Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gibt es wieder einige Mitteilungen.
Die Kollegin Ewa Klamt und der Kollege Heinz
Lanfermann haben Ende Mai Ihre 60. Geburtstage gefeiert. Dazu möchte ich Ihnen auch auf diesem Wege
noch einmal die guten Wünsche des ganzen Hauses
übermitteln.
({0})
Die FDP-Fraktion schlägt für den ausgeschiedenen
Kollegen Hellmut Königshaus den Kollegen Joachim
Spatz als neues stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Spatz
damit in den Gemeinsamen Ausschuss gewählt.
Ebenfalls auf Vorschlag der FDP-Fraktion soll der
Kollege Dr. Heinrich Kolb Nachfolger des ausgeschiedenen Kollegen Carl-Ludwig Thiele im Vermittlungsausschuss werden. Könnten Sie sich auch damit anfreunden? ({1})
Ermutigende Zwischenrufe aus den Reihen der FDPFraktion. Widerspruch ist nirgendwo festzustellen. Dann
ist der Kollege Kolb damit in den Vermittlungsausschuss
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Abbau der Neuverschuldung durch sozial gerechte Belastung auch der starken Schultern
statt massiver Kürzungen bei Arbeitslosen
und jungen Eltern
({2})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion
von Anfang an
- Drucksache 17/1973 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren
Ergänzung zu TOP 32
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die „Information der Verbraucher über
Lebensmittel“ KOM({4}) 40
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Lebensmittelinformation verbessern - Verbindliche Ampelkennzeichnung einführen
- Drucksache 17/1987 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen
korrigieren - Pflicht zur Abmahnung einführen
- Drucksache 17/1986 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Rechtsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Anna Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen
- Drucksache 17/1985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({8}), Heinz Paula, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potenziale von Kultur und Tourismus nutzen Kulturtourismus gezielt fördern
- Drucksache 17/1966 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hochwasserschutz europäisch und ökologisch
nachhaltig umsetzen - Für ein integriertes
Hochwasserschutzkonzept
- Drucksache 17/1974 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 33
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 1099/10
- Drucksache 17/1997 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({12})
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Schnellstmögliche Aufklärung des Angriffs
des israelischen Militärs auf einen internationalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequenten Walschutz fortsetzen und verbessern
- Drucksache 17/1982 ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Einen effizienten und schlagkräftigen Europäischen Auswärtigen Dienst schaffen
- Drucksache 17/1981 ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({13}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck ({14}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten
- Drucksachen 17/1204, 17/2012 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dietmar Nietan
Michael Link ({15})
Manuel Sarrazin
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Sevim Dağdelen, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates
über die Organisation und die Arbeitsweise
des Europäischen Auswärtigen Dienstes und
zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({16}) Nr. 1605/
2002 des Rates über die Haushaltsordnung für
den Gesamthaushaltsplan der Europäischen
Gemeinschaft in Bezug auf den Europäischen
Auswärtigen Dienst
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ratsdok. 8029/10 und KOM({17}) 85 endg.,
Ratsdok. 8134/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Den Europäischen Auswärtigen Dienst entmilitarisieren
- Drucksache 17/1976 ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates
- Drucksache 17/1954 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({19}), Agnes
Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche
Regionalentwicklung
- Drucksache 17/1989 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({20})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunft öffentlich-rechtlicher Sparkassen sichern - Privatisierung verhindern
- Drucksache 17/1963 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 11 wird abgesetzt. Die Tagesordnungspunkte 8 und 16 werden getauscht.
Außerdem mache ich auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({21}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth ({22}),
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ölkatastrophen vermeiden - Raubbau an
Mensch und Natur ausschließen
- Drucksache 17/1572 überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({25}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen
- Drucksache 17/1586 überwiesen:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({26})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Sportausschuss ({27}), dem Rechtsausschuss
({28}), dem Ausschuss für Gesundheit ({29}), dem Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({30}) und dem Ausschuss für
Tourismus ({31}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen
- Drucksache 17/1762 überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({32})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll nicht mehr dem
Haushaltsausschuss ({33}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Drucksache 17/1761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({34})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Darf ich zu alldem Ihr Einvernehmen feststellen? -
Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so
beschlossen.
Ich darf nun um Ihre Aufmerksamkeit bitten für die
Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte
- Drucksache 17/1952 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({35})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Sahra Wagenknecht, Dr. Herbert Schui,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Banken regulieren - Spekulationsblasen verhindern
- Drucksache 17/1151 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({36})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang
Schäuble.
({37})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei allen
verwirrenden Einzelheiten und Entwicklungen der Debatte steht fest, dass wir aus den Krisen der Finanzmärkte und inzwischen auch der Euro-Zone zwei Konsequenzen ziehen müssen: Wir müssen zum einen die zu
hohen öffentlichen Defizite reduzieren. Darüber haben
wir in dieser Woche schon ausreichend diskutiert. Wir
werden auch weiter daran zu arbeiten haben. Zum anderen brauchen die Finanzmärkte strengere und effizientere Regeln. Man hat ja in den letzten Wochen erlebt,
dass sich die dramatisch verschlechterten Refinanzierungsbedingungen Griechenlands, Portugals oder Spaniens nur zum Teil mit den verschlechterten ökonomischen Fundamentaldaten erklären lassen. Die lange
vertretene Behauptung, dass Spekulation in der Regel
Übertreibungen am Markt entgegenwirke, also eine stabilisierende Funktion habe, stimmt so auch nicht mehr.
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre müssen wir davon ausgehen, dass die modernen Finanzmärkte in ihrer
Verflechtung und mit ihren innovativen Instrumenten
- auch durch ausgeprägtes Herdenverhalten, das durch
den elektronischen Handel noch verstärkt wird - die
Schwankungen auf den Märkten verschärfen. Dadurch können die Akteure auf den Finanzmärkten in Krisensituationen die Volatilität auf den Märkten und die
Unsicherheit der Marktteilnehmer massiv verstärken.
Im Übrigen haben die Akteure - auch das muss man
einmal aussprechen - ein Interesse an Volatilität. An stabilen, ruhigen Märkten verdienen die Spekulanten nicht
so viel. Die alte Börsenweisheit „Hin und her macht Taschen leer“ gilt offensichtlich nicht mehr, sondern das
Gegenteil gilt.
Mit dieser inhärenten Tendenz zur Volatilität können
die modernen Finanzmärkte die Bemühungen der Politik, in einer Krise rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen
und die Lage zu stabilisieren, konterkarieren. Wir haben
das kurz vor dem und am 9. Mai 2010 erleben müssen.
Die rasante Geschwindigkeit, mit der sich die Situation
an den Finanzmärkten zuspitzte, drohte die Euro-Zone
auseinanderbrechen zu lassen. Also müssen wir das Krisenverschärfungspotenzial der Finanzmärkte reduzieren.
Vor diesem Hintergrund legen wir heute unseren Entwurf eines Gesetzes zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte vor, mit dem
die zurzeit gefährlichsten Finanzinstrumente verboten
werden sollen:
Ungedeckte Leerverkäufe deutscher Aktien werden
verboten.
Ungedeckte Leerverkäufe von Staatsschuldtiteln
- also Anleihen der Länder der Euro-Zone, die an deutBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
schen Börsen gelistet sind; in Wahrheit sind das deutsche
und österreichische Staatsanleihen - werden verboten.
Der Handel mit Kreditderivaten, den sogenannten
CDS, auf Schuldtitel der Länder der Euro-Zone wird
verboten, sofern diesen kein Absicherungszweck zugrunde liegt.
Damit wir, weil das in seinen Auswirkungen auf die
Finanzmärkte kompliziert und sensibel ist, genauer steuern können, schlagen wir vor, das BMF durch Rechtsverordnungen zu ermächtigen, Ausnahmen von und zusätzliche Maßnahmen zu den gesetzlichen Verboten
vorsehen zu dürfen.
Wir ergreifen diese Maßnahmen, weil wir uns des
Eindrucks nicht erwehren können, dass Leerverkäufe
und CDS ohne Absicherungszweck am Ende Einfluss
auf den Ausgang der Geschäfte nehmen und so eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Vieles in der Wettbewerbswirtschaft ist Wette auf den Eintritt ungewisser Ereignisse oder auch Spekulation; das ist nichts Negatives.
Aber wenn der Wettteilnehmer eine Einflussmöglichkeit
auf den Ausgang der Wette hat, dann würde man im
Fußball von einem Wettskandal sprechen. Genau das haben wir aber bei der missbräuchlichen Nutzung dieser
Instrumente feststellen müssen. Deswegen müssen diese
Instrumente beseitigt werden.
({0})
Es gab im Vorfeld verständlicherweise eine Menge
Kritik. Ich sage aber noch einmal deutlich: Das Argument, dass durch mehr Regulierung das Angebot auf den
Märkten verringert und damit die Fähigkeit der Märkte
zur korrekten Preisbestimmung beeinträchtigt wird, ist
zwar nicht von der Hand zu weisen, aber dagegen steht
das Argument der Missbrauchsmöglichkeiten, und ich
glaube, dass dieses überwiegt. Deswegen haben wir uns
entschieden, diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Im Übrigen habe ich bisher von interessierter Seite nur Kritik,
aber keine alternativen Vorschläge dazu gehört, wie man
die krisenverschärfenden Wirkungen dieser Instrumente
kurzfristig in den Griff bekommen könnte.
Auch der Vorwurf des nationalen Alleingangs ist
üblich, aber er beeindruckt mich nicht mehr so sehr.
({1})
- Den Einwurf von der Linkspartei nehme ich einfach
hin, aber die Sozialdemokraten muss ich daran erinnern,
dass ich erst seit einem knappen halben Jahr Bundesfinanzminister bin. Deshalb sollten Sie genau aufpassen,
gegen wen sich Ihre Argumente im Ergebnis wirklich
richten.
({2})
Ich bin alt genug, dass mir kein Zacken aus der Krone
fällt, sofern ich eine haben sollte, wenn ich sage: Wir lernen aus diesen Erfahrungen, und wir machen Erfahrungen, die wir uns vor ein paar Monaten gar nicht hätten
vorstellen können. - Ungeeignet wären wir nur dann,
wenn wir nicht mehr in der Lage wären, aus neuen Erfahrungen entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das
unterscheidet uns von Ihnen.
({3})
Zu der Kritik der mangelnden Abstimmung will ich
sagen: In anderen europäischen Staaten, zum Beispiel in
Frankreich und Spanien, gibt es vergleichbare Regelungen, auch in den USA, in Singapur - der singapurische
Finanzminister war in diesen Tagen in Berlin -, in Hongkong und in Japan. Im Übrigen haben Präsident Sarkozy
und die Bundeskanzlerin in diesen Tagen einen Brief an
die Kommission geschrieben, in dem sie die Kommission auffordern, möglichst rasch Vorschläge für eine europäische Lösung vorzulegen. Als ich in der Sitzung der
Ecofin-Gruppe am 18./19. Mai zur Kenntnis nehmen
musste, dass die Kommission bis Oktober braucht, um
Vorschläge vorzulegen - das war für mich ausschlaggebend -, haben wir uns entschieden, voranzugehen, in der
festen Hoffnung und der Erwartung, dass das eine gemeinsame europäische Regelung nicht erschwert, sondern sie dadurch schneller zustande kommt. Genauso
waren wir bei der Bankenabgabe nicht Spalter in Europa, sondern Vorreiter und diejenigen, die europäische
Regelungen zustande bringen.
({4})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die in
Rede stehenden Maßnahmen sind ein Teil der Bemühungen, mit einer strengeren Regulierung des Finanzsektors
die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Wir haben
aber auch bereits eine Fülle von Maßnahmen ergriffen,
die bei den Ursachen ansetzen sollen.
Wir brauchen robustere Eigenkapital- und Liquiditätsregeln für die Finanzinstitute. Das ist vor allem der
Basel-Prozess, der durch die Kommission und die Europäische Union in europäische Rechtsetzung umgesetzt
wird.
Wir brauchen klügere Anreizsysteme. Das haben wir
mit den Vergütungsregelungen schon auf den Weg gebracht.
Wir brauchen strengere Haftungsregelungen für die
Finanzmarktakteure.
Wir brauchen eine durchschlagskräftigere Finanzmarktaufsicht.
Wir brauchen am Ende auch einen wirksameren
Schutz der Steuerzahler und Sparer; darüber haben
wir gestern gesprochen.
Neben dem Restrukturierungsfonds für Banken brauchen und wollen wir eine zusätzliche Belastung des Finanzsektors durch eine international oder europäisch zu
vereinbarende Besteuerung; auch darüber sind wir uns
einig.
Ich glaube, dass wir mit all diesen Maßnahmen die
Probleme nicht gelöst haben, wohl aber auf dem richtigen Weg sind. Ich werbe dafür, dass wir mit großer Offenheit und großer Entschiedenheit diesen Weg weitergehen. Deswegen bitte ich um eine zügige Beratung des
Gesetzentwurfs.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Manfred Zöllmer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Finanzminister Schäuble hat eben gesagt, diese Koalition sei in der Lage, dazuzulernen. Sehr schön! Aber
machen Sie es doch einfach mal! Machen Sie es bei der
Mehrwertsteuer für Hoteliers! Nehmen Sie die Reduzierung zurück!
({0})
Im Regierungsentwurf zum Verbot von Leerverkäufen heißt es wörtlich:
Die Finanzkrise hat das Vertrauen in die Finanzmärkte erschüttert und die Notwendigkeit weiterer
substanzieller Verbesserungen des Aufsichtsrechts
zu Tage treten lassen.
Richtig. Aber warum wurden eigentlich entgegen sozialdemokratischen Warnungen im Februar dieses Jahres auf
einmal Leerverkäufe wieder zugelassen, nachdem Peer
Steinbrück dafür gesorgt hatte, dass diese Art der Finanzmarktgeschäfte als Konsequenz aus der Finanzmarktkrise verboten wurde?
({1})
Die Politik dieser Bundesregierung gegenüber den Finanzmarktakteuren richtet sich nach dem Motto: Ich lege
mich mal auf Grund und spiele U-Boot. - Gelegentlich
taucht die Bundesregierung wieder aus dem Meer der
politischen Stille auf, sondert ein paar markige Willenserklärungen ab und taucht dann erneut unter. Diese Regierung hat keinen Plan, kein Konzept, keine Vorstellung
von dem, was sie bei der Regulierung der Finanzmärkte
eigentlich erreichen will.
({2})
Da verkündet Herr Schäuble, er wolle eine Bankenabgabe. Dann taucht ein Herr Dobrindt aus Bayern auf
und sagt: „Wir wollen aber das Dreifache!“. Dass bis dahin überhaupt noch keine konkrete Summe genannt worden ist, stört ihn nicht.
Dann findet Frau Merkel, die Finanztransaktionsteuer sei eine reizende Idee. Anschließend taucht Herr
Westerwelle auf und sagt: „Nur über unsere politische
Leiche! Ohne uns! Die FDP macht da nicht mit.“ Da
wird eine Financial Activities Tax gefordert, dann wieder eine Bankenabgabe. Auch über die Eigenkapitalquote der Banken wird diskutiert.
Vielleicht will man aber auch eine Finanzmarkttransaktionsteuer oder lieber doch nicht, wenn sie nicht
weltweit eingeführt wird. Oder man will sie vielleicht
doch, aber man glaubt nicht daran. Ich habe da noch die
Äußerung des Finanzministers im Ohr. Sicherheitshalber
wird bereits eine Einnahmeposition in Höhe von 2 Milliarden Euro aus der Finanztransaktionsteuer zur Haushaltskonsolidierung eingesetzt.
Dann will man eine Reform der Bankenaufsicht.
Das sei ein zentrales Projekt der Koalition und völlig unverzichtbar. Plötzlich heißt es: Nein, das ist uns jetzt zu
kompliziert. Weg damit!
Diese Bundesregierung handelt konsequent nach dem
Motto: Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit
ganzer Kraft.
({3})
Wo bleibt ein Konzept, in dem dieser Finanzmarkt- und
Bankensektor als Ganzes betrachtet wird und in dem
Maßnahmen benannt werden, deren Zusammenwirken
analysiert werden, ein Konzept, das konsequent verfolgt
wird?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen dringend Regeln für ein außer Kontrolle geratenes Finanzsystem, das uns durch exzessive Spekulation ohne Risikobewusstsein, ohne Kontrolle und ohne Moral in die
größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit geführt hat.
Wir brauchen auch ein funktionierendes Finanzsystem,
ein System, das dienende Funktion für die reale Wirtschaft hat. Wir brauchen Rahmensetzungen. Wir brauchen Leitplanken, die ein Ausbrechen der Finanzmärkte
verhindern, und nicht ein kindisches Geplänkel à la
„Wildsau“ gegen „Gurkentruppe“.
({4})
Die Finanzmarktkrise war 2008. Nun, Mitte 2010,
kommt dieser Entwurf eines Gesetzes gegen missbräuchliche Wertpapier- und Derivategeschäfte. Leerverkäufe waren schon am Crash von 1929 ursächlich beteiligt. Danach waren sie lange Zeit verboten, bis sie
dann wieder zugelassen wurden. Diese Finanzwetten
dienen nicht der Markttransparenz, wie viele Marktpuristen behaupten. Es sind Wetten auf Entwicklungen, die
kapitalstarke Investoren erst hervorrufen. Selbst der
Chef von Goldman Sachs musste einräumen, dass viele
von den Banken entwickelte Finanzinstrumente volkswirtschaftlich ohne Nutzen sind. Deshalb müssen wir
den Zockern vorschreiben, was sie zu tun und was sie zu
lassen haben.
({5})
Meine erste Frage lautet deshalb: Warum jetzt, nachdem erst Anfang Februar dieses Jahres das bis dahin bestehende Verbot von Leerverkäufen mit der Begründung
aufgehoben wurde, die Lage an den Märkten sei hinreichend stabil? Unsere Kritik an der Aufhebung des Verbotes wurde weggewischt. Doch die Regierung kam
durch ihr Nichtstun immer mehr unter Druck, und mit
dem Rettungsschirm für den Euro wurde der politische
Druck dann so stark, dass man etwas tun wollte, um es
vorzeigen zu können. Deshalb wird jetzt dieser Gesetzentwurf eingebracht.
({6})
Meine zweite Frage lautet: Warum nur in Deutschland? Warum hat es nicht den Versuch gegeben, diese
Maßnahmen europaweit umzusetzen?
({7})
Der deutsche Alleingang hat viel Ärger und Unverständnis bei den europäischen Partnern ausgelöst, Ärger, weil
nichts abgestimmt wurde, Unverständnis, weil Deutschland seine Chancen als Motor bei der Regulierung der
Finanzmärkte, seitdem Schwarz-Gelb die Bundesregierung stellt, nicht nutzt. Damit es kein Missverständnis
gibt: Die Kritik aus Europa am Verfahren ist richtig, die
Kritik am Inhalt der Maßnahme so nicht.
({8})
Deutschland hat sich vom Motor Europas zum Bremser entwickelt. Das ist verheerend. Die für Europa so
zentrale Achse von Frankreich und Deutschland besteht
nicht mehr. Die Ergebnisse haben wir in der Euro-Krise
gesehen. Der französische Präsident konnte öffentlich
sagen, er habe sich zu 95 Prozent gegen Madame Non,
also Frau Merkel, durchgesetzt. Die Verärgerung vieler
europäischer Länder über die Bundeskanzlerin ist nach
wie vor groß. Leider ist Deutschland inzwischen ein Teil
des Problems in Europa geworden, nicht ein Teil der Lösung.
Die dritte Frage lautet: Was bringt das? Was soll
durch diesen Gesetzentwurf geregelt werden? Es wird
das Wertpapierhandelsgesetz dahin gehend geändert,
dass bestimmte Geschäfte verboten werden. Untersagt
werden ungedeckte Leerverkäufe von deutschen Aktien,
ungedeckte Leerverkäufe von Papieren von Staaten der
Euro-Zone und Kreditausfallversicherungen auf Verbindlichkeiten von Staaten der Euro-Zone, die keinen
Absicherungszwecken dienen. Die Aktivitäten an den
Märkten sollen transparenter werden. Dafür wird ein
zweistufiges Transparenzsystem über die BaFin etabliert.
An ungedeckte Leerverkäufe heranzugehen, sie zu
untersagen, ist richtig. Wir Sozialdemokraten fordern
das seit langem. Es ist ein wichtiges politisches Signal
an die Märkte. Es geht um den Handel mit Papieren, die
man gar nicht besitzt, um mit Kursmanipulationen Geld
zu verdienen - viel Geld. Daraus können sich systemische Risiken entwickeln. Im Zweifelsfall muss dann der
Steuerzahler das Risiko tragen. Wir haben das im Zusammenhang mit Staatsanleihen hautnah erlebt.
Verbot klingt gut, zupackend und problemlösend.
Aber man muss wissen: All dies gilt nur für Wertpapiere,
die an einer deutschen Börse im regulierten Markt zugelassen sind,
({9})
und das sind im Wesentlichen Aktien deutscher und weniger ausländischer Emittenten sowie nur deutsche und
österreichische Staatstitel.
({10})
Bei Währungsderivaten sprechen wir von einem Anteil
von 1,5 Prozent am weltweiten Umsatz, der in Deutschland getätigt wird. Warum ist die Bundesregierung
eigentlich nicht in der Lage, eine solche Maßnahme europaweit durchzusetzen? Wir brauchen dringend mindestens eine europaweite Lösung; besser wäre es, wenn
wir weltweit die großen Finanzmärkte in dieses Verbot
einbeziehen könnten.
({11})
Die vierte Frage in dem Zusammenhang lautet: Warum haben Sie den vorliegenden Entwurf eigentlich gegenüber dem Referentenentwurf abgeschwächt? Im
Referentenentwurf hatten Sie für bestimmte Papiere
noch ein Verbot vorgesehen; jetzt ist daraus eine Ermächtigung für die BaFin geworden, ein solches Verbot
auszusprechen. Warum sind Sie da zurückgerudert?
({12})
Diese Frage müssen Sie beantworten.
Die fünfte Frage lautet: Was muss noch geschehen?
Wir brauchen eine internationale Regelung. Wir brauchen eine wirkliche Reform dieser Märkte. Der vorliegende Gesetzentwurf ist leider nur ein erster kleiner
Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Investor Warren
Buffett hat CDS einmal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ genannt. Wir dürfen nicht zulassen, dass
sie ihr Zerstörungswerk erneut entfalten können.
Vielen Dank.
({13})
Volker Wissing ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten passiert ist, hat uns alle beeindruckt.
({0})
Ich glaube, niemand hat wirklich vorhersehen können,
was da passiert ist, wie es sich entwickelt und zugespitzt
hat. Aber nun, Herr Kollege Zöllmer, stellen Sie sich
hier hin und erzählen uns die Geschichte,
({1})
dass Sie seit Jahren darauf warteten, dass endlich reguliert wird, wo Sie doch elf Jahre lang den Finanzminister
gestellt haben. Sie waren nicht nur in Regierungsverantwortung. Sie haben den Finanzminister gestellt.
({2})
Jetzt sagen Sie, die SPD warte seit elf Jahren und dränge
immer darauf, dass etwas passiert.
({3})
Warum haben Sie das Ihren Finanzministern nie gesagt?
Das wäre doch ein einfacher Weg gewesen.
({4})
Deswegen wäre ein Stück Ehrlichkeit besser.
({5})
Sie haben es nicht gesehen, Sie haben es nicht erkannt.
Wir sind bereit, zu sagen: Auch wir haben nicht immer darauf gedrängt, dass wir eine solche Regulierung,
wie wir sie heute für notwendig erachten, bekommen.
Aber Sie hatten die Verantwortung, und die werden Sie
auch im Nachhinein nicht los.
({6})
Deswegen wäre es angemessen, wenn Sie uns keine erfundenen Geschichten präsentierten, sondern zu Ihrer
Verantwortung stünden.
Herr Kollege Zöllmer, es ist nicht wahr, dass das
Leerverkaufsverbot, das Herr Steinbrück angeordnet hat,
von dieser Bundesregierung aufgehoben worden ist, sondern es ist von Herrn Steinbrück befristet worden.
({7})
Er hat die Lage falsch eingeschätzt - dazu kann man stehen - und die Regelung befristet.
({8})
Dann ist es zu einer Zeit ausgelaufen, in der ein Auslaufen nicht zu verantworten war. Wir als Koalitionsfraktionen haben nun die Regierungsverantwortung; Bundesminister Schäuble hat die Situation erkannt. Wir haben
einen Gesetzentwurf zur Lösung dieses Problems vorgelegt.
Deswegen sollten wir zu mehr Sachlichkeit zurückkehren und gemeinsam erkennen, wie richtig dieser Gesetzentwurf ist.
({9})
- Wir hätten es nicht mit eingebracht, wenn wir dagegen
wären, Herr Kollege Poß. Der Entwurf ist richtig, notwendig und ausgewogen. Er gibt den Aufsichtsbehörden
jene Instrumente an die Hand, die sie brauchen.
Herr Kollege Wissing, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr Kollege Schick.
Herr Kollege, Sie haben im Zusammenhang mit der
Befristung gesagt, man habe in der Großen Koalition die
Lage falsch eingeschätzt. Das ist wahrscheinlich so.
Stimmen Sie mir zu, dass auch Ihre Koalition die Lage
falsch eingeschätzt hat? Denn schließlich hatten Sie das
Leerverkaufsverbot erst im Rahmen eines anderen Gesetzes vorgesehen und wollten das erst auf lange Sicht
umsetzen. Jetzt haben Sie das kurzfristig ausgelagert,
also die Lage offensichtlich auch falsch eingeschätzt.
Ich möchte Ihnen ausdrücklich widersprechen, Herr
Kollege Schick, und greife dabei auf das zurück, was
mein Vorredner, der Kollege Zöllmer, gesagt hat. Wir haben versucht, eine internationale Abstimmung durchzuführen, um wenigstens in Europa einen möglichst
breiten Konsens dafür zu erreichen.
({0})
Wenn man merkt, dass es notwendig ist, in einer bestimmten Situation und in Bezug auf eine wichtige
Frage, deren Lösung für uns notwendig ist, als Bundesrepublik Deutschland vorbildhaft einen Schritt voranzugehen, dann muss man das tun. Das ist keine Falscheinschätzung der Lage, es ist eine sehr realistische
Einschätzung der Lage, die diese Bundesregierung vorgenommen hat. Wir sollten uns darauf konzentrieren, so
weiterzumachen. Das ist der richtige Weg. Wir unterstützen ihn voll und ganz.
({1})
Meine Damen und Herren, Märkte brauchen Regeln.
Sie brauchen einen klaren staatlichen Ordnungsrahmen,
sonst ist immer die Gefahr gegeben, dass Systeme sich
selbst zerstören. Wir dürfen uns aber auch nicht einreden, dass mit der Regulierung der Märkte so, wie die
Sozialdemokraten uns das vortragen, das Problem gelöst
ist. Die Lösung der Euro-Krise liegt nicht allein in der
Regulierung.
({2})
Wer sich vor Spekulationen schützen möchte, braucht
vor allem eines, einen gesunden Staatshaushalt.
({3})
Wir können bestimmte Formen von Spekulation regulieren. In Teilen können wir sie auch verbieten. Wir können
aber die Märkte nicht zwingen, in öffentliche Anleihen
zu investieren. Die Märkte haben dem Euro lange Zeit
das Vertrauen ausgesprochen. Sie haben es hingenommen, dass Griechenland trotz des Vorlegens falscher
Zahlen in die Euro-Zone aufgenommen wurde. Sie haben die hohe Neuverschuldung der Euro-Länder über
viele Jahre hinweg ziemlich geräuschlos akzeptiert.
({4})
Ja, sie haben auch lange Zeit die von Rot-Grün betriebene Aufweichung der Euro-Stabilitätskriterien ohne
Verwerfungen hingenommen.
({5})
Aber weder die Aufnahme Griechenlands noch die
Aufweichung der Stabilitätskriterien waren Entscheidungen der Märkte. Das waren politische Entscheidungen, im Übrigen solche, die die Sozialdemokraten, Herr
Kollege Zöllmer, gemeinsam mit den Grünen, Herr Kollege Schick, zu verantworten haben.
({6})
Auch das ist Teil der Wahrheit. Deswegen dürfen Sie
sich nicht hinstellen und uns, nachdem Sie elf Jahre Verantwortung für das Finanzressort getragen haben, erzählen, dass man durch eine Schwächung der Märkte, so
wie Sie sich das wünschen, das Problem lösen könnte.
({7})
Sie haben mit dazu beigetragen, dass der Staat in die Abhängigkeit von starken Märkten geführt worden ist,
({8})
und dieses Problem löst man nicht allein, indem man reguliert, und man löst es schon gar nicht, indem man die
Märkte schwächt, sondern indem man die Unabhängigkeit des Staates wiederherstellt. Dies ist durch solide
Haushaltspolitik möglich, und das macht diese Koalition.
({9})
Meine Damen und Herren, wir mussten einige Fehler
korrigieren, die unter sozialdemokratischer Verantwortung in Deutschland gemacht worden sind: Wir haben
ein Schuldenproblem, wir haben ein Währungsproblem,
wir haben deregulierte Finanzmärkte.
({10})
Wir werden diese Dinge Schritt für Schritt angehen.
Sie haben das Thema Bankenaufsicht angesprochen.
Auch das ist ein Thema, das diese Koalition auf den Weg
bringen wird.
({11})
Im Fall Hypo Real Estate haben wir festgestellt, dass die
Finanzaufsicht Schwächen hat. Diese Schwächen müssen beseitigt werden. Aber Sie sollten sich nicht hinstellen und mit dem Finger auf diese Koalition zeigen, denn
die Fehler sind in Ihrer Regierungsverantwortung entstanden, meine Damen und Herren. Das muss doch klar
gesagt werden.
({12})
Deswegen gehen wir jetzt die Dinge an, die Sie nicht
in Angriff genommen haben. Sie haben im Regulierungssystem und im Aufsichtssystem Lücken hinterlassen, und diese Lücken müssen im Interesse sicherer,
stabiler Finanzmärkte geschlossen werden. Das ist die
Aufgabe dieser Koalition. Mit dem heutigen Gesetzentwurf gehen wir weiter in die richtige Richtung, und dies
unterstützen wir ausdrücklich.
Die Freien Demokraten sehen direkte Eingriffe in
Marktgeschehen durchaus kritisch. Deswegen halten wir
es auch für richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf
die notwendige Differenzierung vorsieht. Wir geben den
Finanzaufsichtsbehörden Instrumentarien an die Hand,
gegen Exzesse auf den Märkten vorzugehen; wir schaffen aber keine Automatismen.
Die Linkspartei wird uns gleich erzählen, dass man
am besten alle Kapitalmarktprodukte verbietet. Das wird
Herr Gysi gleich vortragen, so nach dem Motto: „Wenn
man nichts mehr isst, isst man auch nichts Falsches“.
Aber dann, Herr Gysi, hat man ein anderes, ein noch
größeres Problem. Deswegen muss man vernünftig vorgehen, und das tut diese Regierung: abgewogen, international abgestimmt, wo eine internationale Abstimmung
erforderlich ist, insbesondere bei Steuerfragen, aber auch
im nationalen Vorausgang, wenn es notwendig ist, beispielhaft zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland handlungsfähig und auch entschlossen ist, die notwendigen Regulierungsmaßnahmen an den Märkten
voranzutreiben.
Herzlichen Dank.
({13})
Herr Kollege Gysi, wenn Sie nun noch Ergänzungen
zu den Vermutungen des Kollegen Wissing über Ihre beabsichtigte Rede vortragen wollen, erhalten Sie jetzt das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, ich
hatte mich auch schon gewundert, wer Herrn Wissing
meine Rede zur Verfügung gestellt hat; dabei hatte ich
gar nicht vor, dies zu sagen.
Ich sehe übrigens mit großem Interesse, wie Frau
Homburger und Herr Kauder die ganze Zeit miteinander
sprechen. Ich sage Ihnen jetzt schon: Sie einigen sich
trotzdem nicht.
({0})
Aber kommen wir zum eigentlichen Problem: Die Finanzkrise ist noch längst nicht überwunden, obwohl
viele hier so tun. Gegen den Euro wird weiter spekuliert.
Die nächsten Spekulationsblasen drohen zu platzen,
und zwar wiederum in den USA. Da passiert jetzt nämlich Folgendes: Die Gewerbeimmobilien sind nicht mehr
zu vermieten und nicht mehr zu verkaufen. Daher können die Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden, die
Banken bleiben darauf sitzen, und dann erleben wir die
nächste Krise.
Ich frage mich immer, was die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker zum Beispiel der G-20-Staaten
eigentlich dagegen tun. Sie treffen sich in Südkorea und
teilen uns mit: Es wird gar nichts dagegen getan. Ich
halte das für den Gipfel der Unverfrorenheit der Politik,
und zwar weltweit.
({1})
Auch die Euro-Krise ist nicht überwunden; in Spanien spitzt sich die Lage weiter zu. Dort besteht eine Rekordarbeitslosigkeit von über 20 Prozent. Wir erleben
Sozialkürzungen, wir erleben Kaufkraftrückgang, die
Binnenwirtschaft droht zusammenzubrechen, mit allen
damit verbundenen Folgen. Ich sage Ihnen jetzt schon,
Herr Schäuble: Dann treffen sich wieder alle EU-Finanzminister und überlegen sich die nächste Spritze, weil es
anders gar nicht zu handhaben ist. Wir kommen aus dem
Gewurschtel überhaupt nicht heraus, wenn nicht die
Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik endlich einmal
wirklich umgestellt wird.
({2})
Wegen der drohenden neuen Krise misstrauen sich die
Banken schon wieder gegenseitig. Sie leihen sich gegenseitig kein Geld mehr. Es ist doch interessant, dass am
Montag die Geschäftsbanken schon wieder 350 Milliarden Euro bei der Europäischen Zentralbank geparkt haben, obwohl sie bei dieser Zentralbank viel weniger Zinsen bekommen als bei anderen Banken. Sie trauen den
anderen Banken nicht mehr. Auch hier staut sich schon
wieder vieles an, was zur nächsten Krise führt.
Zu G 20. Um es ganz klar zu sagen, Herr Schäuble:
Sie haben sich weder auf eine Bankenabgabe noch auf
eine Finanzmarkttransaktionsteuer geeinigt. Sie haben
keine festeren Wechselkurse und keine Regulierung der
Finanzmärkte festgelegt. Die Wettgeschäfte sind nicht
beseitigt, die riesigen Spekulationen gehen weiter,
Hedgefonds können so weitermachen wie bisher. Dabei
ist wirklich nichts herausgekommen, außer Spesen.
({3})
Was ist das Signal? Was haben Sie damit bisher den
Banken und den Spekulanten gesagt? Sie haben gesagt:
Treibt es weiter so! Für die Verluste haftet ihr sowieso
nicht. Die bezahlen bei uns die Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. - Das halte ich übrigens
für den Gipfel der Unverschämtheit; um es klar zu sagen.
({4})
Sie haben gesagt: Wir werden euch das Geld für eure
Gläubiger und Eigentümer, das heißt für die Aktionäre,
zur Verfügung stellen.
Nun hat die Regierung - das muss ich sagen - doch
noch den ganzen Mut eines Jahrhunderts zusammengenommen und sich entschieden, den Entwurf eines Gesetzes zur Vorbeugung gegen missbräuchliche Wertpapierund Derivategeschäfte vorzulegen. Das Schwert ist aber
ziemlich stumpf und wird wohl eher wirkungslos bleiben. Sie wollen zunächst ungedeckte Leerverkäufe
verbieten; das ist völlig richtig.
Herr Zöllmer, Sie haben gesagt, dass Sie das seit Jahren fordern. Sie hätten nur erwähnen sollen, dass erst Sie
die Erlaubnis dazu gegeben haben. Das gehört zur Vollständigkeit einer solchen Aussage hinzu.
({5})
Leerverkäufe sollen also verboten werden, aber nur in
der Euro-Zone.
({6})
Das heißt, außerhalb der Euro-Zone soll auch an unseren
Börsen weiterspekuliert werden dürfen. Damit lösen Sie
das Problem nicht.
Das Zweite ist, dass Sie ungedeckte Kreditausfallversicherungen verbieten wollen, aber wiederum nur
für Verbindlichkeiten im EU-Markt. Das heißt, Sie sagen: Wetten auf den Dollar und auf das Pfund können
fortgesetzt werden, auch was Pleiten anderer Staaten betrifft. Warum sind Sie nicht in der Lage, diesbezüglich
ein vollständiges Verbot auszusprechen und zu sagen:
„Wir wollen nicht länger von Spekulationen leben, sondern Realwirtschaft in dieser Gesellschaft entwickeln“?
Warum sind Sie dazu nicht in der Lage?
({7})
Immerhin hat in der FDP und der CDU/CSU ein Gesinnungswandel stattgefunden. Denn wenn wir solche
Maßnahmen früher ganz bescheiden gefordert haben,
dann haben Sie uns immer gesagt: Das ist ein Teufelswerk gegen die Marktwirtschaft. - Ich stelle mit Erleichterung fest, dass Sie dazulernen können.
Wenn Sie aber bei der jetzigen Halbherzigkeit bleiben, dann werden die Maßnahmen ziemlich wirkungslos
bleiben. Das ist unsere Sorge. Ich sage Ihnen, was das
Hauptproblem ist. Das Hauptproblem ist ein strukturelles Ungleichgewicht innerhalb der Welt. Wenn Sie sich
die einzelnen Länder vor dem Hintergrund der Weltwirtschaft, des Weltfinanzmarktes ansehen, dann stellen Sie
fest, dass rapide so große Unterschiede, übrigens auch
auf dem Finanzmarkt, geschaffen werden, auf die dann
wiederum die Spekulanten spekulieren und damit riesige
Gewinne machen. Deshalb brauchen wir etwas anderes.
Was ist eigentlich Ihre Antwort darauf? Ich kann ja
nicht nur über den vorliegenden Gesetzentwurf reden.
Herr Schäuble, Sie machen eine Agenda 2014. Sie fragen: Woher bekommen wir denn das Geld, das wir jetzt
dringend brauchen? Innerhalb einer Woche können Sie
ja Summen in Höhe von 480 Milliarden Euro beschließen, um die Banken zu retten. Nun muss ja irgendwann
einmal die Frage beantwortet werden: Was ist zu tun?
Sie sagen, Sie wollten die Ausgaben um 80 Milliarden
Euro reduzieren. Im Kern machen Sie keine einzige
Steuererhöhung. Sie sagen damit: Wir werden die Lasten
ganz einseitig verteilen.
Was machen Sie im Sozialbereich? Ich habe wirklich
gestaunt. Ich fange einmal bei den Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern an.
({8})
- Hören Sie zu! - Da gibt es heute Pflichtleistungen. Sie
haben Anspruch auf bestimmte Qualifizierungen. Sie
sollen angeblich nicht nur gefordert, sondern auch gefördert werden. Aus diesen Ansprüchen machen Sie eine
Ermessensleistung und sagen: Bei diesen Ermessensleistungen muss bis zum Jahre 2014 ein Betrag von
16 Milliarden Euro gespart werden. Herr Schäuble,
wenn man diese Summe sparen will, heißt das, dass es
deutlich weniger Maßnahmen gibt. Was heißt denn Ermessen? Welche Willkür führen Sie denn da eigentlich
ein? Dann sitzt da der Angestellte herum und sagt: Die
gefällt mir besser, die gefällt mir weniger; die eine bekommt die Maßnahme, die andere nicht. - Was ist das
denn für ein Rechtsdenken? Tauschen Sie nicht einen
Anspruch gegen eine Willkürentscheidung, wie Sie das
hier vorbereitet haben.
({9})
Zum Zweiten streichen Sie das Übergangsgeld beim
Übergang von ALG I zu ALG II. Das heißt, Sie sagen
den Arbeitslosen: Du musst deinen Lebensstandard sofort rapide senken; das Übergangsgeld wird gestrichen.
({10})
Zum Dritten streichen Sie die Rentenbeiträge für
Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger.
({11})
- Hören Sie zu! - Das hat zwei Folgen. Die eine Folge
ist, dass Sie für die Betroffenen damit die Renten kürzen.
Die haben sowieso schon so geringe Renten, und die
kürzen Sie noch weiter. Die zweite Folge ist, dass diese,
wenn sie eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau
beziehen, die Differenz doch wieder vom Staat bezahlt
bekommen.
({12})
Sie sparen also jetzt das Geld und geben es dann später
zur Aufstockung bis auf das Grundsicherungsniveau
wieder aus. Da gibt es nur einen Unterschied: Jetzt
müssten Sie das bezahlen, die Differenz beim Grundsicherungsniveau muss aber die Kommune bezahlen. Damit machen Sie die Kommunen noch „pleiter“ als sie es
ohnehin schon sind. Auch das ist ein Schritt in die völlig
falsche Richtung.
({13})
Dann komme ich zum Mindestelterngeld.
({14})
- Nein, lassen Sie mich über das Mindestelterngeld sprechen. Ich möchte noch einmal die Geschichte - ({15})
- Ich wusste, dass Sie sich aufregen. Das hängt aber
doch zusammen. Sie machen doch das Sparpaket wegen
der Krise, und über diese Krise diskutieren wir hier. Hören Sie einmal zu, Sie können mir doch nicht das Wort
verbieten!
({16})
Deshalb sage ich Ihnen: Jetzt reden wir über das Elterngeld.
({17})
Also, wie war das? - Die Bedürftigen bekamen zwei
Jahre lang 300 Euro pro Monat. Dann hat die Große Koalition - meine Damen und Herren von der SPD, das
müssen auch Sie rechtfertigen - entschieden, das Elterngeld von 300 Euro auf bis zu 1 800 Euro zu erhöhen,
nämlich für die Besserverdienenden. Aber weil sie das
Geld nicht hatte, hat sie gesagt, dafür kürzen wir das Elterngeld von zwei Jahren auf zwölf Monate bzw.
14 Monate. Mehr als die Hälfte der Bezieherinnen und
Bezieher bekommt aber nur die 300 Euro. Das heißt, den
Ärmsten in der Gesellschaft habt ihr gesagt: Ihr bekommt zehn oder zwölf Monate weniger die 300 Euro,
damit wir den Besserverdienenden 1 800 Euro bezahlen
können. Das ist ein Skandal. Das hätte die SPD nie mitmachen dürfen. Sagen Sie das doch wenigstens einmal!
({18})
Jetzt kommt der Höhepunkt, Sie sagen jetzt: Wir
streichen das Elterngeld für Hartz-IV-Empfängerinnen
und Hartz-IV-Empfänger vollständig. Sie bekommen
nicht einmal mehr diese 300 Euro, keine zwölf Monate
wie bisher. Bei den Besserverdienenden bleibt jedoch im
Kern alles beim Alten. Weiter gibt es bis zu 1 800 Euro.
Außerdem streichen Sie den Heizkostenzuschuss für
Geringverdienerinnen und Geringverdiener.
Ich will jetzt gar nicht darüber reden, was Sie bei den
Bundesbeamten machen. 10 000 Stellen wollen Sie
streichen. Was heißt das denn eigentlich, Herr Schäuble? Bekommen dann nur noch britische Anwaltsfirmen den
Auftrag, Gesetzentwürfe zu erarbeiten, weil Ihre Ministerien das nicht mehr können? Was soll dabei denn eigentlich herauskommen?
({19})
Abgesehen davon erhöht es - sage ich einmal - auch in
jeder Hinsicht die Arbeitslosigkeit. Sie wollen auch noch
die Bezüge der Beamten kürzen.
({20})
Herr Kollege!
Herr Präsident, ich weiß, Sie wollen mir sagen, dass
die Redezeit abgelaufen ist.
Ja, so ist es.
Ja, ich weiß das, ich sehe es. Lassen Sie mich deshalb
zum Schluss sagen: Die beiden Verbote sind vernünftig,
({0})
wenn auch nicht vollständig. Sie reichen nicht aus. Sie
werden sehen, dass sie eher wirkungslos bleiben. Wenn
Sie nicht den Mut haben, eine Millionärsteuer, einen höheren Spitzensteuersatz, eine Finanztransaktionsteuer,
eine höhere Erbschaftsteuer etc. einzuführen, dann setzen Sie ein Signal, nämlich dass Sie den Bankern, den
Spekulanten und den Vermögenden sagen: Ihr könnt Krisen verursachen, solange ihr wollt, ihr haftet dafür nicht,
das bezahlen in Deutschland die Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Ich sage Ihnen: Das ist
dreist und nicht hinnehmbar!
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Gerhard
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ja verständlich, wenn man nur ein bestimmtes Set von
Textbausteinen hat, Herr Gysi.
({0})
Ich glaube aber nicht, dass wir die Märkte wieder in den
Griff bekommen, wenn wir immer alles mit allem zusammenrühren und nur über die Sozialfragen reden.
({1})
Es geht heute Morgen um die Finanzmarktregulierung,
und dann muss man auch einmal über die Finanzmarktregulierung reden. So, wie Sie es machen, gewinnen wir
den Kampf nicht.
({2})
Das, was jetzt von der Regierung vorliegt, ist doch
sinnvoll. Das kann man einmal anerkennen.
({3})
Ich glaube, es wäre allerdings auch möglich gewesen,
anzuerkennen, dass das eine Korrektur einer bisherigen
Position ist, und zwar in zweierlei Hinsicht.
({4})
Diese Größe, das zuzugeben, kann man in diesen Zeiten
besitzen.
({5})
Die erste Korrektur, die vorgenommen wird, ist wichtig. Herr Schäuble, auch Sie persönlich haben in den
letzten Monaten immer gesagt: Wir müssen alles international abstimmen. Sie haben bei den verschiedenen
Vorschlägen, die aus der Opposition kamen, argumentiert: Jetzt einmal nicht voreilig; das muss man international angehen! Es ist richtig, dass Sie das jetzt korrigieren und sagen: An vielen Stellen muss Deutschland
vorangehen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie mit
diesem Gesetz einen ersten Schritt in diese Richtung machen. Aber geben Sie zu: Es ist eine Korrektur Ihrer
Position.
({6})
Die zweite Korrektur ist wichtig, weil sie das finanzmarktpolitische Paradigma korrigiert, das in den letzten
Jahren geherrscht hat: Immer wenn mehr Handelsmöglichkeiten geschaffen werden, stellt das für die Märkte
eine Verbesserung dar. Es ist richtig, dass auch dieses
Paradigma korrigiert wird; denn manchmal geht es nur
um mehr Herdentrieb und Instabilität. Wir müssen jetzt
unterscheiden: Was ist für eine Stabilisierung der Finanzmärkte wirklich nützlich? Was bringt zusätzliche
Instabilität? Das macht die Finanzmarktpolitik schwierig: Man muss eine genaue Unterscheidung treffen; das
ist jetzt die Aufgabe. Herr Gysi, das leisten Sie nicht. Es
ist richtig, dass diese Korrektur endlich vorgenommen
wird.
({7})
Dann kommen wir zu der Frage: Wie werden die Korrekturen vorgenommen? Sie kommen nicht um den ersten Punkt herum: Internationale Abstimmung bedeutet
zwar nicht, dass man alles gemeinsam macht; aber Sie
haben nicht einmal das Mindestmaß an Information geleistet. Ich kann der französischen Finanzministerin einfach nur zustimmen: Es wäre besser gewesen, diese
Maßnahme vorher mit den betroffenen Staaten in der
Euro-Zone abzustimmen. Das haben Sie nicht gemacht.
Dabei geht es nicht nur um eine Frage der außenpolitischen Höflichkeit: Sie haben mit Ihrem Verbot die
Märkte massiv verunsichert; das ist das Problem. Der
haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion
stellte sich an dem Abend hin
({8})
- ich würde mit dem Lob für den Mann nicht zu voreilig
sein - und gab gegenüber den Märkten und der Öffentlichkeit bekannt, dass es ein Verbot geben wird. Bevor es
irgendeine Information darüber gab, was wirklich verboten werden soll, herrschte an den Märkten zwei Stunden
zusätzliche Panik; denn aufgrund einer unbedachten Äußerung aus Ihren Reihen wusste niemand, was genau
passieren sollte. Erst zwei Stunden später gab es eine
Pressemitteilung der BaFin, sodass die Finanzmarktakteure wussten, was die Bundesregierung plant. Das ist
brandgefährlich, gerade in einer Woche wie dieser: Einerseits argumentieren Sie, dass man wegen der Labilität
der Märkte etwas tun muss; andererseits verschärfen Sie
die Lage. Das ist purer Dilettantismus. So etwas darf
sich eine Regierung nicht erlauben.
({9})
Ich bin bei den Reden aus der Koalition - von Ihnen,
Herr Finanzminister, und Ihnen, Herr Wissing - besonders bei einem Punkt unruhig geworden. Der Präsident
des Bankenverbands hat es so ausgedrückt:
Nachdem die Mannschaft endgültig die Orientierung verloren hatte, beschloss man …, die Schlagzahl zu erhöhen.
Jetzt beschleunigen Sie. Aber welche Prioritäten setzen
Sie?
({10})
- Ich bin auf Ihre Rede nachher gespannt; denn ich habe
Ihre Prioritäten noch nicht gehört. - Ich glaube zwar,
dass es richtig ist, bei den Leerverkäufen zu handeln;
aber die Priorität muss doch auf der Stabilisierung unseres instabilen Bankensystems liegen. Das sagen uns
übrigens alle internationalen Beobachter. Die Kapitalisierung der deutschen Banken ist viel zu niedrig. Sie reden nicht darüber, weil es unangenehm wäre und Sie sagen müssten, dass hier eine Rekapitalisierung notwendig
ist. Herr Finanzminister, ich würde mir wünschen, dass
es dort einmal klarere Zielvorgaben gibt.
In der Schweiz hat man viel klarere Zielvorgaben gemacht; das konnten wir beim Besuch einer Delegation
des Finanzausschusses in der Schweiz in der Diskussion
nachvollziehen. Sagen Sie doch einmal den Leuten: Der
Hebel bei der Deutschen Bank ist 50:1. Der Finanzstaatssekretär aus Kanada hat bei Ihrer Konferenz gesagt: Die Leverage Ratio in Kanada beträgt 20:1. Wir haben es in Deutschland mit einem extrem gefährlichen
Geschäftsmodell zu tun. Wir wissen: Wenn die Deutsche
Bank wackelt, dann ist es gefährlich. Wir müssen uns
also klarmachen, dass es jetzt das Wichtigste ist, die
deutschen Banken zu stabilisieren. Die Eigenkapitalquote deutscher Banken beträgt im Durchschnitt
2,6 Prozent, der Hebel 38:1. Das ist doch nicht stabil.
Deswegen muss jetzt endlich Priorität haben, die Eigenkapitalunterlegung zu stärken, die deutschen Banken zu
rekapitalisieren und in Deutschland eine Schuldenbremse für Banken einzuführen. Das muss man national
machen, denn das ist eine nationale Schwierigkeit. Das
wäre die Priorität, über die Sie endlich reden sollten.
({11})
Es ist ganz wichtig, dass wir folgende Frage noch einmal diskutieren: Wie kann man das, was jetzt bei den
Leerverkäufen getan wird, auch bei der Bankenregulierung entsprechend unterstützen? Bisher fehlt in der Verhandlungsposition der Bundesregierung, dass wir entsprechende Geschäfte im Eigenhandel systematisch mit
mehr Eigenkapital unterlegen. Das muss eine Priorität
dieser Regierung bei den Verhandlungen in Basel sein,
ist es aber bisher nicht. Das, was wir hier machen, ist nur
die Marktregulierung. Wir müssen dasselbe auf der Bankenseite angehen.
Deswegen ist die Aufforderung von unserer Seite,
wenn Sie jetzt zugeben, dass man national vorangehen
soll: Legen Sie uns einmal vor, was Ihre Prioritäten sind!
Geben Sie eine Perspektive! Verunsichern Sie nicht
dann, wenn Sie getrieben sind, weiter die Märkte mit
kurzfristigen Aktionen, die dann auch noch dilettantisch
durchgeführt werden.
Stabilität in der Finanzmarktpolitik werden Sie mit
der Vorgehensweise der letzten Wochen genauso wenig
wie mit dem erreichen, was Sie vor der NRW-Wahl gemacht haben, sondern es braucht jetzt einen klaren Fahrplan. Wir sind bereit, daran mitzuwirken. Aber diesen
Fahrplan müssen Sie jetzt vorlegen. Davon haben wir
heute Morgen von der Regierungskoalition noch nichts
Entscheidendes gehört.
Danke schön.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch
heute debattieren wir in dieser ersten Lesung über die
Lehren aus der Krise und einen neuen Ordnungsrahmen
für unser Finanzsystem. Zweifellos hat die Finanz-,
Währungs- und Schuldenkrise das Vertrauen in die
Märkte nachhaltig erschüttert.
Bankenkrise, Boni-Wildwuchs, intransparente Spekulationen, die Nachrichten über europäische Staaten vor
dem Staatsbankrott und die Gefahr der Ansteckung, der
Kauf von Staatsanleihen durch die EZB, die Entwicklung der Risiken und die Auswirkungen auf die Realwirtschaft und die Kreditfinanzierung haben viele Menschen in unserem Land verunsichert. Sie haben Angst
um das Ersparte. Das hat zu Skepsis gegenüber unserer
Währung geführt.
Diesen großen Herausforderungen für Stabilität,
Wachstum und Beschäftigung müssen wir uns mit vollem Engagement stellen. Zuallererst geht es jetzt darum,
Vertrauen wiederherzustellen und zukünftige Krisen
durch gesetzliche Maßnahmen zu verhindern. Es geht
um Krisen- und Missbrauchsbekämpfung, nicht um radikale Marktablehnung. Darum geht es.
({0})
Wir wollen eine Balance zwischen der Sicherung der
Marktstabilität und der Bewahrung des Nutzens dynamischer Märkte. Herr Gysi, Herr Zöllmer, Herr Dr. Schick,
es liegt im Wesen von marktwirtschaftlichen Prozessen,
dass diese nicht endgültiger Natur sind, keine letzten
Wahrheiten sind. Marktwirtschaft fördert aber Wohlfahrtszuwachs, auch beim dienenden Faktor des Finanzmarktes. Das darf man nie vergessen. Ohne Instrumente
gegen Wechselkurs- und Rohstoffpreisschwankungen
gibt es keine globale Wirtschaft. Wir in Deutschland sind
die Profiteure der globalen Wirtschaft.
({1})
Moderne Volkswirtschaften ohne moderne Finanzprodukte sind nicht denkbar oder nur unter erheblichen
Wohlfahrts- und Wachstumseinbußen. Es geht also nicht
um Radikallösungen, sondern um gezielte Krisen- und
Missbrauchsbekämpfung. Dafür kämpfen unser Bundesfinanzminister, Dr. Wolfgang Schäuble, und diese Koalition in großer Einheit. Darin lassen wir uns in diesem
Haus von niemandem überbieten. Das ist die Wahrheit.
({2})
Wir wollen einen neuen Ordnungsrahmen, der es
unserer modernen Volkswirtschaft ermöglicht, durch
moderne Finanzprodukte auf internationalen, dynamischen Märkten für Wohlstand und Wachstum zu sorgen.
Wir wollen eine Balance zwischen der Sicherung der
Marktstabilität und der Bewahrung des Nutzens dieser
dynamischen Märkte. Maxime unseres Handelns ist dabei, dass es in Zukunft kein Finanzmarktprodukt und
keinen Finanzmarktteilnehmer geben darf, der nicht beaufsichtigt oder reguliert wird. Das ist unser Grundsatz,
an dem wir uns orientieren müssen.
({3})
Sie machen der Bundesregierung Vorwürfe. Aber Sie
müssen doch einräumen, dass in den sieben Jahren RotGrün das Volumen der Derivatemärkte um Hunderte
von Billionen US-Dollar gestiegen ist. Derzeit umfasst
es rund 700 Billionen US-Dollar.
({4})
Das ist die Wahrheit. Ihr damaliger Finanzminister
Steinbrück hat die ungedeckten Leerverkäufe nicht abgeschafft, sondern er hat sie befristet. Es handelte sich
um nichts anderes als um eine Befristung. Auch das ist
die Wahrheit.
({5})
Die Befristung ist ausgelaufen, bevor wir zu Lösungen auf internationaler Ebene kommen konnten. Da die
Lösungen auf internationaler Ebene noch nicht Platz gegriffen haben, hat der Bundesfinanzminister eine Vorreiterrolle übernommen.
({6})
Das ist hervorragend. Inzwischen hat der französische
Staatspräsident Sarkozy gemeinsam mit der Bundeskanzlerin einen Brief an den EU-Kommissionspräsidenten Barroso geschrieben, in dem das gefordert wird, was
der Bundesfinanzminister vorgeschlagen hat.
({7})
Wer nicht bereit ist, selbst voranzugehen und mit Tatkraft zu überzeugen, der kann auch andere nicht überzeugen. Von uns als einer der stärksten Wirtschaftsnationen wird die Übernahme der Vorreiterrolle immer
wieder gefordert. Diese Rolle wird durch die Bundesregierung, speziell durch den Bundesfinanzminister wahrgenommen.
({8})
Wenn betroffene Finanzmarktteilnehmer nun behaupten, unsere Maßnahmen nützten nichts, dann sage ich:
Warten wir die Ergebnisse erst einmal ab. Derivate, Verbriefungen, ungedeckte Leerverkäufe, CDS sind nicht
das Gleiche wie ein Kredit, sondern sie sind eine Wette
auf die Zukunft. Es ist doch ein Unterschied, ob man reale Gegenwerte oder ungedeckte Leerverkäufe ohne
Substanz hat.
Man muss immer wieder verdeutlichen, was ungedeckte Leerverkäufe sind. Mit ungedeckten Leerverkäufen können Anleger auf sinkende Kurse von Wertpapieren spekulieren, ohne diese überhaupt zu besitzen.
Bei ungedeckten Kreditausfallversicherungen können
Investoren eine Versicherung auf den Zahlungsausfall eines Gläubigers abschließen, ohne im Besitz einer Forderung zu sein. Das ist der wesentliche Punkt. Man muss
reale Substanz und Verbriefungen ohne Transparenz und
ohne realwirtschaftlichen Hintergrund unterschiedlich
betrachten. Darum geht es letzten Endes. In der Finanzwirtschaft muss verstanden werden, dass wir einen Ordnungsrahmen brauchen, der zwischen den einzelnen Produkten und den Finanzteilnehmern differenziert.
Wir brauchen einen neuen Ordnungsrahmen, um für
die realwirtschaftlichen Werte Platz zu schaffen. Wir
sind auf einem guten Weg, um die internationalen Abstimmungsprozesse weiter voranzutreiben. Es wäre natürlich am besten, wenn man zu Lösungen ohne Wettbewerbsverzerrungen kommen würde, indem man sie
international durchsetzt. Wir übernehmen eine Vorreiterrolle, die vielleicht dazu führen wird, dass auf europäischer Ebene, vielleicht auch auf Ebene der G 20, internaDr. h. c. Hans Michelbach
tionale Abstimmungsprozesse stattfinden, die uns in die
Lage versetzen, unser Ziel einer neuen, soliden Marktordnung auch auf den internationalen Finanzmärkten
durchzusetzen. Ich betrachte nationale, deutsche Alleingänge deshalb immer mit Skepsis. Wenn sie aber zum
Ziel führen, gehen sie in die richtige Richtung. Ziel
bleibt weiterhin das Zustandekommen zumindest europäischer Regelungen.
Wir müssen uns immer wieder die folgenden Fragen
stellen: Welche Rolle spielen Finanzmärkte in einer modernen Wirtschaft? Welche Formen der Finanzmärkte und
welche Finanzprodukte wollen wir? Darauf aufbauend
müssen wir schließlich fragen: Was ist der angemessene
und notwendige Ordnungsrahmen für diese gewünschten
Formen der Finanzmärkte? Welcher Ordnungsrahmen ist
notwendig, damit die Finanzmärkte einen Nutzen für die
Allgemeinheit entfalten, ohne unerwünschte Instabilität
zu verursachen? Das sind die Fragen, die gestellt werden
müssen. Auf diese Fragen werden wir konsequente Antworten geben.
Heute machen wir in diesem Sinne einen guten Anfang. Deswegen bitte ich Sie, dass wir nach dieser ersten
Lesung den Gesetzentwurf, diese Missbrauchsbekämpfung vorantreiben und damit einen Erfolg für das Gemeinwohl in Deutschland, für unsere Wirtschaft und hinsichtlich unserer Arbeitsplätze erreichen.
Herzlichen Dank.
({9})
Bevor ich dem Kollegen Carsten Sieling für die SPDFraktion das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen,
dass mir nachweislich der angereichten Protokolle deutlich geworden ist, dass manche Zwischenrufe in dieser
Debatte nicht nur eine Spur temperamentvoller ausgefallen sind, als das für die meisten Redebeiträge festzustellen war, sondern sie gelegentlich auch hart an der Grenze
dessen waren, was wir hier eigentlich als parlamentarische Umgangsformen für angemessen halten. Ich will
doch noch einmal darum bitten, das für den Rest der Redebeiträge zu diesem wichtigen und uns gemeinsam natürlich besonders sensibilisierenden Tagesordnungspunkt
im Bewusstsein zu behalten.
Falls sich nun irgendjemand angesprochen fühlt, sich
aber vergewissern möchte, ob er Anlass für diese Bemerkung war, stehe ich für präzisere Auskünfte gern zur
Verfügung.
({0})
- Auch das.
Nun hat der Kollege Sieling das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für diesen Hinweis. Aber ich muss sagen,
dass ich es sowohl als Redner als auch als Zuhörer im
Parlament eigentlich immer gut finde, wenn es Zwischenrufe gibt.
Ich auch, Herr Kollege. Darüber haben wir keinen
Streit.
- Das habe ich fast erwartet. - Wenn das Temperament einmal mit einem von uns durchgeht, dann müssen
wir das aushalten, finde ich. Klar gibt es Grenzen, die
nicht überschritten werden dürfen. Aber ich will ausdrücklich dazu auffordern, diese Debatte mit Redebeiträgen lebendiger und nachvollziehbarer zu machen;
({0})
denn dieses Problem, diese Thematik ist wirklich schwer
verständlich.
Zu Anfang möchte ich den Punkt ansprechen, dass
Bundesminister Schäuble uns in seiner Einleitung vorhin
gebeten hat, für eine zügige Beratung zu sorgen. Für die
SPD-Fraktion will ich ausdrücklich sagen, dass wir dem
entsprechen wollen und entsprechen werden. In den Vorbesprechungen haben wir einer Fristverkürzung bereits
zugestimmt; denn es ist dringend notwendig, dass wir zu
Ergebnissen kommen. Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass wir einer zügigen Beratung zustimmen.
Aber man muss auch sagen - darüber ist in dieser Debatte einige Male diskutiert worden; ich will darauf noch
einmal eingehen -, warum dieser Zeitdruck entstanden
ist. Dieser Zeitdruck darf nicht dazu führen - auch dazu
will ich gleich etwas sagen -, dass die Qualität und die
Wirksamkeit dieses Vorhabens leiden. Deshalb werden
wir uns einige Dinge genau anschauen müssen. Ich darf
hier aber einmal sagen, dass der jetzige Zeitdruck dadurch entstanden ist, dass wir eine Bundesregierung haben, die eine Regierung des Attentismus gewesen ist, die
nicht gehandelt hat und viel Zeit hat verstreichen lassen.
({1})
Das jetzt auf Vorgängerregierungen zu schieben - ich
komme gleich beim Beispiel der Leerverkäufe noch einmal darauf zu sprechen, weil dazu Unsinn ohne Ende erzählt wird -, gleicht einem Märchen. Ich finde es wichtig
und richtig, dass man hier klar sagt: Die Lage ist von der
Bundesregierung offensichtlich falsch eingeschätzt worden. Als Kollege Wissing hier auf die Zwischenfrage geantwortet hat: „Nein, wir haben das immer realistisch
gesehen“, fand ich es interessant, ins ganze Plenum zu
schauen. Bundesfinanzminister Schäuble hat genickt, als
gesagt wurde, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat.
Meine Damen und Herren in der Koalition, einigen Sie
sich wenigstens darauf, was Sie in der Vergangenheit
falsch gemacht haben und jetzt richtig machen können
und wollen, damit wir zu vernünftigen Ergebnissen
kommen. Noch nicht einmal in der Einschätzung der
jüngsten Vergangenheit sind Sie sich einig.
Nach dieser Debatte habe ich den Eindruck, dass ich
noch einmal die Beschlüsse und Programme der Sozialdemokratie zum Thema Leerverkäufe lesen muss, weil
der eine oder andere Beitrag nahelegte, die Leerverkäufe
seien eine sozialdemokratische Erfindung; so war, glaube
ich, die Formulierung von Herrn Gysi. Ich darf an dieser
Stelle einmal sagen: Leerverkäufe haben sich über Jahre
und Jahrzehnte in der Nachkriegszeit entwickelt. Ihre
Zahl hat zugenommen, und unterschiedliche Prozesse
haben dazu geführt, dass sie sich ökonomisch so entwickelt haben. Sie sind aber nicht politisch genehmigt worden, und es sind keine Gesetze dazu entwickelt worden.
Sie haben das vielleicht mit den Hedgefonds verwechselt; auch darüber wird hier ja immer diskutiert.
Manche bringen Hedgefonds und Private Equity durcheinander. Ich rate: Lassen Sie dieses Durcheinander. Bei
den Hedgefonds haben wir in Deutschland eine strenge
Regelung durchgesetzt. An den Leerverkäufen sind nicht
wir schuld. Dabei geht es um Marktbewegungen, die
passiert sind und jetzt beschränkt werden müssen. Darum diskutieren wir hier. Lassen Sie uns das gemeinsam
machen.
({2})
Nun sagt Kollege Michelbach: Das habt ihr doch selber nicht gemacht. Ich darf noch einmal sagen: Als die
Krise 2008 ausgebrochen ist, hat der damalige Bundesfinanzminister Steinbrück
({3})
auf der rechtlichen Grundlage in der Großen Koalition
mit CDU/CSU dieses befristete Verbot gemacht.
({4})
Es ging darum, schnell zu handeln und dieses umzusetzen. Das ist passiert.
({5})
- Das ist wahr.
({6})
Dann ist das befristete Verbot ausgelaufen. Darüber
kann Kollege Poß mehr sagen. Ich bin ja neu gewählter
Abgeordneter. Ich höre aus meiner Fraktion, dass CDU/
CSU in der Großen Koalition damals nicht bereit gewesen sind, für ein Verbot solcher Leerverkäufe zu stehen.
Die FDP darf hier, glaube ich, gar nicht reden, weil sie
immer dagegen gewesen wäre, weil sie die Tiefe der
Krise gar nicht erkannt hat.
Ich möchte an einen anderen wichtigen Punkt erinnern. Das befristete Verbot von Leerverkäufen war ausgelaufen und ist von der Großen Koalition verlängert
worden. Es ist in der Zeit der Großen Koalition ein weiteres Mal ausgelaufen und wieder verlängert worden.
({7})
Dann ist es - diesmal zu einem unglücklichen Zeitpunkt;
denn er liegt nach dem 27. September 2009 - im Januar
2010 wieder ausgelaufen. Zu dieser Zeit hat es eine neue
Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten gegeben. Da hat man die Befristung nicht verlängert, sondern
man hat es ins Leere laufen lassen.
