringer werdendem Gesamtumfang und gleichzeitig unverändertem Fortbestand der Wehrpflicht muss berücksichtigt werden, dass möglicherweise zu viele der länger dienenden Soldaten durch rein wehrpflichtspezifische Aufgaben wie Ausbildung und Führung der Rekruten gebunden wären. Die damit verbundene enorme Kraftanstrengung würde an die Grenze ihrer Vertretbarkeit, aber auch ihrer Vermittelbarkeit in der Truppe stoßen. Auch diese Diskussion ist zu führen. Wir müssen aufpassen, dass wir keine Ressourcen blockieren. Wir müssen darauf achten, dass wir nicht solche Ressourcen blockieren, die zwingend für kritische Einsätze oder deren Vorbereitung benötigt werden. Ich habe daher in meinem Hause auch dazu eine ergebnisoffene Prüfung angewiesen, die aber auch keine Tabus und Denkverbote enthält. Ich glaube, das ist wichtig und richtig. Von daher lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht voraussehen, für wie lange wir den heute vorliegenden Gesetzentwurf wirklich in der Praxis umsetzen. Umso erforderlicher ist es aber, ihn zügig umzusetzen, gerade mit Blick auf die Planungssicherheit für die betroffenen jungen Männer. Ich bitte Sie, das Gesetzgebungsverfahren, wie vorgesehen, weiter zu betreiben. Wir entsprechen damit dem Ziel der Rechts- und Planungssicherheit für diese jungen Männer. Es steht dann in jedem Fall fest, dass die zum 1. Juli Einberufenen nur noch einen Grundwehrdienst oder Zivildienst von sechs Monaten ableisten müssen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten paar Wochen, Herr Minister, haben gezeigt, dass Sie ein vollwertiges Mitglied dieser Bundesregierung sind. Sie haben das allgemeine Chaos in dieser Regierung endgültig auch in Ihr Ressort geholt. ({0}) Sie reden heute so, vorgestern anders. Sie irritieren die Öffentlichkeit, das Parlament und vor allen Dingen die Soldaten, die in diesen schwierigen Zeiten Orientierung statt Irritation bräuchten. In Ihrer heutigen Rede haben Sie viermal das Wort „Planungssicherheit“ in den Mund genommen. Das finde ich ziemlich abenteuerlich. Einerseits nehmen Sie das Wort „Planungssicherheit“ in den Mund, andererseits wollen Sie ein Gesetz im Schweinsgalopp durch die parlamentarischen Gremien peitschen. Das Wort „Schweinsgalopp“ ist angesichts der Titulierungen, die Sie inzwischen untereinander gebrauchen, durchaus mehrdeutig. ({1}) Sie sprechen von Planungssicherheit, kündigen aber in derselben Rede an, dass das, was wir heute beschließen und was der Bundeswehr in der Umsetzung bis 1. Juli große Mühe bereitet, im September möglicherweise schon nicht mehr stimmt. ({2}) Was ist das für eine Planungssicherheit, meine Damen und Herren von der Koalition? ({3}) Herr Minister, das, was in den letzten 14 Tagen abgelaufen ist, ist in Wirklichkeit eine Demütigung aller seriösen Außenpolitiker und Sicherheitspolitiker in der Union. Dies finde ich unerträglich. ({4}) Sie haben das Parlament und sich selbst unabgestimmt unter Druck gesetzt. Warum? - Sie haben zwei Gründe, dieses Gesetz durchzupeitschen. Erstens sagen Sie, dass es so im Koalitionsvertrag steht. Darin steht aber viel Unsinn, den Sie zwischenzeitlich korrigieren mussten. Sie merken jeden Tag, dass das, was Kurt Schumacher in den 50er-Jahren gesagt hat, auch heute noch gilt: Nichts ist lehrreicher als die Wirklichkeit. ({5}) Deshalb sollte man sich nicht auf diesen Koalitionsvertrag berufen. Der zweite Grund, aus dem Sie das Gesetz durchpeitschen wollen, sind Sie selbst. Sie haben beim Verbandstag der Reservisten - wieder einmal aus der Lamäng heraus, um Überschriften zu produzieren - den 1. Juli 2010 als Stichtag öffentlich versprochen, zu einem Zeitpunkt, als dies weder in der Ausplanung der Bundeswehr geregelt war noch Klarheit mit Ihrer eigenen Ministerkollegin aus dem Familienministerium über die entsprechende Ausgestaltung des Zivildienstes bestand. Dies nenne ich unverantwortlich. So dürfen wir mit den Ressourcen der Bundeswehr wirklich nicht umgehen. ({6}) Herr Minister, ich habe mir Ihre Hamburger Rede sehr genau angeschaut. Ich finde es schon witzig. Über zwanzigmal haben Sie sich in dieser Rede selbst gelobt und über sich gesagt, dass Sie der Herr der klaren Worte sind. Es ist sehr interessant, dass Sie sich so oft selbst loben. Vielleicht reicht es Ihnen auf Dauer doch nicht mehr, dass nur noch die Zeitungen mit den großen bunten Bildern positiv über Sie berichten. Aber leider stimmt dieses Selbstlob nicht. Klartext reden wäre etwas anderes. Klartext wäre, angesichts der finanziellen Debatte für Präzision zu sorgen. Dazu gehört: Natürlich kann die Bundeswehr nicht von den Sparbemühungen ausgenommen werden; das würde auch gelten, wenn Sozialdemokraten die Regierung führten. Aber zur Wahrheit gehört auch: Ein Teil der Schuldenkrise ist von Ihnen selbst verursacht. Wenn Sie nicht bereit sind, für vernünftige Einnahmen zu sorgen, dann weinen Sie bitte auch keine Krokodilstränen vor den Soldaten und erklären Ihnen nicht, alles sei so schlimm, und Sie könnten nicht anders. Es ist Ihre Partei, die CSU, die die Absenkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers beschlossen hat, es ist Ihre Partei, die dafür gesorgt hat, dass Erben weniger Steuern bezahlen müssen. Auch diese Wirklichkeit müssen die Soldaten kennen. ({7}) In der Debatte der letzten Tage habe ich gelernt, was Sie unter intelligentem Sparen verstehen, Herr Minister. Sie sparen über 8 Milliarden Euro im Bereich des Verteidigungshaushaltes. Wenn man das Kleingedruckte liest, stellt man aber fest: Mehr als die Hälfte des Betrages soll im Jahr 2014 aufgebracht werden, in einem Jahr, in dem es zuvor eine Bundestagswahl gegeben hat, Sie wahrscheinlich nicht mehr Minister sind und diese Koalition längst so deutlich abgewirtschaftet hat, dass sie kein Vertrauen mehr bei den Bürgern hat. Das heißt, intelligentes Sparen ist für Sie, die Lösung der Probleme auf die nächste Legislaturperiode und die nächste Bundesregierung zu schieben. Ich könnte auch sagen: Es ist eine Luftnummer, eine Luftbuchung, die nur dazu da ist, deutlich zu machen, dass Sie die 8 Milliarden Euro erreichen. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun, und zwar deshalb nicht, weil eine Absenkung des Personalumfangs bei der Bundeswehr um 40 000 Zeitsoldaten nicht nur die Bundeswehr verändern würde - dazu sage ich noch etwas -, sondern auch der Bedeutung und den Interessen unseres Landes in Europa und innerhalb der NATO in keiner Weise gerecht würde. Ich glaube schon, dass es zu einer moderaten Absenkung des Personalumfangs kommen muss. Aber wer den Personalumfang um 40 000 auf 150 000 senken will, der muss eines wissen: Ja, dies kann man machen. Die Briten machen es ähnlich. Es lohnt sich aber, genau zu schauen, was es für das innere Gefüge einer Armee bedeutet, wenn Soldaten häufig und langandauernd im Einsatz sind, herausgelöst aus Familie, sozialem Umfeld, Elternbeirat, Kirche und Verein. Dies ist dann eine Armee, die mit der deutschen Tradition und Kultur, mit Staatsbürgern in Uniform und innerer Führung, am Ende nichts mehr zu tun hat. Dies alles haben Sie nicht abgewogen und nicht diskutiert. ({8}) Hinzu kommt: Selbst wenn Ihre Kommission am Ende sagt, eine Absenkung um 40 000 Mann sei absurd, und es zu einer moderaten Absenkung des Personalumfangs kommt, ist das in keiner Weise mit Ihrem vorgelegten Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes kompatibel. Wenn wir die Zahl der Zeit- und Berufssoldaten senken, brauchen wir logischerweise auch weniger Wehrpflichtige, damit es im Lot ist und keine zu großen Ausbildungskapazitäten gebunden werden. Aber das können Sie gar nicht. Das Bundesverfassungsgericht wird Ihnen die Rote Karte zeigen, wenn Sie immer weniger junge Menschen einberufen. Wir haben schon jetzt das Problem, dass ein einfaches „Weiter so“ bei der Wehrpflicht - die Union wollte ursprünglich nach dem Motto „Augen zu und durch“ verfahren - in keiner Weise machbar ist, und zwar nicht nur in verfassungsrechtlicher Hinsicht. ({9}) Auch die veränderte Berufs-, Ausbildungs- und Studienwelt ist in keiner Weise mehr kompatibel mit der derzeitigen Einberufungspraxis. Nun reden Sie häufig davon, dass Sie Gemeinsamkeit und Konsens suchen. Die Wehrpflicht wäre ein Musterbeispiel für die Organisation eines Konsenses in der Gesellschaft. Sie ist mehr als eine Einzelentscheidung der gerade vorhandenen Mehrheit. Vielmehr geht es um Grundüberzeugungen vieler Menschen sowie die innere Verfasstheit und Struktur der Bundeswehr. Herr Minister, wir bieten Ihnen nochmals an: Reden Sie mit uns auch über den Vorschlag, den meine Partei seit langem auf den Tisch gelegt hat! Dieser Vorschlag bedeutet im Kern: Lasst uns in allen - in allen! - gesellschaftlichen Bereichen die Freiwilligkeit stärken - das ist eine akzeptierte, positive Idee - und beruft diejenigen jungen Männer zur Bundeswehr ein, die sich freiwillig entschieden haben, ihren Grundwehrdienst zu leisten. Das funktioniert in anderen Ländern im Norden Europas recht gut. Darüber müssen wir reden; denn dieses Modell bietet die Chance, ohne Ärger mit den Gerichten weniger junge Menschen einzuziehen. Das Modell bietet eine weitere Chance. Die eigentlich richtige, gute Idee der Wehrpflicht, die im Kern bedeutet, dass man in unserem Land nicht alles kaufen kann und es eine gemeinsame, kollektive Verantwortung der Gesellschaft zur Wahrung der Sicherheit gibt, bliebe erhalten. Es ist uns sehr ernst, und wir bitten Sie eindringlich: Stoppen Sie den Schweinsgalopp! Reden Sie mit der Opposition und lassen Sie uns miteinander eine intelligente und verträgliche Regelung suchen! Das heißt im Klartext: Nehmen Sie den vorliegenden Gesetzentwurf vom Tisch! Wenn Sie, Herr Minister, nicht zur Einsicht kommen, hoffe ich sehr, dass die Bundeskanzlerin Sie stoppt, so wie sie es in den letzten Tagen schon ein paar Mal machen musste. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Elke Hoff erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Arnold, ich schätze Sie sehr aus der Zusammenarbeit im Verteidigungsausschuss. Sie reklamieren immer wieder Seriosität bei der Beurteilung der Verteidigungspolitiker. Das hätten Sie heute selbst an dieser Stelle, also in dieser wirklich wichtigen Debatte, zum Ausdruck bringen können. ({0}) Die Diskussion der vergangenen Wochen in der Öffentlichkeit, aber auch unter den Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages hat sehr deutlich gemacht, dass die Bundeswehr einen weiteren Schritt auf einem sehr schwierigen Weg hin zu den Einsatzrealitäten und den voraussichtlichen Sicherheitsszenarien der Zukunft eingeschlagen hat. Ich glaube, dass diese Diskussion trotz aller Kontroversität wichtig und richtig ist. Den Menschen wird nämlich die Möglichkeit gegeben, darüber nachzudenken, ob sich die zukünftigen Strukturen der Bundeswehr an Szenarien der Vergangenheit oder an Szenarien der Zukunft orientieren sollten. ({1}) Viele Kolleginnen und Kollegen haben bei ihren Besuchen im Einsatz oder auch bei Standortbesuchen die Erfahrung machen können, dass die heutigen Anforderungen an die Bundeswehr die an eine professionelle Armee sind. Bis heute hat mir noch niemand erklären können, warum Grundwehrdienstleistende in diesem Kontext eine derart wichtige Rolle spielen, dass die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr durch eine Verkürzung der Wehrdienstdauer beeinträchtigt wird. ({2}) Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das, was bisher Gültigkeit hatte, zur Kenntnis nähmen. Ich habe hohen Respekt vor jedem Kollegen, der sagt, dass in seiner Wahrnehmung, dass nach der Tradition, in der er aufgewachsen ist, in der er die Bundeswehr wahrgenommen hat, in der er selber an der Bundeswehr teilgenommen hat, es für ihn schwer ist, diesen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Wenn wir uns die Aufgaben anschauen, die zurzeit nicht nur auf die Bundeswehr, sondern auch auf andere nationale Armeen zukommen, dann können wir feststellen, dass die Wehrpflicht den geringsten Anteil an einer angemessenen Ausrichtung der Streitkräfte auf die Zukunft hat. ({3}) Es ist bereits an vielen Stellen gesagt worden: Diese Frage darf nicht vor dem Hintergrund der finanziellen Zwänge und der Haushaltskonsolidierung betrachtet werden. Ich möchte Sie an dieser Stelle gern an Art. 87 a Abs. 1 des Grundgesetzes erinnern. Dort steht: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben. Insofern halte ich die Diskussion auch in der Verknüpfung mit dem, was wir für die Zukunft unserer Bundeswehr leisten können und wollen, für unabdingbar. ({4}) Selbst wenn man sich dazu entschließen würde, die Bundeswehr um 40 000 Zeit- und Berufssoldaten zu reduzieren, ergäbe sich daraus zwingend, dass die Wehrpflicht nicht mehr zu erhalten ist, ({5}) weil die Möglichkeiten der Ausbildung von Grundwehrdienstleistenden nicht gegeben sind. Ich darf Ihnen dringend ein Gespräch mit dem Generalinspekteur und den Inspekteuren der Bundeswehr empfehlen, damit Sie sich einmal mit den Grundlagen für unsere Entscheidung sehr intensiv und auch vertieft beschäftigen können. Wir werden den heute von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf, der auf den Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/CSU und FDP fußt, verabschieden. Wir sind nämlich der Auffassung, dass es notwendig ist - die Bundesregierung hat uns davon überzeugt -, den jungen Männern Planungssicherheit zu gewährleisten. Wir reden hier über eine Größenordnung von etwa 10 000 Grundwehrdienstleistenden, die am 1. Juli ihren Dienst antreten. Auch von den Verantwortlichen in der Bundeswehr habe ich bis heute keine Signale bekommen, dass man nicht in der Lage sei, die Verkürzung des Wehrdienstes zu bewältigen. Wir glauben, dass wir den jungen Männern diese Sicherheit einfach schuldig sind, bis innerhalb der Regierung eine endgültige Vereinbarung, wie es mit der Wehrpflicht in Zukunft weitergeht, gefunden ist. Wir als FDP-Fraktion werden dem vorgelegten Gesetzentwurf deshalb zustimmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein tolles Schauspiel, das diese schwarz-gelbe Koalition, eine Wunschkoalition, seit Beginn ihrer Regierungszeit bietet. Das Rad der Tollheiten dreht sich immer schneller. Beispiel: Bundeswehrreform. Es wird eine Strukturkommission eingesetzt. „Alles auf den Prüfstand“, heißt es. Später hört man nach dem Motto „Darf es ein bisschen weniger sein?“: Es geht um die Optimierung der Führungsstrukturen. Jetzt, nach den Sparbeschlüssen, sieht alles schon wieder ganz anders aus. Gleichzeitig wird ein wichtiger Bereich aus diesem Reformprojekt ausgegliedert, nämlich die Wehrpflicht, also die Frage, ob man Zehntausende von jungen Männern einrücken lässt. Das ist eine wichtige Stellschraube, wenn es um den Personalumfang der Bundeswehr geht. Das also wird herausgelöst, weil man sagt: Wir müssen ganz schnell etwas präsentieren. In dieser Frage ist die Koalition aber tief gespalten. Die einen wollen aussetzen, und die anderen wollen aussitzen, das heißt, alles so lassen, wie es bisher ist. Was kommt dabei heraus? Ein Gesetzentwurf, mit heißer Nadel gestrickt: drei Monate Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes. Der CDU-Finanzminister erhebt Einspruch. Der FDP gefällt es nicht. Kaum liegt der Gesetzestext auf dem Tisch, kommt die Finanz- und EuroKrise über uns. Das kann man wirklich schon sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist bereits heute Makulatur, und das ist ganz deutlich gesagt worden. ({0}) Besser gesagt: Die Finanzkrise ist nicht über uns gekommen; sie ist Ergebnis der falschen Politik der letzten Jahrzehnte. ({1}) Weil man mit dreistelligen Milliardenbeträgen die Banken retten muss, Finanzmärkte stabilisieren muss, steigen die Staatsschulden exorbitant. Jetzt heißt es: Sparen, bis die Schwarte kracht. Seitdem dämmert auch Ihnen die Erkenntnis, dass der Verteidigungsetat als drittgrößter Batzen im Bundeshaushalt ebenfalls zur Ader gelassen werden muss. Es dämmert auch Ihnen ein bisschen die Erkenntnis: Bei Beschaffung und Personal kann man nur längerfristig Einsparungen erzielen. Deshalb - das ist genau der Vorgang, mit dem wir es zu tun haben - ist plötzlich die Wehrpflicht kein Tabu mehr. Deshalb wird jetzt zart angedeutet: Wir werden uns zwar noch ein bisschen Zeit lassen, aber im Grunde genommen - das pfeifen die Spatzen von den Paul Schäfer ({2}) Dächern - wird das Gesetz, das uns jetzt vorliegt, eine Halbwertszeit von einigen Monaten - nicht mehr! - haben, und dann wird etwas Neues kommen. Was Sie produzieren, ist, finde ich, ein ziemliches Durcheinander. Sie selber haben untereinander schon so schöne Worte wie „Rumpelstilzchen“ und „Gurkentruppe“ gefunden. So weit muss man gar nicht gehen. So scharf muss man das gar nicht formulieren. Aber „Chaotentruppe“ stimmt allemal. ({3}) Nun gibt sich der Minister sehr entscheidungsstark und sagt: „Weiter so!“ kann es nicht geben. Folgt man der Presse in den vergangenen Tagen, scheint er nicht davor zurückzuschrecken, einer ganz beachtlichen Herde heiliger Kühe die Schlachtbank zumindest zu zeigen. Das ist auch richtig. Das BMVg hat lange genug über seine Verhältnisse gelebt. Da muss etwas geändert werden. Herr Minister, solange Sie sich aber nicht von solch heiligen Kühen verabschieden wie dem A400M, dem Transportflugzeug, das viele Milliarden kosten wird, oder dem Afghanistan-Einsatz, der, wie neue Berechnungen gezeigt haben, 3 Milliarden Euro im Jahr verschlingt, wird es mit den großen Einsparungen nichts. ({4}) Richtig ist, dass wir heute über die Beiträge des Wehretats zur Entlastung des Bundeshaushalts reden müssen. Die Linke hat dazu schon bei den letzten Haushaltsberatungen Vorschläge unterbreitet und aufgezeigt, wo der Rotstift angesetzt werden kann und muss und wie ein - das ist ein wichtiger Punkt - sozialverträglicher Rückbau der Bundeswehr zu gestalten ist. Wir reden hier über die Beendigung der Auslandseinsätze, und wir reden über die Einstellung der großen Beschaffungsprojekte, mit denen die Bundeswehr zur globalen Eingreifarmee umgerüstet werden soll. Die Abschaffung der Wehrpflicht steht auf der Liste ziemlich oben; denn, wie gesagt, wenn man eine kurzfristige Entlastung will, dann ist das die Stellschraube, an der man etwas verändern kann. Hierbei geht es um über 1 Milliarde Euro, wenn man allein die Besoldungsgelder für die Wehr- und Zivildienstleistenden zusammennimmt. Es geht aber nicht nur um Sparen. Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch überflüssig. Wenn sie sicherheitspolitisch nicht zu begründen ist oder nicht mehr zu begründen ist, dann darf nicht durch diese Art Zwangsdienst in elementare Rechte junger Staatsbürger eingegriffen werden. ({5}) Auch an diesem heutigen Freitag werden mehr als 2 Millionen junge Männer der Wehrüberwachung unterworfen und dürfen, was viele gar nicht wissen, das Land nicht einfach für mehr als drei Monate verlassen. Das ist eine Konsequenz dieser Wehrüberwachung. Ebenfalls heute hoffen mehrere Hunderttausend, dass der Kelch der Wehrpflicht an ihnen vorübergeht und sie ihr Leben, ihre Ausbildung und ihren Berufseinstieg ohne große Unterbrechung vernünftig planen können. Deshalb muss die Wehrpflicht fallen. ({6}) Wenn wir uns dem vorliegenden Gesetzentwurf zuwenden, der wahrscheinlich als letzter Versuch zur Rettung der Wehrpflicht in die Geschichte eingehen wird, muss erstens gesagt werden: Der Gesetzentwurf liefert keine Antwort darauf, wofür die Wehrpflichtigen überhaupt gebraucht werden. Für die Aufgaben der Einsatzarmee werden sie nicht gebraucht. Bewaffnete Einsätze im Inneren sind zum Glück verboten. Für die Landesverteidigung braucht man sie - mangels realer militärischer Bedrohung - auch nicht. Es bleibt nur die Verwendung als billige Arbeits- und Servicekräfte für die professionellen Soldaten, zum Beispiel im Stabs- und Fahrdienst. Zweitens. Die Verkürzung der Wehrdienstzeit auf sechs Monate ändert nichts an der derzeitig schreienden Wehrungerechtigkeit. Zurzeit leisten nur knapp 12 Prozent eines Altersjahrgangs den Wehrdienst. Sie wollen dadurch mehr einziehen, dass Sie die Zeit verkürzen. Nach der Reform werden es sage und schreibe 14 Prozent sein. Das ist wahrlich ein toller Zuwachs, der an der Wehrungerechtigkeit aber nichts ändert. Wenn die Wehrpflicht heute mit der Nachwuchswerbung bzw. Nachwuchsrekrutierung für die Bundeswehr begründet wird, kann man dazu nur sagen: Das ist nicht verfassungskonform, es ist unverhältnismäßig. Es können nicht mehrere Hunderttausend junge Männer nur um der Begründung willen der Wehrpflicht unterworfen werden, dass die Bundeswehr neue Männer braucht. Es geht bei dem Gesetzentwurf aber nicht nur um die Bundeswehr, sondern auch um den Zivildienst. Die Hartnäckigkeit, mit der man lange Zeit an der Wehrpflicht festgehalten hat, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass man auf die billige Arbeitskraft der Zivildienstleistenden nicht verzichten will. Dieser Zustand ist nicht länger akzeptabel. Es gibt die Situation, dass die sogenannten Zivis schon lange als Minilöhner im sozialen und pflegerischen Bereich missbraucht werden. Das muss beendet werden. Die Alternative ist klar: Es müssen neue reguläre, tariflich bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden. ({7}) Viele der Einrichtungen im Sozialbereich möchten das auch, aber ihnen fehlen die Mittel, um entsprechend bezahlen zu können. Daraus wird klar, wie fatal es in den letzten Jahren war, den öffentlichen Dienst kaputtzusparen und auszutrocknen. Hier muss eine neue Politik kommen, die diesen öffentlichen Dienst entsprechend den gesellschaftlichen Notwendigkeiten wieder ausbaut. Auch ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor im Bereich Pflege könnte sehr hilfreich sein. Denn Menschen brauchen Arbeit, die tariflich und auskömmlich bezahlt wird, ihnen ausreichende Sicherheit bietet und Paul Schäfer ({8}) für die sie bestens ausgebildet sind. Das ist die Aufgabe, die jetzt bei der Organisierung ansteht. ({9}) An dieser Stelle enthält der Gesetzentwurf geradezu eine fatale sozialpolitische Weichenstellung. Mit diesem Gesetz wird nämlich ein neues öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet, das dem der Beamten auf Zeit vergleichbar ist. Es geht hier um die freiwillig länger dienenden Zivildienstleistenden. Hier gibt es, wenn man es sich genau ansieht, öffentlich-rechtliche Beschäftigungsverhältnisse mit Pflichtdienststrukturen, in denen weit unterhalb tariflich vereinbarter Löhne bzw. ausgehandelter Mindestlöhne gearbeitet werden muss. Im Rahmen dieses Dienstverhältnisses sollen Leute mit einem Stundenlohn von 3,75 Euro beschäftigt werden. Der Mindestlohn, den der Gesetzgeber im Bereich Pflegehilfskräfte für verbindlich erklärt hat, beträgt im Westen 8,50 Euro und im Osten 7,50 Euro. So viel zum Thema Dumpinglöhne und zu dem, was Sie mit diesem Gesetz mit den Zivildienstleistenden vorhaben. Das ist einfach nicht zumutbar und nicht akzeptabel. ({10}) Mit der Freiwilligkeit wird es auch nicht weit her sein. Das Gesetz liefert eher eine Steilvorlage dafür, dass Zivildienstplätze nur vergeben werden, wenn sich die Zivildienstleistenden von Anfang an länger - statt für sechs für zwölf Monate - verpflichten. Auch das ist in dieser Weise nicht hinnehmbar. ({11}) Zu diesem Gesetz ließe sich noch einiges sagen. Das werden wir sicherlich noch in den Beratungen machen, die Sie jetzt im Schweinsgalopp angesetzt haben. Das gilt auch für die Anhörung am Montag. Auch in dieser Anhörung wird man sich dazu noch äußern können. Grundsätzlich stelle ich fest: Leider wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht damit gebrochen, dass man junge Menschen - aufgrund des Versagens der Politik - weiter als Verschiebemasse behandelt. Die Aufhebung der Wehrpflicht wäre die konsequente Zäsur, die jetzt fällig ist. Das wäre haushaltspolitisch vernünftig. Das wäre gerecht, und das wäre ein guter Einstieg in eine überfällige Abrüstung in diesem Land. Danke. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Agnes Malczak für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Tage muss die deutsche Politik den einen oder anderen Rettungseinsatz durchführen. Auch die Verkürzung der Dauer des Wehrdienstes auf sechs Monate ist so ein Rettungseinsatz, allerdings kein besonders geglückter. Mit dieser Reform versuchen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das marode Gebäude der allgemeinen Wehrpflicht zu zementieren, obwohl es längst nicht mehr von einem Fundament sicherheitspolitischer Begründungen getragen wird. ({0}) Auch einer der entscheidenden Grundpfeiler, die Wehrgerechtigkeit, ist längst eingebrochen. Weniger als 50 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs werden überhaupt zum Dienst herangezogen. Von einer allgemeinen Wehrpflicht kann also schon lange nicht mehr die Rede sein. ({1}) Der vorgelegte Gesetzentwurf hat viele Irrungen und Wirrungen hinter sich; das wissen Sie wahrscheinlich noch viel besser als ich. Im Herbst letzten Jahres konnten Sie sich in fast allen Politikfeldern nicht einigen. So endete die Liebesheirat in einem Koalitionsvertrag, der ein Sammelsurium von 84 Prüfaufträgen ist. Nur bei einigen wenigen Punkten bestand Einvernehmen zwischen Ihnen. So haben Sie sich auf einen durchsichtigen Kuhhandel verständigt. Beim Streitthema Wehrpflicht sollte die Verkürzung der Dienstzeit auf sechs Monate schwarz-gelbe Einigkeit und Koalitionsfrieden sicherstellen. Schon kurz darauf war aber von Einigkeit nichts mehr zu hören: Sagte der Verteidigungsminister: „Die Verkürzung der Wehrpflicht ist kein Einstieg in den Ausstieg“, antwortete die Kollegin Hoff von der FDP: „Unverändert halten wir als Partei daran fest, dass die Wehrpflicht ausgesetzt werden sollte.“ ({2}) Der eine sagt Hü, die andere sagt Hott. Mit dieser Hüund-Hott-Politik haben Sie das größtmögliche Maß an Unsicherheit für alle Betroffenen hergestellt. ({3}) Aber damit nicht genug: Noch Ende März hat Verteidigungsminister zu Guttenberg kategorisch behauptet - Zitat -: „Mit mir ist eine Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu machen.“ Dann kam die Kehrtwende. Jetzt hören wir auf einmal teilweise grüne Argumente aus dem Munde des Ministers. Angesichts der Haushaltsnotlage hatte endlich auch der Verteidigungsminister erkannt, dass hohe Ausgaben für eine überkommene Wehrform nicht mehr gerechtfertigt sind. Leider entfachte dieser Geistesblitz bisher kaum mehr als ein Strohfeuer der Vernunft, das ganz schnell von den Traditionsbataillonen der Union gelöscht wurde. Die Wehrpflicht habe sich in der Vergangenheit bewährt - dieses Argument war für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, offenbar überzeugend genug, um die dringend notwendige und wirklich zeitgemäße Weiterentwicklung der Bundeswehr vorerst zu verhindern. Während Sie auf der einen Seite Ihren W-6-Kompromiss durch das Parlament prügeln, soll jetzt bis September geprüft werden, ob die Wehrpflicht ausgesetzt wer4822 den soll. Damit ist einer der wenigen Punkte, auf die Sie sich zu Beginn der Regierungszeit einigen konnten, nur ein weiterer Prüfauftrag und ein weiterer Zankapfel von Schwarz-Gelb. ({4}) Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflicht schon lange nicht mehr zu rechtfertigen. Es ist die reinste Verschwendung, die knappen Ressourcen für diesen konservativen Ladenhüter einzusetzen. Dabei wäre es schon vor Jahren höchste Zeit gewesen, sich nicht nur aus haushalterischen, sondern vor allem auch aus sicherheitspolitischen und militärischen Erfordernissen die Frage zu stellen, wie die Bundeswehr heute aussehen muss. ({5}) Bis zum September wollen Sie nun über die Wehrpflicht diskutieren. An dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie dennoch fest, angeblich - das wurde heute mehrfach gesagt -, um Rechtssicherheit und Planungssicherheit für die Wehrpflichtigen herzustellen. Herr Minister, es ist doch keine besonders kluge Herangehensweise an die Lösung politischer Probleme, erst eine Reform zu verabschieden und sich danach zu fragen, ob sie sinnvoll ist. ({6}) Welcher der jungen Männer wird durch dieses Hin und Her nicht verunsichert werden? Auch die betroffenen Organisationen - ob zivile oder militärische - müssen noch lange auf einen klaren Weg warten. Ich bedauere daher Ihren Mangel an Mut. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Sie am Ende vielleicht doch noch die Struktur der Bundeswehr und ihre Wehrform gestalten. Die hier vorgelegte Dienstzeitreform macht aus dem Wehrdienst jedenfalls endgültig eine Aufbewahrungsstation für junge Männer und stellt für die Bundeswehr ein Problem und keine Lösung dar. ({7}) Für uns Grüne bleibt es dabei: Die Wehrpflicht muss abgeschafft werden. Die Wehrform der Gegenwart und der Zukunft ist eine Freiwilligenarmee. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Bundesministerin Frau Dr. Kristina Schröder.