({8})
So gesehen: Klagen Sie hier nicht die Falschen an! Fassen Sie sich an die eigene Nase! Stimmen Sie die FDP
um! Wir haben viel Zeit verloren. Wir haben jetzt Zeitdruck. Der Bundesfinanzminister muss uns bitten, beschleunigt zu beraten, weil Sie geschlafen haben, weil
Sie diese Situation falsch eingeschätzt haben und nicht
das gemacht haben, was wir als Sozialdemokraten mit
Finanzminister Steinbrück umgesetzt hatten. Das muss
hier sehr deutlich gesagt werden.
Ich will einen Blick auf diesen Gesetzentwurf werfen.
Wir alle, die sich intensiver damit befassen, haben uns
sicherlich angeschaut, was in den Referentenentwürfen
stand. Es gibt eine Änderung in diesem Gesetzentwurf.
Ich vermisse in der Begründung des Gesetzentwurfes
eine Erklärung, warum es diese Änderung gegeben hat.
Kollege Zöllmer hat vorhin schon darauf hingewiesen,
dass es im Bereich der Derivategeschäfte zu einer Änderung gekommen ist.
Wenn man ein bisschen recherchiert, findet man eine
stolze Presseerklärung des Bundesverbandes der Wertpapierfirmen an den deutschen Börsen, also einer Vereinigung, die selber damit zu tun hat. Herr Schäuble, Sie
haben angesprochen, dass es bei den Spekulanten ein Interesse an Volatilitäten, an Schwankungen, an Unsicherheiten, an Zeitmöglichkeiten gibt, um viel Geld zu verdienen. Hier will ich sagen: Da haben sich einige von
denen geäußert, die ein Interesse an so etwas haben.
Diese sagen ganz klar, dass die Änderung, die Sie sehr
kurzfristig in Ihren Gesetzentwurf eingebaut und nicht
begründet haben, auf Ihre Initiative vorgenommen worden ist. In der entsprechenden Presseerklärung heißt es:
Wir begrüßen nachdrücklich, dass der nunmehr auf
den Weg gebrachte Gesetzentwurf, entgegen dem in
der letzten Woche seitens des BMF vorgestellten
Diskussionsentwurf, Derivategeschäfte auf deutsche Aktien und Staatsschuldpapiere der Eurozone,
die nicht der Absicherung bestehender Positionen
dienen, sowie Derivategeschäfte auf den Euro
… nicht mehr mit einem allgemeinen gesetzlichen
Verbot belegt … sein sollen.
Außerdem weisen Sie ganz stolz darauf hin, dass Sie
dies „in letzter Minute“ erreicht hätten.
Herr Bundesminister, Sie müssen uns erläutern, warum Sie diese Ausnahme gemacht haben.
({9})
Ich kann sie nicht nachvollziehen. Ich kann nicht erkennen, dass die Wirkungskraft dieses Gesetzes durch diese
Änderung zugenommen hat, vielmehr habe ich die Befürchtung, dass seine Wirkungskraft dadurch eher geschwächt worden ist. Das können wir uns nicht erlauben.
Wir müssen beim Thema Leerverkäufe konsequent vorgehen. Herr Kollege Dautzenberg, vielleicht können Sie
uns nachher erklären, warum Sie diese Änderung vorgeDr. Carsten Sieling
nommen haben. Ich habe den Eindruck, dass schon wieder Lobbyisten vor der Tür standen und sich auch ein
gutes Stück durchgesetzt haben. Das geht so nicht.
Meine Damen und Herren, bitte ändern Sie das.
({10})
Ich hoffe, Sie können uns das so gut erklären, dass wir
an dieser Stelle vielleicht zu einer Rückänderung kommen, sodass wir das beschleunigte Verfahren wirklich
realisieren können.
Zum Schluss möchte ich gerne darauf hinweisen: Es
ist richtig, dass ein nationaler Weg gegangen worden
ist. Kollege Michelbach hat in anderen Debatten zur
Finanztransaktionsteuer und ähnlichen Themen immer
gesagt:
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Es geht darum, internationale Lösungen zu finden, nationale Wege sind nicht
möglich. - Jetzt wird ein nationaler Weg gegangen. Das
Problem ist: Es fehlt eine Strategie, um wenigstens auf
europäischer Ebene zu einer Verständigung zu kommen.
Dieses Thema darf kein Thema bleiben, mit dem sich jedes Land allein beschäftigt. Sie brauchen ein Konzept.
Das fehlt uns; das ist in dieser Debatte deutlich geworden. Bitte bleiben Sie nicht bei diesem Gesetzentwurf
stehen, sondern treffen Sie endlich auch Entscheidungen
zur Verbesserung des Anlegerschutzes, zur Einführung
einer Finanztransaktionsteuer und vielen anderen wichtigen Themen, damit die Finanzmärkte in Deutschland
und in Europa vernünftig reguliert werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Björn Sänger ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jedes Ding hat zwei Seiten, so auch Finanzinstrumente wie Leerverkäufe. Sie sind ein bisschen wie ein
Unimog - Sie kennen dieses Gerät -: Wenn man ihn
orange anstreicht und vorne einen Schneepflug befestigt,
ist er ein sehr sinnvolles und nützliches Kommunalfahrzeug. In olivgrün und mit einer Raketenabschussrampe
hinten drauf sieht das Ganze schon etwas anders aus.
Betrachten wir zunächst die orange Seite. Leerverkäufe können bei den am Kapitalmarkt gehandelten
Wertpapieren zu einer effizienten Preisbildung beitragen. Marktteilnehmer, die der Ansicht sind, ein bestimmtes Wertpapier sei überbewertet und spiegele nicht
den wahren Wert des Unternehmens wider, haben die
Möglichkeit, Aktien dieses Unternehmens leer zu verkaufen, um bei Eintritt des erhofften Kursverlaufs einen
Gewinn in Höhe der Differenz des Verkaufspreises zu
dem späteren Eindeckungspreis zu erzielen.
Neben diesem individuellen wirtschaftlichen Erfolg
weisen derartige Verkaufsgeschäfte aber vor allem einen
Informationsgehalt dahin gehend auf, dass sie dem
Markt indirekt die Einschätzung des Marktteilnehmers
vermitteln, wie dieser die Werthaltigkeit des Unternehmens bewertet. Auf diese Weise kann das Entstehen von
Bewertungsblasen verhindert werden. Des Weiteren wirken Leerverkäufe im Rahmen einer effektiven Preisbildung als Gegengewicht zu übertriebenen Käufen überbewerteter Wertpapiere, indem die Verkaufsorder durch
Erhöhung des Angebots auf dem Kapitalmarkt den Kurs
des Wertpapiers nach unten korrigiert.
({0})
- Warten Sie es ab.
({1})
Im Übrigen versorgen gedeckte Leerverkäufe den Markt
mit zusätzlicher Liquidität, indem sie dem Markt mittels
des Wertpapierdarlehens Wertpapiere zuführen, die diesem ansonsten entzogen wären. So weit die orange Seite.
Ungedeckte Leerverkäufe ermöglichen aber, in kurzer
Zeit eine große Zahl von Wertpapieren zu verkaufen,
ohne dass diese zuvor durch ein mit Kosten verbundenes
Wertpapierleihgeschäft beschafft werden müssen. Leerverkäufe können die Kurse von Wertpapieren derart unter
Druck bringen, dass deren Emittenten in Finanzierungsschwierigkeiten geraten. Bei ungedeckten Leerverkäufen
ist es auch grundsätzlich möglich, mehr Wertpapiere zu
verkaufen als am Markt verfügbar sind. Das ist die olivgrüne Seite der Leerverkäufe.
Handelt es sich bei diesen Papieren zudem um Papiere von Unternehmen der Finanzwirtschaft, dann kann
das Finanzsystem als Ganzes in Gefahr geraten. Mit einem Verbot ungedeckter Leerverkäufe wird also den Risiken für die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte im Kern entgegengewirkt. Dies zu
erreichen, ist das Ziel der Bundesregierung und auch Inhalt dieses Gesetzentwurfs.
Bisher wurden diese Leerverkäufe durch die BaFin
untersagt. Dabei ist es fraglich, ob die bisher herangezogene gesetzliche Grundlage überhaupt hinreichend dafür
ist. Daher ist dieser Gesetzentwurf richtig und wichtig,
weil durch ihn eben eine Arbeitsgrundlage geschaffen
wird.
Neben dieser Richtigkeit und Wichtigkeit des Verbots
von Leerverkäufen von Aktien wird auch der Handel mit
ungedeckten CDS verboten, weil bei diesem Finanzinstrument derjenige, der einen ungedeckten CDS kauft,
ein hohes Interesse daran hat, dass die Kreditwürdigkeit
desjenigen, dessen Kredite versichert werden, infrage
gestellt wird. Das haben wir bei der Euro-Krise erlebt.
Das führt eben zu negativen Markttendenzen bis hin zu
Marktmanipulationen. Dies wird durch den Gesetzentwurf geregelt. Damit schützen wir unseren Wohlstand
und bewahren wir uns die Freiheit.
({2})
Der Gesetzentwurf ist im Übrigen kein Ausdruck eines unbedachten Vorpreschens Deutschlands,
({3})
da in Griechenland, Italien und Großbritannien ähnliche
temporäre Verbote durch die Finanzmarktaufsicht erlassen wurden. In Irland und Schweden wird ein solches
Verbot geprüft, in Österreich besteht ein solches Verbot
durch die Aufsichtsbehörde, in Belgien existiert ein gesetzliches Verbot, und die französische Finanzministerin
hat am 4. Juni erklärt, dass sich Frankreich hinsichtlich
des Verbots dieser Leerverkäufe mit Deutschland einig
ist. Das, was hier erzählt wurde, wonach das in Europa
nicht in Einklang zu bringen sei, ist also wirklich ein
Märchen.
({4})
Wir werden uns allerdings darüber unterhalten müssen, ob man das Ziel, das mit diesem Gesetzentwurf erreicht werden soll, nicht vielleicht auch mit einem milderen Mittel erreichen kann, nämlich mit einem sachlich
auf bestimmte Finanzinstrumente zu beziehenden und
befristeten behördlichen Leerverkaufsverbot. Dazu haben wir ja auch eine entsprechende Anhörung geplant.
In jedem Fall ist die Herstellung einer eindeutigen
Gesetzeslage zu begrüßen, um eben auch Unsicherheiten
hinsichtlich der Zulässigkeit von Maßnahmen der Aufsichtsbehörde, wie sie in der Vergangenheit aufgetreten
sind, zu vermeiden.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir
einen Teil des Primats der Politik hinsichtlich der Finanzmarktinstrumente zurückgewinnen. Von daher ist
das der richtige Ansatz.
Herr Kollege Zöllmer, es war schwer erträglich, um
9.15 Uhr eine Märchenstunde zu erleben. Das wäre um
19.15 Uhr für die Kinder vielleicht besser angebracht gewesen.
({0})
Bei dem Zerrbild wären sie aber wahrscheinlich nicht
eingeschlafen. Man sollte sich hier wirklich den Realitäten stellen, auf die wir uns mit diesem Gesetzentwurf beziehen. Von daher ist das ein wichtiger Beitrag zur Regulierung von Finanzmärkten und Finanzmarktprodukten.
Dies wurde im Koalitionsvertrag zwischen den Koalitionsvertragspartnern auch vereinbart.
({1})
Herr Kollege Schick, das ist auch keine Korrektur,
sondern eine Ergänzung um weitere Punkte, die durch
die zeitlich befristete Ermächtigung des damaligen Bundesministers bisher nicht erfasst wurden.
({2})
Das, was damals, zu Beginn der Finanzmarktkrise, verordnet worden ist, bezog sich ausschließlich auf einige
Finanztitel an den deutschen Börsen. Mit diesem Gesetzentwurf sollen alle in Deutschland gehandelten Aktien
und staatlichen Schuldtitel erfasst werden. Staatliche
Schuldtitel waren bisher nicht von dem in einer Verordnung geregelten Leerverkaufsverbot erfasst. Denn es ist
eine neue Erkenntnis, dass Schuldtitel anderer Staaten
unter Umständen nicht mehr das gewährleisten, was man
ursprünglich mit staatlichen Schuldtiteln verbunden hat.
Von daher ist es eine vollumfängliche Regelung, die bisher in keiner Weise vorgesehen war.
({3})
Insofern ist es keine Korrektur, sondern eine Ergänzung
und Weiterentwicklung der Regulierung von Finanzmärkten und Finanzprodukten.
Deshalb geht die Kritik, dass die Regelung zu spät
komme und dass das Ganze nicht passiert wäre, wenn
frühere Regelungen verlängert worden wären, fehl. Sie
geht fehl, weil es ein vollumfänglicher Ansatz ist und
bisher eben keine Eingriffsmöglichkeiten bis hin zum
Verbot bestanden haben.
Wie die Regelungen wirken sollen und welche Tatbestände davon erfasst werden, haben meine Vorredner
schon dargelegt. Es wurde bereits darauf hingewiesen,
dass es um ungedeckte Leerverkäufe geht. Die politischen Forderungen auch aus Ihrer Fraktion, Herr Gysi,
beziehen sich auf ein Verbot aller Leerverkäufe.
({4})
- Die gehandelt werden: also auch die gedeckten. Das
geht doch fehl. Ein Finanzmarktprodukt an sich ist weder negativ noch positiv. Entscheidend ist, mit welcher
Zielsetzung es eingesetzt wird. Manche Zielsetzung
muss bekämpft und eingeschränkt werden. Dazu gehöLeo Dautzenberg
ren in der Konsequenz auch Verbote, wenn damit Verwerfungen am Markt eingeschränkt werden müssen, die
mit Grundsicherungsgeschäften im Grunde nichts mehr
zu tun haben, weil sie durch vielfältige Ableitungen zu
rein spekulativen Finanzprodukten geworden sind. Das
müssen wir einschränken.
Ein weiterer Schritt, den wir vollziehen, ist ein nationaler Dreiklang aus einer effektiveren Aufsicht, für die
wir eine zeitnahere Umsetzung anstreben
({5})
- die ist doch nicht beerdigt -,
({6})
einer Bankenabgabe, die in einen Restrukturierungsfonds fließt, und dem Insolvenzrecht für Kreditinstitute,
um demnächst auch systemisch relevante Banken abwickeln und neu strukturieren zu können.
({7})
- Die Eckpunkte liegen vor, Herr Kollege.
({8})
- Seien Sie doch ruhig! Das wird schon zur Sommerpause kommen. Dann werden die ersten Referentenentwürfe vorliegen.
({9})
- Sie erwarten eine hohe Volatilität. Insofern spekulieren
Sie falsch. Wir werden den Gesetzentwurf schon zum
richtigen Zeitpunkt vorlegen.
Das alles sind weitere nationale Maßnahmen, um
unsere Vorstellungen in diesem Bereich konsequent
durchzusetzen. Von einigen Kollegen wurde gesagt, das
seien Alleingänge. Ich habe eine Liste mitgebracht, auf
der 20 Staaten aufgeführt sind, in denen es bereits Regelungen zum Verbot von Leerverkäufen gibt. Es sind also
keine nationalen Alleingänge. Selbst wenn es so wäre,
wäre der Ansatz, auf nationaler Ebene zu beginnen und
dann internationale Bündnispartner in diesen Fragen zu
finden, richtig. Denn es geht um Entwicklungen, die
nichts mehr mit der dienenden Funktion eines Finanzmarkts für die Volkswirtschaft und die Menschen zu tun
haben. Dies gilt es einzuschränken und zum Teil auch zu
verbieten.
Dabei haben wir neben dem Gesetzentwurf weitere
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir beraten zurzeit
die Regelungen zu Vergütungsstrukturen. Das ist ein
weiterer Ansatz, um Nachhaltigkeit in der Wirtschaft zu
erreichen und auch für Finanzinstitute und die Versicherungswirtschaft zu nachhaltigen Vergütungssystemen zu
kommen, statt Kurzzeitbetrachtungen anzustellen, die
vielleicht noch zur Störung der Finanzmärkte beitragen.
Als weiterer Aspekt in der Diskussion über die
Finanztransaktionsteuer ist zu beachten, dass wir sowohl national als auch international eine vernünftige Bemessungsgrundlage entwickeln müssen. Neben dem regulatorischen Ansatz im Hinblick auf Leerverkäufe
müssen wir den gesamten Bereich der Derivate, die nicht
über Börsen, sondern over the counter gehandelt werden,
erfassen und regulieren; bei diesen OTC-Geschäften
vereinbaren zwei Parteien etwas, von dem andere gar
nichts wissen, sodass keinerlei Transparenz hergestellt
wird.
({10})
Das ist in unserem eigenen Interesse, insbesondere
wenn man sich die Größenordnungen vor Augen hält. In
der Bundesrepublik Deutschland werden Derivate im
Wert des 35-Fachen unseres Bruttoinlandsprodukts gehandelt. Man kann davon ausgehen, dass der überwiegende Teil davon keine der Volkswirtschaft dienende
Funktionen erfüllt, sondern rein spekulativ ist. Wenn man
diese Geschäfte mit einer Finanzmarkttransaktionsteuer
besteuern will, muss man sie erst einmal transparenten
Formen zuführen, nämlich Clearingstellen und Börsenhandelssystemen. Sonst hat man gar keine Grundlage für
die Bemessung einer Finanzmarkttransaktionsteuer.
Herr Zöllmer, auch Ihr diesbezüglicher Vorwurf war
falsch. Herr Barnier, der zuständige EU-Kommissar,
hatte ursprünglich vor, Maßnahmen in diesem Bereich
erst im Herbst auf den Weg zu bringen. Die letzte Tagung des Ecofin hat, auch dank des Beitrags unseres Finanzministers, dazu geführt, dass Herr Barnier jetzt unverzüglich europäische Maßnahmen auf den Weg
bringen muss, um entsprechende Handelsplattformen zu
schaffen.
Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Handelsplattformen in Kontinentaleuropa angesiedelt werden.
Bisher gibt es zur Abwicklung dieser Geschäfte nur privatwirtschaftlich organisierte Institutionen in New York,
die sich teilweise jeder Transparenz entziehen. Es muss
weiterhin an den Grundlagen gearbeitet werden, damit wir
eine vernünftige Bemessungsgrundlage als Voraussetzung
der Wirksamkeit einer Finanzmarkttransaktionsteuer festlegen können; sonst würde vieles fehlgehen.
Sie sehen anhand all dieser Maßnahmen, dass wir uns
bemühen, konsequent das umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben. Vom Kabinett, von der Regierung erwarten wir - wie ich eben schon gesagt habe -, dass wir
noch zur Sommerpause die ersten Referentenentwürfe
bekommen.
Darüber hinaus erwarten wir ein Anlegerschutzgesetz. Die Eckpunkte dazu sind ebenfalls klar. Wir wollen
den Anlegerschutz weiter verstärken sowie härtere Sanktionen bei Falschberatung und falschen Angaben in Produktinformationsblättern.
Eine weitere für unsere Wirtschaftskultur in Deutschland wichtige, wenngleich sehr spezielle Frage betrifft
die Vorgaben zur Vermeidung des Anschleichens an Anteilsmehrheiten bei Unternehmensübernahmen.
({11})
Die Beispiele Porsche/VW und Schaeffler/Continental
haben gezeigt, wie es nicht sein soll.
Das alles sind Maßnahmen, die wir ergreifen werden.
Damit sind wir auf einem guten Wege, und auch Sie
könnten Ihren Beitrag zur Effizienz dieses Gesetzentwurfs leisten.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1952 und 17/1151 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Nationalen Bildungspakt für starke Bildungs-
infrastrukturen schaffen
- Drucksache 17/1957 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Hinz ({0}), Krista Sager, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gemeinsam für gute Schulen und Hochschulen sorgen - Kooperationsverbot von Bund
und Ländern in der Bildung abschaffen
- Drucksache 17/1984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels,
Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Studienpakt für Qualität und gute Lehre
jetzt durchsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein,
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE
Forderungen aus dem Bildungsstreik aufnehmen und die soziale Spaltung im Bildungssystem bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Priska Hinz ({3}), Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus dem Bildungsstreik ziehen - Bildungsaufbruch unverzüglich einleiten
- Drucksachen 17/109, 17/119, 17/131, 17/1977 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Swen Schulz ({4})
Dr. Martin Neumann ({5})
Kai Gehring
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern - Für Chancengleichheit und Inklusion
von Anfang an
- Drucksache 17/1973 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor anderthalb Jahren haben Bund und Länder
beschlossen, dass ab 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung investiert werden
sollen, 3 Prozent in Forschung und 7 Prozent in Bildung.
Heute, anderthalb Jahre danach und drei Bildungsgipfel
später, wäre es allerhöchste Zeit, dass endlich verbindliche und konkrete Vereinbarungen zustande kommen, um
dieses Ziel umzusetzen. Das ist die Aufgabe, die die
Bundeskanzlerin heute Nachmittag zu bewältigen hätte,
aber nicht - wenn man allen Presseverlautbarungen
Glauben schenken darf - bewältigen wird. Zwei Fragen
müssten heute konkret und verbindlich beantwortet werden: Wie kann das Erreichen des 7-Prozent-Ziels für Bildung gerecht und nachhaltig finanziert werden, und wie
können zusätzliche Bildungsaufwendungen so investiert
werden, dass sie den größtmöglichen Effekt für mehr
Chancengleichheit und bessere Bildung erzielen?
({0})
Die Bundeskanzlerin hätte dafür sorgen müssen, dass
Bund und Länder zu verbindlichen Vereinbarungen
kommen.
({1})
Dazu gehört, dass es bei der Bildungsfinanzierung keine
Abstriche geben darf, weder beim Volumen noch beim
Zeitplan. Konkret bedeutet das: Wir brauchen 13 Milliarden Euro zusätzlich für die Bildung, und zwar 2015 und
nicht erst 2018 oder 2020, wie das beispielsweise Bayern
und Baden-Württemberg wollen oder wie es aus der Beschlussvorlage der B-Länder hervorgeht. Die Finanzierungsfrage braucht eine dauerhafte Lösung. Dazu gehört
auch eine Lösung für die Schieflage zwischen der Finanzausstattung der Länder und Kommunen einerseits und ihren Aufgaben in der Bildungspolitik andererseits. Die
Bundesregierung trägt eine große Mitschuld an dieser
Schieflage.
({2})
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat dieses Missverhältnis noch verstärkt. Deswegen steht die Bundesregierung heute in der Verantwortung, die Länder und die
Kommunen bei der Realisierung zusätzlicher Bildungsaufwendungen zu unterstützen. Die 5,2 Milliarden Euro,
die der Bund angeboten hat, reichen nicht, um das Erreichen des 10-Prozent-Ziels abzusichern.
Völlig klar ist, dass zusätzliche Bildungsaufwendungen solide finanziert werden müssen. Was nicht geht, ist
das, was Sie machen, nämlich bei den Familien und den
Arbeitslosen zu kürzen, um die Bildungs- und die Haushaltspolitik in Einklang zu bringen.
({3})
Richtig wäre, von starken Schultern mehr zu verlangen.
Wir haben schon im vergangenen Jahr einen Bildungssoli als Aufschlag auf die Spitzensteuer für sehr hohe
Einkommen vorgeschlagen, zweckgebunden für Bildung. Das wäre ein gerechter Weg. Im Übrigen haben
wir erwartet, dass Frau Merkel und Frau Schavan nicht
nur von mehr Bund-Länder-Kooperation in der Bildung
ständig reden, sondern ernsthaft den Versuch unternehmen, eine Grundgesetzänderung zur Aufhebung des Kooperationsverbotes in der Bildungspolitik auf den Weg
zu bringen. Auch davon ist nichts zu sehen.
({4})
Der heutige Bildungsgipfel hätte ein Infrastrukturgipfel werden müssen. Das Fundament für erfolgreiche Bildungsbiografien wird schon vor der Schule gelegt, wie
wir wissen. Deshalb ist es unverantwortlich, wenn die
Bundesregierung die Kommunen mit den Schwierigkeiten, die sie selber mit verursacht hat, beim Ausbau der
U-3-Betreuung alleine lässt. Dieses Thema hätte zur
Chefsache werden müssen. Der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijährige darf nicht zur Disposition stehen. Es reicht nicht aus, ständig zu sagen: „An
dem gesetzlichen Anspruch wird nicht gerüttelt“, wenn
man Länder und Kommunen bei der Umsetzung völlig
alleine lässt.
({5})
Es wäre anständig und notwendig gewesen, heute die
kommunalen Spitzenverbände mit an den Tisch zu holen; denn sie sind zum großen Teil die Betroffenen. Dieses Versäumnis hat die Bundesregierung zu verantworten.
Wenn Sie es mit der Bildungsrepublik Deutschland
wirklich ernst meinten, dann müssten Sie sich für einen
nationalen Pakt von Bund, Ländern und Kommunen für
die Bildung einsetzen, nämlich für einen Bildungspakt,
der verbindliche Vereinbarungen für den Ausbau der Bildungsinfrastruktur enthält - und zwar entlang der kompletten Bildungskette, von der frühkindlichen Bildung
über den Ausbau der Ganztagsschulen bis zur Ausstattung der Hochschulen -, und einen Bildungspakt, der
bundesweit einheitliche Standards festschreibt, um die
Teilhabe an Bildung für alle sicherzustellen, und zwar
abgestimmt und ergänzend zur Neubemessung der Kinderregelsätze. Deshalb fordern wir zum x-ten Mal: Machen Sie Nägel mit Köpfen! Verbrennen Sie das Geld
nicht in sinnlosen Projekten, die an den öffentlichen Bildungsinfrastrukturen völlig vorbeigehen und Bildung
nicht verbessern! Investieren Sie nicht in sinnlose Bildungsbündnisse und Bildungskonten, sondern in Ganztagsschulen und die frühkindliche Bildung! Dann würden Sie die Bildung tatsächlich voranbringen, und dann
hätten Sie unsere Unterstützung. So haben Sie die Chancen der Ausübung von Regierungsverantwortung wieder
einmal leichtfertig verspielt. Noch schlimmer: Sie haben
damit unsere Kinder und unsere Jugendlichen ein weiteres Mal hinters Licht geführt.
Vielen Dank.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich gerne der Bundesministerin für Bildung
und Forschung zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.
({0})
Ich verbinde die guten Wünsche für das neue Lebensjahr
mit der heimlichen Hoffnung, dass ein Teil dieser Wünsche vielleicht schon heute Abend in Erfüllung gehen
könnte.
({1})
Nun erteile ich das Wort dem Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, Herrn Dr. Ludwig
Spaenle.
Dr. Ludwig Spaenle, Staatsminister ({2}):
Herr Präsident! Hohes Haus! Mit dem dritten Bildungsgipfel, der heute Nachmittag hier in Berlin stattfinden wird, stehen wir vor einem sehr wichtigen Punkt in
der Weiterentwicklung des zentralen Themas „Bildung
in der Bundesrepublik Deutschland“. Mit der Leitentscheidung, die letztlich auf die Festschreibung des
10-Prozent-Zieles ausgerichtet ist, sorgen wir für eine
zentrale Weichenstellung. Die Leitentscheidung, dauerhaft in Bildung zu investieren, wird nämlich weit über
diese Legislaturperiode hinaus von grundlegender Bedeutung sein. Ich wiederhole: Diese Leitentscheidung ist
Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle ({3})
eine ganz zentrale Weichenstellung. Sie ist Ausdruck der
Notwendigkeit in einem Land, in dem die Begabung der
jungen Menschen und das lebenslange Lernen der zentrale Rohstoff sind, eine entsprechende Priorisierung
dauerhaft sicherzustellen.
({4})
Die Festschreibung des 10-Prozent-Ziels ist deshalb
politisch unumstößlich. Ich bin der Überzeugung, dass
dies auch heute Nachmittag zum Ausdruck kommen
wird. Das ist die Kernaussage.
({5})
Es geht um eine Leitentscheidung, die Auswirkungen
weit in die Zukunft haben wird. Es ist in dieser Form etwas Neues in der bildungspolitischen Debatte und in der
bildungspolitischen Praxis in diesem Land.
Wichtig ist außerdem die Frage, wie wir das notwendige Miteinander zwischen den Kompetenzträgern - das
sind die Länder - und dem Bund, der seine Aufgaben
komplementär wahrnimmt, weiterentwickeln. Die Kultusministerkonferenz hat am Donnerstag vor 14 Tagen in
München im Zusammenwirken mit dem BMBF - ich darf
mich den Glückwünschen für Frau Bundesministerin
Schavan anschließen - hier Maßstäbe gesetzt. Es ist in
komplementärer Ausschöpfung der Kompetenzen von
Bund und Ländern gelungen, ein Papier vorzulegen, in
dem die gesamte bildungspolitische Agenda - von der
frühkindlichen Bildung über den gesamten Katalog des
Kerngeschäfts von Bildung und Erziehung bis hin zur
Wissenschaftspolitik und der Forschungsförderung - aufgeführt ist. Dadurch ist ein Maßnahmenbündel auf den
Tisch gelegt worden, wie es in dieser Form, abgestimmt
zwischen Bund und Ländern, seit langem, wenn es überhaupt jemals der Fall gewesen ist, nicht vorgekommen ist.
Auch das ist eine Leitentscheidung.
({6})
In diesem Beschluss sind die Kompetenzebenen und
die damit verknüpften Aufgabenstellungen - das war ein
Auftrag an die Kultusministerkonferenz vonseiten der
Ministerpräsidenten und der Frau Bundeskanzlerin - erschöpfend dargelegt. Der Bund legt hier seine Projekte
auf den Tisch. Es handelt sich dabei um eine detaillierte
Liste von Maßnahmen - ich habe die entsprechenden
Themenstellungen angerissen - in den Feldern, in denen
Bund und Länder ihre Kompetenzen zusammen oder ergänzend wahrnehmen. Außerdem liegt eine Liste von
Maßnahmen vor, die die Länder in Eigenverantwortung
durchführen. Das ist aus unserer Sicht - ich darf das
auch als amtierender Präsident der Kultusministerkonferenz sagen - der Weg, wie wir Bildungspolitik auf nationaler Ebene verantwortlich gestalten.
Die Verortung der Bildungspolitik in den Ländern ist
nicht umsonst Kern der Kulturhoheit der Länder und
damit Herzstück, Tabernakel, des Föderalismus in der
Bundesrepublik Deutschland. Warum? Weil es dabei um
die Sicherung der Eigenstaatlichkeit der Länder geht.
Das ist die formale, verfassungsrechtliche Situation. Die
politische Begründetheit liegt darin, dass wir mit der Behandlung des Themas Bildung näher an den Menschen
sind. Durch die demokratisch verfasste Kontrolle auf
dem Gebiet von Bildung und Erziehung, Wissenschaft
und Forschung in den Ländern agieren wir in einem
Kernbereich der Menschen. Sie sind davon direkt betroffen und nehmen ihn deshalb auch politisch wahr. Wenn
man die Landtagswahlergebnisse der vergangenen Jahre
tiefer analysiert, dann erkennt man, dass die Frage, wie
die Bildungspolitik im jeweiligen Land beurteilt wurde,
für die Wahlentscheidung der Menschen immer eine
wichtige Rolle gespielt hat. Diese unmittelbare demokratische Gebundenheit der Bildungspolitik und ihrer
Kontrolle an den Souverän in den Ländern ist für uns der
eigentliche Kern. Dadurch ist die Bildungspolitik im föderalen Gefüge richtig eingeordnet.
Deshalb ist für uns die Frage eines Herangehens an
die Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt völlig falsch gestellt. Natürlich ist es immer möglich oder sogar geboten, über Aufgabenverteilungen zwischen Bund und
Ländern intensiv zu diskutieren. Aber gerade der Beschluss, den die Kultusministerkonferenz in enger Abstimmung mit der Bundesregierung in München gefasst
hat, macht deutlich, dass der Arbeitsauftrag lautet, die
Verantwortung in der Kompetenzverteilung - gemeinsam, komplementär oder auch allein - auszuschöpfen
und in politische Wirklichkeit zu übersetzen.
Der Maßnahmenkatalog, der, wie gesagt, weit in die
Zukunft reicht, auch weit über die Legislaturperiode des
Bundes und der einzelnen Länder hinausreicht, zeigt,
dass in der Berufsorientierung, beim Übergang von den
allgemeinbildenden Schulen in die berufliche Bildung,
beim Übergang auch vom sekundären in den tertiären
Sektor - in Umsetzung etwa des Bologna-Prozesses; ein
Kernelement ist dabei auch der Mobilitätspakt - sich die
Kompetenzen der Länder und die Kompetenzen des
Bundes ergänzen können.
Natürlich ist es geboten - ich sage es noch einmal -,
über die Verteilung von Aufgaben und das richtige Setzen von Gewichten im verfassungsrechtlichen Gefüge
nachzudenken und zu urteilen. Bevor wir diese Debatte
intensiver führen, sollten wir aber den Weg der Wahrnehmung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten,
der erfolgreich beschritten wird und für den heute Nachmittag ein weiterer wichtiger Meilenstein gesetzt wird,
fortsetzen. Ich weiß um die besondere Verantwortung
der Länder. Es geht darum, dass die Letztgestaltungskompetenz in der Bildungspolitik in gesamtstaatlicher
Verantwortung wahrgenommen wird. Das ist die besondere Aufgabe, die die Länder in der Bildungspolitik zu
leisten haben.
Ich möchte es an einem Beispiel deutlich machen.
Natürlich haben wir einen bunten Strauß von Schulorganisationsformen, für die der jeweilige Souverän in den
Ländern entsprechend den Wahlergebnissen die Grundlage geschaffen hat. Die Kultusministerkonferenz hat
vor einem halben Jahrzehnt einen Strategiewechsel auf
den Weg gebracht. Mindestbildungsstandards betreffend
Inhalte und Fächer, die landesweit gelten, von Rostock
Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle ({7})
bis zum Bodensee - daran muss sich eine Schule, gleich
welcher Organisationsform, orientieren, wenn sie etwa
einen mittleren Abschluss oder auch das Abitur verleihen will -, werden in der Regel 16 : 0 verabschiedet. Das
ist der Weg, mit dem wir Bildungsföderalismus praktikabel machen. Die Inanspruchnahme des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Freizügigkeit darf nicht
zulasten von Familien mit Kindern gehen. Das ist ein
Weg, wie wir Kulturföderalismus auf der Höhe der Zeit
interpretieren. Deshalb sind wir der Meinung, dass das
Ausschöpfen des komplementären Miteinanders von
Bund und Ländern, fußend auch auf den Ergebnissen,
die am heutigen Nachmittag zu verabschieden sein werden, der richtige Weg ist, Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland zukunftszugewandt zu organisieren.
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Dr. Spaenle, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern war - daran gibt es nichts zu
rütteln - ein Flop.
({0})
Es hat die Bildungslandschaft nicht reicher und auch
nicht vielfältiger gemacht. Es hat den Föderalismus nicht
befördert, aber die Finanzierbarkeit von guter Bildung
erheblich erschwert.
Alle Oppositionsfraktionen haben Anträge zum Kooperationsverbot vorgelegt, die Linke schon früher, die
beiden anderen Oppositionsfraktionen zur heutigen Sitzung. Es wird Zeit, dass sich endlich auch die Koalition
bewegt. Es wird Zeit, dass sich auch die Länder bewegen.
({1})
Wir hoffen, dass mit diesen Anträgen in der Politik eine
Debatte angestoßen wird, in der man die Sorgen und
Nöte der Menschen in diesem Land ernst nimmt und sich
einmal der Frage stellt, warum die Kritik am zergliederten Schulsystem beständig wächst.
Worum geht es? Wir verlangen von den Menschen in
unserem Land immer mehr Mobilität. Wenn man der Arbeit nachziehen muss oder auch will, läuft man Gefahr,
dass die Kinder in einem anderen Bundesland auf andere
Schulformen, Schulbücher und Lehrpläne treffen, dass
die Abschlüsse nicht anerkannt werden oder aber dass
sie nur über Umwege erreicht werden können, weil man
zum Beispiel die falsche Sprache zum falschen Zeitpunkt gewählt hat.
Die Länderhoheit und das von der Kultusministerkonferenz ausgehandelte Regelungssystem - damit meine ich
ausdrücklich nicht die Bildungsstandards, sondern alle
Regelungen, die es vorher schon gegeben hat und die
nicht aufgehoben worden sind - sind mehr und mehr zu
einem Korsett geworden, das Innovation im Schulsystem eher hemmt als ermöglicht
({2})
und das die soziale Schieflage im Bildungswesen nicht
abbaut, sondern verschärft. Dabei habe ich Verständnis
für die Länder, denn ich war lange genug Landespolitikerin.
Die lautstarke Forderung nach mehr Einheitlichkeit
bedeutet nämlich nicht, dass „einheitlich“ immer auch
gleich „gut“ ist. Fakt ist: Die öffentliche Schule in der
Bundesrepublik kann heute in allen Ländern nicht mehr
das leisten, was sie leisten müsste. Ein Grund dafür ist
die strukturelle Unterfinanzierung des gesamten Bildungsbereiches von der frühkindlichen Bildung bis hin
zur Weiterbildung.
Was gute Schulen können, wenn sie denn dürfen, was
sie zu leisten in der Lage sind, das hat die Verleihung des
Deutschen Schulpreises am gestrigen Tage eindrucksvoll
dargestellt. Den Stiftern dieses Preises gehört dafür
Dank, den Schulen gebührt hohe Anerkennung und
Wertschätzung.
({3})
Es bleibt zu hoffen, dass die Kanzlerin, die gestern den
ersten Preis übergeben hat, die eindrucksvollen Bilder
von der Preisverleihung in den heutigen Bildungsgipfel
mitnimmt und vielleicht bei den Ländern eine größere
Aufgeschlossenheit für eine wirkliche Gemeinschaftsaufgabe Bildung erreichen kann. Das wäre ein schönes
Geburtstagsgeschenk für die Ministerin.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob dies das Ziel der
Kanzlerin ist. Vielmehr scheint es mir, als ob die Bildungsgipfelkette zum neuen Steuerungsinstrument zwischen Bund und Ländern wird. Das wäre in der Tat fatal.
Denn dabei geht es in erster Linie nicht um Qualität,
sondern um Rechenkünste und viel beschriebenes Papier, und dabei gab es bisher immer eine ziemlich ergebnislose Feilscherei. Das kann für eine Bildungsrepublik
nicht der Weg in die Zukunft sein.
({4})
Die Zusagen vom Dresdener Gipfel im Jahre 2008
sind bislang uneingelöst. Sie stehen nach wie vor nur auf
dem Papier. Das kann man im Übrigen auch in der jüngst
veröffentlichten Klemm-Studie nachlesen. Vielmehr besteht durch das Sparpaket der Bundesregierung die Gefahr, dass neue Bildungskürzungen auf den Weg gebracht werden, auch wenn die Regierung etwas anderes
behauptet. Zum Beispiel sollen bei der Arbeitsförderung
im kommenden Jahr 2 Milliarden Euro und bis 2013
schon 5 Milliarden Euro eingespart werden. Dahinter
stehen massive Kürzungen bei Ausbildung, Weiterbildung und Umschulung. Das aber trifft gerade jene Menschen, die darauf besonders angewiesen sind. Und dabei
gibt es keine Kompensationsmaßnahmen. Was die Bundesregierung hier vorhat, ist Bildungskürzung durch die
Hintertür.
({5})
Die Linke legt den Schwerpunkt darauf, dass das öffentliche Bildungswesen wieder seiner Aufgabe gerecht
werden kann, dass die soziale Schieflage abgebaut wird
und dass Bildungsbenachteiligungen nach Möglichkeit
gar nicht erst entstehen können. Sie entstehen zu einem
großen Teil innerhalb des Bildungssystems und nicht
schon vorher.
Bildung in dieser Hinsicht muss zu einer echten Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen
- und zwar im Rahmen eines kooperativen Föderalismus - werden. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Finanzierung - sie ist heute nicht möglich -, statt sich immer nur neue Hilfsprogramme auszudenken. Unter den
gegebenen Umständen geschieht an Komplementärförderung fast nichts mehr zwischen Bund und Ländern.
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Lehrenden und
der Lernenden in eine produktive Debatte kommen, von
der die Lehrenden und Lernenden am Ende auch etwas
haben: dass das Bildungssystem in Deutschland besser
und nicht, wie es bislang immer war, weiter verschlechtert wird.
Danke schön.
({6})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Patrick
Meinhardt das Wort.
({0})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Präsident! Zu der 1001. Strukturdebatte in
diesem Haus möchte ich gleich zu Beginn eine wohlüberlegte Antwort geben. Ich zitiere:
Meine Erfahrung: Der Föderalismus hat in der Bundeshauptstadt wenig Freunde. … Im Bundestag ist
der Föderalismus nicht beliebt und unverstanden.
Meine Erwartung - die ist stärker als meine Hoffnung - ist: dass sich das ändert, dass erkannt wird,
die Bundesrepublik Deutschland hat als föderaler
Staat die gute Entwicklung genommen in Jahrzehnten, der Föderalismus hat zur Dynamik, zum Erfolg
unseres Landes geführt.
Stellen Sie sich bitte einen Moment ein Bundesbildungsamt vor. Also, der Föderalismus hat Deutschland vorangebracht.
Nein, ich habe jetzt nicht aus einer Rede von Roman
Herzog oder Otto Graf Lambsdorff zitiert, sondern aus
der Hauptstadtrede 2009 von Ministerpräsident Kurt
Beck. Meines Erachtens sind in dieser Rede wichtige
Zeichen gesetzt worden, und zwar deswegen, weil wir in
der Bundesrepublik Deutschland nicht verkennen dürfen: Die Menschen haben von Zuständigkeitsdebatten,
von Quoten, von Verteilungsschlüsseln und von Strukturfragen die Nase voll. Deswegen sollten wir dies jetzt
ganz unaufgeregt so zur Kenntnis nehmen und daran
eine moderne Bildungspolitik ausrichten.
({0})
Ich darf deswegen auch, Frau Bundesbildungsministerin Schavan, aus Ihrem Interview in der heutigen Stuttgarter Zeitung zitieren:
Ich bin realistisch genug, jetzt keine Kraft darauf zu
verschwenden, bei der Föderalismusreform einen
neuen Anlauf zu unternehmen. Ich setze aber schon
darauf, dass künftige Debatten vom Willen zu einer
möglichst intensiven Zusammenarbeit aller staatlichen Ebenen geprägt werden. Für diese Zusammenarbeit setze ich mich ein.
Dies wiederum, eine starke Bildungspartnerschaft zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu schmieden,
entspricht genau dem Geist des Koalitionsvertrages; dafür steht diese Regierung.
({1})
Am Tag des Bildungsgipfels ist es natürlich ganz klar,
dass hierauf der Blick gerichtet werden muss. Das 10Prozent-Ziel darf nicht aufgeweicht werden. Das ist politischer Inhalt dieser Regierung, und dafür müssen wir
auch heute auf diesem Bildungsgipfel intensiv werben.
({2})
Ich füge hinzu, sowohl aus der Sichtweise des Bundestages als auch aus der Sichtweise dieser Regierungskoalition: Wir haben fest in unserem Regierungsprogramm verankert, dass wir das 10-Prozent-Ziel im Jahr
2015 erreichen wollen. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt wäre aus unserer Sicht fatal. Vielmehr
müssen wir erreichen, dass dieses Ziel so schnell wie
möglich in die Realität umgesetzt wird.
Wir als Regierung haben dafür einen Riesenbestandteil auf den Weg gebracht.
({3})
12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung ist
der höchste Aufwuchs, den eine Bundesregierung in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je für diese
Investition in die Zukunft festgelegt hat.
({4})
Die Bereitschaft, 40 Prozent der Finanzierungslücke,
der 13 Milliarden, zu übernehmen, was als Ziel des letzten Bildungsgipfels festgeschrieben worden ist, muss als
wesentlicher Bestandteil in die Verhandlungen heute
Nachmittag eingebracht werden. Das ist ein deutliches
Zeichen, das die Bundesregierung gesetzt hat, dass sie
nämlich bereit ist, sich dort an der Finanzierung zu beteiligen, wo es Schwierigkeiten gibt; denn an diesen
40 Prozent darf zukünftig irgendwo in der Bundesrepublik Deutschland eine zusätzliche Bildungsinvestition
nicht scheitern.
Wir haben mit der BAföG-Modernisierung ein klares Zeichen gesetzt, ebenso mit dem Stipendienprogramm - beides sind für uns zwei Seiten ein und derselben Medaille -,
({5})
um ein gerechteres Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen. Das sind Maßnahmen,
die auch heute auf dem Bildungsgipfel besprochen werden müssen, weil sie dieses Land bildungspolitisch voranbringen.
({6})
Ich bin auch sehr froh, dass in den letzten zwei Tagen
auf der europäischen Ebene durch massive Einflussnahme der Bundesrepublik Deutschland verhindert werden konnte, was immer eine große Sorge von uns war,
nämlich die Festschreibung europäischer verbindlicher
Bildungsinhalte und Bildungsziele. Denn eines muss in
diesem Hohen Haus klar sein: Wenn wir auf Schulen
Länderkompetenzen draufsatteln, wenn wir auf Schulen
zusätzlich Bundeskompetenzen draufsatteln, was manch
einer ja will, und dann auch noch Leitlinien der europäischen Ebene darauf packen, worin soll denn dann eigentlich noch die Freiheit für die Schule vor Ort bestehen?
Wir brauchen keinen zusätzlichen europäischen Bildungszentralismus.
({7})
Ich glaube, der Weg muss in die entgegengesetzte
Richtung führen. Wichtig ist: Wir brauchen vor Ort von
den richtigen Menschen die richtigen Entscheidungen.
Deswegen ist das Ziel, mehr Eigenverantwortung für
Bildungseinrichtungen, und zwar sowohl für Schulen
als auch für Hochschulen, sicherzustellen; denn nur mit
mehr Eigenverantwortung schaffen wir es, dass die
Menschen die Bildungsfreiheit vor Ort selbst spüren.
Ich zitiere zum Schluss den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, aus dem Jahre
2007:
Hätte man etwa 1969 … einen verfassungsrechtlich
garantierten Bildungszentralismus gehabt, dann
hätte ganz Deutschland jetzt PISA-Ergebnisse wie
Bremen.
({8})
Bremer Bildungschaos in ganz Deutschland - nicht
mit den Liberalen, nicht mit den Vernünftigen in der Bildungspolitik, nicht mit dieser Regierung der Mitte!
Vielen Dank.
({9})
Priska Hinz erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Meinhardt, es geht bei dieser Debatte um die Verbesserung der Bildung und nicht um Strukturen. Uns wäre
wirklich wichtig, wenn auch die Bundeskanzlerin, als sie
die Bildungsrepublik ausrief, die Verbesserung der Bildung im Auge gehabt hätte. Sie ist vor drei Jahren mit
großem Mediengetöse herumgereist
({0})
und hat dann mit großer Geste zum ersten Bildungsgipfel eingeladen. Man hätte denken können, die Bundeskanzlerin meint es wirklich ernst.
({1})
Nur, das Problem dabei ist - damit komme ich zu dem
Punkt -, dass sie es hätte besser wissen müssen. Denn
die Bundeskanzlerin hat in der Großen Koalition zusammen mit der SPD einen großen Teil der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Bildung an die Länder abgegeben. Daran krankt die Bildungsrepublik, daran krankt
jeder Bildungsgipfel, der seitdem stattfindet.
({2})
Das schlägt sich auch in dem Streit auf dem heutigen
Gipfel nieder. Lediglich Auflistungen, Herr Kultusminister Spaenle, haben die Länder und der Bund zustande bekommen. Sie haben ja vorhin vorgetragen, man
habe sich auf eine Liste verständigt. Aber in dieser Liste
steht vor allen Dingen, welche Schwerpunkte jedes Land
setzt und was der Bund machen will, was aber von den
Ländern zum Teil wieder in Abrede gestellt wird. Das ist
doch keine gesamtstaatliche Strategie für bessere Bildung in diesem Land. Das ist wirklich Murks. So kommen wir nicht weiter auf dem Weg zu einer besseren Bildung.
Es ist notwendig, dass endlich das Kooperationsverbot aufgekündigt wird, damit der Bund Angebote machen kann und sich Bund und Länder gemeinsam verständigen können, wie die übergreifenden Probleme in
der Bildung in diesem Land gelöst werden können.
({3})
Priska Hinz ({4})
Koordinierte Programme brauchen wir zum Beispiel in
der frühkindlichen Bildung, und dies nicht nur bei der
Beantwortung der Frage, wie viele Plätze wir brauchen,
sondern auch, wie die frühkindliche Bildung qualitativ
verbessert werden kann, wie die Schulabbrecherzahlen
tatsächlich gesenkt werden können, die pädagogische
Konzeption der Ganztagsschulen verbessert und der
Übergang von Schule in Ausbildung gestaltet werden
kann. Diese Dinge gehen alle an: die Länder und den
Bund. Denn ansonsten hat der Bund - und damit die gesamte Gesellschaft - hinterher die Folgekosten zu tragen. Deswegen ist es notwendig, dass wieder kooperiert
werden darf. Das ist keine Auslöschung des Föderalismus, sondern wäre ein kooperativer Föderalismus. Das
wäre gut für die Bildung in diesem Land.
({5})
Was passiert jetzt stattdessen? Es wird viel Energie
darauf verschwendet, dass man versucht, Umwege zu
gehen; denn ohne den Bund geht es auch nicht. Im
Konjunkturprogramm II sind Mittel für energetische Sanierungen von Schulbauten vorgesehen. Findige Schulträger schaffen es, mit diesen Mitteln ihre Schulbauten
so zu verändern, dass guter Ganztagsunterricht stattfinden kann. Denn von Bundesseite darf nichts mehr für
Ganztagsschulen aufgelegt werden. Man muss also überlegen, wie man die Vorlagen gestaltet, damit es tatsächlich auf eine energetische Sanierung hinausläuft.
Die Bundesbildungsministerin will lokale Bildungsbündnisse fördern. Die Länder sind im Moment noch
dagegen; mal schauen, wie sich das entwickelt. Sie will
auf diese Weise - was eigentlich richtig ist - Kinder in
sozial benachteiligten Gebieten fördern. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen und damit etwas, was
Bund und Länder gemeinsam anpacken sollten. Da der
Bund aber keine Mittel dafür geben kann, dass in diesen
Schulen individuelle Förderung stattfindet, sollen jetzt
Fördervereine entstehen, die dann gefördert werden. Finden Sie einmal Elternvereine gerade in diesen Gebieten!
Das ist völliger Humbug. Das ist eine Umwegfinanzierung, die gemessen an dem gesellschaftlichen Problem,
das wir zu bewältigen haben, völlig unwürdig ist.
({6})
Ein weiterer Grund, weshalb die Hürde beim Bildungsgipfel so hoch ist, ist die immer prekärer werdende
finanzielle Lage der Länder. Darüber wollen wir nicht
hinweggehen. 13 Milliarden Euro soll die Lücke 2015
betragen, um das 10-Prozent-Ziel zu erreichen; und das
ist niedrig angesetzt. Wir wissen schon jetzt, dass es ungeheuer schwer werden wird, diese Lücke zu füllen, weil
Länder wie Schleswig-Holstein und Hessen bereits eigene Sparanstrengungen unternehmen und gerade im
Bildungsbereich sparen. Das heißt, sie werden kaum
zum Aufwuchs beitragen. Das Problem ist natürlich,
dass der Bund daran eine Mitschuld trägt. Wenn man
wie die FDP und die CDU Steuergeschenke an die Hoteliers verteilt, dann muss man sich nicht wundern, wenn
die Länder Stipendienprogramme und BAföG-Erhöhungen im Bundesrat blockieren, weil sie das notwendige
Geld für die Komplementärfinanzierung nicht aufbringen können. Deshalb ist es wichtig, dass die Steuerbasis
verändert wird, dass Länder und Kommunen in die Lage
versetzt werden, durch die Steuereinnahmen ihrem Teil
der Verantwortung für die Bildungsaufwendungen gerecht zu werden. Sie als Regierung sind in der Bringschuld, ein solches Steuersystem einzuführen, das zu
mehr Geld für Bund, Länder und Kommunen führt.
({7})
Frau Schavan, was nützt es Ihnen als Bundesbildungsministerin eigentlich, wenn Sie Ihre 12 Milliarden Euro vor Kürzungen bewahren - das ist ja richtig;
wir sind der Meinung, dass mindestens 12 Milliarden Euro für die Bildung ausgegeben werden müssen -,
Sie das Geld aber gar nicht ausgeben können, weil die
Länder Ihre Programme blockieren und Sie nicht die
Möglichkeit haben, tatsächlich da in Bildung zu investieren, wo es notwendig ist, nämlich von Anfang an, von
der frühkindlichen Bildung über die Schulbildung bis
hin zur beruflichen Bildung und Weiterbildung?
Der amtierende Ministerpräsident Koch hat das 10-Prozent-Ziel für die Bildung als Erster infrage gestellt. Es
sieht so aus, als ob er damit erfolgreich sein wird. Es
sieht so aus, als ob die Unionsländer alle mitziehen und
der Bildungsgipfel heute Mittag insgesamt von dem Ziel
Abschied nehmen wird. Das wäre allerdings das größtmögliche Fiasko, nicht für die Bundeskanzlerin - das
kann man verschmerzen -, sondern für die Kinder in diesem Land, weil sie dann weiter auf qualitative Verbesserungen im Bildungssystem hoffen müssten. Es muss uns
doch darum gehen, dass wir weniger Schulversager haben, dass wir bessere Bildung bekommen. Deshalb ist es
notwendig, das Kooperationsverbot aufzukündigen, die
Steuerbasis zu verändern und den Bildungs-Soli einzuführen; dann kann man eine gesamtstaatliche Bildungsstrategie auflegen. Das sollte der Bildungsgipfel heute
Nachmittag beschließen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung Entwürfe vorgelegt,
wie sie 80 Milliarden Euro einsparen möchte. Heute findet der Bildungsgipfel statt. Das ist der richtige Zeitpunkt, um über Bildung zu sprechen und an die Fakten
zu erinnern.
Fakt ist, dass mit dem großen Einsparungspaket der
Bundesregierung in nahezu jedem Bereich gekürzt werden muss, um dieses Land aus der Verschuldungsfalle
herauszuführen, nur in einem Bereich nicht, bei Bildung
und Forschung. Im Gegenteil, dort wird Geld draufgeMichael Kretschmer
legt. Das ist ein klares Bekenntnis dieser Koalition zur
Zukunftsorientierung. Ich halte das für eine großartige
Angelegenheit.
({0})
Fakt ist auch, dass der erste Bundeshaushalt der Bundesforschungsministerin Annette Schavan im Jahr 2006
ein Volumen von 8 Milliarden Euro hatte und wir in diesem Jahr über 11 Milliarden Euro verfügen können. Das
sind 3 Milliarden Euro mehr in vier Jahren. Dies ist ein
gewaltiger Aufwuchs, der zeigt, wie ernst es uns ist. Wir
heben die Mittel über die Jahre weiter an.
({1})
Wir werden in den nächsten Jahren, bis 2013, 12 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung ausgegeben haben. Das ist mehr als der Aufwuchs, den Rot-Grün
in der gesamten Regierungszeit zustande gebracht hat.
Auch das ist ein Signal dafür, wie ernst es der Union mit
diesem Thema ist.
({2})
Angesichts der notwendigen Sparanstrengungen finde
ich es traurig, dass die Opposition Fundamentalkritik anbringt, um in die Zeitungen und ins Fernsehen zu kommen; das ist der Lage des Landes nicht angemessen.
({3})
Ich finde es richtig, dass wir über Fakten sprechen und
uns über Inhalte streiten; aber man muss die Realitäten
in diesem Land anerkennen. Die Realitäten sind, dass
wir erstens aus der Verschuldungsfalle heraus müssen,
dass kein Weg an einer Konsolidierung des Haushaltes
vorbeiführt, und dass diese Regierung zweitens ganz
klar auf Bildung und Forschung setzt. Sie sollten das anerkennen; zumindest wäre es redlich, das zu tun.
({4})
Wir konzentrieren uns mit den Maßnahmen gerade
bei der Bildung auf die Bereiche, von denen wir glauben,
dass wir hier die stärkste Wirkung erzielen und am meisten zu sozialer Gerechtigkeit beitragen können, etwa
auf den Bereich der frühkindlichen Bildung. Aus diesem
Grund haben wir gemeinsam mit den Ländern - Herr
Staatsminister Spaenle hat das eindrucksvoll vorgetragen - eine ganze Reihe von Punkten vereinbart, die der
Bund in den nächsten Jahren angehen wird, um damit
seinen Beitrag zu leisten.
In der Diskussion über den Bildungsgipfel kommt immer wieder die Frage auf, ob der Bund den Ländern
nicht mehr Geld zur Verfügung stellen müsse, damit das
Ziel eines Anteils der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 10 Prozent erreicht wird. Zunächst
einmal: Es ist eine große Leistung, dass es überhaupt gelungen ist, das Thema Bildung auf drei Ministerpräsidentenkonferenzen hintereinander zu einem zentralen
Thema zu machen.
({5})
Wir müssen Bundesforschungsministerin Annette Schavan
sehr dankbar dafür sein, dass das gelungen ist.
({6})
Bund und Länder werden heute gemeinsam vereinbaren,
dass es beim 10-Prozent-Ziel bleibt; Bildung und Forschung sind uns wichtig. Das ist doch eine große Angelegenheit, ein richtiger Weg. Der zentrale Punkt ist nicht,
ob das Ziel wie vorgesehen erreicht wird oder ein oder
zwei Jahre später.
({7})
Der zentrale Punkt ist, dass Bund und Länder gemeinsam an dem 10-Prozent-Ziel festhalten. Dieses Signal
wird vom Bildungsgipfel ausgehen, der heute hier in
Berlin stattfindet.
Wir haben in den vergangenen Jahren mehrfach gezeigt, dass Bund und Länder gemeinsam handeln können: beim Hochschulpakt, beim Pakt für Forschung und
Innovation und auch jetzt, bei der dritten Säule des
Hochschulpakts. Klar ist: Wir setzen in diesem Bereich
Akzente und werden das auch in Zukunft tun.
Ich will es einmal ganz deutlich sagen: Wenn das
Ganze auf Pump finanziert wird, ergibt es ein Gebäude,
das nicht lange halten wird. Aus diesem Grund stehe ich
ganz klar dazu, dass wir auf Bundesebene die Regeln so
fassen, dass wir mit dem vorhandenen Geld auskommen,
auch kürzen, und die richtigen Prioritäten setzen. Wir
müssen die entsprechende Diskussion auch in den Ländern führen. Ich lege ganz klar eine Priorität auf den Föderalismus. Kollege Meinhardt, du hast es angesprochen. Ich möchte klar betonen: Der Freistaat Sachsen hat
nach der Wiedervereinigung im Bildungsbereich sehr
stark vom Föderalismus profitiert. Unser Partnerland
war Baden-Württemberg, das von Brandenburg war
Nordrhein-Westfalen. Innerhalb von 15 Jahren ist es im
Bildungsniveau zu einem Unterschied von einem ganzen
Jahr gekommen: Ein Schüler in Sachsen hat gegenüber
einem Schüler in Brandenburg einen Bildungsvorsprung
von einem Jahr. Das ist das Ergebnis von unterschiedlicher Bildungspolitik.
({8})
Ich kann nur dafür werben, dass auch in Zukunft ein
Wettbewerb um die besten Ideen möglich ist, aber dass
wir es gleichzeitig schaffen, gemeinsam zu handeln.
Deswegen sind solche Veranstaltungen wie der Bildungsgipfel wichtig, genauso wie die dort getroffenen
gemeinsamen Vereinbarungen. Ich wünsche der Veranstaltung heute Nachmittag viel Erfolg. Wir müssen es in
Zukunft schaffen, gemeinsam Prioritäten in diesem Bereich zu setzen und zusätzliches Geld in die Hand zu
nehmen. Es ist für die Zukunft dieses Landes von existenzieller Bedeutung, dass wir auf Bildung und Forschung setzen. Nur so können wir den internationalen
Wettbewerb gewinnen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Swen Schulz für die Fraktion der
SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind bei
der Bildung an einem kritischen Punkt angelangt. Die
bisherigen Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin waren
von den Ergebnissen her enttäuschend und schwach.
Aber alle haben gesagt: Im Juni 2010 wird und muss dieser Gipfel erfolgreich sein.
Heute Nachmittag ist der Bildungsgipfel. Er droht zu
scheitern. Das berühmte 10-Prozent-Ziel, also 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung zu investieren, droht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben zu werden. Die Rede von Minister
Spaenle hat mich nicht optimistischer gestimmt. Er hat
erklärt, das 10-Prozent-Ziel solle festgeschrieben werden, aber er sagte nicht, wann. Das ist ein entscheidender
Unterschied. Früher wurde immer von 2015 gesprochen.
Natürlich - das will ich fairerweise sagen - trägt die
Bundesregierung nicht alleine die Verantwortung dafür.
Es gibt da Kandidaten wie den hessischen Ministerpräsidenten Koch, der noch jede Möglichkeit genutzt hat, um
bei der Bildung zu kürzen und dem Bund Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Aber die CDU/CSU und die
FDP hier im Deutschen Bundestag, so wie sie hier sitzen, tragen die Verantwortung für die desolate finanzielle Situation der Länder und Kommunen.
({0})
- Sie sagen, das sei lächerlich. Ich will an das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz erinnern: Milliardengeschenke für Hoteliers und andere zulasten von
Ländern und Kommunen.
({1})
Das ist der Hintergrund für die kritische Haltung der
Länder mit Blick auf den Bildungsgipfel. Die Länder sagen: Wir würden gerne mehr in Bildung und Forschung
investieren. Aber es geht nicht; uns fehlt das Geld.
Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan, ich kann Sie
auch an Ihrem Geburtstag nicht vor Kritik bewahren. Es
klingt nachgerade wie Hohn, wenn Sie im Morgenmagazin der ARD - das entnehme ich einer entsprechenden
Meldung - erklären, dass Sie trotz des allgemeinen
Sparzwangs an dem Ziel festhalten,
die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015
auf 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Vom Bildungsgipfel … müsse ein Signal der
Geschlossenheit ausgehen … Angesichts von Widerständen aus den Ländern erinnerte Schavan daran, dass das 10-Prozent-Ziel gemeinsam vereinbart
wurde.
Wie soll das denn gehen? Sie haben den Ländern doch
das dafür notwendige Geld weggenommen.
({2})
Die Koalition hat den Bildungsgipfel durch eine unseriöse Haushalts- und Finanzpolitik an den Rand des
Scheiterns manövriert.
({3})
Das haben wir immer gesagt, auch hier im Deutschen
Bundestag. Wir haben vor den Folgen dieser Haushaltsund Finanzpolitik gewarnt. Aber wo war Frau Schavan
als Bildungsministerin mit Gesamtverantwortung? Wo
hat Frau Schavan im Kabinett bei Finanzminister
Schäuble, bei Bundeskanzlerin Merkel Einspruch gegen
diese Politik erhoben? Nichts kam.
Das Schlimme ist - das bringt einen fast zur Verzweiflung -: Es geht so weiter.
({4})
Sie lernen nicht aus Ihren Fehlern. Im Zusammenhang
mit dem von der Bundesregierung beschlossenen Sparpaket brüsten Sie sich damit, Frau Schavan - auch der
Kollege Kretschmer hat das getan -, Ihr Haushalt bleibe
unangetastet.
({5})
Doch durch das Sparpaket werden wieder einmal die
Länder und Kommunen belastet. Wenn Sie mir nicht
glauben, dann glauben Sie vielleicht dem CDU-Minister
Laumann aus Nordrhein-Westfalen. Er hat - die entsprechende Pressemeldung liegt mir vor - vor „Belastungen
der Länder und Kommunen durch das Sparpaket des
Bundes“ mit den absehbaren Konsequenzen für Bildung
in den Ländern und in den Kommunen gewarnt. Das ist
keine verantwortungsvolle Politik, Frau Schavan.
({6})
Das Problem ist, dass sich Frau Schavan immer dann,
wenn es ernst wird, wegduckt.
({7})
Das gilt auch bei den Themen „Föderalismus“ und „Kooperationsverbot von Bund und Ländern“, das im
Grundgesetz festgeschrieben ist. Frau Schavan, Sie tingeln durch die Lande und sagen in jedem Interview: Das
Grundgesetz muss geändert werden. Eine Kooperation
zwischen Bund und Ländern muss ermöglicht werden. - Ich habe Ihnen im März hier im Deutschen Bundestag angeboten - Sie sind nicht nur Ministerin, sondern auch Mitglied des Deutschen Bundestages -:
Lassen Sie uns gemeinsam eine überparteiliche Initiative
Swen Schulz ({8})
zur Änderung des Grundgesetzes ergreifen. Ich habe Ihnen das auch schriftlich zukommen lassen. Ihre Antwort,
die irgendwann kam, hat deutlich gemacht, dass Sie
nichts unternehmen wollen. Viel reden, wenig handeln das ist das Motto Ihrer Regierungszeit, Frau Schavan.
({9})
Aber ich will fair bleiben: Es gibt durchaus einige
Aktivitäten der Regierungskoalition. Doch leider sind
sie durch Mutlosigkeit, Halbherzigkeit und - auch das
muss gesagt werden - durch Stümperei gekennzeichnet.
Ich will zwei der aktuellsten Beispiele herausgreifen:
BAföG-Novelle und nationales Stipendienprogramm.
Wir befinden uns hier in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren. In dieser Woche hatten wir jeweils eine
Sachverständigenanhörung zu diesen Themen.
Beim Thema BAföG haben alle Sachverständigen
durch die Bank weg die Haltung der SPD unterstützt.
({10})
Sie haben gesagt: Die BAföG-Novelle geht zwar in die
richtige Richtung; aber hier wird zu kurz gesprungen.
Was Sie anbieten, ist zu wenig. Die Anhörung zum
Thema „nationales Stipendienprogramm“ ist für Sie
nachgerade peinlich verlaufen. Es war ein Desaster für
die Regierungskoalition.
({11})
Der Gesetzentwurf ist von den Sachverständigen in der
Luft zerrissen worden. Ich will jetzt nicht in den Sprachgebrauch abdriften, der derzeit in der Koalition gepflegt
wird, und von Gurkentruppe und Wildsäuen sprechen;
aber was Sie im Bereich Bildung abliefern, haben die
Bürgerinnen und Bürger wirklich nicht verdient. Das
muss anders werden.
Die SPD hat einen Antrag zum Bildungsgipfel vorgelegt. Es ist ein durchdachtes Konzept. Auch ein Finanzierungskonzept ist dabei, das den Ländern und den
Kommunen erlaubt, jenseits aller parteipolitischen Streitereien und unterschiedlichen Auffassungen in Bildung
zu investieren. Das Scheitern des Bildungsgipfels, wie es
sich abzeichnet, wäre für die Bürgerinnen und Bürger
ein Desaster. Machen Sie es endlich durch eine vernünftige Politik möglich, damit der Bildungsgipfel doch noch
ein Erfolg wird.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Opposition, es überrascht mich immer wieder, wenn ich Ihre
Anträge lese, wie viel Sie vorgeben, von guter Bildungspolitik zu verstehen, und mit wie vielen guten Ratschlägen Sie immer kommen.
({0})
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass gerade Sie
uns erzählen wollen, wie gute Bildungspolitik aussieht.
Egal welche seriöse wissenschaftliche Untersuchung zu
den Ergebnissen von Bildungs- und Forschungspolitik
ich mir ansehe: Im Vergleich aller deutschen Bundesländer kommen immer wieder gerade die Länder, die von
SPD, Grünen und Linken regiert werden, besonders
schlecht weg.
({1})
Nehmen wir nur den aktuellen Ländercheck des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Brandenburg,
wo ich wohne und das seit 20 Jahren von der SPD regiert
wird, gehört „bundesweit zu den Schlusslichtern in Sachen Forschung“, und auch die Hochschulen schnitten
„eher mäßig“ ab - Zitat Märkische Allgemeine vom
9. Juni 2010.
({2})
Und Sie wollen uns etwas von guter Bildungspolitik erzählen?
Keine andere Bundesregierung hat so viel für bessere
Bildungs- und Forschungspolitik getan und wird so viel
dafür tun wie die jetzige. Nehmen wir als Beispiel die
Weiterentwicklung der Bologna-Reform. Heute werden
wir mit den Ländern ein Programm für bessere Studienbedingungen und mehr Qualität in der Lehre beraten.
Wir werden in den nächsten Jahren insgesamt 2 Milliarden Euro für eine verbesserte Hochschullehre investieren.
({3})
Dies war ein wichtiges Ergebnis der nationalen BolognaKonferenz im vergangenen Monat. Nun mag der eine
oder andere sagen, dass 2 Milliarden Euro zu wenig
seien. Aber es ist ein Anfang und ein wichtiger Schritt
auf dem Weg Deutschlands zur Bildungsrepublik.
Meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, Sie sind Ihrer Verantwortung damals nicht gerecht
geworden und kommen heute mit erhobenem Zeigefinger.
({4})
Das mag Ihrer Oppositionsrolle geschuldet sein - das
verstehe ich -, ist aus meiner Sicht aber völlig unnötig.
Heute nämlich wird der Bund seiner Verantwortung gerecht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
fordern immer wieder - wenigstens da sind Sie sich ei4614
Dr. Martin Neumann ({5})
nig - die Abschaffung von Studienbeiträgen. Mittlerweile fließen mehr als 1,2 Milliarden Euro aus Erlösen
der Studienbeiträge in die Hochschullehre. Diese Einnahmen decken bundesweit mehr als ein Drittel der Kosten zusätzlicher Hochschulinvestitionen.
({6})
Hochschulen im Verantwortungsbereich liberaler Minister konnten dadurch bemerkenswerte Verbesserungen erzielen.
({7})
Sie wollen allen Hochschulen diese Einnahmequelle
streitig machen, ohne uns die Frage zu beantworten, wie
die zu erwartenden Einnahmeverluste für die Hochschulen aufgefangen werden sollen. Auch das Deutsche Studentenwerk bestätigt, dass Studienbeiträge
({8})
durchaus zielgerichtet eingesetzt werden und eine erhebliche positive Wirkung in den Hochschulen entfalten.
An dieser Stelle nenne ich auch das nationale Stipendienprogramm. Der Deutsche Hochschulverband sieht
in seiner Pressemeldung vom 8. Juni 2010 „Deutschland
endlich auf dem richtigen Weg“. Er bezeichnet dieses
Vorhaben als „ein hervorragendes Projekt, dessen Vorteile bislang nicht ausreichend erkannt“ wurden.
({9})
Ein Experte sprach in der Anhörung in dieser Woche von
einem genialen Gesetz; Sie haben es gehört.
({10})
Ein weiterer sprach von einem großen Wurf in der Studienfinanzierung.
({11})
Wenn das Gesetz keinen Erfolg habe, koste es den Steuerzahler auch nichts. - Sie sehen, die Experten begrüßen
auch diesen Schritt der Koalition auf dem Weg zur Bildungsrepublik.
Das ständige Gegeneinanderausspielen bei der
BAföG-Erhöhung ist sehr durchsichtig und unsinnig.
Mit dem nationalen Stipendienprogramm werden neue
Mittelgeber akquiriert und damit zusätzliches Geld für
Bildung zur Verfügung gestellt. Das Hemmnis für eine
Inanspruchnahme des BAföG, die Verschuldung, gibt es
dann gar nicht erst.
({12})
Ich erwarte, dass auch die Länder ihre Hausaufgaben
machen. Wer die Zuständigkeit für die Bildung bei sich
sieht, muss auch die dazugehörige Verantwortung übernehmen und das dafür erforderliche Geld in die Hand
nehmen. Wenn ich zum Beispiel sehe, wie viele Bundesmittel aus dem Hochschulpakt nach Brandenburg fließen, wodurch massiv Studierende ins Land gelockt werden, dort aber nicht gleichzeitig in entsprechendem
Maße eigene Investitionen mit dem Ziel des Ausbaus der
Kapazitäten getätigt werden, dann ärgert mich das maßlos.
({13})
Nur ganz kurz zum sogenannten Bildungsstreik. Die
Koalition hat in der Vergangenheit die Kritik der streikenden Studierenden wirklich ernst genommen. Wir haben dies auch durch konkretes Handeln bewiesen:
BAföG-Novellierung, nationales Stipendienprogramm
und der „Qualitätspakt Lehre“ sind wichtige Ergebnisse
der nationalen Bologna-Konferenz.
Die heutige Bund-Länder-Konferenz ist die Chance
gerade für die von SPD, Linken und Grünen regierten
Länder, den blumigen Worten ihrer Genossen und Parteifreunde im Bundestag endlich auch Taten folgen zu
lassen und entsprechende eigene Anstrengungen auf
dem Weg zur Bildungsrepublik Deutschland zu unternehmen. Der Bund jedenfalls wird seinen Beitrag leisten.
Ich bedanke mich.
({14})
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über eine viertel Million Menschen streikten und demonstrierten im Juni 2009 für bessere Bildung.
({0})
Ihr Slogan war damals: Geld für Bildung statt für Banken. Sie wehrten sich dagegen, dass ein milliardenschweres Rettungspaket für Banken über Nacht ermöglicht wurde, gleichzeitig aber angeblich kein Geld für
Bildung da war. Ein Jahr später: Wieder werden Rettungspakete im Umfang von mehreren Hundert Milliarden Euro geschnürt, diesmal für verschuldete Euro-Länder. Aber nicht etwa, dass die Bevölkerung der in Not
geratenen Staaten etwas davon hat; nein, das Geld fließt
wieder an die Banken, bei denen sich die Staaten verschuldet haben.
Gestern waren erneut 70 000 Schülerinnen und Schüler, Studierende, Auszubildende, Eltern und Lehrkräfte
auf der Straße, weil die Gründe für die Proteste auch ein
Jahr später nicht aus der Welt sind. Im Gegenteil: Sie haben sich sogar noch verschärft. Zwar versprechen die
Bundesregierung und Frau Schavan, dass die Bildung
der einzige Bereich sei, der von ihren rigiden Sparplänen ausgenommen werden soll.
({1})
Dabei scheint die Regierung jedoch zu vergessen, dass
die Finanzierung der Bildungsprojekte alles andere als
sicher ist. Nahezu alle Projekte sind Bund-Länder-Programme, und die Länder sind - übrigens auch dank der
Schuldenbremse der Großen Koalition - quasi pleite.
Während Sie von sicheren Bildungsinvestitionen reden,
haben viele Länder bereits den Rotstift gezückt. In Hessen sollen die Hochschulen 30 Millionen Euro einsparen. In Bayern, Herr Spaenle, wurden die Zuschüsse für
die Studentenwerke um ein Drittel gekürzt. Die Universität Lübeck steht vor der Schließung. In Sachsen ist
trotz steigender Schülerzahlen mittelfristig der Abbau
von 4 500 Lehrerstellen geplant. In NRW gibt es in diesem Jahr 7 600 Ausbildungsplätze weniger als im Jahr
zuvor. Selbst die Minierhöhung des BAföG um 2 Prozent scheint den Ländern zu viel. - Das ist die Realität in
diesem Land. Das, Herr Meinhardt, ist die Bildungsfreiheit vor Ort, die Sie so preisen.
Die Regierung hat versprochen, in den nächsten Jahren 12 Milliarden Euro zusätzlich in Bildung und Forschung zu investieren. Schauen wir uns das einmal genauer an. 12 Milliarden Euro in vier Jahren, das macht
3 Milliarden Euro pro Jahr. Die Hälfte davon fließt allerdings in die Forschung und nicht zusätzlich in die Bildung. Die Wahrheit ist, dass dank des Kooperationsverbotes von diesem Geld keine einzige Lehrkraft, keine
einzige Betreuungskraft neu eingestellt werden wird. Im
Gegenteil: Bei denen, die das Geld am nötigsten brauchen, kommt kaum etwas an. An den Hochschulen sollen mit dem nationalen Stipendienprogramm nur die
vermeintlich besten Studierenden, mit der Exzellenzinitiative nur die vermeintlich besten Hochschulen unterstützt werden. Die chronische Unterfinanzierung besteht
allerdings weiter. Dafür tragen Sie die Verantwortung, da
Sie die Haushalte der Länder in Not gebracht haben und
sich selbst mit dem völlig absurden Kooperationsverbot
die Möglichkeit genommen haben, einzugreifen.
Wenn Sie jetzt betonen, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende von den Sparplänen ausgenommen sind, und damit letztlich Ihre brutalen Kürzungen
bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst, bei den
Arbeitslosen und bei den Familien rechtfertigen, dann ist
das einfach nur zynisch.
({2})
Wenn Sie wirklich nicht wissen, woher Sie mehr Geld
für Bildung bekommen können, habe ich ein paar Vorschläge für Sie. In Würzburg gibt es den berühmten
Aldi-Süd-Hörsaal. Diese Spende von Aldi wird als sehr
großzügiger und mildtätiger Akt gepriesen. Aber wussten Sie, dass die beiden Aldi-Brüder zusammen ein Vermögen von über 32 Milliarden Euro haben? Das sind nur
zwei von vielen Milliardären in Deutschland. Ich sage
Ihnen: Mit einer ordentlichen Vermögensteuer könnten
noch sehr viele Hörsäle gebaut und instand gesetzt werden.
({3})
Es könnten sehr viele Lehrkräfte eingestellt werden,
ohne dass bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst
oder den Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern gekürzt werden muss. Ich denke, Ihr Versuch, die Betroffenen mit der Gegenüberstellung „Bildung oder Sozialleistungen“ gegeneinander auszuspielen, wird scheitern.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Monika Grütters für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche
Debatten hier haben rituellen Charakter. Bei der Bildung
läuft das immer so: da Bildungsgipfel, dort Bildungsstreik, hier Bildungsdebatte. Machen wir also das Beste
daraus; das haben wir ja schon öfter getan. Schließlich
hat für uns die Bildung - das hat nicht zuletzt die
Sparklausur erwiesen - tatsächlich die höchste Priorität,
und zwar nicht nur in großen Reden.
({0})
Deshalb ist für uns bei dem heutigen Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten vor allen Dingen eine
Botschaft wichtig. Diese heißt: Das 10-Prozent-Ziel
steht.
({1})
Ich bin Minister Spaenle dankbar, dass er das hier betont
hat. Herr Schulz, von einem Minister aus einem von Ihrer Partei regierten Land habe ich ein solches Statement
hier so jedenfalls noch nicht gehört.
({2})
Die 12 Milliarden Euro, die wir zusätzlich für Bildung und Forschung ausgeben, müssen natürlich durch
einen Beitrag der Länder ergänzt werden. Wir alle wissen, wie es um die Finanzen der Länder steht. Wir alle
wissen, wie wichtig aufgrund der schwierigen föderalistischen Situation der enorme Beitrag des Bundes ist.
Noch nie, Herr Schulz, ist ein Etat in der Bundesrepublik
so stark gestiegen wie dieser, und das sogar vor dem
Hintergrund dieser Einsparungen. Der Schwerpunkt Bildung war für diese Legislaturperiode verabredet und
wird eingehalten, auch und gerade in der Finanzkrise.
Ihnen, Herr Schulz, will ich sagen - wir beide kommen aus Berlin -: Hier in Berlin wird im Vergleich zu
den anderen Bundesländern das meiste Geld pro Kopf
der Schüler in die Schulen gesteckt, nur mit einem fata4616
len Ergebnis: Bei PISA landen Sie grundsätzlich und immer zielsicher auf Platz 16.
({3})
Machen Sie lieber Ihre Hausaufgaben und gewöhnen Sie
sich eine Perspektive an, die nicht „arm, aber sexy“, sondern „arm, aber schlau“ heißt.
({4})
Herr Rossmann war für den Antrag, den wir heute
auch debattieren, federführend verantwortlich. Ich finde
es gut, Herr Rossmann, dass Sie auch die Leistungen der
ehemaligen und der jetzigen Bundesregierung in der Bildungspolitik anerkennen. Ansonsten finde ich Ihren Nationalen Bildungspakt etwas schwammig. Frühkindliche
Bildung, Schulen stärken, gehaltvolles Studium sichern,
das sind unser aller Ziele. Genauso steht es auch in der
Koalitionsvereinbarung. Wie Sie wissen, ist - zusätzlich
zu unseren finanziellen Anstrengungen - noch nie so
viel in diesem Bereich getan worden. Frau Gohlke, ich
darf daran erinnern: Trotz rückläufiger Schülerzahlen
wird nicht weniger, sondern mehr Geld in die Bildung
gesteckt. Früher hieß es immer: weniger Schüler, weniger Geld. Jetzt ist das umgekehrt. Das sollten auch Sie
nicht kleinreden.
({5})
Uns geht es um Teilhabe und Chancen durch Bildung. Wenn Sie wissen wollen, was wir neben der enormen Summe, die wir bereitstellen, tun, sage ich Ihnen:
Wir sorgen für verpflichtende Sprachkurse, wir bauen
die Zahl der Krippenplätze aus - wir haben gerade erst
den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz beschlossen -, und wir stärken die Hausaufgabenbetreuung, die
sich an eine ganz bestimmte soziale Schicht richtet. Wir
wollen der Armut nicht zuletzt mit solchen Instrumenten
und ganz bewusst mit Bildung entgegenwirken.
Nun zu den Hochschulen. Die anderen Anträge, die
heute auf der Tagesordnung stehen, haben wir schon im
Dezember letzten Jahres beraten. Dafür gibt es den
Hochschulpakt. Dafür gibt es die Exzellenzinitiative.
Dafür haben wir das BAföG erhöht. Dafür wird jetzt ein
Stipendienprogramm vorgeschlagen. Dafür stellt Frau
Schavan bzw. der Bund, der für die Lehre an den Hochschulen am allerwenigsten zuständig ist, 2 Milliarden
Euro zur Verfügung. Sie, Herr Rossmann, haben sich auf
den Wissenschaftsrat und einen Mehrbedarf in Höhe von
13 Milliarden Euro bezogen. Das ist gut und schön. Nur,
bisher ist gar nichts passiert. Ich finde, es ist enorm, dass
der Bund, der für diesen Bereich am allerwenigsten zuständig ist, dafür 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellt.
Noch etwas, Herr Schulz: Wegducken sieht anders
aus. Damit bin ich beim berühmten Kooperationsverbot. Frau Hein, Sie haben gesagt, es sei ein Flop. Ich
würde es anders formulieren und sagen: Ich finde, es ist
in der Bildungspolitik in der Tat eine Krux, dass die Länder auf ihre Bildungshoheit beharren, übrigens auch all
die Länder, in denen Sie regieren.
({6})
Das kann man ja verstehen. Ich glaube, keiner von uns,
außer vielleicht den Linken, würde eine zentralistische
Bildungspolitik wollen. Da gäbe es einen Aufstand in
der Republik. Ich finde, wir haben mit sehr guten Pakten
und Einzelinstrumenten - ich habe sie gerade erwähnt eine sehr gute Umgehungsstraße um das Kooperationsverbot gebaut. Die einzelnen Komponenten werden mit
den Ländern immer vernünftig vereinbart. Frau Ministerin Schavan hat ihren Stil, mit Entschiedenheit und Respekt mit den Ländern umzugehen. All diese Instrumente
hat es in keiner vorigen Regierung, sondern nur unter ihrer Verantwortung gegeben.
({7})
Ich gebe zu: Gerade was den Föderalismus und das
Kooperationsverbot angeht, unter dem wir alle eher leiden, sollten Vorschläge zur Weiterentwicklung gerade
aus dem Bildungsbereich kommen. Wir sollten die Kooperationsmöglichkeiten, wie ich finde, im Grundgesetz
sogar erweitern. Bisher steht da nur, dass Bund und Länder die Zusammenarbeit im Bildungsbereich so gestalten, dass es um die Feststellung der Leistungsfähigkeit
geht. Ich fände es gut - das hat auch Frau Schavan immer wieder betont -, wenn die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems nicht nur gemeinsam festgestellt,
sondern auch gemeinsam sichergestellt würde.
({8})
Zu diesem Zweck findet heute der Bildungsgipfel der
Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten statt. Ich
kenne keinen Kanzler, der jedes Jahr solch einen Bildungsgipfel durchgeführt hat, außer Angela Merkel.
({9})
- Noch einmal: Es ist das erste Mal, dass ein Kanzler
einmal im Jahr zu solchen Themen einen Gipfel durchführt. Da sehen Sie alle blasser aus als wir.
Zum Antrag der SPD kann ich nur sagen: Viel Neues
ist Ihnen nicht eingefallen. Es ist aber gut, dass die bisherigen Leistungen, wie Herr Rossmann geschrieben
hat, zumindest anerkannt werden. Ich finde, Ihr Antrag
ist ein Schrei nach noch mehr Geld. Aber ich wiederhole: Dieser Etat war bei keiner vorigen Bundesregierung besser ausgestattet. Keine Regierung, an der Sie beteiligt sind oder waren, hat jemals so viel Geld in die
Bildung investiert wie wir.
({10})
Herr Rossmann, ich finde, Ihren Wunsch nach einem
Nationalen Bildungspakt sollten Sie zunächst Ihren eigenen fünf Bildungsministern vorlegen. Ich wäre gespannt,
was aus deren Reihen dazu käme.
Das Bundesbildungsressort hat noch nie über ein so
großes Budget verfügt. Ich finde, wir sollten gemeinsam
das Beste daraus machen und das nicht schlechtreden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Ernst Dieter Rossmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildungsgipfel sind ja gut, aber sie müssen auch zu Ergebnissen führen; denn sonst entlarvt sich dies natürlich als
ein PR-Instrument. Wir befinden uns dicht an der Kante.
Auf dem ersten wurden große Versprechen gemacht, auf
dem zweiten auch, und auf dem dritten wird es wieder
bei Versprechen bleiben. Herr Dr. Spaenle, noch einmal
zu sagen, dass man ein 10-Prozent-Ziel hat, ist nichts,
was die Welt noch bewegt, sondern bewegt würde sie,
wenn das damit unterlegt würde, wie man das erreichen
will.
({0})
Unsere große Sorge ist, dass dies heute nicht damit unterlegt wird; aber wir warten ab.
Mein erster Punkt. Ich will gerne so fair sein, anzuerkennen, dass es bei diesem Bildungsgipfel heute ein
konkretes Ergebnis in Bezug auf die Förderung guter
Lehre geben könnte, nämlich die Anerkennung der dritten Säule an den Hochschulen. Frau Grütters, das Dilemma ist aber, dass sich an dieser Stelle einmal mehr
zeigt, dass wir zu spät kommen. Wir beide wissen, dass
wir in der Großen Koalition 2005 in Ihrem schönen Liebermann-Haus einen Antrag auf Förderung guter Lehre
an den Hochschulen erarbeiten wollten, Ihr Fraktionsvorsitzender aber sagte: Der Bund hat bei der Lehre
nichts zu suchen. - Dadurch haben wir vier Jahre verloren.
({1})
Das muss man auch einmal sagen können, damit nicht
noch einmal Jahre verloren gehen, weil man glaubt, man
dürfe Bestimmtes nicht anpacken. Deshalb lautet die
erste Kritik, dass wir zu spät kommen.
Die zweite Kritik lautet: Für die Hochschulen wäre es
gut, wenn wir uns ein bisschen mehr am Wissenschaftsrat orientieren könnten, statt den Wissenschaftsrat damit
zu übertrumpfen, dass wir die Maßnahmen über zehn
Jahre strecken. Ich will aber gerne zugeben: Zehn Jahre
ist bei dem, was zwischen Bund und Ländern gefördert
wird, eine neue Qualität; denn an anderer Stelle haben
wir bisher keine Zusage über zehn Jahre.
Wir müssen hier über Parteigrenzen hinweg einmal
reflektieren, was eigentlich passiert ist: Das ist ein Bundesprogramm zur Förderung von Lehre, bei dem die
Länder keine finanzielle Zusicherung mehr machen.
Haben wir uns die Bund-Länder-Zusammenarbeit eigentlich so vorgestellt, dass es nicht einmal mehr eine
10-Prozent-Verpflichtung gibt, wie es sie beim Ganztagsschulprogramm und bei anderen Programmen auch
gab?
({2})
Ich werbe dafür, dass sich auch die Länder daran beteiligen müssen. Wenn sich die Länder weigern, sich mit einem kleinen finanziellen Anteil zu beteiligen, dann verweigern sie sich eigentlich auch der Landeskompetenz.
Den wirklichen kooperativen Föderalismus macht
aus, dass Bund und Länder auch eine finanzielle Schicksalsgemeinschaft sind. Deshalb habe ich nicht nur die
kleine Freude, dass es heute eine konkrete Vereinbarung
gibt, sondern ich habe auch die Bedenken, dass es auf
diesem Weg so nicht weitergehen kann.
Das Zweite. Frau Grütters, Sie haben angesprochen,
dass in dem SPD-Vorschlag zu diesem Bildungsgipfel
heute nichts Konkretes stände.
({3})
Ich will folgende Behauptung aufstellen: Die Bildungsgipfel der Zukunft werden nur dann gut sein, wenn auf
ihnen jeweils ein konkretes Projekt Thema ist, das zwischen Bund und Ländern als Leuchtturm für eine Weiterentwicklung verabredet wird. Dadurch, dass man
40 Seiten zu dem aufschreibt, was die Länder und der
Bund an kleinen Dingen tun wollen, wird weniger ausgestrahlt, als wenn Sie sich zum Beispiel ein gemeinsames Bund-Länder-Programm für die Schulsozialarbeit
vorgenommen, dieses mit ausreichenden Mitteln ausgestattet und an der Schlüsselstelle - Entwicklung des
Schulwesens in Richtung einer integrativen, inklusiven
und ganztägig lernenden und lebenden Schule - begründet hätten. Das wäre ein Leuchtturm und einem Bildungsgipfel angemessen gewesen. Leider ist dies nicht
möglich gewesen. Das ist aber das, was in unserem Antrag steht.
Dieses Mal haben Sie es nicht geschafft. In Zukunft
muss auf einem Bildungsgipfel ein wirklicher Leuchtturm erkennbar sein, durch den die Bildungslandschaft
mit verändert wird. Es gibt Beispiele dafür, zum Beispiel
das Ganztagsschulprogramm, für das 4 Milliarden Euro
zur Verfügung gestellt wurden und das ausstrahlt, und
die Hochschulpakte, die ebenfalls ausstrahlen. Die zukünftigen Bildungsgipfel brauchen solche Zuspitzungen;
denn sonst werden sie langweilig und auch in der Öffentlichkeit immer nur noch als Niederlagen begriffen.
Drittens. Durch diesen Bildungsgipfel wird natürlich
aufgezeigt, dass für die Bildung bei uns auch in der mittleren Perspektive zu wenig finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Deshalb sind die Länder der Meinung - das
ist schon von vielen Kollegen aus den verschiedensten
Fraktionen ausgeführt worden -, dass sie Bildungsfinan4618
zierungsverluste erlitten haben. Deshalb fordern sie höhere Umsatzsteueranteile.
Ich will für die SPD politisch auf einen Punkt aufmerksam machen. Ihre Philosophie ist, die Bildung darüber zu fördern, dass Sie die Haushalte und die Sozialausgaben im Haushalt begrenzen. Sie wollen Armut über
Bildung verhindern. Dem steht aber eine Einsicht entgegen, die sich in einem Satz ausdrücken lässt: Wo es Armut gibt, kann Bildung nicht gedeihen. Deshalb kann
man die Sozialpolitik nicht gegen die Bildungspolitik
ausspielen, sondern beides ist wichtig.
({4})
Es ist nicht richtig, von der sozialen Sicherheit zur Bildung umzuverteilen. Bildung gedeiht besser ohne Armut. Es ist wichtig, eine Umverteilung vom Reichtum
zur Bildung vorzunehmen.
({5})
Darum geht es den Grünen mit dem Bildungssoli. Das
wollen wir mit dem Aufschlag auf die Reichensteuer und
Sie mit der Vermögensteuer. Wir müssen eine Umverteilung weg von denen vornehmen, die keinerlei Sorge um
ihre Bildungschancen und die ihrer Kinder haben müssen, hin zu denjenigen, die in Armut leben und deshalb
auch ihren Kindern keine Bildungschancen bieten können. Das ist sowohl konzeptionell als auch politisch und
sozial der fundamentale Unterschied zu dem, was
Schwarz-Gelb in diesem Parlament mit exekutiert.
({6})
Dies wird umso wichtiger, weil von den B-Ländern,
also den CDU/CSU- und FDP-regierten Ländern in
Deutschland, zum heutigen Bildungsgipfel in der Perspektive etwas „Spektakuläres“ vorgeschlagen wird, um
es ironisch zu sagen. Herr Spaenle, man will das Ziel
halten. Fraglich ist aber, was Sie schon erreicht haben
und welche Ziele Sie noch setzen müssen. Sie wollen im
Dezember 2014 auf einer Konferenz Einzelheiten festlegen. Dazu kann ich nur sagen: Im Dezember 2014 ist alles zu spät. Wenn Sie das Ziel, ab 2015 die Ausgaben für
Bildung und Forschung zu erhöhen, tatsächlich ernst
nehmen, dann müssen Sie es schon im Dezember 2011
und im Dezember 2012 weiter angehen, um zu richtigen
Vereinbarungen und Überprüfungen zu kommen. Bis
Dezember 2014 zu warten ist eine politische Lachnummer.
({7})
Lassen Sie es sich heute noch einmal durch den Kopf gehen, ob Sie wirklich mit einer solchen Position der CDU/
CSU-geführten Länder in einen Bildungsgipfel gehen
wollen.
Ein letzter Punkt, weil ich im Zusammenhang mit
dem Bildungsföderalismus Herrn Spaenle angesprochen
habe: Niemand in Deutschland muss Angst haben, dass
der Bundestag schulgesetzliche Kompetenzen haben
wollte. Im föderativen Aufbau in Deutschland bleiben
die schulgesetzlichen Kompetenzen bei den Ländern und
damit nahe an den Menschen. Man fragt sich aber, warum nicht auch im Schulbereich, wie es in Hochschule
und Wissenschaft schon jetzt möglich ist - heute präsentieren Sie einen weiteren Erfolg in diesem Bereich, nämlich die dritte Säule im Hochschulpakt -, eine Kooperationsmöglichkeit von Bund und Länder eingeführt wird.
Ich komme auf einen konkreten Punkt zurück, Frau
Grütters, die Schulsozialarbeit. Die einen verweisen darauf, dass das Bundesjugendhilfegesetz schon jetzt entsprechende Möglichkeiten bietet. Andere stellen dann
fest, dass die Förderung einer bestimmten Schule aber
gar keine Sozialarbeit ist, sondern die Ganztagsschule
unterstützt. Wäre es nicht absurd, wenn wir dort zu ähnlichen Abgrenzungsschwierigkeiten kommen wie wir es
in Bezug auf die Konjunktur erlebt haben, wo man genau darauf achten musste, ob die energetische Sanierung
an Schulen einen Anteil von 49 Prozent oder 51 Prozent
hatte?
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Deswegen ist als Geste Ihrerseits darüber nachzudenken, ob Sie diese Kooperationsmöglichkeit, die sich in
der Wissenschaft so gedeihlich entwickelt hat, nicht
auch im Bereich Schule zulassen wollen. Auch das ist
ein Wunsch für den heutigen Tag des Bildungsgipfels.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Sicherlich kann man sagen, Herr Rossman, das
man zu spät kommt, aber die spannende Frage ist, wer
zu spät gekommen ist. Unter Rot-Grün hat es in der Bildungspolitik 1998 bis 2005 einen Aufwuchs um gerade
1,2 Milliarden Euro gegeben.
({0})
- Ja, natürlich. Lesen Sie doch die Haushaltszahlen
nach! Sie haben mit 6,5 Milliarden Euro angefangen und
mit 7,6 Milliarden Euro aufgehört. Das ist richtig. - In
dieser Zeit haben Sie nur ein Prestigeobjekt fertig bekommen, nämlich das Ganztagsschulprogramm. Ganz
anders nach 2005: Es gab mit Ministerin Schavan einen
Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Wir haben von 2006 bis heute, bis 2010, eine Erhöhung
von fast 3 Milliarden Euro auf rund 11 Milliarden Euro
vorgenommen. Das ist eine Steigerung um fast ein Drittel in fünf Jahren.
Herr Rossmann, Sie haben gesagt, wir seien in einer
finanziellen Schicksalsgemeinschaft, und beklagen
gleichzeitig, dass der Bund in einem Programm des dritten Paktes den Hochschulen nur einen Anteil von
10 Prozent abverlangt. Ich frage Sie: Welchen Einfluss
haben Sie als der verantwortliche Bildungspolitiker in
der SPD-Bundestagsfraktion auf Ihre Ministerpräsidenten?
In Punkt 6 des Beschlussentwurfes der A-Länder für
den Bildungsgipfel, der in wenigen Stunden beginnt,
heißt es, dass die Erreichung des 10-Prozent-Zieles bis
2015 mit den vorhandenen Ressourcen nicht sichergestellt werden kann. Das heißt, die A-Länder stellen den
Zeitpunkt 2015 infrage.
({2})
Es geht noch weiter. Ich finde es fatal, was hier in den
letzten Tagen abgelaufen ist. Mich stellt auch das, was
von den B-Ländern im Beschlussentwurf steht, nicht immer zufrieden.
({3})
Aber was die A-Länder in Punkt 7 machen, ist ein reines
Geschacher um Mehrwertsteuerpunkte.
({4})
Wir stehen in der Bildungspolitik vor verschiedenen
Herauforderungen: erstens die demografische Entwicklung; zweitens insbesondere in den neuen Bundesländern eine verschärfte Situation. In Mecklenburg-Vorpommern scheiden jeden Monat 1 400 Beschäftigte aus
Altersgründen aus dem Arbeitsleben aus, ca. 16 000 im
Jahr. Die Zahl der Schulabgänger in den nächsten Jahren
liegt zwischen 9 000 und 12 000 pro Jahr. Das zeigt, dass
das Thema Bildung die eigentliche soziale Frage des
21. Jahrhunderts ist.
({5})
Wenn wir - dafür steht der Bund - in Zukunft keinen
Fachkräftemangel wollen, dann müssen wir bei der frühkindlichen Bildung, der Berufsorientierung und der
Hilfe für benachteiligte Jugendliche ansetzen.
Ein Blick auf den Aufwuchs der Bildungsausgaben
zwischen den Jahren 2006 und 2008, wo die Steuereinnahmen auch für die Länder stark geflossen sind, zeigt:
Der Bund hat massiv aufgestockt, die Länder hingegen
waren sehr verhalten. Diejenigen Länder, die nicht erkennen, dass in die Bildung investiert werden muss, werden ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung nicht gerecht.
({6})
Einigen Ländern, liebe Kolleginnen und Kollegen gerade von der Opposition, scheint nicht aufzufallen, dass
die Schulabbrecher- und Ausbildungsabbrecherquoten zwischen 20 und 25 Prozent liegen. Die Zahlen der
Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss bewegen
sich zwischen 5 und 13 Prozent. Ich nenne jetzt einmal
nur die Länder, die nicht am oberen Rand liegen: Das
sind Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen, die vier Länder, die bei PISA ganz vorn stehen, zufällig unionsgeführte Länder mit kontinuierlicher Schulpolitik und mit unterschiedlichen Schulsystemen. Bei
den Ausgaben pro Schüler stehen diese vier Länder nicht
unbedingt an der Spitze. Das zeigt, dass viel Geld nicht
gleichzeitig gute Bildung bedeutet.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rossmann?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Rehberg, Sie haben unsere gemeinsame Sorge
angesichts von 80 000 jungen Menschen ohne Schulabschluss und vielen Hunderttausend Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung angesprochen. Deshalb
stellt sich für uns die Frage, ob Sie garantieren können,
dass das Bundesinstrumentarium, durch das bisher im
Rahmen von Arbeitsförderungsgesetzen die Nachholung
des Hauptschulabschlusses gefördert wurde, beibehalten wird. Denn sonst besteht nicht nur die von Ihnen aufgezeigte Kritik vonseiten des Bundes gegenüber den
Ländern, von denen der Bund mehr erwartet, sondern es
besteht auch Kritik in diesem Hause, weil wir die Sorge
haben, dass im Rahmen dessen, was Sie als Ihr Sparkonzept vorgestellt haben, dieses Bundesinstrumentarium
angegriffen werden könnte. Es wäre hilfreich, wenn Sie
jetzt ein Wort dazu sagen könnten, ob es unter Ihrer Verantwortung erhalten bleibt, und zwar in dem Rahmen,
den wir uns in der Großen Koalition mühsam erarbeitet
haben.
({0})
Herr Rossmann, die Bundesregierung hat ein Eckpunktepapier zum Haushalt 2011 und zur mittelfristigen
Finanzplanung für die nächsten Jahre vorgelegt. Am
7. Juli dieses Jahres wird es einen Regierungsentwurf
zum Haushalt 2011 geben, und im September beginnen
wir mit den Haushaltsberatungen. Dann wird Ende November/Anfang Dezember der Haushalt hier im Deutschen Bundestag verabschiedet. Da ich davon ausgehe,
dass der Vermittlungsausschuss an der einen oder anderen Stelle bemüht wird, kann ich Ihnen heute nicht sagen, wie der Haushalt endgültig aussieht. Ich kann Ihnen
aber mit Sicherheit sagen, dass die Bundesregierung und
die Regierungsfraktionen - das war auch Gegenstand der
Gespräche am Wochenende - fest zur Erreichung des
10-Prozent-Ziels stehen und dass wir in dieser Legisla4620
turperiode insgesamt 12 Milliarden Euro für Bildung
und Forschung mehr ausgeben werden, 400 Millionen
Euro für Bildung pro Jahr und 350 Millionen Euro für
die Forschung pro Jahr. Herr Rossmann, dies ist mehr als
ehrgeizig. Insoweit habe ich überhaupt keine Sorge, dass
die Gruppen, die Sie angesprochen haben, nicht weiterhin die Förderung erfahren, die sie bisher erfahren haben. Es wird eher noch mehr sein.
({0})
Als Haushälter möchte ich noch eine Anmerkung zu
dem Vorwurf unseriöser Haushaltspolitik machen. Wir
haben gemeinsam in der Großen Koalition Konjunkturpakete geschnürt. Wir haben gemeinsam ein Bürgerentlastungsgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben - das
halte ich in gesellschaftspolitischer Hinsicht für hoch verantwortlich - die Sozialbeiträge nicht erhöht, sondern der
Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung
einen Zuschuss in Höhe von 17 Milliarden Euro gegeben,
insbesondere auch deswegen, weil das sozial gerecht ist,
weil die oberen 10 Prozent der Steuerpflichtigen 60 Prozent und die unteren 50 Prozent der Steuerpflichtigen
nicht einmal 8 Prozent des Steuervolumens aufbringen
müssen, während man schon ab dem ersten Euro des
Bruttolohns Sozialabgaben zahlen muss. Zur Erinnerung
derjenigen, die uns unseriöse Haushaltspolitik vorwerfen:
Dieser Haushalt 2010 ist im Wesentlichen der SteinbrückHaushalt. Insoweit trifft der Vorwurf unseriöser Haushaltspolitik die SPD selber. Wer mit einem Finger auf andere zeigt, auf den weisen vier Finger zurück.
({1})
Eine Anmerkung zur Langzeitwirkung von Steuerpolitik. Mitte 2000 ist eine große Steuerreform von RotGrün auf den Weg gebracht worden. Dies hat bewirkt,
dass im Jahr 2001 die fehlenden Einnahmen aus der Körperschaftsteuer aus den Einnahmen der Lohnsteuer finanziert werden mussten, weil Sie die großen Unternehmen
noch reicher gemacht haben, indem Sie die Veräußerung
von Kapitalbeteiligungen steuerlich freigestellt haben.
Das wirkt bis heute nach. Ihre Steuerpolitik hat im ersten
Jahr zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 24 Milliarden Euro und im letzten Jahrzehnt zu Steuermindereinnahmen in Höhe von insgesamt 120 Milliarden Euro geführt. Unter den Nachwirkungen leiden heute Länder und
Kommunen nach wie vor.
({2})
Das Schmankerl dieser Geschichte ist: Die entscheidenden Stimmen kamen von der PDS bzw. der Linken aus
Schwerin. Man hat sich mit fünf Ortsumgehungen kaufen lassen und hat dann Ja zu diesem Steuerreformpaket
gesagt. Wer über die Finanzausstattung von Ländern und
Kommunen redet, der muss auch an den Sommer des
Jahres 2000 denken.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1957 mit dem Titel
„Nationalen Bildungspakt für starke Bildungsinfrastruk-
turen schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stim-
men der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Die
Linke und der Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 4 b und Zusatzpunkt 2: Inter-
fraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1984 und 17/1973 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 c: Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/1977.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/109 mit dem Titel „Studienpakt
für Qualität und gute Lehre jetzt durchsetzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und der Lin-
ken gegen die Stimmen der SPD bei Stimmenthaltung
der Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/119 mit dem Titel „Forde-
rungen aus dem Bildungsstreik aufnehmen und die so-
ziale Spaltung im Bildungssystem bekämpfen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/131
mit dem Titel „Konsequenzen aus dem Bildungsstreik
ziehen - Bildungsaufbruch unverzüglich einleiten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und der Lin-
ken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung
der SPD angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 l sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 17/1939 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 17/1940 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreiundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({3})
- Drucksache 17/1941 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung eines nationalen Stipendienprogramms
({5})
- Drucksache 17/1942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetzes 2010/2011
({7})
- Drucksache 17/1878 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verwendung von Verwaltungsdaten für Wirtschaftsstatistiken und zur Änderung von Statistikgesetzen
- Drucksache 17/1899 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll vom 11. Dezember 2009 zum
Abkommen vom 23. August 1958 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der
Doppelbesteuerungen und über gegenseitige
Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern
- Drucksache 17/1943 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Juli 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der mazedonischen Regierung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/1944 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33
des Gerichtsverfassungsgesetzes
- Drucksache 17/1462 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({12}), Volker Beck ({13}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
OSZE-Vorsitz für Reformen in Kasachstan
nutzen
- Drucksache 17/1432 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Deklarationspflicht für Palmöl in Lebensmitteln
- Drucksache 17/1780 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({15})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
l) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2009
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 17/1730 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 3a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die „Information der Verbraucher über
Lebensmittel“
KOM({16}) 40
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Lebensmittelinformation verbessern - Verbindliche Ampelkennzeichnung einführen
- Drucksache 17/1987 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({17})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen
korrigieren - Pflicht zur Abmahnung einführen
- Drucksache 17/1986 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({18})
Rechtsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Anna Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung ausbauen und
in die Regelversorgung überführen
- Drucksache 17/1985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({19})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Schmidt ({20}), Heinz Paula, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Potenziale von Kultur und Tourismus nutzen Kulturtourismus gezielt fördern
- Drucksache 17/1966 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({21})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hochwasserschutz europäisch und ökologisch
nachhaltig umsetzen - Für ein integriertes
Hochwasserschutzkonzept
- Drucksache 17/1974 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich komme nunmehr zu den Tagesordnungspunkten 33 a
bis 33 k sowie zu Zusatzpunkt 4. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2010
({23})
- Drucksache 17/1294 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({24})
- Drucksache 17/1752 Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Jasper
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1752, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/1294 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des
Übereinkommens vom 3. September 1976
über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation ({25})
- Drucksache 17/1295 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({26})
- Drucksache 17/1753 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Herbert Schui
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1753, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/1295 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Linksfraktion
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr
- Drucksache 17/1293 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 17/1836 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Sebastian Edathy
Marco Buschmann
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1836, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1293 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 3. Dezember 2009
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Föderativen Republik Brasilien über
Soziale Sicherheit
- Drucksache 17/1296 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({28})
- Drucksache 17/1805 Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1805,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/1296 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Enthaltungen? - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 e bis
33 k, zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen
- Drucksache 17/1771 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 90 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen
- Drucksache 17/1772 4624
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 91 ist ebenso einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
- Drucksache 17/1773 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 92 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
- Drucksache 17/1775 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 94 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Grünen und bei Stimmenthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 95 zu Petitionen
- Drucksache 17/1776 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 95 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
SPD und der Grünen sowie Stimmenthaltung der Linken
angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 96 zu Petitionen
- Drucksache 17/1777 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 96 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.
Mir wurde gerade gesagt, ich hätte bei der Abstimmung die Sammelübersicht 93 übersehen.
({35})
Ich rufe also noch den Tagesordnungspunkt 33 h auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
- Drucksache 17/1774 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 93 ist gegen die Stimmen der Linksfraktion mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen.
Nachdem wir nun über alle Sammelübersichten zu
Petitionen abgestimmt haben, kommen wir zu einer weiteren abschließenden Beratung ohne Aussprache.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({37})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 1099/10
- Drucksache 17/1997 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({38})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Franz
Mayer mit der Prozessvertretung zu betrauen. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Schnellstmögliche Aufklärung des Angriffs
des israelischen Militärs auf einen internationalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jan van Aken von der Fraktion Die Linke das Wort.
({39})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin heilfroh - das muss ich zunächst einmal sagen -, dass unsere Kolleginnen und unsere Freunde, die
auf den Hilfsschiffen für Gaza waren, wieder heil zurück
in Deutschland sind. Am Montag sind neun Menschen
erschossen worden. Unser Mitgefühl gehört ihren Angehörigen und Freunden.
Der Angriff auf die Schiffe war ein Verbrechen. Ein
griechischer Aktivist, der sich auf einem der Schiffe befand, hat das sehr treffend und auch sehr einfach gesagt:
Dieses Meer ist frei. Seit 4 000 Jahren fahren wir auf
diesem Meer. Es ist ein Verbrechen, auf einem freien
Meer auf hoher See Schiffe zu entern, Menschen zu erschießen, zu verletzen und zu entführen. - Weil das eine
Freiheitsberaubung und ein Kriegsverbrechen ist, haben
wir auch hier in Deutschland Strafanzeige gestellt.
({0})
Ich möchte heute aber vor allem nach vorne schauen
und fragen: Was können wir jetzt tun, um das unendliche
Leid in Gaza zu beenden? Die Hilfsflotte hatte von vornherein zwei Ziele. Einmal ging es um ganz praktische
Hilfe. Es ging darum, dringend benötigte Güter - Zement, Rollstühle, Medikamente und Dachziegel - nach
Gaza zu bringen. An all dem mangelt es dort, weil Israel
seit Jahren rechtswidrig den Gazastreifen einschnürt, abriegelt und kaum noch etwas durchlässt.
Die Hilfsflotte war aber auch eine politische Aktion.
Die Welt sollte an das Leid in Gaza, an die menschliche
Tragödie, erinnert werden. Das ist ja eine der größten
humanitären Katastrophen unserer Zeit. Die Hilfsflotte
wollte auf die illegale Blockade des Gazastreifens aufmerksam machen. Israel blockiert fast alles - nicht nur
Waffen und Raketen, sondern auch Baumaterial für
Schulen und Häuser, lebensnotwendige Medikamente
und selbst das tägliche Brot.
60 Prozent der Menschen in Gaza können sich nicht
mehr selbst ernähren. Wenn sie Glück haben, dann bekommen sie Lebensmittelhilfe von den Vereinten Nationen. Wenn sie kein Glück haben, dann müssen sie hungern. Die Vereinten Nationen berichten, dass unter den
Kindern in Gaza Mangelernährung und Wachstumsstörungen weiter zunehmen. Zwei von drei Neugeborenen
sind schon unterernährt und leiden an Blutarmut.
Die Landwirtschaft in Gaza liegt völlig am Boden. Es
gibt nicht genügend Saatgut, keine Bewässerungsanlagen und kaum noch Land. Denn fast die Hälfte des
fruchtbaren Bodens kann zum Beispiel deshalb nicht
mehr beackert werden, weil er zur Schutzzone erklärt
wurde. Kein Bauer darf mehr auf das Land. Niemand
darf säen und ernten. Und am Ende hungern die Kinder
von Gaza. Das muss doch endlich ein Ende haben.
({1})
Genauso ist es mit der Fischerei. Man muss sich das
einmal vorstellen: Ein Land mit einem so langen Küstenstreifen am Mittelmeer muss jetzt illegal Fisch importieren, der durch die Tunnel aus Ägypten kommt. Die eigenen Fischer dürfen nur noch drei Meilen weit
hinausfahren. Die guten Fanggründe sind viel weiter
draußen.
Die Lage in Gaza ist verzweifelt. Es liegt auch an uns,
das jetzt zu beenden. Ich freue mich, dass alle Parteien
im Bundestag hier einer Meinung sind. Aber jetzt müssen wir auch etwas daraus machen. Die Bundesregierung
muss auch einmal die israelische Regierung drängen,
endlich die Blockade vollständig aufzuheben und Transporte durchzulassen.
({2})
Im Moment ist die Regierung Netanjahu doch auf einer Art Kamikaze-Kurs. Die Blockade von Gaza stärkt
nur die Extremisten und die Feinde Israels. Der Angriff
auf die Schiffe hat Israel weltweit vollständig isoliert.
Bei dem Versuch, Gaza zu erdrosseln, schnürt sich Israel
im Moment selbst die Luft ab.
Jetzt müssen wir gemeinsam mit unseren Nachbarn
bzw. mit der EU solange Druck auf Israel ausüben, bis
die Blockade endlich beendet wird, bis endlich die anderthalb Millionen Menschen in Gaza wieder in Würde
leben können, sich frei bewegen können und auch selbst
wirtschaften können.
({3})
Dazu gehört natürlich auch eine Idee, wie man dann
die Sicherheit Israels garantieren kann. Niemand
möchte, dass nach der Aufhebung der Blockade mit den
Transporten auch Waffen und Raketen nach Israel kommen. Die Lösung ist ganz einfach. Da könnten doch
Kontrollen durch die Vereinten Nationen sein: Inspektionen auf jedem Schiff, das Gaza anläuft, durch unabhängige Kontrolleure. Dadurch kann verhindert werden,
dass Waffen nach Gaza gelangen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, auch nicht in den
Nahen Osten.
({4})
Deutschland verkauft FUCHS-Panzer in die Vereinigten Arabischen Emirate, Sturmgewehre nach Saudi Arabien und Kriegsschiffe nach Israel. Wie wollen Sie denn
Frieden im Nahen Osten schaffen, wenn Sie immer wieder neue Waffen in die Region schicken? Wir sind dafür,
dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportiert und schon gar nicht in den Nahen Osten.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Uns alle haben die dramatischen Ereignisse der vergangenen Woche vor der Küste des Gazastreifens erschüttert
und mit tiefer Sorge erfüllt. Wir sind bestürzt über den
Verlust von Menschenleben; dazu hätte es nicht kommen
dürfen. Wir sind froh, dass die beteiligten Bundesbürger
und die beiden Kolleginnen der Linksfraktion wieder
wohlbehalten in Deutschland sind. Die deutsche Botschaft in Israel verdient für ihre erstklassige konsularische Arbeit unser Lob und unsere Anerkennung.
({0})
Der Vorfall hat uns wieder einmal vor Augen geführt,
wie angespannt die Lage im Nahen Osten ist. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht angemahnt, dass es in dieser
schwierigen Situation zu keiner weiteren Eskalation kommen darf. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Bundeskanzlerin deshalb dankbar, dass sie mit ihren Gesprächen mit
dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, dem türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan und dem palästinensischen Präsidenten Abbas einen wichtigen Beitrag
zur Beruhigung der Lage geleistet hat. Auch das belastbare Verhältnis von Bundesaußenminister Westerwelle
zu seinem israelischen Kollegen Lieberman ist in diesen
Tagen zum Tragen gekommen.
Zur weiteren Entspannung der Situation brauchen wir
zweierlei: Erstens ist dies eine schnellstmögliche Aufklärung der Vorkommnisse mittels einer umfassenden,
transparenten und neutralen internationalen Untersuchung. Daran sollten Vertreter des Nahostquartetts beteiligt werden. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung
hier um eine gemeinsame Haltung in der EU bemüht.
Zweitens müssen wir den Friedensprozess voranbringen.
Die sogenannte Hilfsflotte war dazu sicherlich nicht förderlich.
({1})
Eine Zwei-Staaten-Lösung bleibt das richtige Ziel.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Präsident Abbas die
indirekten Friedensgespräche mit Israel fortsetzen will.
Es kann jedoch zu keinem dauerhaften Frieden kommen,
wenn es keine Normalisierung der Beziehungen zwischen den verfeindeten Palästinensergruppen Hamas und
Fatah gibt. Hamas muss das Existenzrecht Israels endlich anerkennen.
Ohne Frage ist die Blockade des Gazastreifens durch
Israel für den Friedensprozess nicht hilfreich. Israel hat
ein legitimes Interesse daran, dass keine Waffen und Raketen, die dann wieder auf israelische Städte abgefeuert
werden könnten, in den Gazastreifen geschmuggelt werden. Gleichzeitig aber ist die humanitäre Situation im
Gazastreifen unhaltbar.
({2})
Die Grenzen müssen für normale Hilfsgüter offen
sein. Beides muss sichergestellt werden: der Schutz der
israelischen Bevölkerung vor Angriffen islamistischer
Extremisten und die Versorgung der Bevölkerung des
Gazastreifens. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die
Bemühungen der Bundesregierung, dies zu erreichen.
Die EU ist mit ihrer Mission am Grenzpunkt Rafah
zwischen dem Gazastreifen und Ägypten bereits vor Ort.
Es ist noch zu klären, inwieweit die Kontrolle der nach
Gaza einfahrenden Schiffe durch die EU möglich ist.
Meine Damen und Herren, „eine einseitige Parteinahme in diesem Konflikt wird nicht zu seiner Lösung
beitragen“. So steht es im Positionspapier der Linken
zum Nahostkonflikt vom 20. April dieses Jahres. Sicherlich steht die Verhältnismäßigkeit der israelischen Aktion in Zweifel. Die Linke muss sich aber fragen lassen,
ob sich ihre Abgeordneten als deutsche Volksvertreter
nicht vor den Karren der radikal-islamistischen Hamas
haben spannen lassen.
({3})
Ging es Ihnen wirklich um die humanitäre Hilfe?
Wieso fanden Sie es nicht verwunderlich, dass die Organisatoren der Flotte nicht bereit waren, die Güter im israelischen Hafen Aschdod zu löschen und sie von dort
nach Gaza zu bringen?
({4})
Warum sind Sie nicht hellhörig geworden, als der Ministerpräsident der Hamas in Gaza, Ismail Hanija, schon
vor der Aktion ihr mögliches Scheitern als „einen Sieg
für Gaza“ bezeichnet hat? Wieso wurden Sie nicht stutzig, als die Hamas die Annahme der Güter, die Israel von
den Schiffen abgeladen und auf Lastwagen verfrachtet
hat, verweigerte?
Warum lassen Sie es unkommentiert, dass der Hamas
offensichtlich nicht an der humanitären Lage der Bevölkerung im Gazastreifen gelegen ist und dass sie Lastwagen mit Medikamenten, Nahrungsmitteln, Rollstühlen
und Kinderspielzeug am Grenzübergang Kerem Schalom auf ihre Abfertigung warten lässt? Warum thematisieren Sie eigentlich nie die schweren Menschenrechtsverletzungen unter der Herrschaft der Hamas? Die
Antwort ist, dass es Ihnen weniger um die Menschen in
Gaza geht als um Ihre Solidarität mit den islamistischen
Extremisten der Hamas.
({5})
Das haben Sie mit Ihrer einseitigen Parteinahme im Nahostkonflikt eindeutig unter Beweis gestellt.
({6})
Das Wort hat nun Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leider müssen wir erneut - dies war häufig im Hinblick
auf den Nahen Osten so - über einen traurigen, schmerzhaften und weitreichenden Vorfall reden. Nachdem endlich indirekte Gespräche zwischen Israel und Palästina
unter Vermittlung der USA in Gang gekommen waren,
hat der Einsatz von Gewalt wieder vieles infrage gestellt.
Ich sage von dieser Stelle aus eindeutig in Richtung Iran:
Wenn es, wie es der Iranische Rote Halbmond angekündigt hat, zu einem solchen Schiffskonvoi - unter Umständen mit Begleitung von Revolutionsgarden - kommen wird, trägt dies zu einer nachhaltigen Eskalation im
Nahen und Mittleren Osten bei. Wir sagen klar: Dies lehnen wir ab. Wir bitten, die Konsequenzen zu bedenken.
({0})
Herr van Aken, auch wir beklagen die Toten. Ich hätte
mir aber gewünscht, Sie hätten auch an die Verletzten
auf beiden Seiten erinnert. Auch dies gehört zur Realität
bei diesem schrecklichen Vorfall.
Ich weiß, vieles ist noch ungewiss. Aber schon heute
lässt sich sagen: Weder ist durch diesen Einsatz die Sicherheit Israels gestärkt noch ist die humanitäre Situation im Gazastreifen verbessert worden. Beides ist nicht
erreicht worden. Ich bedauere, dass die Menschen im
Gazastreifen, die so dringend Hilfe brauchen, wieder
zum Spielball aller Seiten in diesem Konflikt geworden
sind. Ich hätte mir gewünscht, dass man, bevor man eine
solche Aktion unterstützt, die Konsequenzen bedacht
hätte. Sie waren vorhersehbar.
({1})
Meine Damen und Herren, der Einsatz des israelischen Militärs war unverhältnismäßig und ist nicht zu
rechtfertigen. Dies haben wir von Anfang an gesagt. Ich
möchte in diesem Zusammenhang zwei Punkte ansprechen. Die israelische Regierung kann davon ausgehen,
dass die Solidarität insbesondere von Deutschland gegenüber Israel unteilbar ist. Aber sie muss über die Konsequenzen ihres Handelns nachdenken und sollte insbesondere den Partnern den Spielraum für ihre Politik nicht
verengen. - Das ist die eine Seite.
Zum Zweiten müssen wir der israelischen Regierung
klarmachen, dass nicht jede Herausforderung von außen
mit Militär beantwortet werden kann und darf. Genau
das Gegenteil ist der Fall. Die israelische Regierung
muss die Politik befördern. Ich habe es schon einmal an
anderer Stelle gesagt: Die Bundeskanzlerin hat die
Worte in Richtung Israel mit guten Absichten gewählt.
Aber ich glaube, dass sie in der israelischen Regierung
missverstanden worden sind. Dies war kein Freifahrschein für eine unkluge Politik. Ich hätte mir gewünscht,
man hätte stärker darauf hingewiesen, dass ein solches
Handeln wie jetzt vor der Küste des Gazastreifens nicht
von uns durch solche Worte mit gedeckt ist.
Wir vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion verlangen
eine unabhängige, transparente und internationale Untersuchung über den gesamten Verlauf der Aktion. Dies betrifft sowohl die Vorbereitung der Aktion, die Einschiffung, die Fahrt, aber auch die Erstürmung durch
israelisches Militär. Dies gehört zusammen; ich finde,
das alles muss man sagen. Ich würde mir wünschen, dass
das von allen Seiten so gesehen wird.
Die Abriegelung des Gazastreifens muss aufgehoben
werden. Wir müssen Israel klar sagen, dass die Abriegelung das Gegenteil dessen bewirkt hat, was intendiert
war. Man hat weder die Hamas geschwächt, noch hat
man offensichtlich den Waffenhandel in diesem Gebiet
unterbunden, noch hat man den Soldaten Schalit freibekommen. All das sind Dinge, die wir gegenüber Israel
deutlich machen müssen.
Zum Schluss will ich sagen: Wir vonseiten des Deutschen Bundestages, aber auch vonseiten der Bundesregierung müssen alles dafür tun, dass UN-Hilfslieferungen in den Gazastreifen zugelassen werden, ob über den
Land- oder den Seeweg. Ich glaube, dass die Europäische Union einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann.
Der Vorschlag, dass das Nahostquartett in diesem Zusammenhang wieder eine Rolle spielen kann, kann möglicherweise einen Weg auch für die israelische Regierung bedeuten.
Meine Damen und Herren, ich mache mir Sorgen
über die Rolle der Türkei, nicht so sehr deswegen, weil
das eine oder andere, was jetzt in der öffentlichen Debatte in der Türkei passiert, möglicherweise eine Rolle
spielt. Wir müssen aufpassen, dass wir von hier aus nicht
die falschen Signale an die türkische Regierung geben.
Die Regierung Erdoğan hat eine Menge Positives für
das Verhältnis zu Israel getan. Dazu zählen die Einladung des israelischen Präsidenten in das türkische Parlament, aber auch die Vermittlungsbemühungen zu Syrien.
Das sollten wir weiter unterstützen; denn wir brauchen
die Türkei in der Bearbeitung des Nahostkonfliktes.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
große Mehrheit dieses Hauses eint das Grundverständnis, dass wir als Deutsche eine besondere Verantwortung
insbesondere für die Sicherheit Israels und eine besondere Beziehung zu Israel haben.
({0})
Ich bin der neuen Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass es ihr gelungen ist, sowohl zu Israel - bis vor
einigen Jahren völlig unvorstellbar - eine tiefe Beziehung auf Regierungsebene aufzubauen, als auch Ähnliches in ebensolcher Qualität mit der Palästinenserseite
zu tun. Das ist ein Fortschritt, und das wird unserer Rolle
als Vermittler durchaus gerecht.
Meine Damen und Herren, ich habe sehr großes Verständnis dafür, dass im Zentrum jeder israelischen Politik die Sicherheit stehen muss. Das ist völlig klar, wenn
man die Situation dort kennt. Ich sage aber auch sehr
deutlich, dass es jedenfalls der gegenwärtigen Regierung
Israels nicht gelingt, mir klarzumachen, dass jede ihrer
Handlungen langfristig im Interesse Israels ist.
Gerade die enge Partnerschaft zu Israel verpflichtet
uns als Deutsche, dass wir nicht jede Handlung der jeweiligen israelischen Regierung kritiklos hinnehmen.
({1})
Unsere Verantwortung als Freund und Unterstützer Israels ist es, in aller Offenheit mit Israel zu kommunizieren, aber auf der Basis einer völlig ungebrochenen und
selbstverständlichen Unterstützung, die wir diesem Land
angedeihen lassen wollen.
({2})
Es sollte sich aber keiner der Illusion hingeben, dass
auf diesen Schiffen nur wohlmeinende Pazifisten gewesen sind, denen allein an der Versorgung des Gazastreifens gelegen ist. Nein, nein, es gab natürlich noch jede
Menge andere Motive im Hintergrund. Natürlich waren dort auch Leute beteiligt, deren Motivlage eindeutig - eindeutig! - gegen Israel gerichtet ist. Das muss
man der Vollständigkeit halber zu diesem Fall natürlich
auch sagen.
({3})
Wir schließen uns der Forderung an, dass es eine internationale Untersuchung der Vorfälle gibt. Bevor diese
vorliegt, enthalte ich mich jeder abschließenden Beurteilung der einzelnen Aspekte der Aktion. Auch Präsident
Obama hat das gestern noch einmal sehr deutlich gefordert. Ich finde es richtig, dass dabei das Quartett durchaus eine wichtige Rolle spielen kann und soll. Ich wäre
froh, wenn wir das Quartett etwas revitalisieren könnten.
Die Bundesregierung hat dazu Anstöße gegeben - das
begrüße ich sehr -, das könnte aber durchaus noch ausgeweitet werden.
Dieser Vorfall hat über die unmittelbare Wirkung für
die Betroffenen hinaus, die Toten und die Verwundeten
- schrecklich, wie wir einvernehmlich feststellen -, erhebliche politische Weiterungen.
Erstens lassen Sie mich sagen, dass mich als bekennenden Unterstützer Israels erschreckt, mit welcher Geschwindigkeit es der gegenwärtigen israelischen Regierung gelingt, Freunde und Partner in aller Welt zu
verlieren. Das kann nicht im Interesse Israels sein. Das
müssen wir als Freunde Israels auch sehr deutlich sagen.
Ich unterscheide sehr klar zwischen unserem Commitment zu Israel und den Handlungen der jeweiligen israelischen Regierungen, die ich mir erlaube jeweils ganz
genau zu betrachten und anzuschauen.
Zweitens. Auch wenn im Gazastreifen keine direkte
Hungersnot herrscht, so ist dennoch die humanitäre Lage
dort nur mit dem Wort „katastrophal“ zu bezeichnen.
Der Leiter der UNRWA-Mission gibt darüber beredtes
Zeugnis. Auch Präsident Obama hat das gestern Abend
sehr deutlich gemacht. Er hat es mit einem sehr deutlichen Statement und auch mit einem entsprechenden finanziellen Commitment versehen.
Drittens profitiert davon - leider - ausgerechnet die
Hamas. Denn der Hamas gelingt es, durch das von ihr
kontrollierte Tunnelsystem die Waren zu beschaffen und
die Bevölkerung mit Waren zu versorgen. Und die UN,
die UNRWA, die eindeutig - das wissen wir, und das
müssen wir deutlich sagen - gegen jeden fundamentalistischen Islam ist, die dafür steht und jeden Tag dafür
kämpft, versetzen wir nicht in die Lage, entsprechende
Hilfen zu ermöglichen. Das kann so nicht weitergehen,
das hilft nämlich nur der Hamas. Das muss geändert
werden.
({4})
Die katastrophale humanitäre Lage treibt leider der
Hamas weitere Unterstützer zu. Das kann wirklich nicht
im Interesse Israels sein; denn die Hamas - wir wissen
das und sind uns darüber im Klaren - erkennt nach wie
vor nicht das Recht Israels an, in Frieden und Freiheit zu
leben.
Was ist zu tun?
Erstens. Es muss eine internationale Untersuchung
durchgeführt werden; ich habe dies bereits angesprochen.
Zweitens. Die Blockade des Gazastreifens in der gegenwärtigen Form muss aufgehoben werden. Dabei ist
auf israelische Sicherheitsinteressen umfassend Rücksicht zu nehmen; auch das ist gesagt worden. Hier muss
eine Änderung herbeigeführt werden.
Drittens. Wir müssen an der Umsetzung der Resolutionen 1815 und 1860 arbeiten.
Viertens. Wir müssen noch stärker als bisher auf die
Beteiligten einwirken, wirklich den Friedensprozess anzustoßen. Dabei kann die Bundesregierung aufgrund ihrer wirklich guten Vorarbeit - nicht isoliert - entsprechende Impulse geben.
Wir müssen jede weitere Eskalation vermeiden. Die
Gerüchte, die Herr Mützenich angesprochen hat, sind
geradezu erschreckend, so erschreckend, dass ich gar
nicht wiederholen will, was da eventuell auf uns zukommt. Wir müssen das unter allen Umständen verhindern.
Wir müssen aus eigenem deutschen und europäischen
Interesse alles dafür tun, um die Eskalation im Nahen
Osten abzubauen und Friedensbrücken zu schlagen;
dazu dient humanitäre, aber auch politische Arbeit. Wir
unterstützen die Bundesregierung dabei.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine, dass die tragischen Ereignisse vor der Küste Gazas am 31. Mai eines bewirkt haben: Das Thema Gaza
steht wieder auf der politischen Tagesordnung. Allerdings muss man direkt hinzufügen: Der Preis, der dafür
bezahlt wurde, ist sehr hoch, ich meine, zu hoch. Neun
Menschen sind gestorben, viele wurden verletzt. Bei allem Verständnis, das ich für Israels berechtigte Sicherheitsinteressen habe - ich habe mein Verständnis sehr oft
an verschiedener Stelle zum Ausdruck gebracht -: Aus
meiner Sicht ist Israels Armee bei der Aufbringung des
Schiffes zumindest mit unverhältnismäßiger Gewalt vorKerstin Müller ({0})
gegangen - meine Fraktion verurteilt das scharf -, das
muss man einfach klar sagen.
({1})
Ich schließe mich Herrn Stinner und anderen an: Ich
halte es für extrem wichtig, dass Israel einer internationalen Untersuchung der Vorgänge zustimmt, gerade
wenn es anderer Meinung ist, gerade weil die internationalen politischen Folgen des Angriffs auf die Gazaflotte
so verheerend sind. Es ist nicht nur so, dass die Gewalteskalation von der ganzen Welt scharf verurteilt wurde.
Auch ich will erwähnen - Herr Mützenich hat es
schon getan -: Das bisher hervorragende und wichtige
Verhältnis Israels zur Türkei wurde schwer beschädigt.
Die Türkei war bisher eine wichtige Brücke für Israel in
die islamische Welt. Nun ist man dabei, sie systematisch
zu zertrümmern.
Das, was jetzt passiert - auch der Iran fühlt sich berufen, in Begleitung der Revolutionsgarden Schiffe nach
Gaza zu bringen -, könnte zu einer weiteren Eskalation
führen. Es ist völlig klar: Das muss unbedingt gestoppt
werden.
Ich war nicht auf der Gazaflotte. Ich will Ihnen sagen,
dass mir entsprechende Anfragen vorlagen; aber ich
habe mich bewusst entschieden, mich nicht daran zu beteiligen, und zwar, weil mir die Zusammensetzung der
Aktivisten zu undurchsichtig erschien und die Gefahr
bestand - ich meine, das hätte man von Anfang an erkennen können -, für andere Ziele instrumentalisiert zu
werden, die ich nicht teile.
({2})
Ich lasse mich nicht von der Hamas instrumentalisieren.
Das ist einfach eine völlig falsche Politik.
Frau Höger und Frau Groth, ich sage dazu aber auch:
Ich gehe davon aus, dass Sie die besten Absichten hatten. Ich nehme da keine Gleichsetzung vor; das fände ich
völlig falsch. Ich denke aber, man darf nicht die Augen
davor verschließen, dass es andere gab, die Sympathien
für Hamas, für islamistische Gruppierungen hatten, und
dass man von diesen dann vereinnahmt wird. Dann muss
man überlegen, ob es gut ist, da mitzumachen.
Ich war zeitgleich in der Region und habe Gespräche
geführt. Ich bin davon überzeugt, dass es nur einen Weg
gibt, um eine weitere Eskalation zu verhindern: Israel
muss die Blockade des Gazastreifens beenden, weil sie
inhuman und völkerrechtswidrig ist. Vor allem ist die
Blockade im Hinblick auf Israels berechtigte Sicherheitsinteressen völlig kontraproduktiv.
({3})
Ich möchte, weil es mir wichtig ist, das klar begründen: Die Freilassung von Gilad Schalit ist ein berechtigtes Interesse von Israel; aber nach eigener Aussage gibt
es hier wegen der Blockade null Fortschritt. Ein anderer
Punkt ist der andauernde Beschuss Israels durch Qassam-Raketen. Natürlich hat Israel ein berechtigtes Interesse, den Beschuss zu stoppen. Aber Israel selbst sagt,
dass zwar die Anzahl der Raketenangriffe reduziert
wurde, aber der Beschuss selbst nicht gestoppt wurde.