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt halte ich es genauso wie meine Vorgängerinnen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit: Ob es die Wehrpflicht gibt oder nicht und, wenn es sie gibt, wie lange sie dauert oder ob sie verkürzt werden muss, ist nicht mein Thema. Die Wehrpflicht muss allein verteidigungspolitisch begründet und allein aus verteidigungspolitischen Erwägungen abgeschafft oder verkürzt werden. ({0}) An diesen Diskussionen beteilige ich mich als Abgeordnete oder als Staatsbürgerin, aber nicht als für den Zivildienst zuständige Ministerin. ({1}) - Ich bin eigentlich für alle zuständig, außer für mittelalte unverheiratete Männer. ({2}) Trotzdem muss die Wehrpflicht verteidigungspolitisch und kann auch nicht jugendpolitisch begründet werden. Ich stelle fest: Es gibt junge Männer, die von ihrem Grundrecht, den Dienst an der Waffe zu verweigern, Gebrauch machen. In diesem Fall bin ich gefordert. Solange es den Zivildienst zur Sicherung dieses Grundrechtes geben muss, so lange ist es meine und unsere Aufgabe, allen Beteiligten einen qualitativ hochwertigen Zivildienst anzubieten und zu ermöglichen. Mit dieser Zielsetzung bin ich auch in die Verhandlungen zum Wehrrechtsänderungsgesetz gegangen. Weil wir uns aus verteidigungspolitischen Gründen für die Verkürzung des Wehrdienstes entschieden haben, vollzieht der Zivildienst diese Kürzung mit. ({3}) Dabei war und ist es mein Ziel, auch unter veränderten Rahmenbedingungen die Qualität des Zivildienstes und seiner in knapp 50 Jahren gewachsenen Strukturen zu sichern. Genau das ist nach meiner festen Überzeugung mit der Einführung eines freiwilligen zusätzlichen Dienstes im Wehrrechtsänderungsgesetz 2010 gelungen. Im Sinne der etwa 90 000 jungen Männer, die Jahr für Jahr Dienst an unserer Gesellschaft leisten, im Sinne der rund 38 000 Zivildienststellen, die mit circa 111 000 Zivildienstplätzen bundesweit ein dichtes Netz der Fürsorge geknüpft haben, ({4}) und im Sinne der vielen hilfsbedürftigen Menschen, die diese Fürsorge gern und dankbar annehmen, habe ich in den letzten Monaten für die Möglichkeit der freiwilligen Verlängerung der Zivildienstdauer gekämpft. Ich freue mich, dass wir uns am Ende auf diese Option verständigen konnten. ({5}) Ich gehe davon aus, dass ich hier weder die bekannten Fakten noch die bekannten Bewertungen wiederholen muss. Stattdessen will ich die Gelegenheit nutzen, endlich einmal mit drei Mythen um den Zivildienst aufzuräumen, die aus meiner Sicht eine sachliche Diskussion hin und wieder erschwert haben. Zivildienst für Profit heißt der erste Mythos, den wir zum Beispiel eben wieder von dem Redner der Linken gehört haben. ({6}) Ich meine damit die Behauptung, 30 Prozent der Zivildienstleistenden, vor allen Dingen Zivis in Krankenhäusern, würden nicht für das Gemeinwohl, sondern für den Profit privater Unternehmen arbeiten. Ich denke, Sie alle wissen aus Ihren Wahlkreisen, dass es heute fast keine Krankenhäuser mehr in der Trägerschaft einer Kommune gibt. ({7}) Die meisten Kreiskrankenhäuser sind heute als eigenständige GmbH organisiert und landen in den Berechnungen schon deshalb in der Schublade mit dem Label „gewinnorientierte Einrichtung“. Dadurch, dass rechtlich selbstständige Krankenhäuser und in diesem Zuge ebenfalls der Zivildienst als profitorientiert eingeordnet werden, kommen auch die genannten 30 Prozent zustande. ({8}) Diese Argumentation greift aber zu kurz. ({9}) Man kann über Trägerstrukturen lange streiten; das ist eine gesundheitspolitische Diskussion. Aber die Praxis im Zivildienst ist absolut klar und einfach und im Übrigen auch mehrfach gerichtlich bestätigt worden. Als Zivildienststellen werden nur Einrichtungen anerkannt, die entweder vom Finanzamt von der Körperschaft- und Umsatzsteuer befreit sind oder die in den Krankenhausbedarfsplan eines Landes aufgenommen wurden. Das Bundesamt für den Zivildienst hält sich strikt an diese vor Ort getroffenen Einschätzungen zur Förderungswürdigkeit einzelner Einrichtungen. ({10}) Dem zweiten Mythos will ich entgegenhalten: Realitätsfern ist auch die Diskussion um die Arbeitsmarktneutralität des Zivildienstes. Es ist natürlich ganz klar: Wenn man von einem Tag auf den anderen diejenigen aus dem Sozialbereich abziehen würde, die dort ohne Planstelle beschäftigt sind, dann gäbe es in Deutschland in der Tat ein ernstes Problem. Darüber kann man weitschweifig diskutieren, aber bitte im richtigen Zusammenhang. Arbeitsmarktpolitische Diskussionen auf dem Rücken des Zivildienstes auszutragen, ist weder fair noch sachgemäß. ({11}) Denn die Frage der Arbeitsmarktneutralität wird gerade beim Zivildienst am schärfsten kontrolliert. Anders als beim Freiwilligen Sozialen Jahr wird jeder einzelne Platz streng auf seine Arbeitsmarktneutralität überprüft. ({12}) 100 Außendienstmitarbeiter des Bundesamtes für den Zivildienst sind ständig bundesweit unterwegs, um die Einhaltung dieser strikten Vorgabe zu kontrollieren. Damit haben wir im Zivildienst das engmaschigste Netz an Kontrollen, viel engmaschiger als bei jeder anderen Engagementform in Deutschland. ({13}) Für sachlich unbegründet halte ich auch den dritten Mythos, der in den Diskussionen der letzten Wochen immer wieder bemüht wurde. Es wurde teilweise der Eindruck erweckt, dass man junge Männer sozusagen vom Joch des Zivildienstes befreien müsste. Da frage ich mich schon, mit wie vielen Zivildienstleistenden diejenigen, die sich als Befreier der jungen Männer vom Joch des Zivildienstes geben, eigentlich gesprochen haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Ministerin, was Sie berichten, hört sich sehr schön an. Aber Sie haben sicherlich genauso wie ich diese Woche die Zeitschrift Der Zivildienst aus Ihrem Hause auf den Tisch gelegt bekommen. Wenn man sie aufschlägt, dann findet man darin einen ausführlichen Artikel über einen Zivildienstleistenden, der den größten Teil seines Zivildienstes mit Laubkehren, Schneeschieben und Rasenmähen verbracht hat. Da kann ich aber, ehrlich gesagt, die Arbeitsmarktneutralität nicht so richtig erkennen; denn auch dann, wenn es keine Wehrpflicht gibt, muss eine Grünanlage von Laub und die Wege von Schnee befreit werden und muss der Rasen gemäht werden. Ich möchte Sie bitten, mir folgende Fragen zu beantworten: Kennen Sie diese Publikation aus Ihrem Hause? Haben Sie sie gelesen? Wie stehen Sie zu dieser Art von Zivildienststellen? ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Kollegin, so ganz aufmerksam haben Sie die Publikation aus meinem Hause leider nicht gelesen, sonst hätten Sie den Artikel anders zusammengefasst. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass bei jedem einzelnen Zivildienstplatz die Arbeitsmarktneutralität strikt überprüft wird. ({0}) Wenn die Arbeitsmarktneutralität verletzt wird, dann bekommt der Zivildienstträger seine Zulassung aberkannt. Dieses Regime ist das strengste bei allen Engagementformen, die wir in Deutschland haben. ({1}) Sachlich unbegründet ist auch der dritte Mythos, der immer wieder bemüht wird, dass man die Zivis sozusagen aus dem „Joch des Zivildienstes“ befreien müsste. ({2}) Wer da den Befreier gibt, den frage ich, ob er überhaupt schon einmal mit Zivildienstleistenden gesprochen hat. Wenn Sie mit Zivildienstleistenden am Ende ihres Dienstes sprechen, dann wissen Sie, dass sie alle betonen, dass der verpflichtende Charakter des Zivildienstes eher eine untergeordnete Rolle spielt. Für sie steht vielmehr die Prägung der eigenen Persönlichkeit durch den Zivildienst im Zentrum. Wichtig ist, dass jedem Zivildienstleistenden eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote offen steht. Rund 98 Prozent aller Zivildienstpflichtigen suchen sich selbst ihre Dienststelle und vereinbaren die Einzelheiten des Dienstes direkt mit der Einrichtung. Das ist eine Selbststeuerung, die hervorragend funktioniert. Das sorgt für eine hohe Motivation der jungen Männer. Das sorgt auch für einen Wettbewerb der Dienststellen um die jungen Männer. Das führt dazu, dass fast alle Zivis am Ende ihres Dienstes ein ausgesprochen positives Fazit ziehen. ({3}) Deshalb sind auch die Unkenrufe zum freiwilligen zusätzlichen Dienst fehl am Platz. Solange es einen Wettbewerb der Einrichtungen um die jungen Männer gibt, so lange müssen wir uns keine Sorgen machen, dass an irgendeiner Stelle Zivis in größerer Zahl unbemerkt unter Druck gesetzt werden. Im Übrigen, meine Damen und Herren, gibt es viele Personen des öffentlichen Lebens, die in jungen Jahren Zivildienst geleistet haben. Wissen Sie zum Beispiel, was an Jogi Löws Auswahl wirklich bemerkenswert ist? ({4}) Das ist nicht der hohe Anteil ganz junger Spieler im Kader, sondern der hohe Anteil ehemaliger Zivis im Kader. Leider ist kein aktiver Zivi dabei. Ich hatte mich schon darauf gefreut, in Zukunft einem Zivi gratulieren zu dürfen, so wie das der Kollege zu Guttenberg bei den Biathleten der Sportkompanien der Bundeswehr macht. Aber der Zivildienst ist auch ohne Medaillengewinner eine großartige Institution in unserer Gesellschaft. ({5}) Man kann zur Wehrpflicht stehen, wie man will. Aber zwei Dinge müssen klar sein: Der Zivildienst kann und darf die Wehrpflicht nicht begründen. Aber umgekehrt darf derjenige, der sich über die Wehrpflicht ärgert, nicht auf den Zivildienst einprügeln. ({6}) Im Interesse der jungen Männer, die so viel für unsere Gesellschaft leisten und die auch künftig etwas von ihrem Zivildienst haben sollen, will ich die hohe Qualität des Zivildienstes erhalten und den Zivis auch in Zukunft gute und interessante Angebote machen. Ich bitte Sie, unabhängig von Ihrer Haltung zur Wehrpflicht, mich dabei zu unterstützen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Hans-Peter Bartels ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wir könnten es uns leicht machen, da Sie es schon schwer genug haben. ({0}) Aber wir haben natürlich ein eigenes Interesse daran, zu einer guten Lösung zu kommen. Wir erkennen Ihre Zweifel an der vorliegenden Lösung und verfolgen mit Interesse die öffentliche Auseinandersetzung über die Vorschläge aus dem Verteidigungsministerium. Sie haben recht, Frau Ministerin: Das VerteidigungsministeDr. Hans-Peter Bartels rium ist bei der Wehrpflicht federführend, der Zivildienst ist davon abgeleitet. Da wird die Wehrpflicht vor der Sparklausur der Bundesregierung einfach so infrage gestellt. Daraufhin muss die Bundeskanzlerin selbst sagen: Eine solche Entscheidung trifft man jetzt nicht hoppla-hopp in drei Tagen. Wenn man darüber reden will, dann muss man sich Zeit nehmen - und gute Argumente bereithalten; aber das hat sie so nicht gesagt. ({1}) Der Parteivorsitzende Seehofer muss darauf hinweisen, dass die CSU - das begrüßen wir - eine Partei der Wehrpflicht ist und dass man die Wehrpflicht nicht mal eben so abschafft. Auch der ehemalige Verteidigungsminister Jung hat in diesen Tagen Gelegenheit gefunden, noch einmal darauf hinzuweisen, was für eine gute, bedeutende, traditionsreiche und erfolgreiche Errungenschaft die Wehrpflicht für unsere Armee in der Demokratie ist. Vielen Dank dafür! Dieser Konsens bestand auch damals in der Großen Koalition. Das, was wir jetzt von dieser Koalition erleben, ist auch nach den Reden der beiden Minister, die wir gerade gehört haben, der Einstieg in den Ausstieg aus der Wehrpflicht. Sie argumentieren schon so, dass Sie in einem halben Jahr oder in neun Monaten daran anschließen könnten und die Idee des Ausstiegs nicht vollständig dementieren müssten. Diese Reden sind schon der Einstieg zur Abschaffung der Wehrpflicht. Ich hoffe, den Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen ist klar, wozu sie in der nächsten Woche - das ist ein Verfahren im Schweinsgalopp - die Hand heben wollen: um eine Veränderung vorzunehmen, die nur ein Übergangsstadium sein soll. Die Gründe für den Übergang sind in der Hamburger Rede des Verteidigungsministers relativ deutlich geworden. Noch deutlicher als die Rede war die Punktation, also das Thesenpapier, das das Verteidigungsministerium - das war offenbar hochoffiziell - danach verbreitet hat. Da heißt es - ich zitiere das einmal; das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen -: Der mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als Conditio sine qua non, - wir sprechen Latein! unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss, … ist das globalökonomisch gebotene und im Verfassungsrang verankerte Staatsziel der Haushaltskonsolidierung … - Also die Schuldenbremse! Das heißt, entscheidend für die Strategie der Bundeswehr ist die Schuldenbremse. Das ist eine absurde Definition sicherheitspolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Warum halten wir an der Wehrpflicht fest; warum glauben wir, dass die Wehrpflicht die bessere Wehrform für unsere Armee ist? ({3}) - Nein. - Warum verweise ich darauf, dass wir in der Großen Koalition gemeinsam festgestellt haben: „Wir wollen daran festhalten“? ({4}) Das haben wir auf unserem Parteitag, der das Wahlprogramm für diese Wahlperiode beschlossen hat, erneut festgestellt. Für die SPD gehört das zu den guten Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland, dass sich die Wehrpflicht in der Demokratie bewährt hat, weil sie die intelligentere Armee hervorbringt, weil sie die Armee in der ganzen Gesellschaft verankert und weil es darüber übrigens auch einen Konsens in der Bevölkerung gibt. Die große Mehrheit der Bevölkerung, etwa Zweidrittel, unterstützt die Wehrpflicht. Das ist - zugegeben allerdings altersabhängig unterschiedlich. Wer glaubt, dass die Aussetzung oder die Abschaffung der Wehrpflicht zu einer günstigeren Freiwilligenarmee führt, der möge sich anschauen, wie das in anderen Ländern, die die Wehrpflicht abgeschafft haben, heute tatsächlich aussieht. Haben sie keine Budgetprobleme? Haben sie die bessere Armee? Bekommen sie das Personal, das sie wirklich brauchen? Sind sie dort in der Gesellschaft breit verankert? Wenn wir nach Spanien oder Großbritannien schauen und hören, was uns die dort Verantwortlichen sagen, dann sehen wir: Es gibt erhebliche Probleme, die wir bisher nicht hatten. Wir wollen aber offenbar experimentieren, also werden wir diese Probleme sehenden Auges in Kauf nehmen. Ich sage: Ja, wir brauchen eine Veränderung der gegenwärtigen Wehrpflichtpraxis. Wir brauchen dann auch eine rechtliche Veränderung. Wir brauchen aber ganz bestimmt nicht diese Veränderung, die der Einstieg in den Ausstieg sein soll; nicht diese Veränderung, die dazu führt, dass in der Bundeswehr erst einmal die ganze Organisation umgebaut werden muss. Sie müssen den Ausbildungsbetrieb verändern. Sie brauchen mehr Ausbilder. Das wird dann sicherlich billiger, wenn Sie für einige Monate mehr Ausbildung durchführen müssen. Die Wehrpflichtigen werden weniger einsetzbar sein. Wer für sechs Monate kommt, ist nicht nur etwa zu einem Drittel weniger für die Bundeswehr einsetzbar als derjenige, der neun Monate da ist, sondern er wird ja auch drei Monate ausgebildet. Danach ist er aber nicht mehr sechs Monate, sondern nur noch drei Monate in der Truppe. Das ist also kein Vorteil für die Bundeswehr. Wir sagen aber: Es braucht eine Veränderung, weil es nicht sein kann - Kollegin Hoff hat darauf auch schon hingewiesen -, dass mit der gegenwärtigen Praxis fast die Hälfte der jungen Männer als untauglich ausgemustert wird. Ich glaube, das entspricht nicht dem Gemütsund Gesundheitszustand unserer Bevölkerung. Es ist nicht die Hälfte für den Dienst in den Streitkräften untauglich. Das ist eher an den Bedarf der Streitkräfte an4826 gepasst, der geringer geworden ist. Wir brauchen also Veränderungen. Zum Zivildienst, Frau Ministerin. - Die ist jetzt gerade nicht mit dabei. ({5}) - Okay, sie ist anwesend und dabei. Wir können uns beim Zivildienst auch nicht darauf berufen, dass es bei den jungen Leuten populär sei, dass sie etwa forderten, sie wollten nur noch sechs Monate Zivildienst leisten. Der Bundesbeauftragte für den Zivildienst, Kreuter, der die Einrichtungen in der Bundesrepublik kennt, hat selbst darauf hingewiesen, dass es die Forderung: „Macht das kürzer!“, gerade nicht gibt. Das ist keine populäre Forderung aus den Reihen derer, die betroffen sind, sondern das ist ein rein koalitionstaktischer Kompromiss. Daneben steht unser Modell, das wir zur Diskussion anbieten und von dem wir hoffen, dass wir darüber wirklich noch einmal reden können. Herr Minister, finden Sie ein Format dafür. Debatten im Parlament kann man jederzeit führen. Im Ausschuss kann man darüber reden. Das ist kein Zugeständnis von Ihnen, sondern so ist die parlamentarische Demokratie konstruiert. Wir können natürlich sagen, was wir meinen. Wenn Sie wirklich wollen, dass es einen Austausch gibt und dass die Diskussion zu einem veränderten Ergebnis führt, müssen Sie ein Format finden, in dem wir uns darüber austauschen können, in dem wir unsere und Ihre Vorschläge nebeneinanderlegen und schauen können, was praktikabel ist. In der heutigen Zeit, in der die Bundeswehr tatsächlich weniger junge Leute braucht - nicht mehr einen ganzen Jahrgang von 400 000 jungen Leuten, nicht mehr 250 000 W-15er wie zur Zeit des Kalten Krieges, sondern sehr viel weniger -, haben wir die Möglichkeit, den Ersatzbedarf der Bundeswehr über Freiwilligkeit zu decken, können aber die Grundlage der Wehrpflicht beibehalten. Von den tauglich Gemusterten werden dann diejenigen eingezogen, die sich bereit erklären, freiwillig diesen Dienst zu leisten. So ist es schon bei den Reservisten: Obwohl Reservisten verpflichtet werden können, Reserveübungen zu machen, wird heute keiner mehr gegen seinen Willen verpflichtet; sie kommen freiwillig. Ähnlich ist es bei den freiwillig länger dienenden Wehrdienstleistenden. Dieses Element der Freiwilligkeit haben wir schon heute bei der Wehrpflicht eingeführt. So wollen wir es auch für die Grundwehrdienstleistenden haben: freiwilligen Grundwehrdienst. Das ist rechtlich möglich; das wäre die Lösung des Problems, für das wir - ich glaube, da sind wir einer Meinung - eine Lösung brauchen. Dabei geht es um Wehrgerechtigkeit, aber auch um den Nutzen für die Truppe. Der freiwillige Grundwehrdienst muss für die jungen Männer und für die Bundeswehr von Nutzen sein. Auch den jungen Frauen soll der Grundwehrdienst nicht als Pflicht, sondern als Möglichkeit offenstehen. Wir bieten Ihnen an, miteinander über dieses Modell zu reden und zu einer vernünftigen gemeinsamen Lösung zu kommen. Es wird immer viel vom Sparen geredet: Sparen Sie sich diesen Gesetzentwurf jetzt! ({6}) Hinter dem Titel des Gesetzes, über das wir heute beraten, steht in Klammern „Wehrrechtsänderungsgesetz 2010“. Das weist auf eine gewisse Jährlichkeit hin, so als ob wir auch ein Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 zu erwarten hätten. Ich glaube, wenn wir ein Wehrrechtsänderungsgesetz beschließen, sollte seine Geltung von Dauer sein. Wir sollten einen Konsens in diesem Haus finden. Finden Sie ein Format dafür! Wir sind bereit. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Florian Bernschneider hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Dauer der Wehrdienstzeit ist sicher seit jeher eine Frage der Abwägung. Mit der Verkürzung der Wehrdienstzeit um drei Monate trifft die Koalition aus Union und FDP diese Abwägung im Sinne der individuellen Freiheit der jungen Männer. Dieser individuellen Freiheit räumen wir einen größeren Stellenwert ein, als es bisher der Fall war. Die Verkürzung der Dienstzeit gilt nicht nur für den Wehrdienst, sondern in der Folge auch für den Zivildienst als Ersatzdienst. Damit können sich sowohl die jungen Wehrpflichtigen als auch die jungen Zivildienstleistenden zukünftig über ein Mehr an individueller Freiheit freuen. Es ist kein Geheimnis, dass wir Liberale uns bei diesem Thema durchaus mehr hätten vorstellen können. Weil es im Kern der Debatte vor allem um die Interessen der jungen Menschen in diesem Land geht, darf es in dieser Frage kein Denkverbot geben. Deswegen freuen mich natürlich die Signale des Bundesverteidigungsministers und der Unionsfraktion. Solange es den Zivildienst gibt, stehen wir in der Verantwortung, ihn sinnstiftend auszufüllen. Uns als FDP ging es in der Debatte deswegen auch darum, nicht nur drei Monate Freiheit für die jungen Menschen zu gewinnen, sondern eben auch darum, sechs Monate sinnstiftenden Zivildienst für sie zu erhalten. ({0}) Es überrascht mich schon, wenn ich dann lese, dass in Kreisen der Opposition behauptet wird, dies alles sei nichts als ein fauler Kompromiss; in nur sechs Monaten Zivildienst könne man gar nichts Vernünftiges lernen. Ich möchte aus einer Statistik des Bundesarbeitsministeriums zitieren. In dieser Statistik geht es um Praktika in Deutschland. Darin wird festgestellt, dass zwei Drittel aller Praktikanten in Deutschland ein Praktikum absolvieren, das kürzer als sechs Monate ist. Die Hälfte der Praktikanten absolviert sogar ein Praktikum, das kürzer als drei Monate ist. ({1}) Ich bin schon gespannt, ob Sie bereit wären, diesen Praktikanten zu sagen, dass ein Einsatz, der kürzer als sechs Monate dauert, nicht sinnstiftend ist. ({2}) Ich würde schon gerne sehen, dass Sie den Praktikanten direkt ins Gesicht sagen, dass sie da nichts lernen können. ({3}) Eine Verkürzung des Zivildienstes auf sechs Monate bedeutet sicherlich nicht, dass nicht einige Zivildienstleistende ein Interesse daran haben können, länger in einer Einrichtung tätig zu sein. Wir als FDP haben uns dieser Möglichkeit nie versperrt; aber Sie wissen: Es gab kontroverse Diskussionen der Koalitionspartner darüber, wie ein solch längerer Einsatz ausgestaltet wird. Für uns als Liberale war immer klar: Wenn sich ein Zivildienstleistender nach seinem Zivildienst entscheidet, länger in einer Einrichtung tätig zu sein, dann muss das freiwillig sein. Mit den Regelungen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen haben, wird für Freiwilligkeit gesorgt. Ich als Liberaler sage Ihnen: Das ist genau der richtige Schritt. Betrachtet man die Herausforderungen, vor denen wir angesichts des demografischen Wandels stehen, wird deutlich, dass das freiwillige Engagement in den kommenden Jahren immer wichtiger sein wird. Es ist beruhigend, schon heute zu sehen, dass sich viele junge Menschen freiwillig engagieren. Schon heute ist die Zahl der Jugendlichen, die sich für den Freiwilligendienst bewerben, höher als die Zahl der Zivildienstleistenden im Einsatz. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass wir als Liberale in den Freiwilligendiensten durchaus Potenzial sehen, um den Zivildienst ablösen zu können. ({4}) Wir stellen in der Diskussion fest, dass es durchaus sinnvoll ist, junge und engagierte Menschen als eine tragende Säule zu haben, und zwar unabhängig von der Wehrpflicht. Deswegen haben wir in den Koalitionsverhandlungen, aber auch in den Verhandlungen über die Verkürzung der Dauer der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes deutlich festgehalten, dass wir die Freiwilligendienste in Zukunft quantitativ wie qualitativ stärken wollen. ({5}) Ich glaube, das ist der richtige Schritt. Das brauchen wir. Das werden wir in Angriff nehmen, genauso wie wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Verkürzung der Dauer des Zivildienstes und der Wehrpflicht in Angriff genommen haben. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Interesse der jungen Menschen in unserem Land. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/ Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verkürzung der Dauer von Wehr- und Zivildienst ist ein weiteres Paradebeispiel dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland noch nie so schlecht regiert worden ist wie heute. ({0}) In den Koalitionsverhandlungen präsentierten sich CDU/CSU und FDP als allerletzte Verteidiger der völlig antiquierten Wehrpflicht. Die FDP knickte ein und opferte den jahrelang geforderten Ausstieg aus der Wehrpflicht auf dem Koalitionsaltar. Dann folgte ein halbes Jahr Koalitionskrach über die Verkürzung der Dauer der Wehrpflicht und die Verlängerung der Dauer des Zivildienstes. Um mit den Worten der Koalitionäre zu sprechen: Erst zanken Union und FDP wie die Rumpelstilzchen, dann legen sie hoppladihopp - wohl nicht zufällig auf dem Höhepunkt der Guttenberger Kunduz-Affäre - den vermurksten Gesetzentwurf einer Gurkentruppe vor, und wenige Tage bevor die Dienstzeitverkürzung im Schweinsgalopp - oder besser: im Wildsautempo - durchs Parlament gepeitscht werden soll, bringt zu Guttenberg die Aussetzung der Wehrpflicht ins Spiel. Das ist kein seriöses Regierungshandeln. Das ist dreist und schlichtweg dilettantisch. ({1}) Das ist schlicht schlechtes Handwerk und Bad Governance. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Gehring, der Kollege Koppelin würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, können Sie meine Erinnerung auffrischen? Ich erinnere daran: Als Sie mit der SPD in einer Koalition regiert haben, waren Sie für die Abschaffung der Wehrpflicht. Wir wollen sie lediglich aussetzen. Die Sozialdemokraten sind für die Wehrpflicht. Können Sie mir sagen, was die Grünen damals in der Koalition mit der SPD beim Thema Wehrpflicht erreicht haben?

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darauf gebe ich Ihnen sehr gerne eine Antwort. Wir haben intensiv dafür gekämpft, dass die Wehrpflicht aufgehoben wird. Sie wissen, dass es in diesem Hohen Hause nach vielen Jahren der Diskussion einen großen Konsens darüber gibt, dass wir die Wehrpflicht aussetzen können. Die Mehrheit des Hauses muss darum werben, um das gegen die CDU/CSU durchzusetzen. ({0}) Inzwischen gibt es entsprechende Beschlüsse von der FDP, den Linken, den Grünen und der SPD. Man kann also sagen: Wir haben erstmals die parlamentarische Mehrheit, um den Ausstieg aus der Wehrpflicht hinzubekommen. ({1}) Wir debattieren heute über Ihre lausige Vorlage zur Dienstzeitverkürzung. ({2}) Herr zu Guttenberg, Frau Schröder, ich fordere Sie auf, diesen Gesetzentwurf zu stoppen. ({3}) Legen Sie dem Deutschen Bundestag lieber ein Konzept vor, wie sich der Ausstieg aus der ungerechten Wehrpflicht tatsächlich organisieren lässt; denn sie ist sicherheitspolitisch längst überflüssig. ({4}) Ihr Vorschlag einer Dienstzeitverkürzung beruht auf keinem Konzept. Es ist ein vermurkster Koalitionskompromiss, der niemandem etwas bringt. Das gilt auch für die optionale Verlängerung des Zivildienstes. Das verschlimmert das Ganze nur noch. Was richten Sie eigentlich damit an, Frau Schröder? Sie sorgen dafür, dass der Zivildienst künftig in der Regel doppelt so lange dauert wie der Wehrdienst. Sie lassen zu, dass junge Zivildienstanwärter von Einrichtungen reihenweise Absagen kassieren, wenn sie sich nicht für mehr als sechs Monate verpflichten wollen. Sie führen ein neues öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis mit Pflichtdienststrukturen im Sozialbereich ein. Diese optionalen Mitarbeiter werden einen Dumpinglohn von 3 bis 4 Euro pro Stunde erhalten. Das ist skandalös, weil dieser Betrag deutlich unter dem Mindestlohn im Pflegebereich liegt. Sie riskieren im Übrigen auch die Verfassungswidrigkeit, da der Zivildienst laut Grundgesetz nur Ersatz für nicht geleisteten Grundwehrdienst sein kann. Deshalb ist Ihr Verlängerungskonstrukt rechtlich sehr fragwürdig. Im Übrigen müssen die Länder hierbei über den Bundesrat beteiligt werden. Es ist ein Unding, dass der für den Zivildienst federführend zuständige Familienausschuss noch nicht einmal die Möglichkeit hat, darüber in einer eigenen Anhörung zu beraten. ({5}) Wenn man das alles zusammennimmt, dann ist das eine verdammt lange Mängelliste für das erste Gesetz überhaupt, das Sie als Ministerin zu verantworten haben. Wir Grüne wissen: Der Zivildienst ist untrennbar mit der Wehrpflicht verbunden, weil er davon abgeleitet ist. Wenn die Wehrpflicht fällt, dann muss man auch den Zivildienst verantwortungsvoll beenden. Deshalb lässt sich der Zivildienst eben nicht, wie Sie das hier heute gemacht haben, sozialpolitisch begründen, sondern immer nur auf der Basis der Wehrpflicht. ({6}) Deshalb denken wir weiter und zeigen Ihnen, wie der Systemumbau geht. Wir wollen auch den Ausstieg aus dem Zivildienst verantwortlich gestalten. Die Zivitätigkeiten, die dann wegfallen würden, können durch einen Mix aus neuen, zusätzlichen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, einem verlässlichen sozialen Arbeitsmarkt und einem massiven Ausbau der Freiwilligendienste ersetzt werden. Darum muss es jetzt gehen. Die dafür notwendigen Mittel stehen im Übrigen zur Verfügung, wenn man aus den Pflichtdiensten aussteigt. Dieser Systemwechsel ist machbar. Man muss nur den Mut dazu haben und eine langfristige Politik beschreiben. Das machen Sie eben gerade nicht. ({7}) Die Familienministerin ignoriert diese Notwendigkeit und greift stattdessen zu verschiedenen Buchungstricks. Sie haben vor ein paar Wochen sogar verkündet, dass es angeblich zu einer Aufstockung der Freiwilligendienstmittel um 35 Millionen Euro gekommen wäre. Das ist aber nichts anderes als das Umschichten von Geld. Dieses Geld wäre nach dem Zivildienstgesetz sowieso ausgegeben worden. Insofern ist das Gerede von einer Aufstockung blanker Hohn. ({8}) Sie haben noch nichts getan, um die Freiwilligendienste in diesem Land zu stärken und auszubauen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte abschließend betonen, dass Sie das Projekt der Großen Koalition - Zivildienst als Lerndienst mal eben nonchalant zur Seite geschoben haben. Die Bildungsansprüche, die hier im letzten Jahr verabschiedet worden sind, werden nicht umgesetzt, sondern auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Deshalb sage ich noch einmal ganz klar: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück! Beenden Sie endlich den Eingriff in die Grundrechte, Lebensplanungen und Bildungsbiografien junger Männer! Organisieren Sie endlich den planvollen Ausstieg aus den Pflichtdiensten und stärken Sie stattdessen die Jugendfreiwilligendienste! Denn in der Freiwilligkeit liegt die Zukunft und nicht in den antiquierten Pflichtdiensten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dorothee Bär ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Koppelin, zunächst einmal möchte ich die Frage beantworten, die Herr Gehring nicht beantworten konnte: ({0}) Die konnten an dieser Stelle nichts durchsetzen. So viel dazu. ({1}) In den letzten Tagen wurde sehr viel und medial sehr aufgeregt über den Wehrdienst debattiert. ({2}) In den Monaten zuvor haben wir - hauptsächlich leider auch medial - eher über den Zivildienst gesprochen, da die bevorstehende Verkürzung des Zivildienstes und die Option einer freiwilligen Verlängerung in den letzten Monaten für sehr viel Aufregung gesorgt haben. ({3}) - Es geht überhaupt nicht um die Aufregung in unseren eigenen Reihen, Herr Kollege Rix. Wir müssen etwas mehr an diejenigen denken, für die wir das Ganze hier machen, und wir sollten etwas weniger auf unsere eigenen Empfindlichkeiten schauen. ({4}) Es geht um die Einrichtungen, besonders in pflegeund betreuungsintensiven Bereichen. Diese Einrichtungen haben befürchtet, dass sich eine intensive Einarbeitung der jungen Männer bei sechs Monaten Zivildienst nicht mehr lohnt. Für viele junge Männer schien sich die Gefahr einer biografischen Lücke zwischen dem Ende des Zivildienstes und dem Beginn der Ausbildung zu verschärfen. Besonders CDU und CSU haben immer für eine freiwillige Anschlusslösung plädiert, um auch bei einer Verkürzung die sinnvolle Durchführbarkeit des Zivildienstes sicherzustellen und den Interessen sowohl der jungen Männer als auch der Einsatzstellen entgegenzukommen. Ich bin sehr froh, dass wir uns darauf einigen konnten. Mich ärgert an den Reden der Opposition, dass hier dauernd das Wort „Kompromiss“ madig gemacht wird. ({5}) Selbstverständlich muss man in einer Demokratie Kompromisse machen und kann nicht immer allein seine Lehre durchsetzen. Ich finde, dass CDU/CSU und FDP keinen faulen Kompromiss, wie Sie es nennen, sondern einen sehr positiven Kompromiss ausgearbeitet haben; denn die Verlängerungsoption dient sehr stark der Stabilität dieses Systems. Sie liegt im Interesse der Zivildienstleistenden, die so das Zeitfenster zwischen dem Ende des Pflichtdienstes und dem Beginn der Ausbildung sinnvoll nutzen können. Natürlich wollen auch die Betroffenen das. Reden Sie einmal mit den jungen Männern und nicht nur hier untereinander. Diese sagen: Meine Biografie ist erst abgeschlossen, wenn ich die Möglichkeit habe, einen Dienst im Sozialbereich ein Jahr lang durchzuführen. Sie fühlen sich nach einem halben Jahr eben noch nicht sicher und gefestigt. Diese jungen Männer gibt es zuhauf. Die Option liegt auch im Interesse der zu betreuenden Menschen, zum Beispiel im Interesse von Kindern mit Behinderungen und älteren Menschen, die eine feste Bezugsperson haben wollen. Dort muss Vertrauen über längere Zeit entstehen und wachsen können.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bär, darf der Kollege Bartels Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich habe ich meiner Kollegin versprochen, keine zuzulassen, da sie früh heimfahren möchte. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Also, was nun?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung, Sibylle. - Bitte schön, Herr Bartels.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, Sie kennen den Bundesbeauftragten für den Zivildienst, Jens Kreuter. Er musste sich in den letzten Wochen mit den Fragen, ob die Zivildienstleistenden das angemessen finden, ob sie etwas davon haben oder ob sie das fordern, auseinandersetzen, weil er bei seinen Reisen ständig mit Zivildienstleistenden spricht. Er hat in einem dpa-Gespräch gesagt, dass die geplante Verkürzung des Zivildienstes wenig Rückhalt bei den Betroffenen findet. Ich zitiere wörtlich: Die große Mehrheit ist dagegen, weil ihnen der Zeitgewinn nichts bringt. Was halten Sie davon?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hat doch jetzt überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich hier gerade ausgeführt habe. ({0}) - Nein, überhaupt nicht. Wer zuhören kann, ist klar im Vorteil, Herr Kollege. Ich bin mit dem Herrn Kollegen Kreuter dauernd im Gespräch. Ich empfehle Ihnen, das, was ich gerade ausgeführt habe, nachher im Protokoll nachzulesen; das wird Sie weiterbilden. ({1}) Er sieht das an dieser Stelle überhaupt nicht so. Deswegen werde ich jetzt meine Rede weiterführen. ({2}) Die Verlängerungsmöglichkeit ist im Interesse der Träger und der Einsatzstellen; denn so können sie den Zivildienstleistenden endlich anspruchsvolle Tätigkeiten anbieten. Das wird zu einer Akzeptanz führen. Deswegen war die Aufregung Ihrerseits bezüglich der Verlängerungsoption nicht nachvollziehbar. Der Vorwurf, die Freiwilligkeit sei nicht sichergestellt, ist mehrfach gemacht worden. Die Unterstellung, die Träger würden die Jugendlichen zwingen, sich zu verpflichten, möchte ich zurückweisen. Das ist nicht fair gegenüber denjenigen, die im karitativen Bereich großartige Arbeit leisten. Da sich an diesem Punkt die heftigste Kritik entzündet hat, möchte ich noch einmal betonen, dass wir in unserem Gesetzentwurf alles Erforderliche vorgesehen haben, um die echte Freiwilligkeit sicherzustellen. Auch wenn sich der junge Mann nach zwei Monaten Pflichtdienst für die Verlängerung entschließt, kann er später nach sechs Monaten Pflichtdienst seinen Einsatz jederzeit beenden. Mehr Freiwilligkeit geht an dieser Stelle nicht. ({3}) Hinzu kommt: Wenn bekannt wird, dass Einsatzstellen den Zivildienstleistenden nur anstellen, wenn dieser bereit ist, länger als sechs Monate zu bleiben, dann riskieren diese Träger die Anerkennung als Zivildienststelle durch das Bundesamt für den Zivildienst. ({4}) - Natürlich ist das nachweisbar, und das wird auch gemacht. Wissen Sie, man sollte nicht immer nur sagen: Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch. Wir müssen den Menschen Vertrauen entgegenbringen. Dafür stehe zumindest ich. ({5}) Sie alle können die Augen vor der Realität verschließen, aber ich finde, dass die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP hier einen ganz großartigen Entwurf vorgelegt hat. Wir werden in der nächsten Woche in einer Anhörung weiter darüber sprechen. Ich kann an dieser Stelle nur sagen: Erstens werden sich die Zivildienstleistenden dafür bedanken. ({6}) Zweitens sind auch die Träger für die Lösung, die wir gefunden haben, sehr dankbar. In diesem Sinne binde ich die Opposition gerne konstruktiv ein, aber nicht mit diesem Affengebrüll wie heute. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor 32 Jahren, am 1. Juli 1978, habe ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr angetreten. Ich habe Wehrdienst aus Gewissensgründen geleistet. Andere haben sich für den Zivildienst entschieden. Ich glaube, beide Positionen hatten und haben unser vollstes Verständnis verdient. Ob Wehr- oder Zivildienst, hier leisten junge Männer einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft, und dies verdient unser aller Respekt. ({0}) Die Bundeswehr ist eine Wehrpflichtarmee. Wehrpflichtige prägen den Charakter unserer demokratischen Streitkräfte seit ihrer Gründung. Zusammen mit dem Instrument der Inneren Führung, dem Staatsbürger in Uniform, hat der beständige personelle Austausch zwischen Gesellschaft und Armee dafür gesorgt, dass unsere Bundeswehr fest in der Mitte unserer demokratischen Gesellschaft verankert ist. ({1}) Die Erfahrungen der Länder, die die Wehrpflicht abgeschafft haben, sind nicht so berauschend. In Frankreich zum Beispiel kann man beobachten, dass sich die Armee stückweise von der Gesellschaft entfernt. ({2}) Das Kernargument für die Wehrpflicht und den Wehrdienst ist die Sicherstellung der Landesverteidigung. Zugleich ist die Wehrpflicht ein schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit junger Menschen und in die Lebensplanung der jungen Männer. ({3}) Daher müssen wir immer wieder aufs Neue abwägen, wie weit und wie lange wir die Freiheit der jungen Männer einschränken. Dieser Grundfrage trägt die geplante Verkürzung des Wehrdienstes Rechnung. Die aktuell günstige Sicherheitslage in Europa erlaubt den Schritt hin zu W 6. Dieser Schritt ist so maßvoll, dass er die Vorzüge des Wehrdienstes nicht unverantwortlich gefährdet. Auch in sechs Monaten können junge Männer einen sinnvollen Wehrdienst leisten und militärische Grundfertigkeiten erlernen. Voraussetzung ist, dass dieser Dienst sinnvoll ausgestaltet wird. ({4}) Wir wollen, dass W 6 und Z 6 ein Gewinn für den einzelnen jungen Mann und für die Dienst- und Einsatzstellen ist. Die inhaltliche Ausgestaltung obliegt nun den Praktikern und richtet sich nach den Bedürfnissen der einzelnen Truppengattungen und Einsatzstellen. In jedem Fall muss der verkürzte Wehrdienst so strukturiert werden, dass er attraktiv ist und auch die Bereitschaft fördert, länger zu dienen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass unsere Grundwehrdiensteinheiten nahe an den Einsatzeinheiten angesiedelt werden. Dann kann die Bundeswehr auch künftig die besten jungen Männer für einen längeren Dienst gewinnen, und die jungen Männer wissen, auf was sie sich einlassen, wenn sie den Soldatenberuf erlernen. Gleiches gilt für den Zivildienst. Viele junge Männer kommen erst durch den Zivildienst mit sozialen Berufen wie Altenpfleger oder Krankenpfleger in Kontakt und erlangen so eine hohe soziale Kompetenz, eine Kompetenz, die sie auch brauchen, wenn sie später einen technischen oder kaufmännischen Beruf ausüben. Gleichzeitig stellen wir fest, dass der größte Teil der jungen Männer, die sich zum Beispiel für den Beruf des Altenpflegers oder Krankenpflegers entscheiden, durch ihren Zivildienst zu dieser Berufswahl gekommen ist. Bislang konnten nur die Wehrdienstleistenden ihren Wehrdienst freiwillig verlängern. Künftig können dies auch die Zivildienstleistenden tun. Hier haben wir eine Ungerechtigkeit gegenüber den Zivildienstleistenden abgebaut. ({5}) Herr Schäfer von den Linken, Ihre Anmerkung, hier handele es sich um Dumpinglöhne, ist Unsinn. Nach dieser Argumentation müssten Sie das Freiwillige Soziale Jahr von heute auf morgen abschaffen, ({6}) weil auch dies Ausbeutung wäre. Nein, das sind sinnvolle freiwillige Dienste. Ob ein junger Mann freiwillig länger Zivildienst leistet oder ein freiwilliges soziales Jahr macht, ({7}) beides sind sinnvolle Dienste. ({8}) Kollege Gehring, Ihnen darf ich sagen: Immer wieder betonen Sie, dass junge Männer gezwungen werden könnten, freiwillig länger zu dienen. Mindestens seit dem 26. März dieses Jahres liegt den Grünen der Entwurf des Gesetzes vor. In § 43 Abs. 3 des Zivildienstgesetzes soll ausdrücklich geregelt werden, dass ein junger Mann jederzeit sagen kann: „Die Weiterführung des Zivildienstes bedeutet für mich eine Härte“ und dass das Bundesamt nicht das Recht hat, dies nachzuprüfen. Erzählen Sie diese Geschichte nicht immer weiter. Wenn Sie es nicht glauben, dann schauen Sie in den Gesetzentwurf. ({9}) - Dann dürften Sie nicht so reden. Durch die freiwillige Verlängerung können die jungen Menschen jedenfalls ihre Lebensplanung besser ausgestalten und biografische Lücken schließen. Wir schaffen künftig also mehr Freiheit als seither. Die Regelung ist auch für die Dienststellen und Einsatzstellen ein Gewinn, weil sie zum Beispiel freiwillig Längerdienende ins Ausland schicken können. Das gilt zum Beispiel auch für die Marine. Wenn -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie müssen nicht erschrocken sein. Es gibt den Wunsch einer Zwischenfrage des Kollegen Sönke Rix. Ich wollte Sie fragen, ob Sie dem zustimmen.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist offenkundig der Fall. - Bitte schön.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grübel, schönen Dank, dass Sie mir eine Zwischenfrage erlauben. Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit nach dem Zivildienst - Sie nennen das den freiwillig verlängerten Zivildienst - absolut freiwillig und anderen Regeln unterstellt ist. Wie erklären Sie sich dann, dass nach § 59 des Zivildienstgesetzes, in dem die Disziplinarmaßnahmen stehen, unter anderem Ausgehbeschränkungen und Geldbußen auch für diejenigen vorgesehen sind, die den Zivildienst freiwillig verlängern? Hat das etwas mit Freiwilligkeit zu tun? Ist das nicht eine Einschränkung?