Herr Stinner, Sie haben es angesprochen: Beabsichtigt
ist auch eine Schwächung der radikal-islamistischen Hamas. Aber die Blockade schwächt sie nicht, sondern sie
stärkt sie politisch und ökonomisch. Warum? Die Blockade verhindert die legale Einfuhr von allem, was über
die absolute Grundversorgung hinausgeht. Es gibt also
keine Hungerkrise. Das sagen alle, auch John Ging von
der UNRWA. Es soll jede legale wirtschaftliche Entwicklung unterbunden werden. John Ging nennt das eine
Krise der Würde. Es gibt zwar keine Hungerkrise, aber
eine Krise der Würde. Die Menschen sollen am Leben
erhalten werden, ohne in Würde zu leben. Die israelischen Militärs sagen das ganz offen: no humanitarian
crisis. Sie wollen keine Entwicklung und keinen wirtschaftlichen Wohlstand. Das Ergebnis sind 40 Prozent
Arbeitslosigkeit in Gaza. 80 Prozent der Menschen in
der Region sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen.
98 Prozent der legalen Wirtschaft liegen danieder. Ich
sage sehr deutlich: Das hat mit berechtigten Sicherheitsinteressen nichts mehr zu tun. Dadurch wird eine Bevölkerung kollektiv bestraft. Das ist völkerrechtswidrig und
deshalb nicht akzeptabel.
({4})
Andererseits - jetzt kommt die Absurdität - begünstigt diese Blockade eine von der Hamas kontrollierte illegale Schattenwirtschaft. Über die rund 600 Tunnel
kommen alle nur erdenklichen Güter. Man bekommt alles in Gaza. Man muss nur das Geld haben. Aber es hat
nur derjenige das Geld, der mit der Hamas kooperiert. Es
kann auch nur der Unternehmer etwas anbieten, der sich
mit der Hamas arrangiert. Das heißt, diese Unternehmer
profitieren, Hamas blüht auf, und die Zivilbevölkerung
verarmt.
Organisationen wie die UNRWA, die praktisch das
Bollwerk gegen das Islamisierungsprojekt der Hamas im
Gazastreifen sind und die nicht den illegalen Zement der
Hamas zum Bau von Schulen benutzen wollen, können
keine Schulen bauen. Sie müssen Eltern abweisen, die
ihre Kinder auf UN-Schulen und nicht auf Koranschulen
schicken wollen. Dazu sage ich: Die Blockade der Israelis ist eine Blockade der UNO. Dadurch wird das Ganze
vollends absurd. Das nennt man politisch kontraproduktiv. Das sage ich jetzt an die Adresse Israels gerichtet.
Ich will ganz zum Schluss für eine interfraktionelle
Initiative werben. Es gibt einen Punkt, den John Ging
immer wieder hervorhebt: Lassen Sie uns gemeinsam
dafür sorgen, dass die UN ein Mandat dafür bekommen,
mit Israel einen legalen Zugang nach Gaza über den Seeweg auszuhandeln, damit die Güter der UNO über einen
legalen Seeweg anlanden können. Dann kann man weitere Konfrontationen auf See vermeiden. Das wäre ein
erster wirksamer Schritt zur Aufhebung der Blockade.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Das ist mein letzter Satz. - Ich hoffe, dass am Ende
auch die Israelis verstehen werden, dass eine solche
Politik eigentlich in ihrem Interesse ist.
({0})
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat
diese Aktuelle Stunde beantragt. Auch wir wollen heute
die Gelegenheit nutzen - Andreas Schockenhoff hat das
für unsere Fraktion schon getan -, über den Gesamtzusammenhang der Situation im Nahen Osten zu diskutieren.
Ich möchte nun zunächst einmal eine Grundsatzbemerkung machen. Sie von der Linkspartei lehnen Auslandseinsätze kategorisch ab. Wenn es um Friedensmissionen
oder um Stabilisierungsmissionen in Krisenregionen auf
der Welt geht, sind Sie konsequent dagegen. Eine radikal-pazifistische Haltung kann und möchte ich nicht
grundsätzlich verurteilen, weil es für sie gute Argumente
gibt.
({0})
Aber - nun komme ich zu dem Aber - vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, wie Sie sich nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch an dem Versuch beteiligen konnten, im Rahmen eines Auslandseinsatzes
die Seeblockade aufzubrechen.
({1})
Wenn das Ihre Definition von Auslandseinsätzen in Zukunft sein soll, dann können Sie für sich keine radikalpazifistische Haltung in Anspruch nehmen. Es ging keineswegs - das sagen viele der Organisatoren selbst - nur
um eine politische oder humanitäre Aktion, sondern es
ging um eine konfrontative Aktion, auch um Israel weltweit an den Pranger zu stellen.
Ich möchte mich den Vorverurteilungen in keiner
Weise anschließen, sondern ich fordere auch für unsere
Fraktion - das ist auch schon getan worden - eine rückhaltlose Aufklärung, die zu Ergebnissen kommt. Aber
das, was wir durch Gesprächspartner aus Israel und auch
durch Medienvertreter zugetragen bekommen, lässt momentan keinen eindeutigen Schluss zu. Ich denke, dass
jede Vorverurteilung schädlich ist. Für eine Beurteilung
ist es noch zu früh, weil die Fakten sehr ungenau sind.
Deshalb kann ich Sie nur auffordern, dass Sie sich an der
Aufklärungsarbeit nicht nur dadurch beteiligen, dass Sie
energisch Aufklärung fordern - das wollen auch wir -,
sondern auch dadurch, dass Sie sachliche Beiträge leisten und nicht versuchen, eine Showveranstaltung zu inszenieren, um Ihr Ziel zu erreichen, nämlich Israel an den
Pranger zu stellen. Das werfe ich Ihnen vor.
({2})
Wir machen uns große Sorgen. Deshalb sind alle Anstrengungen für die Zukunft der Region aller Mühe wert.
Frau Kollegin Müller, ich denke, dass ein großer Teil der
Vorschläge, die Sie unterbreitet haben, auch bei uns auf
positive Resonanz stößt. Wir wollen im Parlament, im
Auswärtigen Ausschuss und von vielen anderen Stellen
aus Initiativen ergreifen, die dazu beitragen, dass diese
Vorschläge Unterstützung erfahren.
Ich stelle fest: Die humanitäre Situation im Gazastreifen ist uns nicht egal, sondern uns ist klar, dass sie ein
weiteres Engagement der internationalen Gemeinschaft
bedingt. Gerade als Freund Israels - Herr Kollege
Stinner hat deutlich gemacht, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass der Großteil des Hauses eng an der Seite
Israels steht - müssen wir die konkreten Probleme lösen
und unseren israelischen Freunden offen sagen, wo sie
Fehler gemacht haben.
In der Außenpolitik kommt es oft auf die Art und
Weise an. Auch in einer solchen Debatte, wie wir sie
heute führen, dürfen wir keinen Zweifel daran lassen,
dass die Verteidigung des Staates Israel für uns im Mittelpunkt aller Überlegungen steht. Aus meiner Sicht und
auch aus Sicht meiner Fraktion gibt es keine Äquidistanz
zu den beteiligten Gruppierungen, sondern wir stehen in
dieser Frage fest an der Seite Israels. Gerade weil wir an
der Seite Israels stehen, haben wir die Möglichkeit, kritische Punkte offener und zielgenauer anzusprechen.
Ich richte meinen ausdrücklichen Dank an die Bundesregierung, an Staatssekretär Hoyer und an unseren
Außenminister, der in schwierigen Zeiten mit dem israelischen Außenminister Liebermann eng zusammenarbeitet. Ich habe ihn bisher nicht kennen gelernt, aber den
Schilderungen der Medien zufolge ist er ein handfester
Politiker mit Ecken und Kanten und sicherlich einer, der
in der einen oder anderen Debatte undiplomatische
Wege geht. Das belastbare, persönliche Verhältnis zwischen unserem Außenminister und dem israelischen Außenminister hat dazu beigetragen, dass Deutschland in
dieser schwierigen Situation eine besonders gute Rolle
spielen kann.
Es ist auch bemerkenswert, dass wir, anders als die
Türkei und andere Beteiligte, als Vermittler stärker eingreifen können und kein falsches Spiel spielen wie die
Türkei, die auf der einen Seite die Situation beklagt und
auf der anderen Seite zugelassen hat, dass Aktivisten tätig werden. Vor diesem Hintergrund sage ich klar: Ich
bin der Meinung, dass wir dem Verhalten der Türkei in
den nächsten Monaten mehr Aufmerksamkeit schenken
müssen; denn die innenpolitische Debatte, die in der
Türkei durch die Flottillenaktion ausgelöst wurde, stellt
ein großes Problem dar, das uns Monate, wenn nicht sogar längere Zeit, beschäftigen wird. Wir können nicht
akzeptieren, dass ein NATO-Partner unsere außenpolitischen Interessen in den Grundfesten erschüttert und unsere Politik an der Seite Israels hintertreibt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Christoph Strässer für die Fraktion
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich auf den Begriff der Aufklärung eingehen, und zwar nicht philosophisch, sondern ganz konkret. Wir fordern sie zu Recht. Ich stelle aber fest, dass
es bereits Antworten gibt. Für mich als Jurist ist es so:
Wenn ich Aufklärung fordere, dann deshalb, weil ich
nicht weiß, was passiert ist. Das geht in beide Richtungen. Ich würde mir wünschen, dass man an die Aufklärung der Vorkommnisse ergebnisoffen herangeht, ohne
Vorverurteilung, in welche Richtung auch immer. Ich
sage das bewusst in Richtung derjenigen, die diese Aktion vorbereitet und durchgeführt haben; denn ich würde
gerne wissen, was an den Meldungen dran ist, dass es
eine türkische Organisation gibt, die die Aktion beeinflusst hat, die dem Dschihad und der Hamas nahestehen
soll, und dass auch andere Kräfte mitgewirkt haben.
All das würde ich gerne wissen. Ich denke, es ist sinnvoll und vernünftig, die Situation im Sinne derjenigen
aufzuklären, die ich persönlich respektiere. Das sage ich
ganz offen. Es ist wichtig, aufzuklären, was an Bord des
Schiffes, bei der Vorbereitung der Aktion und später passiert ist. Das muss ergebnisoffen Inhalt einer solchen
Untersuchung sein. Ich werbe dafür, das intellektuell
redlich zu machen und nicht an der einen oder anderen
Stelle zu sagen: Ich weiß bereits die Antwort. Deshalb
fordere ich eine Aufklärung. - Ich finde, das geht nicht.
Deshalb sollten wir uns darauf verständigen, über diese
Fragen intensiv zu diskutieren, wenn diese Aufklärung
durchgeführt worden ist.
Es gibt Dinge, die wissen wir nicht. Es gibt aber auch
Dinge, Fakten, die wir kennen. Ich will sie einmal aufzählen, weil die humanitäre Lage in Gaza aus meiner
Sicht der eigentliche Kern all dessen ist, worüber wir uns
in den letzten Tagen und Wochen unterhalten haben und
uns in Zukunft unterhalten werden: Wir haben die Abriegelung des Gazastreifens seit 2007. In den Jahren 2008
und 2009 ist im Rahmen der Aktion „Gegossenes Blei“
sozusagen eine komplette Abriegelung der Zugänge zum
Gazastreifen vorgenommen worden. Ich sage ganz bewusst: Wir reden immer über die Zugänge von und nach
Israel. Ich finde, unser Appell und unsere Aufmerksamkeit müssten auch auf Ägypten gerichtet werden; denn
auch Ägypten, sozusagen das Brudervolk der Palästinenser, ist verpflichtet, humanitär zu wirken, die Grenze bei
Rafah aufzumachen und auf diesem Weg Landzugänge
zum Gazastreifen zu schaffen. Ich glaube, auch das gehört zur Wahrheit, mit der wir uns auseinanderzusetzen
haben.
Wir wissen aber auch noch etwas anderes. Wir kennen beispielsweise die Zahl der zugelassenen LkwTransporte. Sie betrug im April 2010 2 647. Das sind
mehr als 70 Prozent weniger als im Durchschnitt der
Monate Januar bis Mai 2007. Ich will jetzt gar nicht
mehr auf die Äußerungen von John Ging eingehen, der
bei uns in Berlin zu Besuch war. Er hat gesagt, dass das,
was im Moment in Gaza ankommt, nicht mehr als ein
Tropfen auf den heißen Stein ist. Ich finde, das muss
man bei dieser ganzen Diskussion in den Vordergrund
stellen, weil das geändert werden muss.
65 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. 37 Prozent leben in extremer Armut. Für 60 Prozent der Haushalte ist die Lebensmittelversorgung nicht
gesichert. Weitere 16 Prozent leben am Rand der Versorgungssicherheit. 300 000 Menschen sind nach Angabe
von UNOCHA nicht in der Lage, sich ausreichend Lebensmittel, Trinkwasser und Hygieneartikel zu besorgen.
10 000 Menschen haben keinen Zugang zu fließendem
Wasser. Täglich fließen dennoch 80 Millionen Liter Abwasser ungeklärt bzw. nur teilweise geklärt in den Boden. Leidtragende sind wie immer die Ärmsten der Armen, Frauen, Kinder und Kranke.
Diese Zustände - darüber sind sich alle internationalen Organisationen einig - müssen verändert werden.
Deshalb ist es gut und zu begrüßen, dass die Bundesregierung, die EU und auch die internationale Staatengemeinschaft angekündigt haben, ihre Unterstützung der
palästinensischen Menschen im Gazastreifen deutlich
auszuweiten. Besser wäre es natürlich, wenn die Ursache
für dieses Dilemma beseitigt würde. Die Ursache ist
nach meiner Überzeugung die Blockade des Zugangs
zum Gazastreifen. Sie ist kontraproduktiv für das Ansehen Israels. Es ist völlig klar, dass wir dabei zu berücksichtigen haben, dass es nicht darum gehen kann, über
den Weg der Öffnung des Gazastreifens Terrorismus und
Waffen in diese Region zu exportieren.
Ich glaube, man muss vor der Bewertung dieses Vorfalls die notwendigen Aufklärungsmaßnahmen durchführen. Ich sage es noch einmal: Es wäre am besten,
wenn es gelänge, die Abriegelung zu beenden und den
Menschen im Gazastreifen eine Perspektive zu verschaffen.
Ich weiß nicht - die Völkerrechtler sind sich darüber
uneins -, ob die Seeblockade Gazas völkerrechtlich legitimiert ist. Wenn sie zulässig ist - ich finde, das ist die
klare Botschaft und die klare Aussage, zu der man keine
Untersuchung braucht -, ist es die Verpflichtung des
Staates, der sie durchführt, nämlich Israels, die Versorgung der Zivilbevölkerung des blockierten Landes sicherzustellen. Das ist die Aufgabe Israels. Dieser Aufgabe wird Israel nicht gerecht. Deshalb müssen wir dafür
sorgen, dass diese Blockade aufhört.
Ich persönlich bin der Meinung - ich sage das zum
Schluss -, dass diese Aktion zu verurteilen ist, wenn sich
herausstellen sollte, dass diese Aktion von Hamas und
anderen unterstützt worden ist. Ich verurteile aber nicht
- das sage ich ausdrücklich - den Mut und den Respekt,
den viele Menschen auf der Welt gezeigt haben, geleitet
von Desmond Tutu, Pax Christi und anderen. Sie haben
auf dem Wege einer friedlichen Zuführung über die
Grenzen hinweg humanitäre Hilfe geleistet. Dafür haben
diese Menschen meinen Respekt. Meinen Respekt haben
sie aber nicht, wenn sie sich von anderen Organisationen
vor den Karren spannen lassen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Staatsminister Werner Hoyer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte Ihnen heute die Haltung der Bundesregierung zu
den Ereignissen vom 31. Mai 2010 vor Gaza darstellen
und Sie über die von der Bundesregierung ergriffenen
Maßnahmen unterrichten. Ich bedanke mich für die Redebeiträge von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der Grünen und der FDP, weil sie einen breiten Grundkonsens in der Bewertung darstellen und auch mahnen,
bei der Interpretation nicht voreilige Schlussfolgerungen
zu ziehen und nicht der Gefahr zu erliegen, auf einem
Auge blind zu werden.
Die dramatischen Ereignisse vom 31. Mai 2010 werfen ein Schlaglicht auf die angespannte Situation im Nahen Osten. Die Bundesregierung ist, ebenso wie Sie alle,
über den Verlust von Menschenleben zutiefst bestürzt.
Wir wissen auch: Was sich dort am 31. Mai abgespielt
hat, ist in erster Linie ein Symptom für viel tiefer liegende Probleme. Wenn die internationale Gemeinschaft
erneute gewaltsame Auseinandersetzungen verhindern
will, darf sie diese Probleme nicht aus den Augen verlieren.
Bislang ist die Faktenlage noch nicht vollständig geklärt. Klar ist: Am 31. Mai 2010 brachte die israelische
Marine circa 70 Seemeilen vor der Küste von Gaza
sechs Schiffe der sogenannten Free-Gaza-Flottille auf.
Bei dieser Aktion kamen neun Menschen ums Leben,
und es gab circa 30 Verletzte. Der VN-Sicherheitsrat hat
ebenso wie die Europäische Union die Anwendung von
Gewalt verurteilt. Die Bundesregierung unterstützt diese
Erklärungen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union in vollem Umfang.
Die Bundesregierung hat frühzeitig ihrerseits Stellung
genommen. Wir haben dabei insbesondere eine umfassende, transparente und neutrale Untersuchung des Vorfalls gefordert. Für die Glaubwürdigkeit des Untersuchungsergebnisses ist eine überzeugende internationale
Beteiligung nach unserer Auffassung unerlässlich. Das
haben wir auch Israel gegenüber deutlich gemacht. Es
geht nun um die Ausgestaltung einer solchen Beteiligung. Darüber wird auf internationaler Ebene gegenwärtig sehr intensiv diskutiert. Die Bundesregierung hat eine
Beteiligung des Nahost-Quartetts vorgeschlagen. Das
Quartett aus USA, Vereinten Nationen, EU und Russland
vereint die entscheidenden Akteure und ist nach unserer
Auffassung das beste Gremium, um die internationale
Akzeptanz einer solchen Untersuchung zu sichern.
({0})
Es bleibt dabei: Ohne angemessene internationale Beteiligung wird die Glaubwürdigkeit einer Untersuchung
nicht gesichert werden können. Das gilt übrigens ausdrücklich nicht nur in Bezug auf das israelische Vorgehen. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang für die
Anmerkungen, die eben von verschiedenen Kolleginnen
und Kollegen dazu gemacht worden sind. Man darf sich
auch nicht vor den Karren der Hamas spannen lassen.
({1})
An Bord der Schiffe befanden sich elf deutsche
Staatsangehörige, darunter die Kolleginnen Groth und
Höger und auch unser früherer Kollege Professor Paech.
Ein deutscher Staatsangehöriger wurde bei der israelischen Aktion verletzt. Die Bundesregierung hat rasch
gehandelt und versucht, unseren Staatsangehörigen Hilfe
zukommen zu lassen. Das AA und die Botschaft in Tel
Aviv waren seit den frühen Morgenstunden des 31. Mai
gegenüber den israelischen Stellen um Kontakt und
Zugang zu den deutschen Staatsangehörigen bemüht. Telefonate des Bundesaußenministers und auch der Bundeskanzlerin haben diesen Bemühungen weiteren Nachdruck verliehen. Bereits in der Nacht zum 1. Juni
konnten die Kolleginnen Groth und Höger mit drei weiteren Deutschen ausreisen. Am 2. Juni folgten die übrigen sechs Deutschen, darunter auch der Verletzte, der in
die Türkei ausreisen konnte. Wir sind froh, dass wir Sie
wieder wohlbehalten unter uns sehen können, meine Damen.
({2})
Ich habe eingangs auf die tiefer liegenden Probleme
der Region hingewiesen. So schlimm die Ereignisse vom
31. Mai 2010 sind, wir dürfen gerade in dieser Situation
den Friedensprozess nicht aus den Augen verlieren.
Ohne Fortschritte auf dem Weg zur Zwei-Staaten-Lösung wächst das Risiko einer erneuten Eskalation in der
Region. Nur die Feinde des Friedens würden hiervon
profitieren. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union und dem Quartett werden wir weiterhin alles tun, damit die indirekten Gespräche fortgesetzt
und in richtige Verhandlungen überführt werden können.
Wir leisten hierzu auch konkrete Beiträge. Ein Beispiel ist die Durchführung des Deutsch-Palästinensischen Lenkungsausschusses am 18. Mai 2010 hier in
Berlin unter Vorsitz von Ministerpräsident Salam Fajjad
und Außenminister Guido Westerwelle. Ziel war es, unsere Unterstützung für den Aufbau eines palästinensischen Staates deutlich zu machen und durch eine noch
intensivere Zusammenarbeit zu untermauern. MinisterStaatsminister Dr. Werner Hoyer
präsident Salam Fajjad hat den Lenkungsausschuss in
Berlin zu Recht als historisches Ereignis bezeichnet.
Wir Deutsche wollen uns nicht überheben. Aber wir
sind in einer besonderen Situation. Unsere Freundschaft
zu Israel wird niemand in Zweifel ziehen. Umgekehrt
sollte jeder wissen, dass wir in der arabischen Umwelt
Israels über ein beachtliches Vertrauen verfügen. Dies
zusammengenommen ergibt ein Kapital, das die Bundesrepublik Deutschland in die Bemühungen der Völkergemeinschaft, hier zu einer friedlichen Lösung zu
kommen, einbringen muss.
({3})
Gleichzeitig verdeutlichen die Ereignisse des 31. Mai
2010 erneut die Notwendigkeit der Öffnung des Zugangs
zum Gazastreifen. Die derzeitige Situation ist nicht akzeptabel, und vor allem ist sie kontraproduktiv. Es gibt
keine Alternative zu einer Öffnung der Übergänge für
humanitäre Lieferungen und Güter für den Aufbau der
zivilen Infrastruktur. Wir brauchen eine fundamentale
Veränderung bzw. Verbesserung des Zugangs nach Gaza.
Wohlgemerkt, das ist keine neue Position. Wir vertreten
diese Auffassung seit langem, ebenso wie unsere Partner
in der Europäischen Union. Der VN-Sicherheitsrat hat
die entsprechenden Parameter in seiner Resolution 1860
formuliert. Alle Elemente dieser Resolution müssen umgesetzt werden, der Zugang nach Gaza ebenso wie die
Einstellung von Angriffen aus dem Gazastreifen auf Israel und die Unterbindung des Waffenschmuggels.
Ein erster Schritt könnte darin besehen, dass die gegenwärtige Positivliste durch eine Negativliste ersetzt
wird, in der solche Güter aufgeführt sind, die aus Sicherheitsgründen nicht nach Gaza eingeführt werden dürfen;
das wäre zumindest gegenüber dem derzeitigen Zustand
eine Verbesserung. Aber es bleibt dabei: Notwendig ist
eine fundamentale Verbesserung des Zugangs im Interesse der Menschen im Gazastreifen, aber auch, um die
Perspektive für eine politische Lösung zu schaffen.
Die Ereignisse des 31. Mai 2010 sind Anlass zur
Trauer. Aber sie müssen auch Anstoß sein, unsere Bemühungen für den Frieden weiter zu verstärken. Wir
werden diese Fragen in den nächsten Tagen und Wochen
mit unseren Partnern in der Europäischen Union behandeln. Heute, zu dieser Stunde, findet eine Sondersitzung
des PSK unter Vorsitz von Catherine Ashton, der Hohen
Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, statt. Am kommenden Montag werden
wir uns im EU-Außenministerrat in Luxemburg mit dem
Thema Gaza befassen.
Was wir brauchen, ist eine fundamentale Änderung
der israelischen Gazapolitik. Die Rechnung, dass eine
Politik der Isolation irgendetwas Positives bewirken
könnte, ist nicht aufgegangen. Das Gegenteil ist Realität.
Deshalb muss diese Isolation beendet werden.
({4})
Zugleich ist die Europäische Union bereit, nach besten
Kräften dazu beizutragen, dass den israelischen Sicherheitsbedenken Rechnung getragen wird. Das Argument,
Sicherheit für Israel und Versorgung des Gazastreifens
ließen sich nicht miteinander vereinbaren, lässt sich
nicht länger rechtfertigen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Annette Groth für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrter Präsident!
Ich war auf zwei Schiffen der Free-Gaza-Flottille, erst
auf der keinen Challenger 1 unter US-amerikanischer
Flagge mit 16 Passagieren, und am 29. Mai bin ich auf
die Mavi Marmara umgestiegen. Ich möchte betonen,
dass alle Passagiere auf allen Schiffen unterschrieben
haben, dass es eine friedliche Mission ist und dass wir
keine Gewalt anwenden werden.
({0})
Ich bin überzeugte Pazifistin und hätte nie gedacht, dass
es zu solch einer Gewalt mit neun Toten kommen
könnte.
Ich bin sehr froh, dass ich nicht Zeugin von Schießereien oder anderen Gewalttaten wurde. Aber ich wurde
Zeugin einer äußerst menschenunwürdigen Behandlung
vonseiten der israelischen Soldaten. So habe ich gesehen, dass Verletzte auf der Treppe zum oberen Deck mit
dem Kopf nach unten transportiert wurden; für Schwerverletzte kann das tödlich sein. Viele Männer hatten ihre
Hände stundenlang mit Kabelbindern auf dem Rücken
gefesselt. Ich war eine der wenigen Frauen, deren Hände
ebenfalls auf dem Rücken gefesselt wurden. Der Toilettenbesuch wurde willkürlich erlaubt oder verboten. Ein
israelischer Soldat hat eine palästinensische Israelin mit
den Worten beschimpft: Solche Leute wie ihr gehören
alle ins Meer geworfen.
Nur durch eine internationale Untersuchung können
die Vorwürfe widerlegt werden, die mittlerweile gegen
uns vorgebracht werden. Durch diese Vorwürfe soll anscheinend auch vom rechtswidrigen Angriff auf die Flottille und von der Rechtswidrigkeit der Blockade abgelenkt werden.
({1})
Dem deutschen Free-Gaza-Bündnis gehören neben
der IPPNW - das sind die Internationalen Ärzte für die
Verhütung des Atomskriegs - auch die katholische Friedensbewegung Pax Christi an.
({2})
In einer Presseerklärung betonte das deutsche FreeGaza-Bündnis gestern, dass die türkische Hilfsorganisation IHH eine von weltweit 3 000 Nichtregierungsorganisationen ist, die beim Wirtschafts- und Sozialrat der
Vereinten Nationen einen beratenden Status haben.
({3})
Dazu muss eine Organisation demokratische und transparente Entscheidungsprozesse nachweisen. Die Vorwürfe, der Free-Gaza-Bewegung gehörten auch Parteien
mit rechten Tendenzen an, scheinen haltlos und tendenziös.
Noch ein Punkt ist mir sehr wichtig. Überall werden
nun israelische Videos gezeigt. Die israelische Marine
hat die absolute Bildhoheit über die Vorfälle. Der deutsche Journalist Mario Damolin, der für die FAZ auf einem Schiff der Flottille war, konnte einen Chip seiner
Kamera retten. Alles andere Bildmaterial der Aktivisten
und auch von mir hat die israelische Marine eingesteckt.
Inzwischen wurde bewiesen, dass die israelischen
Videos manipuliert waren. Das Komitee zum Schutz von
Journalisten hat inzwischen gegen die Bearbeitung und
Verbreitung des Bildmaterials protestiert, das den rund
60 ausländischen Journalisten und Journalistinnen abgenommen wurde. Inzwischen haben auch die israelischen
Streitkräfte eingeräumt, dass es sich bei den Aufnahmen
eines Gesprächs, bei dem angeblich ein Aktivist die Militärs aufforderte, nach Auschwitz zurückzukehren, um
eine Fälschung handelt. Diese Fälschung wurde leider
auch von einigen deutschen Medien übernommen.
Meine große Sorge gilt zurzeit Hanin al-Suabi, FreeGaza-Aktivistin und Mitglied der Knesset. Man will ihre
Immunität aufheben und ihr die israelische Staatsbürgerschaft aberkennen. Außerdem kursiert im Internet ein
Mordaufruf. Ein Likud-Abgeordneter will sie wegen
Hochverrats anklagen. Hanin ist äußerst gefährdet, und
ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten,
mitzuhelfen, sie in das parlamentarische Schutzprogramm aufzunehmen.
({4})
Ich möchte mit einem Zitat von Bischof Tutu schließen:
Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit
neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.
Die ehemalige israelische Kultusministerin Schulamit
Aloni betonte, dass ein Staat, der ein anderes Volk unterdrückt, nicht in Sicherheit leben kann. Als Menschenrechtspolitikerin und -aktivistin werde ich mich natürlich
weiterhin für die Aufhebung der Blockade einsetzen,
und dafür werbe ich um Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter
Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bilder der
Ereignisse vom frühen Morgen des 31. Mai 2010, als
eine Gruppe von insgesamt acht Schiffen durch die israelische Marine aufgebracht wurde, haben uns erneut
deutlich gemacht, wie weit Frieden im Nahen Osten derzeit noch entfernt ist. Durch die Instabilität der Verhältnisse wird unsere Sorge vor einer weiteren Eskalation in
der Region und einem endgültigen Ende des Friedensprozesses im Nahen Osten verstärkt.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister
haben ihre Bestürzung über die Ereignisse umgehend
zum Ausdruck gebracht. Auch ich möchte den Angehörigen der Toten meine Anteilnahme aussprechen und zudem unseren konsularischen Beamten und Mitarbeitern
dafür danken, dass sie trotz schwierigster Umstände dafür gesorgt haben, dass eine sehr schnelle Rückführung
aller Deutschen, die an Bord der Schiffe gewesen sind,
binnen 48 Stunden sichergestellt wurde.
Wir alle sind bestürzt über den Verlust menschlichen
Lebens. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die zunächst gemeldeten Abläufe und die sich die Tage darauf
abzeichnenden Fakten über das tatsächliche Geschehen
stark voneinander abweichen: Anfangs war von 20 getöteten Aktivisten die Rede. Kurze Zeit später wurden erheblich weniger Opfer gemeldet. Videos zeigen zudem,
dass Soldaten sofort, nachdem sie sich an Bord der
„Mavi Marmara“ begeben hatten, und offenbar auch koordiniert mit massiver Gewalt konfrontiert worden sind.
({0})
Es kam dazu, dass ein Soldat in völliger Absicht über die
Reling des Schiffes geworfen worden ist.
Die furchtbare Eskalation der Gewalt macht noch einmal deutlich, wie sehr man gerade in diesem Konflikt
vorschnelle Rückschlüsse auf das tatsächliche Geschehen vermeiden muss.
({1})
Klarheit über die wirklichen Ereignisse kann nur eine internationale, unabhängige, transparente und vollständige
Untersuchung der Abläufe unter Geltung des allgemeinen Völkerrechts geben. Darüber herrscht in diesem
Hause größtenteils Konsens, wie auch die bisherigen Redebeiträge gezeigt haben. Das ist sehr zu begrüßen.
Vor einer Bewertung des Geschehens muss eine Aufklärung aller Umstände stattfinden. Hier gilt das Motto
„Sorgfalt vor Schnelligkeit“. Das muss für unsere Prinzipien und die Hierarchie in den Prinzipien gelten. Diesen
Weg werden wir gemeinsam mit unseren europäischen
Freunden und amerikanischen Partnern unterstützen.
Wo unsere Hilfe gewünscht wird und wo wir helfen
können, etwa bei unabhängigen Kontrollen des Küstengebietes vor Gaza, da sollten und werden wir unseren
Freunden zur Seite stehen. Lassen Sie mich aber auch eines deutlich sagen: Beschuldigungen und VorverurteiPeter Beyer
lungen schüren den Konflikt und sind in hohem Maß
verantwortungslos.
({2})
Eine vorschnelle und einseitige Bewertung der Geschehensabläufe in die eine oder in die andere Richtung, um
damit durchsichtige politische Zwecke zu verfolgen
({3})
- erschreckenderweise gibt es hier noch einige, die dies
tun -, ist auch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die
den Frieden in der Region gar nicht wollen.
({4})
Alle Seiten müssen endlich den friedlichen Weg zur
Konfliktlösung beschreiten. Dazu gibt es keine Alternative.
Die in Gaza seit 2007 herrschende Hamas ist eine Organisation, die Terror täglich als Mittel der Politik einsetzt. Seit 2007 herrscht damit in Gaza ein Regime, das
die Existenz Israels auch weiterhin nicht anerkennt. Die
Bedrohung Israels durch Raketenbeschuss und Sprengstoffanschläge ist real und unmittelbar. Fest steht, dass
die Blockade Gazas den Friedensprozess nicht einfacher
macht. Um die Situation heute verstehen zu können,
muss man aber auch die Umstände betrachten, die zur
Blockade Gazas durch Israel geführt haben.
Ein Import über den Landweg nach Anlaufen des Hafens von Aschdod wäre auch im Fall der sogenannten
Friedensflottille möglich gewesen. Das haben wir in den
heutigen Redebeiträgen schon mehrfach gehört. Er
wurde jedoch von den Organisatoren des Konvois abgelehnt. Das wirft die hier und heute nicht abschließend zu
klärende Frage nach der wahren Absicht der Organisatoren des sogenannten humanitären Konvois auf.
Richtig ist: Humanitäre Güter müssen die Menschen
in Gaza erreichen können. Zur Lösung der schwierigen
Situation braucht es jedoch mehr als widersprüchliche,
offensichtlich wenig durchdachte und damit letztlich
auch fahrlässige Einzelaktionen. Mehr denn je brauchen
wir starke demokratische Partner in der Region. Wir
Deutsche haben in der Vergangenheit Israel und in den
letzten Jahren auch die Türkei als solche verlässlichen
Partner kennen und schätzen gelernt. Beide Staaten sind
entscheidende Stabilitätsfaktoren in der Region. Die
Bundeskanzlerin hat in Telefonaten mit Regierungschef
Erdogan und Premierminister Netanjahu Deutschlands
Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass eine Eskalation stattfindet.
Die jüngsten Ereignisse sind eine eindringliche Mahnung an uns alle und an die internationale Staatengemeinschaft, die Verhältnisse in Gaza nachhaltig zu verbessern. Der Weg zum Frieden führt dabei nicht über
Einzelaktionen, sondern über Verhandlungen und Kompromisse aller Beteiligten, wobei auch das Nahostquartett eine prominente Rolle spielen sollte. Beide Seiten
müssen den Ausgleich suchen, damit die Blockade Gazas beendet werden kann, ohne dass dadurch die Sicherheit Israels gefährdet wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Günter
Gloser.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Kollegen Rolf Mützenich und
Christoph Strässer und auch andere Kolleginnen und
Kollegen haben bereits etwas zur internationalen Aufklärung der Vorfälle gesagt. Im Zusammenhang damit
sage auch ich: Israel als der einzige demokratische Staat
in der Region sollte von sich aus erkennen, dass es einer
internationalen Aufklärung der Vorgänge bedarf, bevor
eine Bewertung vorgenommen werden kann.
Ich möchte die Vorgänge aber auch zu der Entwicklung des Nahost-Friedensprozesses in Beziehung setzen.
Natürlich ist dieser Prozess durch die jüngsten Vorfälle
erneut beeinträchtigt worden. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen; denn eine Einigung zwischen Israelis
und Palästinensern ist nach wie vor nötig und alternativlos. Die Gewalt beider Seiten bei der Erstürmung des
Schiffes war dabei ein Rückschlag, der vor allem die
Position Israels geschwächt und die Unterstützung für
radikale Kräfte auf arabischer Seite wesentlich verstärkt
hat. Es braucht deshalb nicht noch einmal betont zu werden, dass diese Aktion den Sicherheitsinteressen Israels
großen Schaden zugefügt hat.
Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass sich der
palästinensische Präsident einem sofortigen Stopp der
gerade aufgenommenen Gespräche verweigert hat. Das
erfordert Mut und zeigt, dass zumindest in Teilen der Fatah weiterhin die Überzeugung besteht, dass es ohne einen Ausgleich mit Israel keinen palästinensischen Staat
geben wird. Auch das muss berücksichtigt werden.
Es wäre übertrieben, zu sagen, dass die indirekten
Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern im Westjordanland auf einem guten Weg waren, bis
die Ereignisse der letzten Woche wieder einmal alles infrage stellten. Aber nach langem Zögern und Taktieren
wurden endlich wieder erste Schritte getan. Wir und die
israelische Regierung müssen zu diesem Punkt zurückkommen und darüber hinausgehen; denn die Gespräche
sind der einzige Weg zum Ziel. Die Frage ist also nicht,
ob Israel einen Ausgleich mit den Palästinensern finden
wird, sondern wann. Denn bis zum Erreichen dieses Ausgleichs wird der Konflikt mit den Nachbarn nicht gelöst,
wird die Sicherheit Israels, der wir als Deutsche - auch
ich unterstreiche das hier noch einmal - ganz besonders
verpflichtet sind, nicht erreicht werden können.
Wir Deutschen können dazu mehr beitragen, als viele
Skeptiker vielleicht meinen: zum einen - das ist in verschiedenen Gesprächen und Beiträgen deutlich geworden -, indem wir mit unseren israelischen Partnern in
engstmöglichem Kontakt bleiben, zum anderen, indem
wir mit der Palästinenserregierung im Westjordanland
zusammenarbeiten, um dort eine glaubwürdige Alternative zur Hamas aufzubauen und zu stärken. Ich sage, gerade als Vertreter der Opposition, ganz deutlich, dass ich
das Auswärtige Amt und den Außenminister in zwei
Punkten ausdrücklich unterstütze:
Erstens ist es gut, dass Außenminister Westerwelle
vor kurzem vier arabische Länder besucht hat, unter anderem Syrien und Libanon. Herr Staatsminister Hoyer,
die SPD fordert seit langem, die Beziehungen gerade zu
Syrien zu intensivieren und den deutschen Einfluss dort
durch vertiefte Gespräche und Kooperationen zu stärken. Dass damit jetzt offenbar begonnen wurde, ist positiv; aber weitere Schritte müssen folgen.
Der zweite positive Punkt ist die Einrichtung des
Deutsch-Palästinensischen Lenkungsausschusses, der
Mitte Mai dieses Jahres erstmals und gleich auf Ministerebene tagte. Das ist eine sehr praktische und zugleich
symbolisch ungeheuer wichtige Unterstützung der konstruktiven Kräfte rund um den palästinensischen Ministerpräsidenten Fajjad.
Wir dürfen aber - damit komme ich zurück zum
Thema - bei alledem den Gazastreifen nicht vergessen.
Der Unterschied im Lebensstandard zwischen Gaza und
Westbank wächst dramatisch. Die ideologische, wirtschaftliche und räumliche Trennung trägt Tag für Tag
dazu bei, genauso wie die Blockade des Gazastreifens
durch Israel.
Ich will es noch einmal ganz klar sagen: Israel hat
seine selbstgesteckten Ziele mit dieser Blockade nicht
erreicht. Die Hamas bekommt alles, was sie braucht,
durch Schmuggel: Waffen, Geld und Material. Zugleich
wird aber die Bevölkerung des Gazastreifens in Elend
und Arbeitslosigkeit und damit in absoluter Abhängigkeit von der Hamas gehalten. Deshalb gehört die Blockade aufgehoben. Die Kontrollen müssen zugleich
deutlich verbessert werden. Das sollte nicht durch Israel
allein, sondern unter anderem auch mit europäischer
Hilfe geschehen. Nur wenn das gelingt, können Gaza
und Westbank wieder zusammengeführt werden und
dann gemeinsam einen unabhängigen, lebensfähigen
und friedlichen Palästinenserstaat bilden.
Mich hat in der letzten Woche ein Zitat des israelischen Schriftstellers Amos Oz besonders beeindruckt. Er
hat hervorgehoben, dass es falsch ist, die Hamas nur mit
militärischen Mitteln zu bekämpfen, denn die Hamas sei
nicht nur eine terroristische Organisation, sondern eben
auch eine Idee, nämlich die verzweifelte und falsche
Idee, dass man den palästinensischen Interessen mit Gewalt gegen Israel dienen könne. Dazu schreibt Amos Oz
weiter:
Um eine Idee zu besiegen, muss man etwas Besseres präsentieren, eine Idee, die attraktiver und akzeptabel ist. Israel wird die Hamas nur dann los,
wenn es sich mit den Palästinensern rasch über die
Errichtung eines unabhängigen Staates …
- gemeint ist Palästina verständigt.
Darin kann ich Amos Oz nur zustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Patrick Kurth
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Vorgänge vom 31. Mai sind bestürzend. Ich
bedauere genauso wie meine Vorredner die Toten und
Verletzten auf beiden Seiten. Wir haben gesehen, dass
die Situation dort sehr viel labiler ist als gedacht. Wir
sollten, wenn wir über diesen Tag sprechen, auch über
die Vorbedingungen und die Gesamtlage sprechen. Die
Situation im Nahen Osten insgesamt ist bekannt. Die Situation im Gazastreifen ist mehr als unbefriedigend. Die
Blockade des Gazastreifens führt ohne Zweifel zu einer
unerträglichen humanitären Situation der dort lebenden
Menschen. Herr Staatsminister Hoyer, herzlichen Dank
für Ihre sehr klaren Worte heute. Sie waren in dieser
Klarheit, auch für einige von uns, möglicherweise überraschend.
Vor diesem Hintergrund muss klar sein, dass friedlicher Protest und friedliche Demonstrationen, die dazu
dienen, auf diese Situation aufmerksam zu machen, zu
akzeptieren sind. Aber im Gazastreifen ist eine Organisation an der Macht, die gewaltsam agiert, die Vernichtung Israels offen propagiert und vor bestimmten Aktionen - auch vor Angriffen auf israelische Ziele - nicht
zurückschreckt. Das sind die Umstände. In dieser Situation fährt ein Konvoi mit mehreren Tausend Tonnen
Hilfsgütern und einigen Hundert Aktivisten an Bord los.
Dabei waren Aktivisten - die meisten sicherlich mit ehrenwerten Motiven, manche mit Kalkül, manche naiv -,
knallharte Provokateure und manche, die schon vorher
gesagt haben, sie wollten zu Märtyrern werden. Laut türkischen Medien waren 40 der türkischen Teilnehmer gewaltbereit. Drei der Getöteten hatten vorher bekundet,
dass sie auf diesem Trip als Märtyrer sterben wollen.
Das sind die Fakten, die man bei aller Kritik an dem israelischen Vorgehen nicht vergessen darf.
Sie wissen, dass Israel angeboten hat, die Hilfslieferung zu prüfen und auf dem Landweg nach Gaza zu versenden. Das Angebot wurde ausgeschlagen. Sie wissen,
dass der Kapitän mehrfach gewarnt und aufgefordert
wurde, abzudrehen; das wurde bewusst ignoriert bzw.
negativ beschieden. Eine Konfrontation und die mediale
Aufmerksamkeit sollten also bewusst provoziert werden.
In diesem Kontext durchbrechen die Schiffe die Blockade.
({0})
Patrick Kurth ({1})
Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen Sitzstreik
in Deutschland, sondern um ein Geschehen im Nahen
Osten. Ein kleiner Flügelschlag kann dort zum Erdbeben
führen. Die Region ist hochsensibel. Die Akteure sind
grundsätzlich nervös. Es reichen dort wenige Aktionen
aus, um eine blutige Auseinandersetzung zu provozieren. Das sind die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte.
Man darf also deutlich sagen, dass auch Fehler und
manche Vorhaben der Aktivisten zu dieser Eskalation
massiv beigetragen haben. Keiner der Beteiligten wollte
eine derartige Eskalation; davon kann man ausgehen. Ich
schließe mich denjenigen an, die argumentieren, hier
handele es sich um eine fatale Kette von Fehleinschätzungen, die im Ergebnis von keiner Seite in diesem Ausmaß gewollt war. Genau hier spiegeln sich die verfahrene Situation und die fragile Lage im Nahen Osten
wider. Ein kleiner Funke kann ausreichen, um eine große
Explosion zu verursachen. Was hätte aus diesem Vorfall
nicht alles werden können! Manche haben es gezielt angestrebt, manche haben es in Kauf genommen.
Natürlich bestanden an diesem Montag auch auf unserer Seite Ängste über das Schicksal derjenigen - ihre
Identität war ja zunächst unbekannt -, die auf den Booten waren. Wir stellten uns die Fragen: Was passiert als
Reaktion darauf zum Beispiel im Gazastreifen? Welche
Mittel setzt möglicherweise Israel ein? Welche Reaktion
kommt aus der Türkei? Wie wirkt sich das auf die Stabilität der Regierung aus? Bricht eine neue Spirale der Gewalt aus? - Meine Damen und Herren, mit Blick auf die
Toten und auf die Folgen, die an diesem Tag innerhalb
weniger Stunden hätten eintreten können, war der Preis
der Aktion eindeutig zu hoch.
({2})
Geschadet hat dieser Vorfall dem gesamten Friedensprozess im Nahen Osten. Eines ist schon jetzt klar: Dieser Vorfall hat den gerade erst wieder aufkeimenden
Friedensprozess zurückgeworfen. Der Anstoß für neue
Bemühungen im Nahostfriedensprozess muss jetzt erfolgen, eine fundamentale Änderung der israelischen Gazapolitik inbegriffen. Der erste Schritt muss sein - diese
Auffassung teilt man offensichtlich fraktionsübergreifend -, eine unabhängige internationale Untersuchung
des Vorfalls durchzuführen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion spricht der Kollege Holger
Haibach.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass
jeder, der bei dieser Aktion ums Leben gekommen ist,
ein Toter zu viel gewesen ist, dass es nicht gut ist, dass
Verletzte zu beklagen sind, und dass es internationale
Untersuchungen geben muss. Es ist auch schon deutlich
geworden - Christoph Strässer, Frau Müller und auch
andere haben darauf hingewiesen -, dass die Politik, die
Israel in Bezug auf den Gazastreifen und zum Teil auch
in Bezug auf die Westbank verfolgt, sicherlich nicht erfolgversprechend ist, zumindest hat sie nicht das gebracht, was Israel sich erhofft hat. Diverse Zahlen dazu
sind schon genannt worden.
Man könnte hinzufügen: Sogar wir, Deutschland, sind
betroffen; denn Deutschland versucht, in der Mitte des
Gazastreifens - Herr Niebel kennt den Fall - eine Kläranlage aufzubauen. Dass dies nicht gelingt, liegt daran,
dass die Lieferung der Teile, die dafür notwendig sind,
an einem Grenzübergang von Israel aufgehalten wird.
Ich bin Herrn Niebel sehr dankbar dafür, dass er dazu
sehr deutliche Worte findet. Insofern kann ich sehr vielem zustimmen, was hier gesagt worden ist.
Nichtsdestoweniger ist immer die Frage, welches
Mittel man eigentlich anwendet und welche Möglichkeiten man hat, um auf solche Missstände aufmerksam zu
machen. Mich stört an dieser ganzen Aktion mit dem
Konvoi, dass es sich meiner Meinung nach um eine unzuverlässige Vermischung von politischer Agitation und
von Hilfsgüterlieferung handelt.
({0})
Das diskreditiert viele Hilfsorganisationen, die seriös arbeiten.
({1})
Fragen Sie sich doch einmal, warum das Rote Kreuz
eigentlich bei fast allen Regierungen dieser Welt akzeptiert ist. Das hat etwas damit zu tun, dass das Rote Kreuz
strikte Neutralität wahrt. Das Rote Kreuz ist sogar in
Ländern tätig, in denen fast niemand anders tätig sein
kann. Ich streite überhaupt nicht ab, dass politischer Protest legitim ist. Darüber gibt es für mich überhaupt keine
Diskussion. Ich glaube nur, dass die Vermischung von
beidem schlecht ist. Dadurch werden nämlich auf der einen Seite neutrale Organisationen diskreditiert, und auf
der anderen Seite dient es dem Zweck nicht. Auf mögliche Folgen dieser Aktion ist ja sehr deutlich hingewiesen
worden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie sind hier nie zimperlich mit Ihrer Wortwahl, und
Sie sind auch relativ schnell dabei, uns alles Mögliche zu
unterstellen.
({2})
Ich würde gern der Frage nachgehen wollen: Wer war eigentlich dabei? Hätte man das nicht vorher wissen können? - In der ARD-Sendung Report Mainz vom 7. Juni
2010 wurde unter anderem ein Interview mit Frau Groth
ausgestrahlt. In diesem Interview antwortete Frau Groth
auf die Frage, wer mit ihr reise:
…, fragen Sie doch die Dame von Pax Christi. Die
kennt sich da vielleicht eher aus als ich.
Auf die Frage, ob sie sich nicht vor der Fahrt über die
Mitreisenden informiert habe, antwortete sie: „Ich beende das jetzt!“ Ich unterstelle Ihnen die besten Absichten, aber es ist zumindest fahrlässig, wenn man weiß,
dass sich die Gruppe an Bord offensichtlich sehr multipel zusammensetzt. Unter anderem waren dort - das
wird nicht bestritten - Mitglieder einer in der Türkei tätigen Partei, Funktionäre der BBP. Das ist eine Partei, deren demokratische Legitimation - um es ganz vorsichtig
zu formulieren - extrem zweifelhaft ist. Das müssen Sie
jetzt nicht mir glauben, aber Sie können natürlich gern
Ihrer eigenen Fraktion glauben, Frau Groth.
Mit Genehmigung der Präsidentin möchte ich aus einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke aus dem
Jahr 2007 mit der Überschrift „Türkische Rechtsextreme
in Deutschland“ zitieren; wohlgemerkt: Ich zitiere nicht
die Antwort der Bundesregierung, sondern die Vorbemerkungen der Fragesteller. Darin heißt es:
Als „Graue Wölfe“ … werden die Anhänger der
rechtsextremen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ MHP und der von dieser abgespaltenen islamisch-nationalistisch orientierten „Großen Einheitspartei“ BBP aus der Türkei bezeichnet.
Weiter unten heißt es:
Das Landesamt für Verfassungsschutz NordrheinWestfalen bescheinigt der Bewegung der „Grauen
Wölfe“ eine rassistisch-nationalistische Orientierung, Antisemitismus … eine stark islamisch gefärbte Ideologie, Gewaltbereitschaft und am Führerprinzip ausgerichtete totalitäre Strukturen.
Die „Grauen Wölfe“ … vertreten einen ausgeprägten Rassismus gegenüber nicht türkisch-islamischen Bevölkerungsteilen der Republik Türkei wie
Kurden, Aleviten und christlichen Minderheiten.
„Zu den ‚Feinden‘ gehören Armenier, Griechen, Juden, Freimaurer, Nachkommen von Sabbatei Zwi,
Europäer, Amerikaner, Russen und Kurden“ …
Dies kommt nicht von mir, sondern von Ihnen. Es ist aus
dem Jahr 2007. Sie hätten wissen können, mit wem Sie
sich dort aufs Schiff begeben haben.
({3})
Insofern: Für mich gibt es überhaupt keine Diskussion darüber, dass politischer Protest vollkommen legitim ist. Aber vermischen Sie das nicht mit Hilfsleistungen; denn Sie diskreditieren dann alle diejenigen, die in
neutraler und guter Absicht Hilfe leisten.
Danke sehr.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a bis 5 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gutachten zu Forschung, Innovation und
technologischer Leistungsfähigkeit 2010
- Drucksache 17/990 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung und Innovation
- Drucksache 17/1880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Innovationslücke schließen - Zügig ein tragfähiges Konzept zur Stärkung der Innovationsund Validierungsforschung vorlegen
- Drucksache 17/1958 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette
Schavan, der ich auch von hier aus recht herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratuliere.
({3})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Bundesbericht Forschung und Innovation 2010 wird mit Blick auf
die Entwicklung des Forschungsstandorts Deutschland
Bilanz gezogen: Bilanz über den Zusammenhang zwischen Forschung und Innovation, Bilanz über den Zusammenhang zwischen Forschung und wirtschaftlicher
Entwicklung in Deutschland.
Die Daten sind erfreulich und eindeutig. Es gibt eine
erhebliche Dynamik am Forschungsstandort Deutschland. Seit 2005 sind die Investitionen für Forschung seitens der öffentlichen Hand um 21 Prozent gestiegen, und
wir haben damit zugleich - das ist ja immer Ziel unserer
öffentlichen Investitionen - Dynamik bei den Investitionen seitens der Unternehmen erreicht. Diese Investitionen sind nämlich um 19 Prozent gestiegen. Seit der Wiedervereinigung, also in den letzten 20 Jahren, hat es
nicht einen so hohen Anteil von Forschung und Entwicklung am BIP gegeben, nämlich 2,7 Prozent. Das ist eine
überaus gute und dynamische Entwicklung in den letzten
Jahren.
({0})
Durch den Bericht wird deutlich, dass wir uns natürlich mit Trends außerhalb Deutschlands beschäftigen
müssen.
Erstens. Die Gewichte verschieben sich. Länder wie
China, Indien und Brasilien legen hier deutlich zu, investieren konsequent, sind übrigens auch an internationalen
Kooperationen stark interessiert. Deshalb war es richtig,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben: Bei der Internationalisierung
unserer Forschungspolitik wollen wir einen Schwerpunkt bei den Entwicklungs- und Schwellenländern legen. Wir werden auch in den nächsten Jahren alles tun,
um mit den besten, also mit exzellenten Partnern Kooperationen auf internationaler Ebene zu schmieden.
90 Prozent des Wissens wird außerhalb Deutschlands
generiert. Das heißt: Die Internationalisierung bleibt in
dieser Legislaturperiode ein zentrales Projekt.
({1})
Der zweite Trend, der beschrieben wird, betrifft die
Investitionen innerhalb Deutschlands. Die Zahl der Publikationen und Patente ist in Deutschland in den letzten
Jahren um 20 Prozent gestiegen. Es ist also eine deutlich
positive Entwicklung zu erkennen. Diejenigen unter uns,
die international unterwegs sind, spüren, dass es ein hohes Interesse am Forschungsstandort Deutschland gibt.
Außerdem gibt es ein hohes Interesse an Forschungskooperationen mit unseren Universitäten. Unsere Devise in
dieser Legislaturperiode lautet also - davon sind wir fest
überzeugt -: Forschung bedeutet Arbeit an der Quelle
künftigen Wohlstands. Die strukturelle Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems hat für uns deshalb Priorität. Wir werden neue Allianzen zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft schmieden. Das Karlsruher Institut für
Technologie und die Entwicklung neuer Zentren der Gesundheitsforschung in verschiedenen Regionen Deutschlands sind Beispiele für strukturelle Innovation. Wir investieren nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern
setzen auch neue Konzepte um. Wir schmieden Allianzen und wollen das Wissenschaftssystem strukturell weiterentwickeln. Denn das stärkt unsere internationale
Position.
({2})
Das alles hat ein solches Gewicht, weil der Anteil von
Gütern, Produkten, Dienstleistungen und Verfahren, die
auf Forschung basieren, 45 Prozent der Wertschöpfung
der deutschen Wirtschaft beträgt. Aus diesem Grunde ist
dieses Thema nicht nur ein Ressortthema. Wir sind nicht
Weltmeister niedriger Löhne, sondern wollen Weltmeister der Innovationskraft sein. Denn davon hängt die
Wirtschaft von morgen ab.
({3})
Neben der Dynamik im Bereich der Finanzen und der
neuen Impulse bei der strukturellen Entwicklung ist es
eine weitere positive Entwicklung, dass sich immer
mehr junge Leute für eine hochqualifizierte Ausbildung
im Wissenschafts- und Forschungsbereich interessieren.
Der Anteil der Studienanfänger eines Jahrgangs ist im
Jahr 2009 auf über 43 Prozent gestiegen. Diejenigen, die
schon länger bildungspolitische Debatten führen, wissen, wie viele Jahre von allen gefordert wurde, einen Anteil von 40 Prozent zu erreichen. Mittlerweile liegt der
Anteil aber bereits bei 43 Prozent - Tendenz steigend.
Das ist der dritte zentrale Faktor: Die jungen Leute, die
sich für ein wissenschaftliches Studium interessieren
und in die Forschung gehen möchten, werden von uns
ermutigt, diesen Weg zu gehen.
({4})
Wer den Bundesbericht Forschung und Innovation
2010 liest, stellt sofort eine Verbindung zwischen dem
Wissenschafts- und dem Bildungssystem her. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben dafür gesorgt - dies wird auch in fünf oder sechs Jahren im
Bundesbericht stehen -, dass in den nächsten Jahren die
eindeutige Priorität im Bereich von Bildung und Forschung liegt. Das hat es so noch nie gegeben. Das lassen
wir uns auch nicht kleinreden.
({5})
Natürlich liegt die Priorität im Bereich der Finanzen; das
zeigen die 12 Milliarden Euro. Das ist in Zeiten wie diesen keine Kleinigkeit; darauf ist heute Morgen mehrfach
hingewiesen worden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt
aber auch bei neuen Impulsen und der Umsetzung unserer Konzepte.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eines ausdrücklich erwähnen: Ich habe mir die Debatte, die heute
Morgen geführt wurde, angehört. Manchmal denke ich,
dass mancher mit seinen Textbausteinen irgendwo hängen geblieben ist.
({6})
Das ist im Computerzeitalter leichter möglich; da können Sie immer wieder auf die entsprechende Taste drücken, und es kommt immer wieder das gleiche Zeug heraus.
Wir haben uns doch alle weiterentwickelt: in der Großen Koalition, in den Ländern, in denen jetzt fast alle,
die hier vertreten sind, irgendwie Verantwortung tragen.
Jeder weiß, wie kompliziert es ist, auch nur eine kleine
Reform so umzusetzen, dass die Bürger am Ende sagen:
Das ist gut. Jeder weiß, wie schwierig es mit den Finanzen ist; jeder weiß, dass es in dieser Gesellschaft in nahezu keiner einzigen bildungspolitischen Frage einen
Konsens gibt, sondern Pluralität, Vielfalt. Das kann man
auch gut finden; ich finde es in Ordnung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]
Aber man muss doch bereit sein, darüber zu diskutieren,
sich dem zu stellen, statt immer die gleiche Feststellung
zu treffen, dass der Bildungsstandort nicht vorankomme.
Dieser Bildungsstandort Deutschland ist in den letzten Jahren vorangekommen, und er ist es nicht nur im
Hinblick auf Geld. Dies zeigt auch der Vergleich der
letzten PISA-Studie mit der ersten PISA-Studie. Diese
habe ich als Präsidentin der Kultusministerkonferenz
vorgestellt und weiß deshalb noch ganz genau, was darin
stand. In diesen zehn Jahren ist enorm viel passiert. Wir
konstatieren den Rückgang der Schulabbrecherzahlen,
eine größere Spitzengruppe und eine Verringerung der
Zahl derer, die am unteren Ende sind.
Deshalb rate ich uns dringend: Wenn es uns gelingen
soll, diese Dynamik am Forschungsstandort Deutschland
zu erhalten, dann müssen jetzt alle auch einmal über ihren Schatten springen,
({7})
dann müssen wir sensibler wahrnehmen, was sich verbessert hat und auf welchen Gebieten wir gut geworden
sind. Dazu zählt, das Flaggschiff berufliche Bildung
stärker herauszustellen, zum Beispiel im europäischen
Kontext.
({8})
Wir müssen wirklich an einem Strang ziehen, wenn es
darum geht, die wohl 200 verschiedenen Maßnahmen zu
bündeln, die sich mit dem Übergang von der Schule in
den Beruf befassen und die es auf allen möglichen Ebenen gibt, von jeder einzelnen Kammer bis hin zum Bund
und zu den Ländern. Der erste wichtige Schritt ist geschehen. Diese Aufgaben gemeinsam zu lösen, dafür
werbe ich.
({9})
Ich lasse dann auch nicht zu und halte es für wirklichkeitsfremd, ewig so zu tun, als konzentrierten wir uns
auf Maßnahmen, die mit den wirklichen Nöten im Bildungssystem nichts zu tun haben. Nein, wer sich die vorgesehene Verwendung der 6 Milliarden Euro für Bildung
anschaut, erkennt genau zwei Schwerpunkte. Der erste
Schwerpunkt betrifft etwas, das 60 Jahre lang nicht geleistet worden ist, die Stärkung der Lehre an Hochschulen. Das kommt den Studierenden zugute. Die anderen
50 Prozent der Mittel sollen der Stärkung der Förderung
für Benachteiligte zugutekommen. Das sind unsere beiden Schwerpunkte: einerseits die Studierenden - dritte
Säule Hochschulpakt -,
({10})
andererseits die Förderung der Benachteiligten mit all
den Maßnahmen, die schon auf dem Weg sind, einschließlich der Bildungslotsen.
Ich werbe dafür, dass wir diesen Weg zur Bildungsrepublik Deutschland weitergehen, an einem Strang ziehen, klare Akzente setzen und damit auch deutlich machen: Wir wissen, welches die zwingend notwendige
Voraussetzung für den Forschungsstandort Deutschland
ist, nämlich gute Bildung für jedes Kind und jeden Jugendlichen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege René Röspel für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Schavan, erlauben Sie mir, Ihnen heute
auch namens der Fraktion ganz herzlich zum 55. Geburtstag zu gratulieren. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
Jetzt wird es wieder politisch: Wenn man wie ich schon
fast elf Jahre hier stehen darf und immer wieder über die
Einbringung eines Bundesberichtes Forschung und Innovation oder des Berichtes der Expertenkommission Forschung und Innovation debattieren kann - das ist eine Expertenkommission, die sich die Forschungslandschaft
Deutschland sozusagen von außen, unabhängig anguckt -,
dann kann man als Bildungs- und Forschungspolitiker
hier durchaus relativ gut gelaunt stehen, denn die letzten
elf Jahre sind nicht schlecht gewesen.
Ich habe als Wissenschaftler noch die bleierne Zeit
der 90er-Jahre erlebt, als der Bildungs- und Forschungsetat unter dem damaligen Forschungsminister
Rüttgers und ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen entweder stagnierte oder sogar gekürzt
wurde. Diese Zeit ist seit dem Jahr 1989 glücklicherweise vorbei, als Rot-Grün die Regierung übernahm ({0})
- ich bitte um Entschuldigung, seit 1998; ich habe beides
miterlebt ({1})
und Bildung und Forschung in dieser Republik einen anderen Stellenwert erhalten haben, nicht nur was die Steigerung der Finanzmittel anbelangt. Man kann sowohl im
Bericht der EFI als auch im BuFI sehr gut nachvollziehen, wie das aussah.
Ich bin sehr froh, dass wir das in der Großen Koalition ab 2005 haben fortsetzen können. Die Zuwächse
sind weiter gestiegen. Ich bin sehr zufrieden, dass auch
in der neuen Regierung erkannt worden ist, dass Bildung
und Forschung eine zentrale Aufgabe in dieser Republik
ist. Kompliment für die 12 Milliarden Euro! Wir sehen
sie noch nicht ganz. In den Erläuterungen zum Sparpaket
vom Montag steht - ich habe es mir extra herausgeschrieben -:
Wir halten an unserem Ziel fest, 12 Milliarden Euro
zusätzlich für Forschung, Bildung und Entwicklung
bis 2013 bereitzustellen.
Das klingt etwas anders, als wenn man sagen würde:
Wir werden das auch tun.
({2})
Möglicherweise klingt in dieser Formulierung die Unsicherheit mit,
({3})
ob das alle Beteiligten auch wirklich mittragen können.
Denn - dies ist heute Morgen mehrmals gesagt worden Sie hauen den Ländern über die Steuerpolitik, die Sie in
letzter Zeit gemacht haben, die Finanzierungsmöglichkeiten weg.
({4})
Rot-Grün hat 1998 nicht nur die Mittel erhöht, sondern auch inhaltlich neue Schwerpunkte gesetzt. Das
Wahlprogramm der SPD hieß damals: „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“. Das heißt, wir wollten Bildung
und Forschung einen neuen Stellenwert geben. Wenn
man den BuFI aufschlägt, findet man sehr schnell unter
dem Stichwort „Die drei Reforminitiativen von Bund
und Ländern“ drei sehr wesentliche Initiativen, die in
den letzten Jahren die Bildung vorangebracht haben:
Das ist erstens der Pakt für Forschung und Innovation, mit dem die außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen und -organisationen deutlich gefördert werden.
Das ist zweitens der Hochschulpakt für mehr Studienplätze und bessere Studienbedingungen.
Das ist drittens die Exzellenzinitiative, die die Forschungslandschaft in Deutschland tatsächlich bewegt
hat.
Alle drei Reforminitiativen sind übrigens Ergebnisse
rot-grüner Regierungspolitik, unterschrieben von Edelgard
Bulmahn, der SPD-Bildungsministerin, in 2005. Wir
freuen uns, dass diese Initiativen sehr weit vorne im Bundesbericht Forschung und Innovation ihren Platz finden.
EFI, also die Expertenkommission Forschung und
Innovation, weist uns immer wieder darauf hin, dass wir
neue Technologien fördern müssen. Auch unter RotGrün und in der letzten Legislaturperiode gab es sicherlich Defizite. Aber Rot-Grün hat sich das 1998 auf die
Fahnen geschrieben. Wir haben das Projekt der ökologischen Erneuerung der Gesellschaft auf den Weg gebracht. Das war damals im Wesentlichen - ich darf daran
erinnern - das 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm.
Wir haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz erarbeitet,
übrigens gegen großen Widerstand der Opposition, wenn
ich mich richtig entsinne. Es ist mittlerweile weltweit
anerkannt. Im Bereich der erneuerbaren Energien, bei
der Solartechnologie und der Windkraftenergie, sind wir
Weltmeister bzw. Marktführer. 15 Prozent unseres Bruttostromverbrauches stammen mittlerweile aus erneuerbaren Energien.
Dies schafft Arbeitsplätze in einer Dimension, wie
wir das bis dato nicht gekannt haben. Es hat zu einem
Technologieschub geführt, wie es ihn vorher nicht gab.
Zu Recht widmet der EFI-Bericht extra ein Kapitel dem
Bereich Fotovoltaik, um nicht nur die Bedeutung für die
Arbeitsplätze, sondern auch für Ostdeutschland insgesamt herauszustellen. Denn dort findet die entsprechende Produktion in erhöhtem Maße statt.
Das ist die Empfehlung von EFI. Was ist die Antwort
der schwarz-gelben Regierungspolitik? Sie kürzen die
Mittel für Förderungen und Anreizprogramme im Bereich der erneuerbaren Energien und der Solarstromeinspeisung. Der Bundesrat hat jetzt ein Veto eingelegt. Wir
werden sehen, was dabei herauskommt. Das einzig Gute
an dieser Maßnahme, die Perspektiven verhindert und
die Schaffung neuer Industrien und die Entwicklung
neuer Technologien behindert, ist, dass es Ihnen wahrscheinlich wie mir geht: Wir bekommen im Wahlkreis
mit, wie viele Unternehmen mittlerweile im Bereich der
erneuerbaren Energien arbeiten.
({5})
Da spricht mich ein Unternehmer mit 200 Beschäftigten
an, dessen Unternehmen Wechselrichter für die Erzeugung von Solarenergie herstellt. Da kommen Vertreter
eines Stahlwerkes auf mich zu, das Elektroband für die
Erzeugung von Energie durch Windkraftanlagen produziert und Arbeitsplätze sichert, die umweltfreundlich
und standortnah sind. Diese Regierung aber hat nichts
anderes im Sinn, als diesen Technologiezweig in höchstem Maße zu verunsichern.
Ein weiteres Problem, auf das im Bericht der Expertenkommission, über den wir heute auch diskutieren,
hingewiesen wird, ist der mangelnde Technologietransfer, der in Deutschland stattfindet, also der Übergang
von Forschungsergebnissen in kommerziell nutzbare
Produkte wie MP3-Player, Faxgeräte und Ähnliches.
Wir legen heute als SPD-Fraktion einen Antrag vor
- nachdem wir lange Jahre in der Großen Koalition darüber diskutiert haben und nicht weitergekommen sind -,
der sich dem Thema Validierungsforschung widmet. Wir
wollen also die Innovationslücke zwischen der Identifizierung von Forschungsergebnissen und der Anwendung
in kommerziellen Produkten, wie sie auch die EFI benennt, schließen. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen
Antrag nach der Überweisung in die Ausschüsse unterstützen würden.
Ein anderes Thema: EFI fordert auch im zweiten Jahr
eine steuerliche Förderung von FuE-Maßnahmen in Unternehmen. Die SPD hat da immer ein bisschen zurückhaltend reagiert und gesagt, das müsse eine zusätzliche
Maßnahme sein, das müsse noch oben drauf kommen.
Wir hätten sehr viel Verständnis dafür, wenn diese Bundesregierung sagen würde, im Moment sind diese zusätzlichen Mittel nicht finanzierbar. Aber es war genau
diese Bundesregierung, allen voran Ministerin Schavan,
die im Oktober 2009 gesagt hat, diese FuE-Förderung
müsse mit mindestens 2 Milliarden Euro kommen. Auf
meine Anfrage beim Bundesministerium der Finanzen,
ob denn nun endlich die steuerliche Förderung kommt
und wie die Ausfälle finanziert werden sollen, habe ich
bis heute noch keine Antwort erhalten. Das ist übrigens
parlamentsrechtswidrig. Der Sache werde ich noch einmal nachgehen.
({6})
EFI hat im Bericht des Jahres 2009 - man kann nicht
immer nur den Bericht aus 2010 anschauen, sondern
muss auch schauen, was sozusagen noch an Resten aus
den letzten Jahren aufzuarbeiten ist; wir sind ja nicht nur
dazu da, Papiere zu verabschieden, sondern wir müssen
sie auch lesen - zum ersten Mal das Thema Fachkräftemangel in das Zentrum des Berichts gestellt. Sie schreibt:
Die Aufgaben für die F- und I-Politik Deutschlands
im nächsten Jahrzehnt liegen … im Umbau des Bildungssystems.
In keinem anderen Industrieland sind die Bildungschancen so von der sozialen Herkunft abhängig wie in
Deutschland. Von 100 Akademikerkindern werden 88
ein Studium aufnehmen. Bei gleicher Begabung werden
von 100 Arbeitnehmerkindern nur 23 ein Studium aufnehmen. Das liegt nicht daran, dass diese dümmer sind,
sondern daran, dass die Bedingungen es nicht zulassen,
dass sie auch eine Chance zur Aufnahme eines Studiums
bekommen.
Das sind nicht die ewig gleichen Textbausteine, sondern das sagt eine unabhängige Expertenkommission.
Sie fordert deshalb, dass das Bildungssystem verändert
und reformiert sowie das im Rahmen der Föderalismusreform geschaffene Kooperationsverbot aufgehoben
werden soll.
Die Antwort der schwarz-gelben Regierung ist: Sie
zementieren in den Ländern ein völlig veraltetes Bildungssystem und führen Studiengebühren ein. Damit legen Sie genau denen einen Stein in den Weg, die darauf
angewiesen sind, möglichst wohnortnah und kostengünstig zu studieren.
({7})
Oder kann jemand von den Zuschauern hier mal eben so
locker 1 000 Euro pro Jahr allein an Gebühren für das
Studium seines Kindes aufbringen? - Damit grenzen Sie
aus.
({8})
Das trifft übrigens genau diejenigen, die wir dringend
brauchen. Das schreibt EFI auch in ihrem Bericht. Das
trifft nämlich gerade Ausländer und Bildungsaufsteiger,
also jene, die aus bildungsfernen Schichten kommen. Sie
studieren überdurchschnittlich oft ingenieur- und naturwissenschaftliche Fächer. Ich zähle übrigens auch zu
diesen. Ich bin Bildungsaufsteiger und habe Biologie
studiert. Unsere zweite Rednerin, ebenfalls Bildungsaufsteigerin, ist Physikerin. Das sind genau diejenigen, die
am meisten gebraucht werden.
({9})
Werte Koalition, ich komme zum Schluss. Gratulation
zu 12 Milliarden Euro! Wir werden sehen, ob Sie das
Geld bekommen werden. Wir wissen allerdings überhaupt noch nicht, wofür Sie es ausgeben wollen.
({10})
Das ist mein letzter Kritikpunkt. Wenn ich am Anfang
sagte, dass es 1998 von Rot-Grün eine Strategie und ein
Projekt gegeben hat, muss ich jetzt feststellen: Heute
sehe ich kein Konzept. Sie haben keine Ideen, Sie haben
keine Konzepte, und Sie wissen auch nicht, wohin Sie
wollen - außer, dass Sie sich im Moment mit Gemüseund Tiernamen bezeichnen. Ich fordere Sie auf: Hören
Sie auf, sich wie die Kesselflicker zu streiten! Arbeiten
Sie zusammen! Machen Sie eine gute Forschungspolitik;
denn die Krise bietet die Chance und die Notwendigkeit,
eine gute Forschungs- und Bildungspolitik zu machen,
die für die Menschen und nicht für Ihre Regierung da ist.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat nun
für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, auch im Namen
meiner Fraktion wünsche ich Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag! Wir wünschen Ihnen Gesundheit, Mut und Kraft für die Aufgaben in dem Bereich, den Sie hier vertreten.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesbericht
Forschung und Innovation zeigt, dass Deutschland ein
führender Forschungs- und Industriestandort ist und
auch künftig Schrittmacher für Forschung, Entwicklung
und Innovation sein wird. Die Weichen zu einem effizienten Forschungs- und Innovationssystem sind richtig
gestellt. Eines ist gewiss: Wir wollen damit das Leben
der Menschen besser und lebenswerter gestalten, für die
Wirtschaft in unserem Land Wertschöpfungspotenziale
eröffnen, Arbeitsplätze schaffen sowie talentierte und
hochqualifizierte Menschen fördern und deren Potenziale nutzen.
({1})
Wir sind uns doch alle einig: Ein einfaches Weiter-so
kann es nach der Empfehlung der Expertenkommission
Forschung und Innovation nicht geben. Die Zielrichtung
Dr. Martin Neumann ({2})
ist, dass unser Forschungs- und Innovationssystem seine
Stärken noch besser ausspielt. Dazu zählt natürlich auch
die Aufdeckung aller stillen Reserven, insbesondere
- das will ich hervorheben - in der Grundlagenforschung. Diese bildet ein riesiges Potenzial für spätere
Anwendungen in der Wirtschaft. Wir brauchen - es ist
wichtig, das an dieser Stelle immer wieder zu sagen vor allen Dingen Mut, auch Mut zu neuen Wegen.
({3})
Wir müssen forschende Unternehmen unabhängig
von der Größe unterstützen. Hier geht es um die sogenannten Cluster; das ist ein schreckliches Wort, aber es
bringt die Verbindung zum Ausdruck. Wir müssen deutlich machen: Wir wissen, wo der Bund die Wirtschaft
und deren Innovationsvorhaben unterstützen soll.
Mit unserem Antrag „Brücken bauen - Grundlagenforschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft
nahebringen“ fordern wir die Bundesregierung auf, ein
Konzept zur Validierungsförderung vorzulegen. Ein solches Konzept liegt uns jetzt vor und wird 2011 umgesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
freue mich, dass auch Sie so positiv zu diesem Instrument stehen und es eigentlich unterstützen.
({4})
Ich verstehe allerdings nicht so richtig, warum Sie mit
Ihrem Antrag den Aufbau neuer und großer bürokratischer Strukturen fordern.
({5})
Es geht doch darum - das ist mein Verständnis der Sache -,
mit diesem neuen Förderinstrument Wissenschaftler zu
unterstützen, die ihre eigenen Forschungsergebnisse auf
ihre wirtschaftliche Anwendbarkeit hin untersuchen
wollen. Es soll doch eine Bewegung aus der Wissenschaft heraus entstehen, mit flachen Strukturen, kurzen
Antragswegen und vor allen Dingen schnellen Entscheidungswegen, gerade ohne einen Aufbau neuer Verwaltungsstrukturen. Die Devise muss lauten: einfach,
schnell und gut. Alles andere - ich glaube, da sind wir
uns einig - ist sehr kontraproduktiv.
({6})
Allerdings muss die Validierungsförderung technologieoffen ausgestaltet werden und vor allen Dingen auf
die Potenziale der akademischen Forschung ausgerichtet
sein. Es ist der falsche Weg, der Validierungsförderung
von vornherein Fesseln anzulegen, indem man sie, wie
Sie sagen, zunächst auf „wenige, dynamische Forschungsfelder“ ausrichtet. Wir werden aber in der nächsten Woche im Ausschuss Gelegenheit haben, die vorliegenden Vorschläge mit Ihnen intensiv zu diskutieren.
Lassen Sie mich etwas zu den Forschungs- und Entwicklungsleistungen Deutschlands sagen. Ich hatte gestern Gelegenheit, die ILA zu besuchen und mit den Ausstellern zu sprechen. Es war sehr beeindruckend, zu
sehen, wo und in welchem Umfang Forschung und Entwicklung in deutschen bzw. in Deutschland ansässigen
Unternehmen stattfindet. 90 Prozent der Ausgaben für
Forschung und Entwicklung der deutschen Wirtschaft
investiert die Industrie. Es ist ein unglaubliches Potenzial an Innovationskraft vorhanden. Das ist ein gutes
Zeichen. Es lässt auch in Krisenzeiten den Kurs der
deutschen Wirtschaft hin zu Forschung und Entwicklung
erkennen.
Lassen Sie mich eines feststellen: Für den heutigen
und künftigen Wohlstand spielt die industrielle Kompetenz unserer Volkswirtschaft eine entscheidende Rolle.
Das schließt eine enge Verflechtung von kleinen und
mittelständischen Unternehmen mit Großunternehmen,
die sogenannten Cluster, ein. Deutschlands Stärke ist die
Verbindung aus bestehender Produktionskompetenz und
der Anwendung immer wieder neuer Technologien.
Es geht darum, die Innovationskraft gerade jener Bereiche zu stützen, die letztendlich die Grundlage für die
Steigerung des Steueraufkommens in unserem Land
schaffen. Die Zahlen zum tatsächlichen Steueraufkommen in unserem Land in den vergangenen fünf Jahren
zeigen, wie stabil und belastbar eigentlich unser Fundament auch während der letzten Krise war.
Für uns heißt das: Der Weg, den wir mit der Bereitstellung von 12 Milliarden Euro für Bildung, Forschung
und Entwicklung eingeschlagen haben, ist richtig. Wir
dürfen uns auf keinen Fall beirren lassen. Das ist der
Weg in die Zukunft; da sind wir uns einig. Ich will mit
einem Zitat von Frau Marie von Ebner-Eschenbach
schließen, die so treffend bemerkt hat:
Wer aufhört, besser werden zu wollen, hört auf, gut
zu sein!
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir besprechen heute zwei Berichte - das ist schon gesagt worden - zum Thema Innovation. Der Bericht der Bundesregierung ist eine fette Datensammlung von mehr als
600 Seiten mit gelegentlichem Hang, sich selbst auf die
Schulter zu klopfen. Das Expertengutachten wiederum
ist viel stärker problemorientiert, aber es ist in vielen Bereichen auch nicht wirklich innovativ. Viele Vorschläge
des Expertengutachtens werden nämlich längst diskutiert, zum Teil wird die Umsetzung schon angegangen.
Meine Hauptkritik an beiden Berichten besteht darin,
dass Innovationsförderung von bereits vorhandenen
Subventionen abgekoppelt betrachtet wird. Insbesondere
Großunternehmen in der Bundesrepublik werden durch
Forschungsprogramme, Lohnsubventionen, Entlastun4644
gen bei Arbeitgeberanteilen zur Sozial- und Krankenversicherung und natürlich auch durch massive Steuersenkungen öffentlich unterstützt. Das sind drei- bis
vierstellige Milliardensummen, die der öffentlichen
Hand dadurch in den letzten Jahren verloren gegangen
sind.
Die öffentliche Hand ihrerseits finanziert also längst
direkt und indirekt Kernaufgaben von Unternehmen.
Dennoch, so der Bericht der Expertenkommission, sind
die Ergebnisse nicht befriedigend. Die Expertenkommission sagt uns, ein Umdenken sei dringend notwendig.
Die Linke wiederum sagt: Sicherster Garant für Innovation ist ein qualifiziertes und ausfinanziertes öffentliches
Bildungs- und Wissenschaftssystem.
({0})
Innovationsschübe sind vor allem von Menschen zu erwarten, die immer wieder und immer weiter lernen,
Menschen, die eine klare Berufsperspektive haben, existenzsichernde Einkommen beziehen, auch im qualifizierten und hochqualifizierten Bereich, und zwar unter
Arbeitsbedingungen, die Engagement und Kreativität
herausfordern und fördern.
Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, so das
Expertengutachten, setzt neue Potenziale frei. Das ist als
Feststellung so neu nicht. Natürlich grüßt das Murmeltier längst aus der Furche. Darüber geht noch ein weiterer Ministeringeburtstag ins Land. Aber das Gutachten
bewertet unter dieser Prämisse die aktuelle Studienreform, auch bekannt unter dem Begriff Bologna-Reform.
Das Urteil des Gutachtens? Überschrift: „Bologna reicht
nicht.“ Das heißt, das Gutachten gibt uns ein weiteres
Alarmsignal. Deshalb habe ich beschlossen, in meinem
Redebeitrag die Reformziele durchzugehen. Immerhin
hat die Ministerin vorhin ausdrücklich gesagt, man sei
mit dem Bildungsstandort Deutschland ziemlich weit
vorangekommen.
Erstes Ziel der Bologna-Reform: Öffnung der Hochschulen, vor allem für Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien. Was steht dazu in dem Gutachten? Ich zitiere: „Erste Ergebnisse nähren diese
Hoffnung nicht.“ Das heißt, soziale Auswahlmechanismen setzen sich an den Hochschulen fort. Die Linke ist
daher nicht nur gegen Studiengebühren. Nein, wir wollen mittelfristig ein insgesamt harmonisiertes System der
Bildungsförderung, das Schülerinnen und Schüler, Auszubildende, Studierende und natürlich auch Berufstätige
zur Fortbildung ermutigt.
({1})
Zweites Ziel der Bologna-Reform: Erhöhung der Zahl
der Studienanfängerinnen und -anfänger, vor allem von
Frauen in naturwissenschaftlichen und technischen
Richtungen. Was steht in dem Gutachten? „Die
Erwartung … wurde bislang enttäuscht.“ Ich finde, Interesse kann nicht früh genug geweckt werden. Dazu bedarf es vielfältiger individualisierter Angebote, insbesondere für Mädchen. Ein G-8-Abitur beispielsweise
verengt eben das Zeitfenster für solche individualisierten
Angebote.
({2})
Drittes Ziel: Absenkung der Zahl der Studienabbrüche. Was steht in dem Gutachten? „Auch die Zahl der
Studienabbrüche konnte … nicht spürbar reduziert werden.“ Das sind immer Zitate, meine Damen und Herren.
Nötig sind also im Vorfeld von Studienentscheidungen
Vorbereitungs- und Beratungsangebote. Das Studium
selber muss viel flexibler gestaltet werden. In anderen
Ländern sind Teilzeitstudien überhaupt kein Thema
mehr. Bei uns fällt jeder Studierende automatisch aus der
BAföG-Förderung heraus, wenn ein Teilzeitstudium angestrebt wird. Das wird nicht anerkannt.
Viertes Ziel: Senkung der Studienzeiten und Überarbeitung von Lehrinhalten, Verbesserung der Betreuungsrelation. Die Reform wurde, so die Experten - ich zitiere
wieder -, „kaum für grundlegende inhaltliche und didaktische Änderungen … genutzt“. Anforderungen seien für
Lehrende und Studierende unangemessen und unerfüllbar. Ebenso wie das Gutachten votiert die Linke ausdrücklich für die Mitgestaltung der Beteiligten, um nicht
weiterhin am Studienalltag vorbei zu reformieren. Für
eine bessere Qualität des Studiums sind am Ende mehr
Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten entscheidend. Dafür brauchen Hochschulen mehr Freiräume bei der Ausgestaltung und Festlegung der Dauer beispielsweise von
neuen Studiengängen in Prüfungs- oder in Studienordnungen.
Fünftes Ziel der Reform: Abbau von Hindernissen,
die den Wechsel zwischen Hochschulen in Deutschland
und dem Ausland erschweren. Bisher gibt es - ich zitiere
wieder das Gutachten -:
… keine deutliche Erhöhung des Ausländeranteils
… Selbst in Masterprogrammen … nimmt dieser
seit 2001 deutlich ab.
Daraus folgt: Studienleistungen müssen großzügig gegenseitig anerkannt werden, und die Finanzierung von
Auslandsaufenthalten von deutschen Studierenden muss
ausgebaut werden.
Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es
derzeit zahlreiche Aktionen gibt, bei denen es um mehr
und bessere Bildung geht. Am Willen seitens der Studierenden oder der Schüler und Schülerinnen mangelt es offensichtlich nicht. Das Gutachten titelt „Bologna-Reform reformieren“, aber ohne verbindliche Zusagen ist
dieses Ziel nicht erreichbar. Das ist die klare Botschaft
des vorliegenden Gutachtens. Deshalb sind wir der Meinung - Frau Hein hat das eben in Bezug auf das Kooperationsverbot erläutert -, dass Bund und Länder in der
Pflicht stehen, etwas gemeinsam zu unternehmen. Wenn
der Bologna-Prozess die Hochschulen nicht als Kern des
deutschen Innovationssystems stärkt, dann werden auch
noch so ausgeklügelte Unternehmensförderungen diesen
Verlust nicht wettmachen. Innovationskraft gewinnt aus
solch einer Reform allemal mehr Schub, weil wissenschaftlich kompetente, inspirierte und kreative Menschen mehr Dynamik und mehr Energie freisetzen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrtes Geburtstagskind! Frau Schavan, ich hätte schon erwartet, dass Sie hier nicht einfach die Bildungsdebatte
von heute Morgen fortführen,
({0})
sondern auch etwas zu den offenen Fragen in der Forschungspolitik sagen. Eine offene Frage ist doch, dass
die Expertenkommission mehrfach angemahnt hat, dass
wir neben der Projektförderung auch eine steuerliche
Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen brauchen. Was ist denn damit? Die Grünen haben
schon in der letzten Legislaturperiode ein zielgenaues
und praktikables Konzept vorgelegt. Es ist ein Treppenwitz und sagt viel über den traurigen Zustand der Koalition aus, dass ausgerechnet eine sogenannte bürgerliche
Regierung in dieser Frage kläglich versagt und nichts zustande bringt.
({1})
Ausgerechnet die angebliche Wirtschaftspartei FDP
sieht den Zustand unseres Landes eher durch die Subventionierung von Hotelübernachtungen gesichert. Das
ist doch wirklich ein Witz.
({2})
- Ja, das werden wir Ihnen so lange vorhalten, bis Sie
das revidiert haben. Dafür haben Sie immerhin
1 Milliarde Euro ausgegeben.
({3})
Jetzt sind die Kassen leer. Sie haben sich von den
Lobbyisten der Großkonzerne überreden lassen, besonders teure Konzepte zu entwickeln. Mit diesen teuren
Konzepten konnten Sie die Finanzierungsvorbehalte von
Herrn Schäuble erst recht nicht überwinden. Ich fürchte,
das Zeitfenster ist jetzt geschlossen. Sie können schlecht
für Arbeitslosengeld-II-Bezieher die Rentenbeiträge
streichen und gleichzeitig millionenschwere Steuergeschenke für Autokonzerne und Pharmakonzerne beschließen. Das sieht Ihr Konzept leider vor.
Ich würde dieses Trauerspiel gern mit den Worten
charakterisieren, mit denen Sie untereinander kommunizieren. Bei der Hotelsubventionierung sind Sie noch rangegangen wie die „Wildsau“. Bei der steuerlichen Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen
haben Sie sich aber als innovationspolitische „Gurkentruppe“ herausgestellt.
({4})
Worum wäre es eigentlich gegangen? Kleine und
mittlere Unternehmen profitieren einfach nicht in angemessener Weise von der Projektförderung - das zeigt die
Statistik -, weil der Förderung ein aufwendiges Verfahren mit vielen Anträgen vorausgeht. Deswegen ist es
sinnvoll, dass man die Projektförderung zielgenau ergänzt und dabei auch junge Start-ups, die noch keine Gewinne machen, berücksichtigt. Man muss dafür sorgen,
dass das Geld nicht für unnötige Mitnahmeeffekte verplempert wird, für große Konzerne, die sowieso an nationalen und europäischen Forschungstöpfen sitzen. Genau diese Bedingungen erfüllt das Konzept der Grünen.
Sie hätten es einfach übernehmen können. Sie hätten
noch nicht einmal Lizenzgebühren dafür zahlen müssen.
({5})
Ihre falsche Steuerpolitik gefährdet jetzt auch andere
sehr wichtige forschungspolitische Vorhaben. Der Pakt
für Forschung und Innovation steht seit Juni des letzten
Jahres unter Finanzierungsvorbehalt. Diverse Länder haben gesagt, dass sie ihren Beitrag zum 5-prozentigen
Aufwuchs bei den Forschungseinrichtungen und Forschungsorganisationen nur dann erbringen können, wenn
ihnen die Mittel dafür nicht durch die Steuerpolitik des
Bundes entzogen werden. Frau Schavan, ich kann Sie
nicht verstehen: Dass Sie die Bundesmittel für den Bereich Forschung erhöht haben - lassen Sie sich das nicht
wegnehmen! -, das kann keiner bestreiten.
({6})
Als erfahrene Landespolitikerin hätten Sie aber erkennen
müssen, dass es Sie in Ihrem Bereich auf ganz bittere
Weise einholt, wenn den Ländern die Finanzierungsbasis
für die Forschungs- und Bildungsprogramme entzogen
wird. Das ist doch die Situation, vor der wir stehen.
({7})
Ich finde, dass der Forschungsbericht der Bundesregierung mit über 600 Seiten für politische Entscheidungen zum Teil leider wenig aussagefähig ist. Er enthält
einfach zu wenig Wirkungsbewertung. Die Forschungsprämie hat offensichtlich nicht funktioniert. Aber ein Instrument, das nicht funktioniert, kann man doch nicht
einfach unter den Teppich kehren, man kann nicht einfach aufhören, darüber zu reden, sondern man muss daraus politische Schlüsse ziehen. Das muss doch einer
kritischen Bewertung unterzogen werden, und zwar öffentlich. Ich finde es richtig, dass die Expertenkommission gesagt hat: Wir brauchen mehr Wirkungsforschung,
und wir brauchen mehr Koordination in der Forschungspolitik. Wir brauchen keine Zentralisierung, aber Ko4646
ordination. Das ist etwas, was auch der Wissenschaftsrat
angemahnt hat.
Das EFI-Gutachten empfiehlt eine Sache, die ich für
besonders wichtig halte, nämlich die bessere Verknüpfung der Hightech-Strategie mit der Entwicklung wissensbasierter Dienstleistungen. Dem widmen Sie gerade
einmal eine halbe Seite in Ihrem eigenen Bericht. Das
halte ich für grundfalsch. Bei vielen gesellschaftlichen
Herausforderungen, gerade im Umweltbereich, kommen
Sie nur zu adäquaten Lösungen, wenn Sie Technik, wissensbasierte Dienstleistungen und Know-how zu einem
systemischen Produkt bündeln. Gerade beim Export in
Schwellenländer - wie China - haben Sie durch die
Kombination von Technik, Know-how und wissensbasierten Dienstleistungen den Vorteil, dass sie diese Produkte dann nicht mehr so einfach kopieren können wie
ein rein technisches Produkt. Das heißt, wir haben dadurch eine große Chance, dass die Wertschöpfung und
die Beschäftigung tatsächlich in Deutschland bleiben.
Diesem Zusammenhang - das hat sich auch im Spitzenclusterwettbewerb gezeigt - sollten wir wirklich mehr
Aufmerksamkeit widmen. Ich bitte Sie dringend, die
Empfehlungen der Expertenkommission da ernst zu nehmen.
Ein letztes Wort, Frau Schavan. Ich hätte bei Ihrem
Streit mit der französischen Kollegin im Wettbewerbsrat
gerne Mäuschen gespielt, als es um ITER gegangen ist.
Über ITER werden wir heute noch sprechen; dem will
ich nicht vorgreifen. Ich will nur sagen: Dass Sie den
deutschen Forschungsetat davor schützen wollen, dass
aufgrund der großen Kostenlücke noch 900 Millionen
Euro Zusatzkosten für Deutschland entstehen, ist aus
Sicht einer nationalen Bildungs- und Forschungsministerin verständlich und auch richtig. Aber wir dürfen diese
große Kostenlücke von über 4 Milliarden Euro für
Euratom nicht in den EU-Forschungsetat verlagern.
Denn dann haben wir für sehr lange Zeit die energiepolitischen und forschungspolitischen Weichen auf der EUEbene blockiert bzw. falsch gestellt.
({8})
Das darf nicht passieren. Machen Sie nicht eine Politik
nach dem Sankt-Florians-Prinzip.
({9})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Albert
Rupprecht. Auch ihm gratulieren wir zu seinem heutigen
Geburtstag.
({0})
Vielen herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Röspel, es bleibt dabei: Bildung und Forschung haben bei uns absolute Priorität.
({0})
Das ist ein historischer, ein einzigartiger Meilenstein.
Die Frau Ministerin hat absolut recht: Diese historische
Leistung lassen wir uns nicht zerreden.
({1})
Es ist der einzige Bereich, der vom Sparen ausgenommen wird. Sie wissen sehr wohl, dass es nicht ohne ist,
dafür im Parlament Mehrheiten zu finden; denn jeder
Bereich hat natürlich seine Schwerpunkte und Interessen. Trotzdem wird es von der Unionsfraktion und auch
von der FDP-Fraktion mitgetragen. Es ist ein ganz klares
Zeichen, das wir trotz Euro-Krise, trotz Schuldenbremse
und trotz Sparpaket diese Priorität setzen.
Wenn die Opposition behauptet, dass das Sparpaket
keine Linie hat und unsozial ist,
({2})
dann ist das schlichtweg falsch. Die Linie ist vollkommen klar: Vorrang für Forschung und für Bildung. Darüber hinaus glaube ich, dass wir uns hier einig sind,
dass es nichts Sozialeres gibt, als in den Bereich Bildung
zu investieren. Genau das machen wir.
({3})
Der EFI-Bericht und auch der Innovationsbericht der
Bundesregierung bestätigen den Aufbruch in der Forschungspolitik, seit die Union regiert, also seit 2005.
({4})
Auch das noch einmal zur Klarheit, Herr Röspel: Die
Pakte tragen alle die Unterschrift der Ministerin
Schavan. Kein einziger Pakt wurde von Frau Bulmahn
unterschrieben.
({5})
Vorher wurde diskutiert. Frau Schavan hat ihre Unterschrift daruntergesetzt und die Finanzierung organisiert.
Das ist das Entscheidende.
({6})
Wir haben die Forschungsausgaben des Bundes seit
2005 um satte 21 Prozent erhöht. Seit 2005 bekommen
kleine Unternehmen zwei Drittel mehr Bundesförderung
als in der Vergangenheit. Ich glaube, das ist beachtlich.
Deutschland gehört endlich wieder zur internationalen
Spitzengruppe. Nur in den USA, in China und in Japan
wird mehr für Forschung ausgegeben als in Deutschland.
({7})
Wir sind an vierter Stelle; das ist ein exzellentes Ergebnis. Diese Ausgaben zeigen Erfolge. Die deutsche Forschung an den Universitäten und Forschungseinrichtungen ist in vielen Bereichen wieder Weltspitze.
Albert Rupprecht ({8})
Auch die private Wirtschaft - das ist ebenfalls wichtig - hat die Forschungsausgaben in diesem Zeitraum um
19 Prozent erhöht. Wenn die Bayer AG die Forschung
aus den USA nach Deutschland zurückverlagert, weil es
in Deutschland die besten Forschungsnetzwerke und die
besten Köpfe gibt - man hat das gestern so begründet,
als wir dort zu Besuch waren; einige Kollegen waren dabei -, dann zeigt das, dass wir in der Politik einen guten
Job machen.
({9})
An dieser Stelle möchte ich mich bei den zehn namhaften deutschen Großunternehmen bedanken, die zugesagt haben, dass sie jeden Euro, den sie sich durch eine
steuerliche Forschungsförderung ersparen werden, mindestens eins zu eins in zusätzliche Forschung am Standort Deutschland investieren werden. Ich finde, das ist ein
vorbildliches Angebot an den Standort Deutschland. Ich
finde auch, dass es ein ganz tolles Stück gelebter Patriotismus ist.
Geld ist wichtig, aber Geld ist nicht alles. Es braucht
vor allem die richtige mentale Einstellung, es braucht
Gesinnung, es braucht ein Stück Begeisterung für Technik, Innovation und Fortschritt, und es braucht in einer
älter werdenden Gesellschaft jugendliche Dynamik im
Bereich Forschung und Innovation, um Wohlstand und
soziale Sicherheit zu erhalten. Das heißt aber auch, dass
es Risiken gibt. Technische Neuerungen gibt es nicht
ohne Risiken. Aber wir haben den Glauben, dass der
menschliche Verstand Wege finden kann, die Risiken
zu bewerten und zu begrenzen. Falschinformationen,
Irrationalität und Angstmacherei helfen nicht.
Im Antrag der Grünen zu ITER, über den wir hier im
Parlament heute noch diskutieren werden, heißt es - ich
zitiere -,
dass die Menge radioaktiven Inventars in Fusionsreaktoren etwa genauso hoch ist wie in Kernspaltungsreaktoren.
Sie schreiben also, die Menge sei etwa genauso hoch wie
bei der Kernfusion.
({10})
Sehr geehrte Damen und Herren, man kann zu ITER
stehen, wie man mag, aber das ist schlichtweg bewusste
Panikmache. Es geht bei der Fusion nicht um eine Endlagerung hochradioaktiven Materials, wie es bei der
Kernspaltung der Fall ist, sondern es geht ausschließlich
um die Zwischenlagerung in Größenordnungen von maximal 100, 150 Jahren.
({11})
Das ist ein Riesenunterschied. Diese Unsachlichkeit,
diese Irrationalität, diese Angstmacherei schadet
Deutschland massiv. Das Land der besten Ingenieure, das
Land der besten Techniker der Welt kann sich irrationale
Technologiefeindlichkeit nicht leisten,
({12})
egal ob bei der Kernfusion, bei der Gentechnologie, bei
den Nanotechnologien oder anderswo.
Seit 2005 reparieren wir, was zuvor in 20 Jahren der
Technologiefeindlichkeit in Deutschland kaputtgemacht
wurde.
({13})
Das war vor allem die „Leistung“ der Grünen und der
Antitechnologiebewegung, die in den letzten Jahrzehnten insbesondere von den Grünen und Teilen der SPD
mitgetragen worden ist.
({14})
Die christlich-liberale Koalition hat die klare Ansage
gemacht, dass wir die Ausgaben für Forschung massiv
erhöhen werden. Im EFI-Gutachten werden hierzu, wie
wir meinen, sehr vernünftige und sehr gute Vorschläge
gemacht. Diese Vorschläge entsprechen unserem Geist.
Deswegen fühlen wir uns bestätigt.
({15})
Zur steuerlichen Forschungsförderung. Das Konzept
der Grünen - darüber haben wir bei mehreren Veranstaltungen diskutiert - wurde von der Wirtschaft und den
Betroffenen regelmäßig versenkt.
({16})
Das Konzept der Unionsfraktion hingegen, dessen Eckpunkte wir ausformuliert haben, wurde durch die Bank
positiv bewertet.
({17})
Übrigens ist dieses Konzept beinahe in Gänze deckungsgleich mit dem der FDP.
({18})
Im EFI-Gutachten sind folgende Vorschläge formuliert: wettbewerbsfähiger Wagniskapitalmarkt, mehr
Gründungen im Bereich der Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Verbesserungen beim Technologietransfer - das ist die Daueraufgabe schlechthin - und
ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz, um den Forschungsorganisationen mehr Freiraum zu geben. All dies sind
Punkte, die wir in unserem Koalitionsvertrag verankert
Albert Rupprecht ({19})
haben und mit denen wir uns im Augenblick befassen.
An einigen dieser Themen arbeiten wir derzeit, einige
Beschlüsse haben wir in den letzten Wochen bereits gefasst. Zum Beispiel haben wir die Validierungsförderung
eingeführt, die Wissenschaftlern dabei helfen soll, die
Marktchancen ihrer Forschungsergebnisse besser einschätzen zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschlands Forschung ist zurück an der Weltspitze. Diese Spitzenstellung werden wir ausbauen, zum einen durch die Bereitstellung von mehr Geld, zum anderen aber auch durch
ein ganz klares Ja zu Forschung und technischer Fortentwicklung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Allen Geburtstagskindern herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag!
({0})
Es gibt politische Mantras, die wir alle sehr gerne miteinander singen. Eines davon lautet: Bildung, Forschung
und Entwicklung sind die Zukunftsthemen für unser
Land. Das stimmt. Im Bereich Forschung und Entwicklung sind wir auf einem guten Weg. Herr Rupprecht,
nicht zuletzt dank der Regierungsbeteiligungen der SPD
in den letzten Jahren sind wir dem 3-Prozent-Ziel deutlich näher gekommen. Das 3-Prozent-Ziel im Bereich
von Forschung und Entwicklung ist mittlerweile breiter
gesellschaftlicher Konsens. Frau Schavan, ich kann nur
hoffen, dass dieses Ziel durch die Ergebnisse des heutigen Bildungsgipfels nicht konterkariert und auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden.
({1})
Bei aller Freude über die einhellige rhetorische
Schwerpunktsetzung in diesem Bereich muss ich sagen:
Es gibt in der deutschen Forschungslandschaft Aspekte,
die unser besonderes Augenmerk und die eine oder andere kritische Bemerkung verdienen. Ein Blick auf die
Ausgaben für Forschung und Entwicklung, aufgeschlüsselt nach Bundesländern, macht deutlich, dass von
gleichmäßigen Forschungsausgaben in Deutschland
keine Rede sein kann. Wir beobachten bei den FuE-Investitionen ein Auseinanderklaffen zwischen wirtschaftlich starken und wirtschaftlich schwachen Ländern. Private FuE-Investitionen - das sind immerhin zwei Drittel
der gesamten FuE-Mittel - sind natürlich eng an die
Wirtschaftskraft der jeweiligen Region gekoppelt. Diese
Diskrepanzen werden zumindest teilweise durch den
zielgerichteten Einsatz öffentlicher Forschungsmittel
ausgeglichen. Gerade in den neuen Ländern ist der Anteil der staatlichen FuE-Förderung daher nur sehr schwer
wegzudenken.
Ein wichtiges Instrument der Forschungsförderung
für Ostdeutschland sind die EFRE-Mittel der Europäischen Union, aus denen heute sage und schreibe
13 Prozent der öffentlichen FuE-Ausgaben in Deutschland finanziert werden. 2014 läuft diese Förderperiode
aus. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
sich schon jetzt dafür starkmacht, dass auch nach 2014
in ausreichendem Umfang Mittel aus europäischen
Strukturfonds für Forschung und Entwicklung in strukturschwächeren Regionen zur Verfügung stehen.
({2})
Es gibt viele ermutigende Zeichen aus den neuen Ländern: Forschungscluster sind entstanden und funktionieren
gut, Innovationsfelder, wie der Bereich der Fotovoltaik,
durch den in Deutschland Arbeitsplätze in nennenswerter
Größenordnung geschaffen wurden, funktionieren ebenfalls, und wir beobachten eine immer regere Forschungsaktivität bei kleinen und mittelständischen ostdeutschen
Unternehmen. Das reicht aber bei weitem noch nicht aus.
Die Zahl der Patentanmeldungen liegt deutlich unter der
in den alten Ländern - und die Höhe der Forschungsinvestitionen sowieso.
Wer eine stabile wirtschaftliche und positive Entwicklung in Ostdeutschland will - und das liegt in unser aller
Interesse -, der muss hier weiter investieren und die
richtigen Akzente setzen, zum Beispiel durch eine zusätzliche steuerliche FuE-Förderung speziell für kleine
und mittlere Unternehmen. Das käme gerade dem Osten
zugute. Das ist eine Zukunftsfrage - genauso wie die
Ausbildung unserer jungen Menschen und das Halten
von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern.
Gerade in Zeiten des demografischen Wandels, den
man in Ostdeutschland, aber nicht nur da, schon sehen
kann, wird es wichtiger, wissenschaftliche Fachkräfte zu
halten. Ich frage Sie: Sind wir in diesem Bereich wirklich zukunftsfähig aufgestellt? Schaffen wir es, unseren
gut ausgebildeten Akademikerinnen und Akademikern
hier eine Perspektive zu bieten?
({3})
Zu viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
sehen an den Forschungseinrichtungen nur begrenzte
Perspektiven. Viele sind in Teilzeit eingestellt und arbeiten trotzdem fast Vollzeit. Der übergroße Teil ist befristet
eingestellt - und das ohne eine wirklich längerfristige
Perspektive. Ich höre immer mehr Berichte von Postdocs, die auch an bundesdeutsch finanzierten Einrichtungen Stipendienangebote bekommen. Sie sind darüber
nicht gerade erbaut.
Zukunftssicherheit sieht anders aus. Glauben Sie wirklich, dass man topausgebildete, promovierte Wissenschaftler Ende 20, Anfang 30, vielleicht mit Familie, mit
einem Stipendium dauerhaft binden kann - ohne Einzahlung ins Rentenversicherungssystem, bei freiwilliger
Daniela Kolbe ({4})
Krankenversicherung? Meine Erfahrungen lassen mich
hier stark zweifeln.
Ich kann der Bundesregierung nur raten: Nehmen Sie
diese jungen, engagierten, topausgebildeten Menschen
in den Blick. Sie sind wesentlich für den Forschungsstandort Deutschland. Verbessern Sie Ihre Arbeits- und
Forschungsbedingungen.
({5})
Auch der Bund hat hier Möglichkeiten, die endlich genutzt werden sollten.
In Sachen Forschung und Entwicklung ist jetzt leider
die konservative Regierung am Zuge.
({6})
Für uns alle können wir nur hoffen, dass Sie die richtigen Weichenstellungen vornehmen. Es hängt nicht weniger als die Zukunft unseres Landes davon ab.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar,
dass ich zu diesem Thema einige Worte sagen kann.
Im Laufe der heutigen Diskussion habe ich festgestellt, dass wir gut aufgestellt sind: Biologen, Physiker,
Ingenieure und ein Tierarzt. Wir bedienen uns einer anderen Sprache als die anderen Ausschüsse, dabei würde
es naheliegen, dass wir botanische und zoologische Begriffe ins Spiel bringen. Herr Röspel, wir sollten weiterhin so miteinander umgehen.
({0})
- Mir gefällt die Atmosphäre in unserem Ausschuss
ganz gut; wir kommen doch ganz gut zurecht. Ich denke,
die bisherigen Redebeiträge sind - verglichen mit dem,
was man sonst in diesem Hohen Hause zu hören bekommt - anerkennenswert.
Die von der Bundesregierung eingerichtete Expertenkommission Forschung und Innovation, kurz EFI, hat
dieses Jahr ihr drittes Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands vorgelegt. Die Bundesregierung hat sich dem Urteil unabhängiger Experten gestellt. Diese bestätigen,
dass unser Innovations- und Wachstumskurs richtig ist.
Die Sachverständigen haben festgestellt, dass unser
gesamtes Wissenschaftssystem in den alten Strukturen
staatlicher Aufsicht und Detailsteuerung die internationalen Herausforderungen in Zukunft nicht mehr bewältigen kann. Das ist deutlich genug und für uns im Ausschuss Anlass zu sehr viel Arbeit.
Vor diesem Hintergrund bin ich, schon bevor mir das
EFI-Gutachten bekannt war, in den letzten Wochen und
Monaten in Gesprächen mit Rektoren und Präsidenten
von Instituten und Forschungseinrichtungen der Frage
nachgegangen, wo der Schuh drückt und womit wir helfen können. Ich kann dazu feststellen, Frau Professor
Schavan: Finanzielle Probleme haben sie Gott sei Dank
nicht. Das ist ein gutes Zeichen. Sie wissen von unserem
Programm und geben an, dass sie im Vergleich mit früheren Jahren gut auskommen, dass aber in struktureller
Hinsicht der Schuh drückt. In diesem Bereich sollte vieles geändert werden.
Deshalb sollten wir, glaube ich, hier einer Bringschuld
nachkommen. In der vergangenen Legislaturperiode
wurde die Initiative zu einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz vorgelegt. Ich habe mit dem Geburtstagskind, Frau
Professor Schavan, vereinbart, dass ich sozusagen anlässlich ihres Geburtstages in Abstimmung mit dem Staatssekretär das Versprechen abgebe, dass wir das jetzt angehen. Sie haben es bereits angesprochen, Herr Rupprecht:
Es ist höchste Zeit. Wir sind am Anfang einer Wahlperiode. Ich denke, solche Vorhaben muss man zu Beginn
einer Wahlperiode angehen.
Ich bin dafür, dass wir von Anfang an die beteiligten
Akteure mit einbeziehen. Dazu gehört im Gesetzgebungsverfahren selbstverständlich die Opposition, dazu
gehören aber auch die Institute, deren Präsidenten und
die Akteure in den zahlreichen Einrichtungen. Das Wissenschaftsfreiheitsgesetz kann wirksam werden, wenn
insbesondere ihr, liebe Gäste auf der Tribüne, hoffentlich
davon Gebrauch macht. Dabei geht es nicht um etwas
Hochtrabendes, wie es der Titel vermuten lässt, sondern
um sehr triviale Fragen, zum Beispiel um Baumaßnahmen und - spätestens dann, wenn wir von der linken
Seite des Hauses damit konfrontiert werden - um Lohnund Gehaltsforderungen. Ich glaube, wir sollten das Gesetz nicht isoliert betrachten, sondern als einen großen
Komplex und als Chance, auf diesem Gebiet zusammenzuarbeiten.
In dem Sinne wünsche ich uns auf der Grundlage des
Gutachtens und hinsichtlich der Bringschuld, die wir haben, weiterhin eine gute Zusammenarbeit.
({1})
Es ist schön, dass Sie gemerkt haben, dass Sie die Redezeit überschritten haben. Aber heute ist weder Ihr Geburtstag noch war es Ihre erste Rede. Es bleibt dabei:
Wir haben keine Mindestredezeit, sondern eine verabredete Redezeit. Ich hoffe, dass wir uns bei unserem
nächsten Zusammentreffen in dieser Konstellation darauf einigen können.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Tankred
Schipanski das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst ein paar Worte an die Opposition: Frau Sitte, Bologna steht heute gar nicht auf der Tagesordnung.
({0})
- Ja, aber in dem EFI-Gutachten steht, dass wir bei Bologna auf einem guten Weg sind.
({1})
Wir haben dieses Thema hier im Hause mehrfach diskutiert und hatten einen Bologna-Gipfel, auf dem wir die
Anregungen aufgegriffen und die Probleme einer Lösung zugeführt haben.
({2})
Bei dem Kollegen Röspel von der SPD hat man den
Eindruck, dass er bei Rot-Grün 1998 stehengeblieben ist
und nicht wahrnimmt, was die christlich-liberale Koalition macht. Wir haben mittlerweile den Bundesbericht
Forschung und Innovation 2010 vorliegen, der die Forschungs- und Innovationskraft unseres Landes umfänglich zeigt, und zwar ganz im Sinne dessen, dass Innovation, Erneuerung und Forschung den Gewinn neuer
Erkenntnisse bedeuten.
Beides kann man staatlich nicht verordnen.
({3})
Staat und Politik können lediglich Rahmenbedingungen
setzen und Impulse geben. Diesbezüglich werden uns
von der Expertenkommission Forschung und Innovation
- kurz EFI - gute Erfolge attestiert. Gleichzeitig gibt es
laut EFI aber auch noch Bereiche, in denen wir unsere
Anstrengungen verstärken müssen. Wir nehmen diese
Empfehlungen ernst und werden unser Ziel, die Innovationskraft Deutschlands auf einem international wettbewerbsfähigen Niveau zu halten, mit allem Nachdruck
verfolgen.
Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigen ein
Blick auf die Zahlen in dem EFI-Gutachten sowie die
Ausführungen unserer Bundesministerin und des Kollegen Rupprecht. Auch die inhaltliche Grundausrichtung
unserer Forschungssysteme ist positiv zu bewerten. Es
gibt zwei Trends, die uns dieses Gutachten aufzeigt: erstens Nachhaltigkeit durch Technologie und zweitens ein
Querschnittsdenken als Antwort auf das Ineinandergreifen der wissenschaftlichen Disziplinen.
Bei den politischen Rahmenbedingungen geht es um
eine klare Schwerpunktsetzung; genau dies empfiehlt
uns auch die Expertenkommission. Mit der HightechStrategie wurden die richtigen Schwerpunkte gesetzt. Sie
beinhaltet die Forschungsschwerpunkte Gesundheit und
Ernährung, Klima und Energie, Mobilität, Kommunikation und Sicherheit.
Diese Forschungsschwerpunkte der Hightech-Strategie werden durch unsere Schlüsseltechnologien, nämlich
Biotechnologie, Nano- und Werkstofftechnologien, optische Technologien und Photonik, verbunden. Bei der konkreten Ausgestaltung dieser Forschungsschwerpunkte hat
die Bundesregierung darauf geachtet, Felder zu vermeiden, die von einem internationalen Subventionswettlauf
gekennzeichnet sind. Es geht uns darum, den Ausbau von
Spitzentechnologien und wissensintensiven Dienstleistungen an bereits existierenden wirtschaftlichen Schwerpunkten zu orientieren.
Dieser Bericht lässt sich mit den Worten „Exzellenz
schaffen - Talente sichern“ zusammenfassen.
Im Folgenden will ich drei Themenfelder kurz anreißen, und zwar die Technologie- und Gründerförderung,
die Netzwerkförderung und die Nachwuchsförderung.
Die Programme „EXIST“, „ZIM“, „KMU-innovativ“
und „INNO-KOM-Ost“ funktionieren, was die Technologie- und Gründerförderung angeht, gut. Das bestätigt
uns auch dieser Bericht.
Wir haben eine umfassende Netzwerkförderung. Dabei geht es um Netzwerke zwischen Forschungseinrichtungen und Hochschulen. Ich verweise auf Aachen,
Jülich sowie die Fachhochschulen in Düsseldorf, Köln
und Bonn, wo das hervorragend funktioniert. Ich verweise aber auch auf Cluster und Netzwerke wie das
schon angesprochene „Solarvalley Mitteldeutschland“
oder das „Automotive Cluster“.
Herr Röspel, ich möchte diesbezüglich richtigstellen,
dass wir im Solarbereich nicht Einspeisevergütungen
sinnlos gekürzt, sondern eine Überförderung abgebaut
und dies mit einer Innovationsallianz Photovoltaik verbunden haben, in die wir 100 Millionen Euro zusätzliche
Forschungsgelder investieren werden.
({4})
Frau Kolbe, zu Ihrer Sorge um die Entwicklung in
den ostdeutschen Bundesländern kann man nur sagen,
dass wir extra ein Programm Innovationsförderung in
den neuen Ländern aufgelegt haben. 2008 standen dafür
81 Millionen Euro zur Verfügung, 2009 waren es
130 Millionen Euro, und 2010 haben wir 143 Millionen
Euro dafür im Haushalt vorgesehen. Das ist ein Erfolgsprogramm, und wir können die Wirkungen in den
neuen Bundesländern auch sehen.
({5})
Mein letzter Punkt betrifft die Nachwuchsförderung.
Uns ist klar, dass junge Wissenschaftler gute Rahmenbedingungen brauchen. Dazu gehören Familien- und Karriereplanung, Kindergartenplätze, aber auch, dass man über
Befristungsregelungen im Arbeitsrecht nachdenken
muss. Für uns ist es wichtig, Akademiker in Deutschland
zu halten und neue aus dem Ausland anzuwerben. Kollege Röhlinger hat bereits unsere Initiative für das Wissenschaftsfreiheitsgesetz umfänglich vorgestellt.
Ich darf abschließen. Der Bericht enthält folgende
Kernbotschaften: Exzellenz schaffen, Talente sichern.
Deutschland hat eine sehr gute Forschungsinfrastruktur,
hohe Kreativität, Erfindergeist und Innovationsbereitschaft. Wir haben die Forschungsschwerpunkte richtig
gesetzt, müssen aber nunmehr unsere Projekte und Initiativen bündeln. Dabei gilt es, laufende Programme
kontinuierlich zu evaluieren und gegebenenfalls nachzujustieren, Kompetenzzentren aufzubauen und die
universitäre Forschung weiter zu intensivieren. Innovationskraft ausbauen, Zukunft sichern, mit diesem Leitbild werden wir die deutsche Forschungslandschaft weiterhin erfolgreich gestalten.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/990, 17/1880 und 17/1958 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Karin Binder, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbraucherinformationsgesetz jetzt verbraucherfreundlich ausgestalten
- Drucksache 17/1576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbraucherinformationsgesetz jetzt novellieren
- Drucksache 17/1983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher
wollen wissen, was in ihren Lebensmitteln drin ist. Viele
wollen zum Beispiel nichts mehr von Unternehmen kaufen, die einst Gammelfleisch in Umlauf gebracht haben.
Und wer isst schon gerne in einem Lokal, in dem er damit rechnen muss, dass im Essen Salmonellen unterwegs
sind? Diese Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher sind völlig berechtigt.
({0})
Es ist unsere Aufgabe als Politik, sie umzusetzen. Dafür
brauchen Verbraucherinnen und Verbraucher zuverlässige Informationen. Genau das sicherzustellen darf man
doch von einem Verbraucherinformationsgesetz erwarten. Doch in der Praxis ist es eine einzige Fehlanzeige.
({1})
In der Praxis - das hat der Praxistest von Greenpeace,
aber auch von vielen anderen zum Vorschein gebracht dient das Gesetz nicht den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Im Gegenteil: Es schützt Behörden und Unternehmen vor den Verbrauchern. Das ist schon ein starkes Stück, finde ich. Die Linke will das ändern.
({2})
Die Ursachen für die Untauglichkeit des Gesetzes liegen auf der Hand. Erstens, die langen Wartezeiten. Wer
will schon Wochen und Monate auf eine Antwort warten? Gerade im Lebensmittelbereich kommen die Informationen dann viel zu spät.
Zweitens, die hohen Kosten. Viele Verbraucherinnen
und Verbraucher lassen sich davon abschrecken.
Drittens, bürokratische Umwege. Verbraucherinnen
und Verbraucher müssen die Informationen - so ist unsere Auffassung - auch direkt von den Unternehmen bekommen und sollten nicht den Umweg über die Behörden wählen müssen.
Viertens, die Passivität der Behörden. Wir wollen,
dass die Behörden von sich aus informieren. Das heißt,
die Behörden müssen aktiv vor Risiken warnen und dürfen nicht darauf warten, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nachfragen.
({3})
Gängige Praxis ist aber, dass die Behörden Informationen unter Verschluss halten, indem sie gebetsmühlenartig auf das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis der Unternehmen verweisen. So kann praktisch jede Anfrage,
die irgendwie mit einem Unternehmen zu tun hat, abgewimmelt werden. Deshalb sage ich: Wir brauchen eine
neue, eine moderne Informationskultur. Die Geheimniskrämerei in den deutschen Amtsstuben muss endlich ein
Ende haben.
({4})
Hier sind unsere Vorschläge:
Erstens. Transparenz muss die Regel sein. Wenn das
öffentliche Interesse überwiegt, dann müssen auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse veröffentlicht werden.
Zweitens. Ganz wichtig ist uns, dass der Informationsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher
nicht auf den Lebensmittelbereich beschränkt wird. Gerade in der Finanzkrise - um hier ein Beispiel zu nennen - muss der Informationsanspruch auch für Finanzprodukte gelten. Ich darf darauf verweisen, dass bei der
Debatte zum VIG vor zwei Jahren nicht nur die Linke,
sondern auch die jetzt regierende FDP diese Forderung
erhoben hat. Wir sind gespannt, wie sie sich heute dazu
positioniert.
Drittens. Information ist ein Recht für alle Menschen
und darf nicht am Geldbeutel scheitern. Daher fordern
wir weitgehend kostenfreien Zugang. Das Verursacherprinzip muss auch für Unternehmen gelten.
({5})
Wer gegen die Vorschriften verstößt oder Risiken
schafft, muss auch für die Folgekosten aufkommen.
Das Verbraucherministerium hat einen breiten Dialog
zu der Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes angekündigt. Das gilt jetzt offenbar nicht mehr: Sie
sind der Einladung zur Konferenz zur Novellierung des
Gesetzes, die unsere Fraktion durchführt, leider nicht gefolgt. Gestern wurde auch eine Anhörung zum VIG im
Ausschuss abgelehnt, obwohl sie seit langem vereinbart
war. Ich finde, ein breiter Dialog sieht anders aus.
Meine Damen und Herren, das Verbraucherinformationsgesetz muss geändert werden. Das duldet im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Aufschub.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Julia Klöckner.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute hier zusammenstehen und dass wir das einlösen, was wir nach
Verabschiedung des Entwurfs des Verbraucherinformationsgesetzes vereinbart haben, nämlich zwei Jahre nach
Inkrafttreten dieses Gesetz zu evaluieren. Das haben wir
damals in der Großen Koalition festgelegt. Es ist richtig,
sich anzuschauen, wie ein Gesetz wirkt.
Ich bin auch deshalb froh, weil wir eines geschafft haben, was Vorgängerregierungen überhaupt nicht gelungen ist: Wir haben nach sechsjähriger Debatte ein Gesetz
verabschiedet, das man evaluieren kann. Interessant ist,
dass jetzt Kataloge mit Maximalforderungen vorgelegt
werden. Bundestagsdrucksachen gehen ja nicht verloren;
man kann darin immer wieder nachlesen. Just diejenigen
Teile der Opposition stellen nun Forderungen auf, die
Vorgängerregierungen angehörten, also richtig viel Zeit
hatten, ihre heutigen Forderungen umzusetzen.
({0})
Man schaue sich einmal die Entwürfe an, die unter
anderem unter Frau Künast vorgelegt worden sind; bis
2005 war ja Rot-Grün an der Regierung. Frau Künast
und die SPD hätten alle Chancen gehabt,
({1})
etwas durchzusetzen.
({2})
Sie erinnern sich noch daran, dass der damalige Wirtschaftsminister Clement den Entwurf von Frau Künast
nicht durchgehen ließ.
({3})
Wir sind mit dem, was wir heute vorlegen, viel weiter als
Sie mit dem, was Sie damals in das parlamentarische
Verfahren eingebracht haben. Dies ist ein guter Tag für
die Verbraucherinnen und Verbraucher, da wir uns dem
Verbraucherinformationsgesetz zuwenden.
({4})
Heute hat in unserem Ministerium eine sehr konstruktive Runde mit Verbrauchervertretern und mit Vertretern
verschiedener Betroffenenverbände stattgefunden. Wie
wir alle wissen, gibt es natürlich eine Bandbreite; es gibt
unterschiedliche Interessen. Zum einen sagen die Verbraucherverbände: Wir brauchen überhaupt keine Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Zum anderen sagen
die Unternehmensvertreter: Wir möchten gar nichts
nach draußen geben; denn wir fürchten Industriespionage etc. - Ich bin mir sicher, dass die Wahrheit weder
auf der einen noch auf der anderen Seite liegt; sie liegt
vielmehr meistens in der Mitte.
({5})
Es ist ganz klar, dass wir die Wirkung des Verbraucherinformationsgesetzes in Ruhe und auf wissenschaftlich fundierter Basis auswerten müssen.
({6})
Das Verbraucherministerium hat deshalb für ein Novum
gesorgt: Es hat drei unabhängige Studien in Auftrag geParl. Staatssekretärin Julia Klöckner
geben - das heißt, das Ministerium macht keine Vorgaben, ohne wissenschaftliche Grundlagen zu haben -, um
alle Anfragen, die es im Zusammenhang mit dem Verbraucherinformationsgesetz bisher gegeben hat, auszuwerten.
In einem föderalen Staat ist es nun einmal so: Die
Länder ticken sehr unterschiedlich. Die Informationskultur ist unterschiedlich. Man muss erst einmal sehen, wie
es läuft, und dann hat man auch die Chance, das, was an
Informationen an die Verbraucherinnen und Verbraucher
gegeben wird, zu harmonisieren. Das war übrigens eines
der Ergebnisse. Ich bin den Koalitionsfraktionen auch
sehr dankbar dafür, dass sie diesen Punkt angesprochen
haben. Der Verbraucher oder die Verbraucherin hat natürlich nicht vor Augen: Welche Informationen bekomme ich, je nach Struktur, nach dem Umweltinformationsgesetz oder dem Informationsfreiheitsgesetz oder
dem VIG? - Das ist ein Punkt, über den wir weiter nachdenken müssen.
Ich bin sehr froh darüber, dass die Studien gezeigt haben: Dieses Gesetz ist ein Erfolg. Bei diesem Gesetz
wird in der Mehrzahl der Fälle fristgerecht gehandelt,
das heißt, Antworten kommen dann, wenn man anfragt.
Natürlich beschweren sich die Umwelthilfe, Foodwatch
und viele andere darüber, dass sie eine Antwort nicht
zeitnah bekommen. Dabei muss man aber auch ehrlich
sein: Das ist ein Verbraucherinformationsgesetz; es ist
kein Warngesetz und auch kein Verbändegesetz, sondern
eben ein Verbraucherinformationsgesetz. Es geht auch
nicht darum, dass wir ständig irgendwelche Warnungen
in die Welt setzen und Panik machen, sondern bei diesem Gesetz geht es darum, dass Anfragen der Verbraucherinnen und Verbraucher beantwortet werden, und
zwar zeitnah und weitgehend kostenlos. Auch das haben
die unabhängigen Studien gezeigt: In der überwiegenden
Zahl der Fälle führt die Anfrage nicht zu Kosten für die
Anfragenden. Wenn überhaupt, dann entstehen Kosten
von maximal 25 Euro, oder es wird ein Kostenvoranschlag ausgegeben.
({7})
Sicherlich kommen nachher von der Opposition Beispiele dafür, dass jemand länger warten musste oder dass
eine Frage aus dem Herbst bis heute nicht beantwortet
worden ist.
({8})
Natürlich muss man sehen, welche Anfragen gestellt
werden. Einige Verbände haben jetzt sogar eine Referentenstelle eingespart, weil sie durch Anfragen bei den Behörden die Informationen bekommen, die sie sich vorher
selbst beschaffen mussten. Wenn bei einer Stelle ein Fragenkatalog mit 112 Fragen eingeht, ist doch verständlich, dass die Fragen nicht bis zur nächsten Woche beantwortet sein können; so fair müssen wir gegenüber den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten in den einzelnen Behörden schon sein.
({9})
Es gibt übrigens sehr gute Beispiele dafür, wie man
auch proaktiv informieren kann. Im Saarland zum Beispiel werden Verfahren zu bußgeldbewehrten Tatbeständen, bei denen es um mindestens 350 Euro geht, ins Internet gestellt.
({10})
Ich bin der Meinung, dass man durchaus noch proaktiver
und transparenter vorangehen kann. Es gibt wunderbare
Beispiele. In Nordrhein-Westfalen hat Herr Uhlenberg,
der Nachfolger von Ihnen, Frau Höhn, Angaben zu Pestizidrückständen ins Internet gestellt, ohne dass danach
gefragt worden war.
({11})
- Sie haben das lange gefordert, aber nie gemacht. Letztlich ist wichtig, was hinten rauskommt, was der Verbraucher davon hat.
({12})
Wir werden in der nächsten Zeit mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern einen Dialog führen. Ich freue
mich sehr darüber, dass sie sich an diesem Dialog beteiligen.
({13})
Dieser Dialog findet auf einer Internetseite statt. Auf
dieser Internetseite beteiligen sich die verschiedensten
Verbände. Dass man solche Studien so offen und in einer
so transparenten Art und Weise vorstellt, hat es noch nie
gegeben. Zu den Studien kann man bis Ende August
Stellung beziehen. Dann werden wir gemeinsam eine
Evaluierung bzw. eine Überarbeitung des Gesetzes vornehmen. Dabei kann ich mir eine Ausweitung des Auskunftsanspruches vorstellen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass noch transparenter zu informieren ist.
Eines ist festzuhalten: Wir haben mit dem Verbraucherinformationsgesetz die Informationskultur in
Deutschland verändert. Das ist der erste Schritt auf einem richtigen Weg. Hätten wir es nicht gemacht, würden
wir noch heute darauf warten.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin mal gespannt, wie die Regierungskoalition „gemeinsam“ definiert. Das ist schon toll.
Ich beginne mit einem Zitat:
Unser Ziel ist es, die Evaluation des VIG als transparenten, offenen und partizipatorischen Prozess zu
gestalten und die Präsentation vorgefertigter Standpunkte zu vermeiden.
So steht es in der Einladung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Klöckner zur Diskussion über den Evaluationsbericht zum Verbraucherinformationsgesetz, die
heute Vormittag - wahrscheinlich wurde sie noch rechtzeitig vor dieser Debatte beendet - stattgefunden hat.
({0})
Offenheit, Transparenz und Partizipation sind für die
Bundesregierung nur leere Worte. Offensichtlich bedeuten sie die Aussperrung der Opposition. Keine einzige
Vertreterin und kein einziger Vertreter der Oppositionsfraktionen war eingeladen. Damit nicht genug: Die SPD
hat gestern im Ausschuss - die Kollegin Lay hat es
schon angesprochen - einen Antrag auf Durchführung
einer öffentlichen Anhörung zur Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes noch vor der Sommerpause gestellt. Er wurde mit der Mehrheit der Stimmen
der Regierungskoalition abgelehnt. Der CDU-Kollege
Bleser hat bereits angekündigt, dass, wenn wir nächste
Woche erneut einen Antrag zum VIG stellen, auch dieser
abgelehnt werde. Das bedeutet für Sie also Offenheit
und Transparenz. Das ist Ihr Umgang mit der Opposition.
({1})
Das ist Ihr Demokratieverständnis, werte Kolleginnen
und Kollegen von der Regierungskoalition.
({2})
Als ich in den Bundestag gewählt wurde, war das Verbraucherinformationsgesetz das erste Gesetz, an dessen
Zustandekommen ich intensiv mitgearbeitet habe. Es ist
sozusagen mein erstes Gesetzeskind.
({3})
Im Vorfeld waren bereits mehrere Versuche für ein Verbraucherinformationsgesetz am Widerstand der CDU im
Bundesrat gescheitert, Frau Kollegin Klöckner.
({4})
Auch dieses Kind war letztendlich eine sehr schwere Geburt. Ich will nicht verhehlen, dass dieses Kind sich nicht
so entwickelt hat, wie ich und die SPD sich das gewünscht hätten. Das ist aber eigentlich kein Wunder;
denn es entsprang ja nicht gerade einer Liebesheirat.
({5})
Schon damals ging uns das Gesetz nicht weit genug, und
einige Schwächen waren bereits absehbar. Es war die
SPD, die eine Evaluierung verlangte, um dieses Gesetz
auf Basis der Erfahrungswerte zu überarbeiten und für
echte Transparenz - das möchte ich betonen - für Verbraucherinnen und Verbraucher zu sorgen.
Der Evaluationsbericht zeigt nun leider, dass all unsere Befürchtungen eingetroffen sind. So ist nun zwar
festzustellen, dass die ersten Behörden anfangen, von
sich aus Informationen ins Netz zu stellen. Trotzdem ist
das Ziel des Gesetzes, mehr Transparenz und einen
leichteren Zugang zu Verbraucherinformationen zu ermöglichen, verfehlt worden. Es zeigt sich, dass Anfragen von Verbraucherinnen und Verbrauchern oft gar
nicht, nicht im gesetzlich vorgeschriebenen Zeitraum
oder überhaupt nicht ausreichend beantwortet wurden.
Die in § 40 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches geschaffene Sollvorschrift, wonach die Behörden
von sich aus aktiv über Rechtsverstöße, Gesundheitsgefahren und Gammelfleischfunde informieren sollen,
wurde bisher kaum angewandt.
Auf der Grundlage der Landesgebührenordnungen
wurden teilweise abschreckend hohe Kosten erhoben.
Die Erhebung der Kosten vom Bearbeitungsaufwand abhängig zu machen, führt natürlich dazu, dass die Verbraucher bei der Antragstellung keine Sicherheit darüber
haben, wie hoch die Kosten letztendlich sein werden.
Anfragen über Rechtsverstöße wurden oft mit der Begründung abgewiesen, dass das Verwaltungsverfahren
noch nicht abgeschlossen sei bzw. ein Rechtsverstoß erst
mit Erlass eines Bescheides vorliege - und dies, obwohl
der Gesetzeswortlaut einen Zugang zu Informationen
über Rechtsverstöße auch während laufender Verwaltungsverfahren ausdrücklich ermöglicht.
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass es
Überarbeitungsbedarf gibt. Umso erstaunlicher ist es,
dass die Koalitionsfraktionen eine sachkundige Diskussion mit Verbrauchervertretern und anderen Fachleuten
im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des zuständigen Ausschusses im Bundestag verweigern. Im Einladungsschreiben zu der heute stattgefundenen Veranstaltung hat Frau Klöckner geschrieben, dass die Zeit bis
September für einen breiten und ergebnisoffenen Dialog
über die Evaluation und die daraus zu ziehenden Konsequenzen genutzt werden soll.
({6})
Es ist wirklich die Frage: Was ist hier breit, was ist ergebnisoffen? Wie wird das hier definiert?
Da die Opposition an diesem breiten Dialog offensichtlich gar nicht beteiligt werden soll, brauchen wir die
öffentliche Anhörung noch vor der Sommerpause; denn
es deutet sich an, dass Frau Klöckner die offenbar gewordenen Schwächen des Gesetzes glattbügeln und mit
minimalen Äußerungen maximale Medienpräsenz erreichen will.
({7})
Ob das Thema Verbraucherschutz bei ihr in guten Händen ist, ist ohnehin zweifelhaft; denn seit heute wissen
wir,
({8})
dass nicht einmal Seniorinnen und Senioren vor ihr sicher sind. Auf einer Postkarte mit der Aufschrift „Wie
viele Heizdecken braucht ein Mensch?“
({9})
verspricht sie, sich für Senioren und gegen Trickser und
Betrüger einzusetzen, gegen - ich zitiere - „belästigende
Telefonwerbung, Abo-Fallen, unlesbare Beschriftung
und Informationsdschungel“. Dagegen will sie kämpfen.