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch für diesen Dienst gelten bestimmte Regeln. Die eigentlichen Zwangsregeln nach § 52 bis § 58 sind für die freiwillig Längerdienenden aufgehoben. ({0}) - Ja, wenn es durch den aktuellen Dienst bzw. die aktuelle Tätigkeit zwingend ist, zum Beispiel durch eine Bereitschaft oder Ähnliches. ({1}) Ich fahre fort. - Die Wehrpflicht hat sich bewährt. Wir schlagen heute eine praktikable und maßvolle Weiterentwicklung vor. Nun gilt es, W 6 erfolgreich in die Praxis umzusetzen. Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht wurde im Rahmen der Preußischen Heeresreform 1813 eingeführt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Grübel, ich fürchte, dass Sie diese ausführliche historische Darstellung der Entwicklung im Rahmen der vereinbarten Redezeiten jetzt nicht mehr werden bewältigen können.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. - Schon damals war sie umstritten, und 200 Jahre später ist dies nicht anders. Wir werden im Herbst sachlich, zügig und ohne Hetze auf der Grundlage unserer Verfassung die weiteren Entscheidungen treffen. Darum ist es auch sinnvoll, dass wir diesen Gesetzentwurf bald verabschieden. Damit wird mittelfristig Planungssicherheit bestehen. ({0}) Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Frau Kollegin Bär, wenn Sie nachher die Mitschrift Ihrer Rede erhalten, dann werden Sie vermutlich in der Schlusspassage auf eine Formulierung stoßen, von der ich vermute, dass sie bei der Vorbereitung Ihrer Rede gar nicht vorgesehen war, und zu der ich uns empfehlen würde, sie auch bei temperamentvollen Auseinandersetzungen und heftigen Zwischenrufen im Interesse eines wechselseitigen Respekts besser zu vermeiden. ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf der Drucksache 17/1953 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich bitte, den mit dem neuen Thema verbundenen Schichtwechsel hier im Plenum zügig zum Abschluss zu bringen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene - Drucksache 17/1988 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze - Drucksache 17/1971 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Auch diese Debatte soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung 75 Minuten dauern, was, wenn ich mir diesen nachrichtlichen Hinweis erlauben darf, bei dem vorherigen Punkt nicht ganz gelungen ist. - Dazu gibt es offenkundig keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bahn ist der zweitwichtigste Verkehrsträger nach der Straße. Die Bahn ist gleichzeitig das klimaund umweltfreundlichste Verkehrsmittel. Des Weiteren ist die Bundesrepublik als bedeutende Export- und Importnation und größte Handelsnation innerhalb Europas zentral auf funktionierende Verkehrswege angewiesen. Unser Wohlstand und unsere Arbeitsplätze hängen von einem funktionierenden Verkehrssystem ab. Zudem lässt sich kein Verkehrsmittel leichter auf regenerative Energien umstellen und so umbauen, dass wir vom Öl wegkommen, als die Bahn. ({0}) Wird aber die Bahnpolitik der real existierenden schwarz-gelben Koalition dieser Bedeutung gerecht? Betrachten wir die Maßnahmen, die in den ersten Monaten der schwarz-gelben Koalition ergriffen wurden. Als erste große Maßnahme im Bereich der Bahn ist wohl das Angebot anzusehen, für 2,7 Milliarden Euro den britischen Verkehrskonzern Arriva zu übernehmen und damit zu verstaatlichen. Angesichts der Maßnahmen, die die Schwarzen gegenüber den Banken ergriffen haben, ist es nicht weiter erstaunlich, dass diese Verstaatlichungen für ein probates Mittel halten, um mit Problemen fertig zu werden. Aber dass ausgerechnet die FDP der größten Verstaatlichung der letzten 20 Jahre zustimmt, ist absurd. Es wird noch absurder, wenn man sich daran erinnert, wie Sie sich über das in der Tat etwas seltsame Programm der NRW-Linken aufgeregt haben. Wenn Sie noch einmal etwas gegen Verstaatlichung sagen, dann haben Sie jede Glaubwürdigkeit verloren. ({1}) Was haben Sie als nächstes getan? Als nächstes wollen Sie im Zuge des sogenannten Sparpaketes dem System Bahn 500 Millionen Euro entziehen, die als sogenannte Dividende an den Bund abgeführt werden sollen. Selbstverständlich werden Sie jetzt einwenden, dass die 500 Millionen Euro aus dem Gewinn aufgebracht werden; aber wir alle wissen, wie die Bahn strukturiert ist. ({2}) Welche Folge wird es haben, wenn der Bahn in ihrer jetzigen Struktur 500 Millionen Euro entzogen werden? Die Folge wird sein, dass die Töchter noch massiver ausgepresst werden. Die Berliner S-Bahn lässt grüßen. ({3}) Sie erhöhen mit Ihren Maßnahmen den Druck auf die Bahn, ihre Konzerntöchter, die Infrastruktur und die Nahverkehrsgesellschaften noch stärker auszupressen. Wer muss das ausbaden? Der Kunde. Was haben Sie des Weiteren getan? Alles zusammen - gerechnet - die Gatzer-Liste usw. - müssen Sie aufgrund des Sparpakets in Ihrem Ressort in diesem Jahr über 400 Millionen Euro, im nächsten Jahr 700 Millionen Euro und im Jahr darauf fast 900 Millionen Euro einsparen. Diese Einsparungen werden sicherlich bei den Investitionen erfolgen; denn an die anderen Bereiche trauen Sie sich bekanntermaßen nicht heran. Schauen wir uns die Lage bei den Investitionen an: Ihre Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere Anfrage selbst zugestanden, dass allein für die Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs im Bundesverkehrswegeplan 24 Milliarden Euro fehlen - und das schon bei der alten Bundeshaushaltslinie und unter der Voraussetzung, dass Sie keinerlei Kostensteigerungen haben. In der Vergangenheit war bei den Planansätzen in der Regel mit Kostensteigerungen um den Faktor 2 zu rechnen. Aber selbst ohne all dies zu berücksichtigen, fehlen Ihnen 24 Milliarden Euro. Erst vorgestern hat uns der Beirat bei der Bundesnetzagentur der DB AG dargestellt, dass noch im Jahr 2008 90 Prozent der Mittel für sogenannte laufende Vorhaben verausgabt wurden. Was heißt das? Was bedeuten laufende Vorhaben im Bahnbereich? Dabei handelt es sich weitgehend um Maßnahmen aus dem Bundesverkehrswegeplan von 1992 oder früher. Das heißt: Fünf Jahre nach der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans 2003 stehen nur 10 Prozent der Mittel für diesen Bundesverkehrswegeplan zur Verfügung. Wie wollen Sie da auf Entwicklungen reagieren? - Sie tun es gar nicht. Sie reagieren einfach nicht auf neue Entwicklungen. In den nächsten Jahren werden Sie nach Ihren Planungen einen Großteil der Gelder für ganz wenige Großprojekte verausgaben, sodass für die wirklich wichtigen Maßnahmen kein Geld mehr vorhanden sein wird. ({4}) Der Minister führt gern das große Wort. Im letzten Jahr hat er vor Weihnachten davon gesprochen, dass er einen Großteil des Güterverkehrszuwachses auf die Schiene verlegen will. Das sind schöne Worte. Ihre Taten sprechen aber eine andere Sprache. Sie entziehen dem System Schiene Milliarden von Euro. Wie wollen Sie da etwas erreichen? Nicht an Ihren Worten werden wir Sie messen, sondern an Ihren Taten, wie es so schön heißt. Jetzt erkennt man leider Ihre Taten. Wie können Sie Ihren Ankündigungen Taten folgen lassen? Wir haben Ihnen ein umfangreiches Maßnahmenpaket aufgeschrieben, mit dessen Umsetzung Sie Ihren Worten Taten folgen lassen könnten. Was sind die wichtigsten Maßnahmen? Die erste Maßnahme muss die Aufhebung der Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge zwischen den Töchtern der DB AG und der Holding sein, ({5}) damit der Anreiz entfällt, die Töchter - S-Bahn Berlin usw. - auszuplündern. Das steht auch so in Ihrem Koalitionsvertrag. Aber das allein hilft nichts. Papier ist geduldig. Man muss die geplanten Maßnahmen auch umsetzen. Wir loben Sie sogar für diese eine sinnvolle Passage in Ihrem Koalitionsvertrag. Aber bei der Umsetzung machen Sie genau das Falsche. Des Weiteren ist nötig, die Planungen für den Personenverkehr am sogenannten Deutschland-Takt auszurichten. ({6}) Was bedeutet das? Wenn ich einen Zug benutze, müssen die Anschlüsse funktionieren. Es hilft nämlich nichts, Milliarden von Euro auszugeben, um mit einem ICE 20 Minuten schneller von A nach B fahren zu können, wie jetzt vielfach geplant ist, wenn die Anschlüsse nicht funktionieren und ich zwangsweise eine halbe Stunde am Bahnhof verbummele. Des Weiteren muss dringend für einen vernünftigen und fairen Wettbewerb gesorgt werden. Wir verstehen unter einem vernünftigen und fairen Wettbewerb, dass gleiche und gerechte Zugangsbedingungen für jeden geschaffen werden, der Schienenverkehr organisieren möchte. Für uns ist es nicht entscheidend, ob ein roter oder ein gelber Zug fährt. Entscheidend für uns ist, dass für die Kunden pünktliche und saubere Züge fahren. ({7}) Des Weiteren ist es nötig, die Investitionspolitik so zu verändern, dass, statt Millionen zu versenken, nur noch Maßnahmen ergriffen werden, die Engpässe beseitigen, schnell wirken und sowohl den Kunden im Personenverkehr als auch den Kunden im Güterverkehr helfen. Deshalb fordere ich Sie auf: Setzen Sie unsere Maßnahmen um! Wir haben sie Ihnen aufgeschrieben, weil Sie selbst nur planlos und orientierungslos in der Gegend herumirren. Wir haben Ihnen einen großen Gefallen getan. Wenn Sie unsere Maßnahmen umsetzen, dann haben Sie die Chance, den Worten Ihres Ministers gerecht zu werden. Danke. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hofreiter, Sie fordern heute eine neue Investitionspolitik für mehr Verkehr auf der Schiene. Dieser Forderung in der Form, wie Sie sie gerade vorgetragen haben, werden wir uns nicht anschließen. ({0}) Nein. - Wir werden uns nicht anschließen, weil sich in der Bahnpolitik seit der Übernahme des Verkehrsministeriums durch die CSU, durch Peter Ramsauer, bereits sehr vieles zum Positiven verändert hat. ({1}) Wir wollen keine Wende rückwärts. Nein, wir wollen ein Weiter-so, weil es noch viele Baustellen gibt und weil wir davon überzeugt sind, dass wir diese mit unserem Verkehrsminister erfolgreich abarbeiten werden. ({2}) - Ich habe es Ihnen schon vorgerechnet, Herr Pronold. Ich muss nicht ständig darauf hinweisen, was Ihre Verkehrsminister uns nach 4 000 Tagen hinterlassen haben. Es geht natürlich nicht an, nur die kaufmännischen Zielsetzungen der Bahn im Auge zu haben. In diesem Punkt, Herr Kollege Hofreiter, gebe ich Ihnen recht: Verkehrswege und insbesondere die Bahn sind Lebensadern unserer Volkswirtschaft. Diese Adern brauchen wir in einem exportorientierten und von Wirtschaftskraft geprägten Land wie Deutschland ganz besonders. Ich gebe Ihnen noch ein zweites Mal recht: Die Bahn ist - ich lasse das Fahrrad außen vor - eines der umweltfreundlichsten Verkehrsmittel, die wir haben. ({3}) - Danke. Heute wird es richtig schön. - Weder Pkw noch Lkw noch Flugzeug sind so klimaschonend wie die Bahn; denn sie weist unter dem Gesichtspunkt der Energieeffizienz eindeutige Vorteile auf. Das haben wir auch im Sparpaket zum Ausdruck gebracht. Lassen Sie mich auf die Gleichbehandlung des Flugverkehrs zu sprechen kommen. Im internationalen Flugverkehr war die Besteuerung von Flugbenzin kurzfristig nicht durchsetzbar. Aber bis zur Einbeziehung des Luftverkehrs in den bereits vereinbarten CO2-Emissionshandel werden wir eine nationale ökologische Luftverkehrsabgabe für Passagiere erheben, die im Inland abfliegen. Jetzt erwarte ich von den Grünen und insbesondere vom Kollegen Hofreiter einen besonderen Applaus für uns. ({4}) - Schade. Nun komme ich auf den zweiten Teil Ihres Antrags zu sprechen. Ihre Argumentation ist in dem Bereich, wo Sie über die Fortschreibung der Finanzierung von Schienenprojekten im Verkehrswegeplan bis 2040 reden, schlicht und ergreifend scheinheilig und Ihre Kritik unehrlich; denn die Neu- und Ausbauprojekte des vordringlichen Bedarfs hat die rot-grüne Bundesregierung 2004 im Bundesschienenwegeausbaugesetz auf den Weg gebracht und damals mit Finanzmitteln in Höhe von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr unterlegt. Ich bin vielleicht kein guter Rechner, aber über den Daumen gerechnet würde man mit der von Ihnen beschlossenen Ausbaupolitik mit diesen Projekten 2035/2036 fertig. Damit wäre man gerade einmal vier Jahre schneller. Ihre Kritik greift hier also deutlich zu kurz. Zu diesem Schluss kommt man insbesondere dann, wenn man die heutige Krise der Finanzmärkte und des Euros mitberücksichtigt. Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben. Auch Sie können es nicht anders machen. ({5}) Ihr Antrag weist weitere Schwachpunkte auf. Sie haben - der Ideologie geschuldet - nur die Bahn im Blick. Das ist ein Fehler. Zukunftsorientierte Verkehrspolitik bedeutet, alle Verkehrsträger im Blick zu haben und diese optimal miteinander zu verzahnen. Natürlich liegt es in unserem Interesse - das hat unser Verkehrsminister bereits zu Beginn der neuen Koalition zum Ausdruck gebracht -, möglichst viel vom Verkehrszuwachs sowohl im Güter- als auch im Personenverkehr auf die Bahn zu verlagern. Aber es wird uns definitiv nicht gelingen, alles oder zumindest den größten Teil auf die Schiene zu bringen. Deswegen sollten wir auch hier Realisten bleiben. Mit unserer Investitionspolitik reagieren wir angemessen und bleiben auf dem Boden der Realität. Wir spielen nicht das Spiel „Wünsch dir was“. Wir betreiben keine Politik, wie Sie selbst sie in den Jahren Ihrer Regierungsverantwortung definitiv nie gemacht hätten. Ich kann also auch Sie nur zu etwas mehr Realismus ermahnen. Wer die Bedeutung der Schuldenbremse ab 2011 und die Beratungen um den Bundeshaushalt 2011 aufmerksam verfolgt, weiß - das muss heute ebenfalls gesagt werden -, dass auch auf den Verkehrshaushalt schwierigere Zeiten zukommen. Ich möchte unserem Verkehrsminister nochmals ausdrücklich dafür danken, dass die Investitionen auf hohem Niveau verstetigt werden konnten. Das ist und war nicht selbstverständlich. Wir wissen, dass Investitionen ein Teil der Wirtschaftsförderung, ein Beitrag zur Mobilität in unserem Lande sind. Genau in diesem Sinne haben wir bei der Aufstellung des Sparpakets gehandelt. Auch uns ist daran gelegen, dass das Zugleit- und Zugsicherungssystem ERTMS/ETCS in Europa so schnell wie möglich weiter ausgebaut wird. Auch wir wollen, dass Trassenerlöse und Stationsentgelte in die Infrastruktur investiert werden. Auch wir wollen mehr Gleisanschlüsse. Auch wir wollen mehr Güterverkehr auf der Schiene und deswegen mehr Gleise. ({6}) Das Ganze muss aber - das festzustellen, gehört zu einer ehrlichen Politik einfach dazu - im Rahmen des zeitlich und finanziell Möglichen umgesetzt werden. Wie ich bereits gesagt habe, kann man den Verkehrshaushalt aufgrund der Verzahnung der verschiedenen Bereiche nicht auf einen einzigen Verkehrsträger ausrichten. Die Beseitigung von Engpässen, die Setzung von Prioritäten, all das werden wir auch in den nächsten Monaten erfolgreich vornehmen; da bin ich sicher. Es geht darum - das wurde ja gerade gesagt -, eine intelligente Verkehrspolitik unter Einbeziehung der Bahn und der Bahninfrastruktur zu machen. Ich kann Sie nur auffordern, auf dem Boden der Tatsachen daran mitzuarbeiten. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Beckmeyer ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst einmal möchte ich den Kollegen von den Grünen und der Linksfraktion dafür danken, dass wir heute diese Debatte führen können. Wir müssen zu diesem Zeitpunkt nämlich konstatieren, dass der Verkehrsbereich an den Sparbemühungen der Bundesregierung in den nächsten vier Jahren mit gut 9 Milliarden Euro beteiligt wird. Diese Größenordnung verblüfft und weist darüber hinaus darauf hin, dass der Verkehrsbereich in einem unerträglichen Ausmaß, in einer nicht akzeptablen Art und Weise und ohne erkennbaren Nutzen an diesen Sparbemühungen beteiligt wird. Das ist etwas Neues. Im Grunde signalisiert es, dass die Verkehrspolitik für diese Bundesregierung dramatisch an Bedeutung verloren hat. Nicht umsonst haben vor zwei Tagen ein wichtiger Verband und ein wichtiges Unternehmen, nämlich der VDA und die Deutsche Bahn AG, gemeinsam ein Thesenpapier - es klingt fast wie ein Pflichtenheft - für die deutsche Verkehrspolitik erstellt. In diesem Papier wurde wohl zum ersten Mal in dieser Form ein vermutlich auf uns niederkommendes Übel richtig beschrieben und beklagt. Unter der Überschrift „Gemeinsam die Rolle der Verkehrspolitik stärken“ wird ganz vorsichtig formuliert: Der Stellenwert der Verkehrspolitik muss gemäß ihrer zentralen Bedeutung für die Mobilität unserer Gesellschaft sowie als zentrale Säule der Wirtschafts- und Standortpolitik weiter entwickelt werden. Die Zusammenarbeit der Verkehrspolitik mit anderen Politikbereichen … ist gezielt auszubauen. Infrastrukturpolitik ist als politische Querschnittsaufgabe zu verstehen. Anknüpfungspunkte zu anderen Politikbereichen müssen verdeutlicht und stärker vernetzt werden. Eine engagierte Vertretung deutscher Interessen in der EU-Verkehrspolitik ist dringend erforderlich. Des Weiteren erfolgen Aussagen zur Höhe der Investitionen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist ein Appell von einem Verband, der der Bundesregierung, denke ich, gar nicht so fernsteht, und von der Deutschen Bahn AG. Beide fragen sich: Oh Gott, was passiert da eigentlich in Berlin? - Das ist schon dramatisch. Sie beschließen eine Luftverkehrsabgabe, eine Air Traffic Tax, national, nicht europäisch. Dafür gibt es vielleicht gute Gründe. Man könnte ja sagen: Das Geld, das wir dadurch einsammeln, wollen wir dem Umweltschutz zur Verfügung stellen oder dem Bereich Luftverkehr zurückgeben oder, wie heute durchaus üblich, für Entwicklungshilfeprojekte vorsehen. Aber was machen Sie? Sie nehmen 2 Milliarden Euro ein - die Passagiere bezahlen es - und schieben das Geld in den allgemeinen Haushalt, den Sie vorher geschröpft haben, um Herrn Mövenpick und anderen Hoteliers das Geld in den Hintern zu stecken. Das ist doch die aktuelle Situation. ({0}) Man kann durchaus der Meinung sein, dass die DB AG als Aktiengesellschaft, die Dividendenfähigkeit besitzt, ihrem Eigentümer eine Dividende zu zahlen hat. Diese Auffassung kann man vertreten. DAX-Unternehmen schütten regelmäßig Dividenden aus. Ich bitte Sie aber, einmal zu überlegen, in welcher Größenordnung DAX-Unternehmen dies tun. Sie zahlen nicht von jetzt auf gleich 500 Millionen Euro pro Jahr, also eine halbe Milliarde Euro, festgelegt für die nächsten vier Jahre, sondern das wird nach und nach entschieden, maximal übrigens 30 Prozent des Gewinns. Das sind die normalen Größenordnungen, die für Ausschüttungen von DAXUnternehmen gelten. Was macht der Finanzminister? Er fordert 500 Millionen Euro pro Jahr von jetzt bis 2014. Sie, meine Damen und Herren, propagieren immer verkehrsträgerimmanente Finanzierungskreisläufe. Was bedeutet das nun für die Schiene? Das bedeutet, dass Sie die Fähigkeit der DB AG, Investitionen in die Schiene zu tätigen, für die Zukunft einschränken. ({1}) Auch da zeigt sich die Konzeptionslosigkeit Ihrer Verkehrspolitik. Ihnen fehlt der Kompass in der Verkehrspolitik. Die Situation kann dramatischer nicht sein. Der Minister, Herr Dr. Ramsauer, wurde von uns im Ausschuss befragt: Wo sparen Sie? Antwort: Bei den disponiblen Mitteln. - Es war schon dramatisch, zu hören, welche Ansätze halbiert werden, vor allen Dingen in Bereichen, die bisher, auch von der Großen Koalition, konjunkturpolitisch als sehr wichtig eingestuft wurden mit der Begründung: Wir brauchen in schwierigen Zeiten Impulse für das Handwerk. - Und jetzt: überall Halbierungen! ({2}) Also: Sie machen eine Politik gegen die Konjunktur, Sie machen eine Politik gegen die Verkehrsträger, und das alles in einer Situation, in der sich Deutschland gerade in diesen Bereichen - das ist eine gemeinsame Erkenntnis des Verkehrsausschusses - verstärkt engagieren müsste. Ich muss ganz ehrlich sagen: Es ist gravierend, was da momentan unter dem Strich alles zusammenkommt. Da hilft auch nicht der Hinweis: „Wir haben 10 Milliarden Euro als Investitionslinie für die Verkehrsträger gerettet.“ - Diese 10 Milliarden Euro werden überall angeknabbert, weil man in den nächsten Jahren Geld beim Bundesfinanzminister abzuliefern hat. Schließlich landet man - Anton Hofreiter hat das vorhin gesagt - bei über 950 Millionen Euro. Das hat zur Konsequenz, dass uns dann fast 1 Milliarde Euro fehlt - mit all den Konsequenzen, die wir zu gewärtigen haben. Das ist auch noch vor dem Hintergrund zu sehen, dass wir Priorisierungen vornehmen müssen. So wird es überall in den Regionen Heulen und Zähneklappern geben. Wir als Sozialdemokraten werden deutlich machen, dass Sie, die Liberalen und die Christdemokraten, dafür die Verantwortung tragen, und zwar komplett. Der deutschen Öffentlichkeit muss klipp und klar gesagt werden: Sie sind in der Verkehrspolitik auf der Versagerstraße. Das ist bedauerlich. Ich kann Ihnen nur zurufen: Nehmen Sie endlich Ihren Mut zusammen und versuchen Sie, in dem Bereich einen Common Sense in Deutschland zu erzeugen, damit Verkehrspolitik wieder eine höhere Priorität gewinnt. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als nächster Redner spricht der Kollege Werner Simmling für die FDP-Fraktion. ({0})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich unserem Verkehrsminister Peter Raumsauer ausdrücklich danken, dass er in einer solch schwierigen Situation eine Verstetigung der Verkehrsinfrastrukturausgaben auf gutem Niveau erreicht hat. ({0}) Das muss man nach dieser Polemik einfach mal sagen. Ich glaube, wir alle sind uns einig: Nicht die Mittel im Verkehrsbereich wurden bisher verstetigt, sondern die Unterfinanzierung. Das wissen wir zwar nicht erst seit der Veröffentlichung des Verkehrsinvestitionsberichtes 2009; dass der Investitionsdruck aber eine solche Qualität hat, ist erschreckend. Auch Sie von Bündnis 90/ Die Grünen sehen richtigerweise, dass die identifizierten Engpässe nicht mit den Investitionsschwerpunkten übereinstimmen. Wir reden hier also in erster Linie über strukturelle Probleme des rot-grünen Verkehrswegeplans, den wir geerbt haben. Nun fordern Sie: Mehr Verkehr auf die Schiene! - Schwarz-Gelb sagt deutlich Ja dazu - wo dies sinnvoll ist. ({1}) Der Zusatz „Wo dies sinnvoll ist“ bedeutet keine A-priori-Einschränkung, es handelt sich vielmehr um eine kluge Richtungsentscheidung schwarz-gelber Verkehrspolitik. Nehmen Sie aber bitte auch zur Kenntnis, dass nicht jeder Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagerbar ist. Bei Veränderungen im Modal Split gibt es kein Entweder-oder. Nettovorteile ergeben sich, wenn ein Verkehrssystem im Ganzen effizienter, schneller und umWerner Simmling weltfreundlicher wird, eben optimaler, um Wachstum und Beschäftigung zu ermöglichen statt zu behindern. Mit der Überarbeitung des Masterplanes „Güterverkehr und Logistik“ schwenken wir auf eine Infrastrukturpolitik um - auch und vor allem für die Schiene -, mit der Güterverkehr und Logistik echte Angebote gemacht werden. Bezüglich des Ausbaus von Schieneninfrastruktur besteht der wichtigste Schritt in der Neupriorisierung von Investitionsvorhaben. Im Koalitionsvertrag ist dies vereinbart, aktuell befindet es sich in der Erarbeitung. Geplante Infrastrukturvorhaben werden nach den Kriterien volkswirtschaftlicher Nutzen, Beseitigung von Engpässen, Ausbau von Knoten und Hinterlandanbindungen etc. beurteilt. Bereits im Sommer bzw. im Herbst werden uns hierzu entsprechende Vorschläge vorliegen. Dieser Punkt ist auch eine zentrale Forderung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen. Damit zitieren Sie aber nur ein weiteres Mal den Koalitionsvertrag. Außerdem haben wir im Koalitionsvertrag die Anreizregulierung bei Trassen- und Stationspreisen vereinbart. Eine solche regulatorische Maßnahme wird sich deutlich positiv auf den Netzbetrieb auswirken. Echte Marktpreise entstehen nämlich dort, wo bisher wenig Verkehre stattfinden. Durch niedrigere Preise wird eine Stärkung des Angebotes ermöglicht. Der Wettbewerb auf der Schiene wird damit gefördert. In unserem Koalitionsvertrag steht auch, dass wir im Zuge dieser Maßnahmen die Bundesnetzagentur stärken. ({2}) Was die Engpassbeseitigung im Bestandsnetz angeht, sollten wir darüber diskutieren, ob und wie wir die Überlegungen des Netzbeirates aufgreifen, und die stärkere Kombination von Instandhaltung und punktuellem Ausbau des Netzes in Aussicht stellen. Ziel muss es sein, möglichst zügig zusätzliche Kapazitäten im Netz zu schaffen - natürlich nur innerhalb des Finanzrahmens. Mit weiteren Veränderungen in der DB Holding sichern wir eine größere Einflussnahme des Eigners Bund im Hinblick auf die Infrastrukturmaßnahmen der DB AG. Im Rahmen der Neuverhandlung der Gewinnabführungsverträge wollen wir, dass in Zukunft die Gewinne aus dem Netz in den Eisenbahninfrastrukturunternehmen bleiben, damit deren Investitionskraft gestärkt wird. ({3}) Um dem zukünftigen Verkehrsaufkommen nachhaltig zu entsprechend und im europäischen Wettbewerb mithalten zu können, sind also Effizienzsteigerungen und ein Mehr an Verkehrsleistung notwendig. Entscheidende Schritte sind von uns bereits angestoßen. Weitere Schritte werden folgen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist dringend notwendig, dass mit einer zielgerichteten Politik die Weichen im Verkehrsbereich umgestellt werden. Vor zwei Tagen wurde im Ausschuss der Bericht über die Verkehrsinvestitionen von 2003 bis 2008 präsentiert. Der Berichterstatter lobte, dass viele Milliarden verbaut worden sind, und bedauerte, dass nicht alle Töpfe ausgeschöpft werden konnten. Ich meinte, dass ja nicht das Geldausgeben an sich von Vorteil sei, und fragte nach den Zielen, worauf der zuständige Staatssekretär erwiderte, dass es die Leute, die bauen würden, glücklich mache, wenn sie Beton in die Landschaft gießen könnten. ({0}) - Genau. Sie freuen sich ebenfalls. Ich dachte, ich höre nicht recht. Aber tatsächlich hat diese Ziellosigkeit leider System. Der Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen beruht auf einer Prognose, die das politische Nichtstun und einen viel zu niedrigen Ölpreis voraussetzt. Nach dieser Prognose wird der Straßengüterverkehr bis 2025 um 80 Prozent steigen. Dies geschieht auf Kosten der Bahn. ({1}) Auch der motorisierte Individualverkehr werde wachsen und die Eisenbahn bei einem Anteil von 7 Prozent stecken bleiben. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ({2}) Wenn Sie diesem vermeintlichen Bedarf hinterherbetonieren, dann verschärfen Sie alle Krisen, mit denen wir es derzeit zu tun haben, zuallererst und vor allem die Umwelt- und Klimakrise, die für die Menschheit, für uns alle, zur Überlebensfrage wird. Fakt ist, dass in den vergangenen 20 Jahren die Klimabelastung durch den Verkehr in Deutschland um 12 Prozent zugenommen hat - und das, obwohl die Motoren viel effektiver und schadstoffärmer sind. Das Problem ist: Der Lkw-Verkehr hat sich seither fast verdoppelt. Es werden dreimal so viele Güter durch die Luft geflogen. In einem Joghurtbecher stecken heute 50 Prozent mehr Transportkilometer als vor 30 Jahren, und eine Person legt eine doppelt so lange Wegstrecke zurück. Ist das ein Vorteil? Immer mehr, immer höher, immer weiterer Verkehr? Das verbessert doch nicht die Lebensqualität. ({3}) - Das hat doch mit der Lebensqualität und dem Joghurt nichts zu tun. Entschuldigung! ({4}) Die Lebensqualität wird nicht verbessert, eher das Gegenteil ist der Fall: 44 Prozent der Menschen in Eu4838 ropa leiden unter zu viel Autoverkehr. Während sich die Konzerne die Gewinne aufgrund der Globalisierung in die Tasche stecken, muss die ganze Gesellschaft die Folgen von Luftverschmutzung, Lärm und Naturzerstörung sowie die Folgen von Lohndumping tragen. Nun hat die Bundesregierung im Kioto-Protokoll zugesagt, den CO2-Ausstoß bis 2020 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren. Im Verkehrsbereich ist davon überhaupt nicht die Rede. Eine Strategie aber zur Vermeidung von Verkehr ist längst überfällig und genauso eine zur Verlagerung von Verkehr auf den Fußweg, auf das Fahrrad, auf den öffentlichen Nahverkehr und auf die Eisenbahn. ({5}) Allerdings muss man, wenn man dieses Ziel verfolgt, wahrscheinlich erst das Führungspersonal der Deutschen Bahn AG austauschen. ({6}) Der Vorstand Herr Dr. Karl-Friedrich Rausch, der übrigens von der Lufthansa kommt, verlangt, die Veränderung des Modal Splits, also der Aufteilung zwischen den Verkehrsträgern, zulasten eines Verkehrsträgers - in Klammern: der Straße - zu vermeiden. Er will die gezielte Förderung des Güterverkehrs als Wachstumsmotor, übrigens gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Verbandes der Automobilindustrie. Das heißt, er will in die gleiche falsche Richtung weiterfahren. Herr Ramsauer, Sie sollten dafür sorgen, dass dieser Herr zusammen mit den anderen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern, die Spitzenmanager von Beton-, Energie-, Auto- und Flugzeugkonzernen waren oder sind, seinen Hut nimmt. Denn wir brauchen an der Spitze des größten öffentlichen Unternehmens Leute, die das Gemeinwohl im Sinn haben, mehr Verkehr auf die Schiene bringen und die Bahn für alle weiterentwickeln. ({7}) Die Bahn hat schon heute - das haben wir gehört eine mit Abstand bessere Umweltbilanz als Kraftfahrzeuge oder Flieger, obwohl derzeit noch viel zu viel Kohlestrom verfahren wird und es keine Abwrackprämie für Diesellokomotiven gegeben hat. Aber Bahnstrom könnte aus regenerativen Energiequellen kommen. Elektromobilität findet als Massenverkehr auf der Schiene statt. Diese muss ausgebaut werden. Wenn man die Klimakrise entschärfen will, dann ist ziemlich klar, wohin die Reise gehen muss. Das gilt auch für die schwelende Krise im Hinblick auf die Verteilungsungerechtigkeit, mit der die soziale Basis in den Gesellschaften weltweit, aber auch hier untergraben wird. Selbst im hochmotorisierten Deutschland besitzt ein Viertel der Haushalte kein Auto, die meisten, weil sie es sich nicht leisten können. Jetzt sehen wir, dass seit Wochen Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko ausströmen, weil BP das Risiko einer Tiefseebohrung eingegangen ist. Die vorhandenen Ölreserven auf diesem Planeten werden immer schwerer zugänglich, die Förderung wird riskanter und teurer, und das wird sich unter anderem in drastisch steigenden Spritpreisen bemerkbar machen. Alle, denen das Autofahren zu teuer ist oder die darauf verzichten wollen, sind auf ein gutes öffentliches Nah- und Fernverkehrsangebot angewiesen. ({8}) Daran mangelt es vielerorts, vor allem im ländlichen Raum. ({9}) Das wäre ein wichtiges Ziel der Verkehrspolitik: Sie muss dafür Sorge tragen, dass in einer mobilen Gesellschaft niemand abgehängt wird. Zurzeit stecken wir mitten in der Finanzmarkt- und Schuldenkrise, in der jetzt sogenannte Sparprogramme erzwungen werden. Diese Krise könnte im Verkehrsbereich als Chance genutzt werden, als Gelegenheit, auf die Bremse zu treten, damit man wenden kann: Verzichten Sie auf den Baubeginn von Autobahnabschnitten und auf fragwürdige Großprojekte, bevor nicht ein Entwicklungsplan auf dem Tisch liegt, in dem die ökologischen und sozialen Ziele der Verkehrspolitik festgelegt sind! Bis dahin ist kleckern statt klotzen das Gebot der Stunde. ({10}) Streichen Sie als Erstes die Straßenbauprojekte, die am wenigsten Nutzen und am meisten ökologische Schäden bringen! Die Umweltverbände haben eine Liste erstellt. Damit würden in den nächsten Jahren 30 Milliarden Euro gespart. Für den Neu- und Ausbau von Schienenwegen müssen jährlich mindestens 2,5 Milliarden Euro von der Straße auf die Schiene umgeschichtet werden. Stocken Sie die Regionalisierungsmittel auf, die den Schienenpersonennahverkehr finanzieren, ({11}) und sorgen Sie dafür, dass in diesem Bereich mehr investiert wird! ({12}) Wir wissen, dass die Fahrgastzahlen um ein Vielfaches steigen, wenn das Angebot gut und zuverlässig ist. Legen Sie ein Sonderprogramm „Barrierefreiheit“ auf, damit in naher Zukunft tatsächlich alle die öffentlichen Bahnen und Busse nutzen können, auch diejenigen, die alt sind, im Rollstuhl sitzen oder einen Kinderwagen schieben! ({13}) Dazu gehört auch, dass an den 3 500 herrenlosen Bahnhöfen im Land wieder Menschen am Schalter sitzen. Zu guter Letzt weise ich darauf hin: Es gibt keinen Beweis dafür, dass hierzulande die wirtschaftliche Entwicklung zwangsläufig mit dem Bau von Straßen verSabine Leidig bunden ist. Es gibt Beispiele dafür, und genauso gibt es Gegenbeispiele. Aber es gibt eine aktuelle Studie der Universität Wien, in der nachgewiesen wird, dass man, wenn man 1 Milliarde Euro öffentlicher Investitionen in die Schieneninfrastruktur steckt, eineinhalbmal so viel Arbeitsplätze schafft, wie wenn man sie in den Autobahnbau steckt. Wenn man die gleiche Summe benutzt, um Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zu organisieren, dann kann man sogar zweieinhalbmal so viel gute und sinnvolle Arbeitsplätze schaffen. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Peter Ramsauer. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte über die beiden vorliegenden Anträge nutze ich gerne, um die fundamentale Bedeutung von hinreichenden Investitionen in unsere Verkehrsinfrastruktur für die gesamte Wirtschaft, aber auch für die gesamte Gesellschaft zu beleuchten. Investitionen in unsere Straßen, in unsere Schienen, in unsere Wasserstraßen und natürlich auch in einem gewissen Umfang in den Luftverkehr - er trägt sich weitestgehend selbst; das wird immer wieder übersehen sind Investitionen in die wichtigsten Lebensadern unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft und bilden die bestmögliche Grundlage für Wachstum und für Arbeitsplätze. ({0}) Auf genau diese Aufgabe konzentriert sich die Bundesregierung mit aller Ernsthaftigkeit. An die Adresse der Antragsteller, also der Grünen und der Linken, möchte ich einige ganz kurze Bemerkungen machen. Sie listen - hier spreche ich die Grünen an - in Ihrem Forderungskatalog zur Investitionspolitik im Bereich Schiene durchaus einige Forderungen auf, die wir jetzt mit allem Nachdruck angehen. ({1}) Ich nenne nur die geforderte Konzentration auf Investitionsschwerpunkte in Form von Projekten, die ein möglichst hohes Nutzen-Kosten-Verhältnis aufweisen. Herr Hofreiter, wir haben uns erst vorgestern im Ausschuss darüber unterhalten. Auch die Kollegin Leidig hat dies angesprochen. Mir als Verkehrs- und Bauminister und als gelerntem Ökonomen braucht doch niemand die Erkenntnis als neu zu verkaufen, dass man gefälligst nicht solche Investitionen tätigt, die hinterher mehr Schaden als Nutzen bewirken. Für die Bewertung von Projekten gibt es ein Instrument - das wissen Sie doch alle -, nämlich die Nutzen-Kosten-Analyse. ({2}) Gemäß unserer Prioritätensetzung investieren wir nur in solche Projekte, die mehr volkswirtschaftlichen Nutzen bringen, als sie ursprünglich kosten. Das ist unsere klare Marschrichtung. Danach handeln wir. ({3}) Noch eine Bemerkung sei erlaubt. Wir alle sind uns schnell einig, wenn es um die Notwendigkeit der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene geht. Das ist heute schon einige Male angesprochen worden. Aber wenn es dann bei den einzelnen Projekten ernst wird, dann schlagen sich nicht wenige schlicht und ergreifend in die Büsche. Ich kann einfach nur lapidar feststellen, dass bei Protesten gegen viele Schieneninfrastrukturprojekte gerade auffallend viele Grüne in der ersten Reihe der Protestierenden stehen. ({4}) Da kann ich nur sagen: Holen Sie, lieber Herr Hofreiter, diese Streiter für falsche Ziele zurück. ({5}) Es geht nicht, dass Sie hier im Parlament dafür kämpfen, etwas für die Schiene zu tun, aber dann bei den Protesten in der ersten Reihe stehen, gegen die man sich nur mit Hundertschaften der Polizei zur Wehr setzen kann. ({6}) Man tut etwas für die Schiene, aber Sie stehen mit anderen Grünen in der ersten Reihe der Protestierenden. Die deutsche Öffentlichkeit muss wissen, was die Wahrheit ist, was Ihre Worte und was Ihre Taten sind. ({7}) Zum Thema Worte und Taten kann ich nur sagen: Im Bundestag sagen Sie das eine, aber draußen machen Sie etwas ganz anderes. Das ist alles andere als überzeugend und glaubwürdig. ({8}) An die Adresse der Linken: Ihre Vorstellungen kann und will ich nur ganz kurz ansprechen. Was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, ist ein Sammelsurium von staatsdi4840 rigistischen Eingriffen. Sie setzen - das ist von gesellschaftspolitischer Bedeutung - beim Thema Mobilität schlicht und einfach auf die Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande. ({9}) Mobilität meint vor allen Dingen Bewegungsfreiheit. Diese wollen wir sichern, anstatt sie mit lauter Auflagen, wie Sie sie vorschlagen, ständig zu beschneiden. So viel zu den vorliegenden Anträgen. Ich möchte aber einiges von dem korrigieren, was sich in die bisher gehaltenen Reden eingeschlichen hat, aber so zum großen Teil nicht stimmt. Herr Hofreiter, das Projekt Arriva als größte Verstaatlichung seit, ich weiß nicht mehr, welchen Zeitraum Sie genannt haben, zu bezeichnen, ist eine fundamentale Verkennung der politischen und der ökonomischen Realitäten. Ich erkläre heute noch einmal das, was ich schon einige Male hier an diesem Redepult erklärt habe: Ich stehe voll und ganz hinter der Unternehmensstrategie der Deutschen Bahn AG, unseres Unternehmens, ({10}) sich auf diese Weise im Ausland zu betätigen, denn Schienenverkehre sind inzwischen ein europäisierter Markt geworden. Wer die Deutsche Bahn AG dem Wettbewerb aussetzt, der muss auch zulassen, dass sich die Deutsche Bahn AG auf dem europäisierten Verkehrsmarkt dem Wettbewerb stellt und die Chancen des Wettbewerbs nutzt. Dazu gehört auch eine solche Akquisition wie Arriva. ({11}) Ließe man dies nicht zu, würde man unserem Unternehmen, der Deutschen Bahn AG, zumuten, zu schrumpfen. Die Deutsche Bahn AG hat in Deutschland bereits 320 Wettbewerber. Eine Schrumpfung der Deutschen Bahn AG würde eine Vernichtung von Arbeitsplätzen bedeuten: 250 000 gute Arbeitsplätze, davon 90 000 im Ausland, 160 000 im Inland. Ich will, dass diese guten Arbeitsplätze bei der Bahn AG erhalten bleiben. Das schaffen wir nur, wenn wir der Bahn AG die Wahrnehmung der ökonomischen Chancen im Ausland garantieren und ihr Rückendeckung geben. ({12}) Sie kritisieren, dass eine Dividende von 500 Millionen Euro ausgeschüttet werden soll. Diese Vorgabe muss natürlich vom Aufsichtsrat der Bahn bestätigt werden. Für das Geschäftsjahr 2010 wird es haushaltswirksam im Jahr 2011 ausgezahlt. Ich bin froh, dass die Bahn AG Gewinne erwirtschaftet. Die Bilanz wird im Jahr 2010 noch einmal besser ausfallen, als dies im Jahr 2009 ohnehin der Fall war. Im Grundgesetz ist festgehalten, dass die Bahn wirtschaftlich betrieben werden und den Erfordernissen des Gemeinwohls folgen muss. Wirtschaftlich betreiben heißt für den Verkehrsminister, dass er von der Bahn Gewinne erwarten kann. Dazu kursieren die unsinnigsten Philosophien, nämlich dass es etwas Anrüchiges sei, dass die Bahn AG Gewinne erwirtschaftet. Ich erwarte das, und zwar nicht zuletzt aus zwei Gründen. Erstens. Wir als Eigentümer sind es den Steuerzahlern, also all unseren Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, schuldig, dass sich das im Unternehmen Bahn AG gebundene Kapital hinreichend verzinst. Das ist eine kaufmännische Binsenweisheit. Zweitens. Ich erwarte, dass Gewinne erzielt werden, damit die Gewinne ordentlich reinvestiert werden. Ohne Gewinnerzielung gibt es keine Reinvestition. Das lernt man in jeder kaufmännischen Lehre. Deswegen sind Gewinne nichts Unanständiges, sondern sie müssen erwirtschaftet werden. Genau das tun wir. ({13}) Einige finden es auch schon wieder anrüchig, dass ausweislich der Investitionstableaus der Deutschen Bahn AG in den kommenden fünf Jahren jedes Jahr etwa 2 Milliarden Euro mehr investiert werden sollen, als dies im Durchschnitt der letzten fünf Jahre der Fall war. Ich habe mich mit der neuen Führung der Bahn auf eine Investitionsoffensive verständigt. Damit einher geht beispielsweise eine Akquisition wie Arriva. Wir bauen auf Qualität. Ich sage immer: Schnelligkeit, Sicherheit, Zuverlässigkeit. An all diesen Punkten arbeiten wir. Die Bahn wird die Investitionen aus diesem Grund deutlich erhöhen. Diese zwei Dinge gehören zusammen. Wenn ich in den eigenen Laden zu Hause investiere, dann kann ich auch im Ausland unternehmerisch tätig werden. Das eine und das andere gehören untrennbar zusammen. ({14}) An dieser Stelle greife ich die Forderung der Kollegin Leidig auf, das Führungspersonal der DB AG auszuwechseln. Ist Ihnen denn entgangen, dass in den letzten zwölf Monaten das Führungspersonal der Deutschen Bahn AG praktisch komplett ausgewechselt wurde? ({15}) Wir haben dafür gesorgt - und ich an verantwortlicher Stelle -, dass von den zehn Eigentümervertretern im Aufsichtsrat der Bahn nur ganze vier geblieben sind und die anderen sechs nach der Bundestagswahl ausgetauscht worden sind. ({16}) Das ist ein richtiger Schritt. Denn ich als Vertreter des Eigentümers Bund will im Aufsichtsrat von Persönlichkeiten und Personen vertreten werden, die die NeuausBundesminister Dr. Peter Ramsauer richtung der Bahnpolitik im Aufsichtsgremium genau so vertreten. ({17}) Deswegen haben wir diesen Austausch vorgenommen. Deshalb steht jetzt ein anderer an der Aufsichtsratsspitze. Deshalb steht auch seit dem 1. Mai des letzten Jahres jemand anderer an der Spitze des Vorstandes, mit dem ich mich blendend verstehe und in der Bahnpolitik abspreche. Ich kümmere mich auch ordentlich um dieses Unternehmen, zumindest mehr als dies in der Vergangenheit der Fall war. Denn es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass man sich dann, wenn einem ein Unternehmen gehört - jetzt amtlich - und man dafür federführend zuständig ist, gefälligst auch darum zu kümmern hat. Nicht miteinander zu reden, ist der falsche Weg, meine Damen und Herren. Man muss sich um die Bahn kümmern! Deshalb steht jetzt auch jemand anderes an der Spitze des Vorstandes. Der Vorstand ist ein ganz anderer geworden. Das klappt gut, und wir arbeiten bestmöglich zusammen. ({18}) Zahlen zu den Einsparungen: Da hat sich eine falsche Zahl hineingefressen! Ich habe das doch vorgestern im Ausschuss geklärt. ({19}) Es geht um die globale Einsparung von 200 Millionen Euro: Irgendwer behauptet ständig, das seien 200 Millionen und 200 Millionen und dann ansteigende Zahlen. Da hat sich eine falsche Zahl hineingefressen. Ich habe im Ausschuss klargestellt, dass die korrekten Zahlen sind: Jedes Jahr 200 Millionen Euro: 200, 200, 200 und 200. ({20}) - Sie schütteln schon wieder mit dem Kopf. Das ist aber so, nehmen Sie mir das einfach ab. Wenn ein ehemaliger SPD-Staatssekretär falsche Zahlen aufschreibt, kann ich nichts dafür. Das ist inzwischen korrigiert. Ich habe das im Ausschuss klargestellt. ({21}) Herr Beckmeyer, wo Sie Ihre 9 Milliarden Euro Beteiligung an den Sparbemühungen hernehmen, ist mir völlig schleierhaft. Wie Sie auf 2 Milliarden aus der Luftverkehrsabgabe kommen, ist mir auch schleierhaft. Hier sehen wir ein Aufkommen von etwa 1 Milliarde. ({22}) - 2 Milliarden, hatten Sie gesagt, lieber Herr Beckmeyer. ({23}) - Nein. Ich rede jetzt von der Luftverkehrsabgabe. Sie sprachen von 2 Milliarden Euro pro Jahr aus der Luftverkehrsabgabe. Es ist aber nur 1 Milliarde. ({24}) - Ich will Sie doch, wie Sie wissen, gar nicht kritisieren, ich will das nur klarstellen. Man kann sich auch einmal einen Versprecher leisten. Es ist also 1 Milliarde. Und hier möchte ich auch noch eines klarstellen: Die Abgabe ist ein Vorläufer zum Emissionshandel. Wenn der Emissionshandel im Flugverkehr kommt, ist das weg. Zur Klarstellung zitiere ich jetzt einmal aus dem Papier, das in der Klausur der Bundesregierung beschlossen worden ist. Hier heißt es: Bis zur Einbeziehung des Luftverkehrs in den bereits vereinbarten CO2-Emissionshandel wird eine … ökologische Luftverkehrsabgabe … erhoben … Nota bene: bis zur Einbeziehung und nicht länger! Damit ist dies auch klargestellt. ({25}) Weil wir gerade bei dem Thema sind: Fachlich ist das natürlich im Bereich des Verkehrsministeriums angesiedelt; aber das Bundesfinanzministerium ist federführend zuständig. Damit sind die Zuständigkeiten klipp und klar. Ich appelliere an alle Verkehrspolitiker in diesem Hause, sich bei der Klärung der materiellen Ausgestaltung dieser Luftverkehrsabgabe, die ökologisch orientiert ist, hinreichend einzubringen. Da sind natürlich noch viele Details zu besprechen. ({26}) Herr Beckmeyer, Sie haben „Impulse für das Handwerk“ angesprochen. Ja, wir haben im Bereich des CO2Gebäudesanierungsprogramms gekürzt. Die Frage ist, ob man das bei einem historisch niedrigen Zinsniveau - die Zinsen liegen beim Baugeld unter 3 Prozent - oder bei einem Zinsniveau von 6, 7 oder 8 Prozent beim Baugeld - das hat es auch schon gegeben - tut. Ich meine, das historisch niedrige Zinsniveau ist der beste Impuls für das Handwerk und die beteiligten Wirtschaftszweige. Deswegen halte ich es für vertretbar, dass wir das Ausmaß der Zinssubventionen im Rahmen dieser Förderprogramme entsprechend dem extrem niedrigen Zinsniveau an den Kapitalmärkten vermindern. ({27}) Eine Bemerkung zur Kollegin Leidig. Sie sind wieder mit der Forderung gekommen - ich fasse es zusammen -: Bildung statt Beton. ({28}) Jetzt sage ich Ihnen eines: Ich rede sehr viel mit jungen Leuten. Junge Menschen haben ein fundamentales Anrecht auf bestmögliche Bildung, egal in welchem Be4842 reich: im beruflichen Bildungsbereich genauso wie im akademischen. Beide Bereiche sind mir übrigens gleich wichtig: Man kann nicht immer nur von der akademischen Bildung reden und so tun, als sei die berufliche Bildung etwas Minderwertiges. ({29}) Dies nur als Nebenbemerkung; ich bin zufällig auf beiden Spuren groß geworden. Wenn aber bestausgebildete junge Menschen eine verrottete Infrastruktur vorfinden, dann können sie uns allen berechtigte Vorwürfe machen und uns fragen, warum wir ihnen eine Infrastruktur servieren, mit der sie trotz bester Bildung nicht vernünftig wirtschaften können. ({30}) Wir können und müssen Vorsorge tragen, dass bestmöglich ausgebildete junge Menschen auf eine exzellente Infrastruktur zugreifen können, mit der sie - auch die nachfolgenden Generationen - in Deutschland als exportorientiertem Land ihre Chancen in der weltweit verflochtenen Wirtschaft bestmöglich nutzen können. Deswegen gilt nicht: Bildung statt Beton. Vielmehr brauchen wir beides: exzellente Bildung und eine exzellente Infrastruktur, also Straßen, Wasserstraßen, Schiene und Luftverkehr. All das gehört zusammen. Unsere Leitlinie ist: super Bildung in einer super Infrastruktur. Vielen herzlichen Dank. ({31})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Mir liegen drei Meldungen zu Kurzinterventionen vor, und zwar vom Kollegen Dr. Anton Hofreiter, von der Kollegin Sabine Leidig und vom Kollegen Beckmeyer. Ich werde diese drei Kurzinterventionen hintereinander aufrufen und dann dem Minister Gelegenheit geben, im Zusammenhang zu antworten, falls er das möchte. Herr Hofreiter, Sie haben als Erster das Wort.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, Sie haben den Einsatz, das massive Engagement für besseren Lärmschutz - ich nehme an, Sie beziehen sich insbesondere auf das Engagement grüner Abgeordneter an der Rheintalschiene ({0}) als Verhinderung von Schienenverkehr diskriminiert. Damit irren Sie sich grundsätzlich. Sie können vernünftigen Schienenverkehr an Strecken, wo 300 Güterzüge oder mehr pro Tag fahren sollen, nur mit einem vernünftigen Lärmschutz durchsetzen und umsetzen, und zwar gemeinsam mit den Bürgern und nicht gegen sie. ({1}) Das als Verhinderung von Schienenverkehrsmaßnahmen zu diskriminieren, ist nicht nur eine Unverschämtheit gegenüber den Bürgern, sondern Sie schaden damit auch dem Schienenverkehr. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leidig. Bitte schön.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister Ramsauer, ich habe verstanden, dass Sie uns vorwerfen, wir wollten mit dirigistischen Maßnahmen die Menschen zwingen, in einer ganz bestimmten Art und Weise zu verkehren. Ich kann Ihnen versichern: Das Gegenteil ist der Fall. ({0}) Die Möglichkeiten, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, sind in diesem Land vielerorts eingeschränkt. ({1}) Ich kann das aus meinem Wahlkreis berichten, der im Odenwald liegt. Dort gibt es Ortschaften mit Tausenden von Einwohnern, die nur durch die Schulbusse an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen sind. Diese Menschen haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie benutzen ein Auto, oder sie bleiben zu Hause. Das ist Dirigismus, Herr Ramsauer. Ich möchte ergänzen, dass es Ortschaften gibt, in denen die Eltern ihre Kinder zur Schule fahren. Warum? Es ist zu gefährlich, die Kinder mit dem Fahrrad fahren zu lassen, weil es keine Fahrradwege gibt. ({2}) Das ist Dirigismus. Die Menschen werden gezwungen, mit dem Auto zu fahren. Die Freiheit, die Sie schaffen wollen, nämlich zwischen Verkehrsträgern zu wählen, bezieht sich lediglich auf die Konzerne und Unternehmen, die Güter transportieren, aber nicht auf die Menschen, denen wir diese Wahlfreiheit gewähren wollen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Schließlich erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Beckmeyer.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben in Ihrem Vortrag eben pauschale Äußerungen gemacht, die möglicherweise von 80 Prozent dieses Hauses unterschrieben werden können, aber ich vermisse konkrete Aussagen von Ihnen. Ich habe Sie vorhin in meiner Rede darauf angesprochen, was Sie zu dem Aufmerksamkeit erheischenden Papier des VDR und der DB AG sagen. Es wurde doch nicht umsonst zwei Tage, nachdem das Kabinett die entsprechenden Beschlüsse gefasst hat, geschrieben. In dem Papier werden klare Forderungen an die Verkehrspolitiker der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Von Ihnen war dazu kein einziges Wort zu hören. Hier gibt es Klärungsbedarf. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie als verantwortlicher Verkehrsminister zu solchen Forderungen Stellung nehmen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ihre Antwort, Herr Minister.