Auf der Rückseite der Karte kann man dann ankreuzen, dass man entsprechende Informationen zugesandt
bekommt. Dazu muss man seine Adresse angeben und
unterschreiben. Bei der Unterschrift gibt es ein kleines
Sternchen, und ganz unten auf der Karte erklärt ein Satz
hinter einem kleinen Sternchen in kleiner Schrift, dass
man sich mit seiner Unterschrift mit der - Zitat - „Erhebung, Speicherung und Nutzung der vorstehenden personenbezogenen Daten“ einverstanden erklärt hat.
({10})
Kurz: Seniorinnen und Senioren, die hier Informationsmaterial bestellen, müssen damit rechnen, von allen Seiten mit CDU-Werbematerial überhäuft zu werden.
({11})
Ich habe das zuerst ernsthaft für einen schlechten
Scherz gehalten, aber das ist leider ernst, und ich finde:
Das ist einer Parlamentarischen Staatssekretärin nicht
würdig.
Vielen Dank.
({12})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Professor Dr. Erik Schweickert.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lay, Sie haben
den breiten Dialog, der angeblich fehlt, angemahnt. Ich
weiß nicht, wie man es noch breiter machen kann, als im
Internet rechtzeitig alle Gutachten zu veröffentlichen
und eine Plattform einzurichten. Wir haben auch gesagt:
Wir werden eine Anhörung machen, aber erst dann,
wenn der Gesetzentwurf vorliegt.
({0})
Wenn Sie sich jetzt hinstellen, Frau Drobinski-Weiß,
und sagen, Sie seien heute Mittag nicht eingeladen gewesen, erwidere ich darauf: Herzliche Grüße zurück!
Die SPD und die Grünen haben uns damals auch nicht
eingeladen. - Wir haben die Opposition nicht eingeladen, aber wir haben Fachleute eingeladen, die das aus ihrer Sicht bewerten, und zwar das komplette Spektrum
vom vzbv über die Umwelthilfe bis zu anderen Verbänden.
({1})
- Herr Kelber, hat Sie Ihre Fraktion nicht reden lassen?
({2})
- Man hört die Zwischenfragen nicht.
Dieses Verbraucherinformationsgesetz gibt es jetzt
seit zwei Jahren.
Kollege Schweickert, gestatten Sie die Zwischenfrage
der Kollegin Binder?
Ja, klar, gerne.
({0})
Herr Kollege Schweickert, gestatten Sie die Frage, ob
dies der Ersatz für ein parlamentarisches Verfahren war,
in dem in einer offiziellen Anhörung des Ausschusses
alle zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker
die Ausführungen der Fachwelt hätten zur Kenntnis nehmen können. Das kann es nicht sein, oder?
Liebe Kollegin Binder, wir haben gerade dargestellt,
dass es eigentlich keinen breiteren Weg gibt, dieses Gesetz zu diskutieren. Dazu werden wir alle Möglichkeiten
nutzen, als einzelne Fraktion und als Regierungskoalition: Das Ministerium lädt zu Terminen ein, man macht
eine Homepage, man sucht den Dialog mit den Betroffenen, man hat die Gutachten vorliegen. Somit besteht jede
Möglichkeit, sich daraus zu informieren. Ich habe Ihnen
vorher gesagt, dass wir selbstverständlich eine Anhörung machen werden, wenn der Gesetzentwurf vorliegt.
({0})
Aber dazu muss man eben erst einmal wissen, womit
man sich auseinandersetzt.
({1})
Dazu gehört, dass man einfach auch einmal zur Kenntnis
nimmt, dass das Verbraucherinformationsgesetz, liebe
Frau Binder, ein paar Punkte enthält, bei denen auch wir
sagen: Da kann man noch etwas verbessern. Insofern
sind wir im grundsätzlichen Anliegen bei Ihnen. Wir
wollen zum Beispiel, dass der Verbraucher noch mehr
Transparenz erhält. Was ist denn geschehen? Proaktive
Transparenz wurde erreicht. Insbesondere im Lebensmittelbereich gab es erfreuliche, positive Entwicklungen.
Kollege Schweickert, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal von der Kollegin Maisch?
Sehr gerne.
Danke, Herr Schweickert, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu fragen. - Ich hätte noch eine Nachfrage zu
diesem Gespräch. Sie sind kein Mitglied der Bundesregierung, obwohl Sie ja sehr fähig sind.
({0})
Warum waren Sie als Parlamentarier geladen, und woher
hatten Sie die Einladung? Warum hatten wir als Mitglieder der Oppositionsfraktionen keine?
Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welchem Weg die
Einladung kam. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich eine
Einladung zu diesem Gespräch hatte, wie viele andere
Verbände auch.
({0})
Wir sind zu diesem Gespräch gegangen, um uns anzuhören, wie die Meinungen sind. Wenn Sie zu den Formalitäten der Einladung Fragen haben, dann müssen Sie
diese den Einladern stellen. Da ich nicht der Einlader
war, kann ich Ihnen, Frau Kollegin Maisch, das leider
nicht beantworten.
({1})
Es gibt laut Gutachten auch Schwächen. 487 Anfragen wurden gestellt, allerdings nur ein Bruchteil davon
von Privatpersonen. Dazu muss ich sagen: Es ist ein Verbraucherinformationsgesetz und kein Verbändeinformationsgesetz. Es ist sicherlich eine Schwäche, dass wir in
diesem Bereich nicht mehr Anfragen haben.
Ich habe mich gefragt: Warum ist dies so? Was können wir verbessern? Vielleicht ist es etwas zu kompliziert, zu intransparent oder zu bürokratisch. Wir mussten
in diesem Zusammenhang auch feststellen, dass die Kosten und Gebühren vor der Anfrage nur eingeschränkt abschätzbar sind. Das ist von Bundesland zu Bundesland
unterschiedlich. Einen einheitlichen Gebührenkatalog
gibt es leider nicht.
Auch halte ich das Gesetz für nur bedingt alltagstauglich: Wenn ich morgen Mittag in einer Dönerbude etwas
essen möchte, dann will ich, wenn ich vor dem Laden
stehe, wissen, ob ich unbeschwert hineingehen kann,
und möchte nicht erst eine Anfrage stellen, um dann
nach zwei Monaten zu wissen, ob ich ohne Sorge hineingehen kann oder nicht. Dann bin ich wahrscheinlich verhungert. Ein paar Punkte sind mir also etwas zu stark
formalisiert.
Der Flickenteppich, bestehend aus Umweltinformationsgesetz, Verbraucherinformationsgesetz und Informationsfreiheitsgesetz, führt dazu, dass wir zu viele unterschiedliche Regelungen haben, was teilweise zur
Folge haben kann, dass eine Anfrage nicht beantwortet
wird.
Zu diesen Hauptmängeln kommen vielleicht noch ein
paar kleine Hindernisse hinzu. Zu diesem Ergebnis kommen die Gutachten. Wir als Koalition haben gesagt: Wir
wollen dies verbessern. Das heißt für mich, aus den Kritikpunkten zu lernen und klar zu sagen: Es muss eine
einheitliche Gebührenordnung geben. Der Auskunftsersuchende muss vorher wissen, was ihn seine Anfrage
kostet, und dann kann er sich entscheiden, ob er sie stellt
oder nicht. Ich hoffe, dass dieses Instrument dann von
mehr Privatpersonen und weniger von den Verbänden
genutzt wird.
Zum Zweiten haben wir als christlich-liberale Koalition in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass
wir den Flickenteppich beseitigen und die drei Gesetze,
das Umweltinformationsgesetz, das Informationsfreiheitsgesetz und das Verbraucherinformationsgesetz, zusammenführen. Durch diese Zusammenführung - das
hat die Kollegin Lay vorhin angesprochen - würde die
Forderung, die wir erhoben haben und immer noch erheben - wir wünschen uns eine Ausdehnung des VIG, zum
Beispiel auf Finanzdienstleistungen -, obsolet, weil es
nach dem Informationsfreiheitsgesetz die Möglichkeit
gibt, an bestimmte Informationen heranzukommen.
Uns geht es darum, eine schnelle Orientierung für den
Verbraucher zu ermöglichen. Das könnte zum Beispiel
das Smiley-System für Gaststätten nach dänischem Vorbild sein. Damit kann man positive Anreize für mehr
Hygiene, mehr Transparenz und mehr Verbraucherschutz schaffen, ohne dabei die Unternehmen mit zu viel
Bürokratie zu belasten.
Dabei ist natürlich auch wichtig - so fair muss jeder
sein, der diese Forderung erhebt -, den Bereich der Lebensmittelkontrolle zum einen personell und zum anderen technisch in die Situation zu versetzen, dies auch
umsetzen zu können. Schauen Sie sich einmal an, wie
das in Dänemark funktioniert: Da bekommt man sofort
einen Ausdruck. Man weiß sofort, welche Hygienemängel auf der Toilette oder sonst wo zu einer Abstufung geDr. Erik Schweickert
führt haben. - Wenn wir so vorgehen wollen, dann müssen wir das auch sagen und dazu stehen.
Freiwillige Qualitätssiegel in anderen Wirtschaftsbereichen könnten in dieser Hinsicht das Ihrige dazu beitragen.
Bei aller notwendigen Verbraucherinformation - das
sage ich bezüglich der Anträge der Grünen und der Linken - muss gewährleistet sein, dass Unternehmen ihre
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse wahren können.
Wir sind ganz klar gegen eine Ausweitung der Informationspflichten von Unternehmen, weil wir der Meinung
sind, dass dies zu einer bürokratischen Überfrachtung
insbesondere kleinerer und mittlerer Unternehmen führen würde. Die Unternehmen sind schon nach heutiger
Gesetzeslage dazu verpflichtet, den Behörden Auskunft
zu geben. Wenn jetzt aber jeder Pizzabäcker bei jeder
Anfrage sagen muss, woraus sich seine Pizza zusammensetzt, dann muss er jemanden einstellen, der nur
diese Anfragen bearbeitet.
({2})
Das kann ja nicht sein. Die Evaluierungen haben uns gezeigt, dass in einigen Behörden Leute eingestellt werden
mussten, um Fragenkataloge mit mehr als 100 Fragen
abzuarbeiten.
({3})
- Herr Kelber, wenn Sie fordern, dies auf die Unternehmen auszudehnen, dann verabschiedet sich die SPD
({4})
von einer Partei, die sich auch darüber Gedanken macht,
ob die Wirtschaft so etwas schultern kann oder nicht.
({5})
Ich komme zum Schluss. Mehr Transparenz statt
mehr Bürokratie, einfache, aber dafür für den Verbraucher verständliche, niedrigschwellige und im Alltag anwendbare Informationen - dafür stehen wir als FDP in
der christlich-liberalen Koalition. Wir werden uns dafür
gemeinsam einsetzen und entsprechend an der Novellierung des VIG arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Die Kollegin Klöckner hat um die Möglichkeit einer
Kurzintervention gebeten. - Bitte schön.
Ich bedanke mich. Die Kollegin Drobinski-Weiß hat
mich in ihrer Rede angesprochen. Dann hat man ja die
Möglichkeit, darauf einzugehen.
Liebe Frau Drobinski-Weiß, ich bedanke mich sehr
herzlich für die Werbung für die CDU Rheinland-Pfalz.
Sie haben darauf hingewiesen, dass wir uns um die Verbraucherinnen und Verbraucher kümmern.
({0})
Die Seniorinnen und Senioren werden oft Opfer krimineller Machenschaften. Das haben wir erkannt; deshalb
nehmen wir uns dieses Problems an.
Ich möchte der Vollständigkeit halber noch etwas erwähnen, was Sie vorhin nicht gesagt haben: Man sollte
zwischen Partei - das ist eine Parteiveranstaltung gewesen - und Regierung trennen. Das wird auf dieser Karte
nicht vermischt.
Ich habe mir diesbezüglich einmal die Seite der Bundes-SPD angeschaut. Man muss dort unterschreiben, und
am Unterschriftenfeld ist auch ein Sternchen, zu dem
steht:
Ich bin damit einverstanden, dass meine personenbezogenen Daten … vom SPD-Parteivorstand gespeichert werden können.
Das heißt, die SPD wie auch die CDU halten sich an die
vorgegebenen Datenschutzbestimmungen.
({1})
Das halte ich für absolut notwendig.
Auf der angesprochenen Karte muss man ankreuzen,
ob man etwas haben möchte oder nicht. Ich denke, wir
sollten hier ehrlich bleiben. Man muss trennen zwischen
Arbeit der Regierungspartei und Parteiarbeit. Das haben
Sie vielleicht nicht getan, wir aber tun das. - Danke noch
einmal für die Werbung.
({2})
Kollegin Drobinski-Weiß, Sie haben das Wort zur
Antwort.
Wenn ich das richtig verstanden habe, kann ich diese
Informationen von Ihnen gar nicht anfordern, wenn ich
nicht unterschreibe. Ich muss das also unterschreiben.
Das ist es, was falsch daran ist. Außerdem brüsten Sie
sich doch immer damit, wie sehr Sie sich für die Seniorinnen und Senioren einsetzen. Entschuldigen Sie bitte,
in diesem Fall braucht man eine ganz besonders starke
Brille, um das lesen zu können.
Ich hoffe natürlich sehr, dass Sie Ihr Amt als Parlamentarische Staatssekretärin nicht missbrauchen, um die
entsprechenden Informationskampagnen und Aktionen
für Ihren Wahlkampf zu starten.
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Verbraucherschutz sind die Verfallsdaten eine wichtige Sache, nicht nur bei Joghurt und anderen Produkten, sondern
manchmal auch bei Gesetzen. Als das Verbraucherinformationsgesetz beschlossen wurde, hat der Gesetzgeber
der Regierung klugerweise ins Stammbuch geschrieben,
man solle nach zwei Jahren eine Bilanz ziehen, evaluieren, und gegebenenfalls Verbesserungen vornehmen.
Die Opposition sieht sich zusammen mit Verbänden
wie der Deutschen Umwelthilfe oder dem vzbv mit diesem Bericht in ihren Forderungen nach mehr Anwenderfreundlichkeit und breiteren Informationsansprüchen bestärkt. Auch im Evaluationsbericht der Uni Marburg, den
Sie in Auftrag gegeben haben, wird deutlich: Die Gebührenerhebung ist intransparent, und es fehlt eine Systematisierung der gesetzlichen Informationsrechte. Das heißt,
die Verbraucher und manchmal auch die Verbände wissen nicht, ob jetzt das Informationsfreiheitsgesetz, das
Verbraucherinformationsgesetz oder das Umweltinformationsgesetz einen Informationsanspruch begründet.
Außerdem fehlt die Rechtsklarheit, welche Behörden
auskunftspflichtig sind.
All das macht deutlich: Als Horst Seehofer von einem
„Meilenstein des Verbraucherschutzes“ sprach, war er
auf dem falschen Dampfer.
({0})
Es war höchstens ein kleines Schrittchen. Es besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf.
Ein Beispiel dafür ist das Thema „aktive Behördenauskünfte“. In Pankow, übrigens unter grüner Verantwortung, werden die Behörden aktiv und veröffentlichen
die Ergebnisse der Lebensmittelüberwachung.
({1})
Das heißt, wenn die Frittenbude um die Ecke Rattenkot
in der Küche hat, informiert Sie Ihr grüner Bürgermeister im Internet darüber. Ich denke mir: Was in Pankow
unter grüner Verantwortung funktioniert, müsste doch
eigentlich auch bundesweit zu machen sein.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Thema
Betriebsgeheimnis eingehen. Das Betriebsgeheimnis wird
immer als ein Argument gegen breitere Informationsansprüche ins Feld geführt. Die genaue Zusammensetzung
der Currysoße auf der Fritte ist natürlich Betriebsgeheimnis. Der Rattenkot in der Küche ist kein Betriebsgeheimnis. Die Information darüber ist verbraucherrelevant und
gehört am besten auf einen Zettel, der im Schaufenster
ausgehängt wird.
({3})
Ein weiteres Argument, das immer wieder gegen eine
Ausweitung von Informationsansprüchen angebracht
wird, ist die Tatsache, dass die meisten Anfragen von
Journalisten oder Verbänden wie Foodwatch, aber eben
nicht von Privatpersonen stammen. Ich finde, dieses Argument sticht nicht. Es ist doch sinnvoll, dass Verbände
und Journalisten stellvertretend für die Verbraucherinnen
und Verbraucher die Arbeit eines Wachhundes auf den
Märkten übernehmen. Es würde Ihnen auch nicht passen, wenn jeder politisch interessierte Bürger im Kanzleramt anriefe, um zu erfahren, wo genau Sie sparen
wollen. Es ist gut, dass die Medien dies stellvertretend
tun. Genauso ist es im Verbraucherbereich.
({4})
Die proaktive Art, mit der Foodwatch und verschiedene Journalisten Informationen zum Beispiel über
Gammelfleisch in die Presse bringen, führt zu fairen und
transparenten Marktbedingungen für die Konsumenten
und die Wettbewerber. Wenn Anbieter von Gammelfleisch schneller aus dem Verkehr gezogen werden, nützt
das nicht nur den Verbrauchern, die das nicht mehr essen
müssen, sondern auch den Wettbewerbern, die seriös
und ehrlich wirtschaften.
Wir fordern ein umfassendes, wirksames und unbürokratisches VIG, das den Interessen aller Konsumenten
und der seriösen Marktteilnehmer dient. Professor
Schweickert hat das Beispiel Dänemark genannt. Ich
finde es gut, wenn Sie sich an den Dänen orientieren wollen; denn die sind in diesem Bereich weiter als wir. Die
hängen die Ergebnisse der Hygieneüberwachung schön
im Schaufenster des Restaurants aus. Ich wünsche Ihnen
viel Erfolg bei den Auseinandersetzungen mit dem
DEHOGA, der das furchtbar findet. Ich denke aber, dass
Sie beim DEHOGA noch einen gut haben.
({5})
Das Wort hat nun Lucia Puttrich für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Drobinski-Weiß, ich bin schon ein bisschen verwundert darüber, dass Sie sich von dem distanzieren,
was Sie selbst mit beschlossen haben.
({0})
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie beteiligt waren, als
das Verbraucherinformationsgesetz beschlossen wurde.
({1})
Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass Sie nicht ein
Drittel Ihrer Redezeit darauf verwenden, Reklame zu
machen - auch wenn das für uns positiv ist -, sondern
sich mit den Inhalten beschäftigen.
Ich kann nur feststellen, dass die Grünen offensichtlich von Neid zerfressen sind, weil sie nicht hinbekommen haben, was die nächste Regierung geschafft hat.
({2})
Wir sind diejenigen, die das Verbraucherinformationsgesetz beschlossen haben;
({3})
wir sind den historischen Schritt gegangen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Herr Kelber, ich habe gehört, dass Sie nicht zu Wort
gekommen sind. Sie würden jetzt gern reden?
({0})
Ja oder nein?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, vielen Dank für Ihr Mitleid mit in der
eigenen Fraktion unterdrückten Kollegen.
({0})
Sie sind seit September 2009 Abgeordnete, waren
also zu Zeiten der Großen Koalition noch keine Abgeordnete. Deswegen meine Frage: Hat Sie Ihr Sprecher,
Peter Bleser, einmal informiert, wie damals die Verhandlungen über das Verbraucherinformationsgesetz gelaufen
sind? Hat er Sie insbesondere darüber informiert, wie es
sich mit dem Versuch verhielt, über die aktive Benachrichtigung nachzuverhandeln? Alle Ländervertreter und
die SPD haben gesagt: Wir wollen das Instrument schärfen. - Minister Seehofer hat gesagt: Ja, ich will das. - Es
gab aber einen im Raum, der gesagt hat: Ich lege mein
Veto ein.
({1})
Das war der Sprecher der CDU/CSU. Insofern dürfen
wir schon kritisieren, was mit Ihnen nicht machbar war
und scheinbar auch jetzt nicht machbar ist.
Herr Kelber, ich darf Ihnen versichern, dass unser
AG-Sprecher die Mitglieder der Fraktion in seiner allumfassenden Fürsorge natürlich informiert und dass wir
darüber hinaus des Lesens mächtig sind und uns über
Sachverhalte informieren können. Ich kann nur sagen:
Das, was Sie gesagt haben, hat den Sachverhalt nicht
verändert und auch nicht erhellt. Fakt ist, dass die SPD
gemeinsam mit der CDU/CSU dieses Gesetz beschlossen hat. So viel dazu.
({0})
Ich wundere mich darüber, dass Sie sich im Zusammenhang mit der Verfahrensweise über die Evaluierung
dieses Gesetzes beklagen. Auf die drei Gutachten, die in
Auftrag gegeben worden sind, brauche ich nicht weiter
einzugehen. Die Sachverständigen wurden schon sehr
früh einbezogen. Bei der Erstellung des Gutachtens wurden erst einmal alle Anfragen untersucht. Darüber hinaus sind schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Verbraucherorganisationen einbezogen worden. Sie können also
davon ausgehen, dass diese drei Gutachten eine sehr fundierte Grundlage sind, um die Evaluation dieses Gesetzes weiter zu betreiben.
Was man schon jetzt feststellen kann, ist, dass sich
dieses Gesetz bewährt hat, auch wenn es selbstverständlich weiterentwickelt werden soll und weiterentwickelt
wird. Sie haben es vorhin angesprochen: Natürlich sind
wir dabei, uns nicht nur theoretisch sachkundig zu machen, sondern wir sprechen auch mit denjenigen, die dieses Gesetz anwenden und praxiserfahren sind, seien es
Verbände, Länder oder Behörden, und die uns ganz klar
sagen, wie sich dieses Gesetz in zwei Jahren bewährt
hat. Das ist der sinnvollste Weg. Ich bedaure sehr, dass
Sie diese Informationen nicht haben wollen. Schließlich
wollen Sie ohne diese Informationen eine Anhörung
durchführen, deren Sinn sich mir überhaupt nicht erschließt. Selbstverständlich werden wir die Anregungen,
die wir für sinnvoll halten, aufnehmen, aber erst dann,
wenn der Zeitpunkt gekommen ist, um die entsprechende Novellierung zu formulieren.
Lassen Sie mich auf ein paar Dinge eingehen, die Sie
meines Erachtens falsch darstellen. Sie stellen einige Behauptungen auf, die schlicht und ergreifend unhaltbar
sind. So behaupten Sie, dass das VIG den Praxistest
nicht bestanden habe. Wenn Sie sich mit dem Gutachten
vertieft beschäftigen, dann stellen Sie fest, dass genau
das Gegenteil der Fall ist, dass sich nämlich das VIG im
Grundsatz bewährt hat und Ihre Aussage schlichtweg
falsch ist.
({1})
Wenn Sie immer wieder behaupten, dass immense
Kosten entstünden, dann machen Sie bewusst oder unbewusst eine falsche Aussage. Sie suggerieren, eine Auskunft koste normalerweise 1 000 Euro. Wenn Sie sich
auch hier ein bisschen besser informieren würden - da
kann ich nur sagen: Lesen erhellt -, würden Sie feststellen: 80 Prozent aller Antworten auf Anfragen waren kostenlos. Bei gebührenpflichtigen Antworten lagen die Gebühren in der Regel zwischen 5 und 25 Euro. Höhere
Beträge waren der Ausnahmefall, und zwar nur in den
Fällen, in denen die Anfragen sehr umfangreich gewesen
sind.
Sie behaupten auch, die langen Bearbeitungszeiträume hätten die Anfrager abgeschreckt. Dazu kann man
nur sagen: Diese Behauptung ist unhaltbar. Die Fakten
widersprechen dieser Behauptung.
Die Linken fordern, dass die Ergebnisse der VIGEvaluation umgehend veröffentlich werden. Noch mehr
Transparenz als im Moment kann doch überhaupt nicht
mehr erfolgen.
({2})
Die Gutachten sind veröffentlicht worden; Sie können
sie im Internet nachlesen. Der ganze Dialogprozess wird
über das Internet stattfinden. Jetzt könnte ich Sie ein bisschen provokativ fragen, ob Sie so viel Basisdemokratie
nicht aushalten können; denn demokratischer geht es in
der Tat nicht.
({3})
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich habe den
Eindruck, dass Sie entweder schlecht informiert sind
oder sich einfach nicht informieren wollen. Vielleicht
gilt für Sie das Motto: Vertiefte Sachkenntnis verhindert
fröhliches Debattieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie möchten den
Anwendungsbereich ausweiten. Das würde bedeuten,
dass die Wirkung des VIG verwässert wird. Deshalb sagen wir Ihnen ganz klar, dass wir das nicht mittragen
werden. Sie wollen, dass die Unternehmen die Auskünfte direkt geben. Ich glaube, dass es im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher ist, dass die Auskünfte über die Behörden gegeben werden. Dass die Behörde eingeschaltet wird, was Sie bemängeln, ist meines
Erachtens positiv zu sehen, weil eine neutrale Behörde
zur Erteilung von Auskünften mit Sicherheit sinnvoll ist.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Beispiel nennen. Sie behaupten immer wieder, dass im Moment noch
keine Missstände veröffentlicht wurden. Ich komme aus
Hessen. Die dortige Verbraucherschutzministerin ist mit
einem ausgesprochen positiven Beispiel vorangegangen.
({4})
Es gab ein Restaurant, das Mogelschinken verwendete,
ihn aber auf der Karte anders deklarierte.
({5})
Daraufhin ist dieses Restaurant verwarnt worden. Nach
der ersten Verwarnung kam der zweite Schlag. Im Internet wurde veröffentlicht, dass sich das Restaurant nicht
an die Vorgaben gehalten hat. Das hat für entsprechende
Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt.
({6})
Daran sehen Sie, welche Wirkung erzielt wird, wenn
man die vorhandenen Möglichkeiten nutzt. Hoffentlich
werden andere diesem Beispiel folgen;
({7})
denn ein Unternehmen, das diese Erfahrung gemacht
hat, wird sich zukünftig etwas vorsichtiger verhalten.
Wir würden uns wünschen, dass Sie konstruktiv an
der Evaluierung mitarbeiten,
({8})
anstatt hier Polemik an den Tag zu legen.
Besten Dank.
({9})
Die Aussprache ist beendet.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1576 und 17/1983 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({1})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({3}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 17/1683, 17/2009 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Marieluise Beck ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/2010 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Petra Merkel ({6})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Rainer Stinner für die FDP-Fraktion das Wort.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man damals den gewählten Präsidenten des Kosovo Rugova besucht hat, kam man mit zwei Dingen zurück. Erstens. Jeder bekam einen Stein. Das war das
Symbol dafür, welche ungeheuren Bodenschätze im Kosovo vorhanden sind.
({0})
- Liebe Marieluise, du hast natürlich einen Edelstein bekommen. Ich musste mit einem einfachen Stein vorliebnehmen. Dafür habe ich aber großes Verständnis.
({1})
Das Zweite, das man mitnahm, war die tausendfache
Versicherung, dass ausschließlich die Unabhängigkeit
des Kosovo alle Probleme löse.
Die Bodenschätze liegen immer noch im Kosovo, und
mit der Unabhängigkeit sind weiß Gott nicht alle Probleme gelöst worden. Keine Frage: Die Probleme im
Kosovo sind immer noch immens. Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, fehlende Verwaltungsstrukturen,
Korruption, Kriminalität, ein Sammelsurium von internationalen Vertretungen, deren Begrifflichkeiten auch
uns manchmal schwindelig machen: UNMIK, EULEX,
ICO, KFOR usw. Wir wissen, dass viele dieser Organisationsstrukturen der bisher nicht einheitlichen internationalen Vereinbarungen bezüglich des Status des Kosovo geschuldet sind. Wir müssen deshalb zunächst
einmal damit leben. Ich bin auch zwei Jahre nach der
Unabhängigkeit klar der Meinung, dass die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo im Jahre 2008 der
einzig richtige, wenn auch kontroverse Weg gewesen ist.
Wir als FDP-Fraktion stehen nach wie vor voll dazu.
({2})
Wir diskutieren heute über die Verlängerung des
KFOR-Mandates. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis,
wenn ich sage, dass wir als FDP-Fraktion dem Antrag
der Bundesregierung zustimmen werden. Aber wir müssen etwas genauer betrachten, was im Kosovo passiert.
Bei den Sicherheitsorganen steht die KFOR mittlerweile
an dritter Stelle - das hat sich am 30. Mai in Mitrovica
erwiesen: nach den KSF, dessen Aufbau sehr schwierig
war, und den EULEX-Polizisten. Das militärische Engagement der KFOR ist nach wie vor notwendig, bis die
Sicherheitsstrukturen im Kosovo so aufgebaut sind, dass
gewährleistet ist, dass alle Bevölkerungsteile durch die
Sicherheitsorgane des Kosovo nachhaltig geschützt sind.
Wir als FDP-Fraktion begrüßen die Reduktion der
KFOR-Truppen von insgesamt 15 000 auf 10 000 Soldaten. Das ist ein richtiger Schritt. Wir begrüßen auch, dass
die NATO erwägt, im Rahmen des sogenannten Gate 2
die Anzahl der NATO-Soldaten auf 5 500 abzusenken,
und zwar verantwortungsvoll, liebe Frau Kollegin Beck.
Ich glaube, wir können es verantworten, im Laufe des
Jahres damit zu beginnen.
({3})
Wir halten es auch für richtig, dass die Bundesregierung die Obergrenze des deutschen Mandats von 3 500
auf 2 500 Soldaten absenkt. Zur Erinnerung: Wir haben
gegenwärtig 1 500 Soldaten dort. Ich bin der Meinung,
dass wir im Zuge der weiteren Verringerung auf
800 Soldaten gehen können - deutlich unter 1 000 Soldaten -, um für uns, aber auch für unsere Bürger das Signal zu senden: Auslandseinsätze sind keine Neverending-Story. Wir sind in der Lage, durch Politik dafür
zu sorgen, dass die Präsenz von Soldaten im Ausland
verantwortungsvoll - sehr verehrte Frau Beck, da sind
wir beieinander - verringert werden kann.
({4})
- Zu Recht, allein schon wegen der Edelsteine. Du hast
die Edelsteine. Ich habe die einfachen Steine.
Der Einsatz im Kosovo wurde im Jahr 1999 - gleich
erwarte ich einen Aufschrei von links - aus humanitären
Gründen begonnen. Wer das bezweifelt, nachdem wir
alle in den 90er-Jahren erleben konnten, was zum Beispiel in Sarajevo auf der Snipers Alley oder in Srebrenica passiert ist, der hat meiner Meinung nach ein etwas
verschrobenes Bild von Humanität. Das musste unter allen Umständen verhindert werden, und das ist geschehen.
({5})
- Ich habe es erwartet, aber Sie haben es nicht getan.
Vielleicht finden Sie sich mit der Wahrheit ja langsam
ab, Herr Gehrcke. Das würde mich natürlich noch mehr
erfreuen.
({6})
Wir können heute zum Glück feststellen, dass ein
Rückfall in militärische Auseinandersetzungen im Kosovo gegenwärtig von niemandem erwartet wird. Trotzdem ist die Sicherheitslage alles andere als erfrischend
und befriedigend. Aber der Aufbau von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und vor allen Dingen einer sich
selbst tragenden Wirtschaft ist weiß Gott nicht so weit,
wie wir es hätten erwarten, vermuten und hoffen können.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auch mit dem,
was die internationale Gemeinschaft erreicht, nicht zufrieden bin. Ich finde, die neun oder zehn Jahre von
UNMIK waren kein Erfolgserlebnis und sind keine
Krone internationaler Handlungsfähigkeit. Wenn ich daran denke, dass auch nach zehn Jahren internationalen
Engagements und vollständiger internationaler Beherrschung des Kosovo durch die Vereinten Nationen zum
Beispiel die Energieversorgung im Kosovo immer noch
stundenweise unterbrochen wird, dann ist das weiß Gott
kein Ruhmesblatt.
Auch was Rechtsstaatlichkeit und Kriminalität angeht, müssen wir mit Erschrecken den Bericht der International Crisis Group vom 19. Mai dieses Jahres zur
Kenntnis nehmen, die - das kann man nicht anders sagen zu einem wirklich verheerenden Urteil über die Rechtsstaatlichkeit im Kosovo kommt. Darin wird gesagt: Es
gibt einzelne Elemente von Rechtsstaatlichkeit im Kosovo; aber das System insgesamt funktioniert leider
überhaupt nicht. Wir alle wissen, dass das Fehlen eines
funktionierenden Rechtsstaates Investitionen verhindert
und insofern auch den weiteren wirtschaftlichen Aufbau
im Kosovo.
Die Kosovo-Mission ist eine von drei militärischen
Interventionen des Westens auf dem Balkan in den letzten 20 Jahren. Die unbekannteste, aber erfolgreichste
Mission fand im Jahr 2001 in Mazedonien statt. Dort ist
durch das Eingreifen des Militärs dafür gesorgt worden,
dass erst gar kein Krieg ausgebrochen ist. Das heißt, hier
ist der Beweis angetreten worden, dass durch den klugen
Einsatz von militärischen Mitteln Kriege verhindert werden können. Das ist eine gute Nachricht, die manche in
diesem Hause - das weiß ich - gar nicht gerne hören.
Nach den furchtbaren Ereignissen der 90er-Jahre in
Bosnien-Herzegowina wurde das Dayton-Abkommen
geschlossen. Dann wurden über 50 000 NATO-Soldaten
zur Befriedung hingeschickt. Wir stellen heute fest: Die
Mission ist stark reduziert worden. Wir haben jetzt nur
noch etwas mehr als 1 000 Soldaten dort. Wir sind der
Meinung, dass wir diese Mission in absehbarer Zeit insgesamt beenden können. Auch das ist eine erfolgreiche
NATO-Mission gewesen.
Auch im Kosovo waren zunächst mehr als
50 000 Soldaten. Ich habe die Zahlen von heute genannt.
Auch hier gehen die Zahlen richtigerweise nach unten.
Wenn wir über Auslandseinsätze sprechen, steht heute
überwiegend das Thema Afghanistan im Vordergrund.
Dabei wird häufig vergessen, dass die Soldaten der Bundeswehr auch im Kosovo über viele Jahre hinweg unter
schwierigsten Bedingungen einen beispielhaften Einsatz
geleistet haben. Unsere Soldaten haben mit ihren Kameraden aus den anderen Ländern dafür gesorgt, dass weiterer Krieg verhindert wurde. Das ist ein großes Kompliment für die Soldaten. Ich glaube, die Bundeswehr und
wir alle können stolz auf den Einsatz Deutschlands im
Kosovo sein.
({7})
Aber auch auf dem Balkan gilt: Militär kann nur die
Grundlage für den Aufbau einer Gesellschaft bilden. Daran mangelt es ja; das ist gar keine Frage. Dennoch gilt
für uns die starke politische Aussage des Jahres 2003, als
die EU gesagt hat: Jawohl, auch für die Staaten des westlichen Balkans gilt die europäische Perspektive. Sie gilt
nach wie vor. Wir wissen, wie steinig und schwierig der
Weg ist, den die einzelnen Länder gehen müssen. Die
Balkan-Konferenz vor zehn Tagen, eine Konferenz der
Europäischen Union mit den Ländern des westlichen
Balkans, hat das noch einmal bestätigt.
Die Staaten des westlichen Balkans, auch das Kosovo, haben die Möglichkeit, politisch zu Europa zu
kommen; geografisch gehören sie zu Europa. Die Tür zu
Europa steht offen; den Weg müssen sie selbst beschreiten. Dabei wollen wir ihnen helfen. Ich sage Ihnen:
Meine Fraktion ist der Meinung, dass auch Bundeswehrsoldaten helfen müssen, die Region zu stabilisieren, bis
dieser Weg beschritten werden kann. Deshalb werden
wir den Kosovo-Einsatz nach wie vor befürworten und
ihm zustimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in
diesen Zeiten von Auslandseinsätzen der Bundeswehr
die Rede ist, geht es in der Regel um Afghanistan. Der
Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo ist ein
Stück in Vergessenheit geraten. Das darf eigentlich nicht
sein. Man muss sich überlegen, womit wir es zu tun haben. Das Kosovo liegt im Grunde genommen mitten in
Europa und vor unserer Haustür. Wenn man überlegt,
dass man das Kosovo von München aus innerhalb von
zwei Flugstunden erreicht, wird deutlich, wie wichtig es
ist, dass diese Region die Perspektive auf Frieden und
Freiheit hat. Dazu müssen wir unseren Beitrag leisten.
Wir haben heute den 10. Juni. Am 10. Juni 1999 beschloss der Sicherheitsrat die Resolution 1244, auf deren
Grundlage der Versuch unternommen wurde, eine internationale Übergangsverwaltungsmission zu schaffen.
Diese internationale Übergangsverwaltungsmission ist
im ersten Redebeitrag kritisiert worden. Ich denke, das,
was dargestellt worden ist, ist nachvollziehbar. Aber ich
stelle mir auch immer die Frage: Was wäre passiert,
wenn man nichts unternommen hätte? Deswegen muss
man mit Kritik an den Ergebnissen der Übergangsverwaltungsmission vorsichtig umgehen.
({0})
- Vielen Dank, Frau Beck.
Unsere Aufgabe ist, glaube ich, ganz einfach zu umschreiben. Es geht darum, das Kosovo in eine substanzielle Autonomie zu befördern. Dies ist auch in der Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahre 2008 enthalten, in
der es um die sogenannte überwachte Souveränität geht.
Die Aufgaben stellen sich in gleicher Weise. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass im Kosovo und in dessen
Umgebung ein sicheres Umfeld geschaffen wird. All die
damit einhergehenden politischen Probleme sind im
Grunde genommen nur lösbar, wenn wir es schaffen,
selbsttragende Sicherheitsarchitekturen zu schaffen und
den Einwohnerinnen und Einwohnern der verschiedensten Ethnien im Kosovo ein sicheres Umfeld zu bieten.
Das ist, wie ich glaube, nach wie vor die Aufgabe, der
wir uns stellen müssen. Die militärische Sicherheit wird
durch KFOR gewährleistet.
Zu dieser Aufgabe gehört aber auch, ein sicheres Umfeld zu schaffen und die Aufrechterhaltung öffentlicher
Sicherheit und Ordnung im Kosovo zu gewährleisten. Es
ist sehr wichtig, dass wir es schaffen, die lokalen Polizeikräfte so auszustatten, dass sie zunehmend in der Lage
sind, die Aufgabe der Bewahrung der öffentlichen Sicherheit zu übernehmen. Ich denke, das ist der richtige
Ansatz.
({1})
Die lokalen Polizeikräfte haben eine immense Herausforderung zu bewältigen. Eine ihrer Aufgaben ist gerade in den jüngsten Tagen wieder sehr deutlich geworden: die Krake Korruption im Kosovo zu bekämpfen.
Wenn es nicht gelingt, die Korruption effektiv und effizient zu bekämpfen, dann sind wir in einer ganz schwierigen Situation. Im Kampf gegen die Korruption müssen
wir auch im Rahmen von EULEX eine ganz klare Kante
zeigen.
({2})
Wichtig ist, dass wir die einheimische Bevölkerung
im Kosovo auf ihrem Weg in eine freie und demokratische Gesellschaft, die jedermann offensteht, unterstützen. Es scheint mir sehr wichtig zu sein, dass es gelingt,
in dieser Richtung aktiv zu sein. Wir müssen alle Konzeptionen prüfen und alle Ressourcen nutzen, damit dies
gelingt.
Außerdem scheint mir sehr wichtig zu sein, dass wir
den Versöhnungsprozess, der im Hinblick auf den Kosovo dringend notwendig ist, auch im Rahmen des Stabilitätspaktes für Südosteuropa weiter befördern. Denn wir
kennen die Ursachen und Gründe für die kriegerischen
Auseinandersetzungen vor dem Jahre 1999, die zum
Morden und Töten geführt haben. Deswegen, meine Damen und Herren, glaube ich, dass es keine Alternative
dazu gibt, diesen Versöhnungsprozess massiv voranzutreiben. Dabei müssen die unterschiedlichen Ethnien
einbezogen werden, damit sich das, was sich in den
Jahren 1997 und 1998 im Kosovo ereignet hat,
({3})
nie wiederholt, sondern der Vergangenheit angehört.
({4})
Es ist wichtig und richtig, immer zu überlegen: Was
ist mit militärischem Einsatz, mit militärischen Ressourcen zu leisten? Zu Beginn hatte der Kosovo-Einsatz einen großen Umfang; die Zahlen sind schon genannt worden. Die Truppenstärke betrug einmal 50 000
Soldatinnen und Soldaten. Bis zum Jahre 2010 ist diese
Zahl auf rund 10 000 Soldatinnen und Soldaten aus
32 Ländern - auch dies ist festzuhalten - reduziert worden. Für die Zukunft ist es sehr wichtig, dass wir uns immer auch die Frage stellen: Welche Aufgaben können
wir im Sinne eines sicheren Umfeldes und sich selbst
tragender Sicherheitsstrukturen leisten, und wie viel Personal brauchen wir dafür? Da wir auch diese Entwicklung zur Kenntnis nehmen, werden wir diesem Mandat
weiterhin unsere Zustimmung geben.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Andreas Schockenhoff für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem KFOR-Mandat heute zustimmen, weil dieser Einsatz bisher zu einer
deutlichen Stabilisierung und Verbesserung der Sicherheitslage im Kosovo geführt hat.
Dass dies so ist, kann man an vielen Beispielen ablesen. Ich will nur drei davon nennen:
Erstens. Wer noch vor wenigen Jahren beispielsweise
in Prizren war, der musste mit Beklemmung feststellen,
dass das dortige serbische Kloster und andere Kulturstätten oder auch nur einzelne Häuser von serbischen Bewohnern mit Panzern, Stacheldraht und Soldaten massiv
geschützt werden mussten. Heute hat die Verantwortung
dafür die albanisch besetzte Polizei des Kosovo übernommen. Wer sich die symbolische Bedeutung dieser
Orte vor Augen führt, der kann am besten nachvollziehen, welche Veränderung hier erreicht wurde.
Zweitens. Weil KFOR erfolgreich war, können unsere
Soldaten verstärkt für die Ausbildung von Sicherheitskräften im Kosovo eingesetzt werden. Auch dies ist ein
Beispiel für eine erfolgreiche Sicherheitsübergabe in
Verantwortung.
Drittens. 1999, am Beginn der Stabilisierungsmission,
hatten wir über 6 400 Bundeswehrsoldaten im Kosovo
stationiert. Heute sind es aktuell 1 557, also nur noch ein
Viertel.
Das alles zeigt: KFOR hat einen außergewöhnlichen
Beitrag auch zur inneren Stabilität des Landes geleistet,
wofür wir insbesondere unseren Soldatinnen und Soldaten danken.
({0})
Aus diesem Grund ist es auch mehr als gerechtfertigt,
dass wir die Obergrenze von ursprünglich einmal 8 500
Soldaten im Jahre 1999 und derzeit 3 500 Soldaten auf
künftig 2 500 Soldaten absenken werden.
Aber noch ist eine „abschreckende Präsenz“, wie die
gegenwärtige Phase von KFOR bezeichnet wird, notwendig, um sicherzugehen, dass es hinsichtlich der Sicherheitslage nicht zu Rückschlägen kommt. Wir sind
zuversichtlich, dass bald weitere Reduzierungen möglich sind. Dem Ziel, dass das Kosovo ohne ausländische
Truppen für seine Sicherheit und Stabilität sorgen kann,
sind wir inzwischen deutlich näher gekommen.
Ich denke, in einer Zeit, in der wir an anderer Stelle
unter schwierigsten Bedingungen mehr Soldaten einsetzen müssen, um auch dort eine Stabilisierung und eine
Übergabe in Verantwortung zu erreichen, sollten wir diesen Stabilisierungserfolg und den bisher erreichten Fortschritt bei der Übergabe in Verantwortung nachdrücklich
würdigen.
Neben dem großartigen militärischen Beitrag von
KFOR haben zwei weitere politische Faktoren entscheidend zur Stabilisierung in der Region und im Kosovo
beigetragen:
Zum einen ist das die EU-Perspektive für die Länder
des westlichen Balkans. Deshalb treten wir dafür ein,
den Prozess der Annäherung und des Beitritts der Westbalkanstaaten zur EU fortzusetzen, mit dem Ziel einer
weiteren Stärkung von Sicherheit, Demokratie, Freiheit
und Rechtsstaatlichkeit in der Region. Allerdings - das
sage ich auch mit allem Nachdruck für meine Fraktion muss dieser Prozess mit mehr Sorgfalt bei der Umsetzung vor Ort, aber auch mit mehr Überzeugungskraft gegenüber unserer eigenen Bevölkerung durchgeführt werden. Damit dies erreicht wird, müssen und werden wir
unsere neuen Rechte in EU-Angelegenheiten nachdrücklich nutzen.
Zum Zweiten kann man heute, zwei Jahre nach der
Anerkennung des Kosovo, mit Fug und Recht feststellen: Diese Anerkennung hat maßgeblich zur Stabilität
und Beruhigung der Situation beigetragen.
({1})
Deswegen appellieren wir nachdrücklich insbesondere
an die fünf EU-Staaten, die den Kosovo noch nicht anerkannt haben, das zu tun. Die Anerkennung ist der beste
Beitrag zur Stärkung von Frieden und Stabilität auf dem
Balkan.
Bei aller Freude über das Erreichte müssen aber deutlich auch die Probleme und Mängel angesprochen werden. Die wirtschaftlichen Probleme sind trotz einer guten
Wachstumsrate immens. Hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit hat die EU-Kommission in ihrem letzten Fortschrittsbericht erhebliche Mängel benannt, insbesondere
beim Kampf gegen Korruption, Drogenhandel, organisierte Kriminalität und sogar Kinderarbeit.
EULEX, also die EU-Rechtsstaatsmission, hat hier
eine besonders schwierige Aufgabe. EULEX ist das
richtige Instrument, aber - das sage ich mit allem Respekt vor der schwierigen Arbeit, die die Männer und
Frauen in der EULEX-Mission leisten - dieses Instrument muss noch wirksamer werden.
({2})
Die EULEX-Experten wissen sehr genau, wer die
Hauptverursacher der Korruption sind. Doch bisher
wurde ihnen Untätigkeit vorgeworfen. Jetzt hat EULEX
im Falle des Transportministers Limaj endlich einmal
durchgegriffen. Es würde dem Ansehen und der Durchsetzungsfähigkeit von EULEX als Rechtsstaatsmission
guttun, wenn sie im Kampf gegen die strukturelle Korruption auch gegenüber weiteren sogenannten dicken Fischen Rechtsstaatlichkeit durchsetzt.
({3})
Ein drittes Beispiel: Wenn Kosovo etwas zu bieten
hat, dann ist es seine Jugend. Aber es gibt zu geringe Investitionen in Bildung und Ausbildung. Hier können
und müssen wir auch bilateral mehr tun. Das deutsche
Loyola-Gymnasium in Prizren ist überfüllt. Jugendliche
müssen zum Studium nach Albanien oder nach Tetovo in
Mazedonien, es sei denn, sie werden von einer Privatuniversität in Pristina aufgenommen. Lehrbücher kommen
noch immer größtenteils aus Albanien, in den serbischen
Gebieten natürlich aus Serbien. Dies alles zeigt: Hier
müssen wir noch mehr tun, auch um ein mögliches Unruhepotenzial zu vermeiden.
Frieden im Kosovo ist auf die Dauer nicht gegen Serbien zu erreichen. Umgekehrt wird Serbien seine EUPerspektive nicht verwirklichen können, wenn es nicht
der Tatsache Rechnung trägt, dass das Kosovo sein unabhängiger Nachbar ist. Die verantwortungsbewussten
Kräfte in Serbien wissen das, aber sie haben einen
schweren Stand. Deswegen ist es richtig, wenn wir diese
Kräfte und insbesondere den mutigen Präsidenten Boris
Tadić darin bestärken, ihre Politik der Verständigung
und des Ausgleichs entschlossen weiterzuverfolgen.
Deswegen sage ich mit Blick auf den Antrag Serbiens
auf Beitritt zur Europäischen Union: Niemand erwartet
jetzt von Serbien die völkerrechtliche Anerkennung des
Kosovo als unabhängigen Staat. Aber wir müssen erwarten, dass Serbien möglichst bald, spätestens aber bis zu
einem EU-Beitritt, einen Modus Vivendi, beispielsweise
vergleichbar dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag,
gefunden hat.
Ein Infragestellen der Unabhängigkeit des Kosovo
und Forderungen nach neuen Verhandlungen über den
Status des Kosovo schaden nur dem serbischen Beitrittsgesuch: Wenn das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Frage der Anerkennung des Kosovo dazu
genutzt werden sollte, neue Statusverhandlungen zu fordern, dann würde dies eine Zustimmung des Deutschen
Bundestages zu Beitrittsverhandlungen erst einmal infrage stellen. Das sage ich in aller Deutlichkeit.
Aber ich sage mit der gleichen Deutlichkeit: Wenn
die mutige Politik der Verständigung und des Ausgleichs - ich nenne nur die Srebrenica-Resolution des
serbischen Parlaments - und die Politik der regionalen
Zusammenarbeit fortgesetzt und die Beitrittsvoraussetzungen erfüllt werden, dann können alle nur gewinnen:
vor allem Serbien die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, aber auch die Westbalkanregion und ganz
Europa durch Frieden und Sicherheit in einer Region,
die Europa immer wieder in Unfrieden und Kriege gestürzt hat.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor
elf Jahren auf den Tag genau beendete die NATO ihre
Bombardierung Jugoslawiens. Über 2 000 Menschen bezahlten den völkerrechtswidrigen Krieg, an dem sich
auch Deutschland beteiligte, mit dem Leben.
({0})
Mit der schon erwähnten Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates wurde allerdings festgeschrieben, dass das
Kosovo völkerrechtlicher Teil Jugoslawiens blieb. Seitdem ist die KFOR und seitdem sind deutsche Soldaten
im Kosovo stationiert.
Heute werden Sie, Herr Guttenberg, von dpa, Handelsblatt und ORF mit folgenden Worten zitiert: „Die Sicherheit von Handelswegen kann unseren Wirtschaftsinteressen dienen.“ Sie nannten neben Afrika, Nahost und
Lateinamerika den Kosovo als Beispiel. Darüber hinaus
haben Sie sich explizit hinter die Aussagen des zurückgetretenen Horst Köhler gestellt, Auslandseinsätze der
Bundeswehr würden auch für wirtschaftliche Interessen
durchgeführt werden, etwa für freie Handelswege.
({1})
Herr Guttenberg, ich bin Ihnen für diese Klarstellung
wirklich außerordentlich dankbar. Damit vertreten Sie
nämlich eine Position, die die Linke von Anfang an vertreten hat.
({2})
Wir haben nämlich nie den Kriegslügen des damaligen
grünen Außenministers Fischer und Ihres sozialdemokratischen Vorgängers Scharping geglaubt, die der Öffentlichkeit weismachen wollten, es ginge bei diesem
Krieg um Menschenrechte.
({3})
Besonders perfide war die damalige Argumentation der
rot-grünen Bundesregierung, es ginge um die Verhinderung von Auschwitz. Das war unerträglich.
({4})
Deutsche Militäreinsätze werden zum Schutz von Kapitalinteressen, auch im Kosovo, durchgeführt. Das ist,
wie gesagt, eine neue Ehrlichkeit, für die ich mich bei
Ihnen bedanke. Nur im Gegensatz zu Ihnen zieht die
Linke ganz andere Schlüsse daraus. Kriege und Militäreinsätze für Wirtschaftsinteressen sind per Grundgesetz
untersagt.
({5})
Die Linke will, dass diese permanente Verletzung des
Grundgesetzes und des Völkerrechts endlich aufhört.
({6})
Die Bundesregierung erklärt, die Bundeswehr sichere
die Unabhängigkeit des Kosovo ab. Auch diese Aufgabe
der Bundeswehr sucht man im Grundgesetz vergeblich.
Die Geschichte von elf Jahren deutscher Militärpräsenz
im Kosovo ist eine Geschichte fortgesetzter Rechtsbrüche. Gemeinsam mit Afghanistan und Saudi-Arabien gehörte Deutschland zu den Erstanerkennerstaaten der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Die
Liste der über 60 Staaten, die das Kosovo anerkannt haben, liest sich wie das Who is Who der Koalition der Willigen des Irakkriegs von George W. Bush. Ich finde,
Deutschland ist da nicht in allerbester Gesellschaft.
({7})
Während die Große Koalition 2008 gemeinsam mit
dem Europäischen Rat erklärte, die territoriale Unversehrtheit der Staaten achten zu wollen, und dabei explizit
auf die UN-Charta verwiesen hat, gibt es in puncto Kosovo abenteuerliche Begründungen zur Rechtfertigung
der völkerrechtswidrigen Anerkennung des Kosovo.
So erklärte die Vertreterin der Bundesregierung im
Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof zur Klärung dieser Frage, dass das Kosovo infolge der Intervention zu einem „Gebilde“ geworden sei. Kosovo sei ein
Sonderfall, der nicht auf die anderen Fälle übertragbar
sei. Mit dieser Sonderfallkonstruktion setzen Sie einfach
nur die Gültigkeit des Völkerrechts aus.
Was ist das für eine Außenpolitik, die in puncto Georgien etwas anderes gelten lassen will als im Falle Serbiens? Sie wollen anstelle des internationalen Rechts das
Recht des Stärkeren etablieren. Und dann wundern Sie
sich, wenn andere, zum Beispiel Abchasien und Südossetien, sich auf Sie berufen.
({8})
Diese Art des Rechtsnihilismus in der internationalen
Politik, die Sie uns heute noch einmal vorführen, legt die
Axt an die Wurzel des friedlichen Zusammenlebens
weltweit. Das müssen Sie endlich einmal einsehen. Ich
fordere Sie auf: Kehren Sie endlich um auf diesem Weg!
({9})
Was haben Sie eigentlich in elf Jahren Bundeswehr
im Kosovo erreicht? Die Menschen im Kosovo leben in
tiefster Armut.
({10})
Über 45 Prozent Arbeitslosigkeit, 75 Prozent unter den
Jugendlichen, sprechen eine deutliche Sprache.
({11})
Nicht einmal eine Stromversorgung wurde aufgebaut.
Gleichzeitig unterstützen Sie fragwürdige Eliten im Kosovo und machen sogar gemeinsame Sache mit ihnen.
Laut Interpol geht ein Großteil des Heroinhandels aus
Afghanistan in die EU über das Kosovo, und die Administration des Kosovo sei darin verwickelt. Wenn ich Sie
im Ausschuss danach frage, schlagen Sie einfach die
Augen nieder. Es hat auch keinen Aufschrei gegeben,
dass die Sicherheitskräfte des Kosovo, die eng mit der
KFOR kooperieren, auf bewaffneten Gedenkveranstaltungen für die UCK auftauchen. Warum schweigen Sie
dazu, frage ich mich, Herr Westerwelle? Warum nehmen
Sie das einfach hin, Herr Guttenberg?
({12})
Einer Ihrer Mythen ist, die KFOR sorge für die Sicherheit der Menschen im Kosovo. Aber was war denn
2004, als ein kosovo-albanischer Mob Kirchen anzündete, Serben umbrachte und vertrieb und serbische Dörfer plünderte? Wo war denn da die KFOR? In Kosovska
Mitrovica schaute sie aus ihrem Camp dabei zu, wie das
Diebesgut unmittelbar an ihr vorbeigefahren wurde.
Später kam man dann zum Aufräumen. Die meisten der
damals Vertriebenen konnten - genauso wie über
100 000 Roma und Serben - nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Verantwortlichen wurden bis heute
nicht zur Rechenschaft gezogen. Also erzählen Sie uns
nicht, dass Sie irgendetwas für die Sicherheit der Menschen tun würden, im Gegenteil.
({13})
Jetzt haben Sie auch noch angefangen, massenhaft Romaflüchtlinge in das Kosovo abzuschieben, entgegen
dem Rat aller Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Die weisen nämlich zu Recht darauf hin, dass die
Menschenrechtslage im Kosovo katastrophal ist, gerade
für die Roma. Die Linke fordert deshalb, diese Abschiebungen sofort zu stoppen. Gefährden Sie nicht weiterhin
Leib und Leben auch noch der Romaflüchtlinge!
({14})
Die Bundeswehr auf dem Balkan und im Kosovo hat
in der Vergangenheit keinen Frieden geschaffen und
wird dies auch nicht in Zukunft tun. Mein Appell an Sie
lautet: Hören Sie auf mit den Anschlägen auf Grundgesetz und Völkerrecht! Militäreinsätze für Wirtschaftsinteressen müssen der Vergangenheit angehören. Eine
friedliche Außenpolitik ist in Deutschland möglich.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Marieluise Beck für die Fraktion
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl ich - derzeit noch - aus strukturellen Gründen nach
den Linken spreche, möchte ich nicht immer in die Lage
geraten, eine kleine Geschichtsstunde geben zu müssen.
Wir sollten deshalb den vorangegangenen Redebeitrag
beiseite lassen und uns den Realitäten zuwenden.
({0})
Für meine Fraktion möchte ich festhalten: Die Präsenz der KFOR im Kosovo ist nach wie vor notwendig.
Sie kann reduziert werden; das ist erfreulich. Deswegen
stimmt meine Fraktion der Verlängerung des UN-gedeckten Mandates zu.
({1})
Allerdings gibt es zu der Entwicklung im Kosovo - wir
sollten uns die Verhältnisse nicht schönreden - sehr viel
Kritisches zu sagen. Das will ich hier deutlich tun.
Die Kritik betrifft viele Beteiligte, sowohl die kosovarische Regierung als auch die Europäische Union, die
VN und nicht zuletzt Serbien. Zehn Jahre nach Ende des
Krieges sind die große Erleichterung aufseiten der Kosovo-Albaner über ein Ende der jahrelangen Unterdrückung, gegen die Herr Rugova mit seiner durch und
durch gewaltfreien Bewegung über Jahre friedlich gekämpft hatte, und die Freude über die Unabhängigkeit
einer zunehmenden Frustration gewichen. Die Lebensverhältnisse im Kosovo sind sehr schwierig. Es bewegt
sich wenig. Vieles ist unklar. Das Leben im Kosovo ist
für viele kaum leichter geworden.
Manches war absehbar. Vieles war kaum vermeidbar.
Das ist das Schwierige. Der Westen stand vor der Gefahr
eines zweiten Bosnien mit über 100 000 Toten, Frau
Kollegin. Srebrenica lag noch nicht lange zurück. Der
UN-Sicherheitsrat erwies sich als nicht handlungs- und
entscheidungsfähig. Das war die Situation, in der agiert
wurde und die in der Tat viele Unklarheiten nach sich
gezogen hat. An diesem Konstruktionsfehler leidet dieses Land bis heute. Diese Unklarheit wirkt auch einer
schnelleren Entwicklung entgegen.
Probleme gibt es aber auch im eigenen Haus, innerhalb der Europäischen Union, und das nicht zum ersten
Mal. Es ist kaum nachvollziehbar, dass fünf Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anerkennung des
Kosovo mit dem Verweis auf die Gefahr eines Präzedenzfalls nach wie vor verweigern, so als könnte etwa
eine Regierung Spaniens schlussfolgern, sie könne wie
eine Milosević-Regierung die ethnischen Minderheiten
im eigenen Land bedrohen. Das könnte zu einer Sezession führen. Das ist so absurd und so abwegig, dass man
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Marieluise Beck ({2})
den Ländern, die die Anerkennung des Kosovo verweigern, sagen muss: Werdet gelassen, glaubt an eure
eigene Demokratiefähigkeit und erkennt zusammen mit
den anderen EU-Staaten das Kosovo an, damit das
Durcheinander der Organisationsstrukturen endlich aufhört!
({3})
EULEX muss in unterschiedlichen Gewändern auftreten. Im größeren Teil vom Kosovo ist sie eine statusneutrale Mission. Im Norden von Mitrovica muss diese
Mission unter dem Dach von UNMIK agieren. Es fehlt
natürlich an Autorität und Durchsetzungsfähigkeit. Das
konnte man sehen, als Serbien im Norden Mitrovicas,
also in einem Mandatsgebiet der UNMIK, das durch
Serbien mit der UN-Resolution anerkannt worden ist, eigene Staatsanwälte und Richter ernannt hat. Das führt
natürlich zu einem ständigen Hemmnis für die Entwicklung, gerade auch für die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit, die dieses Land dringend bräuchte.
Noch eine Fußnote: An der KFOR-Mission ist
Deutschland überproportional, an EULEX mit Richtern,
Staatsanwälten und Polizisten unterproportional beteiligt. Das ist ein schlechtes Zeugnis für Deutschland. Ich
möchte hier noch einmal öffentlich sagen, dass Menschen, die solche zivilen Mandate innegehabt haben und
nach Deutschland zurückgekommen sind, immer wieder
Beförderungshindernisse erleben. Dagegen sollten wir
wirklich ganz massiv angehen. Solche zivilen Missionen
werden in ihrer Anzahl nämlich größer werden, und der
Bedarf an Personen, die sich daran beteiligen, wird
wachsen. Diejenigen, die bereit sind, dabei mitzumachen, sollen nach ihrer Rückkehr keine Nachteile erfahren.
Ich komme noch einmal auf die Rolle Serbiens zu
sprechen. Wie ich eben schon gesagt habe, ist UNMIK
von Serbien mit der UN-Resolution 1244 anerkannt; insofern steht dieses Manöver wie die eigene Ernennung
von Staatsanwälten und Richtern gegen das eigene Mandat. Noch dramatischer ist, dass am 30. Mai von serbischer Seite zum wiederholten Mal Kommunalwahlen in
Nord-Mitrovica ausgetragen worden sind. Das hat auch
in diesem Jahr fast zu einer großen gewalttätigen Auseinandersetzung geführt. Es gab in den vergangenen Jahren Tote. Zum Glück gab es in diesem Jahr keine Toten.
Das ist ein Beweis dafür, dass die Polizei, die inzwischen im Wesentlichen kosovarisch ist, unter Einbeziehung serbischer Polizisten durchaus handlungsfähig ist.
Auch wenn die notwendigen Schritte nur langsam vollzogen worden sind, ist es ein großer Fortschritt, wenn
bei gewalttätigen Auseinandersetzungen keine Menschen mehr sterben. Auch das ist eine Folge der KFORMission.
({4})
Für die Zukunft des Landes muss sehr deutlich sein,
dass die Europäische Union glaubwürdig ist. Sie muss in
ihren Ansagen klar sein. Das bedeutet auch Klarheit gegenüber Serbien, das ziemlich eindeutig zum Ausdruck
bringt, dass es auf eine Teilung des Kosovo hinarbeitet.
Die Europäische Union muss Serbien sagen: Der Zugang
zur Europäischen Union wird offen sein für ein unabhängiges Kosovo und für ein freies Serbien. Beide werden
sich auf neuer Geschäftsgrundlage unter dem Dach der
EU treffen können. Serbien wird sich aber selber den
Weg verstellen, wenn es in der Frage Kosovo - NordMitrovica ist ein Beispiel dafür - weiterhin zündelt.
Die Zukunft dieser Region liegt auch in einer sehr
eindeutigen, glaubwürdigen und starken Haltung der Europäischen Union. Wir sind da nicht immer top; das
muss man deutlich sagen. Unsere Stärke wird letztlich
auch mit ausschlaggebend dafür sein, ob wir dort eine
Perspektive entwickeln können, damit der Westbalkan
nicht - wie das immer und immer wieder der Fall war zu einer Quelle ganz Europa gefährdender Auseinandersetzungen wird.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir heute über die Verlängerung
des Mandats für die KFOR beschließen, können wir zunächst festhalten: Die Lage im Kosovo hat sich seit den
letzten schweren Unruhen im Jahr 2004 deutlich stabilisiert. Wir dürfen diesen Einsatz unserer Parlamentsarmee als Erfolg verbuchen. Wir sind 1999 gegen Völkermord und Vertreibung eingetreten, und heute haben wir
eine Lage erreicht, in der Krieg auf dem Balkan immer
unwahrscheinlicher wird. Die Schaffung einer nachhaltig stabilen europäischen Region wird realistischer.
Frau Dağdelen, lassen Sie mich eines gleich klarstellen: Unser Verteidigungsminister hat gestern zu Recht
gesagt, dass Sicherheit für wirtschaftliche Dynamik sorgen kann und deren Grundlage ist.
({0})
Das zeigt das Beispiel Kosovo. Alles andere ist falsche
Propaganda.
({1})
Dass wir heute die Obergrenze der Bundeswehrpräsenz um fast 30 Prozent reduzieren können, ist sichtbarer
Ausdruck dieser sehr erfreulichen Entwicklung.
Grundsätzlich verfolgen wir einen vernetzten Ansatz
aus wirtschaftlicher Hilfe, politischem Neuaufbau sowie
sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Integration
des Landes in Richtung Europäische Union. Doch dabei
gibt es noch viel zu tun.
Aktuell traut die kosovarische Bevölkerung der eigenen Regierung den entschiedenen Kampf gegen die grassierende Korruption nicht zu. Sie vertraut mehr auf die
EU und die EULEX. Hier liegt ein zentraler Ansatzpunkt der zivilen Aufbauarbeit, der durch den Anker der
KFOR mit abgesichert werden muss; denn Korruption
erzeugt Wut, Enttäuschung und in letzter Konsequenz
leider auch Resignation in der Bevölkerung. Der Vertrauensverlust der Menschen in dem Bereich wirkt sich
auch negativ auf das Vertrauen in internationale Organisationen aus. Leider habe ich den Eindruck, dass die kosovarische Bevölkerung insofern zunehmend frustriert
und enttäuscht ist.
Wir sind also aufgefordert, über die Entsendung der
EULEX und über die Präsenz der KFOR hinaus gerade
im Bereich Mittelvergabe das Thema Korruptionsvermeidung an die erste Stelle zu setzen. Sollten sich die
Vorwürfe bestätigen, die Medienberichten zu entnehmen
sind, nämlich dass führende Regierungsmitglieder in den
Korruptionszirkeln sind, stinkt - das muss man so sagen wohl offensichtlich der Fisch vom Kopf her.
Inzwischen ermittelt man offiziell aufgrund des Verdachts von Geldwäsche, organisierter Kriminalität, Amtsmissbrauch und Betrug gegen Mitglieder und Berater der
Regierung. Sollte sich der Verdacht bewahrheiten, erwarte ich Konsequenzen; denn ich bin nicht bereit, das
Geld unserer Bürgerinnen und Bürger beispielsweise in
kosovarische Privatvillen zu stecken.
({2})
Ich fordere daher von der kosovarischen Regierung
den vehementen Einsatz gegen Korruption, auch innerhalb der eigenen Reihen; denn es bleibt dabei: Wir wollen das Land aufbauen, aber nicht die Korruption.
Meine Damen und Herren, Deutschland zählt zu den
Ländern, die den Kosovaren in hoher Not und ohne Zögern geholfen haben. Wir erwarten dafür, dass sich die
Republik Kosovo dieser Hilfe auch in Fragen des Minderheitenschutzes als würdig erweist. Dies gilt beispielsweise für die Religionsfreiheit und den Schutz auch von
serbisch-orthodoxen Kirchen und Klöstern.
Ich appelliere ausdrücklich an die Minderheiten, sich
nicht abzuschotten, sondern sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Der albanischen Mehrheitsbevölkerung rufe ich zu, dass aktives Zugehen auf die Minderheiten und deren Schutz für ein gedeihliches
Miteinander und für die Zukunft des Landes in Europa
von großer Bedeutung sind.
Mit unserem vernetzten Ansatz wollen und können
wir Kosovos Weg nach Europa unterstützen. Dazu leisten wir auch massive Hilfe im zivilen Bereich, und das
sowohl von staatlicher Seite als auch durch die Arbeit
von Nichtregierungsorganisationen. Seit 1999 trägt allein unsere staatliche Entwicklungszusammenarbeit mit
340 Millionen Euro erheblich zum sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aufbau des Landes bei. Für die
nächsten zwölf Monate sind im Haushalt 99 Millionen
Euro bereits vorgesehen. Unsere Schwerpunkte sind dabei der Aufbau von Infrastruktur, die Förderung von
Wirtschaft und Beschäftigung sowie der Aufbau einer
funktionierenden öffentlichen Verwaltung und die Verbesserung der Grundbildung.
Meine Damen und Herren, die KFOR bleibt ein gutes
Beispiel für friedenschaffende Maßnahmen. Die stetig
geringer werdende Truppenstärke ist daher nur eine logische Konsequenz und unterstreicht den Erfolg. Deshalb
gilt unser Dank den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Aufbauhelfern, den Polizeikräften und den Diplomaten. Sie alle tragen dazu bei, den Frieden in Europa an
dieser sensiblen Stelle zu sichern. Allen Beteiligten
wünsche ich für die künftige komplexe und manchmal
auch gefährliche Arbeit weiterhin Erfolg und Gottes Segen. Im Interesse der Menschen im Kosovo und der Region bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Antrag.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Günter Gloser für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der erfolgreiche Verlauf der KFOR-Mission
im Hinblick auf die militärische Absicherung der Entwicklung des Kosovo ist von vielen, von fast allen gelobt worden. Dem schließe ich mich an. Die heute zu beschließende Absenkung der Höchstzahl der eingesetzten
Truppen und die zu erwartende weitere Absenkung der
tatsächlich eingesetzten Soldatinnen und Soldaten sind
ein Beleg für diesen Erfolg. Doch die Präsenz der KFOR
ist weiterhin nötig. Die SPD wird deshalb, wie es Kollege Fritz Rudolf Körper eben schon ausgeführt hat, diesem Antrag der Regierung zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann den Kollegen Stinner jetzt nicht sehen; aber ich möchte sagen: Ich
bin über seine Klarstellung erfreut, dass es um einen verantwortungsvollen Rückzug geht. In der Vergangenheit
hatte ich Gelegenheit, manche Diskussion der FDP zu
verfolgen, die so geführt wurde, als sei Exit ein Selbstzweck. Aber Exitstrategien sind von den jeweiligen Verhältnissen abhängig. Wir werden in diesen Tagen ja noch
weiter über die Frage sprechen, wo wir reduzieren und
rausgehen müssen, wie es bei der UNIFIL-Mission der
Fall ist. Aber wenn wir feststellen, dass eine günstige
Entwicklung stattgefunden hat, dann ist es natürlich klar,
dass wir bei der Verbesserung der Verhältnisse auch eine
entsprechende Zahl von Soldaten zurückziehen oder
ganz aus dem Mandat nehmen können. Deshalb bin ich
froh, dass Sie diese Klarstellung vorgenommen haben.
Kommen wir aber auch zu dem anderen, dem zivilen
Teil der Entwicklung: Bei aller Kritik glaube auch ich,
dass diese Entwicklung ohne die Gewährleistung von Sicherheit durch KFOR nicht möglich gewesen wäre. Dies
sage ich ausdrücklich auch in Richtung der Linken; Kollegin Marieluise Beck hat eben deutlich gesagt, dass sie
nicht erneut erklären wolle, was hier in vielen Debatten
geäußert worden ist. Ich muss weder Sie noch mich beunruhigen; aber ich werde es in meinem parlamentarischen Leben und vermutlich auch in dem anderen Leben
nicht mehr erleben, dass die Linke jemals ohne Selbstzweifel ist und nicht so argumentiert, als gäbe es einen
Idealplan.
({0})
Viele, die über viele Jahre im Parlament sind, wissen,
dass wir es uns nicht leicht gemacht haben. Wir haben
auch Zweifel gehabt, ja, wir haben Ängste und Sorgen
gehabt. Aber wir haben genauso oft erlebt, was auf dem
Westbalkan passiert ist, wo massiv gefragt worden ist:
Warum leistet ihr nicht Hilfe und Unterstützung? Sie war
eben - leider muss ich auch dies immer wieder sagen nicht durch Sozialarbeiter einer Kommune, der Stadt
Nürnberg, oder anderer Kommunen, sondern nur dank
der Soldatinnen und Soldaten zu leisten. Aber lassen wir
dies, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Wenn diese militärischen Konflikte abebben, dann fokussiert sich vieles auch zu Recht auf die Frage der
Missstände, der Kriminalität, der Korruption, der Arbeitslosigkeit, aber auch der ethnischen Spannungen.
Das ist durchaus berechtigt; es verzerrt aber meines
Erachtens auch das Bild, denn wir können bei aller nötigen Kritik an den bestehenden Verhältnissen im Kosovo
seine Entwicklung noch nicht an der anderer Länder der
Region messen.
Lassen Sie mich das Wichtigste kurz nennen: Die
wirtschaftlichen Rahmendaten sind immer noch besorgniserregend. Erstens liegt trotz 340 Millionen Euro bilateraler Hilfe allein durch Deutschland seit 1999 das
Bruttoinlandsprodukt bei 1 713 Euro pro Kopf und Jahr.
Selbst im ärmsten EU-Land Bulgarien beträgt dieser
Wert das Fünffache, nämlich 8 600 Euro. Zweitens sind
43 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, darunter besonders viele Jugendliche. Drittens stocken wichtige Investitionen in die Infrastruktur, weil politische Prozesse intransparent ablaufen.
Angesichts dieser Situation ist es gut, dass EULEX
beim Aufbau von Justiz, Polizei und Zoll nicht nur beratende Funktion, sondern auch ein exekutives Mandat hat,
solange kosovarische Behörden dazu noch nicht selbst in
der Lage sind. Das betrifft die Bereiche der staatsanwaltschaftlichen Verfolgung schwerer Verbrechen und interethnischer Straftaten sowie von Finanzdelikten genauso
wie die Grenzsicherung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir
uns trotzdem keine Illusionen: Es wird Zeit brauchen; es
fehlen die angesprochenen wirtschaftlichen Grundlagen, es fehlt die Existenz einer stabilen Bürgergesellschaft. Deshalb kann es auch nicht verwundern, wenn
die noch sehr jungen Parteien ebenfalls noch nicht so
funktionieren, wie wir als Parlamentarier uns dies vielleicht wünschen.
Dennoch, bei allen Defiziten, bei allen Rückschlägen
und bei allen Schwierigkeiten - wir sagen das auch an
dieser Stelle -: Die Beitrittsperspektive des Kosovo für
die Europäische Union bleibt bestehen, genauso wie sie
natürlich für Serbien bestehen bleibt.
({2})
Ich möchte aber auch auf einige humanitäre Fragen
eingehen. Hier wird die Wahrnehmung ganz und gar
vom angespannten Verhältnis von Serben und Albanern
im Kosovo dominiert. Dabei werden andere Minderheiten häufig übersehen. Vor allem betrifft dies die Roma,
die im Kosovo-Konflikt zwischen die Fronten gerieten
und im Kosovo mehr noch als in anderen Ländern Südosteuropas zu Opfern massiver Ausgrenzung sowie sozialer und gesellschaftlicher Benachteiligung werden.
In diesem Zusammenhang stelle ich noch einmal die
Frage, ob es richtig ist, dass Deutschland Roma, die als
Kriegsflüchtlinge hierher kamen, jetzt verstärkt wieder
in den Kosovo abschiebt. Hierbei sollten Einzelfälle sehr
sorgfältig geprüft und berücksichtigt werden.
({3})
Es stellt sich die Frage, ob die aufnehmende Gesellschaft
im Kosovo in der Lage ist, diese Menschen wieder zu integrieren. Die Abwesenheit von Krieg sollte jedenfalls
nicht als einziges Argument für die massenhafte Abschiebung von Roma in den Kosovo dienen.
Auch eine andere Folge der Kriege im Kosovo dürfen
wir nicht vergessen: Das Land ist in großen Teilen von
Minen verseucht, die eine tägliche Gefahr für alle Menschen dort bedeuten. Es wird noch viele Jahre brauchen,
dieses Problem zu lösen. Auch hierbei benötigen die
Menschen im Kosovo weiterhin unsere Unterstützung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Fall des
Kosovo zeigt, dass militärische Sicherung eine zwar notwendige, aber niemals eine hinreichende Voraussetzung
für zivile Entwicklung ist. Ohne die KFOR könnte es
EULEX nicht geben; ohne große eigene Anstrengungen
der Kosovaren und vielfältige Formen der bilateralen
Hilfe wird aber auch die EULEX-Mission letztlich nicht
nachhaltig erfolgreich sein können. Deshalb ist KFOR
notwendig, auch wenn der Schwerpunkt des internationalen Engagements sich mit EULEX klar auf die zivile
Entwicklung des Landes und den Aufbau einer eigenen
Verwaltung und einer eigenen Polizei verlagert hat.
Auch an dieser Stelle gilt mein ganz persönlicher
Dank den Soldatinnen und Soldaten, den Richtern, den
Staatsanwälten und vielen anderen, die für Institutionen
im Kosovo aktiv sind. Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit, verschiedene Institutionen und gerade auch
die Soldatinnen und Soldaten zu besuchen. Ich musste
feststellen, dass manche Bedingungen nicht gut waren.
Ich hoffe, dass in der Zwischenzeit, vor allem in den heißen Monaten Juni, Juli und August, hinsichtlich dieser
Bedingungen für die Soldatinnen und Soldaten, die für
uns dort sind, durch das Verteidigungsministerium Abhilfe geschaffen worden ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Peter Beyer von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem
westlichen Balkan hat sich seit dem Kosovo-Krieg 1999
viel zum Guten gewendet. 1999 haben uns die Vereinten
Nationen angesichts einer humanitären Tragödie den
Auftrag erteilt, ein sicheres Umfeld für alle Menschen
im Kosovo zu schaffen. Vor elf Jahren beschloss der
Deutsche Bundestag deshalb ein Mandat mit einer Obergrenze von 8 500 Soldaten. Der Unterschied zwischen
dem Mandat von damals, von 1999, mit 8 500 Soldaten
und dem heutigen Mandat mit 2 500 Soldaten, das wir
heute beschließen wollen, drückt den Erfolg der KFOR
aus. Wir dürfen heute sicher davon ausgehen, dass die
KFOR mit maximal 2 500 deutschen Soldatinnen und
Soldaten ihren Auftrag erfüllen kann. Das ist eine positive Entwicklung, die sich sehen lassen kann.
Hinter den Zahlen des KFOR-Mandats verbergen sich
Einzelschicksale, Fortschritte, ja, auch Rückschläge und
viele kleine Erfolgsgeschichten. Lassen Sie mich eine
dieser kleinen Erfolgsgeschichten kurz schildern:
Eine Familie wird 1992 aus dem Kosovo vertrieben.
Sie kommt mit ihrer kleinen Tochter nach Deutschland,
die hier ebenso wie ihre Eltern eine sichere Heimstatt
findet. Sie lernt die Landessprache. Was bleibt, ist die
Sehnsucht nach der alten Heimat. Nach dem KosovoKrieg 1999 kann diese Familie dank der Sicherheit, die
die KFOR unter deutscher Beteiligung gewährleistet,
wieder in ihr Land, das Kosovo, zurückkehren. Die
Tochter studiert Germanistik an der Universität in Pristina. Dort arbeitet sie nach dem Abschluss weiter. Heute
arbeitet die junge Frau in meinem Bundestagsbüro hier
in Berlin.
({0})
Nach der Sommerpause wird sie in das Kosovo zurückkehren. Ebenso wie unsere Soldaten wird sie dort - da
bin ich mir sehr sicher - ein positives Bild von Deutschland verbreiten.
Hervorheben möchte ich dabei, dass an diesem Stipendiatenprogramm, an dem die Dame aus dem Kosovo
teilnimmt, auch junge Menschen aus Serbien, BosnienHerzegowina, Kroatien, Frankreich und den USA teilnehmen, die zum Teil noch vor wenigen Jahren Krieg
gegeneinander geführt haben. Insgesamt sind es über
100 Stipendiaten. Wer hätte eine solche Entwicklung
noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten?
Das ist eine dieser kleinen Erfolgsgeschichten, an
welcher die KFOR und das deutsche Engagement auf
dem Balkan insgesamt mitgeschrieben haben. Darauf
können wir, kann Deutschland mit Fug und Recht stolz
sein.
Deshalb sage ich: Hätte die internationale Gemeinschaft damals die Tragödie auf dem Kosovo nicht gestoppt, hätte nicht jeder deutsche Soldat und jede deutsche Soldatin mit dem Abzeichen der Kosovo Force am
Ärmel der Uniform der Sache gedient und wären sie
nicht Tag für Tag mit ihren Kameraden aus über
30 Ländern bereit, viel für den Auftrag der internationalen Gemeinschaft zu leisten, dann wäre auch diese
Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Dann gäbe es
heute keine berechtigte Hoffnung. Dann könnten die
Menschen des Kosovo heute nicht in eine Zukunft in Europa investieren.
Noch sind die Investitionen in Infrastruktur und Energiesicherheit nicht ausreichend. Ebenso gibt es Defizite
bei den Investitionen in den Bildungssektor, bei Schulen
und Hochschulen; Kollege Andreas Schockenhoff hatte
das in seiner Rede schon hervorgehoben. Trotz aller
begrüßenswerten Fortschritte ist die Republik Kosovo
noch immer nicht sicher genug. Sicherheit ist ein wichtiges Stück Lebensqualität für die Menschen im Kosovo.
Auch deswegen ist ein Verbleib der KFOR-Truppe im
Kosovo erforderlich.
({1})
Meine Damen und Herren, noch ist der Auftrag der
KFOR nicht erfüllt. Darum brauchen wir das neue Mandat. Während der Sicherheitsauftrag noch andauert, können wir nun das politische Ziel angehen; denn die deutschen KFOR-Soldaten garantieren die Sicherheit. Das ist
unsere Aufgabe als außenpolitisch verantwortlich Handelnde. Unser Ziel heißt: Wir wollen gemeinsam mit den
Menschen im Kosovo die Perspektive für eine Zukunft
in Europa schaffen. Slowenien ist als erster Staat der
Balkanregion unser EU-Partner geworden. Kroatien ist
dabei, seinen Weg in die EU zu vollenden. Was für sie
bereits Wirklichkeit ist, ist für die Menschen im Kosovo
noch ein weiter Weg. Da sind wir ganz realistisch. Auch
Serbien sieht seine Zukunft in der EU. Das kommt in
dem im Dezember 2009 gestellten Beitrittsantrag zum
Ausdruck. Das hat mir noch kürzlich der serbische Gesandte in Deutschland persönlich ausdrücklich versichert.
Aus meiner Sicht bedarf es für eine echte EU-Perspektive vor allem einer Klärung des Verhältnisses von
Kosovo und Serbien zueinander. Serbien hat sein Anliegen nach einer rechtlichen Bewertung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo - mit gutem Recht - vor den
Internationalen Gerichtshof gebracht. Dabei ist für uns
klar, der Status des Kosovo steht nicht zur Disposition.
Ein neues Konfliktfeld um die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wird hier aber gerade nicht eröffnet.
Serbien hat den Weg der völkerrechtlich verbindlichen
Streitbeilegung beschritten. Das macht deutlich, dass es
den Beteiligten ernsthaft darum geht, auf diesem Weg
eine wirkliche Klärung zwischen Serbien und Kosovo zu
erwirken. Das Ziel einer europäischen Perspektive für
alle Menschen des westlichen Balkan rückt damit ein
bedeutendes Stück näher.
Meine Damen und Herren, wir nehmen zur Kenntnis,
was bereits erreicht worden ist. Ich bin zutiefst davon
überzeugt, ohne die KFOR wäre dies alles nicht möglich
gewesen. Keiner kann behaupten, die Männer und
Frauen der Kosovo-Force hätten in elf Jahren nicht viel
erreicht. Und es besteht Grund zur Hoffnung, dass auch
in den nächsten Jahren erhebliche Fortschritte auf dem
westlichen Balkan erreicht werden. Weil die KFOR
Sicherheit gibt, glauben die Menschen, dass ihre Kinder
eine sichere Zukunft haben. Weil die Menschen an die
Zukunft ihrer Kinder glauben, können sie in die Zukunft
in Europa investieren. Kurzum: Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung und eine Zukunft in Europa. Sicherheit im Kosovo braucht KFOR - so lange, bis der
Auftrag der Vereinten Nationen beendet ist.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Christian Ströbele das Wort.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Der Deutsche Bundestag
wird jetzt - voraussichtlich mit großer Mehrheit - die
Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo
beschließen.
({0})
Der Deutsche Bundestag beruft sich auf einen Antrag
der Bundesregierung, in dem zur Legitimierung dieses
Einsatzes der Bundeswehr im Kosovo entscheidend auf
die Resolution der Vereinten Nationen 1244 Bezug
genommen wird.
Der Deutsche Bundestag - und vorher schon die Bundesregierung - übersieht aber, dass wichtige Voraussetzungen für die Entscheidung der Vereinten Nationen inzwischen weggefallen sind. Wer die Resolution 1244
durchsieht, erkennt, dass sie schon in ihrer Präambel besagt, dass es darum geht, dass alle Staaten ein Bekenntnis zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der
Bundesrepublik Jugoslawien abgeben. Eine der Hauptaufgaben des Einsatzes nach dieser Resolution, auf die
Sie alle Bezug nehmen, soll die Herstellung, die Gewährleistung einer substanziellen Selbstverwaltung für
das Kosovo unter voller Berücksichtigung der Prinzipien
der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der
Bundesrepublik Jugoslawien sein.
({1})
Wie kann sich dieser Antrag auf diese Resolution
stützen - das hat auch mein Vorredner getan -, sodass
dann die Hauptaufgabe des Einsatzes der Bundeswehr
im Kosovo unter anderem die Herstellung, die Erhaltung
und die Gewährleistung der Souveränität und der territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien
sein soll? Solange der Internationale Gerichtshof nicht
die Anerkennungsfrage entschieden hat, kann über den
Antrag keine verantwortliche Entscheidung dieses Parlaments getroffen werden.
({2})
Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, dies bei
ihrer Entscheidung zu berücksichtigen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 17/2009 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 17/1683 anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung nament-
lich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind über-
all die vorgesehenen Plätze von den Schriftführerinnen
und Schriftführern eingenommen? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob noch ein Kollege anwesend ist,
der seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/2011. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und der Linken gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-
Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Ab-
1) Erklärung nach § 31 GO siehe Anlage 2
2) Ergebnis Seite 4673 D
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kernfusionsforschung kritisch überprüfen ITER-Vertrag kündigen
- Drucksachen 17/1433, 17/1949 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Martin Neumann ({1})
Sylvia Kotting-Uhl
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die lieben
Kolleginnen und Kollegen, die in verschiedenen Ecken
in Gruppen zusammenstehen und diskutieren, entweder
Platz zu nehmen oder den Plenarsaal zu verlassen, damit
wir ungestört weiterdebattieren können.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Bereits vor gut einem
Monat haben wir uns hier im Plenum zum gleichen
Thema getroffen. Damals lag die aktuelle Kostenschätzung zum ITER-Projekt frisch auf dem Tisch. Erst auf
massiven Druck der Projektpartner hin konnte die Kommission bzw. das ITER-Management dazu gebracht werden, eine belastbare Kostenschätzung vorzulegen. Das
Ergebnis ist alarmierend. Gegenüber dem ursprünglichen Ansatz von 2,7 Milliarden Euro als europäischem
Anteil an ITER belaufen sich die anteiligen Kosten für
die EU nach nun vorliegender Schätzung auf bis zu
7,2 Milliarden Euro. Das ist eine Verdreifachung der
Kosten. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung zu Recht an die Europäische Kommission appelliert, alle Einsparungsmöglichkeiten zu überprüfen. Es
erging die deutliche Aufforderung an die Kommission,
möglichst rasch Vorschläge für Kosteneinsparungen vorzulegen und zu prüfen, ob und wie die Mehrkosten bei
ITER aus dem EU-Haushalt finanziert werden können.
Das BMBF erwartet zu Recht einen substanziellen Beitrag der EU, gegebenenfalls auch durch Umschichtungen im Haushalt.
Ebenso wichtig war es nach den in der Vergangenheit
nicht besonders glücklichen Erfahrungen mit dem ITERManagement, bei ITER eine hochrangige Taskforce einzurichten. Diese Taskforce hat sich bereits konstituiert
und wird in den nächsten Wochen eine nochmalige Sitzung des Rates für Wettbewerbsfähigkeit vorbereiten,
um die von der Bundesregierung aufgeworfenen Fragen
zu beraten. Nach heutigem Wissensstand ist der jetzt
festgesetzte EU-Kostenanteil von 7,2 Milliarden Euro
realistisch. Zu Recht verlangt die Bundesregierung jedoch, dass es bei den nun definierten Mehrkosten bleibt
und dass dennoch weitere auftretende Kostensteigerungen bei ITER gegebenenfalls durch Einsparungen an anderer Stelle des Projekts finanziert werden.
({0})
Ebenso dringend - möglicherweise entscheidend - ist
die Verbesserung der Leitungsstrukturen bei Fusion for
Energy. Das ist die zuständige Stelle für die Koordinierung der ITER-Aktivitäten, die ihren Sitz in Barcelona
hat. Hierbei sind auch die bisher dort durchgeführten Assessments zu berücksichtigen. Ein weiterer Punkt, der
von der Bundesregierung aufgegriffen wurde und von
uns unterstützt wird, ist die Neugestaltung der Ausschreibungsregularien. Diese sind derzeit einem Forschungsprojekt dieser Größenordnung nicht angemessen. Hier ist eine Anpassung an internationale Standards
notwendig.
({1})
Schließlich ist für die weitere Unterstützung des Projekts seitens der Bundesrepublik und damit auch seitens
dieses Parlamentes sowohl hinsichtlich der Kostenplanung als auch hinsichtlich der Entwicklung des wissenschaftlichen Konzeptes künftig deutlich mehr Transparenz erforderlich. Es ist insofern zu begrüßen, dass
zukünftig auch Vertreter der einzelnen europäischen Regierungen, jedenfalls der wichtigsten Mitgliedstaaten
wie Deutschland, in die Führungsgremien von ITER einbezogen werden.
({2})
Bezüglich der Fusionsforschung stehen wir in dieser
Woche an einem Scheideweg. Ich möchte nicht falsch
verstanden werden: Selbstverständlich bekennen wir uns
nach wie vor zur Fusionsforschung, weil wir die darin
liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer
Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen.
Funktioniert die Kernfusion wie geplant, können wir unseren Energiebedarf ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einfach und sauber decken. Bis dahin ist es jedoch
ein weiter Weg. Dieser Weg darf für die Beteiligten nicht
zu einem Drahtseilakt werden, zumal uns ein Auffangnetz derzeit fehlt.
Auf die Chancen für die Hightechindustrie in
Deutschland und die positiven Wechselwirkungen von
ITER und der Fusionsforschung in Garching und Greifswald habe ich in meiner letzten Rede bereits hingewiesen. Nochmals: Wir sind gewillt, das Projekt ITER weiterzuführen, allerdings nur dann, wenn wir die feste
Überzeugung haben, dass das Management den Aufgaben gewachsen ist und die technischen Probleme in den
Griff zu bekommen sind. Auch hier sind noch einige
Fragen offen, zum Beispiel hinsichtlich ungeklärter Materialfragen beim Bau des Reaktors.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - Sie
haben den Antrag gestellt -, ganz ohne Risiko kommen
wir nicht zu neuer Spitzentechnologie. Schließlich setzen wir ganz bewusst auf deutliche Mehrausgaben in den
Bereichen Bildung und Forschung. Ich erinnere an unsere lebhafte Diskussion heute Morgen. Bei der harten
internationalen Konkurrenz liegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort in der Forschung. Die
Fortführung von ITER hat also nichts damit zu tun, die
Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren, wie das die
Grünen gerne unterstellen. Dieser Vorwurf ist unredlich,
entsprechende Befürchtungen sind offensichtlich unbegründet, und das wissen auch Sie.
({3})
Bei ITER sind wir in eine über die EU hinausgehende
Gemeinschaft bedeutender Staaten eingebunden. Ich
nenne nur die USA, Japan, Russland und China. Das bietet Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobachtung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau,
wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunftsweisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet
uns zu einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren
Vorgehens.
({4})
Ein schneller Ausstieg ist keine Lösung. Ein deutscher Alleingang ist im Übrigen vertragsrechtlich ohne
die anderen Euratom-Staaten nicht möglich, es drohen
zudem hohe Auslösungskosten. Bei einem Ausstieg
müssen insbesondere die Auswirkungen auf die europäische Forschungszusammenarbeit, auf die bereits erwähnten deutschen Fusionsprojekte in Garching und
Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großforschungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie
XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft werden.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deutschen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor allem aber das IPP in Garching, bisher überproportional
von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben.
Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht,
ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw.
dem Nachfolger DEMO ab ca. 2025 die Perspektive.
Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit und
Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cadarache und des damit zusammenhängenden starken französischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu einem ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER.
({5})
Lassen Sie uns also gemeinsam kritisch bleiben, aber
noch nicht den Stab über das Projekt brechen. Dafür ist
heute nicht der richtige Zeitpunkt. Es scheint, als hätten
die Gewitter der letzten Wochen tatsächlich reinigende
Wirkung gehabt. Richten wir nun den Blick voraus und
nehmen wir die deutsche Führungsrolle bei der Bewältigung der europäischen ITER-Krise an. Ich bitte Sie daher, dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht zuzustimmen und der Beschlussempfehlung des Ausschusses
zu folgen.
Herzlichen Dank.
({6})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
zwischendurch das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen bekannt geben. Abgegebene Stimmen 567.
Mit Ja haben gestimmt 486, mit Nein haben gestimmt 71,
Enthaltungen gab es 10. Die Beschlussempfehlung ist
damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 567;
davon
ja: 486
nein: 71
enthalten: 10
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
({8})
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Nadine Müller ({12})
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Raab
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({23})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({25})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({26})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({27})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({28})
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({29})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({30})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({31})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({32})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({33})
Werner Schieder ({34})
Ulla Schmidt ({35})
Silvia Schmidt ({36})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({37})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({38})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({39})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({40})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({41})
Michael Link ({42})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({43})
Burkhardt Müller-Sönksen
({44})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({45})
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({46})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({47})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({48})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({49})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({50})
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({51})
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Tabea Rößner
Claudia Roth ({52})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({53})
Dr. Peter Gauweiler
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({54})
Dr. Herbert Schui
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Enthalten
SPD
Klaus Barthel
Petra Hinz ({55})
Waltraud Wolff
({56})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Hermann Ott
Dr. Harald Terpe
Wir setzen die Beratung fort. Der nächste Redner ist
Kollege René Röspel von der SPD-Fraktion.
({57})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Sonne meint es heute wieder sehr gut mit
uns. Draußen sind 30 Grad. Wenn man in der Sonne
steht, spürt man die Sonnenstrahlung und die Wärme,
die auf einen einwirkt. Welch gewaltige Menge an Energie uns zugeführt wird, wird einem vielleicht klar, wenn
man sich vor Augen führt, dass von diesem Pult, von
dieser Stelle aus gesehen, sich die Sonne in einer Entfernung von 150 Millionen Kilometern befindet. Trotzdem
ist sie in der Lage, uns eine solche Energiemenge zu senden. Wie passiert das? In der Sonne werden zwei leichte
Atomkerne zu einem schwereren verschmolzen. Das ist
die Kernfusion. Unter einem milliardenfachen Erdatmosphärendruck und 15 Millionen Grad Celsius Temperatur wird eine so gewaltige Menge an Energie freigesetzt,
dass es ausreicht, uns Licht und Wärme in ausreichender
Menge zu senden.
Das ist faszinierend. Ich kann nachvollziehen, dass
Forscher seit über einem halben Jahrhundert von der
Vorstellung bewegt sind, diesen Prozess der Kernfusion,
also der Kernverschmelzung, auf die Erde zu holen und
für die Energiegewinnung nutzbar zu machen. Aus unserer Sicht ist allerdings zu vermuten, dass das noch ein
wenig dauern wird. Es ist nicht machbar, dieses Projekt
als einzelnes Land zu stemmen. So haben sich neben der
Europäischen Union sechs weitere Länder, unter anderem China, Indien, die USA, Südkorea und Japan, zusammengefunden, um einen Kernfusionsexperimentalreaktor namens ITER in Cadarache in Frankreich zu
bauen. 2019 soll es die ersten Plasmaversuche geben,
2026 den ersten Betrieb mit Deuterium und Tritium, und
für 2050 wird vermutet, dass der erste kommerzielle Reaktor in Betrieb gehen könnte. In 40 Jahren, von heute
an gerechnet, könnte durch Kernfusion vielleicht das
erste Kilowatt Strom geliefert werden.
Allerdings hat man das auch vor 40 Jahren schon geglaubt. Eigentlich müsste es schon heute einen Kernfusionsreaktor geben. Als ich vor zwölf Jahren ins Parlament kam, war einer meiner ersten Kontakte im
wissenschaftlichen Bereich ein in Sachen Kernfusion
sehr engagierter Professor, der vermutete, dass wir in 30
bis 40 Jahren in der Lage seien, die Kernfusion tatsächlich zu nutzen. Das ist allerdings schon zwölf Jahre her.
Problem Nummer eins bei der Kernfusion ist, dass sie
sich nach wie vor im Stadium der Grundlagenforschung
befindet und noch lange befinden wird. Die Anwendungsmöglichkeit liegt in weiter Ferne.
Problem Nummer zwei ist - das ist der Punkt, über
den wir im Moment im Wesentlichen reden -, dass wir
von einer gewaltigen Kostenexplosion ausgehen müssen. Während noch 2001 von der Europäischen Kommission und den Betreibern berechnet wurde, dass das
gesamte Projekt 5,9 Milliarden Euro kosten und der Anteil für die Europäische Union in Form der Euratom
2,7 Milliarden Euro betragen würde, sprechen wir heute
von 7,2 Milliarden Euro möglicher Kosten für Euratom.
Wir sprechen also über eine Steigerung von 2,7 auf
7,2 Milliarden Euro. Allein 2012 und 2013 braucht das
ITER-Projekt 1,4 Milliarden Euro zusätzlich. Die indirekte Belastung für Deutschland beträgt für diesen Zeitraum etwa 280 Millionen Euro.
Ich gebe zu: Mein Vertrauen in die Kostenkalkulation,
was ITER und Kernfusion anbelangt, schwindet dramatisch, und das nicht erst seit heute.
({0})
Die Analyse im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
deckt sich eindeutig mit dem, was wir formulieren. Allerdings können wir die Konsequenz, die außerordentliche Kündigung des Vertrages, nicht als realistisch einschätzen. Deswegen werden wir uns bei der
Abstimmung enthalten.
Wir haben ein großes Dilemma, nämlich eine komplexe Vertragssituation. Dieser Vertrag zwischen den
sechs Ländern und der Europäischen Union ist vermutlich entstanden - anders kann ich das nicht erklären -,
um den Kernfusionsreaktor nach Europa zu bekommen.
Wenn man sich den Vertrag durchliest, kann man nicht
verstehen, warum er so formuliert wurde. Nach Art. 26
dieses Vertrags - Deutschland ist nicht direkt an dem
ITER-Abkommen beteiligt, sondern nur über Euratom kann nämlich jede Partei außer der Gastgeberpartei vom
Vertrag zurücktreten. Das heißt, alle können austreten,
nur das Sitzland nicht. Das ist die Europäische Union,
Frankreich im Besonderen.
Das Dilemma Nummer zwei, in dem wir uns befinden, ist, dass nach Art. 26 dieses ITER-Vertrages der
Rücktritt nicht den Beitrag zu Bau- und Stilllegungskosten berührt. Sprich: Wenn man tatsächlich austreten
würde, was den anderen Vertragsparteien möglich wäre,
wäre man zwar nicht mehr dabei, würde aber trotzdem
zahlen. Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass
die Beiträge zu ITER, zu diesem Reaktor, im Wesentlichen in der Form von Lieferungen von fertigen Komponenten aus den jeweiligen beteiligten Ländern, also auch
Deutschland, geleistet werden. Die Beiträge werden also
von deutschen Unternehmen in Form von Material und
Technologie geleistet. Bei einem Ausstieg zahlt man
nach meiner Interpretation des Vertrages weiter, arbeitet
aber nicht mehr mit.
Die SPD bleibt dabei: Die Kernfusion ist zweifelsohne eine höchst spannende Forschungsoption. Sie war
für uns aber nie Energieversorgungsoption.
({1})
Sie ist keine Energieoption für die Zukunft. Wir brauchen bereits heute und nicht erst 2050, und zwar schneller, als wir es bisher anstreben, den Einstieg in erneuerbare Energien, in Energieeffizienz,
({2})
damit wir den nachfolgenden Generationen keine Klimakatastrophe hinterlassen und ihnen die Möglichkeit geben, Ressourcen, die wir heute verschwenden, weiterhin
zu nutzen.
({3})
Das allerdings muss heute passieren und nicht erst 2050.
Nicht hinnehmbar ist für uns, dass diese Kostensteigerungen in der Form stattfinden, wie sie jetzt von der
Europäischen Kommission an uns übermittelt worden
sind. Wir drängen ausdrücklich darauf, dass sich die
Bundesregierung für eine Deckelung der Beiträge einsetzt. Soweit ich das mitbekommen habe, vertritt auch
sie diese Position. Es darf nicht sein, dass die Kosten
über das bisherige Maß hinaus gesteigert werden. Wir
fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen,
dass sich die Industrie stärker an diesem Projekt beteiligt. Wenn allgemein anerkannt werden sollte, dass 2050
eine kommerzielle Nutzbarkeit vorhanden sein wird,
dann sind wir der Auffassung, dass sich die Industrie
auch heute schon daran beteiligen muss.
Wir wollen, dass die Bundesregierung eine transparente Kostenanalyse und vor allen Dingen eine Prognose
vorlegt, wie es bei ITER weitergehen wird. Wir erwarten
von der Bundesregierung, dass sie für den Fall der Fälle
eine Exitstrategie, also eine Ausstiegsstrategie, vorbereitet, wie wir gegenüber Europa durchsetzen - wie auch
immer das gehen kann -, dass wir uns an den weiteren
Kosten nicht mehr beteiligen.
Wir brauchen nicht die Mechanismen, die in der
Sonne zur Energieentstehung beitragen, auf die Erde zu
holen. Wir können die Energie der Sonne schon heute
ausgiebig nutzen. Das sollten wir mit aller Kraft tun.
({4})
Die Sonne ist für alle da und für alle nutzbar. Kernfusion
kann nur von denen genutzt werden, die sie sich leisten
können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei meinem gestrigen Besuch auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung am Flughafen
Berlin-Schönefeld kam ich mit einem Vertreter eines der
bedeutendsten Hersteller für Flugzeugtriebwerke ins Gespräch. Jetzt fragen Sie natürlich, was das mit dem
Thema ITER und vor allen Dingen mit dessen Zukunftsperspektiven zu tun hat. Ich fragte, als mir ein Triebwerk
einer neuen Generation gezeigt wurde, wie hoch in etwa
die Entwicklungskosten für ein solches Hightechprodukt
sind. Die Antwort, die ich erhalten habe, hat mich nachdenklich gemacht. Vom Anfang der Entwicklung bis
zum fertigen Triebwerk muss circa 1 Milliarde Euro investiert werden.
Zurück zum ITER. Wir sprechen hier über die Kostensteigerung und den europäischen Anteil bei der Finanzierung des größten Fusionsforschungsprojektes der
Welt. Der europäische Anteil für diese Energiemaschine
soll 7,2 Milliarden Euro betragen. Dieser Betrag wird
gedeckelt. Im Gegensatz zu dem genannten Triebwerksbau betreten wir an dieser Stelle völliges Neuland. Mit
ITER schaffen wir das Triebwerk für die Energieversorgung von morgen. Mit der Kernfusionsforschung versucht man, eine unerschöpfliche Quelle kostengünstiger
und umweltfreundlicher Energie zu entwickeln, bei der
kaum Abfallprodukte entstehen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
Grünen, das lässt sich doch nicht verleugnen. Ist das
nicht unser gemeinsames Ziel? Vielleicht aber setzen Sie
bei umweltfreundlicher Energiegewinnung auf nur wenige Branchen.
Auch wenn die positiven Aspekte der klimafreundlichen Energiegewinnung im Vordergrund stehen, darf
man die kostenökonomischen Zügel nicht schleifen lassen.
Im Antrag der Grünen wird auf die nicht unerhebliche
Kostensteigerung hingewiesen. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, diese Fakten sind nicht neu. Bereits im
Jahr 2008 wurde bekannt, dass bei ITER mit einer größeren Kostensteigerung zu rechnen sein wird, als bei Vertragsunterzeichnung bekannt war. Jetzt ist die Katze tatsächlich aus dem Sack. Heute betragen die Gesamtkosen
für Europa 7,2 Milliarden Euro. Wenn man sich die Ursachen dieser Kostensteigerung anschaut, stellt man fest,
dass sie im Wesentlichen auf erhöhte Rohstoffpreise,
neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen hinsichtlich des notwendigen Umfangs von Diagnostiken zurückzuführen
ist. Umso wichtiger ist es, bei solchen internationalen
Dr. Martin Neumann ({1})
Großprojekten die Kosteneffizienz stärker im Auge zu
behalten.
({2})
Klar ist: ITER darf nicht zu einem schwarzen Loch
für Steuergelder verkommen.
({3})
Die derzeitige Entwicklung zeigt, dass die ITER-Partner
auf einem guten Weg sind, eine Lösung für das Finanzierungsproblem zu finden. Euratom muss 5,9 Milliarden
Euro aufbringen. Frankreich muss zu seiner Verpflichtung stehen, 20 Prozent der Kosten der europäischen
Partner zu tragen. Der Rest muss aus den laufenden und
künftigen Forschungsrahmenprogrammen finanziert werden.
Ich stehe auf der Seite der Bundesregierung, die die
Auffassung vertritt, dass die zusätzlichen Kosten nicht
einfach den EU-Mitgliedstaaten übergeholfen werden
dürfen. Es ist richtig, dass jetzt eine Taskforce, die übrigens am 3. Juni 2010 das erste Mal getagt hat, überlegen
soll, welche Lösungen bezüglich des Finanzierungsdefizits von ITER einvernehmlich gefunden werden können.
Sich jetzt aus dem Projekt zu verabschieden, wäre für
uns aber der falsche Weg.
({4})
Vielmehr ist es richtig, neu zu kalkulieren, Kostenfallen deutlich zu machen und das Projekt unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten. Ich persönlich
sehe schon deutliche Verbesserungen des Projektmanagements durch die Einführung eines wissenschaftlich
adäquaten Controllingsystems als einen entscheidenden
Schritt an.
Ich sage deutlich: Wir können es uns heute nicht leisten, uns leichtfertig aus dem ITER-Projekt zu verabschieden. Wir können es uns auch nicht leisten, dass
auch nur ein ITER-Partner aufgibt, nur weil Frankreich
als Sitzland des ITER seinen Verpflichtungen vielleicht
nicht nachkommt. Das wäre fatal.
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang ganz
kurz an die damalige Standortentscheidung. Dass sich
Deutschland letztendlich nicht um den Standort beworben hat, wurde damit begründet, dass der Sitzlandanteil
in dieser Größenordnung von Deutschland nicht finanziert werden könne.
Sie wissen sicherlich, dass XFEL zu 54 Prozent vom
Sitzland Deutschland finanziert wird. Das sind immerhin
584,3 Millionen Euro der Gesamtkosten von 1,08 Milliarden Euro. Umso mehr freue ich mich, dass Frankreich
- so glaube ich, zu hören - zu seinen Verpflichtungen stehen will und 1,3 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen
wird.
Unstrittig ist, dass das Fusionsforschungsprojekt ITER
von der christlich-liberalen Koalition weiterhin befürwortet und unterstützt wird. Die Entwicklung des Projektes wird aufmerksam beobachtet und kritisch analysiert.
Die deutschen Interessen und die der übrigen Mitgliedstaaten müssen gegenüber der EU-Kommission mit
Nachdruck vertreten werden. Nach wie vor appelliert die
FDP-Bundestagsfraktion an die bisherigen Gegner von
ITER: Meine Damen und Herren, setzen Sie sich in Ihren
Fraktionen für ITER ein! Beenden Sie die Politik der kleinen Messerstiche gegen die Fusionsforschung!
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Petra Sitte für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ITER ist,
wie schon gesagt, ein internationales Fusionsexperiment.
Diese Anlage soll durch Verschmelzung von Wasserstoffkernen Energie erzeugen; Herr Röspel hat das erklärt. Allerdings soll bei ITER zum ersten Mal mehr
Energie erzeugt werden, als zum Betrieb aufgewendet
wird. Ziel des Megaprojektes soll langfristig eine neue
Form der Energiegewinnung sein.
Aus dem Lateinischen übersetzt heißt ITER „Weg“.
Wenn man diesen Weg verfolgt, stellt man fest: Er ist in
der Tat lang, steinig und ausgesprochen verschlungen,
und keiner kann heute sagen, ob man das Ziel jemals erreicht.
In den Schätzungen hinsichtlich einer kommerziellen
Nutzung dieser Erzeugungsform - das ist schon gesagt
worden - geht man vom Jahr 2050 aus. Physiker haben
das auch schon vor 50 Jahren gesagt. Nun sind diese
50 Jahre vorbei, aber an dieser Prognose des Zeithorizonts hat sich nichts geändert.
Was sich aber geändert hat, sind die Rahmenbedingungen, und das ist das Problem. Durch ITER kann aktuell eben nichts nachhaltig zur Reduzierung der Klimaerwärmung der Erde beigetragen werden. Wir haben
diese Zeit nicht mehr. Im Jahre 2050 ist der Point of no
Return lange überschritten. Die Experten sagen - und so
steht es auch in den internationalen Vereinbarungen -,
dass bereits in den nächsten zehn Jahren die wichtigsten
Maßnahmen für die Energiewende gegriffen haben müssen.
ITER dauert nicht nur ultralang, sondern ist auch, wie
meine Kollegen schon ausgeführt haben, megateuer. Regelmäßig erhalten wir im Ausschuss neue Kostenschätzungen. Angesichts der globalen Finanzkrise hat auch
die Projektfinanzierung natürlich einen kritischen Punkt
erreicht, wenn die Summe dafür heute dreimal so hoch
wie ursprünglich angenommen ist.
({0})
Die Mitgliedstaaten wollen diese Kosten nicht tragen;
das kann ich auch nachvollziehen. Die Bundesregierung
hat uns die jüngste Information gegeben, wonach alles
aus dem EU-Haushalt finanziert werden soll. Es ist also
völlig klar, dass darunter andere Programme leiden werden, insbesondere im Forschungsbereich. Das möchten
wir nicht; wir möchten vorher genau Auskunft darüber
haben, was man dort eigentlich ins Auge fasst.
({1})
Die Linke hat die Entwicklung des Projektes schon
lange kritisch betrachtet. Die Fusionstechnologie ist
grundsätzlich natürlich eine ausgesprochen interessante
Technologie, allerdings werden aufgrund der ITER-Milliarden zum gegenwärtigen Zeitpunkt und unter den jetzigen Rahmenbedingungen für andere Projekte weniger
Gelder zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für Projekte
für Energieeinsparung, für effizientere Speicherformen
und andere klimafreundliche Erzeugungsformen.
Die Koalition tritt zeitgleich auch noch auf die Bremse,
wenn es um den nachhaltigen Umbau der Energieversorgung geht. Es werden in diesem Bereich nämlich die Mittel
reduziert. Zudem wollen Sie die Einspeisevergütung für
Solarenergie kürzen, wodurch beispielsweise bei uns im
Osten - ich komme aus Sachsen-Anhalt; „Solar Valley“
ist bei mir um die Ecke - massiv Arbeitsplätze gefährdet
werden. Das heißt, Schwarz-Gelb ist nicht nur eine Warnfarbe, sondern Schwarz-Gelb will unter diesen Bedingungen auch noch die Laufzeiten von Kernkraftwerken verlängern. Das heißt natürlich auch, dass genau wie bei
ITER ein Missverhältnis zwischen öffentlichen Aufwendungen und privatem Engagement entsteht. Wenn selbst
die FDP sagt, die Wirtschaft müsse hier stärker einsteigen, dann kann man dem nichts mehr hinzufügen. Der
Staat investiert, und die private Energiewirtschaft schöpft
später die Gewinne ab.
Schon jetzt - wir sehen es täglich - wird durch Monopolisten der Energiewirtschaft am Markt nicht nur der
Ausbau dezentraler Strukturen, sondern eben auch eine
sozial gerechte und transparente Preisgestaltung erschwert. Das muss bei künftigen Netzstrukturen, insbesondere bei ITER, in Rechnung gestellt werden. Durch
kommerzielle Fusionskraftwerke wird dieser Zentralisierungseffekt nämlich verstärkt.
Das alles sind gewichtige Gründe dafür, das Gesamtprojekt zur Diskussion zu stellen. Für uns ist der Antrag
der Grünen mit der Konsequenz, aus den Verträgen auszusteigen, ein erster Schritt. Die Frage nach der Verlässlichkeit stellt sich eben nicht nur für die Forscherinnen
und Forscher sowie hinsichtlich der Forschung, sondern
auch in Bezug auf die öffentlichen Haushalte.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nun Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Seit der ersten Lesung unseres Antrags hat sich
auch in anderen Kreisen die Erkenntnis durchgesetzt,
dass ITER ein Projekt ist, das immense Finanzmittel bei
fragwürdigem oder doch zumindest sehr potenziellem
zukünftigen Nutzen verschlingt. Das lässt hoffen, dass
diese Fusionsforschung, wenn schon nicht hier durch
den Bundestag, dann doch über andere Wege gestoppt
wird. Die Mitgliedsländer der EU haben derzeit keine
1,4 Milliarden Euro Spielgeld übrig, um weiter in ITER
zu investieren.
({0})
Dadurch, dass nun eine Taskforce gegründet wurde,
die der Kommission gute Argumente für den ITER-Rat
liefern soll, zum Beispiel durch den Vorschlag Frau
Schavans, das Projekt kleiner zu dimensionieren, wird
mehr die verzweifelte Lage als irgendein Lösungsweg
gezeigt.
({1})
Ich nenne noch einmal die Zahlen, um die es geht:
Die reinen Baukosten für den ITER werden heute auf
16 Milliarden Euro geschätzt. Da man vor neun Jahren
noch von 5,9 Milliarden Euro ausging, habe ich keine
Zweifel, dass es bis zur Fertigstellung des ITER nicht
bei den 16 Milliarden Euro bleiben wird. ITER ist ein
Fass ohne Boden.
Die Begründungen für die Kostensteigerungen sind
hanebüchen, zum Beispiel das Argument, man konnte
nicht wissen, dass man in einem Erdbebengebiet baut.
({2})
Abgesehen davon, dass ein Fusionsreaktor nicht in ein
Erdbebengebiet gehört, sodass diese neue Erkenntnis zu
ganz anderen Konsequenzen führen sollte, freue ich
mich auf weitere überraschende Erkenntnisse der Planer.
Falls der ITER tatsächlich eines Tages gebaut sein
sollte, entstehen Kosten für die Experimente, den Betrieb und die Entsorgung der radioaktiven Rückstände.
Dafür wird mit Kosten gerechnet, die der Hälfte der
Baukosten entsprechen. Das sind also weitere
8 Milliarden Euro.
Nach ITER kommt DEMO, der Demonstrationsreaktor. Strom gibt es dann immer noch nicht, nur weitere
Kosten.
Wofür das alles? Für das vage Versprechen: Falls alles
klappt, gibt es im Jahr 2055 ungeheure Mengen Energie.
Die Einlösung dieses Versprechens ist aber völlig überflüssig. Niemand in der EU und schon gar nicht in
Deutschland braucht 2055 ungeheure Mengen zusätzlicher und dann auch noch teurer Energie.
({3})
Wenn wir im Klimaschutz-Zieljahr 2050 nicht ein
Stromsystem aufgebaut haben, das sich durch höchste
Effizienz und null Emissionen auszeichnet, also zu
100 Prozent aus erneuerbaren Energien besteht, dann ha4680
ben wir in der Jahrhundertaufgabe Klimaschutz völlig
versagt.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung an die lieben
Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Sie hängen
noch an der Kernfusion als Forschungsprojekt. Die Fusionsforschung und besonders der ITER wurden aber immer mit dem Energiebedarf begründet. Sie war und ist
also anwendungsbezogen. Verträge können nach Völkervertragsrecht gekündigt werden, Herr Röspel. Nach
Art. 62 des Wiener Übereinkommens über das Recht der
Verträge kann ein Vertrag, wenn durch die Änderung der
bei Vertragsabschluss gegebenen Umstände das Ausmaß
der zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestaltet werden würde, gekündigt werden. Wann, wenn
nicht bei einer dreifachen Kostensteigerung, werden die
Ausmaße tiefgreifend verändert?
({5})
Gehen Sie alle heute den konsequenten Schritt und
stimmen Sie unserem Antrag zu! ITER macht im Jahr
der größten EU-Finanzkrise und in Zeiten notwendiger
und schneller Antworten auf die Energie- und Klimafragen keinen Sinn mehr.
Ein erfolgreiches Prestigeobjekt auch für internationale Zusammenarbeit sieht anders aus als der ITER. Ich
bin überzeugt, dass wir da etwas Besseres finden.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt das besondere Vergnügen, Sie kurz
vor der namentlichen Abstimmung noch einmal für das
Thema Energieforschung zu begeistern, und werde mein
Bestes geben, das zu erreichen.
Heute vor 55 Jahren wurde der Grundstein für CERN
gelegt. Einige von uns erinnern sich. Es war damals das
erste europäische Kernforschungslabor und ist inzwischen das weltweit größte Forschungszentrum für Teilchenphysik. Es hat uns viel gelehrt. Unter anderem ist es
ein gutes Beispiel für die internationale Zusammenarbeit
im Bereich der Forschung. Es hat uns auch gelehrt, dass
wir einen langen Atem brauchen, um gute Ergebnisse zu
erzielen. Das Gleiche gilt auch für die Erforschung der
Kernfusion. Ich glaube, dass in ihr die Chance für eine
zukunftsweisende Energiequelle liegt. Deswegen sollten
wir grundsätzlich an ihr festhalten.
({0})
Worum geht es? Wir bekommen eine Energiequelle,
die CO2-frei, sicher und wirtschaftlich ist und keine Endlagerproblematik mit sich bringt. Dafür brauchen wir natürlich Investitionen. Es wurde schon gesagt, dass wir
zwei entsprechende Projekte haben: das internationale
Projekt ITER, welches das komplexere von beiden ist,
und das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald, welches unseren nationalen Forschungsbeitrag
dazu darstellt. Immerhin haben uns die Wissenschaftler
verlässlich zugesichert, dass wir 2035 mit einem Modellkraftwerk rechnen können. Darauf haben wir sie
auch festgenagelt, und ich denke, dass das erreichbar ist.
({1})
- Wir prüfen das dann zusammen, Herr Röspel.
({2})
Ziel unserer Energieforschung ist es, Energieformen
für die Zukunft zu finden, mit der wir - der Herr Umweltminister ist ja auch da - unsere Klimaziele erreichen. Eine umweltverträgliche, klimaschonende und
nachhaltige Energieversorgung ist das Ziel. Sie muss sicher sein; dazu gehören die Versorgungssicherheit sowie
die technische Sicherheit. Natürlich sind auch Wettbewerbsfähigkeit und Verbraucherfreundlichkeit wichtig.
Schließlich sollten wir auch den Energiestandort
Deutschland nicht vergessen, der mit auf dem Spiel
steht.
Wir haben vier Schwerpunkte in der Energieforschung:
Der wichtigste Schwerpunkt, zu dem wir stehen,
wurde schon oft genannt: die regenerativen Energien.
({3})
Energiespeicherung ist ein weiteres wesentliches
Thema.
Außerdem brauchen wir intelligente Netze, um die erneuerbaren Energien ans Netz zu bekommen. Wir werden uns bemühen, diese möglichst schnell auszubauen.
Ein Schwerpunkt ist aber auch die Fusionsforschung.
Trotz all der großen Zahlen, die hier genannt wurden,
macht sie weit weniger als 1 Prozent des Etats für Bildung und Forschung aus. 2050 wird mein Sohn 47 Jahre
alt sein.
({4})
Wenn die Technik dann funktioniert, wenn auch mit ein
paar Jahren Verspätung, wird er uns das danken. Insofern
sollte man daran festhalten.
({5})
Herr Röspel hat schon kurz dargestellt, worum es bei
der Kernfusion geht. Er hat aber nicht gesagt, dass
1 Gramm Wasserstoff so viel Energie freisetzt wie die
Verbrennung von 8 Tonnen Erdöl und 11 Tonnen Kohle.
Der Brennstoff ist ein extrem dünnes ionisierendes Gas.
Die Problematik besteht darin, das Plasma zu erzeugen
und die sehr hohen Temperaturen - 15 Millionen Grad
sind es, glaube ich, nicht; diese Temperatur herrscht nur
in der Sonne ({6})
von einigen Millionen Grad zu beherrschen. Aber diese
Herausforderung bringt uns auch zusätzliche Erkenntnisse in der Materialforschung, im Anlagenbau und in
der Sensorik. Es werden also auch rund um das Projekt
Erkenntnisse gewonnen, die wichtig für uns sind. Das ist
noch ein Grund, warum man zu diesem Zeitpunkt nicht
aus ITER aussteigen sollte.
({7})
ITER nicht um jeden Preis - das sehen auch wir so.
Wir können Frau Schavan dankbar dafür sein, dass sie
im Wettbewerbsrat für die Einrichtung einer Task Force
eingetreten ist, die sich um eine Deckelung der Kosten
kümmern soll. Dazu haben sich jetzt alle verpflichtet. Im
Juni soll ein Konzept erstellt werden. Das sollte man erst
einmal abwarten, bevor man das ganze Projekt jetzt vorzeitig abbricht. Außerdem befinden wir uns in einer internationalen Kooperation. Wenn wir jetzt alleine frühzeitig aussteigen, verspielen wir einen gewissen
internationalen Ruf.
Ich komme vorzeitig zum Schluss, damit wir gleich
abstimmen können: Wir brauchen eine starke Energieforschung. Wir setzen auf Forschung und Bildung für
die Zukunft unseres Landes. Wir müssen nicht nur sparen, sondern auch in die Zukunft investieren, und das tun
wir auch.
Ich freue mich auf die Abstimmung und bitte Sie um
Ihre Zustimmung.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Kernfusionsforschung kritisch
überprüfen - ITER-Vertrag kündigen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/1949, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1433 abzulehnen.
Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen namentlich über die Beschlussemp-
fehlung ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. Sind alle Schriftführer an ihren
Plätzen? - Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten eingeworfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann
schließe ich den Wahlgang und bitte, mit der Auszählung
zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort.
1) Seite 4684 D
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP
Europa 2020 - Die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie der Europäischen
Union braucht realistische und verbindliche
Ziele
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Europa 2020 - Strategie für ein nachhaltiges
Europa
Gleichklang von sozialer, ökologischer und
wirtschaftlicher Entwicklung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Fritz Kuhn, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU 2020 - Für ein ökologisches und soziales
Europa
- Drucksachen 17/1758, 17/882, 17/898, 17/2015 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Gabriele Molitor
Manuel Sarrazin
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Andrej
Konstantin Hunko, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Europa 2020 - Ein nachhaltiges Europa nur
mit tiefgreifenden Reformen
- Drucksache 17/1969 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Gabriele Molitor von der
FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das erste
Halbjahr 2010 war von tiefen Erschütterungen geprägt.
Die Schuldenkrise in Griechenland, die Währungskrise
der Europäischen Union und die Auswirkungen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise haben unser Denken
und Handeln in den vergangenen Monaten maßgeblich
bestimmt. Die Bürgerinnen und Bürger sind in Sorge.
Sie erwarten nicht nur die richtigen Sofortmaßnahmen,
sondern auch nachhaltige Langzeitstrategien.
Die neue europäische Wachstums- und Beschäftigungsstrategie „Europa 2020“ verfolgt genau diesen
Ansatz. Die Europäische Union zeigt anhand des Kerngedankens eines intelligenten, integrativen und nachhaltigen Wachstums auf, wie sich Europa in der Welt aufstellen soll. Die geforderten Anstrengungen im Bereich
der Wirtschafts-, Forschungs-, Bildungs- und Klimapolitik sind notwendig und richtig.
Vor allem aber muss diese Strategie - das ist mir ganz
besonders wichtig - Rahmenbedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen setzen.
({0})
Arbeiten zu können, sichert Existenzen und ist der beste
Schutz gegen Armut. Ein Arbeitsplatz finanziert direkt
und indirekt unsere Sozialsysteme. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, anhand des von der Bundesregierung
mitverhandelten Armutsindikators den Anteil der Personen zu reduzieren, die in Erwerbslosenhaushalten leben.
Dieses Ziel wird von uns unterstützt. Vorrangig muss es
uns und unseren Partnern darum gehen, Arbeitslose wieder in Lohn und Brot zu bringen.
({1})
Das gelingt nur über die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Dabei muss klar sein, dass ein Sozialstaat, der
Armut bekämpfen will, auch das Prinzip des Forderns
und Förderns berücksichtigen muss.
Umso erschreckender sind die an den Realitäten vorbeizielenden und rückwärtsgewandten Forderungen der
Opposition. Entgegen der Notwendigkeit, die in Europa
ansässigen kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken - sie sind ja das Rückgrat unserer Wirtschaft; denn
sie erwirtschaften unseren Wohlstand und sichern unsere
Zukunft -, werden hier Vorschläge aufgetischt, die jede
Hoffnung auf eine Steigerung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zunichtemachen. Mindestlöhne, europäische Betriebsräte,
({2})
überbordende Regularien in Klimafragen schwächen die
Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft.
({3})
Dabei können eine Arbeitsplatzverlagerung und eine
Abwanderung von Unternehmen ins Ausland infolge
drangsalierender Regelungen nicht in ihrem Interesse
liegen. Vielmehr muss es darum gehen, unsere Position
in der Welt zu stärken.
An dieser Stelle ist auch zu sagen: Die Versuche der
Opposition, die richtigen Reformen des deutschen Sozialstaates über Europa wieder auszuhebeln und damit die
Zeit zurückzudrehen, sind enttäuschend. Die Versprechungen von sozialen Wohltaten und Forderungen nach
einer sozialen Fortschrittsklausel schmälern die Zukunftschancen unserer Wirtschaft und der gesamten Europäischen Union.
({4})
Gleichzeitig wird deutlich, dass die Überfrachtung einer
Strategie dazu führt - bei der Lissabon-Strategie ist dies
ja passiert -, dass Ziele nicht erreicht werden, weil Prioritäten falsch gesetzt wurden.
({5})
Die christlich-liberale Koalition hingegen hat sich in
ihrem Antrag klar auf die richtigen Prioritäten geeinigt.
Die Stärkung des Wachstums durch Investitionen in Forschung, Bildung und Innovation sowie der Ausbau des
Beschäftigungsniveaus durch die Verbesserung der Arbeitsmobilität und die stärkere Einbindung bislang unterrepräsentierter Gesellschaftsgruppen sind der Schlüssel
für ein starkes Europa.
Uns sind die Konsequenzen einer falschen Politik für
die europäischen Produktions- und Dienstleistungsstandorte bewusst. Wir wissen, dass nur wettbewerbsfähige
Unternehmen das Niveau unserer sozialen Modelle aufrechterhalten können. Die richtigen Mittel, um dieses
Ziel zu erreichen, sind ein weiterer Abbau von Handelshemmnissen und Zollschranken sowie die stärkere Vernetzung des europäischen Binnenmarktes.
({6})
Für meine Fraktion möchte ich klipp und klar herausstellen: Wir sehen, dass es auch bei uns Armut gibt,
({7})
und wir setzen alles daran, sie zu beseitigen. Aber wir
gehen einen anderen Weg als die Opposition.
Nach einem aktuellen Bericht von Staatssekretär
Hintze hat die EU-Kommission bereits eine Übersicht
notwendiger Verbesserungen für Deutschland erstellt,
damit wir die Ziele von Europa 2020 erreichen und die
entsprechenden Initiativen auf den Weg bringen können.
({8})
Überraschenderweise finden sich hier weder Empfehlungen für die Einführung von Mindestlöhnen noch der Ruf
nach einem Tunnelblick auf grüne Technologien und
Unternehmen. Im Gegenteil, der bisherige Kurs der Bundesregierung wird bestätigt. Gefordert werden ein starker Fokus auf die Konsolidierung der öffentlichen HausGabriele Molitor
halte, die Stärkung des Bildungswesens, die verbesserte
Nutzung von Beschäftigungspotenzialen und die Anregung der Binnenwirtschaft.
Die Entscheidungen der Bundesregierung waren also
nicht nur richtig für das unmittelbare Überstehen der Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern damit wurden auch
noch nachhaltig die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft richtig gestellt. Die Vorschläge für ein milliardenschweres Sparpaket, die Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung um 12 Milliarden Euro bis 2013
sowie die Stärkung des deutschen Binnenmarktes und
der Binnennachfrage durch die Nichterhöhung verschiedener Steuersätze sind die richtigen Mittel, um die Zukunft erfolgreich zu gestalten.
({9})
Deutschland ist recht gut aufgestellt. Ich bin mir sicher, dass auch der nationale Aktionsplan Deutschlands
die richtigen Prioritäten und Vorschläge beinhalten wird.
An dieser Stelle bin ich sehr zuversichtlich, dass wir mit
der neuen Strategie in die richtige Richtung gehen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin alles andere als zuversichtlich, dass die Europäische
Union mit dieser Strategie weiterkommt. Ich will auch
gleich dazusagen, dass wir mit diesen alten Ideologien,
mit diesem überkommenen Klein-Klein Europas Zukunft nicht werden gestalten werden können.
({0})
Bei der Strategie „Europa 2020“ geht es nämlich
nicht um eine Petitesse des europäischen Tagesgeschäfts, sondern es geht um nicht mehr und nicht weniger als um Europas Zukunft. Es geht vor allen Dingen
darum, die Akzeptanz Europas bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu stärken. Europa ist in einer Krise, und das
kann man auch nicht beschönigen. Deswegen ist die
Strategie „Europa 2020“ für unsere Demokratie insgesamt und für die Akzeptanz Europas von großer Wichtigkeit.
Ich will hier eines ganz deutlich sagen: Unerträglich
in der Debatte über die Finanzkrise und die Unterstützung Griechenlands war die schlimme Hetze gegen die
Griechinnen und Griechen.
({1})
Das war aus meiner Sicht ein Tiefpunkt der europapolitischen Debatte. Ich möchte so etwas nie wieder erleben.
Ich hatte gehofft, dass so etwas im 21. Jahrhundert in
Europa nicht mehr möglich ist.
Warum sage ich das im Zusammenhang mit der Debatte um Europa 2020, meine Damen und Herren? Weil
es bei Europa 2020 - ich habe es gesagt - um die Zukunft Europas geht. Es geht um Solidarität. Es geht um
eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir hier nicht aufpassen, nicht vorsichtig sind, nicht die richtigen Akzente
setzen, sondern uns hinter Klein-Klein und hinter alten
Ideologien verschanzen, verabschieden sich die Menschen von Europa, von entsprechenden Debatten und damit letztlich von unserer Demokratie. Wir können in den
Niederlanden, wo gestern gewählt wurde, aber auch in
anderen Mitgliedstaaten beobachten, dass die Menschen
zunehmend rechte Populisten wählen - das ist kein schönes Ergebnis -, die Hassparolen verbreiten und gegen
bestimmte Bevölkerungsgruppen hetzen. Das macht Europa kaputt.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns bei der Strategie „Europa 2020“ darauf konzentrieren, bei dieser Tendenz gegenzusteuern. Wir müssen mit Europa 2020 Antworten auf die Fragen geben, die die Menschen in
unserem Land haben. Hinter dem Anspruch bleibt das,
was auf dem Tisch liegt, deutlich zurück.
({2})
Diese Strategie - das erschreckt mich und macht mich
besorgt - gibt keine Antwort auf die Finanzkrise. Diese
Strategie gibt keine Antwort darauf, wie wir die Finanzmärkte regeln und wie wir künftig Krisen vermeiden.
Vor allem gibt sie keine Antwort auf die drängende
Frage, wer die jetzige Krise bezahlt. Was auf dem Tisch
liegt, gibt keine Antwort darauf, wie wir den Klimawandel gestalten, stärker in Bildung und Forschung investieren, besser Beschäftigung schaffen und sichern sowie
Armut bekämpfen können.
Das Schlimmste ist, meine Damen und Herren: Es ist
nicht nur so, dass die vorliegende Strategie, die der Europäische Rat beschließen wird, dem Anspruch nicht genügt. Was wir zu kritisieren haben, ist - das sage ich sehr
deutlich -: Die Bundesregierung sagt zu allen Ansätzen
Nein und versucht, auch noch ein Minimum an Fortschritt und Zukunftsfähigkeit in Europa zu verhindern.
Dafür trägt die Bundesregierung Verantwortung. Das
kritisiere ich hier sehr deutlich.
({3})
Deutschland ist in Europa nicht irgendein Akteur. Es
wird sehr genau darauf geschaut, wie Deutschland
agiert. Von uns in Deutschland wird erwartet, dass wir
handeln, dass wir Ideen für Europa formulieren und dass
wir voranschreiten. Daran hat sich die deutsche Europapolitik in den letzten Jahrzehnten auch immer orientiert.
Seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch
Schwarz-Gelb stellen wir jedoch fest, dass Deutschland
in Europa isoliert ist, dass die Bundesregierung handlungsunfähig und - vor allen Dingen das ist erschreckend - ideenlos ist.
Die Bundeskanzlerin ist in Europa zur neuen Madame
No geworden und hat die unsägliche Rolle von Maggie
Thatcher übernommen. Das ist etwas, worüber wir uns
im Deutschen Bundestag nicht freuen können, denn es
gibt enorme Herausforderungen in Europa, die wir angehen müssen. 23 Millionen Menschen in Europa sind arbeitslos. 80 Millionen Menschen sind von Armut und
120 Millionen Menschen von sozialer Ausgrenzung bedroht. Viele Menschen können von ihrer Arbeit nicht leben, ihre Familien nicht ernähren. Und es gibt immer
noch einen Lohnunterschied von 25 Prozent zwischen
Männern und Frauen. Diese Aufgaben bewältigen wir
nicht national, sondern nur europäisch.
({4})
Deswegen ist es ein Armutszeugnis, wenn die Bundesregierung nach wie vor dagegen kämpft, Armutsbekämpfung als gemeinsames Ziel zu verankern. Ich bin
sehr froh, dass die Bundesregierung auf dem Europäischen Rat eine grandiose Niederlage einfahren wird;
denn der Europäische Rat wird nächste Woche Armutsbekämpfung als Ziel festlegen. Er wird beschließen, dass
die Zahl der von Armut betroffenen Menschen um
20 Millionen gesenkt werden soll. Das ist eine Niederlage der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat sich
auf diesem Gebiet ein unwürdiges Zahlenspiel mit Indikatoren geleistet. Ich werde es begrüßen, wenn der Europäische Rat mit Unterstützung der anderen Mitgliedstaaten ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung der Armut in
Europa beschließt.