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre gerne noch einmal ans Rednerpult gegangen, um weiter auszuholen, aber die vorgetragenen Kurzinterventionen brauchen nicht mehr als eine kurze Erwiderung. Herr Hofreiter, ich diskriminiere niemanden, garantiert nicht. Eines meiner interessantesten Erlebnisse in den ersten acht Monaten als Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung war folgendes: ({0}) Ich habe eine Baumaßnahme für ein großes Schienenprojekt eröffnet. Diese Eröffnung konnte nur durchgeführt werden, weil vier Hundertschaften der Polizei uns gegen Tausende von Randalierern und Demonstranten schützten. ({1}) - Das ist die Realität. ({2}) Das passt schlicht und einfach nicht zusammen. Ich will niemanden diskriminieren. Würden Sie unsere Politik verfolgen, Herr Hofreiter, wüssten Sie genau, dass wir uns dem Lärmschutz verschrieben haben. Es geht um den Abbau des Schienenbonus, das heißt, die Lärmschutzstandards sollen verbessert werden. Wir haben mit der Umrüstung von 5 000 Güterwaggons auf Flüstertechnik begonnen. Wir investieren erhebliche Mittel in den Lärmschutz. Sie wissen ganz genau - vielleicht so gut wie ich -, wo die neuralgischen Punkte im Lärmbereich liegen. Fahren Sie einmal in das obere oder mittlere Rheintal und verbringen Sie in den schönen Pensionen, die es dort gibt, die eine oder andere Nacht als Tourist. Dann wissen Sie, wie notwendig Lärmschutz ist. Frau Leidig, Sie haben eine eigentümliche, geradezu konträre Philosophie, was manches in der Verkehrspolitik anbelangt. Wissen Sie, Sie brauchen mir nicht zu erklären, wie wichtig bestmöglicher Nahverkehr ist. Ich komme aus der Kommunalpolitik. Ich weiß das. Aber es gibt schlicht und einfach Landesteile, in denen das nicht funktioniert, egal wie viele Angebote im Bereich Schiene Sie machen. Sie können die Menschen nicht hineinprügeln. ({3}) Ich kann Ihnen Regionen nennen, wo seit Jahren viele Angebote im Bereich Schiene gemacht werden. Trotzdem verkehren dort Geisterzüge mit Sitzladefaktoren von 1,4 Prozent. Da frage ich mich, ob das Geld des Steuerzahlers dort tatsächlich bestmöglich und verantwortbar angelegt ist. ({4}) Noch ein Wort zu Herrn Beckmeyer: Das Papier, von dem Sie sprechen, kenne ich schon lange. Ich habe mit denjenigen, die es geschrieben haben, intensiv gesprochen. Mir ist das recht. Ich kenne aber nicht nur dieses Papier, sondern viele Papiere. Wenn ich alle Papiere, die ich seit Montagmittag, nach Abschluss der Klausur des Kabinetts, gelesen habe - sie sind zum Teil von toller Qualität -, hier kommentieren würde, dann würden wir vor Mitternacht nicht fertig. Deshalb habe ich kein einzelnes herausgezogen. Ich hoffe, dass es mir abermals gelungen ist, Sie von der Richtigkeit unserer neuen Verkehrs-, Infrastruktur- und Investitionspolitik zu überzeugen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Martin Burkert von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Tribüne! Der Schiene kommt in der künftigen Verkehrspolitik eine immer bedeutendere Rolle zu. Die Eisenbahn ist und bleibt der effektivste und klimafreundlichste Verkehrsträger, den wir haben. Es wird in Zukunft darum gehen, trotz der immensen Staatsverschuldung, die wir haben, durch eine vernünftige, intelligente Politik mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Ich finde, der Antrag der Grünen enthält hierzu einige gute Ansätze. Man kann aber auch sagen: Licht und Schatten wechseln sich ab, wie so oft bei den Grünen. Ich möchte an dieser Stelle ein paar wichtige Punkte aufgreifen. Die Schiene muss im Wettbewerb der Verkehrsträger endlich fair behandelt werden. Hier sind die Bahnen im Augenblick vor allem hinsichtlich der Steuern und der Abgaben gegenüber anderen Verkehrsträgern klar benachteiligt. Wir brauchen endlich die volle Einbeziehung aller externen Kosten - Stichworte: Klimaschäden, Luftschadstoffe oder Gesundheitskosten bei allen Verkehrsträgern. Auch hier sind die Bahnen aktuell klar benachteiligt. Wir benötigen dringend wieder eine Aufstockung der Mittel für den kombinierten Verkehr. Die Halbierung der Gelder durch die Koalition konterkariert vollkommen die Absicht des Ministers, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Ich sage Ihnen, Herr Dr. Ramsauer: Das passt nicht zusammen. Dieser Widerspruch passt aber zu dem Bild, das die Bundesregierung derzeit abgibt. Sie ist in der Verkehrspolitik völlig konzept- und planlos. Wenn die Bundesregierung überhaupt eine Strategie verfolgt, dann die, einzig und allein auf den Verkehrsträger Straße zu setzen. Auch die Pläne, die Einnahmen der Lkw-Maut nur noch in den Straßenverkehr fließen zu lassen, sprechen eine deutliche Sprache. Diesbezüglich teilen wir die Forderung der Grünen nach einem bedeutenden Anteil für die Schiene. Die Vertaktung des Schienenpersonenfernverkehrs in ganz Deutschland muss ebenfalls deutlich verbessert werden. Keine Frage - auch hier sind wir bei Ihnen -: Wir brauchen ein langfristiges Gesamtkonzept. Um das Bahnfahren im Vergleich mit dem Autofahren und vor allem im Vergleich mit dem Flugverkehr attraktiver zu machen - das möchte ich an dieser Stelle hinzufügen -, brauchen wir auch Hochgeschwindigkeitstrassen wie beispielsweise Stuttgart-Ulm-Wendlingen und München-Nürnberg-Erfurt-Berlin. Ich teile Ihre Fundamentalkritik an dieser Stelle nicht. Man muss sich das einmal vor Augen führen. München-Berlin in vier Stunden, München-Köln in dreieinhalb Stunden, das ist schon etwas. Das ist tatsächlich eine Konkurrenz zum Flugzeug. Das ist attraktiv. So kommen die Leute vom Flugzeug auf die Schiene. Das ist sozialdemokratischer Verkehrspolitik geschuldet. Das ist ökologisch sinnvolle Verkehrspolitik. ({0}) Um einen weiteren Punkt aufzugreifen: Sie reden genauso wie Teile der Union, aber vor allem wie die FDP immer von dem Ziel, mehr Wettbewerb in Bezug auf die Schiene zu schaffen. Sie sprechen dann immer von der Einführung einer Anreizregulierung. Ich kann Ihnen versichern: Auch wir sind für faire Chancen auf dem Schienenmarkt. Auch wir sind nicht grundsätzlich gegen eine Anreizregulierung. ({1}) Aber ich frage mich immer: Ist Deutschland in Sachen Schienenwettbewerb wirklich so rückständig? ({2}) Schauen wir uns einmal den Liberalisierungsindex des Schienenverkehrs der EU an. Da zeigt sich eindeutig, dass Deutschland zu den Ländern gehört, in denen die Liberalisierung am weitesten fortgeschritten ist. Deutschland liegt hinter Großbritannien und Schweden auf dem dritten Platz. Problematisch ist vielmehr, dass unsere Nachbarländer, beispielsweise Frankreich, mit der Öffnung der Schienennetze deutlich hinterher sind. Hier brauchen wir endlich - auch für deutsche Unternehmen - faire Wettbewerbsbedingungen. Das ist aus meiner Sicht dringend erforderlich. Dafür muss die Bundesregierung sorgen. Es ist Ihre Aufgabe, Herr Minister, in Europa tätig zu werden. Ein letzter Punkt, der mir als Eisenbahner besonders wichtig ist. Anreizregulierung hin oder her, wenn Sie immer von mehr Wettbewerb sprechen, dann müssen Sie auch endlich einmal sagen, wie Sie diesen Wettbewerb sozial gestalten wollen. Hier habe ich sowohl von den Grünen als auch von FDP und Union bis jetzt noch gar nichts gehört. Fakt ist: Wir brauchen endlich europaweite Standards bei der Vergabe im Schienenpersonenverkehr. Gerade im Schienenpersonennahverkehr fordern die Auftraggeber für weniger Geld immer mehr Leistung. Das führt zu einem enormen Unterbietungswettbewerb der Bahnunternehmen. Dieser Unterbietungswettbewerb zieht letztlich immer niedrigere Lohnund Sozialstandards für die Beschäftigten nach sich. Ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern schreibt im Augenblick das sogenannte Warnow-Netz mit gut 3 Millionen Zugkilometern um Rostock aus. Hierauf bewirbt sich eine Tochtergesellschaft der DB Regio mit Personalkosten, die 30 Prozent unter dem Tarifniveau liegen. Die Begründung lautet: Sonst habe sie keine Chance auf dem Markt. Gleichzeitig schreibt die DB Regio im Amtsblatt der Europäischen Union genau diese Strecke aus und sucht ein Subunternehmen. Zu welchen Lohnkosten das dann stattfindet, kann man sich vorstellen. Was sind wir für ein Land, das so etwas zulässt? Das muss ich hier einmal deutlich sagen. ({3}) Ich will noch etwas sagen. Der soziale Schutz der Beschäftigten bleibt auf der Strecke. Ich habe heute gehört, dass Sie, Herr Ramsauer, der neue Kümmerer sind. Hier haben Sie sich zu kümmern. Das ist Aufgabe der Bundesregierung. Sie dürfen nicht nach dem Motto verfahren: Cash in the Täsch is the name of the game. So lautet der Slogan der Union und der FDP. Wir Sozialdemokraten rufen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Bahnbranche zu: You never walk alone. ({4}) Das ist dringend nötig angesichts der Sommersalattruppe, die wir hier haben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der FDP-Fraktion. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der englischsprachigen Debattenanteile des Kollegen Burkert habe ich gerade überlegt, ob das eine Bewerbung war, um Arbeitsdirektor bei Arriva zu werden, wenn dieses Unternehmen aus Großbritannien endlich zum Konzern gehört. ({0}) Ich nehme das einmal als Beweis dafür, dass diese Debatte in gewisser Weise harmonisch und mit gemeinsamen Zielen geführt werden kann, auch wenn einige Zwischenrufe zwischenzeitlich einen etwas anderen Eindruck erweckt haben. Ich will bei dem bedauernswerten ökonomischen Romantizismus anfangen, den die Kollegin Leidig hier vorgetragen hat. ({1}) Es ist nun einmal so, dass die Bundesrepublik Deutschland als soziale Marktwirtschaft in besonderem Maße von der Globalisierung profitiert. Es ist nun einmal so, dass in diesem Land mehr Güter produziert werden, als wir selbst verbrauchen, und dass viele Menschen in diesen exportorientierten Industrien arbeiten und davon leben. ({2}) Wenn Sie die Intensivierung des Güterverkehrs, die boomenden Zeiten in unseren Seehäfen und das Wachstum des Güterverkehrs auf Straße und Schiene per se in dieser Art und Weise verteufeln, dann ist das für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land eine Verelendungsstrategie, die wir ganz sicher nicht mittragen werden. ({3}) Zweite Bemerkung. Es ist nachgerade zynisch, geschätzte Frau Kollegin, dass Sie die gestiegenen individuellen Mobilitätswünsche der Menschen in dieser Weise kritisieren und diffamieren. ({4}) Von jemandem, der 1982 Mitglied der DKP geworden ist, kann ich vielleicht nichts anderes erwarten; aber wir sind froh, dass sich die Menschen frei bewegen können, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Döring, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unbedingt. Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Döring, vielen Dank. - Ich habe eine ganz kurze Frage an Sie. Sie sprachen gerade davon, dass die Wirtschaftlichkeit der Regionen durch die Bahnpolitik der Bundesregierung erhalten werden soll. Ich komme aus dem Wahlkreis Gera-Jena-Saale-Holzland-Kreis. Durch die Neubaustrecke bzw. die ICE-Verbindung über Erfurt wird der prosperierende Wirtschafts- und Forschungsstandort Jena von jeder Fernverkehrsverbindung abgekoppelt. Die Bahn AG ist momentan nicht in der Lage, auch nur einen Plan vorzulegen, wie der Anschluss der Stadt Jena und der gesamten Region an den internationalen Verkehr gewährleistet werden kann. Ich möchte Ihnen eine andere größere Stadt nennen, in der Sie Ihre Politik schon erfolgreich praktiziert haben; sie heißt Chemnitz. Chemnitz hat keinerlei Fernverbindung mehr. Wenn Ihre Politik zum Schutz der Wirtschaft in der Bundesrepublik so aussieht - die Stadt Jena hat übrigens eine Exportquote von über 60 Prozent -, dann tut es mir um unsere Zukunft leid.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das hat mit meinen Ausführungen von eben zwar nichts zu tun. Ich will aber gerne darauf eingehen. Mir ging es grundsätzlich um die Entwicklung der Güterverkehrsintensität. Aber Sie haben natürlich recht: Wenn neue Schnellbahnstrecken entstehen - der Kollege Burkert hat in eindrucksvoller Weise dargestellt, dass dies nötig ist, um die Schiene wettbewerbsfähig zu machen -, werden bestimmte Zentren von den neuen ICE-Strecken vielleicht nicht direkt und unmittelbar erreicht. Aber insbesondere im Regionalverkehr gibt es andere Verkehre, die sinnvoll und gut vertaktet sind und ein gutes Konzept verfolgen. Das wird überall in der Republik erfolgreich praktiziert, und das wird auch in Ihrer Region gelingen. Ich formuliere es einmal positiv: Bis zur Realisierung der Fernverkehrsstrecke Nürnberg-Erfurt-Berlin dauert es noch ein bisschen. Ich bin ganz sicher: Bis zur Fertigstellung dieser Strecke wird man zu einer Lösung kommen; denn wir alle wollen, dass mehr Menschen in Deutschland Bahn fahren. ({0}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht die Strategie dieser Koalition und der Bundesregierung, einseitige Politik für einen Verkehrsträger zu machen, wie es uns immer wieder gerne vorgeworfen wird. Übrigens kann man beiden Anträgen, sowohl dem der Grünen als auch dem der Linken, vorhalten, dass darin gefordert wird, eine Politik ausschließlich und einseitig für einen Verkehrsträger zu machen. Uns geht es darum, auch in der Bahnpolitik dort, wo es sinnvoll ist, die richtigen Konzepte durchzusetzen. Jeder weiß - auch das hat der Kollege Burkert eben angesprochen -, dass man eine Diskussion über Investitionsprojekte nicht nach dem Motto führen kann: Was teuer ist und den Verkehr schneller macht, ist böse. Wenn wir innerhalb des Systems für Effizienzsteigerungen sorgen, ist das allerdings per se gute Investitionspolitik. - Vielmehr gibt es sowohl in dem einen Topf als auch in dem anderen Topf sehr gute Projekte. Das beweisen zum Beispiel die Verkehrsprojekte Hamburg-Berlin, Hannover-Berlin und Köln-Frankfurt. Auf allen drei Strecken gibt es heute keinen innerdeutschen Luftverkehr mehr, weil es leistungsfähige Eisenbahnangebote im Schnellbahnbereich gibt. Man kann beklagen, dass die Errichtung dieser Strecken teuer war. Aber der volkswirtschaftliche Nutzen ist immens, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dieses Thema ist nicht so einfach, wie es sich einige, auch Sie in Ihren Anträgen, machen. Zur Wahrheit gehört, dass wir bei der Investitionstätigkeit zumindest im Hinblick auf die Verkehrsanteile keine Unterfinanzierung der Schiene zu verzeichnen haben. Seit der Organisationsprivatisierung der Deutschen Bahn wird in diesem Land für den Sektor Schiene mehr Geld aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt als in den Jahrzehnten zuvor. Neben den Mitteln für Investitionen müssen Sie nämlich natürlich auch den Zuschuss des Bundeshaushalts zum Bundeseisenbahnvermögen und die Regionalisierungsmittel, die zu über 80 Prozent von Tochterunternehmen der DB Regio AG entgegengenommen werden, als Staatsaufwand für den Schienenverkehr hinzuzählen. Das alles kommt ja dem System Schiene zugute. Ich bin sehr froh, dass die Wettbewerbssituation im Nahverkehr so ist, wie sie ist, weil es den vielen Wettbewerbern ebenso nützt, dass die Bundesrepublik Deutschland fast 8 Milliarden Euro aus Steuermitteln aufwendet, um den von Frau Kollegin Leidig zu Recht eingeforderten Nahverkehr zu finanzieren und zu realisieren. Das ist eine gewaltige Summe, die übrigens nicht eingespart oder gekürzt wird. ({1}) In der Philippika des Kollegen Hofreiter - er hat auch vieles Richtige gesagt; im Antrag steht ja auch vieles aus dem Koalitionsvertrag - wurde das beliebte Thema Dividende - auch der Kollege Beckmeyer hat das angesprochen - noch einmal vertieft. Wie man hier ökonomische Zusammenhänge in so krasser Weise falsch darstellen kann, ist mir nachgerade ein Rätsel. Deshalb beziehe ich mich jetzt ausschließlich auf den veröffentlichten Geschäftsbericht des Jahres 2009, um zu beweisen, wie die Zusammenhänge sind. In der Bilanz des Jahres 2009 findet sich ein Jahresüberschuss nach Steuern in Höhe von 830 Millionen Euro. Das Unternehmen hat flüssige Mittel in Höhe von 1,47 Milliarden Euro und eine Ergebnisrücklage in Höhe von 5,596 Milliarden Euro. Das ist der Vermögensstand des Unternehmens. Das Unternehmen hat im Jahre 2009, also bevor man 830 Millionen Euro Jahresüberschuss ausgewiesen hat, 1,813 Milliarden Euro in die Infrastruktur investiert. Das sind die Komplementärmittel zu den öffentlichen Mitteln. Daneben hat es 932 Millionen Euro aufgewendet, um seine Nettoschulden zu verringern. Es hat also insgesamt 2,745 Milliarden Euro aufgewendet, um investiv tätig zu sein oder Schulden zu tilgen, und dennoch 830 Millionen Euro Jahresüberschuss nach Steuern in der Bilanz ausgewiesen. Dadurch wird eindeutig bewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Investitionskraft des Unternehmens, der Kraft, Schulden zu tilgen, und der wirtschaftlichen Geschäftstätigkeit gibt, sondern dass die Systeme entsprechend aufgestellt sind. Ich habe das auch schon im Ausschuss gesagt und kann das hier nicht vertiefen, weil das Unterlagen sind, die nicht veröffentlicht wurden. Diese Punkte - Investitionskraft und Schuldentilgung - sind in der Bilanz auszuweisen und werden bei der Ergebnisermittlung berücksichtigt. ({2}) - Ja, bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, der Herr Kollege Beckmeyer möchte eine Zwischenfrage stellen. Der Herr Döring genehmigt das, wie ich höre. - Bitte schön.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Herr Döring, sind Sie mit mir der Meinung, dass die von Ihnen angesprochene Reserve des Unternehmens von über 5 Milliarden Euro nicht durch Gewinne, sondern durch die Neubewertung von Grundstücken zustande gekommen ist? Zweitens. Sind Sie mit mir der Meinung, dass normale DAX-Unternehmen zurzeit eine Dividendenausschüttung von durchschnittlich ungefähr 30 bis 35 Prozent des Jahresüberschusses vornehmen und dass nicht schon im Vorwege bestimmt wird, dass auch die Ausschüttungen der nächsten Jahre zum Beispiel bei 500 Millionen Euro liegen werden, was ja außerordentlich ungewöhnlich ist? Drittens. Ich darf feststellen - das darf man zitieren -, dass der operative Cashflow im Jahre 2009 um 16,7 Prozent zurückgegangen ist. Wie bewerten Sie das?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens. Zu den Rücklagen ist zu sagen, dass es in der Tat auch eine Neubewertung der Grundstücke gab. Diese hat allerdings keinen Einfluss auf die Ergebnisrücklage, sondern hat zu Veränderungen bei den materiellen Vermögenswerten geführt. Die Ergebnisrücklage ist ja, wie der Name schon sagt, eine Rücklage aus vorherigen Ergebnissen. ({0}) Das kann man in den Bilanzunterlagen übrigens auch nachverfolgen. Zweitens. Der operative Cashflow ist zurückgegangen, weil in den Kennzahlen des Unternehmens für den Umsatz ebenfalls eine Verringerung ausgewiesen wird. Die reine prozentuale Verringerung des operativen Cashflows ist übrigens überhaupt gar kein Problem. Das Unternehmen muss nicht in dem Maße liquide sein - das ist meine feste Überzeugung -, wie es das in der Vergangenheit war, weil es einen relativ stabilen Geschäftsgang hat. Es kommt jeden Tag „Kohle“ rein und geht jeden Tag „Kohle“ raus. Deshalb muss man keine großen Liquiditätsreserven vorsehen. Drittens. Sie haben in der Tat recht: Es ist ungewöhnlich, dass der Eigentümer unabhängig von den Ergebnissen, die erzielt werden, eine Dividendenerwartung in einer solchen Klarheit formuliert. Ich habe aber schon im Ausschuss darauf hingewiesen, dass es eine Ergebnisplanung gibt, die vom Aufsichtsrat - übrigens noch unter der alten Bundesregierung - beschlossen wurde. Im Übrigen entscheidet nicht der Aufsichtsrat über die Dividende, sondern es ist ausschließlich die Hauptversammlung, die über die Verwendung des Ergebnisses entscheidet. Die Hauptversammlung besteht aus einer Person: Bundesminister Peter Ramsauer. Insofern ist es kein Widerspruch, wenn derjenige, der ohnehin entscheidet, im Vorfeld deutlich macht, wie er entscheiden wird. ({1}) - Nein. Die Hauptversammlung entscheidet über die Ergebnisverwendung. In der Hauptversammlung entfallen 100 Prozent der Stimmen auf den Bund, und dieser wird durch den Bundesminister oder einen seiner Staatssekretäre vertreten. Abschließend kann man zu beiden Anträgen feststellen: Sie zeichnen ein Zerrbild von der Bahnpolitik dieser Bundesregierung, und sie verkennen, dass wir uns insgesamt in einem marktwirtschaftlichen und arbeitsteiligen System befinden und dass diese Bundesregierung keine Politik gegen einzelne Verkehrsträger macht, sondern an der Seite der Bahn steht und den Bahnverkehr fördern wird, wo dies sinnvoll ist. Sie wird unser Netz auch weiterhin mit hohen Investitionen leistungsfähig halten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gustav Herzog von der SPD-Fraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich um kurz vor 12 Uhr an diesem Freitag am Ende einer bewegten Woche mit einem Kompliment an die Koalition beginnen. ({0}) - Doch, ich beginne mit einem Kompliment an die Koalition. Denn Sie haben es geschafft, über eine Stunde Ihre politischen Positionen zu präsentieren, ohne sich zu hauen, zu stechen, zu treten oder zu kratzen. Ich finde das erwähnenswert. ({1}) Das hat vielleicht etwas mit dem Thema Verkehrspolitik zu tun, bei dem Sie sich, wie ich den Beiträgen entnehme, überwiegend als Nebelwerfer betätigen und auf unsere konkreten Fragen sehr ausweichend antworten. Ich habe nur die Bitte - das beziehe ich auf viele Reaktionen aus dem Wahlkreis und von Besuchern hier in Berlin -: Dämpfen Sie sich bitte im Umgangston miteinander! Sich als „Wildsäue“ und „Gurkentruppe“ zu bezeichnen, ({2}) wirkt sich auf das Ansehen dieses Parlaments aus. Sie diffamieren damit auch ein sehr wertvolles Tier und ein wohlschmeckendes Gemüse. Ich sage das nicht nur mit Ironie; denn ich habe selbst einer Koalition angehört - in diesem Falle mit den Grünen -, in der es nicht immer ruhig zuging. Aber unser damaliger Bundeskanzler hat diese Form der Auseinandersetzung Kakophonie genannt. Ich glaube, wir haben uns in unserer Koalition nicht nur rhetorisch, sondern auch intellektuell auf einem anderen Niveau bewegt als Sie. ({3}) Zur Debatte will ich mit dem beginnen, was der Kollege Hofreiter gesagt hat. Sein leidenschaftliches Plädoyer für die Schiene kommt einem Rheinland-Pfälzer verständlicherweise sehr entgegen. Wir haben schließlich den Rheinland-Pfalz-Takt - er wurde noch unter einem FDP-Verkehrsminister eingeführt, Herr Kollege Döring, der damals unter der Führung eines sozialdemokratischen Ministerpräsidenten gute Arbeit geleistet hat -, der die bundesweit höchsten Steigerungsraten aufweist, was das Angebot und auch die Nutzung des Angebots angeht. Wir verstehen durchaus etwas von Verkehr, Strukturpolitik und Mobilität. Wir wollen einen Quantensprung machen und den Schienenverkehr erweitern. Wir wollen nicht nur Hessen und Baden-Württemberg, sondern auch das Saarland mit einbeziehen. Herr Kollege Hofreiter, ich bitte Sie, noch einmal mit Ihren Kollegen Hermann und Tressel zu reden. Denn uns fehlt noch ein Stückchen Schiene im Saarland. Die lauten Reden hier reichen nicht aus, wenn es Ihnen von den Grünen um Glaubwürdigkeit geht. Es geht um Taten, die Sie in Regierungsverantwortung vollbringen. Darüber müssen Sie mit Ihrer Ministerin und Ihrem Staatssekretär reden. Verstecken Sie sich nicht hinter betriebswirtschaftlichen Kennzahlen! Sorgen Sie dafür, dass die S-Bahn Rhein-Neckar, eines der erfolgreichsten Nahverkehrssysteme auf der Schiene, seine Anbindung durch das Saarland nach Zweibrücken findet! ({4}) Sorgen Sie bitte dafür! Das wäre gut für die Schiene. ({5}) Ich will mich kurz mit dem Antrag der Linken auseinandersetzen. Allein seine Überschrift überfrachtet das Thema Verkehrspolitik. Sie haben die eierlegende Wollmilchsau in der Verkehrsinvestitionspolitik entdeckt. Es fehlt nur noch, dass Sie auch den Weltfrieden darin einbeziehen. ({6}) Kritik verdient aber vor allem die Arroganz, mit der Sie sagen, in der früheren Verkehrspolitik und Verkehrsplanung habe es fragwürdige Grundannahmen gegeben und seien fragwürdige Methoden angewandt worden. Die Methodik des Bundesverkehrswegeplanes ist international zum Standard geworden. Wir haben diesbezüglich Maßstäbe gesetzt, und das sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen. Wenn Ihnen ein Ergebnis nicht schmeckt, muss offenbar einfach die Mathematik geändert werden. Sie können sich darauf verlassen, dass sowohl unsere Annahmen als auch unsere Ableitungen richtig waren und dass wir sehr genau darauf achten werden, ob die derzeitige Koalition bei ihrer angekündigten, etwas ominösen Neubewertung auf einem sauberen Weg bleibt. Schon meine Vorredner haben festgestellt, dass die Intention Ihres Antrages ist, die Menschen im Hinblick darauf zu erziehen, ob sie fahren wollen und wie sie fahren sollen. Das wird nicht funktionieren. ({7}) Frau Leidig, Sie wohnen in Heidelberg und haben einen ländlichen Wahlkreis. Sie sollten wissen, dass die Menschen nicht nur in die Zentren, sondern auch in den ländlichen Raum fahren wollen. Überwiegend ist es aber noch der Individualverkehr, mit dem dieses organisiert wird. ({8}) Unter Punkt sechs im Feststellungsteil Ihres Antrags schreiben Sie, dass Sie „eine weitgehende Abkehr vom Neu- und Ausbau von Straßen“ wollen. Wissen Sie, was das für eine Region bedeutet, in der die Menschen erst einmal 30 Kilometer fahren müssen, um zu einem Verkehrsknoten oder zur Schiene zu kommen? ({9}) Sie verweigern diesen Menschen den entsprechenden Fortschritt. Ich halte ein klares Plädoyer für den ländlichen Raum: Wir brauchen dort noch den Aus- und Neubau von Straßen, allerdings auch den Erhalt der Schiene. Im Übrigen fahren auch die Busse im ländlichen Raum über Straßen. Deshalb sollten Sie den Straßenausbau nicht verteufeln. ({10}) Ich bitte Sie, auf einer vernünftigen Basis für Investitionen in alle Verkehrsträger einzutreten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Matthias Lietz von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze“ lautet der Titel des Antrags der Fraktion Die Linke. Die Kolleginnen und Kollegen erklären in ihrem Antrag die Verkehrspolitik der Bundesregierung für gescheitert und möchten einfach alles vom Kopf auf die Füße stellen. Frau Leidig, Sie erwähnen die Klimabelastung durch den EU-weiten Verkehr, sprechen von einem unkoordinierten Ausbau von Regionalflughäfen, von einer Vernachlässigung bestimmter Personengruppen und bezeichnen die Verkehrsprognose 2025 als ungeeignet, realitätsfremd und ohne Aussagekraft. Sie möchten auf 3 500 unbesetzten Bahnhöfen der Deutsche Bahn AG Stellen schaffen und wollen Großprojekte infrage stellen, weil sie in der Regel erst nach mehreren Jahren eine Verkehrswirkung erzielen. Diese und viele weitere Punkte listen Sie auf, um dann die Forderung nach einer „Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik“ zu stellen. Wenn Sie die bisherige Politik der Bundesregierung verfolgt haben, werden Sie feststellen: Seit Antritt der christlich-liberalen Koalition verfolgen wir konsequent eine neue nachhaltige Verkehrspolitik. Wir behalten die Zukunftsfähigkeit, die Umwelt- und Klimafreundlichkeit, die Wahrnehmung sozialer Verantwortung sowie Wirtschaftlichkeit und Effizienz klar im Blick. Künftig stehen wir vor der Herausforderung, eine Verkehrspolitik zu gestalten, die den aktuellen und künftigen Erfordernissen unserer Gesellschaft gerecht wird, die den zu erwartenden weiteren Anstieg der Verkehrsbelastung bewältigt und die auch die Auswirkungen auf kommende Generationen einbezieht. Wir brauchen ein Verkehrssystem, das keinen Verkehrsträger von vornherein ausschließt, sondern die verschiedenen Verkehrsträger optimal miteinander verknüpft und das darauf setzt, die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen. Wir müssen weg von ideologischen Ansätzen und stattdessen auf klare Umsetzung setzen. Wir sind in unserer Koalition daher nicht der Ansicht, dass wir den Aus- und Neubau von Straßen verhindern müssen. Ich mache Ihnen das am Beispiel meines Bundeslandes deutlich. Wenn ich die Alleen in Mecklenburg-Vorpommern erhalten will, dann muss ich für den Ausbau größerer Straßensysteme sein, um die Verkehre dorthin zu lenken. Wir werden innerhalb der nächsten Jahre auf den Bau neuer Autobahnabschnitte sowie auf größere Wasser- und Schienenprojekte nicht verzichten können. Aus diesem Grund wollen wir nicht bestimmte Verkehrsträger durch unangemessene Umschichtungen benachteiligen. Genauso werden wir uns nicht von vornherein alternativen Finanzierungsmodellen wie den öffentlichprivaten Partnerschaften verweigern. Wir wollen den Verkehr nicht verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. Uns geht es vielmehr darum, Verkehr als Voraussetzung für Wohlstand und Beschäftigung zu begreifen. Damit nehmen wir auch soziale Verantwortung wahr. Unsere Verkehrsinvestitionspolitik hat da klare Prioritäten: Investitionen dort tätigen, wo sie die größten Impulse für Wachstum und Beschäftigung bringen. Wir werden daher - das ist heute schon mehrmals deutlich gesagt worden - trotz Konsolidierungsprogramms keine Abstriche bei zentralen Zukunftsinvestitionen machen. Die unterschiedlichen Verkehrsträger Wasser, Schiene und Straße sind Grundlage für Wachstum und damit Grundlage für Arbeitsplätze und soziale Sicherung in unserer Gesellschaft. Mit den Umorganisationen im Verkehrsministerium hat Minister Dr. Ramsauer klare organisatorische Voraussetzungen für diese Politik geschaffen. Ich erinnere an die Umorganisation der Grundsatzabteilung, die Errichtung einer Unterabteilung „Klima- und Umweltschutzpolitik“ sowie die Schaffung einer EU-Direktion. Der Minister hat eine Neuausrichtung der Verkehrspolitik vorgenommen, die darauf zielt, Mobilität zu ermöglichen, statt sie schlechtzureden oder zu behindern. ({0}) Natürlich wollen wir vor dem Hintergrund des zu erwartenden Verkehrswachstums den Verkehr auf die Schiene und das Binnenschiff verlagern. Das werden wir überall dort tun, wo es sinnvoll ist. Wir werden aber nicht einzelne Verkehrsträger gegeneinander ausspielen und den Verkehrsträger Straße mit Hinweis auf den Umwelt- und Klimaschutz verteufeln. Am Ende - das ist Ihnen allen sicherlich bewusst - müssen für alle Verkehrsträger umwelt- und klimafreundliche Ziele erreicht werden. Jeder Verkehrsträger ist zu einem speziellen Beitrag zum Schutz der Umwelt verpflichtet. ({1}) In ihrem Antrag, der die Verkehrsinvestitionspolitik vom Kopf auf die Füße stellen will, verkennt die Linksfraktion sehr deutlich die Realitäten. So führt das Ministerium derzeit Gespräche mit dem Güterverkehrsgewerbe, um den Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ neu auszurichten. Ich kann Ihnen versichern: Diese Gespräche werden ergebnisoffen geführt. Um die Emissionen der Verkehrsträger zu senken, ist ein Innovationsprogramm zur Förderung der Anschaffung emissionsarmer schwerer Lkw in Angriff genommen. Ein weiteres wesentliches Element zur Bewältigung der wachsenden Verkehrsströme wird die Gestaltung integrierter Verkehrssysteme sein. Ein Schwerpunkt bisheriger christlich-liberaler Verkehrspolitik war von Anfang an der Umwelt- und Klimaschutz. Das Ministerium hat sich dieser Herausforderung gestellt. Ein kleiner Baustein ist die Elektromobilität. Dies ist ein großes Projekt unserer gemeinsamen Koalition. ({2}) Über die Bahnpolitik hat mein Kollege Lange bereits ausführlich berichtet. Ich möchte in Anbetracht der Zeit nur noch darauf hinweisen, dass sich unsere gemeinsame Koalition auf eine ganze Reihe von Maßnahmen verständigt hat, die den Schienenverkehr und insbesondere den öffentlichen Personennahverkehr stärken und attraktiver machen werden. Ich verweise dabei auf die Stärkung der Rechte des Bundes bei der Initiierung und Umsetzung von Infrastrukturprojekten, die Einführung der Anreizregulierung für Trassen- und Stationspreise, die Prüfung, ob ein integrierter Taktplan eingeführt werden kann, die Erhöhung der Transparenz bei der Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Erprobung neuer Betreibermodelle im öffentlichen Personennahverkehr und die Zulassung von Buslinienfernverkehren. Meine Damen und Herren, es bedarf der Anstrengung aller. Ich rufe Sie auf, sich daran zu beteiligen. Unsere Koalition wird alles Mögliche dafür tun. ({3}) Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lietz, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des ganzen Hauses. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1988 und 17/1971 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes - Drucksache 17/1292 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1}) - Drucksache 17/1938 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Dr. Claudia Winterstein Claudia Roth ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um die Filmrolle, die bald der Vergangenheit angehören wird, geht es heute. Mit der heutigen Ergänzung des Filmförderungsgesetzes geht es um die Zukunft der Faszination Film in den Kinos unseres Landes. Während der Film boomt, kriselt es bei den Kinos. Die großen Ketten bestimmen immer stärker den Markt. Das mittelständische Kino bleibt auf der Strecke, wenn wir nicht handeln. Deshalb sind wir von der Union für das Starkmachen des Films wie des Kinos. Fast 150 Millionen Besucher pro Jahr belegen: Der Film als kulturelles Massenmedium bleibt auch im 21. Jahrhundert hochaktuell. Für uns von der Union ist er Kultur- wie Wirtschaftsgut. Für den Film in Deutschland gilt nicht die flotte Bemerkung: Wenn er Erfolg hat, ist er ein Geschäft; wenn er ein Flop ist, wird er der Kunst zugerechnet. Der Film in Deutschland schreibt Rekordzahlen. Unsere nationale Filmwirtschaft befindet sich im stetigen Aufwind. Wir sind auf dem Weg, zum Spitzenland des Films in Europa zu werden. Das ist imposant und hat Anerkennung verdient. ({0}) - Von allen Beifall, bitte. ({1}) Bereits 2009 war ein Filmjahr im Hollywood-Format. Zehn Merkmale, Trends, Tendenzen sind dafür kennzeichnend: Erstens: 146 Millionen Kinobesuche - so viel wie seit 20 Jahren nicht mehr. Zweitens: ein Marktanteil des deutschen Films von 27,4 Prozent - so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Fast jeder dritte Film ist eine Eigenproduktion. Drittens: eine Umsatzentwicklung an den Kinokassen mit 976 Millionen Euro - ein Plus von 22,8 Prozent in einem Jahr. Vermutlich geht dies darauf zurück, dass 3D das neue Interesse am Film mitbestimmt. Viertens: eine neue Filmbegeisterung in unserem Land. Man geht bewusst wieder in den deutschen Film. Das gilt gerade für die junge Generation, so eine Imagestudie der FFA. Trotz Fernsehen, Handy und Internet der Film in der Sprache unseres Landes boomt. Fünftens: eine noch nie dagewesene Vielfalt an spannenden Themen, eine Breite an renommierten Regisseuren und eine Vielzahl großartiger Schauspieler. Der deutsche Film ist zu einem Gesellschaftsereignis geworden; er ist ein Kulturerlebnis, ohne zu belehren. Sechstens. So viel Weltoffenheit im deutschen Film hat es noch nie gegeben. Filme aus unserem Land und Drehbuchprojekte, die vom BKM aktuell gefördert worden sind, befassen sich mit Liebesgeschichten aus der kasachischen Steppe, mit der argentinischen Militärdiktatur in den 50er-Jahren, mit Kuba, dem Kosovo und Korea. Weitsichtige Produzenten und Verleiher setzen auf Internationalität. Innerhalb unseres Landes leisten deutsche Filme einen immer wichtigeren Beitrag zur Praxis der Integration und zur interkulturellen Verständigung. Denken Sie nur an Fatih Akins Gegen die Wand, an Protagonisten wie Züli Aladag, an Sibel Kekilli und viele andere mehr! Der Film setzt Zeichen für Vernunft und Verständigung. Siebtens. So viele Besuchermillionäre unter den Produktionen aus unserem Land, nämlich 14, gab es noch nie. Achtens. Es gab auch noch nie so viele neue Filme in unseren Kinos insgesamt, nämlich 513, Kurzfilme und Dokumentarfilme eingerechnet. Spitzenleistung im Rekordjahr 2009! Neuntens. Noch nie war die Anzahl von Arbeitsplätzen in der Filmwirtschaft so hoch wie jetzt mit 56 000 15 000 mehr innerhalb von zehn Jahren. Und zehntens. Zu nennen sind die vielen Erfolge für Filme aus Deutschland auf den internationalen Festivals, ob in Cannes oder Venedig, ob der Oscar für Christoph Waltz oder der Silberne Bär der Berlinale. Können, Qualität, Klasse - „Made in Germany“ ist für Filme international längst ein Gütesiegel geworden. ({2}) Wolfgang Börnsen ({3}) Verantwortlich für diese Trümpfe sind natürlich vorrangig erstklassige Schauspieler, Autoren, Regisseure und Produzenten, eine hochmotivierte Könnerschaft. Auch das Filmförderungsgesetz, das wir heute novellieren, gehört dazu, ganz besonders der von Staatsminister Bernd Neumann initiierte Deutsche Filmförderfonds sowie die Filmförderung der Länder und der FFA. Sie alle haben zu diesem Erfolg geführt. „Kooperation von Film und Politik“ ist das Schlüsselwort - bei absoluter Achtung der Freiheit von Kunst und Kultur. Unser Land praktiziert eine öffentliche Filmförderung aus einem Guss als gesellschaftliche Aufgabe. Die Filmbranche anerkennt ohne Wenn und Aber die neue Filmpolitik von Bernd Neumann und weiß es zu schätzen, dass fast alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dessen Konzept stützen und stärken. Ganz wesentlich hat zu diesem rasanten Aufstieg der DFFF, der Deutsche Filmförderfonds, beigetragen. 302 Filmproduktionen wurden in drei Jahren mit insgesamt rund 178 Millionen Euro gefördert. Sie haben einen Wertzuwachs von rund 1 Milliarde Euro ausgelöst - eine fünffache Veredelung von klug eingesetztem Steuergeld. Während der Film blüht, welken die Kinos. Erstmals seit 40 Jahren liegt die Anzahl der Kinostandorte, also der Städte und Gemeinden mit Kinos, unter 1 000. 170 Schließungen gab es in den vergangenen Monaten. Besonders im ländlichen Raum hat ein Kinosterben eingesetzt. Extrem gefährdet sind Kulturkinos sowie Programm- und Filmkunstkinos, besonders die, die den Jungfilmern, dem experimentellen Film Vorführchancen bieten. Während die großen Ketten die digitale Umstellung problemlos leisten, ist das mittelständische Kino durch die hohen Kosten existenziell betroffen. Eine brancheninterne Lösung, mit der man es seit Jahren versucht hat, hat versagt. Alle Kompromissvorschläge, ob vom Staatsminister oder vom Filmpräsidenten Eberhard Junkersdorf, sind an der Unnachgiebigkeit der großen Ketten gescheitert, so die Kenner der Szene. Die Ketten wollen eine Marktbereinigung, sagen die Beobachter. Das Neumann-Modell kann jetzt die Rettung der kleinen Kinos bedeuten. Eine Anstoßfinanzierung von uns sowie die Förderung durch die FFA, durch Verleiher und Länder bei einem Eigenanteil durch die Betreiber bieten die Gewähr, dass der Sprung in das digitale Zeitalter geschafft werden kann; denn die Epoche der Filmrolle ist vorbei. Mit diesem Konzept machen wir unsere Kinokultur zukunftsfähig, sichern wir die Vielfalt unserer Kinolandschaft und sorgen dafür, dass der Filmerfolg weiter von fast 150 Millionen Besuchern ortsnah erlebt werden kann. Die Faszination Film stärkt nicht nur das Wir-Gefühl der Menschen und ist nicht nur ein Freizeitvergnügen. Der Film ist und bleibt ein Kulturerlebnis besonderer Art. Zum Schluss möchte ich eine Sorge loswerden. Eine Lösung im Rahmen der kleinen Novellierung ist die letzte Chance für alle Beteiligten - von den Verleihern bis hin zur Kinowirtschaft. Aber wenn das nicht geschieht, müssen wir bei der großen Novellierung des Filmförderungsgesetzes mit den Beteiligten ganz anders über die Zukunft sprechen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner von der SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Filmförderungsgesetzes, die sogenannte kleine Novelle. Ich hoffe, dass wir heute einen wichtigen Schritt hin zur Stabilisierung der Filmförderungsanstalt machen; denn für sie stehen die Zeiger inzwischen auf fünf vor zwölf. Meine Fraktion - das will ich vorweg sagen - trägt den vorliegenden Gesetzentwurf aus guten Gründen mit. Darauf komme ich zurück. Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass zunächst auf eine andere Vorlage Bezug nehmen, die auch für die Filmförderung von Bedeutung ist. Ich meine das Sparpaket der Koalition, das wir aus ebenfalls guten Gründen als völlig unzureichend und sozial unausgewogen ablehnen. Wir wissen, dass viele Kritiker auch aus den Reihen der Koalition kommen. Was den Kulturbereich angeht, verweise ich nur auf die Debatte um das Humboldt-Forum. Ich möchte den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für kulturelle Leistungen - und damit auch für die Kinos ansprechen. Hier wird es keine Änderung geben. Das ist auch angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Kinobetreiber stehen, in Ordnung. Allerdings schießt der Hauptverband Deutscher Filmtheater in seiner Schlussfolgerung über das Ziel hinaus, wenn er dies als eine grundsätzliche Bestätigung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die Kinos wertet. Denn diese Vergünstigung ist nicht nur ein erhebliches Zugeständnis, sondern zugleich eine Erwartung. Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass alle Kinos nur 7 Prozent statt 19 Prozent abführen müssen. Der ermäßigte Umsatzsteuersatz gilt für kulturelle Angebote, die die kulturelle Vielfalt in unserem Lande sicherstellen. Das könnte man zum Beispiel an der Programmgestaltung der Kinos festmachen. Da müssen wir noch genauer hinschauen. Es ist nämlich vorstellbar, dass die Steuerreduzierung an einen bestimmten Anteil deutscher und europäischer Filme beim Abspiel gebunden wird. ({0}) Das haben wir aber heute nicht zu beantworten. Wir sollten erst einmal die Finanzierung der Filmförderungsanstalt auf sichere Füße stellen, um dann die Digitalisierung der Kinos über die Bühne zu bringen. Wie die Kinos sich bei der Stabilisierung der FFA einbringen, wird ganz entscheidend dafür sein, welche Kinos weiterhin den Steuervorteil genießen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis: Die Filmförderung auf der Grundlage des Filmförderungsgesetzes ist maßgeblich am Erfolg des deutschen Films im In- und Ausland beteiligt. Ich wirke im Vergabegremium der Filmförderungsanstalt mit, und es erfüllt mich mit Stolz, zu verfolgen, wie erfolgreich die Filme sind, die wir mit dem FFG fördern. Herausragendes Beispiel ist Das weiße Band von Regisseur Michael Haneke und dem deutschen Koproduzenten Stefan Arndt von X-Filme. Dieser Film wurde im Ausland hochdekoriert, und zwar mit der Goldenen Palme in Cannes. Der Oscar wurde nur ganz knapp verpasst. Beim Deutschen Filmpreis wurde er mit Lolas überschüttet. Mit 640 000 Besuchern war dieser Film auch ein Erfolg an der Kinokasse. Ohne die FFA wäre das so nicht möglich gewesen. Die FFA fördert auch die Produktion von Filmen, die von vornherein auf gute Unterhaltung und hohe Besucherzahlen setzen. Wir fördern ebenso Projekte mit künstlerischem Anspruch. Der Nachwuchs findet ebenfalls Berücksichtigung. Und wir fördern internationale Koproduktionen mit deutscher Beteiligung, wie zum Beispiel den mit vielen Preisen ausgezeichneten Vorleser. Wir haben eine wirklich gute Zusammenarbeit mit den Franzosen, den Österreichern und den Schweizern aufgebaut. Ich hoffe sehr stark, dass wir das auch mit den Russen schaffen. All das zusammen macht den deutschen Film in seiner ganzen Breite und Vielfalt aus. Ich wiederhole: Ohne die Förderung auf der Grundlage des Filmförderungsgesetzes wäre das so nicht möglich. Deshalb haben wir als Gesetzgeber das FFG im Laufe von inzwischen über vier Jahrzehnten weiterentwickelt und immer wieder an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst. Beachtlich dabei sind die Kontinuität und die Gemeinsamkeit über die Fraktionen hinweg; das passiert - das wissen wir nicht so oft in diesem Haus. Gemeinsam haben wir so der Branche den Rücken gestärkt. Es ist noch gar nicht so lange her: Ende 2008 haben wir die fünfte Novelle beschlossen. Damals sind wir alle davon ausgegangen, dass sie wie vorgesehen für fünf Jahre Bestand hat. Aber es kam anders. Im Februar 2009 hat das Bundesverwaltungsgericht einen Beschluss gefasst, der auch mich überrascht hat. Das Gericht wertete es als mit der Verfassung nicht vereinbar, dass die Zahlergruppen ihre Beiträge auf unterschiedlicher Grundlage leisten, dass die Sender ihre Leistung vertraglich geregelt erbringen und die Kino- und Videowirtschaft dazu gesetzlich verpflichtet ist. Ich kann den Gerechtigkeitssinn der Einzahler, die eine gesetzliche Grundlage für alle verlangen, durchaus nachvollziehen. Die Kinos fordern seit Jahren Gleichbehandlung in dieser Frage. Wegen der föderal geordneten Zuständigkeit der Länder für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war das nicht so einfach zu erreichen. Also klagten einige Kinoketten seit 2004. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes liegt seit 2009 vor. Ich finde, wir müssen nun endlich handeln, wenn wir die Filmförderungsanstalt nicht gefährden wollen. Mit der Einführung eines gesetzlichen Abgabemaßstabs für die Fernsehveranstalter schaffen wir Rechtssicherheit für die FFA, und das rückwirkend. Die Bundesregierung hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Vorschlag gemacht, der mit den Beteiligten weitgehend abgestimmt ist. Das ist auch gut so. So komme ich gemeinsam mit meiner Fraktion zu dem Ergebnis, dass dieser Vorschlag geeignet ist, die Beanstandungen des Bundesverwaltungsgerichtes aus der Welt zu schaffen. Allerdings hätten wir diese Novelle schon vor einem Jahr haben können; ich habe darauf gedrängt. Heute zeigt sich leider auch, dass die Verknüpfung der FFG-Problematik mit der Finanzierung der Kinodigitalisierung offensichtlich ein falsches Vorgehen war. Es hat uns zähe und fruchtlose Verhandlungen mit den Kinos gebracht, die am Ende gescheitert sind, übrigens auch zum Nachteil der Kinodigitalisierung, die sich damit weiter verzögert hat. Allerdings ist es immer leicht, im Nachhinein klüger zu sein. Wir sollten dies aber bei den nächsten Schritten beachten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Junktim im sogenannten Gesamtpaket des Kulturstaatsministers aufgelöst. So können wir heute das FFG novellieren, und morgen - vielleicht auch erst ein paar Tage später geht es an die Kinodigitalisierung. Die aktuellen Urteile der Verwaltungsgerichte zur Filmabgabe geben klare Hinweise, dass die Rechtsprechung unsere Bemühungen als Gesetzgeber zunehmend würdigt, indem die Anträge der Kinobetreiber auf Aussetzung der Abgabezahlungen an die FFA abgewiesen werden. Das stimmt mich zuversichtlich mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht. Möglicherweise - das ist mein Wunsch - wird die Vorlage schon im Vorfeld einer Befassung zurückgezogen. Das wäre die beste Anerkennung für unser Bemühen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nicht verschweigen, was mir große Sorgen macht. Ich fürchte, dass mit der kleinen Novelle nicht alle Probleme gelöst werden. Ich habe die Ahnung, dass dafür die eigentlichen Motive der klagenden Kinos verantwortlich sind: Sie wollen sich der Abgabe entledigen. Deshalb haben sie zusätzlich zu ihrer Klage in Brüssel Beschwerde wegen des Verstoßes des FFG gegen das Beihilferecht eingelegt. Ich möchte betonen, dass das nicht von allen Kinoketten betrieben wird. Mir ist durchaus bewusst, dass ein Teil der Multiplexe begriffen hat, dass auch sie von der Förderung des deutschen Films profitieren. Solange aber das solidarische System der Filmförderung mit Klagen, Beschwerden und Vorbehalten torpediert wird, wird der Konflikt weiter schwelen. Die Klagen haben sich übrigens bis heute sehr zersetzend auf die Arbeit der Filmförderungsanstalt ausgewirkt. Greifbar wird das insbesondere an den in der Folge der Klage zunehmenden Vorbehaltszahlungen, die das Aufstellen eines HaushalAngelika Krüger-Leißner tes für die FFA immer schwieriger machen. Über die Hälfte der Filmabgabe wird inzwischen unter Vorbehalt gezahlt. Dabei war es aus meiner Sicht sehr bedauerlich, dass der HDF und die anderen Kinos sich nicht entschieden von der Klage distanziert haben. Zum Teil wurde das mitgetragen. Das verstehe ich übrigens bis heute nicht. Welche Interessen werden da eigentlich vertreten? ({1}) Ich gebe zu bedenken, dass die wirtschaftliche Lage der Kinos bei der Novelle 2004 möglicherweise nicht angemessen berücksichtigt worden war. Daraus jedoch die Konsequenz zu ziehen, das Filmförderungsgesetz und die Filmförderungsanstalt selbst zur Disposition zu stellen, halte ich für total überzogen und verantwortungslos. Ich bin jedenfalls bereit, die Lage auch der Kinoketten genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich möchte wegkommen vom Schwarz-Weiß-Denken, von der Einteilung in „gute“ und „böse“ Kinos. Lassen Sie mich prognostizieren, dass die heutige kleine Novelle sehr schnell zeigen wird, wie sich die Kinos verhalten werden, die sich bisher verweigern: Entweder verharren sie in ihrer Verweigerungshaltung, oder sie kommen zurück zur Geschäftsgrundlage der Filmförderung in Deutschland. Wir jedenfalls haben heute unsere Hausaufgaben erledigt. Was beanstandet worden ist, ist geheilt. Entweder kommen alle wieder zurück ins Boot, oder wir müssen einen klaren Schnitt machen. Ich werde nicht um Solidarität betteln. Solidarisch ist man aus Überzeugung und Verantwortung für das Ganze. Ein klarer Schnitt würde nicht etwa heißen, dass wir die Filmförderung in Deutschland einstampfen; nein, auf keinen Fall. Aber dann müssen wir einen anderen Weg finden. Ich hoffe sehr, dass es nicht so weit kommt. Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes kommen wir unserer Pflicht nach. Jetzt sind die anderen am Zug. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Claudia Winterstein. ({0})

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit 27 Prozent Marktanteil feierten deutsche Filme 2009 ein Rekordergebnis an den Kinokassen. Im gleichen Jahr gewann der Film Das weiße Band die Goldene Palme in Cannes, und erst vor kurzem wurde der deutsche Film Die Fremde bei dem renommierten Tribeca-Filmfestival in New York als bester Spielfilm ausgezeichnet. Der deutsche Film schwimmt national und international auf einer Erfolgswelle, und das ist auch ein Ergebnis der Filmförderung in Deutschland. ({0}) Das Filmglück wäre fast perfekt, wäre da nicht der seit Jahren währende Streit um die Filmabgabe an die Filmförderungsanstalt, die FFA. Ich bin froh, dass wir nun eine Kleine Novelle zum Filmförderungsgesetz vorliegen haben, die diese Problematik aufgreift und feste Abgabesätze auch für die Fernsehsender vorsieht. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass auch jene Kinoketten, die ihre Zahlungen an die FFA bislang unter Vorbehalt geleistet haben, nun wieder in vollem Umfang zur Filmförderung beitragen. Wir brauchen eine arbeitsfähige und effektive FFA, um die erfolgreiche Entwicklung des deutschen Films weiter unterstützen zu können. Denn neben der klassischen Filmförderung spielt die FFA auch bei dem aktuell wichtigsten Thema der Filmpolitik eine zentrale Rolle, nämlich bei der Digitalisierung der Kinos in Deutschland. Es ist unausweichlich, dass, wie bereits in anderen Medienformaten geschehen, auch das Abspielen von Filmen im Kinosaal zukünftig mit digitaler Technik erfolgt. In wenigen Jahren werden Filmkopien nur noch in digitaler Form verbreitet werden. Die Digitalisierung bietet zudem große Chancen für die Kinos, ihr Angebot zu erweitern, etwa durch die Präsentation von Sportveranstaltungen oder großen kulturellen Ereignissen. In Deutschland gibt es etwa 3 700 Kinoleinwände. 1 200 Leinwände gehören zu kleineren Kinos im ländlichen Raum oder zu Programm- und Arthouse-Kinos. Diese sind aufgrund ihrer schwachen Umsätze nicht in der Lage, die Umstellung auf den digitalen Standard selbst zu finanzieren. Ohne eine Unterstützung dieser Häuser würden wir in den nächsten Jahren ein Kinosterben erleben, das äußerst negative Auswirkungen auf den Kultur- und Filmstandort Deutschland hätte. Ich bin Ihnen, Herr Staatsminister Neumann, dankbar für die Eckpunkte eines Konzeptes, das zeigt, wie die Umstellung auf digitale Technik in den Kinos organisiert und finanziert werden kann. Das Konzept trägt mit seiner Zwei-Säulen-Struktur auch dem Umstand Rechnung, dass nur ein Teil der Kinos - nämlich genau diese 1 200 Leinwände -, die dies nicht aus eigener Tasche zahlen können, von der Förderung profitieren. Ich halte es auch für wichtig, dass der Finanzierungsanteil des Bundes auf ein Viertel der Kosten begrenzt ist. Weitere Mittel sollen von den Ländern, den Verleihern und der FFA kommen, sodass die Kinos insgesamt bis zu 80 Prozent der Kosten erstattet bekommen. ({1}) An dieser Stelle sehe ich aber den entscheidenden Kritikpunkt an dem jetzt vorliegenden Konzept. Es fehlt bisher an konkreten Vereinbarungen, in welcher Höhe sich die Filmwirtschaft und die Länder an den Kosten der Digitalisierung beteiligen und wie die einzelnen Fördermaßnahmen miteinander wirken. Der Deutsche Bundestag hat in den Beratungen zum Haushalt 2010 4 Millionen Euro bereitgestellt. Wir haben die Freigabe dieser Mittel aber unter den Vorbehalt gestellt, dass sich die Länder und die Filmwirtschaft an den Kosten beteiligen. Ich gehe davon aus, dass wir von Herrn Staatsminister Neumann ein konkretes Konzept zur Umsetzung der Digitalisierung vorgelegt bekommen. Die Digitalisierung muss in allen Kinos Einzug halten - im Interesse des Filmes und der kulturellen Vielfalt in Deutschland. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kathrin SengerSchäfer von der Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Filmkritikerin habe ich die Möglichkeit, viele neue deutsche Filmproduktionen zu sehen, was eine hoch spannende Aufgabe darstellt. Auch für die Linke ist der deutsche Film ein wertvolles Kulturgut, dessen finanzielle Förderung wir ausdrücklich begrüßen; denn allein auf marktwirtschaftlicher Grundlage ist heute keine Produktion von Qualitätsfilmen mehr denkbar. Die Filmförderung des Bundes und der Länder hat sich durchaus bewährt. Der deutsche Film hat sich in den letzten Jahren national und international einen Namen gemacht. Von den Oscar gekrönten Verfilmungen wie Die Blechtrommel oder Das Leben der anderen bis zu unterhaltsamen Publikumsrennern wie Der Schuh des Manitu oder Keinohrhasen - keiner dieser Filme wäre denkbar ohne das Instrument Filmförderung. ({0}) Das Filmförderungsgesetz wird regelmäßig den aktuellen Gegebenheiten angepasst. Dabei geht es um die grundlegenden Rahmenbedingungen der Filmproduktion in den kommenden fünf Jahren. Die nächste Novelle wäre eigentlich erst 2014 erforderlich geworden. Doch heute beraten wir über eine Novellierung aus besonderem Anlass. Es gibt eine Klage. Bislang wird die Filmförderung zu etwa einem Drittel durch die sogenannte Filmabgabe der Kinobetreiber und Videotheken finanziert, eine gesetzliche Pflichtabgabe. Die anderen zwei Drittel der Finanzierung kommen von den öffentlichrechtlichen und den privaten Fernsehanbietern. Dies aber sind bisher freiwillige Beiträge auf Vertragsbasis. Pflichtabgaben standen also freiwilligen Abgaben gegenüber. Die Kinobetreiber empfanden das als ungerecht. Genau deshalb klagten sie gegen das Gesetz und bekamen im Februar vergangenen Jahres vom Bundesverwaltungsgericht recht. Daraufhin brachte die Bundesregierung nach erfolglosen Zwischenschritten die sogenannte Kleine Novelle zum Filmförderungsgesetz auf den Weg, um die es hier geht. Dadurch werden erstmals gesetzlich festgeschriebene Abgaben auch für die Fernsehveranstalter beabsichtigt, sprich: Auch sie sollen fortan Pflichtbeiträge leisten. Die Linke hält dies durchaus für einen richtigen Weg; aber wir sehen in dieser Gesetzesnovelle eine Reihe handwerklicher Fehler und rechtlicher Probleme. So kritisieren wir vor allem die Ungleichbehandlung von öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern. Die Regelungen des sogenannten Abgabenmaßstabes sind schon erstaunlich. Zwar werden Prozentsätze an den Realkosten bzw. Nettowerbeumsätzen für die Ausstrahlung von Kinofilmen festgelegt. Aber es gibt als Grundlage weder Modellrechnungen noch kalkulatorische Annahmen. So lautete zumindest die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken mit dem Titel „Zukunft der Filmförderung und Digitalisierung der Kinos“. Angesichts der nunmehr vorgeschlagenen Abgabesätze für die Fernsehanstalten dürfte der Ertrag aber erheblich unter ihren freiwilligen Zahlungen liegen. Damit stünden der Filmförderung künftig sogar weniger Mittel zur Verfügung. Für den Vergleichszeitraum 2004 bis 2008 wären das nach dem neuen Abgabenmaßstab über 25 Millionen Euro weniger. Es gibt ein weiteres Problem: Während bei privaten Free-TV-Anbietern Abgabenstufen nach tatsächlicher Nutzung von Kinofilmen berechnet werden, erfolgt im Pay-TV - bisher nur der Murdoch-Sender Sky - eine ungerechtfertigte Pauschalisierung der Abgaben. Diese basiert nicht einmal auf empirischen Untersuchungen, sondern auf Befragungen des Programmanbieters. Das wäre so, als ob der Herr Staatsminister seinen privaten Steuersatz selber festlegen könnte. ({1}) Durch weitere geschickte Rechenmodelle dürfte er sogar verschiedene Einnahmen gegenrechnen. Wie gesagt, die Linke begrüßt zwar die gesetzlich verankerte Filmförderung. Wegen der dargestellten erheblichen Mängel der vorliegenden Novelle zum Filmförderungsgesetz können wir aber leider nicht zustimmen. ({2}) Aus unserer Sicht besteht noch erheblicher Nachbesserungsbedarf. ({3}) Auch wir würden uns freuen, wenn es künftig statt „Wo bitte geht’s nach Hollywood?“ noch öfter hieße: „Wo bitte geht’s nach Babelsberg?“. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuallererst möchte ich sagen: Wir freuen uns, dass die Beratungen zur vorliegenden Novelle zum Filmförderungsgesetz in einem, wie ich finde, vertrauensvollen Klima zwischen den Fraktionen und auch mit dem BKM, Herrn Neumann, stattgefunden haben. Das ist ein gutes Signal dafür, dass man in der Politik an einem Strang ziehen kann. Das passiert in der Tat nicht allzu oft. ({0}) Wir Grüne - das ist in dieser Frage klar - wollen unseren Beitrag leisten, damit eine sehr breite und ganz deutliche Mehrheit im Bundestag diese Novelle mitträgt; denn es ist sehr wichtig, dass wir gemeinsam signalisieren, welche Bedeutung die FFA hat. Die Botschaft dieses Tages von dieser Stelle aus muss sein: Erstens. Der Erhalt und die Entwicklung der FFA sind wirklich zentrale Grundlagen für den kulturell anspruchsvollen Kinofilm in Deutschland. Zweitens. Die Sicherung der FFA hat für uns hier im Bundestag eine hohe kulturpolitische Priorität, und zwar über die Fraktionsgrenzen hinweg. ({1}) Wir wissen doch, was los war. Wir alle wissen, dass große Kinobetreiber ihre Beitragszahlungen an die FFA nur noch unter Vorbehalt geleistet haben. Dabei haben sie das Argument der Ungleichbehandlung vorgebracht, weil die Beitragsordnung für Fernsehveranstalter und Vermarkter von Pay-TV-Programmen bisher nicht gesetzlich fixiert war. Das Bundesverwaltungsgericht hat dem entsprochen. Mit dieser Novelle wird eine klare Regelung vorgelegt, die wir unterstützen. Wir gehen davon aus - darum geht es; darauf haben die Kolleginnen und Kollegen schon hingewiesen -, dass die Finanzsicherheit der FFA damit wiederhergestellt ist und eines der wichtigsten Filmförderinstrumente im Sinne der Filmproduktion in Deutschland gesichert wird. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass uns das nicht ausreicht. Wir sehen bei der FFA einen deutlich größeren Reformbedarf, nicht zuletzt - Sie wissen, was kommt hinsichtlich der Rolle der Kreativen in der FFA. Nun will ich nicht sagen, dass die Film- und Kinowirtschaft und alle übrigen Beteiligten nicht kreativ sind. Herr Neumann ist nun definitiv ein kreativer Mensch. ({2}) - Doch, schon. - Wenn er es will, dann ist er es. ({3}) Das wollte ich aber gar nicht sagen. Die Film- und Kinowirtschaft und alle übrigen Beteiligten sind ein ganz wichtiger Teil der Kreativwirtschaft, über die zu Recht viel gesprochen wird. Aber die Kreativen im engeren Sinne, die Künstlerinnen und Künstler, brauchen endlich ein deutlich größeres Gewicht in der FFA. Ihre Beteiligung muss weiter aufgewertet werden. Wir finden, dass ein Sitz für einen Kreativen-Vertreter oder eine Kreativen-Vertreterin im FFA-Präsidium definitiv überfällig ist. ({4}) Sie machen schließlich die Filme; sie schaffen die großen Bilder, über die einige Kollegen schon richtig ins Schwärmen geraten sind. Es gibt noch weitere Unterstützungsmaßnahmen für Kreative, über die wir konstruktiv nachdenken sollten, zum Beispiel die Förderung von Regisseurinnen und Regisseuren aus der Referenzmittelförderung. Wir haben dazu ein Modell vorgelegt, das kostenneutral ist und der Produktion von Filmen keine Fördermittel entzieht, Regisseurinnen und Regisseuren aber in der sehr schwierigen Phase der Pre-Production, bevor es also überhaupt losgeht, hilft. Ich gebe jetzt sehr diplomatisch nachdrücklich unserer Hoffnung Ausdruck, dass diese Punkte bei der nächsten, großen FFG-Novelle mit realisiert werden. Wir haben schon oft darüber geredet. Ich hoffe sehr, dass das umgesetzt werden kann - auch für die Macherinnen und Macher der Filme, die im eigentlich kreativen Bereich tätig sind. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen das Signal setzen, dass wir sehr entschlossen sind, die Filmund Kinolandschaft unseres Landes gerade in den gegenwärtigen technischen und wirtschaftlichen Umbrüchen zu verteidigen. Wer glaubt, dass er die anstehende Kinodigitalisierung für eine Schwächung des kulturell anspruchsvollen Films aus Deutschland und Europa und für eine Marktbereinigung der Kinolandschaft im Sinne eines einseitig profitorientierten Mainstreamkinos nutzen kann, der hat uns Grüne als Gegner und muss sich - das kündige ich an - warm anziehen ({6}) und der sollte im Übrigen uns alle als Gegner haben. Das gilt auch für Versuche, die FFA juristisch und verbändepolitisch zu schwächen. Wir Grüne kämpfen entschlossen dafür, dass das Kino im Dorf bleibt. Ich komme vom Dorf und weiß, wie wichtig das war - zwar nicht unbedingt, Winnetou sterben zu sehen, und im ersten Teil ist Nscho-tschi gestorben. Aber für meine politische Entwicklung war es wichtig, dass es bei uns im Dorf ein Kino gab. - Wir wollen also, dass das Kino im Dorf bleibt, dass eine breite Kinoinfrastruktur in unserem Land erhalten bleibt ebenso wie Filmförderstrukturen, auf die kulturell anspruchsvoller Film angewiesen ist - und um den geht es uns vor allem. Vielen herzlichen Dank. Claudia Roth ({7}) ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, ich hoffe, dass Sie mit mir zufriedener sein werden als Ihr Kollege heute Morgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute über das Sechste Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes. Das ist notwendig geworden, weil die obersten Gerichte entschieden haben, dass die bisherige Filmabgabenregelung eine Ungleichbehandlung darstellt. Das heute zur Abstimmung stehende Änderungsgesetz soll diese Abgabengerechtigkeit wiederherstellen. Grundsätzlich orientieren sich die Abgaben der Fernsehveranstalter wie bisher bei den Kinobetreibern zu einem festen Prozentsatz an der Höhe der jeweiligen Einnahmen. Sender mit einem Spielfilmanteil von unter 2 Prozent oder einem Gesamtumsatz mit Programmen, die auch Spielfilme enthalten, von unter 750 000 Euro im Jahr sind von der Abgabe befreit. Wir müssen jetzt Änderungen vornehmen, damit wir auf diesem Gebiet weiterhin so erfolgreich sein können, wie es meine Vorrednerinnen und Vorredner schon betont haben. Ich glaube, wir alle konnten in den letzten Jahren feststellen, dass der deutsche Film nicht nur erfolgreich ist - die Zahlen sind vom Kollegen Börnsen genannt worden -, sondern auch cool geworden ist. ({0}) Die Verleihungen sind besser geworden, nicht nur beim Deutschen Filmpreis, sondern auch beim Bayerischen Filmpreis und bei allen anderen. Das sind coole Veranstaltungen mit Glamour. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass wir uns hier in Deutschland nicht hinter Hollywood verstecken müssen. ({1}) Auch die Themen der Filme wurden angesprochen. Sie sind nicht nur bildend, sondern auch gesellschaftsabbildend. Das weiße Band wurde schon mehrfach angesprochen; auch ich möchte den Film hervorheben. Ich glaube, dass viele in diesem Land, denen ein solches Drehbuch vorgelegt worden wäre, erst einmal überlegt hätten, ob man so etwas machen kann, ob so etwas Erfolg haben kann. Ich finde es absolut beeindruckend, wie ein in Schwarz-Weiß gedrehter Film uns alle begeistert hat. ({2}) Wir blicken hier auch dank des fraktionsübergreifenden Engagements, aber vor allem dank des BKM, Bernd Neumann, und des DFFF auf eine großartige Erfolgsgeschichte zurück. Eine Erfolgsgeschichte drückt sich immer in vielen Zahlen, auch in Euro aus. 2009 wurden alle Mittel ausgeschöpft; seit 2007 konnten wir über 300 Projekte ganz unterschiedlicher Art realisieren, mit Mitteln in Höhe von über 178 Millionen Euro. Die daraus hervorgegangenen Filmproduktionen haben allein in der deutschen Filmwirtschaft Investitionen in Höhe von 1,1 Milliarden Euro ausgelöst. Darauf kann man sehr stolz sein. ({3}) Ich bedanke mich bei der Kollegin Claudia Roth für den schönen Ausdruck, den sie gerade gewählt hat - besser kann man es eigentlich nicht in einem Satz zusammenfassen -: Das Kino soll im Dorf bleiben. - Mir gefällt der Satz sehr gut, weil er genau zu unserem Anspruch passt. Wir wollen die kulturelle Grundversorgung flächendeckend gewährleisten, nicht nur in den Großstädten, sondern, wo es möglich ist, wirklich in jedem einzelnen Dorf. Jetzt kann man sagen, dass die Romantik durch die Digitalisierung etwas verloren geht, weil es keine zerrissenen Filmrollen mehr gibt und es nicht mehr vorkommt, dass die Spulen nicht rechtzeitig gewechselt werden, weil der Vorführer anderweitig beschäftigt ist. Das finde ich persönlich ein bisschen schade. Trotzdem ist es ein großes Anliegen, das wir alle unterstützen, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die viel Geld und Leidenschaft in den Betrieb eines kleinen oder mittleren Kinos stecken, weiterhin vertreten sein können. ({4}) Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten - ich hoffe, das tun Sie auch -: Ich schenke Ihnen die letzte Minute meiner Redezeit, damit wir früher nach Hause kommen und wir alle heute Abend, wenn möglich, in ein ländliches Kino gehen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen von der FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat Kollegin Bär natürlich Zeitdruck ausgelöst. Auch ich will Sie nicht davon abhalten, heute Abend in Ihr ländliches Kino zu gehen. Mit der vorliegenden Novelle ist unter der Moderation von Staatsminister Neumann ein richtungsweisender Kompromiss gelungen, der die deutsche Filmwirtschaft in die Lage versetzt, die Filmförderung vor allem aus eigenen Mitteln - das unterscheidet uns von den Linken - voranzutreiben. Diesen Kompromiss begrüßen wir ausdrücklich. Wir freuen uns auch darüber, dass gemeinsam mit der SPD und den Grünen die breite Mehrheit dieses Hauses dem Gesetzentwurf zustimmen wird. Das ist ein deutliches Signal in Richtung Karlsruhe: Nicht die Gerichte, sondern wir hier im Parlament machen Filmpolitik in Deutschland. ({0}) Um aber den Film zu fördern - ich möchte einen anderen Bereich ansprechen und mich den vielen Gedanken der anderen anschließen -, bedarf es aus unserer Sicht weiterer Maßnahmen. Der Schaden durch Raubkopien und illegale Downloads betrifft nicht, wie häufig angenommen, nur die großen Produktionen aus den USA, sondern schadet auch den deutschen Produktionen und damit dem Mittelstand immens. Hier ist neben dem Engagement der Branche in jedem Fall auch die Politik gefragt. Für uns Liberale ist die Wahrung des Urheberrechts eine staatspolitische Aufgabe. ({1}) Wir beobachten daher seit einigen Monaten die Gründungsbemühungen einer Partei, die das Urheberrecht gänzlich infrage stellt, mit großer Sorge. Wer den Schutz geistigen Eigentums nicht anerkennt, der wird auch in anderen Bereichen vor Rechtsbrüchen nicht haltmachen. ({2}) Wir ermutigen die Branche, auch im Kampf gegen die Piraterie an einem Strang zu ziehen. Ein zentrales Mittel zur Bekämpfung der Piraterie ist aus unserer Sicht die Entwicklung attraktiver Geschäftsmodelle, die den Nutzerinnen und Nutzern interessante Alternativen zu illegalen Downloads bieten. ({3}) Ebenso wie wir die Bekämpfung der Piraterie als gemeinsame Aufgabe mit der Privatwirtschaft begreifen, müssen wir die Zusammenarbeit mit der Filmwirtschaft intensivieren, um die Filmförderungsanstalt an die Bedingungen einer modernen Mediengesellschaft anzupassen. In Deutschland wird großes Kino geboten. Sorgen wir dafür, dass das so bleibt. ({4}) Wie Sie wissen, schlägt mein Herz für alle Medien gleichermaßen, also nicht nur für das Kino. Ich schließe mich den Grünen und hier Claudia Roth gerne an: Die immer noch sogenannten neuen Medien entwickeln sich rasant, und der Prozess der Medienkonvergenz schreitet unaufhaltsam voran. Weil die Grenzen zwischen den einzelnen Medien verwischen, ist es im Sinne einer konsequenten Weiterentwicklung nur zeitgemäß, auch über die Möglichkeit einer übergreifenden Förderung für die gesamte deutsche Kreativwirtschaft im Bereich der Content-Erstellung nachzudenken. Besonders im Blick habe ich dabei die Herstellung und den Vertrieb von Computerspielen - auch andere Medien sind in diesem Zusammenhang gefragt -, die vielfach Vorbild für die Digitalproduktionen im Kino gewesen sind. Hier könnte die FFA weitere Einzahlergruppen gewinnen, die sie, wie das laufende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zeigt, dringend benötigt. Abschließend wünsche ich mir daher, dass wir gemeinsam die FFA als wichtigste bundesweite Förderungsanstalt für die Kreativwirtschaft zukunftsfähig machen. Gehen Sie heute Abend ins Kino um die Ecke! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Marco Wanderwitz von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In unserem täglichen Leben sind Medien im Allgemeinen und Filme im Besonderen so präsent, dass sie die Gesellschaft ein ganzes Stück weit beeinflussen. So weit kann man, glaube ich, gehen. Unser Bild von der Welt wird durch das Medium Film, besonders durch die großen Kinofilme, geprägt. Ich finde es toll, dass der Film - das ist schon angesprochen worden - immer neue Rekordzahlen erreicht. Im letzten Jahr gab es 146 Millionen Kinobesucher; das ist die höchste Besucherzahl seit 20 Jahren. Fast ein Drittel der Produktionen sind deutsche Produktionen; so viele waren es noch nie. 14 der in Deutschland produzierten Filme haben es im letzten Jahr geschafft, ein Millionenpublikum zu erreichen. Das ist großes Kino. Einen wesentlichen Beitrag zu diesem erfreulichen Aufstieg des Kultur- und Wirtschaftsgutes Film hat der in der vergangenen Legislaturperiode von Kulturstaatsminister Bernd Neumann initiierte Deutsche Filmförderfonds geleistet. Das war eine große Erfolgsgeschichte, die auch in der Breite anerkannt wird. Die wichtigste Säule für die Filmförderung in Deutschland ist jedoch die Filmförderungsanstalt, die FFA, ein Eigenentwicklungsinstrument der Filmwirtschaft. Die Mittel werden eben nicht aus dem Staatshaushalt, sondern durch Beitragszahlungen der Verwerter von Kinofilmen aufgebracht, also von den Kinos, der Videowirtschaft, den öffentlichen und privaten Fernsehveranstaltern sowie den Vermarktern von Bezahlfernsehen. Als Gesetzgeber haben wir lediglich den gesetzlichen Regelungsrahmen vorgegeben, und zwar deshalb, weil die Branche uns darum gebeten hat. Weil der Kino- und Videosektor seine Abgaben bisher auf gesetzlich festgeschriebener Grundlage leisten musste und die Fernsehveranstalter freiwillige Abgaben auf vertraglicher Basis geleistet haben, sah das Bundesverwaltungsgericht hier ein verfassungsrechtliches Problem. Wir haben uns entschlossen, vorbeugend tätig zu werden. Das heißt nicht - das sage ich bewusst für das Protokoll -, dass wir uns der Meinung des Bundesverwaltungsgerichts anschließen. Wir wollen vielmehr Rechtssicherheit schaffen und die FFA - die Problematik wurde schon beschrieben - schnell vollständig handlungsfähig machen. Eine grundsätzliche Veränderung der Finanzierungssystematik, an die man in diesem Zusammenhang denken könnte, lehnen wir aber ganz bewusst ab. Wir glauben, dass durch die Einführung des neuen gesetzlichen, vorteilsgerechten Abgabemaßstabes Abgabengerechtigkeit für die Fernsehveranstalter und die Anbieter von Bezahlfernsehprogrammen gewährleistet wird. Auch die rückwirkende Geltung ab dem 1. Januar 2010 halten wir für verfassungsrechtlich einwandfrei. Die Kläger gegen das derzeitige FFG hätten somit das von Ihnen vorgegebene Ziel der Einzahlergerechtigkeit theoretisch erreicht. Dennoch wird die Klage aufrechterhalten, dennoch werden ständig neue Forderungen und Begründungen nachgeschoben. Für mich ist der Eindruck ganz klar: Es geht um mehr als das, was jetzt vorgetragen wird. Das System der Filmwirtschaft wird ein Stück weit infrage gestellt. Dazu passt es, dass sich die großen Kinos gar nicht auf unser Angebot zur Kinodigitalisierung eingelassen haben. Frau Kollegin Krüger-Leißner, sicherlich sind wir hinterher ein Stück schlauer, aber ich glaube trotzdem, dass es richtig war, noch einmal ein Angebot vonseiten der Politik, vonseiten der Bundesregierung zu unterbreiten. Wir haben gesagt: Wir versuchen es mit einer Verhandlungsrunde. Das wird die letzte gewesen sein. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. Aber zumindest haben wir noch einmal den Versuch gemacht. Das war richtig, auch wenn er nicht fruchtbar war. ({0}) - Wir haben ein bisschen Zeit verloren, zweifellos. An dieser Stelle möchte ich eine andere Replik bringen. Frau Kollegin Senger-Schäfer, es gibt durchaus Filme - so war das vielleicht gemeint -, die sich refinanzieren. Sprich: Es ist schwer, fast unmöglich, ohne Förderung zu produzieren. Es sollte aber nicht der Eindruck entstehen, dass es keine Filme gebe, die sich rechnen. Es gibt durchaus eine ganze Menge Filme, die sich rechnen. Da wir gerade dabei sind, will ich noch einen Satz dazu sagen: Das Beispiel mit dem Steuersatz des Ministers hielt ich in diesem Zusammenhang für zumindest nicht angebracht. ({1}) Mit dem nun geplanten Förderkonzept „Digitalisierung der deutschen Kinos“ schaffen wir es, unter Einbindung der Länder und der FFA mit aufeinander abgestimmten Fördermaßnahmen bis zu 80 Prozent der Digitalisierungskosten für die kleinen und mittelständischen Kinos abzubilden. Das ist ein Vorhaben aus unserem Koalitionsvertrag, das wir damit umsetzen. Im Bundeshaushalt 2010 stehen dafür bereits 4 Millionen Euro zur Verfügung. Die Politik - wie wir vorhin gehört haben, ist die Zustimmung in diesem Haus breit verteilt - übernimmt mit der heutigen Novelle und dem Förderkonzept Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Kinound Filmwirtschaft. Wir verbinden damit die eindringliche Hoffnung und Erwartung, dass auch die großen Kinoketten dieser Verantwortung wieder nachkommen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Filmförderungsgesetzes. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/1938, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1292 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses ange- nommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verlängerung von Restlaufzeiten von Atom- kraftwerken - Auswirkungen auf die Entwick- lung des Wettbewerbs auf dem Strommarkt und auf den Ausbau der Erneuerbaren Ener- gien - Drucksache 17/832 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Laufzeitverlängerung nicht mehr durchsetzbar - Energiekonzept neu justieren - Energiepolitische Bremse lösen - Drucksache 17/1980 Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schwarz-Gelb hat sich in eine atomare Wagenburg geflüchtet. Wenn sich die Anführer dieser schwarzgelben Truppe umsehen, sehen sie, dass sie ein kleines, verlorenes Häuflein geworden sind. Um die Wagenburg herum sind längst nicht mehr nur die Rothäute, die Indianer, ({0}) nein, auch die eigene Kavallerie ist schon auf der anderen Seite, und bei einem der eigenen Anführer, dem Umweltminister, weiß man nie, ob er innerhalb oder außerhalb der Wagenburg ist. Das scheint sich im Stundenrhythmus zu ändern. ({1}) Wie damals bei Cowboys und Indianern sind auch hier diejenigen in der Wagenburg die Friedensbrecher, die Eindringlinge, die ihre eigenen Interessen brutal durchsetzen wollen. Das Interessante ist: Seit Beginn der Diskussion haben sich die Warnungen an dieses schwarz-gelbe Häuflein in der Wagenburg massiv verstärkt. Allein schon die Debatte über eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken und die Verzögerung der Entscheidungen führt zu einem Zusammenbruch der Investitionen. Es sind Ihre eigenen Bürgermeister und Kommunalräte, die Sie auffordern, diesen Unsinn zu unterlassen, ({2}) der Deutsche Städtetag mit einer CDU-Oberbürgermeisterin an der Spitze. Die kommunalen Stadtwerke machen deutlich, welche Verluste es für Stadtwerke in Bürgerhand geben würde, wenn die Laufzeiten der Atomkraftwerke der großen Energiekonzerne verlängert würden. All diese Warnungen aus der Praxis interessieren die schwarz-gelbe Atomwagenburg nicht. Vor der Zementierung der Monopole wird gewarnt. Jeder weiß, was Monopole bedeuten: ungerechtfertigt hohe Preise und geringe Innovationen. Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass die letzten drei Präsidenten des Bundeskartellamts unisono vor der Verlängerung der Laufzeiten warnen? Herr Böge warnt in einem Gutachten für die Stadtwerke. Der frühere Chef, Herr Heitzer, warnt in seinem letzten Interview in diesem Amt vor einer Verlängerung der Laufzeiten, bevor er als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium in diese Regierung wechselt. Auch der aktuelle Präsident - er wurde auf Ticket der FDP dorthin geschickt - warnt vor einer Verlängerung der Laufzeiten. Wenn Sie nicht auf die Opposition hören, dann hören Sie an dieser Stelle zumindest auf die eigenen Leute. ({3}) Vor einigen Wochen mussten Sie feststellen, dass aus der Wagenburg wieder ein Wagen herausgebrochen wurde, nämlich der nordrhein-westfälische Wagen. Statt die Wagenburg zu öffnen, wurde sie noch kleiner zusammengefasst. Jetzt hat man sich entschieden: Wir umgehen die verlorene Bundesratsmehrheit, obwohl es einen Brief der Ministerpräsidenten Koch und Oettinger gibt, in dem steht, dass dies verfassungsrechtlich nicht möglich ist, obwohl das Umweltministerium ein Gutachten des bisherigen Verfassungsgerichtspräsidenten Papier in die Hand bekommen hat, in dem steht, dass das nicht geht, obwohl BMI und BMJ als Verfassungsressorts - sie haben sie geradezu gezwungen, Ihnen eine Stellungnahme zu liefern, in der steht, dass man ohne Bundesratszustimmung verlängern kann - zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Entscheidung mit einem nicht unerheblichen verfassungsrechtlichen Risiko verbunden wäre. Das heißt, Sie wollen bewusst die Verfassung brechen, um dann auf Zeit zu spielen. Sie hoffen, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes nicht sofort fällt, sondern erst nach einigen Jahren. Ich sage Ihnen: Wir bekämpfen das politisch, wir engagieren uns in der Zivilgesellschaft, die dagegen aufsteht, wir werden dagegen klagen, und wir werden eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes beantragen. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen. ({4}) Herr Kauch, ich bin insbesondere verwundert, wie die FDP im Widerspruch zu den eigenen Werten steht. ({5}) Warum schützen Sie einen Verfassungsbruch? Sie waren einmal eine Rechtsstaatspartei. Warum schützen Sie die zentrale Energieerzeugung, anstatt den Bürgerinnen und Bürgern Freiheit mit dezentraler Energieerzeugung zurückzugeben? Warum schützen Sie Monopole, statt den Wettbewerb zu fördern? Hören Sie denen zu, die Sie warnen! Die hohen Preise kann man ablesen. Ich habe mir die Werte noch einmal besorgt. Allein die Gewinne der beiden größten Energiekonzerne betragen über 16 Milliarden im Jahr. ({6}) Das sind mehr als 200 Euro pro Bürgerin und Bürger. Die beiden zusammen haben wohl mehr verdient als alle anderen börsennotierten deutschen Unternehmen gemeinsam. Das ist die Größenordnung, in der diese Mo4860 nopole, deren Kraftwerke Sie jetzt über den bisherigen gesetzlichen Rahmen hinaus verlängern wollen, übermäßige Preise von den Privathaushalten und unserer Wirtschaft - zulasten der Wettbewerber und zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher - verlangen. Ich hoffe, dass Sie mit dem Atomausstieg endlich Ihren Frieden machen. Irgendwann muss man einsehen, dass die Wagenburg so klein geworden ist, dass man nicht mehr lange durchhalten kann. Jeder Tag, den Sie in der Wagenburg verbringen, ist nicht nur ein parteitaktisches Problem für Schwarz-Gelb, sondern auch ein Problem für Deutschland; denn solange Sie auf dieser Bremse stehen, wird nicht investiert. Selbst die Großen wie RWE stellen andere Investitionen zurück. Die Stadtwerke schreiben Ihnen doch: Wir investieren nicht, bevor wir wissen, wie das Umfeld ist, und wir werden nicht investieren, wenn Sie die Atomkraftwerkslaufzeiten verlängern. - Andere Länder investieren jetzt in diese Zukunftstechnologien und beginnen, uns zu überholen. Aber Sie stehen in Sachen Technologieentwicklung auf der Bremse und sorgen so dafür, dass Deutschland seine Technologieführerschaft verliert. Das erkennen immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft. ({7}) Ich will Ihnen ein letztes Beispiel nennen. Auf meine Initiative hin wurde in den Bonner Stadtrat der Antrag eingebracht, die Abgeordneten der Region aufzufordern, wegen der Verluste für die Städte nicht für eine Laufzeitverlängerung zu stimmen; zu den Abgeordneten in der Region gehören neben mir unter anderem Norbert Röttgen und Guido Westerwelle. ({8}) Über diesen Antrag wurde mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linkspartei und CDU Beschluss gefasst. Das heißt, Sie werden Post von Ihren eigenen Leuten bekommen und aufgefordert, diesen Unsinn zu lassen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die Unionsfraktion. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kelber, ich rate Ihnen, etwas weniger Bonanza zu schauen und vielleicht einmal die Realität anzuerkennen. ({0}) Wenn Sie heute Mittag wirklich ernsthaft die Frage aufwerfen wollen, woran es liegt, dass wir in Deutschland weniger in die Energiewirtschaft investieren als notwendig wäre, dann rate ich Ihnen: Fragen Sie Herrn Trittin, warum er in NRW gegen eine der modernsten KWK-Anlagen in Europa eintritt und sagt, Datteln muss gestoppt werden. Fragen Sie 50Hertz, einen der Übertragungsnetzbetreiber in den neuen Ländern, warum das Unternehmen beim dringend notwendigen Leitungsausbau in Thüringen nicht vorankommt. ({1}) Fragen Sie RWE und EnBW, warum sie es nicht schaffen, im Schwarzwald ein großes Projekt, das notwendig ist, um die erneuerbaren Energien auszubauen, nämlich das Schluchseeprojekt, das Pumpspeicherkraftwerk, voranzubringen. Es sind überall rot-grüne Allianzen, die gegen diese Investitionen stimmen. Überall versuchen Sie, diese Investitionen zu verhindern. Das ist das Problem, das wir in unserem Land haben. ({2}) Sie haben die Frage gestellt: Brauchen wir die Laufzeitverlängerung? Ich möchte ganz kurz grundsätzlich auf diesen Punkt eingehen. Meine Damen und Herren, das ist mir sehr ernst: Wir sind seit zwei Jahren in der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise in der jüngsten Geschichte unseres Landes. ({3}) Diese Finanz- und Wirtschaftskrise hat einen Ursprung. Im Kern ist sie eine Verschuldungskrise. ({4}) - Ein Hauptbestandteil der Finanzkrise ist die Verschuldungskrise. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass weltweit ein Großteil unseres Wachstums und unseres Wohlstands in den letzten Jahren auf Schulden basierte. Die große Herausforderung der nächsten drei bis fünf Jahre wird sein, unsere Wachstums- und Wohlstandsimpulse aus anderen Motoren zu bekommen. Hier wird unter anderem die Energiepolitik ein ganz zentraler Bestandteil sein. Ein wesentlicher Punkt wird sein, dass wir die erneuerbaren Energien ressourcenschonend und effizient ausbauen ({5}) und dass wir zu einer klimafreundlichen Energiepolitik übergehen. Aber das schaffen wir nicht so schnell, wie wir es bräuchten. ({6}) Die Kernfrage bei der Laufzeitverlängerung ist, ob wir es schaffen, die Kernenergie bis 2022, wie Rot-Grün beschlossen hat, durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Wir werden das bis 2022 nicht schaffen, weil wir enorme Herausforderungen zu bewältigen haben; das müssen auch Sie einmal anerkennen. Wir müssen das Netz ausbauen, und wir müssen Speichertechnologien aufbauen; sonst werden wir die erneuerbaren Energien gar nicht ins Netz integrieren können. Das sind die Themen, die wir angehen müssen. ({7}) Wir müssen uns jetzt die Frage stellen, wie lange wir dafür brauchen, auch unter Berücksichtigung des Zieldreiecks, dass wir auch zukünftig saubere, günstige und sichere Energie bereitstellen. Unter diesen Prämissen müssen wir schauen, wie wir bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Kernenergie durch die erneuerbaren Energien ersetzen, diese Brücke gestalten können. ({8}) Über diese Frage werden wir in den nächsten Wochen diskutieren. Es geht nicht um Zahlenspielereien, ob das also noch 4, 8, 12 oder 16 Jahre dauert, sondern wir werden diese Frage in den nächsten Monaten fundiert und sachgerecht beantworten. ({9}) Es wird dann auch darum gehen, wie wir die Bundesländer einbeziehen und wie wir vielleicht auch mehr Gewinne abschöpfen können, um in erneuerbare Energien und auch in Netze zu investieren, und es wird auch um die Sicherheit gehen. Über all diese Fragen werden wir in den nächsten Wochen zielgerichtet diskutieren, und wir werden sie beantworten, um relativ schnell zu einer Entscheidung darüber zu kommen, wie lange wir die Kernenergie noch brauchen. Im Herbst werden wir uns dann mit den wirklich wichtigen Themen beschäftigen, nämlich mit der Frage, wie wir es schaffen, die Herausforderungen, die ich eben beschrieben habe - Netzausbau, Speichertechnologien, Gestaltung des Mix aus erneuerbaren Energien -, zu bewältigen. Diese Frage, über die wir hoffentlich sachgerecht mit Ihnen diskutieren können, werden wir in den nächsten Monaten beantworten. Insofern freue ich mich auf die Diskussion über den zukünftigen Energiemix. Ich glaube, die Kernenergie wird und muss dabei eine wichtige Rolle spielen, auch über die nächsten zehn Jahre hinaus. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Bareiß, ich fürchte ja fast, dass Sie das, was Sie hier erzählen, wirklich selber glauben. ({0}) Ich frage mich dann allerdings, wieso sich die Bundesregierung einen Sachverständigenrat für Umweltfragen leistet, ({1}) der vor wenigen Wochen ein umfangreiches Gutachten vorgelegt hat, wenn Sie noch nicht einmal dort hineinschauen, geschweige denn einmal darüber nachdenken. Dieser Sachverständigenrat legt dezidiert klar, dass eine Laufzeitverlängerung nicht notwendig, sondern kontraproduktiv ist, und zwar sowohl ökologisch als auch ökonomisch. Dieser Sachverständigenrat bestätigt das, wofür die Mehrheit der Bevölkerung längst ist und was sie fordert, nämlich den schnellstmöglichen Atomausstieg. Dieser ist sehr wohl unter Beibehaltung der Energiesicherheit und unter Gewährung einer sicheren Versorgung zu machen. ({2}) Wir haben nicht das Problem, dass die Grundlast nicht erreicht werden könnte, wir haben vielmehr das Problem, dass Sie immer noch in Richtung der Grundlast denken und glauben, die Atomkraft sei bei dem Umfang, den die erneuerbaren Energien inzwischen angenommen haben, mit ihnen zu kombinieren. ({3}) Die Realität ist doch, dass Windanlagen und andere Anlagen für erneuerbare Energien inzwischen häufig abgeschaltet werden, weil zu viel Strom vorhanden ist. Atomkraftwerke sind dagegen - wir alle wissen das - nicht so schnell und leicht regelbar. ({4}) Folglich besteht hier ein Systemkonflikt zwischen den Anlagen für erneuerbare Energien und den Grundlastkraftwerken, die Sie weiterlaufen lassen wollen. Ich komme noch einmal zu dem Märchen, Atomstrom sei so billig. Natürlich ist die Erzeugung von Atomstrom in alten, abgeschriebenen Kraftwerken, bei denen man darauf verzichtet hat, sie auf die neuesten Sicherheitsstandards nachzurüsten, billig. Sie vergessen daneben immer wieder, dass der Steuerzahler seit Jahrzehnten Abermilliarden Euro für diese Hochrisikotechnologie gezahlt hat. 175 Milliarden Euro an Subventionen sind in den letzten Jahren für die Atomenergie geflossen. Das sind über 2 000 Euro je Bürger, vom Baby bis zum Greis. Hierbei ist zum Beispiel das, was uns das Desaster der Asse kosten wird, noch gar nicht eingerechnet. Das ist also überhaupt nicht billig für die Bürgerinnen und Bürger, von den Unsicherheiten und Gefahren einmal ganz zu schweigen. ({5}) In den 17 Reaktoren sind in den letzten Jahren im Schnitt 140 meldepflichtige Ereignisse und Störfälle aufgetreten. Je älter ein Reaktor ist, desto mehr Risiken gibt es; das ist nachgewiesen. Bei einer Laufzeit von über 20 Jahren steigt die Kurve exponentiell. Es wird auch immer wieder das Märchen erzählt, wir bräuchten die Atomkraft, weil wir CO2 sparen und angesichts des Klimawandels dort aktiv werden müssten. Wenn man die Gesamtbilanz berücksichtigt und die Gewinnung und den Transport der benötigten Rohstoffe mit einbezieht, dann hat ein Atomkraftwerk eine schlechtere CO2-Bilanz als jedes fossile Erdgas-Blockheizkraftwerk. ({6}) - Nein, das sind ganz normale Grundrechenarten. ({7}) Ich werde Sie an dieser Stelle nicht noch einmal auf die Gefahrenpotenziale im laufenden Betrieb hinweisen. Ich werde auch nicht über die Gefahren der Endlagerung sprechen, auch wenn wir das immer wieder ausgiebig tun müssen. Aber jede Bürgerin und jeder Bürger weiß genau, mit welchen Gefahren die Endlagerung verbunden ist. Es zeigt sich tagtäglich im Asse-Untersuchungsausschuss, welche Desaster mit ungewissem Ausgang und vor allem mit ungewissen Kosten dadurch verursacht werden. Eine Laufzeitverlängerung ist nicht nur ökologisch Schwachsinn, sondern auch ökonomisch. Sie behindert den Ausbau erneuerbarer Energien und ist eine Rolle rückwärts. Sie können gerne Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung machen. Das machen Sie in vielen Bereichen. Aber ich prophezeie Ihnen, das wird Ihnen nicht besonders gut bekommen. Das, was wir in den letzten Wochen und Monaten in Berlin oder mit der Menschenkette erlebt haben, war nur ein sanfter Auftakt. Das können wir gerne weiterführen, und das werden die Menschen auch weiterführen; denn sie lassen sich nicht für dumm verkaufen. ({8}) Von daher unterstützen wir den SPD-Antrag. Wir hätten ihn gerne im Ausschuss noch etwas ausführlicher beraten, aber es ist auch in Ordnung, wenn Sie ihn heute zur Abstimmung stellen wollen. Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass auch die Kolleginnen und Kollegen der Union und der FDP noch dazulernen. Von daher wäre die Debatte hilfreich gewesen. Zumindest zum Thema Biosprit als Ersatz für fossile Brennstoffe hätten wir noch Diskussionsbedarf. Dennoch werden wir zustimmen. ({9}) Lassen Sie mich aber noch eine Bemerkung machen. Sosehr ich Ihre Forderung unterstütze, die Gewinne der AKW-Betreiber abzuschöpfen, müssen Sie doch die Frage erlauben, warum das nicht schon in den elf Jahren Ihrer Regierungszeit passiert ist. Ich danke. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Koalition will den Weg in das regenerative Zeitalter gehen, ({0}) und wir werden diesen Weg auch gehen. Ich glaube, dass es möglich ist, bis zum Jahr 2050 tatsächlich zu einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien zu kommen. Aber: Bis 2050 ist es noch 40 Jahre hin. Wir müssen uns überlegen, wie wir in der Zwischenzeit die Energieversorgung sichern können. Darauf gibt die Opposition keine Antwort, und wenn ein Vorschlag kommt wie von den Grünen, dann der, als Puffer noch ein paar Gaskraftwerke zu bauen. Damit machen wir uns weiter von Russland abhängig. Das ist keine verantwortbare Energiepolitik. ({1}) Auch die SPD sollte sich zurückhalten. Sie haben es in elf Jahren Regierungszeit nicht geschafft, ein Energiekonzept vorzulegen, ({2}) und jetzt wollen Sie uns sozusagen in der Endphase des Erstellens unserer Energiekonzeption Vorgaben machen, wie wir das Energiekonzept ausgestalten und rechnen lassen sollen. Wir als Koalition haben den Auftrag gegeben, verschiedene Varianten, beispielsweise mit mehr oder weniger Atomenergie, berechnen zu lassen. ({3}) Dann werden wir sehen, was das für die Versorgungssicherheit bedeutet und welche Kosten für die Bürgerinnen und Bürger entstehen. ({4}) Uns geht es darum, einen Weg in das regenerative Zeitalter zu finden, durch den wir die Bürgerinnen und Bürger mit sicherer und bezahlbarer Energie versorgen und dabei die Klimaschutzziele erfüllen. Das wird dieses Energieprogramm leisten. ({5}) Meine Damen und Herren von der SPD, wir brauchen keine Nachhilfe zur Verfassungsmäßigkeit. Unsere Justizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, steht für die Verfassung. Sie wird dafür sorgen, dass es in dieser Frage eine verfassungsfeste Lösung geben wird, Herr Kelber. ({6}) Die Regierungsentscheidung, auf welchem Wege und ob eine Lösung mit oder ohne Zustimmung des Bundesrates herbeigeführt wird, ist noch nicht gefallen. Das Gutachten zeigt auf, dass eine maßvolle Laufzeitverlängerung eine Möglichkeit ist. ({7}) Es ist die Frage, was eine maßvolle Erhöhung der Laufzeiten ist. Die Bundesjustizministerin wird dafür sorgen, dass dieses Gesetz verfassungsfest sein wird. Im Gegensatz zu Ihnen werden wir nicht ein Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht in Kauf nehmen. ({8}) Bei der Pendlerpauschale, bei den Hartz-IV-Sätzen für Kinder und als Sie Passagierflugzeuge abschießen lassen wollten, haben Sie die Verfassung gebrochen. Das hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen bescheinigt. ({9}) Wir raten der Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen frühzeitig in die Entscheidung zur Laufzeitverlängerung einzubeziehen. Es geht um die Dauer der Laufzeitverlängerung sowie zusätzliche Sicherheitsanforderungen. Genauso deutlich, wie Herr Bareiß es getan hat, sage ich: Die Brennelementesteuer leistet einen Beitrag zur Sanierung des Haushalts. Das ist die Begründung, mit der sie im Kabinett beschlossen wurde. Sie kann allerdings nicht das letzte Wort zur Abschöpfung der Gewinne sein. Wir stehen dazu, dass die erneuerbaren Energien Mittel aus diesem Bereich bekommen müssen. All diese Fragen müssen im Zusammenhang mit dem Energiekonzept entschieden werden. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Laufzeitverlängerungen sind schlecht für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung, für die Entwicklung fairer Wettbewerbsbedingungen, für die Dezentralisierung der Stromversorgung und für die Sicherheit vor Atomunfällen und Störfällen, deren Risiko mit dem Alter der Atomanlagen steigt. Gut sind sie für die Taschen der Konzerne. Vielleicht sind sie auch gut für das Klima innerhalb der Koalition oder zumindest der Union. Schlecht sind sie für das Klima im eigentlichen Wortsinn, weil sie den Umbau zu einer nachhaltigen, effizienten Energieversorgung aufhalten. ({0}) Herr Kauch, vom Ziel her denken ist die Maßgabe, die nicht nur die Bundeskanzlerin immer vorgibt, sondern die uns auch alle Wissenschaftler vorgeben, wenn es um Energie und Klimaschutz geht. Das bedeutet, eben keine falschen Wege einzuschlagen. Das hat uns das letzte Gutachten des SRU noch einmal eindringlich vor Augen geführt. Ich war immer der Meinung, der Kalte Krieg sei vorüber. Wer von uns hat eigentlich jahrzehntelang geschlafen? Deshalb erscheint mir die immer wieder beschworene Abhängigkeit von Russland als deutlich weniger gespenstisch als die Abhängigkeit von einer Risikotechnologie und die unendliche Vermehrung des Atommülls bei einer völlig ungelösten Endlagerungsfrage. ({1}) - Uran kommt übrigens - völlig richtig; danke schön, mein Fraktionsvorsitzender - zum großen Teil auch aus Russland. ({2}) - Habe ich einen Fehler gemacht? ({3}) Die Redezeit ist knapp. - Zum Thema: Wir haben heute bereits 5 800 Tonnen hochradioaktiven Atommüll. 4 800 Tonnen werden bis zum Ende des Atomausstiegs dazukommen. Die bis zum Ende des Atomausstiegs prognostizierte Menge werden Sie bei einer Laufzeitverlänge4864 rung um 28 Jahre, die immer noch als Wunsch bei Ihnen herumgeistert, verdoppeln, und das bei einer ungelösten Frage der Endlagerung und einer dadurch provozierten ungelösten Frage der Zwischenlagerung. Denn die Zwischenlagerkapazitäten reichen schon bei einer Laufzeitverlängerung um zehn Jahre nicht aus; das müssten Sie eigentlich wissen. Nach der Vermehrung des Atommülls will ich noch zur Vermehrung der Konzerngewinne kommen. Auch das ist nicht ganz unwichtig. ({4}) Die Landesbank Baden-Württemberg - die BadenWürttemberger sind immer sehr interessiert am Rechnen; ich komme auch aus Baden-Württemberg - hat ausgerechnet, dass bei einer Laufzeitverlängerung um 10 Jahre 76 Milliarden Euro zusätzliche Gewinne bei den Konzernen anfallen. Bei 25 Jahren sind es 201 Milliarden Euro zusätzliche Gewinne. Sie haben sich überlegt, wie Sie einen Teil davon bekommen können; das haben Sie bereits im Koalitionsvertrag so festgelegt. Die Landesbank Baden-Württemberg hat das übrigens deshalb ausrechnen lassen, weil sie ihren Kunden empfehlen möchte, Aktien von EVU zu erwerben, weil bei Laufzeitverlängerungen hohe Renditen zu erwarten sind. Sie rechnen also völlig richtig. Es gibt Geld, und die entscheidende Frage lautet: Wie kommt man daran? Nun ist Ihnen die Brennelementesteuer eingefallen. Diese wurde schon von anderen ins Spiel gebracht, wenn auch aus anderen Gründen. Inzwischen gibt es wunderbare neue Entwicklungen. Das Handelsblatt berichtet heute - ich zitiere -: Im Kampf gegen die geplante Brennelementesteuer sehen sich die Kernkraftwerksbetreiber gut gerüstet. Sie verweisen auf die Atomausstiegsvereinbarung, die die rot-grüne Bundesregierung im Juni 2000 mit den Unternehmen geschlossen hat. ({5}) Aus ihrer Sicht schließt sie eine Besteuerung der Brennelemente aus. Branchenmanager sagten dem Handelsblatt, man werde notfalls gegen die Einführung der Steuer klagen. ({6}) Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Diejenigen, die seit der erhofften Übernahme der Bundesregierung durch Sie nichts anderes zu tun haben, als den Atomkonsens mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, zu brechen, berufen sich nun auf den Atomkonsens. Dazu kann ich nur sagen: Wunderbar! Welcome! Endlich erkannt, dass der Atomkonsens sein Gutes hat! Ich will Ihnen unsere Position zu einer Brennelementesteuer darlegen. Selbstverständlich haben Sie recht, wenn Sie behaupten, dass diese Steuer nicht in Zusammenhang mit einer Laufzeitverlängerung steht. ({7}) Wer käme auch auf eine solche Idee? Das steht ja nur im Koalitionsvertrag, der, wie wir wissen, in weiten Teilen nicht mehr gültig ist. Eine Brennelementesteuer ist sicherlich richtig und hat in der Tat nichts mit einer Laufzeitverlängerung zu tun. Eine solche Steuer dient dazu, die immensen volkswirtschaftlichen Gewinne, die die Atomkraftwerksbetreiber inzwischen angehäuft haben, abzuschöpfen. Das muss der Sinn einer Brennelementesteuer sein. ({8}) Frau Präsidentin, Herr Kauch meldet sich zu einer Zwischenfrage. Zu spät?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Richtig, zu spät. Beachten Sie bitte das Signal an Ihrem Rednerpult! Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann müssen Sie mich an anderer Stelle fragen, Herr Kauch. Ich werde Ihnen gerne antworten. Ich hoffe, dass Sie alle Warnungen, die Sie sowohl von Ihren eigenen Gutachtern als auch aus allen anderen Kreisen bekommen, ernst nehmen, dass Sie realisieren, dass niemand in der Bevölkerung - außer Ihren Konzernfreunden - eine Laufzeitverlängerung will, und dass Sie endlich richtig reagieren. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kauch das Wort.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben gesagt, dass im Koalitionsvertrag die Einführung einer Brennelementesteuer zur Abschöpfung der Gewinne vorgesehen sei. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass diese Aussage falsch ist. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Gewinne bei einer Laufzeitverlängerung abschöpfen wollen. Unabhängig von dieser Frage hat das Kabinett die Einführung einer Brennelementesteuer im Zusammenhang mit dem Sparpaket beschlossen. Ich möchte Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Grünen in sieben Jahren Regierungszeit die anfallenden Gewinne der Atomwirtschaft - um in Ihrem Sprachduktus zu bleiben - nicht mit einer Brennelementesteuer abgeschöpft haben. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass beispielsweise die Kosten der Asse-Sanierung von den Kernkraftwerksbetreibern mitzutragen sind. Genau das ist unter anderem die Begründung für die Brennelementesteuer, die das Kabinett beschlossen hat. Es sind deshalb nicht unsere „Freunde in den Konzernen“. Vielmehr haben Sie - die SPD elf Jahre und die Grünen sieben Jahre - deren Gewinne geschützt; denn Sie haben diese Gewinne zum Beispiel dadurch produziert, dass man im Emissionshandel erst sehr spät zu Versteigerungen übergegangen ist und dass dann Emissionsrechte dort eingepreist wurden, wo es - beispielsweise für die Kernkraftwerke - gar keine einzupreisen gab. ({0}) Es ist diese Koalition - und nicht die jetzigen Oppositionsfraktionen -, die an die Zusatzgewinne der Unternehmen herangeht, die diese auf Kosten der Stromverbraucherinnen und -verbraucher erzielt haben. ({1})

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kauch, die Vorgaben der EU kennen Sie als erklärter Europäer sicherlich mindestens genauso gut wie ich; diese muss ich also jetzt nicht erklären. Natürlich ist in Ihrem Koalitionsvertrag nicht von einer Brennelementesteuer die Rede. Ihr Denken war damals weit entfernt von einem solchen Begriff. Aber Sie haben gesagt: Die Zusatzgewinne sollen abgeschöpft werden. Richtig! Abgeschöpft werden sollen diejenigen Gewinne, die durch die Laufzeitverlängerung zusätzlich erzielt werden. Selbstverständlich hat Rot-Grün keine „Zusatzgewinne“ abgeschöpft; schließlich war von einer Laufzeitverlängerung überhaupt nicht die Rede. Ich darf daran erinnern: Wir wollten die Laufzeiten nicht verlängern. Wir wollen das auch heute nicht, und wir werden gemeinsam in diesem Haus gegen eine Laufzeitverlängerung eintreten. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, dass Sie mit Ihrer Absicht, die Laufzeiten zu verlängern, nicht durchkommen. ({0}) Die Notwendigkeit der Einführung einer Brennelementesteuer ergibt sich für mich daraus - ich sage es Ihnen noch einmal -, dass die Atomwirtschaft auch in den letzten zehn Jahren bis heute - Stichworte: Morsleben, Asse, Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe; es gab auch andere enorme Kostensteigerungen - immense Schulden bei der Bevölkerung aufgehäuft hat. Damit diese Schulden nicht von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, sondern von den eigentlichen Verursachern getilgt werden, wollen wir die Brennelementesteuer. Sie haben richtig benannt: Es geht darum, die Privilegien der Atomwirtschaft und ihre durch den CO2-Emissionshandel erzielten ungerechtfertigten Gewinne abzuschöpfen. ({1}) Das hat aber überhaupt nichts mit den Laufzeitverlängerungen zu tun. Dass Sie gestern auf die Idee kamen, jeglichen Zusammenhang zu bestreiten, das mag Ihnen glauben, wer will. Ich tue es, mit Verlaub, Herr Kauch, nicht. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Franz Obermeier das Wort. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen uns darauf einstellen, dass uns in der vor uns liegenden Zeit jede Woche irgendein Antrag aus der rotgrünen Ecke vorgelegt wird, der sich mit dem Thema Laufzeitverlängerung auseinandersetzt. ({0}) Die gesamte Debatte, auch die erste Halbzeit dieser Aussprache, wird mit wenig faktenreichen und nur mit ideologischen, nicht sachgerechten Argumenten geführt. ({1}) Ich möchte Beweise dafür liefern, dass die SPD im Prinzip völlig unfähig ist, die Probleme unseres Landes in der Stromversorgung von der Priorität her richtig einzuordnen. Wenn wir gemeinsam das Ziel verfolgen wollen, in den nächsten Jahren die erneuerbaren Energien vernünftig voranzubringen, dann wäre es wesentlich spannender, darüber zu debattieren, wie wir die Probleme in unserem Land, die sich aus dem Zusammenwirken der erneuerbaren Energien insgesamt ergeben, lösen. Wir alle miteinander haben in den zurückliegenden Jahren den Fehler gemacht, dass wir die Volatilität wesentlicher Formen der erneuerbaren Stromerzeugung viel zu wenig gewürdigt haben. ({2}) Jetzt haben wir das Problem, dass wir bei der Forschung und bei den Methoden hinsichtlich moderner und effizienter Speichertechnologien weit hintenanstehen und dass wir Jahre brauchen, um unsere Probleme so zu lösen, dass wir die erneuerbaren Energien in ihrer Volatilität an die Grundlast heranführen können. ({3}) Das einzig Sinnvolle im SPD-Antrag ist die Behandlung der Frage - sie wurde im Übrigen bis jetzt noch gar nicht diskutiert; schließlich ist sie für Sie als Linke unbedeutend -, ({4}) wie wir im Falle einer Laufzeitverlängerung Wettbewerbsverzerrungen für die anderen Betreiber im Hinblick auf Mittel- und Grundlast vermeiden können. ({5}) Jetzt komme ich darauf zu sprechen, dass wir mit den Atomstromerzeugern darüber verhandeln müssen, wie wir die sich aus einer Laufzeitverlängerung ergebenden Vorteile so nutzen können, dass auf der einen Seite keine Nachteile für die sonstigen Produzenten entstehen und dass auf der anderen Seite eine vernünftige und zu rechtfertigende Abschöpfung des zusätzlichen Gewinns erfolgt, ohne dass es zu erhöhten Strompreisen kommt. ({6}) Liebe Koleginnen und Kollegen, der von SPD und Grünen immer wieder erhobene Vorwurf, dass wir der Stromwirtschaft mit der Laufzeitverlängerung den Zugang zu den erneuerbaren Energien erschweren, geht völlig an der Sache vorbei. ({7}) Wir haben die erneuerbaren Energien bis zum heutigen Tag nicht dem Markt und Wettbewerb ausgesetzt. Sie sind Markt und Wettbewerb nicht unterworfen. Wir haben per Gesetz die Preise festgelegt, und wir haben per Gesetz festgelegt, dass es einen Einspeisezwang für erneuerbare Energien gibt. Wer hier mit Blick auf herkömmliche Stromerzeugungsarten von Wettbewerbsverzerrung spricht, betreibt pure Volksverdummung. ({8}) Die Leute müssen wissen: Auch die christlich-liberale Regierung will es dabei belassen, dass die Stromerzeugungsformen auf der Basis erneuerbarer Energien den Vorzug des Einspeisevorrangs behalten, bis wir sie an die Marktfähigkeit herangeführt haben. ({9}) Jetzt reden wir noch über die Preisgestaltung. Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien wird auch dazu führen - darüber müssen wir alle uns im Klaren sein -, dass der Preisaufschlag auf den Strom durch die erneuerbaren Energien, der bis jetzt einigermaßen marginal war, für die kleinen Haushalte eher zu vernachlässigen war, in den nächsten Jahren in eine Größenordnung kommt, die wir beachten müssen, insbesondere für die mittelständische Wirtschaft. Ich habe das einmal ein bisschen nachgerechnet. Wir werden im laufenden Jahr beim Aufschlag in die Größenordnung von 2 Cent für die Kilowattstunde kommen. Im Laufe der nächsten paar Jahre wird es zu einem Aufschlag von 3 Cent kommen. ({10}) Das ist der Zuschlag, zu dem es kommen wird, wenn wir den Ausbau wie geplant weiterbetreiben. Jetzt bitte ich Sie, zu bedenken, dass das für unsere mittelständische Wirtschaft, die auch Strom verbraucht - da gibt es Branchen, die viel Strom verbrauchen -, zu einer Größenordnung wird, die uns zu Reaktionen veranlassen könnte; ich bin da noch recht vorsichtig. Es wird eine relevante Größe werden, und dann müssen wir uns überlegen, wie wir Wettbewerbsnachteile, beispielsweise in der Nahrungsmittelindustrie, ausgleichen können. Ich rate uns allen, dass wir die Diskussion über die Frage, wie wir die Stromwirtschaft gesetzlich begleiten, sachlicher führen als in den zurückliegenden Wochen und Monaten und dass wir alles im Auge haben, auch die berechtigten Sorgen der Kernkraftgegner; denn das ist geboten und angezeigt. Wir von der christlich-liberalen Koalition jedenfalls werden alles tun, dass wir diese Diskussion auf sachlicher Ebene führen können. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marco Bülow für die SPDFraktion. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Die Laufzeitverlängerung als Brücke ins Solarzeitalter“, so titeln Sie. Aber die Brücke ist eine Krücke, nämlich eine Krücke, um die alte Atompolitik noch irgendwie zu rechtfertigen, ihr irgendeinen modernen Touch zu geben, um an ihr festhalten zu können. Das ist es: keine Brücke, sondern eindeutig eine Krücke. ({0}) Genau diese Krücke sollten wir uns einmal anschauen. Es wird ja immer gesagt: Wenn die Atomkraftwerke jetzt nacheinander abgeschaltet werden müssen, gehen bei uns die Lichter aus. Es wird von der sogenannten Stromlücke gesprochen. Schauen wir uns doch einmal an, wie viel Strom die AKWs überhaupt produzieren! Die sieben ältesten AKWs haben in den letzten vier Jahren zusammen 6,9 Prozent unseres Stroms produziert; im Jahr 2007 waren es sogar nur 4,8 Prozent, weil eine Vielzahl der Atomreaktoren gar nicht in Betrieb war, weil AKWs wegen Pannen abgeschaltet worden waren. Sie tragen also nicht zu einer sicheren Versorgung bei, sondern bringen nur 4,8 Prozent. Das ist exakt die Menge an Strom, die wir schon heute, ohne den Zubau von erneuerbaren Energien, ohne weitere Effizienzgewinne, exportieren. Diese Atomkraftwerke gehören endlich abgeschaltet! ({1}) In der Diskussion wird als zweites Argument angebracht: Die Erneuerbaren sind noch nicht so weit. Wir brauchen noch viel Zeit, damit die Erneuerbaren in den Markt integriert werden. - Herr Obermeier, Sie haben gerade dazu Stellung genommen. Ich frage mich nur, warum die CDU/CSU seit Jahren blockiert hat, dass die Markt- und Netzintegration eingeführt wird. Warum sind Sie überhaupt erst in den letzten Jahren auf den Zug aufgesprungen und haben gesagt: „Das EEG bzw. die Erneuerbaren sind der richtige Weg“? Wenn wir die Diskussion vor zehn Jahren geführt hätten, wären wir mit der Markt- und Netzintegration schon deutlich weiter. ({2}) Wir als SPD-Fraktion sprechen nicht nur über den Ersatz durch Erneuerbare, sondern auch darüber, dass wir die Effizienz steigern müssen. In Bezug auf Effizienz haben wir vier Jahre mit Ihren Wirtschaftsministern - es waren zwei - gerungen, dass überhaupt einmal ein Effizienzgesetz auf den Tisch gelegt wurde, das diesen Namen überhaupt verdient. Es gab da kein bisschen Effizienz. In Ihrem neuen Koalitionsvertrag ist das Wort „KraftWärme-Kopplung“ noch nicht einmal enthalten. Auch das ist ein Symptom, das deutlich macht, dass wir die Lücke füllen können, die durch fehlende Atomkraftwerke entstehen würde. Das wird sehr, sehr schnell gehen. Man muss nur die richtigen Maßstäbe setzen. ({3}) Als ich anfing, mich mit den Erneuerbaren zu beschäftigen - daran kann ich mich gut erinnern, ich war damals noch nicht im Bundestag -, hatte ich eine Diskussion mit einem Landtagsabgeordneten der FDP, einem Vertreter der großen Stromkonzerne sowie einem Kommunalpolitiker der CDU. Die waren alle 20 oder 30 Jahre älter als ich. Sie haben mich ausgelacht, als ich sagte, man könne mit den Erneuerbaren die Strommenge in einigen Jahren verdoppeln und ihren Anteil deutlich über 10 Prozent bringen. Sie alle haben mir mit der Weisheit ihres Alters erklärt: Das wird niemals gelingen, technisch ist es überhaupt nicht möglich, die Erneuerbaren über 10 Prozent zu bringen. Heute haben wir einen Anteil von über 16 Prozent. Mittlerweile lacht niemand mehr darüber. Jetzt versuchen Sie, neue Ausreden zu finden, warum wir die Atomenergie noch brauchen und Erneuerbare auf die lange Bank schieben sollten. Das ist die Realität. Außerdem manifestiert und festigt das Weiterlaufen der Atomkraftwerke - Herr Kelber hat das schon angesprochen die Monopolstruktur. Gerade der Städtetag bzw. viele Kommunen und kommunale Versorger regen sich darüber auf, dass die Atomkraftwerkslaufzeit verlängert werden soll. Sie wollten nämlich in kleinere, effizientere Kraftwerke bzw. in erneuerbare Energien investieren. Diese Investitionen werden jetzt nicht stattfinden. Und genau das verhindert den Ausbau der erneuerbaren Energien. Deswegen passt es nicht zusammen, zu sagen: Wir wollen die Laufzeitverlängerung, aber trotzdem die Erneuerbaren fördern. Beides geht nicht. ({4}) Es wäre wenigstens ehrlich, wenn Sie sagen würden: Das ist keine Brücke für uns, sondern für uns ist die Atomenergie die wichtigste Energiequelle. Dann könnten wir uns wenigstens auseinandersetzen. Sie tun immer so, als ob Sie irgendwie noch für Atomenergie sind, aber nur noch während einer Übergangszeit. In Wirklichkeit sind Sie weiter große Freunde der Atomenergie. Es liegt auf der Hand, warum. Denn jedes Atomkraftwerk, das abgeschrieben ist, bringt täglich 1 Million Euro. Bei 17 Atomkraftwerken bedeutet das über 6 Milliarden Euro Reingewinn im Jahr. Damit ist klar, warum Sie aufseiten der Lobby stehen und mit aller Macht versuchen, eine Verlängerung zu erreichen, obwohl der größte Teil der Bevölkerung dagegen ist. Dass Sie jetzt mit dem Pflaster Brennelementesteuer kommen - das ist unsere Idee, die Sie kopiert haben; wir wollten sie aber einführen, ohne dass die Laufzeiten verlängert werden -, wird im Endeffekt nicht viel ändern. Vor allen Dingen deshalb wird sich nicht viel ändern, weil Sie - das habe ich jetzt gehört, Herr Kauch - das Geld für den Haushalt benutzen und nicht für erneuerbare Energien einspeisen wollen. Insofern frage ich mich, wo das Geld herkommen soll, mit dem die Erneuerbaren gefördert werden sollen. Zum Schluss: Wir brauchen keine Krücke, sondern eine solide und starke Brücke ins Solarzeitalter. Dazu gehört, aus der Atomenergie auszusteigen, die fossilen Kraftwerke langsam zurückzufahren und vor allem die Erneuerbaren massiv auszubauen und die Energieeffizienz zu steigern. Das ist die Brücke, die wir brauchen, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Klaus Breil hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Heraufsteigen einer Leiter geht nur Stufe um Stufe, so sagt es ein Sprichwort. Sie hingegen wollen aus dem Stand auf die oberste Sprosse springen. Dieser Sprung wird - ebenso wie Ihre Forderungen - ins Leere gehen. Zu Ihrer Forderung 3 Prozent mehr Energieproduktivität pro Jahr von 1990 bis 2020. Schon 20 dieser 30 Jahre sind ohne große Erfolge vorbei. 11 Jahre davon hat die SPD regiert. Erreicht hat sie nur einen Bruchteil. Jetzt sollen wir in 10 Jahren alles richten. Ich danke für Ihr Vertrauen; denn Sie wissen, dass nur wir das geregelt bekommen. ({0}) Bis 2020 sollen 35 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Ihr früherer Umweltminister Gabriel hat immer 30 Prozent vorgegeben. Es ist ein typischer Oppositionsreflex: Bei den anderen darf es immer etwas mehr sein. So gehen Sie in Ihrem Antrag vor. Im Vergleich zu Ihren Meseberg-Beschlüssen aus der Regierungszeit wird immer etwas draufgesattelt. Das hört sich gut an, ist aber fern der Realität. Für Sie scheint Deutschland eine Insel, eingebettet in ein Meer der energetischen Glückseligkeit, zu sein. Sie meinen, Deutschland müsse bei dem bedingungslosen Ausstieg vorangehen, egal was der Rest der Welt macht. ({1}) Aus meiner Sicht ist das gefährlich. Historisch sind wir mit solchen Ansichten nie gut gefahren. Tatsachen scheinen Sie zudem völlig auszublenden: 129 Kernkraftwerke werden um Deutschland herum betrieben, 25 weitere sind im Bau. ({2}) Weltweit sind derzeit 438 Kernkraftwerke in Betrieb. In absehbarer Zeit werden es über 600 sein, ({3}) nur nicht in Deutschland, wenn es nach Ihnen ginge. Es mag klappen, bei der Energieerzeugung bis 2050 auf 100 Prozent erneuerbare Energien zu kommen. Aber wir brauchen verantwortbare Übergangsszenarien. Die Kernkraft ist eine CO2-freie und kostengünstige Brücke zu den erneuerbaren Energien in der Übergangszeit. ({4}) Um die Brückenfunktion zu erreichen, müssen aber einige Anforderungen erfüllt werden, um zu 100 Prozent erneuerbare Energien zu kommen. Sie verschweigen vor allem zwei Pferdefüße: Sie setzen ein funktionierendes und intelligentes Stromnetz voraus. Doch dies benötigt europaweit Investitionen von circa 1 000 Milliarden Dollar allein bis zum Jahr 2020, so die Zahlen der Internationalen Energie-Agentur. Deshalb brauchen wir ein klares Bekenntnis zu einem massiven Netzausbau, und dies sowohl qualitativ als auch quantitativ. ({5}) Sie ignorieren, dass die vorausgesetzten Speichermöglichkeiten für Strom bisher nur als Utopie existieren. Deshalb brauchen wir eine nationale Offensive für die Speicherforschung. ({6}) Denn der Sachverständigenrat für Umweltfragen, auf den Sie sich beziehen, rechnet sich einiges schön: Man könne in Deutschland unter Zuhilfenahme von Druckluftspeichern zu jeder Stunde des Jahres die Stromnachfrage decken, und das, ohne auch nur eine Kilowattstunde Strom zu importieren. Der Sachverständigenrat setzt dabei in seinen Darstellungen Druckluftspeicherkapazitäten von 32 bzw. 37 Gigawatt in Deutschland als gegeben voraus. Darstellbar ist das derzeit nicht, glaubwürdig noch weniger. Denn der einzige in Deutschland existierende Druckluftspeicher hat eine Leistung von 0,3 Gigawatt, also von gerade einmal 1 Prozent des geforderten Volumens. ({7}) - Hören Sie zu. - So schreibt das Gutachten wörtlich: Die bisher in Deutschland vorhandenen Druckluftspeicherkapazitäten sind damit im Vergleich zum erforderlichen Speicherbedarf in der Größenordnung von Terawattstunden praktisch unbedeutend. Wir hingegen erarbeiten ein Energiekonzept, das mehr ist als ein Wunschzettel zum Klimaschutz. Unser Konzept hat die ökonomischen Wirkungen verschiedener Handlungsoptionen fest im Blick und macht diese berechenbar. ({8}) Wir hängen Preisschilder an unsere politischen Ziele. Jeder soll wissen, was ihn erwartet. Deshalb beziehen wir Atomenergie in unsere Rechnungen mit ein. Das fordert die Verantwortung, das verlangt die Vernunft. ({9}) Vernunft ist im Übrigen ein Aspekt, der mir in dieser Diskussion bei Ihnen am meisten fehlt. Vernünftig wäre es von Ihnen, allen Bürgern zu sagen, was sie ein starres Festhalten am Atomausstieg kosten wird. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die Unionsfraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leisten uns in Deutschland immer noch eine völlig irrationale Technikfeindlichkeit, und Sie leisten sich immer noch eine Ignoranz der Realität, ({0}) und das in einem Industrieland, in dem Ingenieurswesen, Handwerkskunst, Technologieoffenheit und Innovationsfreude uns zu Wohlstand und Ansehen gebracht haben. ({1}) - Das können Sie nicht wissen; Sie sind Journalist, Herr Bülow. ({2}) Die Technikfeindlichkeit zieht sich durch alle Bereiche: Die Gentechnik, ob es die rote, grüne oder weiße ist, wird verteufelt. ({3}) Die ganz neue Nanotechnologie wird verteufelt. Gestern hatten wir die Debatte über ITER. Auch dieses Projekt wird verteufelt, ohne zu forschen, ohne zu überlegen, ({4}) ohne zu schauen, was es für uns bringen könnte. Die chemische Industrie wird verteufelt, die Automobilindustrie wird verteufelt ({5}) und letztendlich auch zum Beispiel der Transrapid. Wir sind nicht einmal in der Lage, ein paar Kilometer Transrapid-Strecke zu bauen, wollen diese Technologie aber in die Welt exportieren. ({6}) Das setzt sich fort bei der Energie. Sie sind gegen Kernenergie. ({7}) - Blasen Sie sich doch nicht so auf! - Sie sind gegen Kohleenergie. Teilweise sind Sie sogar gegen die Windenergie. Ihre Kollegen in der Uckermark, in meinem Wahlkreis, wo es sehr viel Windenergie gibt, haben Bürgerinitiativen gegen die Windkraftanlagen ins Leben gerufen, weil diese nicht so gut aussehen und nachts blinken. Was ist das denn? ({8}) Auch gegen die Solarenergie sind Sie; denn auch dadurch könnten ja „Tank oder Teller“-Diskussionen hervorgerufen werden. Sie sind gegen Biomasse, gegen CCS und gegen Netzausbau, wodurch letztendlich Windenergie in den Süden transportiert werden soll. ({9}) Wenn sich diese Verteufelung vor dem Hintergrund der jeweiligen Ideologie und ohne Sachverstand, gepaart mit Unwissenheit sowie Falsch- und Fehlinformationen so fortsetzt, ist das ein Zeichen von partikularem Egoismus. Das können wir uns in Deutschland nicht leisten. ({10}) Dieses Szenario findet sich überall: Man will die Produktion, aber nicht die Produkte. Im Falle der Energie ist es so, dass man die Energie will, aber nicht die Produktion. Sie wollen den Strom aus der Steckdose, sagen aber nicht, wie er dorthin gelangen soll. ({11}) Das ist der typische NIMBY-Effekt: Not in my back yard, nicht in meinem Hinterhof! Das weitet sich immer mehr aus. Setzt sich dieser Trend fort, werden wir in Deutschland weder industriepolitisch vorankommen noch unsere Klimaschutzziele erreichen. ({12}) Nun zu Ihrer Anfrage. Sie haben 38 Fragen gestellt. Ich fasse sie einmal zu einer Frage zusammen: Soll Deutschland Industrieland bleiben, ja oder nein? ({13}) Leisten wir uns eine Deindustrialisierung mit allen Konsequenzen im Wirtschaftsbereich, ({14}) dem Verlust von Arbeitsplätzen, Herr Trittin, weniger Wohlstand und - das dürfte auch Sie interessieren - weniger Umwelt- und Naturschutz in den Ländern, wo die Energie dann erbracht wird? Das wollen wir nicht. ({15}) Lassen Sie mich zum Kern der Anfrage kommen. Ich akzeptiere ja, wenn Sie in Bezug auf eine bestimmte Technologie besonders skeptisch sind. Ich akzeptiere aber nicht, wenn Sie die Notwendigkeit eines Energiemixes leugnen. Richtig ist: Wir wollen erneuerbare Energien. Aber in Ihrem Antrag steht, dass der Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2020 wahrscheinlich 35 Prozent beträgt. Jetzt müssen Sie mir einmal sagen, wie Sie die Stromlücke von 65 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre schließen wollen. Wollen Sie das mit russischem Erdgas erreichen? Russland verstromt dann mit seiner eigenen Kohle bei einem Wirkungsgrad der Kraftwerke von 34 Prozent; bei uns liegt der Wirkungsgrad bei 44 bis 47 Prozent. Das hätte mit Umwelt- und Klimaschutz nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({16}) Wollen Sie die Stromlücke mit polnischem Kohlestrom oder mit der Kernenergie aus Frankreich oder Tschechien schließen? Ich habe mir den Energiemix anders vorgestellt. Wir brauchen mindestens bis zum Jahre 2020 noch Alternativen. Denn wenn es beim Atomausstieg bliebe, dann würden wir nicht aus der Kernenergie aussteigen, sondern aus der Kernenergieerzeugung. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Wir kaufen fleißig weiter Strom aus Frankreich ({17}) und Polen ein. Das ist typisch für die „Käseglocke Deutschland“. Wir haben dann zwar keine Kernkraftwerke mehr, aber wir kaufen fleißig Kernenergie ein. ({18}) Ich will nicht, dass Energie zum Luxusgut wird, dass wir unsere Kraftwerke abschalten und dann die Auslastung veralteter, unsicherer Anlagen in den osteuropäischen Ländern erhöhen. Meine Bitte ist: Warten wir die Studie mit der Szenarienrechnung ab! Dann können wir realistisch über Restlaufzeiten sprechen. Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend einen ideologiefreien Energiemix, ({19}) und zwar im Zieldreieck, Herr Kelber, von Versorgungssicherheit, von Wettbewerbsfähigkeit und von Klimaschutz. Wenn wir dies beachten, dann sind wir erfolgreich. ({20}) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({21})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ott das Wort.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Koeppen, das war eine wirklich „fortschrittliche“ Rede, die Sie hier gehalten haben. Sie hätte vielleicht ins vorletzte Jahrhundert gepasst angesichts der Dinosauriertechnologien, die Sie uns hier als Hochtechnologie empfehlen. ({0}) Ich möchte Sie daran erinnern: Obwohl im Jahre 2008 mindestens vier bis zeitweise sieben Atomkraftwerke abgeschaltet waren, war Deutschland dennoch Stromexporteur. Unter anderem wurde Strom nach Frankreich exportiert. ({1}) Das heißt also, wir brauchen die Atomkraftwerke nicht. Im Gegenteil: Wir können es uns leisten, alle Atomkraftwerke bis 2020/21 abzuschalten. Wir kennen die Vorhersagen des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Sie waren bei der Präsentation im Umweltausschuss anwesend. Ich weiß nicht, was Sie da gemacht haben. Wahrscheinlich haben Sie die gesamte Zeit in irgendwelchen Unterlagen geblättert. Es gibt die Projektionen des Sachverständigenrates für Umweltfragen, und es gibt die Projektionen der Branche selber, die vorgerechnet hat, dass sie bis zum Jahr 2020 47 Prozent des deutschen Stromverbrauchs mit erneuerbaren Energien decken kann. Andere Vorhersagen gehen noch darüber hinaus. Ich bitte Sie also, sich das nächste Mal etwas besser zu informieren, bevor Sie hier solche Wahrheiten aus dem vorletzten Jahrhundert präsentieren. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Ott, ich habe die Projektionen im Umweltausschuss sehr wohl zur Kenntnis genommen und festgestellt, dass sie interessant sein können. Aber Sie kennen sicherlich das Märchen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. ({0}) Sie verhalten sich ähnlich wie Aschenbrödel. Sie nehmen eine Haselnuss, wünschen sich etwas, aber um Mitternacht sind Sie wieder verschwunden. ({1}) In zehn Jahren einen Anteil der erneuerbaren Energien in Höhe von 47 Prozent zu haben, wird nicht möglich sein. Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis: Selbst wenn wir das schaffen würden, was sollen wir dann im Hinblick auf die restlichen 50 Prozent machen? Es gäbe in zehn Jahren immer noch eine Stromlücke von 50 Prozent. Würden Sie einmal die Frage beantworten, wie Sie diese Lücke schließen wollen? ({2}) Wenn Sie diese Frage nicht beantworten, dann bleibt es bei meiner Einschätzung, dass Sie technikfeindlich und realitätsfern sind. So kommen wir industriepolitisch und klimapolitisch nicht weiter. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1980 mit dem Titel „Laufzeitverlängerung nicht mehr durchsetzbar - Energiekonzept neu justieren - Energiepolitische Bremse lösen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: RiesterFaktor streichen - Keine nachholenden Rentendämpfungen vornehmen - Drucksachen 17/1145, 17/1804 Berichterstattung: Abgeordneter Anton Schaaf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die Unionsfraktion. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland basiert auf einem sehr wichtigen Prinzip, nämlich auf dem Prinzip der Solidarität der Generationen untereinander. Deswegen sage ich mit großem Ernst: Wer diese Solidarität unter den Generationen zerstört, der zerstört auch das Rentenversicherungssystem. ({0}) Die Linken wollen mit ihrem Antrag, der heute beraten wird, ein Stück aus dem solidarischen System der Rentenversicherung herausreißen und damit Solidarität zerstören. Deswegen gibt es darauf von uns eine klare Antwort: Nein zur Entsolidarisierung im deutschen Rentenversicherungssystem. ({1}) Richtig ist, dass sich wegen der vor allen Dingen in rot-grüner Regierungszeit in das Rentensystem eingefügten sogenannten Dämpfungsfaktoren eine Erhöhung der durchschnittlichen Löhne nicht mehr in vollem Umfang auf die Erhöhung der Renten auswirkt. Das hat einen einzigen Grund: Die Rente muss für diejenigen, die heute, und erst recht für diejenigen, die morgen und übermorgen in die Rentenversicherung einzahlen, finanzierbar bleiben. Die Beitragssätze dürfen nicht ins Unermessliche steigen, sondern werden auf 20, maximal 22 Prozent begrenzt, damit es jungen Menschen noch Spaß macht, arbeiten zu gehen und Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen. ({2}) Das ist der einzige Grund. Peter Weiß ({3}) ({4}) Solidarität ist eben keine Einbahnstraße. Das Prinzip der Solidarität fußt darauf, dass diejenigen, die ein Leben lang gearbeitet haben, durch eine angemessene Rentenzahlung eine Anerkennung dieser lebenslangen Leistung erhalten und denjenigen, die fleißig Steuern und Beiträge zahlen, genug zum Leben übrig bleibt, gleichzeitig aber die Finanzierung der solidarischen Rentenversicherung wie auch der anderen Sozialversicherungssysteme leistbar bleibt. An dieser Solidarität wollen wir festhalten. ({5}) Im Übrigen müssen - das ist jetzt nur ein freundlicher Hinweis - die sogenannten Dämpfungsfaktoren der Rentenformel nicht immer zu einer Verminderung bei der Rentenanpassung führen. Ich darf daran erinnern, dass der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor - so heißt einer dieser Dämpfungsfaktoren - in den Jahren 2007 und 2008 angesichts der guten Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt dazu geführt hat, dass die Renten leicht gestiegen sind. ({6}) Deswegen ist es eine falsche Behauptung, die Dämpfungsfaktoren würden bei einer möglichen Rentenanpassung immer zu einer Senkung führen. Der Antrag, den die Linke vorlegt, ist aktuell-populistisch auf dieses Jahr gemünzt, ein Jahr, in dem wir die Krise zu spüren bekommen. Wenn der Antrag angenommen würde, würde das bedeuten, dass sich bei der Rentenanpassung dieses Jahr rein gar nichts ändern würde. Es handelt sich also um einen sogenannten Nullantrag. Eine großartige Leistung der Linken! Auch deswegen werden wir ihn ablehnen. ({7}) Die wichtigste Botschaft heute ist: Der 1. Juli, von dem wir nur noch wenige Tage entfernt sind, ist immer der Tag, an dem die Rentenanpassung durchgeführt wird, also die Veränderung beim Zahlbetrag der Renten eingeleitet wird. Die krisenhafte Entwicklung, ausgelöst durch die Finanz- und Kapitalmarktkrise, hat dazu geführt, dass in Deutschland im vergangenen Jahr das durchschnittliche Lohnniveau leider nicht gestiegen, sondern gesunken ist. Das würde nach der schon seit Jahrzehnten geltenden Rentenformel bedeuten, dass wir am 1. Juli dieses Jahres zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes die Zahlungen an die Rentnerinnen und Rentner nicht nur nicht erhöhen könnten, sondern wir sie senken müssten. Für genau diesen Augenblick haben wir bereits in Zeiten der Großen Koalition vorgesorgt, und zwar mit der sogenannten Rentengarantie. Obwohl das sinkende Lohneinkommen der Deutschen im vergangenen Jahr nach der Logik unseres Rentensystems, das seit Jahrzehnten gilt, dazu führen würde, dass man die Rente absenken müsste, wird es am 1. Juli eine Nullrunde geben. Eine Nullrunde ist nicht toll. Aber eine Nullrunde ist besser als eine Absenkung. Deswegen ist das eine großartige Leistung. ({8}) Die großartige Solidarität unter den Generationen besteht darin, dass die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die selber wenig in der Tasche haben, und der Staat mit seiner Unterstützung dafür sorgen, dass die Rentnerinnen und Rentner vor den negativen Auswirkungen der Krise geschützt werden und wissen, dass an ihrer Rente nicht herumgedoktert wird, obwohl wir in Deutschland schwere Zeiten durchmachen. Das ist Solidarität mit den Rentnerinnen und Rentnern, mit den älteren Menschen in unserem Land. Das bedeutet aber auch umgekehrt, dass die Rentnerinnen und Rentner die notwendige Solidarität mit den Jungen zeigen müssen, damit es denen in Zukunft wieder besser geht und sie von dem, was sie erarbeiten, zukünftig auch wieder mehr haben. ({9}) Ich finde, heute ist nicht der Tag, um irgendwelche leeren Versprechungen zu machen. Wir sollten vielmehr festhalten: Die großartige Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme, die uns in dieser Krise mit massiver staatlicher Unterstützung gelungen ist, hat dazu geführt, dass wir in diesem Jahr in Deutschland einen Rückgang der Arbeitslosigkeit erleben, wogegen es in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen Zuwachs an Arbeitslosigkeit gibt. Diese großartige Solidarität der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und des Staates führt dazu, dass die Renterinnen und Rentner in Deutschland zwar keine großen Sprünge machen können - das ist wahr

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Weiß, achten Sie bitte auf die Zeit und das Signal!

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- jawohl. Ich bin doch schon beim Schlussakkord -,

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja, aber das schon seit über einer Minute. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- aber dass sie auch keinen Verlust erleiden. Ich finde, auf diese großartige Leistung können wir zu Recht stolz sein. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Peter Weiß hat vieles gesagt, was richtig ist. Ich glaube aber, dass wir die unsozialen Kürzungsvorschläge, die uns die Bundesregierung in dieser Woche vorgelegt hat und die letztendlich im Kern den Generationenvertrag an ganz anderer Stelle aufkündigen, nicht außer Acht lassen dürfen. Es schreit deshalb geradezu danach, dass ich im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit etwas zu diesen Kürzungsvorschlägen sage. ({0}) Nach vier Tagen, seitdem das Sparpaket von Schwarz-Gelb bekannt ist, weiß jeder in Deutschland: Gekürzt wird bei den kleinen Leuten, und die Gutverdiener verdienen weiter gut. Selbst aus Ihrer Fraktion schallt ein Chor von Stimmen: So nicht! - Der Sozialund Bildungspolitik, also unser aller Zukunft, ziehen die Streichungen von Schwarz-Gelb den Boden unter den Füßen weg. Frau Merkel verspricht - wir alle haben es gehört -: Bei der Bildungspolitik wird nicht gekürzt. ({1}) - Es wird sogar angehoben, sagt der Kollege. ({2}) Es freut mich, wenn wir in die Zukunft investieren. Aber bei dieser Kürzungsdiskussion wird vergessen, dass der wirkliche Bildungshaushalt im Bund nicht das Ministerium von Annette Schavan betrifft, sondern das Ministerium für Arbeit und Soziales; denn dort wird über die tatsächlichen Bildungsinvestitionen entschieden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es werden bis zu 20 Milliarden Euro im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik eingespart. Das betrifft den Haushalt von Bundesministerin von der Leyen. Ich frage mich, warum sie das zulässt. Gerade sie müsste doch wissen, dass wir am Arbeitsmarkt das Fordern und Fördern brauchen. Das gehört zusammen. Wir haben in der Großen Koalition gemeinsam im Bereich der Arbeitsmarktpolitik viele Rechtsansprüche auf Bildung geschaffen. Wir haben den Rechtsanspruch auf den Hauptschulabschluss geschaffen. Wir haben den Rechtsanspruch auf Spracherwerb geschaffen. Wir haben den Rechtsanspruch von Altbewerbern auf Ausbildung geschaffen. Vor diesem Hintergrund muss man die Formulierung verstehen, dass Pflicht- in Ermessensleistungen umgewandelt werden. Das sind Kürzungen im Bildungsbereich. Da nehme ich Sie beim Wort: Sie begehen mit diesen Kürzungen Wortbruch; denn obwohl Sie gesagt haben, dass Sie nicht bei der Bildung kürzen, tun Sie das sehr wohl, und zwar im Haushalt für Arbeit- und Soziales. Dazu sage ich Ihnen: Nein. Im Ausschuss sagten Sie - wir haben in dieser Woche schon darüber diskutiert; der Staatssekretär sitzt auf der Regierungsbank -, dass Sie die Pflichtleistungen, das Recht auf Bildung, in Ermessensleistungen umwandeln. Das hört sich zunächst einmal gut an: Vor Ort kann nach Ermessen entschieden werden. Schauen wir uns das aber genau an: Wenn Sie 20 Milliarden Euro sparen möchten, dann führt das Ermessen zu einem Nein zum Recht auf Bildung, Ausbildung und Weiterbildung. Sie wollen nicht mehr fördern, sondern nur noch fordern: Das ist der Kern Ihrer Kürzung. Insofern begehen Sie mit Ihren Haushaltskürzungen einen Wortbruch. ({4}) Diese Kürzungen gehen zulasten von Jugendlichen, Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie Arbeitslosen. Der Wortbruch führt auch dazu, dass Menschen weniger gut Arbeit finden. Letztendlich führt er dazu, dass - das betrifft die Rente - weniger Menschen ihren Beitrag zum Generationenvertrag leisten können. Damit sind wir wieder bei unserem Thema. ({5}) Wir von der SPD-Bundestagsfraktion lehnen den Antrag der Linksfraktion ab, und zwar deshalb, weil wir ein Gesamtkonzept zur Stabilisierung der Rente wollen; wir wollen nicht an Einzelfaktoren herumdoktern. Man kann im Zusammenhang mit einem Gesamtkonzept darüber diskutieren, ob man etwas am Riester-Faktor ändert. Aber das muss eben im Rahmen eines Gesamtkonzepts geschehen, nicht als Einzelmaßnahme. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({6}) Uns geht es in der gesamten Debatte - das ist ein wichtiger Hinweis an die Koalition - um die Generationengerechtigkeit. Wir wollen Generationengerechtigkeit, damit die Jungen die gleichen Möglichkeiten zum Einstieg in den Beruf und die gleichen Möglichkeiten, durch ihrer Hände Arbeit ihr Leben zu finanzieren, wie diejenigen erhalten, die heute in Rente sind. Wir wollen es den Jungen genauso ermöglichen, ihren Beitrag zum Generationenvertrag zu leisten. Ich weiß, dass viele Rentnerinnen und Rentner einen aktiven Beitrag dazu geleistet haben und weiterhin leisten, indem sie jungen Menschen helfen, einen Ausbildungsplatz zu finden, ihre Enkel unterstützen oder in der Nachbarschaftshilfe aktiv sind. Dafür möchte ich von dieser Stelle für meine Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, ein herzliches Dankeschön sagen. Wir vergessen viel zu oft, dass sich gerade die Älteren in unserer Gesellschaft um die Jungen kümmern und dafür sorgen, dass sie einen Ausbildungsplatz bekommen. Ich finde, die jungen Menschen sollten ein Recht auf Ausbildung haben; auch das wollen Sie natürlich nicht. ({7}) Sie wollen den Rechtsanspruch zugunsten des Ermessens aufgeben und keine Haushaltsgrundlage dafür schaffen, dass ein Ermessensspielraum wahrgenommen werden kann. Das ist Ihre Politik; damit begehen Sie Wortbruch. Ich will Sie an unsere Tradition in der Großen Koalition erinnern: Denken Sie noch einmal darüber nach, was Sie mit diesen Sparbeschlüssen auf den Tisch gelegt haben! Denken Sie darüber nach, ob es wirklich falsch ist, den Menschen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ein Recht auf Bildung zu gewähren! Treiben Sie Ihre Ministerin Frau von der Leyen, die diesen Kürzungsvorschlägen zugestimmt hat, vor sich her! ({8}) Sie machen falsche Politik. Sie kündigen den Generationenvertrag. Sie nehmen den Menschen die Chance auf Bildung. Denken Sie um! Kehren Sie um! Vielleicht fallen dann die Kürzungen nicht so unsozial aus, wie es heute geplant ist. Ich habe nicht viel Hoffnung; aber ich weiß, dass es einige von Ihnen so sehen wie ich. Ich hoffe, dass diese sich in ihren Fraktionen durchsetzen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gern auf die Anregung der Kollegin Mast eingehen, uns noch ein paar Gedanken zum Thema der Woche zu machen. Ich halte das für einen verantwortlichen Weg; der Antrag, über den wir heute diskutieren, lag uns hier schon so oft vor - mit leichten Modifikationen -, ({0}) dass absehbar ist, dass wir uns auch in nicht allzu ferner Zukunft bei einer Debatte zu diesem Thema wiedersehen werden. Frau Kollegin Mast, wenn Sie sagen, in Deutschland breche jetzt der Sozialstaat zusammen, dann wirkt das auf mich aus zweierlei Gründen wie aufgesetzt. ({1}) - Sie haben den Eindruck erweckt, als sei in dieser Woche alles furchtbar. Jetzt werde so gespart, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibe. Erstens. Ich will Ihnen die Fakten nennen: In Deutschland wurden im Jahre 1991, im Jahr nach der deutschen Einheit, von Bund, Ländern und Kommunen, im Bereich der Sozialversicherung insgesamt 423 Milliarden Euro für soziale Zwecke ausgegeben. Im Jahr 2009 waren es 750 Milliarden Euro. Das ist ein Plus von rund 70 Prozent. Die Istzahlen für dieses Jahr kennen wir noch nicht - sie können erst Ende des Jahres ermittelt werden -, aber es spricht vieles dafür, dass wir Ende dieses Jahres wegen der großzügigen Förderung beispielsweise der Kurzarbeit rund 765 Milliarden Euro aufbringen müssen. Frau Kollegin Mast, Sie wollen den Sparbetrag von 5 Milliarden Euro im sozialen System als sozialen Kahlschlag verkaufen. Das glauben Sie doch selbst nicht. Deswegen ist es heuchlerisch, was Sie eben vortragen haben. ({2}) Zweitens. Es ist umso aufgesetzter und heuchlerischer, als von den 5 Milliarden Euro, die im Bereich Soziales gespart werden, der größte Teilbetrag in Höhe von 1,8 Milliarden Euro auf die Einsparungen für die Rentenbeiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld II entfällt. ({3}) - Frau Kollegin Hagedorn, Ihr Zwischenruf wundert mich, weil man der SPD im Jahr 2006 in der Großen Koalition die gleiche Maßnahme mit dem gleichen Betrag verkauft hat, was dann offensichtlich die Zustimmung der Mehrheit in der SPD gefunden hat. Sonst hätte das nicht geschehen können. ({4}) - „Das ist wahr“, sagt der Kollege Kurth. - Das darf auch nicht vergessen werden. Ich sage das vor dem Hintergrund, dass Sie sich daranmachen, Punkt für Punkt hinter Ihre eigene politische Vergangenheit in diesem Haus einen Haken zu machen. Sie machen die Rolle rückwärts. Aber, Frau Kollegin Hagedorn, Sie kommen da nicht heraus. ({5}) Sie haben das Gleiche vor vier Jahren auf den Weg gebracht. Sie wollen doch nicht behaupten, dass das, was Sie damals beschlossen haben, heute absolut unsozial sei. Das glaubt Ihnen niemand. ({6}) Ich denke, dass wir mit Augenmaß handeln. Ich glaube, dass genau das, was in den vergangenen Jahren in der Rentenpolitik geschehen ist, ein Handeln mit Außenmaß war. Die Linke will mit der Streichung des Riester-Faktors und des Nachhaltigkeitsfaktors erreichen, dass dämpfende Wirkungen entfallen und Nullrunden verhindert werden. Sie wollen - das ist der Duktus Ihres Antrags - ein ausreichendes Versorgungsniveau im Alter, unabhängig von den eigenen Beitragsleistungen. Wie so oft bei Ihren Anträgen stellt sich die Frage: Wie soll das am Ende finanziert werden? ({7}) Am Ende läuft es auf eine steuerfinanzierte Grundsicherung auf höherem Niveau hinaus, was aber schlicht und einfach nicht finanzierbar ist. ({8}) Deswegen plädiere ich sehr dafür, dass wir weiter an unserer gut konstruierten Altersversorgung mit einer starken gesetzlichen Säule der gesetzlichen Rentenversicherung sowie privater und betrieblicher Vorsorge festhalten. ({9}) Alle drei Faktoren zusammengenommen müssen den Lebensstandard im Alter sichern. ({10}) - Das funktioniert sehr gut, Herr Birkwald. Ich stehe völlig zu dem, was in der Vergangenheit auf den Weg gebracht wurde. Die Aussetzung der Dämpfungsfaktoren hat zu dem Ergebnis geführt, dass Rentenkürzungen in der Vergangenheit vermieden wurden. Eine solche Maßnahme ist nicht einfach - das will ich sagen -, aber sie hat dazu beigetragen, dass die Kaufkraft der Rentner in einer wirtschaftlich schwierigen Situation stabilisiert wurde. Dadurch wurde die Konjunktur insgesamt stabilisiert. Wenn man eine ausgewogene, nachhaltige Rentenfinanzierung im Blick hat, muss man auch dafür eintreten, und wir tun das. Wir sind dafür, dass nachholend Dämpfungen vorgenommen werden, wenn sich neue Spielräume ergeben. Ansonsten gerät eines aus dem Blickwinkel, Herr Kollege Birkwald, nämlich die Generationengerechtigkeit. Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe. Sie argumentieren immer vom kurzen Ende her und treten mit entsprechenden Anträgen an. Sie wollen am liebsten jetzt und hier und gleich Sozialleistungen verbessern. Dabei übersehen Sie, dass das, was heute nicht nachhaltig finanziert wird, in 20, 30 Jahren von der dann steuer- und beitragzahlenden Generation getragen werden muss. ({11}) Diese Generationengerechtigkeit im Auge zu behalten, ist aus unserer Sicht wichtig. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Ich hoffe ein Stück weit auf Ihre Einsicht und darauf, dass Sie uns künftig nicht im vierwöchigen Rhythmus mit Anträgen dieser Art überziehen. Dafür wäre ich Ihnen dankbar. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu den beiden Kollegen möchte ich heute nicht über das unsägliche Kürzungspaket der Bundesregierung sprechen - um Sparen geht es dabei ja nicht -, das bar jeder sozialen Balance ist; dafür gibt es andere Gelegenheiten. Ja, wir Linken wollen den Riester-Faktor, also den privaten Altersvorsorgefaktor aus der Rentenformel streichen. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt. Aber fragen Sie doch einmal diejenigen, die sich tagtäglich um die Sorgen und Nöte der Menschen kümmern, die von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen sind und Angst um ihre Zukunft haben: die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Die fordern nämlich ebenfalls, den Riester-Faktor zu streichen. ({0}) Das gilt für den Sozialverband Deutschland, SoVD, die Volkssolidarität, die Gewerkschaft Verdi und den Sozialverband VdK. Bleiben wir doch einmal beim VdK. Der Sozialverband VdK ist ein wichtiger und starker Verband mit eineinhalb Millionen Mitgliedern. Seine Präsidentin, Ulrike Mascher, wurde kürzlich mit 90 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Auf der Festveranstaltung zum 60-jährigen Bestehen des VdK sprach sie deutlich an, worum es geht. Herr Kolb, Sie waren dabei. Ich zitiere Frau Mascher, die sagte: Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die ‚dynamische Rente‘. Durch viele Eingriffe in die Rentenformel und die Einführung diverser Kürzungsfaktoren ist die dynamische Rente nämlich still und heimlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Grabe getragen worden. … Wir jedenfalls fordern die Abschaffung des Riester-Faktors, des Nachhaltigkeits- und des Ausgleichsfaktors und damit die Rückkehr zur dynamischen Rente. Recht hat sie, die Frau Mascher. ({1}) - So ist es. Armut, auch Altersarmut, fällt nicht vom Himmel. Sie ist politisch gemacht. Das hat auch das Deutsche Institut für Altersvorsorge, DIA, in seiner neuesten Studie über die Kaufkraft der Renten in der Zukunft eindrucksvoll dargelegt. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge ist übrigens jeder Nähe zur Linken völlig unverdächtig. Die Finanzbranche, die Deutsche Bank AG und andere, tragen dieses Institut. In dieser Studie wird von Kaufkraftverlust gesprochen. Das klingt harmlos. Dabei bedeutet es nichts anderes als drohende Altersarmut und sozialen Abstieg; denn es geht um Summen von bis zu rund 500 Euro für ein typisches Rentnerpaar. Die beiden Autoren reden von einer Einkommenslücke im Alter. Sprich: Das Geld ist schneller zu Ende als der Monat. Das hat zwei zentrale Ursachen: Erstens. Die Preise für alltägliche Dinge - das bezieht sich zum Beispiel auf die Bereiche Gesundheit, Pflege und Freizeit - steigen schneller als die durchschnittlichen Preise. Genau dafür müssen aber insbesondere Rentnerinnen und Rentner ihr Geld ausgeben. Zweitens. Die Rentenpolitik der vergangenen zehn Jahre - das gilt für alle Bundesregierungen dieser Zeit - hat wesentlich dazu beigetragen, diese Einkommenslücke zu vergrößern. Die DIA-Studie zeigt deutlich, dass die Riester-Reform und alle nachfolgenden Einschnitte in die Rente eine verheerende Wirkung haben. Diese Diagnose teilen wir Linken. ({2}) Doch die Therapie, die das Bankeninstitut empfiehlt - noch mehr private Altersvorsorge -, teilen wir ausdrücklich nicht. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge handelt aus unserer Sicht wie ein Arzt, der die falsche Medizin verschrieben hat und meint, die Dosis sei zu klein. Das ist aus unserer Sicht eine verhängnisvolle Suchtlogik. Die erhoffte Wirkung der Riester-Reform bleibt aus. Die Einkommenslücke wird dank Riester sogar größer. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir haben kein Problem mit der Dosierung. Nein, die Therapie ist schlicht falsch. ({3}) Eines ist klar: Die private Altersvorsorge nützt vor allem der Versicherungswirtschaft, aber nicht den Menschen, die nach langjähriger Erwerbstätigkeit ein gutes Leben im Alter führen wollen. So sieht es aus. Darum müssen wir den Riester-Faktor streichen, die Rentengarantie zu einem echten Schutz vor Rentenkürzungen machen und nicht nur die Kürzungen in die Zukunft verlagern, Herr Weiß, und wir müssen uns auf das besinnen, was die gesetzliche Rente leisten soll: Armut vermeiden und vor sozialem Abstieg schützen. Darum geht es. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Peter Weiß hat gerade von der Solidarität in der Rentenversicherung gesprochen. Ihm persönlich nehme ich das ab. Ich glaube auch, dass es in der CDU/CSU-Fraktion eine Gruppe gibt, die das so sieht wie er. Aber die Politik der Bundesregierung ist eine völlig andere. Das sieht man gerade in dieser Woche. Die Streichung der Rentenbeiträge für die Langzeitarbeitslosen ist schon erwähnt worden. Diese führt nicht nur dazu, dass Kosten von heute in die Zukunft - da hat die Kollegin Hagedorn völlig recht - und wegen höherer Grundsicherungszahlungen Kosten vom Bundesetat auf die Kommunen verlagert werden, sondern es ist darüber hinaus auch ein Griff in die Rentenversicherungskassen; denn über 2 Milliarden Euro - neben den Rentenversicherungsbeiträgen für Langzeitarbeitslose in Höhe von 1,8 Milliarden Euro sollen jetzt ja auch noch 0,3 Milliarden Euro für ehemalige Ostreichsbahner nicht mehr aus Steuermitteln finanziert werden - fehlen den Rentenkassen ab sofort. Nun hat Herr Brauksiepe im Ausschuss gesagt: Dann reduzieren wir einfach die Monatsrücklagen der Rentenversicherung. ({0}) Das ist ein beliebter Trick in der Politik. Das Problem ist, dass es sich hier um dauerhafte Kürzungen handelt. Das heißt, jedes Jahr muss man erneut 2 Milliarden Euro aus dieser Rücklage nehmen, und sie wird dann bald nicht mehr vorhanden sein. Wer muss dann zahlen? Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Das ist keine gerechte Lösung und vermindert die Solidarität zwischen den beiden Gruppen. ({1}) Es gibt eine gewisse Einigkeit zwischen dem, was Sie auf der Regierungsbank vorschlagen, und dem, was die Linke vorschlägt. Die Linke schlägt in ihrem Antrag vor, die Ziele der Beitragssatzdeckelung aus dem Sozialgesetzbuch VI zu streichen. ({2}) Außerdem - Herr Birkwald sagte das eben - sollen keine nachholenden Rentendämpfungen vorgenommen werden. Zudem soll der Riester-Faktor aus der Rentenanpassungsformel gestrichen werden. Gerade eben haben Sie darüber hinaus auch die Forderung von Frau Mascher unterstützt, alle Rentenkürzungsfaktoren zu streichen. Sie nicken. Das heißt, alles soll gestrichen werden. Das hätte zur Folge, dass alle zukünftigen Lasten auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geschoben werden. Diese Position teilen wir nicht. ({3}) Die Position von Bündnis 90/Die Grünen ist, dass wir einen gerechten Ausgleich zwischen Rentnerinnen und Rentnern auf der einen Seite und Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern auf der anderen Seite brauchen. Wir haben deswegen unter Rot-Grün den Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt, der genau das leistet: in guten und auch in schlechten Zeiten einen gerechten Ausgleich zwischen den beiden Gruppen. Peter Weiß hat eben und Kollege Schaaf hat in der letzten Debatte deutlich gemacht, dass das in den letzten Jahren dazu geführt hat, dass die Renten stärker gestiegen sind, als sie ohne Nachhaltigkeitsfaktor gestiegen wären. ({4}) Vor dem Hintergrund dieser unserer Position könnte man tatsächlich über die Streichung des Riester-Faktors reden. Das würde zu einer Vereinfachung der Rentenformel führen. Man müsste schauen, ob man allein mit dem Nachhaltigkeitsfaktor die Beitragssatzziele einhalten kann. In dieser Frage unterscheiden wir uns fundamental. Sie wollen auf die Beitragssatzziele komplett verzichten. Das ist nicht unsere Position. Wir wollen stabile Beitragssätze und einen gerechten Ausgleich zwischen den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern und Rentnerinnen und Rentnern. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Paul Lehrieder nun das Wort. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der Linken, was Sie in Ihrem Antrag fordern - ich habe ihn genau durchgelesen - ist ein rentenpolitischer Blindflug zurück in die Zeiten der - Frau Präsidentin, Sie mögen entschuldigen - SED, der alten Ostrente, ({0}) die im Durchschnitt 270 Ostmark betrug; davon konnte man sich nichts kaufen. Das können wir gern machen. ({1}) - Sie wissen, dass ich Ihren historischen Ursprung nicht ganz ignorieren kann. In Ihren Anträgen sieht man es ja auch immer wieder: Es geht um Sozialisierung und darum, dass alles der Staat regeln soll. Wir sollen den Riester-Faktor und den Nachhaltigkeitsfaktor aussetzen, um den Bestandsrentnern ein Stück weit eine bessere Zukunft vorzugaukeln. Aber die Zukunft der jetzigen Beitragszahler, unserer Kinder und unserer zukünftigen Enkel ist Ihnen eigentlich wurscht. ({2}) Mit Blick auf diese müssen wir aber - nolens volens - an diesen Faktoren festhalten. Ich bin sehr dankbar und froh, dass auch die SPD diese in den letzten Jahren mit uns gemeinsam betriebene Politik weiterhin mitträgt. ({3}) Frau Kollegin Mast, Sie haben kritisiert, dass wir im Rahmen des Sparpakets die Beitragszahlungen für Rentenanwartschaften von Hartz-IV-Empfängern kappen wollen. ({4}) Darauf entgegne ich - auch der Kollege Kolb hat darauf bereits hingewiesen -: Die SPD leidet an kollektiver Amnesie. ({5}) Sie haben wohl vergessen, dass wir die erste Kürzung bereits in der Großen Koalition vorgenommen haben, weil es damals nicht anders ging. Man muss den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Besuchertribüne und vor den Fernsehgeräten auch verdeutlichen, was es damit auf sich hat. Ein Jahr Hartz-IV-Bezug führt derzeit zu einer monatlichen Rentenanwartschaft von 2,19 Euro. Von einer Rente in dieser Höhe wird ein Hartz-IV-Empfänger sich auch in 10, 20 oder 30 Jahren nicht autonom ernähren können. Eine Rente in dieser Höhe wird auch nicht zur Folge haben, dass das Niveau des SGB XII überschritten wird. Das muss man den Leuten sagen. Wir haben deshalb entschieden, in diesem Bereich zu kürzen. Es wäre natürlich populärer gewesen, Steuern zu erhöhen. ({6}) Es wäre auch populärer gewesen, wenn alle Ministerien geplante Investitionen gestrichen hätten. Aber wir haben das Gegenteil getan. Wir haben die Mittel für Bildung und Forschung erhöht. Zukunftsbereiche haben wir vom Sparen bewusst ausgenommen, um in Zukunft Gestaltungschancen zu haben. ({7}) - Die Mittel für Bildung haben wir erhöht, Frau Kollegin. - Ich finde, jetzt kann man auch einmal klatschen. ({8}) Herr Kollege Birkwald, aufgrund der Vorlagen meiner Vorredner fühlte ich mich zu dieser Bemerkung geradezu herausgefordert. Sie war nicht nötig. Denn wir reden nicht über das Sparpaket - das ist völlig richtig -, sondern über die Stabilisierung des Rentenniveaus. Lieber Herr Birkwald, eigentlich sollten Sie die mathematischen Grundrechenarten beherrschen. ({9}) - Das, was in Ihrem Antrag steht, erweckt aber nicht diesen Eindruck. - Es ist so, dass sich die Rente des Folgejahres an den Abschlüssen des Vorjahres orientiert. Sie werden mir recht geben - hier werden Sie mir nicht ernsthaft widersprechen wollen -, dass die Lohnabschlüsse des Jahres 2009 an und für sich zu einer Rentenkürzung hätten führen müssen. Wir haben die Rentengarantie ganz bewusst zusammen mit der SPD auf den Weg gebracht, um den Rentnern, auch den Bestandsrentnern, Planungssicherheit zu geben. Auch sie müssen wissen, wovon sie ihre Miete und ihre sonstigen Ausgaben im nächsten Jahr bezahlen. Aus Gründen der Generationengerechtigkeit muss man aber auch dafür sorgen, dass dieses zinsfreie Darlehen mit möglichen Rentensteigerungen in der Zukunft ein Stück weit verrechnet wird. Nicht mehr und nicht weniger haben wir in der Großen Koalition mit der Rentengarantie getan. ({10}) - Ja. Sie haben dazu sogar etwas Positives gesagt. Eine Absenkung des Rentenniveaus in der Krise zu verhindern, war richtig. Sonst wäre die Kaufkraft und damit die Binnennachfrage weiter geschwächt worden. In manchen Bereichen sind Sie ja gar nicht so weit weg von uns. Aber das, was in Ihrem Antrag steht, ist so weit weg, dass ich nur den Kopf schütteln kann. Meine Damen und Herren, meine Fraktion kritisiert, dass die Arbeitnehmer die Aussetzung der Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel durch höhere Beiträge finanzieren müssten. Das ist richtig. Die jetzige Rentenformel ist der Versuch eines vernünftigen und gerechten Ausgleichs zwischen den Rentenerwartungen der Bestandsrentner, die, weil sie schon Rente beziehen, an ihrem Lebensstandard im Alter nichts mehr ändern können, und der Belastung zukünftiger Generationen. Deshalb wurden verschiedene Faktoren eingeführt, die in Zukunft allerdings auch einmal ausgesetzt werden müssen. Wir werden das Thema „Demografie und Rentenentwicklung“ auch in den nächsten Jahren in kurzen Abständen immer wieder auf dem Schirm haben. Wir wissen noch nicht, wie sich die Arbeitsmarktsituation in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln wird. Wir wissen auch nicht, wie sich die Geburtenzahlen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden. Was das Thema Rente angeht, werden wir auf diese Entwicklungen reagieren müssen. Sich nun festzulegen und zu sagen: „Wir geben das Geld jetzt aus, sodass es zukünftige Generationen nicht mehr zur Verfügung haben“, wäre fahrlässig. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag, zum Glück gemeinsam mit allen Fraktionen außer der antragstellenden Fraktion, ab. Die letzte Minute meiner Redezeit schenke ich Ihnen im Hinblick auf das heute Nachmittag beginnende Eröffnungsspiel der Fußball-WM. Danke schön. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Damit haben Sie das Redekonto innerhalb Ihrer Fraktion wieder ausgeglichen. ({0}) Ich bedanke mich recht herzlich und schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: Riester-Faktor streichen - Keine nach- holenden Rentendämpfungen vornehmen“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1804, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1145 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Evaluierung der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen und internationalen Engagements für den Wiederaufbau Afghanis- tans seit 2001 - Drucksache 17/1964 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhard Lischka, Karin Roth ({1}), Dr. Sascha Raabe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen - Drucksache 17/1965 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. h. c. Gernot Erler für die SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor dreieinhalb Monaten, am 26. Februar 2010, hat der Deutsche Bundestag einem neuen Afghanistan-Mandat zugestimmt. Vorausgegangen war ein intensiver Diskussionsprozess - ganz besonders auch bei den Sozialdemokraten. Unsere Vorschläge sind damals von der Regierungskoalition weitgehend übernommen worden und in das neue Afghanistan-Mandat eingeflossen. Wichtigste Punkte waren dabei: Neufestsetzung der Prioritäten auf die Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften - sowohl Polizei als auch Soldaten - durch eine Erhöhung der Ausbildungskapazitäten mit dem Ziel, dass die afghanischen Sicherheitskräfte so rasch wie möglich selber in den Stand versetzt werden, sich gegen die Aufständischen zu verteidigen; Erstellung eines Stufenplans zum Abzug aus Afghanistan mit einer ersten Übergabe von einzelnen Distrikten in die Verantwortung Afghanistans ab 2011 und einem Abschluss möglichst in einem Zeitkorridor zwischen 2013 und 2015; Verdoppelung der zivilen Anstrengungen für den Aufbau, damit die Bevölkerung mehr Vertrauen in die eigene Zukunft gewinnt; Verbesserung der Regierungsführung in Kabul, um eine größere Zustimmung der eigenen Bevölkerung zu erreichen - nach der Londoner Afghanistan-Konferenz sollte eine Afghanistan-Konferenz in Kabul stattfinden, auf der entsprechende Kriterien und Zwischenschritte verbindlich vereinbart werden sollten -; schließlich verstärkte Unterstützung des internen Versöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesses, für den auch erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden und wozu die Ende Mai in Kabul stattgefundene Friedensjirga einen entsprechenden Beitrag geleistet hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese erheblichen Veränderungen des Einsatzkonzeptes sind auf der Londoner Afghanistan-Konferenz auf breite Zustimmung gestoßen. Parallel dazu hat auch die amerikanische Regierung erhebliche Veränderungen an ihrem Afghanistan-Konzept vorgenommen. All das kommt aber nicht von ungefähr. So viel ändert man nur, wenn das bisherige Konzept zu wenig erfolgreich war, wenn also ein entsprechender Druck entstanden ist, das eigene Vorgehen kritisch zu überprüfen. Das war in der Tat der Fall und sichtbar an der erschreckenden Zunahme von sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfällen, deren Anzahl allein im Jahr 2009 im ganzen Land um 80 Prozent gestiegen ist - in den Nordprovinzen in Afghanistan sogar um 300 Prozent -, sichtbar an den zunehmenden Verlusten von afghanischen und internationalen Sicherheitskräften, aber auch sichtbar an den wachsenden Vertrauenslücken zwischen der afghanischen Bevölkerung und der afghanischen Führung; diese erkennt man insbesondere an der Tatsache, dass die Unterstützung für die Aufständischen leider nicht abnimmt, sondern in bestimmten Regionen sogar zunimmt. Das ist nach der Afghanistan-Konferenz in London aufgrund der zögerlichen Regierungsbildung von Präsident Karzai und der mehrfachen Verschiebung dieser wichtigen Afghanistan-Konferenz in Kabul auch nicht besser geworden. Sie sollte erst im Mai und dann im Juni stattfinden. Jetzt können wir nur hoffen, dass sie im Juli tatsächlich stattfinden wird. Ausbleibende Erfolge des Afghanistan-Einsatzes erhöhen auch die Kritik und Skepsis im eigenen Land. Das wird in den Umfragen in der deutschen Öffentlichkeit deutlich sichtbar. All das muss uns klarmachen, worin in dieser Situation unsere Verantwortung liegt. Wir haben im Februar konzeptionelle Veränderungen und neue Prioritätensetzungen vorgenommen. Wir haben aber in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass viele gute Ansätze und Pläne an mangelnder oder fehlerhafter Umsetzung vor Ort gescheitert sind. Wir wissen, dass der Preis sehr hoch wäre, wenn uns das im Rahmen des Neuansatzes erneut passieren würde. Die Konsequenz daraus ist, dass wir nicht einfach abwarten können, was am Ende bei den von uns gefassten Beschlüssen zur Veränderung des Mandates herauskommt. Wir müssen vielmehr seitens des Bundestages den gesamten Afghanistan-Einsatz einer systematischen und regelmäßigen Untersuchung unterziehen. Genau das hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier in unserer Debatte am 26. Februar hier gefordert und angekündigt, dass wir dazu einen entsprechenden Vorschlag vorlegen werden. Mit dem gemeinsamen Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Evaluierung der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen und internationalen Engagements für den Wiederaufbau Afghanistans seit 2001 haben wir diese Ankündigung wahrgemacht. Dieser Antrag zielt auf eine wissenschaftlich fundierte Evaluierung der Umsetzung unserer eigenen Beschlüsse, bei der wir auch auf Expertise von außen angewiesen sind. Diese Expertise gibt es. Sie ist wertvoll und wichtig für uns. Sie besteht in den Erfahrungen und vor Ort gewonnenen Erkenntnissen von Experten, Aktivisten und Mitgliedern engagierter Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft. Wir müssen so vorgehen, damit wir nicht in einigen Monaten womöglich erneut und ohne Vorwarnung vor vollendeten bzw. nicht vollendeten Tatsachen stehen und damit wir jederzeit die Möglichkeit zur Nachsteuerung und Feinjustierung unserer eigenen Beschlüsse haben, wenn rote Lampen aufleuchten, was die Umsetzung angeht, und damit wir eine sichere Grundlage für eine neuerliche Debatte über dieses Mandat haben, welche ohne Zweifel kommen wird - vielleicht schneller als erwartet. Deshalb wollen wir nicht auf ein irgendwann vorzulegendes Gutachten warten; vielmehr fordern wir in unserem Antrag, dass der Deutsche Bundestag eine Kommission einsetzt, die die gesamte Evaluierungsaufgabe begleitet. Sie soll den Kontakt mit den Experten und engagierten Truppen von außen halten und im Abstand von drei bis vier Monaten Zwischenergebnisse vorlegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, es ist bedauerlich, dass Sie die Möglichkeit, auf der Basis dieses Antrags zügig zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, nicht genutzt haben. Wir haben Ihnen das alles am 18. Mai zugeleitet. Es ist schade, weil dadurch die Chance, dass wir weiter gemeinsam die Verantwortung tragen, nicht in dem Maße genutzt wird, wie es möglich gewesen wäre. Aber wir haben quasi unmittelbar vor unserer Debatte erfahren, dass Sie sich einer intensiven und wissenschaftlich fundierten Begleitung des Strategiewechsels im Afghanistan-Einsatz nicht völlig versperren wollen. Das begrüßen wir selbstverständlich. Allerdings helfen uns dabei Hinweise auf die ohnehin bestehenden Berichtspflichten der Bundesregierung und Kontrollrechte des Bundestages nicht wirklich weiter. Für uns ist es wichtig, dass wir bei der Bewertung und Begleitung der Umsetzung der neuen Strategie zu belastbaren Kriterien, sogenannten Benchmarks, kommen. Dabei brauchen wir auch die wissenschaftliche Expertise von außen. ({0}) Darüber sollten wir in allernächster Zeit reden. Wir haben Ihr Angebot so verstanden, dass Sie dazu bereit sind. Deswegen macht es Sinn, dass wir jetzt die beiden Anträge an die Ausschüsse überweisen, damit wir die Zeit dort nutzen können, um zu prüfen, ob wir zu gemeinsamen Ergebnissen kommen können. Ich glaube, das wäre im Sinn der Sache. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roderich Kiesewetter für die Unionsfraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon erfreulich, wenn ein Brückenschlag stattfindet, auch wenn er etwas verklausuliert formuliert wurde. Nicht nur, weil wir als Bundestag den ISAF-Einsatz unserer Streitkräfte zum zehnten Mal nacheinander verlängert haben, sind wir uns einig, was die Bilanzierung der deutschen ISAFBeteiligung angeht. Wir brauchen dazu die vor Ort vorliegenden Informationen. Auch in London sind die Bewertungen des COMISAF und ziviler Organisationen mit eingeflossen. Wir müssen wissen, was die internationale Gemeinschaft sagt. Wir wollen einen ganzheitlichen sicherheitspolitischen Ansatz, also zivile und militärische Erkenntnisse vor Ort mitverwerten. Aber eine Evaluierung ist nur eine Entscheidungshilfe. Sie nimmt uns die politische Entscheidung nicht ab. Evaluierung ist nie ein Selbstzweck, sondern es geht um die Umsetzung unserer zentralen Sicherheitsinteressen. Wir sollten deshalb erst einmal die Auswirkungen der Umsetzung der in London beschlossenen neuen Strategie abwarten. Dabei dürfen wir unser Ziel nicht außer Acht lassen, nämlich die Übergabe in Verantwortung. Diese kann nur stattfinden, wenn die Sicherheit und Stabilität vor Ort selbsttragend sind. Nebenbei gesagt, es hilft nichts, mit mathematischem Kalkül geostrategische und regionale Kontexte außer Acht zu lassen. Der wesentliche Unterschied zwischen unserer Auffassung und der in Ihrem Antrag vertretenen, Herr Kollege Erler, liegt darin, dass wir glauben, dass der Bundestag nicht die Aufgabe der Exekutive leisten darf und leisten kann. ({0}) Es ist Aufgabe der Bundesregierung, die wesentlichen Benchmarks vorzustellen. Wir als Bundestag wollen die entsprechenden Informationen. Die Evaluierung kostet aber Zeit und Geld, wenn sie solide und aussagekräftig sein soll. ({1}) Ich möchte zwei Beispiele nennen. In der Entwicklungszusammenarbeit - der Kollege Haibach wird das noch ansprechen - haben wir zwei Jahre gebraucht, um zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen. Im Einsatzhauptquartier SHAPE der NATO wurde über anderthalb Jahre an Evaluationskriterien gearbeitet, um dann festzustellen, was das für Konsequenzen hat. Nun ist diese Aufgabe nach Afghanistan delegiert worden. Von der Evaluierung dürfen wir uns daher nur Entscheidungshilfen erwarten; wir können uns die Entscheidung aber nicht abnehmen lassen. Für uns als Regierungskoalition ist es wichtig, dass wir ressortübergreifende Benchmarks für die Umsetzung des aktuellen Mandats entwickeln. Dabei geht es um die afghanische Armee, aber auch um die afghanische Polizei und den Fortschritt in anderen Bereichen. Wir sind gerne zu einer öffentlichen Anhörung unter Beteiligung wissenschaftlicher Experten bereit. Wir bauen aber auch darauf, dass die bewährte jährliche Unterrichtung des Bundestags über die Entwicklung in Afghanistan fortgesetzt wird. Das betrifft Regierungsführung, Innenpolitik, Justiz, Entwicklung und vor allen Dingen Sicherheit als Voraussetzung für die Übergabe in Verantwortung. Ich möchte aber auch einen Punkt ansprechen, den wir Abgeordnete sicher etwas anders sehen als die Regierung. Die wöchentliche Unterrichtung des Parlaments durch das Verteidigungsministerium - eine sehr fleißige Arbeit - könnte auf eine breitere Basis gestellt werden. Wir könnten uns durchaus vorstellen, dass unter Beteiligung von AA, BMI und BMZ ein etwas weiter ausgreifender Bericht vorgelegt wird. ({2}) - Herr Ströbele, als Anfänger ehrt mich ein Zwischenruf von Ihnen. Die Bundesregierung wird vor Februar 2011 einen Bericht über die Umsetzung des laufenden Mandats vorlegen. Daraus können wir auch den Änderungsbedarf bei künftigen Mandaten entwickeln. Aber wir sehen auch Ihren Brückenschlag, und gerade bei Auslandseinsätzen sollten wir die Gemeinsamkeiten im Bundestag betonen. Wir sind deshalb sehr dankbar für den Briefaustausch zwischen den Koalitionsfraktionen und den Fraktionen der Antragsteller. Wir stellen es uns so vor, dass uns im Sommer 2011, 18 Monate nach London, eine Wirkungsanalyse, gerne mit wissenschaftlicher Expertise, vorgelegt wird. Zunächst einmal müssen wir aber die Auswirkungen der Umsetzung der Beschlüsse von London abwarten. ({3}) Ihr Vorschlag, einen solchen Bericht bereits Ende des Jahres vorzulegen, ist sehr ehrgeizig. Aber das ist so kurzfristig nicht wissenschaftlich vernünftig machbar. ({4}) Sie wecken damit überzogene Erwartungen. Ich möchte gerne, dass wir eine wissenschaftlich valide und ressortübergreifende Benchmark-Diskussion führen. Wir können uns darüber in den anstehenden Gesprächen verständigen. Unser Angebot, bis zum Sommer 2011 eine wissenschaftlich begleitete und geprüfte Analyse erstellen zu lassen, ist, glaube ich, zielführend. Unser Interesse besteht darin, dass wir in Vorbereitung der Übergabe in Verantwortung, die nächstes Jahr beginnen soll, klare Vorgaben haben. Wir laden Sie ein, diesen Weg einer systematischen Wirksamkeitsanalyse mitzugehen. Wir setzen dabei allerdings auf eine bessere, umfassendere und vor allen Dingen ganzheitlichere Unterrichtung des Bundestages. Hilfreich wäre auch ein Fortschritts- und Mängelbericht. Daneben ist es wichtig, dass wir in die Öffentlichkeit wirken. Wir brauchen Akzeptanz in der Bevölkerung; wir alle wissen, worum es geht. Deshalb ist entscheidend, dass wir unsere Kommunikationsstrategie entsprechend anpassen. ({5}) Ich fasse zusammen. Evaluierung kann nur begleiten. Sie kann uns die Verantwortung nicht abnehmen. Entscheidend ist, dass wir unsere politische Verantwortung behalten und wahrnehmen, aber nicht die Aufgabe der Exekutive übernehmen; das ist Sache der Regierung. Wir müssen auch auf Kompetenzen vor Ort zurückgreifen. Wir müssen uns darüber austauschen: Was wollen die Afghanen, und was erwarten die Afghanen von uns? Lassen Sie uns also gemeinsam für eine parlamentarische Kontrolle durch unser Parlament arbeiten, aber nicht für eine exekutivische Durchführung, die wir nicht leisten können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann feststellen, dass die Tonalität der Debatten hier im Plenum anders geworden ist, dass eine größere Nachdenklichkeit eingezogen ist - das kann ich nur begrüßen - und dass etwas mehr geprüft wird, ({0}) welche Grundlagen wir uns als Parlament wirklich verschaffen können. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass sich das Parlament anmaßt, etwas zu übernehmen, das die Regierung leisten müsste. Das Parlament muss aber in die Lage versetzt werden, seine Rechte wahrzunehmen. Wir hatten im Auswärtigen Ausschuss vorgeschlagen, dass der Außenminister bis zum Ende des Jahres eine Bilanz vorlegt. Ich finde den Vorschlag von SPD und Grünen, eine Überprüfungskommission einzusetzen, entschieden besser, weil dadurch das Parlament der Akteur wird und wir dann hier entscheiden, was passiert. Das finde ich außerordentlich vernünftig. ({1}) Sehen Sie, Herr Kiesewetter! Ein paar Ihrer Argumente ziehen einfach nicht; sie tragen nicht. Wir können doch nicht fortwährend Soldaten in solche Einsätze schicken und gleichzeitig sagen: Ob die Einsätze erfolgreich und richtig sind, klären wir später. - Entweder das eine oder das andere. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass dem Deutschen Bundestag eine solche kritische Bilanz vorgelegt wird, die er selber miterarbeitet und im Zuge dessen dann darüber vor allen Dingen mit Nichtregierungsorganisationen debattiert. ({2}) Ich lese, was beispielsweise VENRO und medico schreiben; diese teilen auch nicht immer die Positionen der Linken. Ich habe auch das neue Buch von Frau Käßmann mit außerordentlichem Interesse gelesen. Ich möchte, dass solche Positionen in eine gründliche Bewertung miteinfließen. Ich will Ihnen ehrlich sagen - man soll sich ja immer eine Option offenhalten -: Ich denke seit längerer Zeit darüber nach, ob das Parlament nicht erstmalig von § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes Gebrauch machen und sich anmaßen sollte, was ihm zusteht, nämlich zu prüfen, ob es notwendig ist, die Bundeswehrtruppen zurückzuholen, weil das bisherige Mandat nicht mehr den Einsatz in Afghanistan abdeckt. Meine Auffassung ist, dass das ISAF-Mandat nicht mehr die neue Strategie in Afghanistan abdeckt. Wenn das der Fall ist, dann hat der Bundestag das Recht und, wie ich meine, auch die Pflicht, einen Rückholantrag gemäß § 8 zu stellen. Das hätte eine interessante juristische und politische Debatte zur Folge. ({3}) Mir geht es um politische Bewegung. Ich kann das, was ich für Afghanistan möchte, relativ einfach in ein, zwei Sätzen auf den Punkt bringen. Ich bitte darum, sich gegenseitig Zweifel zuzugestehen. Keiner von uns wird garantieren können, dass Frieden und Stabilität in Afghanistan einziehen, wenn das, was er sich selber vorstellt, gemacht wird. Aber sicher ist: Wenn man in der Sackgasse ist, hat es keinen Sinn, einfach die Losung „Weiterso“ auszugeben. Vielmehr muss man sich dann zurückbewegen und neue Überlegungen anstellen. ({4}) Ich möchte gern, dass darüber nachgedacht wird, wie wir dafür sorgen können, dass das sinnlose Töten und Morden in Afghanistan - und nicht nur dort - endlich aufhören, dass keine Bundeswehrsoldaten mehr ihre Gesundheit oder ihr Leben in einem solchen Krieg riskieren und dass die Menschen in Afghanistan, soweit es überhaupt möglich ist, in Sicherheit leben können. Das ist das, was wir erreichen müssen. In diese Richtung müssen wir Überlegungen anstellen. Dazu brauchen wir eine politische Grundlage. Wir müssen kritisch all das überprüfen, was bisher gemacht worden ist. Wenn das geschehen ist, kommt man zu einem Urteil. Man muss die Courage haben, die Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehen. Ich finde, das sollte der Bundestag machen. Ich bedauere, dass die SPD beim Schreiben ihrer Anträge - darin steht durchaus Vernünftiges geschrieben immer auf einem Auge blind ist. Reden Sie nicht von interfraktionellen Anträgen, wenn eine wirkliche interfraktionelle Zusammenarbeit zwar möglich wäre, Sie sie aber nur aus ideologischen und Konkurrenzgründen nicht eingehen. Sie verbauen sich selber Zugänge. Zum Schluss. Ich will Sie gern noch dazu auffordern, das vorliegende Friedensgutachten 2010 zu lesen. Man kann dem Gutachten der Friedensforschungsinstitute eine ganze Menge neuer Ideen für Afghanistan entnehmen. Wir werden sehen, was sich in den Ausschüssen durchsetzt. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Djir-Sarai für die FDPFraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 2001 engagiert sich Deutschland in Afghanistan. Dort gibt es Erfolge, und dort gibt es auch Misserfolge. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir als Parlamentarier uns sehr intensiv und sachlich mit diesem Einsatz beschäftigen müssen. Wenn ich mir die Stimmung in der Bevölkerung anschaue, dann erkenne ich, dass sie, was den Einsatz in Afghanistan betrifft - das ist hier vorhin angesprochen worden -, alles andere als positiv ist. Die damalige Unterstützung unserer Bevölkerung für diesen Einsatz ist seitdem zurückgegangen. ({0}) Laut FAZ waren im Juni 2010 nur noch 22 Prozent der Bevölkerung in Deutschland für die Beteiligung unseres Landes am internationalen Afghanistan-Einsatz. Das liegt auch daran, dass wir als Politiker die Notwendigkeit des Einsatzes in der Vergangenheit nicht immer ausreichend erklärt haben. ({1}) Wir als Parlamentarier und die Bundesregierung müssen diesen Einsatz in der Öffentlichkeit besser kommunizieren. ({2}) Viele unserer Bundeswehrsoldaten haben mir vor Ort gesagt - ich war in Afghanistan und habe mir die Mühe gemacht, ihre Meinung anzuhören -, dass sie darüber enttäuscht sind, dass der Wert ihres Einsatzes in der Heimat in Deutschland nicht verstanden wird. Unsere Aufgabe als Parlament ist es, die Menschen in diesem Land bei einem so wichtigen Thema gut zu informieren. Um diese Aufgabe erfolgreich zu erfüllen, müssen wir selbst über den Einsatz umfassend informiert sein. Es ist völlig richtig, dass wir uns anschauen, was wir mit unserem Einsatz bisher erreicht haben. Dies ist auch Teil der Fürsorgepflicht gegenüber den Soldatinnen und Soldaten und notwendig, wenn wir über das Mandat zu entscheiden haben. ({3}) Diese Fürsorgepflicht gilt übrigens für alle in diesem Haus - unabhängig vom parteipolitischen Hintergrund. Daher ist es grundsätzlich richtig, den Einsatz sachlich und nüchtern zu bewerten. Dabei muss diese Bewertung vor allem frei von Polemik und Parteitaktik durchgeführt werden. Ich bin mir nicht bei allen Vorschlägen in diesem Antrag sicher, ob sie zielführend sind. Die im Antrag aufgezeigten Zeitvorgaben sind von vornherein nicht einzuhalten. Das gesamte hier vorgestellte Zeitkonzept ist absolut nicht realistisch. ({4}) Nach den Aussagen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das eine Evaluierung für seinen Bereich schon einmal durchgeführt hat, wird allein für die Ausschreibung einer solchen externen Evaluierung ein Zeitrahmen von bis zu einem Jahr benötigt. ({5}) Wir halten uns durch die vierteljährliche Unterrichtung über die Entwicklung in Afghanistan und die erweiterte wöchentliche Unterrichtung des Parlaments über die Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr bereits für gut informiert. Es ist ja nicht so, als ob nichts passieren würde. Hier wurde die Informationslage schon ausgeweitet. Dass weiter gehandelt werden sollte, steht außer Frage. Eine parlamentarische Begleitung dieses Einsatzes ist nach wie vor notwendig, damit das Ziel der schrittweisen Übergabe der Verantwortung erfolgen kann. ({6}) Wir sind in eine neue und entscheidende Phase des Einsatzes gekommen. Dafür brauchen wir eine erweiterte Unterrichtung des Deutschen Bundestages. Das machbare Maß einer Unterrichtung sieht unserer Meinung nach allerdings anders aus, als es die beiden Oppositionsfraktionen in ihrem Antrag skizzieren. Wir müssen uns als Parlamentarier ein Bild der Situation im Istzustand machen. Daher sind wir der Meinung, dass eine Überweisung des hier vorliegenden Antrages in den Ausschuss sinnvoll ist. So können wir schon in dieser Sitzung von der Bundesregierung umfassender unterrichtet werden. Das Thema ist jetzt auf der Agenda. Wir sagen klar: Wir wollen den Einstieg in den Ausstieg. Wir wollen einen ressortvernetzenden Ansatz. Wenn Ergebnisse da sind, wenn sich Wirkungen zeigen, werden diese natürlich geliefert und kommuniziert. Wir sehen in den konkreten Vereinbarungen der Londoner Konferenz auch die Kriterien für eine Bewertung des Einsatzes, allerdings nicht in der Rückschau für den Einsatz ab 2001. Nach der Kabuler Konferenz im Herbst dieses Jahres ist es dann an der Zeit, dass ressortübergreifende Benchmarks für die Umsetzung des aktuellen Mandats vorgelegt werden. Nach der Kabuler Konferenz möchten wir in einer öffentlichen Veranstaltung aller damit befassten Ausschüsse die vorgelegten Benchmarks diskutieren, auch unter einer möglichen Einbeziehung wissenschaftlicher Experten. Das ist unser Ansatz einer Evaluation. Er hat den großen Vorteil, dass wir unsere Verantwortung nicht outsourcen. Der Deutsche Bundestag führt diese Aufgabe durch und handelt damit. ({7}) Ende des Jahres sollte dann die Bundesregierung einen Bericht für die kommende Mandatsverlängerung vorlegen. Darin sollen Ergebnisse zur Umsetzung des aktuellen Mandates aufgeführt sein. Darin sollen notwendige Änderungen im neuen Mandat ebenfalls dargestellt werden. Es muss schlussendlich deutlich werden, welche Veränderungen der Neuansatz in Afghanistan erbracht hat und welche weitere Anpassung der Strategie für erforderlich erachtet wird. Dies, meine Damen und Herren, sind realistische Ziele. Wir sollten im Rahmen dieser Diskussion nicht den Fehler machen, die Glaubwürdigkeit dieses Einsatzes durch ein Hin und Her bei der Bewertung einzelner Einsatzfragen zu gefährden. Die Mehrheit in diesem Hause weiß, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und besser werden müssen. Deshalb ist eine parteipolitische Diskussion an der Stelle absolut nicht zielführend. ({8}) Wir haben schon eine gute Vorstellung davon, wie die Information der Bundesregierung über den Einsatz aussehen sollte, vom Umfang her und mit realistischen Zeitvorgaben. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über acht Jahren ist die Bundeswehr Teil eines Stabilisierungseinsatzes in Afghanistan. Es sind acht Jahre, in denen wir gemeinsam mit unseren internationalen Partnern und gemeinsam mit den Afghanen gerade auch beim zivilen Aufbau einiges erreicht haben, acht Jahre, in denen aber leider nicht erreicht wurde, den Schwerpunkt vom militärischen Engagement auf das zivile zu verlagern, acht Jahre, in denen auch die Zustimmung zum Einsatz in der Öffentlichkeit immer weiter gesunken ist. Eine Evaluierung dieses Einsatzes ist also wirklich überfällig. Wer jetzt sagt: „Damit fangen wir mal in einem Jahr an“, der verkennt, ehrlich gesagt, den Ernst der Situation. ({0}) Eine Evaluierung soll helfen, Konsequenzen aus dem bisherigen Engagement zu ziehen, damit die letzte Chance auf Erfolg - die letzte Chance auf Erfolg! - auch wirklich genutzt wird. Da kann man doch nicht ein Jahr warten! Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen dazu beschließen, auch weil die Evaluierung von vielen Politikern aus der Koalition immer wieder gefordert wurde. Einen möchte ich hier besonders hervorheben. Er hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juni 2008 gefordert, … nach kanadischem Vorbild eine unabhängige Kommission über Deutschlands - nicht nur militärisches - Gesamtengagement und seine künftige Rolle in Afghanistan einzurichten. Dieser Satz stammt nicht etwa von dem Grünen Winni Nachtwei. Nein, er stammt von unserem heutigen Verteidigungsminister Herrn zu Guttenberg. Insofern habe ich gehofft, dass unser Vorschlag auf offene Türen trifft. Denn Herr zu Guttenberg weiß schon seit zwei Jahren, dass das sinnvoll wäre. Wir wundern uns, dass Sie, nachdem wir einen Vorschlag gemacht haben, wochenlang geschwiegen haben. Wir hatten schon befürchtet, dass Sie jetzt in dieser ernsten Frage völlig mauern. Insofern hat es mich gefreut - allerdings hat es mich auch überrascht, dass es so lange gedauert hat; immerhin, besser spät als gar nicht -, dass sich gestern die Fraktionsvorsitzenden der Regierungskoalition endlich mit Vorschlägen gemeldet haben. Wir sind gerne bereit, darüber zu reden, damit wir vielleicht doch noch zu einer gemeinsamen Position kommen. Es wäre dem Ernst der Lage angemessen, dass wir das hinkriegen. Allerdings reichen Ihre Vorschläge so noch nicht aus. Ich glaube, Sie wissen das auch. Sie beinhalten keine Evaluierung des bisherigen Engagements, sondern bestehen zum größten Teil aus parlamentarischen Selbstverständlichkeiten - aus Dingen, die die Opposition sowieso durchsetzen kann oder die Regierung sowieso tun muss - wie Anhörungen und Berichten der Regierung. Wir nehmen das als Signal des guten Willens wahr. Lassen Sie mich auch das klar sagen: Uns ging es nie darum, einseitig die zweifellos auch vorhandenen Defizite in der Afghanistan-Politik der aktuellen Regierung herauszuarbeiten. Wir wollen die Afghanistan-Politik aus den Jahren 2001 bis 2005, also aus der rot-grünen Regierungszeit, ebenso einbeziehen wie die der Jahre 2005 bis 2009, also der Zeit der Großen Koalition. Es geht um den ernsthaften Versuch, aus der Geschichte unseres Engagements Lehren für die Zukunft zu ziehen. Ich finde, das sind wir alle, die diesen Einsatz mit verantwortet haben, der deutschen Öffentlichkeit, vor allem aber auch den deutschen Soldatinnen und Soldaten sowie den zivilen Helfern in Afghanistan schuldig. ({1}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben es in der Hand. Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht. Machen Sie das möglich, machen Sie mit bei dem, was wir Ihnen vorschlagen. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Holger Haibach für die Unionsfraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Schmidt zum Schluss gesagt hat. Insofern greife ich die Frage der Evaluation sowie die Frage auf, was da wann und wie sinnvoll ist. Ich finde, es reicht allein ein Blick auf die Zeitschiene, um festzustellen, dass ein Bericht in diesem Jahr zumindest die aktuellen Entwicklungen nicht wird abbilden können. Die Londoner Konferenz, die zu Recht den von Herrn Erler dargestellten Wechsel sowohl der Zielsetzung als auch der Methodik beim Afghanistan-Einsatz gebracht hat, fand am 28. Januar statt. Die Kabuler Folgekonferenz wird in einigen Wochen stattfinden. Was für Veränderungen soll es denn in drei oder vier Monaten geben? Es ist nicht sehr sinnvoll, einen Prozess, der gerade erst angelaufen ist, zu evaluieren und zu glauben, man käme zu wirklich belastbaren Ergebnissen. Deswegen sagen wir Ihnen: Wir sind überhaupt nicht dagegen, zu evaluieren. Aber lassen Sie uns das zu einem Zeitpunkt machen, der richtig und sinnvoll ist und an dem wir sehen können, ob das neue Konzept bzw. die neue Strategie, die sowohl in der internationalen Gemeinschaft als auch von der Bundesregierung verfolgt wird, wirklich trägt. ({0}) Sie haben das Beispiel Kanada gebracht. Ich habe damals mit Herrn zu Guttenberg und vielen anderen das Gespräch mit den Kanadiern, die diese Kommission eingesetzt haben, gesucht. Wir haben uns sehr intensiv informiert. Der Kollege Kiesewetter hat vorhin darauf hingewiesen, dass das eine Entscheidung nicht ersetzt. Ich finde es sehr spannend - das gilt auch für den Kollegen Nouripour -, dass die Kanadier diese Kommission zwar eingesetzt haben, aber am Ende des Tages doch etwas anderes gemacht haben. Das bedeutet für uns: Evaluation ist kein Selbstzweck; es ist ein Prozess. Dies betrifft übrigens auch das für die Beendigung der Evaluation vorgesehene Datum. Es ist ja nicht so, als würde jetzt nichts passieren. Selbst wenn wir sagten: „Wir setzen das Ende der Evaluation zu einem anderen Zeitpunkt an“, würde dies trotzdem bedeuten, dass wir jetzt damit anfangen müssten. Dies wird ja auch gemacht. Insofern liegen wir gar nicht so weit auseinander. Aber dies enthebt uns am Ende des Tages nicht einer politischen Entscheidung. ({1}) Wir haben es heute mit zwei verschiedenen Anträgen zu tun. Es geht zum einen um die Frage der Evaluation und zum anderen um die Frage, was getan werden kann, um die humanitäre Situation in Afghanistan zu verbessern. ({2}) Ich habe mir den Antrag der SPD angesehen. Ich sage von vornherein: Ich kann vielem von dem, was darin steht, zustimmen. ({3}) Aber vieles ist auch nicht neu. Wenn man sich das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung anschaut, wird man vieles von dem, was dort gefordert wird, wiederfinden. Ich will einen Gedanken herausgreifen: den Gedanken der Kooperation mit den Nachbarstaaten, den Gesichtspunkt, wie wir zum Beispiel Pakistan mit in den Prozess integrieren. Diesen Aspekt führen wir alle seit Jahren im Mund. Ich habe dies gemacht; viele von denen, die auf der anderen Seite dieses Hauses sitzen, tun das. Ich frage Sie: Was - außer dass wir sagen, es sei notwendig - ist unser Beitrag dazu? Wir alle haben uns sehr viele Gedanken darüber gemacht. Aber am Ende müssen wir uns über eines im Klaren sein: Unser Einfluss an dieser Stelle ist begrenzt. Der Schlüssel, was Pakistan betrifft, liegt woanders. Wir alle wissen ganz genau, wo er liegt. Insofern ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass man die regionale Kooperation braucht. Sie hätten auch etwas über den Iran, über China oder Indien sagen können. Aber nichtsdestoweniger ist dies kein wirklich neuer, origineller Gedanke. Genauso wenig neu und originell ist der Gedanke, man möge sich in der Entwicklungszusammenarbeit besonders um die ländlichen Regionen kümmern. Als wir hier über eine neue Afghanistan-Strategie gesprochen haben, haben wir gesagt: Es ist ein besonderes Zeichen der neuen Strategie der Bundesregierung, die ländlichen Räume stärker in Betracht zu ziehen. Ich will eines darüber hinaus ansprechen - dies ist wichtig -: Es ist gut, dass wir mehr Geld für den Aufbau in Afghanistan zur Verfügung haben. Aber das bringt nichts, wenn es nicht die entsprechenden Strukturen gibt, die das tatsächlich implementieren können. Eines der größten Probleme in Afghanistan ist, dass man aufgrund der Strukturen vor Ort offensichtlich nicht in der Lage ist, das Geld unterzubringen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Haibach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nouripour?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit großer Freude.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. - Herr Kollege Haibach, sind Sie imstande, der deutschen Bevölkerung, deren Akzeptanz für den Einsatz sinkt - damit sind wir alle konfrontiert -, zu erklären, welche zivilen Projekte, finanziert durch deutsche Steuermittel, in den letzten zwei Jahren beispielsweise im Raum Kunduz erfolgreich abgeschlossen worden sind, vor dem Hintergrund, dass wir nicht nur schlechte, sondern auch gute Nachrichten verbreiten sollten, wenn wir die Akzeptanz der deutschen Bevölkerung für den Einsatz gewinnen wollen?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nouripour, es kommt ganz darauf an, ob Sie das Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft sehen wollen oder nicht. ({0}) Es gibt durchaus sehr viele erfolgreiche Projekte. Mir ging es eben darum - ich kann Ihnen eine entsprechende Auflistung liefern, wenn Sie das möchten -, ({1}) darauf hinzuweisen, wo in Zukunft Notwendigkeiten für neue Aufgaben liegen. Ich habe nicht so sehr über das gesprochen, was wir gemacht haben, sondern darüber, was in Zukunft vor uns liegt. Ich sehe durchaus viele Aufgaben, die bis jetzt noch nicht hinreichend angegangen worden sind. Das wird auch keiner bestreiten. Einer der Punkte ist: Es gibt zum Beispiel Untersuchungen darüber, wie die Ministerien in Kabul internationale Hilfsgelder einsetzen. Das Spannende ist, dass der durchschnittliche Mittelabfluss bei etwa 40 Prozent liegt. Das ist eines der größten Probleme. Es nützt nichts, auf der einen Seite Geld zur Verfügung zu stellen, wenn man auf der anderen Seite vor Ort nicht in der Lage ist, das Geld entsprechend einzusetzen. Aber auch das - wenn ich das in aller Freundlichkeit sagen darf - ist kein wirklich origineller, neuer Gedanke. Ich kann vieles von dem unterstützen, was im Antrag steht; aber ich sehe nicht, wo er einen entscheidenden neuen Akzent setzt. Über die vorgelegten Punkte haben wir alle schon einmal diskutiert oder sie angesprochen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Haibach, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal vom Kollegen Raabe?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber klar.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haibach, Sie sagten, dass es nicht neu sei, dass es in den ländlichen Regionen Entwicklungszusammenarbeit gebe, und taten so, als sei das auch die Position des Entwicklungsministers. Wie verträgt sich das aber mit der Aussage des Entwicklungsministers, dass Entwicklungszusammenarbeit nur noch dort gefördert werden soll, wo die Bundeswehr stationiert ist? Und halten Sie es eigentlich für richtig, dass die Nichtregierungsorganisationen nur noch dort tätig sein dürfen, wo die Bundeswehr ist? Bedeutet das in Ihren Augen nicht eine Militarisierung der Entwicklungszusammenarbeit? ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe Herrn Niebel nicht so verstanden, dass Entwicklungshilfeorganisationen und Bundeswehr sozusagen Seit an Seit tätig sein sollen. Vielmehr geht es um die Frage der Koordination und Abstimmung. Aber ich danke Ihnen für die Zwischenfrage; sie bringt mich nämlich zu dem Punkt der Evaluierung des Einsatzes. Da gibt es keinen Widerspruch: Der Norden von Afghanistan besteht nicht nur aus städtischen Gebieten, sondern ebenso aus ländlichen Regionen, wie es auch im Süden der Fall ist. Damit sind Militär und Nichtregierungsorganisationen durchaus in derselben Region im Einsatz. Es gibt schon eine Evaluierung, die das BMZ gemeinsam mit der Wissenschaft, mit der FU in Berlin, erstellt hat. Darin finden sich vier wichtige Punkte: Erstens muss man anerkennen, dass das, was die Menschen in Afghanistan am meisten wollen, physische Sicherheit ist. Zweitens soll man die Entwicklungszusammenarbeit auf sichere Regionen konzentrieren. ({0}) - Sie wollten eine wissenschaftliche Evaluation, und jetzt sind Sie mit den Ergebnissen nicht zufrieden. Drittens sollen zivile und militärische Akteure gemeinsam Regionen der Zusammenarbeit identifizieren. Viertens sollte man anerkennen, dass diese Zusammenarbeit von zivilen und militärischen Akteuren im Zweifelsfall am ehesten dazu geeignet ist, die Glaubwürdigkeit insgesamt zu erhöhen. Insofern sehe ich da keinen Widerspruch. Ich bin auch gar nicht gegen Ihren Antrag. Ich finde nur, er bringt nicht viele neue Aspekte. Was die Frage der Evaluierung betrifft, so sind wir gerne bereit, weiter darüber zu diskutieren. Danke. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/1964 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und den Verteidigungsausschuss. Die Vorlage auf Drucksache 17/1965 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 2010, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen trotz aller Wahlkreisaktivitäten genügend Muße für Fußball, Sommerwetter und andere Dinge.