({5})
Ich wünsche mir - die SPD hat das in ihrem Antrag
deutlich gemacht - mehr und nicht weniger Vorgaben
aus Europa, denn wir brauchen in diesem Bereich klare
Vorgaben, damit wir in Europa gemeinsam vorwärts
kommen. Wir brauchen einen sozialen Stabilitätspakt.
Das bedeutet nicht eine Aufweichung unseres Stabilitäts- und Wachstumspaktes, sondern das ist ein klares Signal an die Menschen, dass Sparen und Konsolidierung
der Haushalte, so richtig und notwendig das ist, sozial
ausgewogen erfolgen werden. Das wäre ein wichtiges
Signal auf der europäischen Ebene.
Wie man es nicht macht, sehen wir gerade am Beispiel des Sparpakets der Bundesregierung, die eine sozial völlig unausgewogene Politik verfolgt, indem sie
nur bei Armen und Schwachen sparen will. Ich wünsche
mir, dass Europa solchen Sparpaketen ein Stoppschild
vorsetzt. Deswegen wünsche ich mir hier nicht weniger,
sondern mehr Europa.
({6})
Frau Molitor, mit alten Ideologien kommen wir nicht
weiter. Sie haben gesagt, dass die europäischen Betriebsräte völlig unnötig seien. Dazu stelle ich fest: Die europäischen Betriebsräte haben dafür gesorgt, dass Massenentlassungen und Streiks verhindert wurden. In den
Unternehmen, in denen es sie gibt, sorgen sie geradezu
für Wettbewerbsfähigkeit. Weiter sorgen sie für soziale
Stabilität und sind eine Errungenschaft des sozialen Europas.
({7})
Wir wollen diesen Weg weitergehen und wünschen
uns, dass auch bei der Strategie „Europa 2020“ mehr
über die Qualität der Arbeit diskutiert wird. Wir wollen
faire Löhne; zwar keinen einheitlichen Mindestlohn für
ganz Europa, aber Löhne, von denen die Menschen sich
und ihre Familien ernähren können. Wir wollen eine soziale Abfederung der Finanzkrise und mehr Gleichstellung von Männern und Frauen.
({8})
- Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen. Das wird
nicht nur bei der SPD so formuliert, sondern der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, in dem auch
die Wirtschaftsverbände und Arbeitgebervertreter sitzen,
hat genau dies als Kritik an der Lissabon-Strategie geäußert und im Hinblick auf die neue Strategie gefordert,
diese Punkte zu berücksichtigen. Ich denke, da sind wir
in guter Gesellschaft. Wir haben das in unseren Antrag
aufgenommen, und wir haben etwas Gutes vorgelegt.
Aus den Fehlern der Lissabon-Strategie wollen wir
lernen und nicht wieder eine bürokratische Strategie haben, die keiner versteht. Wir wollen die Parlamente einbeziehen. All diese Forderungen haben wir als SPD formuliert. Es ist mehr als bedauerlich, dass die
Bundesregierung sich nicht getraut hat, auf der europäischen Ebene klare Akzente zu setzen und gute Vorschläge für eine neue Strategie zu machen. Wir sollten
nicht so weitermachen, wie wir es bisher getan haben.
Wir brauchen neue Akzente und Antworten für die Bürgerinnen und Bürger. Es wäre gut gewesen, sich zu
trauen, sich mutiger an Europa zu orientieren. Europa
hat eine bessere Politik verdient. Die Menschen in Europa haben eine bessere Politik verdient. Dazu ist die
Bundesregierung nicht in der Lage. Deswegen ist das,
was jetzt als Strategie „Europa 2020“ vorliegt, keine angemessene Antwort auf die Herausforderungen unserer
Zeit. Das ist sehr bedauerlich.
Vielen Dank.
({9})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
mit dem Titel „Kernfusionsforschung kritisch überprüfen - ITER-Vertrag kündigen“ bekannt: abgegebene
Stimmen 564. Mit Ja haben gestimmt 311, mit Nein haben gestimmt 132, Enthaltungen 121. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 564;
davon
ja: 311
nein: 132
enthalten: 121
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Nadine Müller ({12})
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Raab
Thomas Rachel
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({24})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Burkhardt Müller-Sönksen
({29})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({30})
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({31})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({32})
Nein
SPD
Marco Bülow
Dr. Marlies Volkmer
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({33})
Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({34})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({35})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({36})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({37})
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Tabea Rößner
Claudia Roth ({38})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({39})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({40})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({41})
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({42})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({43})
Frank Hofmann ({44})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({45})
Anette Kramme
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({46})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({47})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({48})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({49})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({50})
Werner Schieder ({51})
Ulla Schmidt ({52})
Silvia Schmidt ({53})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({54})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({55})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Als nächster Redner hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Johann Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion.
({56})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Von Frau Högl haben wir eine der üblichen Reden gehört: Das Wort Europa kam vor, viel Kritik an der
Bundesregierung auch. Allerdings haben Sie, Frau Högl,
zum Thema bedauerlich wenig gesagt. Das müssen jetzt
die nachfolgenden Redner nachholen. Ich hoffe, das
wird uns noch gelingen.
Wenn Sie sagen, dass es Unerträgliches an Kritik gegenüber Griechenland gegeben hat, dann mag das der
Fall gewesen sein.
({0})
- Einerseits ist - auch in Deutschland - das eine oder andere geäußert worden, was nicht in Ordnung war; andererseits gab es ebenso in Griechenland selber die eine
oder andere Äußerung, die auch nicht gerade europaverträglich war. Aber wie können Sie, Frau Högl, sich eigentlich hier hinstellen und die große europäische Idee
beschreiben,
({1})
wenn Sie in der entscheidenden Stunde, als Europa geholfen werden musste, nicht zur Stelle waren und die
SPD nicht zugestimmt hat,
({2})
weder, als es darum ging, Griechenland zu helfen, noch
beim Euro-Rettungspaket? Meines Erachtens haben die
Sozialdemokraten in Fragen der Europapolitik jetzt zunächst einmal die Berechtigung verloren, sich hier als
der große Richter oder die Richterin aufzuführen.
Herr Kollege Wadephul, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Ja.
Der Kollege Sarrazin von den Grünen würde gern
eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Ja.
Bitte schön, Herr Sarrazin.
Herr Kollege, vielen Dank. - Sie haben hier gerade
dargestellt, dass einiges in Bezug auf den Umgang mit
dem Land Griechenland nicht in Ordnung gewesen sein
mag. Das gilt auch für Kollegen der FDP aus dem
Finanzausschuss und den Vorsitzenden der CDU-Mittelstandsvereinigung, Herrn Schlarmann.
Ich frage Sie das Folgende als patriotischen Schleswig-Holsteiner. Wenn Ihnen jemand gesagt hätte, um das
Defizit der Großen Koalition bzw. der jetzt existenten
Regierung in Schleswig-Holstein aufzulösen, möge
Schleswig-Holstein endlich seine Inseln verkaufen, hätten Sie das als vielleicht nicht in Ordnung empfunden
oder doch so, dass es gar nicht geht?
({0})
Herr Sarrazin, Schleswig-Holstein hat mit der Insel
Helgoland schon einmal ein schlechtes Geschäft gemacht. Deswegen lasse ich mich auf solche Diskussionen gar nicht ein.
({0})
Ich will versuchen, zum Thema ein wenig zu sagen.
({1})
- In der Tat. Ich begrüße, Herr Schäfer, dass Sie in
schleswig-holsteinischer Geschichte so bewandert sind.
({2})
- Ja, das stimmt.
Noch einmal zurück zu dem Wortbeitrag der Kollegin
Högl: Die hier angewandte Akrobatik, diese Strategie,
die zehn Jahre gelten soll und die mit den anderen Mitgliedstaaten vereinbart werden muss, in einen Zusammenhang mit dem Sparpaket zu stellen, halte ich für bewundernswert. Daran wird auch deutlich, dass Ihr
Gedankengebilde letzten Endes in sich zusammengefallen ist.
Wir müssen an uns den Anspruch stellen, dass wir,
wenn wir hier europäische Verträge oder Strategien bewerten, sie nicht immer nur an unseren nationalen Debatten - dazu, ob wir sie für gut halten oder nicht, haben
Opposition und Regierung eine gewisse Rolle einzunehmen; das ist ganz klar -, nicht an aktueller Tagespolitik
hier in der Bundesrepublik Deutschland messen sollten.
Wenn Sie sagen, auf europäischer Ebene gebe es
Klein-Klein, dann kann ich Sie nur auffordern, die Vereinbarung einer solchen Strategie auf europäischer
Ebene, die mehrere Monate in Anspruch genommen hat
und wobei sich viele Mitgliedstaaten eingebracht haben,
bitte nicht an aktueller Tagespolitik in Deutschland, die
Sie in anderen Debatten zu Recht kritisieren mögen, zu
messen, sondern daran, was gemeinsam erreicht worden
ist. Wir sollten in dieser Phase, in der Europa Unterstützung braucht, nicht den Fehler machen, das, was man
gemeinsam erreicht hat und was durchaus gut ist, hier zu
zerreden. Deswegen kann ich Sie nur auffordern, an einem konstruktiven Diskussionsprozess mitzuwirken,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratischen Partei.
({3})
Meines Erachtens ist hiermit in der Tat ein ganz bemerkenswerter Wurf gelungen, weil man tatsächlich
- Sie haben das ja auch angemahnt - einige Lehren aus
der Lissabon-Strategie gezogen hat: Wir konzentrieren
uns auf wenige erreichbare Ziele und kontrollieren dies
auch hinterher miteinander. Wir müssen unter dem Eindruck der Rettungspakete, die in der letzten Zeit geschnürt wurden, eine Diskussion über folgende Fragen
führen: In welchem Umfang sind wir bereit, eine entsprechende Kompetenz auf europäischer Ebene - wo
auch immer und wie auch immer sie angesiedelt wird zuzulassen? Ob das nach dem jetzigen Vertragsrecht
möglich ist oder ob wir eine Erweiterung brauchen, darüber muss diskutiert werden. Lassen wir zu, dass es eine
Kontrolle der Stabilität und auch eine Kontrolle der
Haushalte gibt, und auf welche Art und Weise? Lassen
wir auch eine Kontrolle zu, in deren Rahmen überprüft
wird, ob das, was vor dem Hintergrund der Wachstumsstrategie zu machen ist, auch umgesetzt wird, ob eine
Beschäftigungspolitik umgesetzt wird, die die 20- bis
64-Jährigen nachhaltiger in Beschäftigung bringt, die zu
einer Steigerung der Bildungs- und Forschungsausgaben
führt, was die Kanzlerin in Deutschland dankenswerterweise angeregt hat und was letzten Endes der erfolgversprechende Weg ist? Wir brauchen in diesem Sinne ein
stärkeres Europa. Ich möchte für meine Fraktion ausdrücklich sagen: In diese Diskussion wollen wir einsteigen. Wir wollen Europa mehr Möglichkeiten als in der
Vergangenheit geben.
({4})
An dieser Stelle eine Bemerkung zur Armutsbekämpfung. Wir alle sind uns einig, dass Armutsbekämpfung
notwendig ist und jeder diese Verpflichtung hat. Diese
kann man geistesgeschichtlich unterschiedlich herleiten.
Für uns ist es eine christliche Verpflichtung der Nächstenliebe,
({5})
dass man sich um Arme kümmert und ihnen hilft. Die
tiefere Begründung für unsere Sozialpolitik ergibt sich
aus der Christlichen Soziallehre.
Nur, die Frage, die wir uns gestellt haben, ist doch:
Welches sind die richtigen Indikatoren? Wie messen wir
Armut? Wenn es hier Niederlagen gibt, dann in der
Kommission. Sie wird in der nächsten Woche eine Niederlage einfahren, da sie mit ihrem Ziel, die Armutsrisikoquote als alleinigen Indikator heranzuziehen, scheitern wird. Wir wollen keine Niederlage der Kommission;
das ist nicht unser Ziel. Wir wollen sie stärken. Nur, die
Kommission muss sich auch intelligent verhalten. An
dieser Stelle hat die Kommission hinzuzulernen. Es ist
gut und richtig, dass andere Indikatoren hinzugezogen
werden können. Die Langzeitarbeitslosigkeit als Kriterium hat - das ist schon in der Ausschusssitzung gesagt
worden - bereits Rot-Grün 2000 im Rahmen der Lissabon-Strategie für richtig gehalten. Das greifen wir auf;
Kollege Stübgen hat schon in der Ausschusssitzung
darauf hingewiesen. Was damals richtig war, ist heute
nicht falsch.
({6})
Letzten Endes muss die Kompetenzordnung gewahrt
werden. Ich glaube, dass wir bei der Umsetzung einer
Wachstums- und Beschäftigungsstrategie intelligente
Lösungen in allen Mitgliedstaaten brauchen, die dort mit
den jeweils akzeptablen nationalen Lösungen umzusetzen sind.
Deswegen möchte ich abschließend sagen: Der Subsidiaritäts- und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen
gewahrt werden. Wir können aber guter Dinge sein, dass
die Bundeskanzlerin in der nächsten Woche eine gute
Strategie verabreden wird. Wir alle sind aufgefordert,
dafür zu sorgen, dass sie umgesetzt wird und das erreicht, was sie in ihrer Überschrift aussagt: mehr Wachstum, mehr Beschäftigung in Europa.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Strategie „Europa 2020“ ist die Fortsetzung der gescheiterten Lissabon-Strategie. Die Beratungen in den letzten
Wochen und Monaten haben gezeigt: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen sind nicht in der
Lage und nicht gewillt, einen Erkenntnisgewinn aus dem
Scheitern der Lissabon-Strategie zu ziehen. Denn was
war die Lissabon-Strategie? Das war die Flexibilisierung
der Arbeitsmärkte, mehr prekäre Beschäftigung, Privatisierung und Deregulierung. Das, was wir zurzeit auf den
Finanzmärkten sehen, war schon Inhalt der LissabonStrategie. Jetzt will man diese gescheiterte Politik fortsetzen. Es ist deshalb klar, dass die Ziele, die schon mit
der Lissabon-Strategie nicht erreicht worden sind, auch
mit der Strategie „Europa 2020“ nicht erreicht werden.
({0})
Schon anlässlich der letzten Beratung habe ich gesagt,
dass diese Debatte an den Menschen vorbeigeht. Während Europa in der tiefsten Krise steckt, das europäische
Haus lichterloh brennt und man nicht weiß, wann das
nächste Rettungspaket durch den Bundestag gepeitscht
werden muss, wird eine Strategie für die nächsten zehn
Jahre dargelegt. Dabei weiß noch nicht einmal die Bundeskanzlerin, ob Europa in dieser Art und Weise noch
ein Jahr besteht. Wenn die Bundesregierung so weitermacht, zeigt sie, dass sie zutiefst antieuropäisch handelt.
({1})
Das schreiben mittlerweile schon Medien, die nicht unbedingt zu uns gehören.
({2})
Unsere Fraktion hat gesagt, wir müssen jetzt Krisenbewältigung betreiben. Das heißt, wir brauchen endlich
eine Regulierung der Finanzmärkte. Wenn uns das nicht
gelingt, sind alle anderen Ziele nicht erreichbar. Deshalb
haben wir gesagt, wir setzen diese Strategiedebatte aus,
({3})
um erst einmal das zu diskutieren, was notwendig ist.
Man sieht ja, dass die Bundesregierung auch nach zwei
Jahren Finanzkrise nicht bereit ist, zu europäischen Lösungen zu kommen. Wir müssen uns dann Gedanken
machen, wie Europa in kleineren Schritten, im Prinzip
über einen Zeitraum von drei, vier Jahren, gestaltet werden kann. Wir sagen es noch einmal: Europa kann nur
sozial gestaltet werden, sonst wird Europa nicht gelingen.
Sie von der FDP stellen sich hierhin - deshalb ist
auch jede Debatte sinnvoll und notwendig - und sagen,
europäische Betriebsräte würden sozusagen das Wirtschaftswachstum gefährden. Hätten wir keine Betriebsräte, hätten wir keine starken Gewerkschaften, hätten wir
Hunderttausende, wahrscheinlich sogar Millionen mehr
Arbeitslose. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen
- das müssen Sie auch einmal anerkennen -, sondern ein
europäisches Phänomen.
({4})
Deshalb müssen wir gerade die Betriebsräte und die Gewerkschaften stärken, möglicherweise auch durch eine
Strategiedebatte.
({5})
Dass die FDP, die sich hier hingestellt und vorgeschlagen hat, wir sollten Griechenland nicht helfen, die
sollten erst einmal ihre Inseln verkaufen, ihre antieuropäische Politik fortsetzt, zeigte sich gestern auch bei
Opel.
({6})
Europäische Länder wollen Opel helfen, aber die deutsche Bundesregierung stellt sich hin und sagt: Wir machen gar nichts.
({7})
Diese Bundesregierung will maroden Banken und der
Finanzwelt helfen, aber dort, wo europäische Solidarität
gefragt wäre, macht sie nichts. Die anderen Länder mit
GM-Standorten haben ihre Unterstützung zugesagt.
Aber FDP und CDU haben Nein gesagt.
({8})
Sie sind mal wieder auf einem antieuropäischen Weg.
({9})
Mein Vorredner von der CDU hat gesagt, wir würden
uns hier im Klein-Klein verlieren. Es war Franz
Müntefering - ich erwähne es noch einmal -, der die
Agenda 2010 und Hartz IV zu Maßnahmen im Rahmen
der nationalen Umsetzung der Lissabon-Strategie erklärt
hat. Ich bin mir relativ sicher, dass diese Bundesregierung das Sparpaket aus dieser Woche auch wieder zu einer Maßnahme im Rahmen der nationalen Umsetzung
der Europa-2020-Strategie erklären will. Deshalb ist es
auch nicht zufällig, dass man sich nicht auf Ziele bei der
Armutsbekämpfung einlässt. Denn wer eine Strategie
fährt, wo den Ärmsten der Armen noch einmal etwas
gekürzt wird, kann sich auf europäischer Ebene natürlich
nicht hinstellen und sagen, wir wollen Armut bekämpfen. Das, was diese Woche von der Bundesregierung beschlossen worden ist, wird auch in Deutschland zu mehr
Armut führen.
({10})
Damit komme ich zum Schluss. Wir brauchen mehr
Regulierung; wir brauchen mehr Beteiligung in der Finanzwelt; wir brauchen europäische Mindestlöhne; wir
brauchen europäische Betriebsräte; wir brauchen stärkere Gewerkschaften, und wir brauchen - auch wenn die
Beträge verändert werden - endlich eine soziale Fortschrittsklausel. Denn Europa kann nur sozial gelingen,
oder Sie fahren es an die Wand - wenn es nicht schon so
weit ist.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auch noch etwas zu zwei Streitthemen hier
sagen.
Das Erste betrifft die Betriebsräte. Ich glaube, dass
eine Stärkung der europäischen Betriebsräte sehr im Interesse der Politik ist. Wir merken an vielen Stellen, dass
in europäischen und internationalen Zusammenhängen
die Politik als natürlicher Gegenspieler zu wirtschaftlich
international agierenden Konzernen gesehen wird. Oftmals werden dort von uns auch Sachen erwartet, die wir
nicht leisten können. Ich denke, an dieser Stelle die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stärken, sie dabei
zu unterstützen, international zusammenarbeiten zu können, und ihnen mehr Rechte zu geben, liegt auch im Interesse von uns selbst.
({0})
Das Zweite ist die Frage, inwieweit Ihr Sparpaket
dazu fähig wäre, Teil der Umsetzung der EU-2020-Strategie zu sein. Dazu muss ich Ihnen leider sagen: Solche
Luftnummern ziehen nicht, zumindest nicht, wenn Sie
wirklich die Surveillance, die Überwachung der Kommission verstärken wollen. Sie trauen sich nicht wirklich, zu agieren, Sie trauen sich nicht an die Strukturen
ran. Wer so tut, als hätte die Brennelementesteuer, die
nämlich die Verlängerung der Atomlaufzeiten beinhalten
soll, etwas mit Green Growth zu tun, der hat gar nichts
verstanden.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich wirklich
von der aktiven Arbeitsmarktpolitik verabschieden wollen, dann verabschieden Sie sich von dem German Miracle, auf das Sie in Ihren Reden immer so stolz sind.
Deshalb: Tun Sie nicht so, als hätte das irgendetwas mit
der Europa-2020-Strategie zu tun. Die Strategie ist nicht
so ambitioniert, wie sie sein sollte, aber Ihnen ist sie immer noch um Längen voraus.
({2})
Ich finde, Sie sollten endlich einmal Butter bei die Fische tun. Machen Sie endlich etwas, damit wir aus dieser
Krise herauskommen. Dafür erwarte ich von Ihnen, dass
Sie beispielsweise den Punkt „Abbau von Ungleichgewichten“, der in der Strategie sehr betont wird, ernst
nehmen und uns hier vorstellen, wie Sie dazu beitragen
wollen, dass die Ungleichgewichte zwischen den nationalen Wirtschaftsräumen innerhalb des europäischen
Binnenmarktes tatsächlich abgebaut werden können.
({3})
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie zu den Themen der
wirtschaftlichen Koordinierung und der GovernanceStrukturen endlich proaktive Vorschläge machen, dass
Sie zeigen, wie man mit einem Green New Deal tatsächlich für nachhaltiges Wachstum, für einen sparsamen
Umgang mit Ressourcen und für Innovationen sorgen
kann. Nur mit solch einer Innovationsstrategie werden
wir etwas schaffen.
Dass Sie sich noch immer weigern, das Ziel der Senkung der CO2-Emissionen um 30 Prozent in die EU2020-Strategie aufzunehmen, zeigt, dass Sie nicht verstanden haben, wo die Zukunft der Europäischen Union
tatsächlich liegen muss. Da muss ich sagen: Rechnen Sie
einfach einmal die Folgekosten ein! Dann könnte man
auch als Süddeutscher mit einem guten Taschenrechner
berechnen, dass sich das spätestens 2020 für alle Menschen lohnen würde.
({4})
Frau Högl hat ausgeführt, dass Sie beim Ziel der Armutsreduzierung eine Niederlage einstecken mussten.
Wir freuen uns, dass Sie diese Niederlage hinnehmen
mussten. Auch beim Bildungsziel mussten Sie zum Teil
einknicken. Wir erwarten, dass hier tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden, um den europäischen Ansprüchen
Genüge zu tun.
Ich möchte in die Metaphase einsteigen. Eines ist
wichtig: Ihre Interessenpolitik in der Europäischen
Union ist nicht zielgenau genug, um die deutschen Interessen tatsächlich gut einzubringen. Auch ich halte es für
notwendig, an bestimmten Stellen darüber zu diskutieren, wie man beispielsweise den Stabilitätspakt ergänzen
kann, Stichwort: Leistungsbilanzdefizite als Kriterium.
Ich weiß aber auch, dass ich zunächst einmal sagen
muss, welche Änderungen ich vornehmen möchte, die
konkret möglich sind. Da muss ich der Bundesregierung
vorhalten: Es ist nicht so, dass sie nicht wüsste, was zum
Teil konkret verändert werden könnte, aber sie betreibt
immer noch nationale Nabelschau, indem sie sich in der
Öffentlichkeit nur auf Vertragsänderungen fokussiert. So
funktioniert das nicht.
Früher hieß es: Deutschland ist in Europa der Motor.
Früher waren wir das Schmiermittel der europäischen
Integration und haben mit Frankreich ein Tandem gebildet. Schwarz-Gelb ist im Jahr 2010 bei der Strategie
„Europa 2020“ nicht einmal ein Schlafwagen nach Brüssel. Sie sind im Moment höchstens eine Handdraisine
auf dem Abstellgleis.
Vielen Dank.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich darf uns das Thema unserer heutigen Debatte in Erinnerung rufen. Wir reden über eine Strategie
für Wachstum und Beschäftigung in Europa. Wir reden
nicht über eine Strategie zur Regulierung, Bevormundung oder Planwirtschaft.
Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung der
letzten Jahre vor Augen führen, dann müssen wir festhalten, dass wir gerade in Deutschland eine ausgesprochen stabile Volkswirtschaft haben. Wir hatten im Frühjahr 2006 nach wenigen Monaten Großer Koalition - ich
kann mich sehr gut erinnern - über 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Wir haben jetzt - nach den letzten
Zahlen - gerade einmal 3,25 Millionen Arbeitslose in
Deutschland. Dazwischen liegt die größte Wirtschaftsund Finanzkrise, die nicht nur Deutschland, sondern die
ganze Welt seit 1929 gesehen hat. Wir haben im letzten
Jahr einen Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung
um 5 Prozent verkraften müssen. Trotzdem stehen wir
ausgesprochen stabil da. Insofern sind wir Schrittmacher
in der Europäischen Union und ein Motor für diese Strategie für Wachstum und Beschäftigung.
({0})
Der letzte Europäische Rat hat die Ausgestaltung von
zwei Kernzielen dieser Strategie EU 2020 bewusst offengelassen: Armutsbekämpfung und Bildung. Hier geht
es um zentrale Anliegen sowohl des Deutschen Bundestages als auch des Bundesrates. Die Bundesregierung hat
diese Anliegen dankenswerterweise in den Verhandlungen aufgegriffen. Es ist notwendig, dass sich die Europäische Union mit ihren Strategien im Rahmen der geltenden Kompetenzordnung bewegt. Ich freue mich, dass
der derzeitige Verhandlungsstand Anlass zu der Hoffnung gibt, dass es zu einer Einigung kommt, die diesen
Anforderungen genügt.
Wir haben zum Ziel der Armutsbekämpfung immer
gesagt, dass wir es politisch unterstützen. Aber es gibt
nun einmal keinen wirklich geeigneten und vor allem
verlässlichen Indikator, um Armut zu messen. Wenn
man gleichwohl das Ziel der Armutsbekämpfung in
solch eine Strategie aufnimmt, muss deutlich festgehalten werden: Erwerbsarbeit ist immer noch die beste Versicherung gegen Armut.
({1})
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass das Hauptaugenmerk im Rahmen der Strategie EU 2020 auf wirtschaftliches Wachstum und auf Arbeitsplätze gelegt wird. Das
ist der Weg, auf dem das Armutsniveau sinkt.
Der ursprüngliche Vorschlag der Kommission fand
bei den Mitgliedstaaten zu Recht keine Mehrheit. Der
Beschäftigungsrat hat diese Woche den Indikatorenkatalog vorgeschlagen und sich darauf verständigt, als Oberziel bis zum Jahr 2020 mindestens 20 Millionen
Menschen aus Armut und sozialer Ausgrenzung herauszuführen. Ich unterstütze diese Zielsetzung durchaus.
Wenn allerdings gleichzeitig die Zahl der Menschen, die
man als potenziell armutsgefährdet bezeichnet, von
80 auf 120 Millionen erhöht wird, dann rate ich zur Zurückhaltung.
Wir sind gerne bereit, großzügig zu sein, wenn das
zur Gesichtswahrung der Kommission beiträgt. Wenn
man aber mehr als 20 Prozent der gesamten Bevölkerung in der Europäischen Union als potenziell armutsgefährdet bezeichnet, dann mag das zwar helfen, die gesetzten Ziele im Rahmen der Armutsbekämpfung
leichter zu erreichen; es bleibt aber wenig überzeugend.
Wir sollten diese Strategie daher nicht zu hoch halten
und die Bürger nicht für blöd.
({2})
Die vorgesehene Halbzeitüberprüfung 2015 wird man
sicher dazu nutzen können, notwendige Anpassungen
der Indikatoren und in der Umsetzung vorzunehmen.
In Bezug auf Bildung sind wir uns sicher einig: Sie ist
eine Schlüsselqualifikation und eine Voraussetzung für
Wettbewerbsfähigkeit. Wenn man das so betrachtet,
dann muss Wettbewerb auch im Bildungswesen selbst
möglich sein. In Deutschland ermöglichen wir das dadurch, dass die Länder für die Bildungspolitik zuständig
sind. Der Föderalismus sichert den Wettbewerb unterschiedlicher bildungspolitischer Vorstellungen. Deswegen ist es wichtig, dass es auf europäischer Ebene nicht
zu einer verbindlichen Überwachung von bildungspolitischen Zielen durch die Europäische Union kommt.
Es freut mich, dass dieses Anliegen im Bildungsrat
auf breite Zustimmung gestoßen ist. Die Minister haben
sich dafür ausgesprochen, dass die Kompetenz der Mitgliedstaaten bezüglich der Setzung und der Umsetzung
von quantitativen nationalen Zielen in vollem Umfang
erhalten bleibt. Auch der Vertreter der Bundesregierung
hat im Rat nochmals erklärt, dass Empfehlungen des Rates und Verwarnungen der Kommission an die Mitgliedstaaten keine Anwendung auf Bildungsziele finden sollen. Diese Klarstellung trägt unserer innerstaatlichen
Kompetenzverteilung in Deutschland Rechnung. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung dieses Anliegen
noch vor dem 17. Juni auch beim neuen Präsidenten des
Europäischen Rates zur Sprache bringen will.
Die Umsetzung der Strategie EU 2020 wird erfordern,
dass nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die
Bundesländer und die Kommunen mit einbezogen werden. Denn für die Umsetzung von Politik sind nicht nur
in Deutschland vor allem die Regionen zuständig. Zwei
Drittel aller Rechtsakte der Europäischen Union werden
federführend von regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften umgesetzt. Sie sind auch der Garant für bür4692
gernahes Handeln. Deshalb muss uns klar sein, dass die
Regionen und Kommunen eng in die Strategie EU 2020
einbezogen werden müssen, wenn ihre Umsetzung erfolgreich sein soll.
Ich freue mich, dass dies in unserem eigenen Antrag
der Koalitionsfraktionen auch zum Ausdruck gekommen
ist. Der Ausschuss der Regionen hat noch einmal darauf
hingewiesen und selbst die Kommission hat ausgeführt,
dass die Strategie EU 2020 von allen nationalen, regionalen und kommunalen Behörden umgesetzt werden
sollte. Es wäre nett gewesen, wenn das auch in den Anträgen der Opposition Ausdruck gefunden hätte.
Eine allerletzte Bemerkung: Die Prioritäten, die wir
jetzt in dieser Strategie setzen, müssen sich natürlich
auch im Haushalt der Europäischen Union niederschlagen. Dort aber gilt: Wenn wir in allen Mitgliedstaaten
konsolidieren, dann muss die Europäische Union das
auch tun. Auch an dieser Stelle braucht es Kohärenz. Wir
können nicht auf europäischer Ebene Wein trinken und
den Mitgliedstaaten Wasser predigen. Wir müssen unsere Haushalte auf allen Ebenen sanieren.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 17/2015.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1758 mit
dem Titel „Europa 2020 - Die Wachstums- und Beschäf-
tigungsstrategie der Europäischen Union braucht realis-
tische und verbindliche Ziele, hier: Stellungnahme des
Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bun-
destag in Angelegenheiten der Europäischen Union“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
men.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/882 mit dem Titel „Europa 2020 - Strategie für
ein nachhaltiges Europa - Gleichklang von sozialer,
ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktio-
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/898 mit dem Titel „EU 2020 - Für ein ökologi-
sches und soziales Europa“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1969 mit
dem Titel „Europa 2020 - Ein nachhaltiges Europa nur
mit tiefgreifenden Reformen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der An-
trag ist abgelehnt bei Zustimmung der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Iris Gleicke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Langfristige Perspektive statt sachgrundlose
Befristung
- Drucksache 17/1769 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Befristung von Arbeitsverhältnissen eindämmen
- Drucksache 17/1968 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manche Tage im Leben sind richtig schön. Ich möchte
diese Gelegenheit nutzen, erst einmal „Emmely“ ganz
herzlich zu ihrem Prozesserfolg zu gratulieren.
({0})
Das Bundesarbeitsgericht scheint im Rahmen seiner
Rechtsprechung geblieben zu sein, aber es hat viele
wichtige Wertungen vorgenommen. Bei der erforderlichen Interessenabwägung im Rahmen einer fristlosen
Kündigung hat es festgestellt: Erstens. Der Schaden ist
niedrig gewesen. Zweitens. Das Arbeitsverhältnis ist
langjährig unbeanstandet gewesen. Drittens. Es muss davon ausgegangen werden, dass das zerstörte Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin
wiederhergestellt werden kann.
Ich bin mir sicher, dass aufgrund dieser Rechtsprechung viele Untergerichte mutiger werden. Ich bin mir
sicher, dass nun auch viele andere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit ihren Prozessen Erfolg haben werden. Trotzdem sollten Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, unserem Gesetzentwurf zustimmen.
({1})
Der Gegenstand unserer heutigen Diskussion ist ein
anderer, aber ein genauso wichtiger. Wir alle haben der
Presse und den Studien viele Zahlen zu befristeten Arbeitsplätzen entnommen. Die Zahlen sind wirklich beängstigend: 50 Prozent aller Neueinstellungen erfolgen
befristet; insgesamt sind 9 Prozent aller Arbeitsverhältnisse befristet; die Zahlen sind in den letzten Jahren massiv angestiegen; nur 27 Prozent aller befristet Beschäftigten werden anschließend in ein Arbeitsverhältnis
übernommen, und nur 2,5 Prozent aller Befristungen erfolgen aufgrund eines entsprechenden Wunsches des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin.
Das Handlungserfordernis ergibt sich für den Gesetzgeber aufgrund von zwei Gesichtspunkten:
Erstens. Wer befristet beschäftigt ist, macht sich spätestens dann Sorgen um seine Zukunft, wenn das Ende
der Befristung naht. Ein wenig scherzhaft mag ich da sagen: Wir Abgeordnete müssten da an sich gut mitfühlen
können, da auch wir immer befristete Verträge mit der
deutschen Bevölkerung haben. Ich gebe allerdings zu,
dass unsere Situation mit Sicherheit viel einfacher, zumindest komfortabler ist.
({2})
Wer befristet beschäftigt ist, macht sich nicht nur Sorgen, sondern hat auch tatsächliche, objektive Probleme:
Wie viel schwieriger ist es, eine Entscheidung zugunsten
von Kindern zu treffen? Wie viel schwieriger ist es, einen Bankkredit zu bekommen, um ein Auto anzuschaffen oder eine Eigentumswohnung zu kaufen? Wie viel
schwieriger ist es, eine Weiterbildung oder eine Fortbildung vom Arbeitgeber zu bekommen? Wie viel schwieriger ist es, seine Rechte am Arbeitsplatz durchzusetzen,
Betriebsratsmitglied zu werden oder gar bekennendes
Gewerkschaftsmitglied zu sein?
Zweitens. Die befristeten Arbeitsverhältnisse sind
aber nicht nur individuell problematisch, sondern schaffen sehr wohl auch volkswirtschaftliche Probleme für
diese Gesellschaft. Der Niedriglohnsektor hat sich in den
letzten Jahren sehr besorgniserregend entwickelt. Wir
wissen, dass 23 Prozent aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen weniger als 8,50 Euro brutto in der Stunde
verdienen. Befristet Beschäftigte gehören häufig zu den
Niedrigverdienern. Es ist so, dass befristet Beschäftigte
dreimal häufiger unter den Niedrigverdienern zu finden
sind als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in einem
sogenannten Normalarbeitsverhältnis.
Niedriglöhne sind nicht nur moralisch verwerflich,
sondern sie gefährden auch die Funktionsfähigkeit des
Sozialstaates: Wer wenig verdient, muss im Fall der
Arbeitslosigkeit häufig sofort ergänzend Arbeitslosengeld II beziehen; wer wenig verdient, zahlt nicht kostendeckende Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung ein, und wer wenig verdient, muss im Alter - zukünftig wird das immer häufiger der Fall sein - die
Grundsicherung in Anspruch nehmen.
Gegen den Niedriglohnsektor helfen Mindestlöhne,
aber Mindestlöhne sind nicht ausreichend. Wir müssen
auch gegen jede Form von prekärer Beschäftigung vorgehen. Dazu gehört auch die Streichung jeglicher sachgrundloser Befristung.
({3})
Viele Jahre ist immer wieder gesagt worden, befristete
Arbeitsverhältnisse würden die Einstellungspraxis von
Unternehmen fördern. Aber auch die Hoffnung auf diese
Wirkung am Arbeitsmarkt hat sich zerschlagen und ist
durch Studien widerlegt worden. Darüber hinaus gibt es
- das müssen wir feststellen, wenn wir ehrlich miteinander umgehen - bereits hinreichend Flexibilität für Unternehmen: Wer einstellt, braucht den Kündigungsschutz
für Arbeitnehmer innerhalb der ersten sechs Monate
nicht zu fürchten; der Unternehmer, der einen Sachgrund
für eine Befristung hat, kann sogar für längere Zeit
befristet einstellen, und selbstverständlich ist auch die
Einstellung von Leiharbeitnehmern möglich. Allerdings
muss auch auf diesem Gebiet der Gesetzgeber tätig werden.
Wir wollen die sachgrundlose Befristung abschaffen.
({4})
Sie ist eine persönlich unzumutbare und arbeitsrechtlich
unnötige, einseitige Schlechterstellung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Die Abschaffung sachgrundloser Befristungen wäre ein weiterer Etappensieg
im Rennen um Arbeitnehmerrechte und charmanterweise ohne jegliche finanzielle Auswirkung auf den
Staatshaushalt.
Leider, meine Damen und Herren von der Union,
wollen Sie wie bei Ihrem Sparpaket wieder alles bei Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen abladen. Beim
Sparpaket haben Sie eine komplette Zusammenstreichung der aktiven Arbeitsmarktpolitik geplant. Arbeitsmarktpolitik ist aber Chancenpolitik. Arbeitsmarktpolitik ist Bildungspolitik für ganz normale Menschen in
ganz normalen Jobs. Beim Sparpaket werden Eltern im
Hartz-IV-Bezug zu Eltern zweiter Klasse herabgesetzt
und die Rentenansprüche der Ärmsten nochmals gekürzt.
Im Arbeitsrecht beobachten wir eine Deregulierung.
Offiziell trauen Sie sich nicht an den Kündigungsschutz
heran. Inoffiziell machen Sie in diesem Bereich sehr
viel.
({5})
Kettenbefristungen sollen wieder möglich werden. Damit wird der Kündigungsschutz umgangen. Die Fraktion
der CDU/CSU hat ja schon angekündigt, dass man an
die Kündigungsfristen herangehen und das EuGH-Urteil
nicht einfach so akzeptieren will. Letztlich will man
auch an dieser Stelle den Kündigungsschutz verschlechtern.
Meine Damen und Herren der Koalition, Helmut
Schmidt hat einmal gesagt: „Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden.“ Dieser
Spruch scheint auf Schwarz-Gelb geradezu gewartet zu
haben. Die Menschen in diesem Lande werden Ihre Politik der sozialen Ungerechtigkeit nicht akzeptieren. Deshalb sage ich: Machen Sie mit, und unterstützen Sie unseren Antrag.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzte Frau Kollegin Kramme, Sie haben vollkommen
recht: Ja, heute ist ein schöner Tag, nicht nur, weil die
Sonne scheint, nicht nur, weil eine christlich-liberale
Koalition dieses Land regiert, sondern auch, weil das
Bundesarbeitsgericht bestätigt hat, dass wir ihm vertrauen können. Das BAG hat in einem Fall wie
„Emmely“ nach sorgfältiger Abwägung eine Einzelfallentscheidung getroffen. Genau das haben wir Ihrem Gesetzentwurf zum Schutz gegen Kündigungen aufgrund
von Bagatelldelikten entgegengesetzt. Ihr Gesetzentwurf
ist durch die Entscheidung des BAG heute unbegründet
geworden. Ziehen Sie ihn zurück wie Ihren Antrag, den
Sie heute vorlegen.
({0})
Ihr Antrag trägt die Überschrift „Langfristige Perspektive statt sachgrundloser Befristung“. Deshalb verweise ich auf einen Satz, der sich über viele Jahre hinweg bewährt hat: „Lieber befristete Arbeit als unbefristet
arbeitslos.“
({1})
Norbert Blüm prägte diesen Satz 1984 bei der Debatte
über das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz.
Mit diesem Gesetz wurde erstmalig die Möglichkeit
eröffnet, für die Dauer von einem Jahr befristete Arbeitsverträge abzuschließen, sachgrundlos und unbürokratisch. Der Erfolg gab Blüm recht. Es kam vermehrt zu
Neueinstellungen. Arbeitslose erhielten eine Chance,
und zwar nicht nur auf finanzielle Verbesserung, sondern
auch auf Teilhabe am Arbeitsmarkt und damit am gesellschaftlichen Leben. Denn Arbeit und Würde hängen untrennbar miteinander zusammen. Das erlebt jeder
schmerzhaft, der außerhalb des Arbeitsmarktes steht.
({2})
„Lieber befristete Arbeit als unbefristet arbeitslos.“
Von diesem Grundsatz waren Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, vor einigen Jahren noch zutiefst
überzeugt.
({3})
Denn gemeinsam mit den Grünen weiteten Sie 2001 und
2003 das Blüm’sche Befristungsmodell aus.
({4})
Das heutige Teilzeit- und Befristungsgesetz trägt Ihre
Handschrift. Es erlaubt einen befristeten Arbeitsvertrag
ohne Sachgrund bis zur Dauer von zwei Jahren, im Fall
einer Existenzgründung sogar befristet bis zu vier Jahren. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
Sie hatten erkannt, dass der Arbeitsmarkt mehr Flexibilität braucht; das ist übrigens heute so wie damals. Noch
im Frühjahr 2008 gaben 67 Prozent aller Unternehmen
an, sie würden wegen des Kündigungsschutzes auf befristete Beschäftigung zurückgreifen. Denn so können
Betriebe auf konjunkturelle Schwankungen oder andere
kurzfristige Änderungen reagieren.
({5})
Die Unternehmen reagierten mit neuen Jobs. Der Erfolg gab Ihnen also recht, meine Damen und Herren von
Rot-Grün. Der Anteil befristeter Neueinstellungen nahm
zwischen 2001 und 2009 von 32 Prozent auf 47 Prozent
zu;
({6})
so lauten die aktuellsten Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Es kommt zu folgendem
Befund - ich zitiere -:
Befristet Beschäftigte: Gut positioniert mit Hoffnung auf Anschluss.
Knapp jeder zweite befristet Beschäftigte - Frau Kollegin Kramme, ich bitte Sie, jetzt zuzuhören ({7})
erhält nach einem Jahr eine unbefristete Anstellung. Ich
weiß nicht, woher Ihre Zahl stammt. Meine Zahl stammt
vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
({8})
Demnach werden 45 Prozent der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in eine unbefristete Beschäftigung
übernommen. Das heißt, die befristete Beschäftigung ist
eine Brücke ins Arbeitsleben.
({9})
Meine Damen und Herren von der SPD, von Ihrem
damaligen Bravourstück wollen Sie heute nichts mehr
hören. Jetzt heißt es: Volle Kraft zurück! Begleitet von
Ihren Genossen von der Linken fordern Sie nun: Weg
mit der sachgrundlosen Befristung, und zwar vollständig!
Im Wesentlichen führen Sie dafür zwei Argumente
an.
Erstens. Das Normalarbeitsverhältnis werde verdrängt. Gemeinhin versteht man darunter einen unbefristeten Vollzeitjob. Per Definition werden also Selbstständige, Teilzeitkräfte und befristet Beschäftigte als
atypisch ausgegrenzt,
({10})
durch die Wortwohl mancher Kollegen in diesem Haus
übrigens auch als „prekär“ diskriminiert.
Immer weniger Menschen, so Ihre Behauptung, würden eine unbefristete Vollzeitstelle finden. Egal wie
häufig Sie es wiederholen, liebe Genossinnen und Genossen, das sogenannte Normalarbeitsverhältnis ist
keine aussterbende Gattung. Es gibt keinen Beleg dafür,
dass die befristete Beschäftigung das normale Arbeitsverhältnis abgelöst hat. Vielmehr sagt uns das Statistische Bundesamt - ich bitte Sie, diese Zahlen zur Kenntnis zu nehmen -: Die Zahl der unbefristeten Vollzeitjobs
hat sich seit mehr als zehn Jahren bei rund 20 Millionen
eingependelt. In demselben Zeitraum ist die Zahl der
Erwerbstätigen um 2,7 Millionen gestiegen. Es wurde
also nicht von normalen zu atypischen Jobs umgeschichtet, sondern es wurde zusätzliche Arbeit geschaffen, auch wegen befristeter Stellen. Deshalb bitten wir
Sie, anzuerkennen, dass Ihr Argument uns nicht überzeugt.
Zweitens. Sie behaupten, befristete Anstellungsverhältnisse würden unser soziales Sicherungssystem
schwächen. Einen Beleg bleiben Sie schuldig. Die Linke
verweist insoweit pauschal auf die Altersarmut. Altersarmut gibt es schon heute; das ist vollkommen zutreffend. Es gibt sie aber aus anderen Gründen: weil die
Betroffenen Kinder betreuen, weil die Betroffenen Ältere gepflegt haben, weil sie einen Minijob haben oder
weil sie arbeitslos waren. Sie konnten nicht in die Rentenkasse einzahlen, weil ihre Erwerbsbiografie unterbrochen wurde. Die befristete Beschäftigung schafft demgegenüber die Möglichkeit, endlich eine Erwerbsbiografie
zu haben. Umgekehrt wird also ein Schuh daraus. Auch
dieses Argument sticht nicht.
({11})
Die befristete Beschäftigung wird von Ihnen zu Unrecht verteufelt. Wenn man sie durch eine strikte Regulierung zurückdrängen würde, entstünden keineswegs
automatisch mehr Normalarbeitsverhältnisse. Die Alternative hieße: gar keine Beschäftigung. Damit helfen wir
niemandem.
({12})
„Lieber befristete Arbeit als unbefristet arbeitslos.“
Wir, die christlich-liberale Koalition, werden noch bestehende Überregulierungen beseitigen, zum Beispiel das
Ersteinstellungsgebot.
({13})
Demnach darf ein Betrieb bislang nur einen solchen Arbeitnehmer befristet beschäftigen, der noch nie zuvor in
der Firma gearbeitet hat. Dieses Wiederbeschäftigungsverbot hat zum Teil absurde Folgen.
Beispielsweise kann ein Akademiker, der als Student
für ein Unternehmen gearbeitet hat, dort nicht mehr ohne
sachliche Begründung befristet eingestellt werden.
({14})
Die Betriebe können somit ausgerechnet auf ehemalige
Mitarbeiter, deren Leistungsfähigkeit sie gut kennen,
nicht zurückgreifen. Ebenfalls betroffen sind die Arbeitnehmer, die in der jetzigen Krise ihren Arbeitsplatz verloren haben. Viele Betriebe können wegen der unsicheren Lage nach wie vor nicht unbefristet einstellen.
Leidtragende sind die Arbeitslosen.
Frau Kollegin Connemann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Die Bundesregierung hat deshalb auf der Grundlage
des Koalitionsvertrages beschlossen, diese Regulierung
zu streichen. Zukünftig wird die sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrages auch zulässig sein, wenn die
Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer bereits zuvor bei
dem Arbeitgeber beschäftigt war und seit dem Ende der
früheren Beschäftigung mindestens ein Jahr vergangen
ist. Das ist die richtige Politik. Ihre Anträge werden wir
ablehnen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Regierungskoalition ist eine echte Strafe.
({0})
Ich empfinde das Ansinnen, dass jetzt, anstatt die Menschen fest zu beschäftigen, auch noch eine weitere unbefristete Beschäftigung obendrauf gesetzt werden soll, als
eine neue Bedrohung. Das geht nicht, und das gehört in
die Kiste mit den Dingen, die nicht in Ordnung sind.
({1})
- Natürlich nicht. Warum werden sie nicht fest beschäftigt, Frau Connemann? Warum nicht?
({2})
Ich habe eine hohe Anforderung an Sie alle: Stellen
Sie sich einmal vor, Sie seien 23 Jahre alt. Ich glaube,
das fällt einigen schwer, aber versuchen Sie es einfach
einmal. Sie haben endlich ihre Ausbildung beendet. Sie
wünschen sich Kinder und dann vielleicht auch eine größere Wohnung für die Familie.
Was gibt man einem jungen Menschen heute in dieser
Situation? Man gibt ihm ein unbezahltes Praktikum,
Leiharbeit oder einen befristeten Arbeitsvertrag. Von
diesem jungen Menschen erwarten Sie aber, dass er unsere Renten bezahlt, eine Familie gründet und ordentlich
in die Sozialkassen einzahlt. Wie soll das alles gehen?
Das kann doch nicht funktionieren.
({3})
Das Beschäftigungsförderungsgesetz - ironischerweise vom Tag der Arbeit, nämlich vom 1. Mai 1985 war der Start für eine absolut negative Entwicklung. Ich
gehöre zu den Personen, die schon vom ersten Tag an,
seit 1985, gegen die bestehenden Befristungsmöglichkeiten geschimpft haben, und dabei bleibe ich auch. Alle
sehen die Entwicklung, die es seitdem gegeben hat, und
das geht schon seit 25 Jahren so.
Jede zweite Stelle, die jetzt besetzt wird, ist eine befristete Stelle. 53 Prozent der Neueinstellungen waren befristet. Damit stehen wir im europäischen Vergleich - über
Europa haben wir ja gerade eben diskutiert - wieder einmal absolut schlecht da.
({4})
Es gibt möglicherweise gute Gründe für befristete
Verträge; das will ich überhaupt nicht abstreiten.
({5})
Diese guten Gründe können ja aber wohl auch genannt
werden. Grundlose Befristungen eines Arbeitsverhältnisses sind deshalb völlig überflüssig.
({6})
Um Arbeitnehmer zu beurteilen, gibt es die Probezeit
von drei Monaten. Wenn sie nicht reicht, dann kann sie
auf sechs Monate ausgeweitet werden. Das muss dann
aber auch reichen. Vielleicht sollten Personalchefs und
andere Vorgesetzte nicht ständig von einem Meeting ins
nächste laufen, sondern sich einmal um die neuen Beschäftigten kümmern; denn so viele gibt es ja eigentlich
nicht.
Wenn ich in Betrieben Arbeitgeber aufgefordert habe,
Beschäftigte unbefristet einzustellen, dann habe ich regelmäßig zur Antwort bekommen: Wir machen nur das,
was wir dürfen, wir machen nur das, was im Gesetz
steht. - Deshalb muss das geändert und verboten werden.
({7})
Befristete Arbeitsplätze bekommen vor allem Frauen,
junge Menschen und ausländische Mitbürger. Das hat
katastrophale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.
Die Familienplanung dieser Menschen wird erschwert,
die Planungssicherheit wird ihnen genommen, und sie
werden durch die Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes oder vor der Nichtverlängerung des befristeten
Vertrages ständig unter Druck gesetzt. Das kostet uns
eine Menge Geld; denn befristet Beschäftigte zahlen weniger in die Sozialkassen ein, und sie haben nicht die
gleichen Aufstiegschancen.
Zwischen den befristeten Verträgen wird „gehartzt“.
„Hartzen“ ist ein neues Modewort von jungen Menschen. Sie „hartzen“, wenn sie zwischen ihren befristeten Verträgen immer wieder auf Hartz IV angewiesen
sind.
Ein geringer Lohn und Hartz-IV-Bezug bedeuten Altersarmut. Wovon sollen diese Menschen im Alter leben? Es ist eine Milchmädchenrechnung,
({8})
zu glauben, mit der immer weiteren Ausdehnung befristeter Arbeitsverhältnisse spare man irgendetwas. Im Gegenteil: Das kommt uns alle irgendwann einmal teuer zu
stehen. Sie von der schwarz-gelben Koalition
({9})
wollen die Verbreitung sachgrundloser Verträge sogar
noch ausweiten, wie wir eben gehört haben. Wir wollen
sie abschaffen, und das finde ich ganz einfach richtig.
({10})
Sie zwingen dieser Generation ein Verhalten von
Egotaktikern mit allen seinen Konsequenzen auf: Egoismus, Entsolidarisierung und Ellenbogenmentalität.
Diese jungen Menschen haben gar nicht mehr die
Chance, in dieser Gesellschaft Solidarität und Unterstützung kennenzulernen. Sie glauben zu Recht nicht
mehr daran, dass sie im Alter eine Rente bekommen,
von der sie leben können.
Das ist nicht die Gesellschaft, die wir uns vorstellen.
Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land Planungssicherheit haben. Wir wollen, dass die Menschen
nicht in ständiger Angst leben müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Frau Krellmann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deshalb fordern wir die Streichung der sachgrundlosen Befristung eines Arbeitsverhältnisses und die Streichung der sechsmonatigen Befristung zur Erprobung.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich will mit einer Anmerkung zum „Emmely“-Urteil beginnen. Frau Kollegin Kramme, für mich ist es
kein Grund zur Freude, dass sich ein Arbeitgeber nicht
mehr in jedem Fall auf das korrekte Verhalten seiner
Mitarbeiter verlassen kann. Durch das heutige Urteil
wird mit zunehmender Dauer des Beschäftigungsverhältnisses ein Spielraum für pflichtwidriges Verhalten
eröffnet.
Ich mag altmodisch sein, aber für mich ist klar, dass
auch die Unterschlagung geringwertiger Güter eine Unterschlagung ist. Wenn der Täter ein seit langen Jahren
beschäftigter Mitarbeiter ist, dann macht das für mich
die Sache eher schlimmer als besser. Der Vertrauensschaden ist umso größer, gerade weil man so lange zusammengearbeitet hat.
Was im Einzelfall Beifall finden mag - Ihren Beifall
hat es wohl gefunden -, ist, glaube ich, eine schwere Belastung für die Vertrauenskultur in den Unternehmen.
Vertrauen ist aber letzten Endes die Basis eines jeden Arbeitsverhältnisses. Es bleibt abzuwarten, welche Wirkung dieses Urteil in der Praxis haben wird.
Was die befristete Beschäftigung anbelangt - damit
komme ich zum Thema -, hat Frau Connemann wichtige
Zahlen genannt. Ich verweise in diesem Zusammenhang
auf die IAB-Studie. Das IAB ist keine Vorfeldorganisation der FDP, Frau Kramme; es ist ein Institut, das Ihnen
regelmäßig sehr entgegenkommt. Wenn dieses Institut
darauf hinweist, dass 50 Prozent der befristeten Arbeitsverhältnisse zu unbefristeten Verträgen führen, dann
zeigt das, wie wichtig dieses Instrument der Befristung
ist, weil die Zugangsschwellen zum Arbeitsmarkt gesenkt werden und sich gerade für junge Leute in vielen
Fällen Beschäftigungschancen eröffnen.
({0})
Ich glaube, dass die Möglichkeit der sachgrundlosen
Befristung in Deutschland wesentlich dazu beiträgt, dass
es bei uns, etwa im Gegensatz zu Spanien, keine Kultur
des Hire and Fire gibt. Die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung auch über die Wartezeit nach dem Kündigungsschutzgesetz hinaus verhindert, dass Unternehmen dazu gezwungen sind, erst einmal Verträge mit
kurzen Fristen zu schließen. Man kann sich stattdessen
von Anfang an auch über die Frist von sechs Monaten
hinaus binden. Das wird getan, und ich glaube, dass man
insgesamt feststellen kann, dass Unternehmer in
Deutschland verantwortungsbewusst mit der Möglichkeit der Befristung umgehen.
Liebe Kollegen von der SPD und, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Kollegin Krellmann, von den
Linken, auch Sie wollen nicht mehr und nicht weniger
als Sicherheit im Erwerbsleben. Dazu muss man aber
sehr deutlich sagen, dass es eine solche Sicherheit, die
vielleicht sogar als absolute Sicherheit verstanden wird,
nicht gibt. Es gibt sie nicht einmal bei den Mitarbeitern
von Abgeordneten, Frau Krellmann. Auch das muss man
ansprechen. Frau Kramme hat gesagt, dass wir einen befristeten Arbeitsvertrag mit dem deutschen Volk haben.
Das ist richtig. Aber unsere Mitarbeiter haben befristete
Arbeitsverhältnisse mit uns.
({1})
Wenn es so wäre, wie Sie es darstellen, dann dürfte kein
Mitarbeiter eines Abgeordneten verheiratet sein oder
eine Familienplanung angestrebt haben. Gott sei Dank
denken die Menschen aber offensichtlich anders, als Sie
es ihnen unterstellen.
({2})
Es gibt auch keine Sicherheit für Unternehmer bzw.
Arbeitgeber, etwa weil es Finanz- und Wirtschaftskrisen
ebenso wie Auftragsschwankungen außerhalb von Krisensituationen gibt. In Zeiten der Unsicherheit, gerade in
der jetzigen Zeit, würde eine Einschränkung der Befristungsmöglichkeiten am Ende der Krise, wenn der Aufschwung einsetzt, aber die Unsicherheit noch groß ist,
die Schaffung von neuen Arbeitsverhältnissen erheblich
erschweren.
Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Krellmann?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Krellmann.
Sehr geehrter Herr Kolb, ist Ihnen bekannt, dass es
für den Arbeitgeber in einem solchen Fall die Möglichkeit gibt, betriebsbedingt zu kündigen?
Frau Kollegin Kramme, Sie wissen, dass - ({0})
- Was hatte ich gesagt?
({1})
- Frau Kollegin Kramme, ich wusste nicht, dass Ihr Verhältnis so angespannt ist.
Frau Kollegin Krellmann, um betriebsbedingt kündigen zu können, muss erst einmal eine Einstellung erfolgt
sein. Das betrifft den Punkt, auf den ich Sie hinweisen
wollte: Wir befinden uns jetzt in einer Krise, die hoffentlich bald zu Ende geht. Ein Arbeitgeber, der jetzt einen
Auftrag bekommt, muss sich entscheiden, ob er eine
neue Mitarbeiterin oder einen neuen Mitarbeiter einstellt
oder nicht. Von Kündigung ist zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht die Rede.
Es geht vielmehr darum, ob diejenigen, die bereits im
Unternehmen beschäftigt sind, also die Stammbelegschaft, in dieser Situation Überstunden machen oder ob
jemand, der zurzeit am Arbeitsmarkt außen vor ist, der
langzeitarbeitslos ist, über ein befristetes Beschäftigungsverhältnis die Chance bekommt, neu in ein Unternehmen einzutreten. Das ist die Voraussetzung, um überhaupt über Ihre Frage nachdenken zu müssen, was
geschieht, wenn es später wieder zu Auftragsrückgängen
kommt.
Mir geht es insbesondere vor dem Hintergrund der endenden Krise darum, solche Möglichkeiten zu sehen und
zu eröffnen. Wer das nicht tut, der handelt aus unserer
Sicht unverantwortlich und denkt zu kurz. Deswegen
wollen wir dies ändern.
({2})
Frau Kollegin Krellmann, ich weiß, dass Sie aktive
Gewerkschafterin sind und dass die Tarifautonomie hier
im Hause insbesondere auf der linken Seite immer hochgehalten wird. Ich will aber darauf hinweisen, dass Südwestmetall mit seinen Tarifpartnern im April 2009, also
mitten in der Krise, den Tarifvertrag zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung abgeschlossen hat, der die
Öffnungsklausel, also die Möglichkeit der tarifvertraglichen Verlängerung der befristeten Beschäftigung, genutzt hat.
({3})
Die Tarifpartner haben darin vorgesehen, dass die Befristung um insgesamt 24 Monate verlängert werden
kann, dass die Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt 48 Monate betragen darf und dass man
den Arbeitsvertrag in diesem Zeitraum insgesamt sechsmal verlängern kann.
({4})
Frau Kollegin Krellmann, gerade weil Sie im Unternehmen aktiv auf der Arbeitnehmerseite gearbeitet haben, frage ich Sie, warum die Kollegen von Südwestmetall wohl einen solchen Tarifvertrag geschlossen haben. Sie haben es getan, weil sie darin die richtige Antwort
auf die Unsicherheiten in der jetzigen Situation gesehen
haben. Das halte ich auch für richtig.
({5})
Ich kann nur das unterstreichen, was die Kollegin
Connemann schon gesagt hat: Die Koalition sieht die
Dinge anders als Sie. Wir glauben, dass wir die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung gerade in der jetzigen
Situation an den Notwendigkeiten der Praxis ausrichten
sollten. Deswegen haben wir in den Koalitionsvertrag
geschrieben - ich zitiere -:
Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von
Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrundlose Befristung nach einer Wartezeit von einem Jahr
auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Mit dieser Neuregelung erhöhen wir Beschäftigungschancen für Arbeitnehmer, verringern
den Bürokratieaufwand für Arbeitgeber und verhindern Kettenbefristungen.
Das Kabinett hat diese Absicht in seiner Klausur am
17./18. November des letzten Jahres auf Schloss Meseberg noch einmal bekräftigt. Für meine Fraktion will ich
sehr deutlich sagen, dass wir glauben, dass dies die richtigen Schritte sind. Wir werden diesen Weg in der Koalition gemeinsam gehen, auch wenn er Ihnen möglicherweise nicht passt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein beweglicher und durchlässiger Arbeitsmarkt ist nötig. Er
ist nötig für die Betriebe, aber auch für diejenigen, die
nach einem Arbeitsplatz suchen und vielleicht geringere
Chancen und Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Wir sind für Flexibilität und Durchlässigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Aber das darf keine Einbahnstraße sein. Die Risiken werden, was die befristete
Beschäftigung angeht, derzeit einseitig den Beschäftigten aufgebürdet. Bei allem Verständnis für die Anforderungen, die die Betriebe stellen: Es muss auch das
Sicherheitsbedürfnis der Beschäftigten berücksichtigt
werden.
({0})
Bei den befristet Beschäftigten haben wir es tatsächlich mit einer Schieflage zu tun. Wenn inzwischen die
Hälfte aller Arbeitsverträge, die abgeschlossen werden,
befristet ist, dann läuft etwas schief.
({1})
Betroffen davon sind insbesondere die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist also ein sehr
„junges“ Phänomen. Frau Kramme hat schon die Zahlen
teilweise genannt. Jeder vierte Arbeitsvertrag, der mit
20- bis 25-Jährigen abgeschlossen wird, ist befristet. Bei
den unter 20-Jährigen sind es sogar 40 Prozent. Dabei
sind Ausbildungsverträge nicht einmal mitgezählt. Es
sind damit insbesondere die jungen Leute, die die Folgen
der Krise zu tragen haben; denn es sind ihre Arbeitsverträge, die nicht verlängert werden. Herr Kolb, das ist
wirklich keine faire Lastenverteilung. Dem können Sie
eigentlich nicht widersprechen.
({2})
Trotz dieser Entwicklung fordern Sie - ich weiß
nicht, ob Sie sich die Zahlen anschauen - eine weitere
Deregulierung. Manchmal frage ich mich wirklich, ob
Sie gar nichts mehr merken. Sie haben überhaupt keine
Sensibilität für die Probleme und die Bedürfnisse der
Menschen, insbesondere der Schwächeren in unserer
Gesellschaft. Sie treiben mit Ihrer Politik die Spaltung
auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft zunehmend voran.
({3})
Ich habe mir die Daten in Ruhe angeschaut und sage Ihnen: Wir brauchen keinen weiteren Schub für befristete
Beschäftigung. Im Gegenteil: Es gibt Korrekturbedarf an
anderer Stelle, und zwar bei den sachgrundlosen Befristungen, die heute zur Diskussion stehen.
({4})
- Wir haben dieses Instrument zur Verfügung gestellt
und schauen nun, wie es genutzt wird.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt Missbrauch. Diesen
müssen wir beseitigen, und zwar bei der befristeten Beschäftigung genauso wie bei der Leiharbeit. Es stimmt,
wir haben diese Instrumente zur Verfügung gestellt.
Aber das Ergebnis, das wir jetzt haben, war nicht unser
Ziel.
({5})
40 bis 50 Prozent aller befristeten Arbeitsverträge
werden sachgrundlos abgeschlossen. Die Erprobung ist
der zentrale Grund dafür, dass befristete Arbeitsverträge
abgeschlossen werden. Wenn das der Hauptgrund ist,
kann man das auch als Sachgrund benennen; das gibt es.
Die Erprobung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
ist nämlich eine sachliche Begründung für Befristung,
genauso wie zeitlich begrenzte Vertretungen, saisonale
Arbeitsverhältnisse, einmalige Aufträge oder begrenzt
finanzierte Projekte.
({6})
Das alles sind Instrumente, die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen zur Verfügung stehen, wenn sie ein Beschäftigungsverhältnis befristen wollen. Daher brauchen wir
zusätzlich keine sachgrundlose Befristung. Ich würde
eine einzige Ausnahme machen, Frau Kramme. Diese
Sonderregelung kann bei Unternehmensgründungen
sinnvoll sein. Gerade bei Unternehmensgründungen gibt
es ein hohes Maß an Unsicherheit. Auch Arbeitgeber
müssen sich in ihrer Rolle erst einmal erproben. Wenn
wir die sachgrundlose Befristung in diesem Bereich abschafften, hätte ich die Befürchtung, dass es zu Einstellungshemmnissen kommt. Deswegen wollen wir diese
Ausnahme bestehen lassen.
Sie von der CDU/CSU- und FDP-Fraktion wollen das
Wiederbeschäftigungsverbot kippen. Wenn Sie dem Vorschlag zustimmen, der jetzt im Raum steht, dann ist das
Wiederbeschäftigungsverbot erledigt; deswegen können
Sie ihm eigentlich nur zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe begrenzt finanzierte Projekte, die wir alle hier im
Rahmen der Befristung der Arbeitsverhältnisse unserer
Mitarbeiter sind! Zum wiederholten Male werden wir
heute Zeugen einer rückwärtsgewandten SPD-Politik.
({0})
Wir erleben, dass sich die SPD endgültig von der Realität, vom Verantwortungsbewusstsein ihrer Regierungszeit verabschiedet hat. Sie träumt von den 1970er-Jahren. Darauf, wovon die Linke träumt, möchte ich heute
gar nicht mehr weiter eingehen. Es geht nicht an - wir
werden es auch nicht zulassen -, das bewährte System
der sachgrundlosen Befristungen aus dem Kanon des
deutschen Arbeitsrechts zu streichen. So viel Missbrauch, wie Sie es gerade angesprochen haben, liebe
Kollegin, wird mit diesem Instrument mit Sicherheit
nicht betrieben. Auf die rechtliche Entwicklung will ich
eigentlich nicht weiter eingehen; denn ich habe nur fünf
Minuten.
({1})
Kettenarbeitsverhältnissen oder der angeblichen Aushöhlung des Kündigungsschutzes ist schon seit Jahrzehnten, seit Reichsgerichtszeiten - die erste entsprechende Entscheidung ist 1932 getroffen worden -,
entgegengewirkt worden.
Kollegin Kramme, einen Schuh lassen wir uns von Ihnen nicht anziehen: dass die Entscheidung des EuGH zu
§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB etwas damit zu tun habe, dass
wir den Kündigungsschutz aufweichen wollten. Es geht
hier um die Systemfrage des Alterskriteriums und um
nichts anderes. Erkennen Sie das; sonst werden wir uns
hier noch einmal in die Haare bekommen.
({2})
- Das muss man Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
Sie haben 2001 sicherlich in einem Kraftakt - das war
in Ihren Reihen ja auch umstritten - das Teilzeit- und
Befristungsgesetz in Kraft gesetzt.
({3})
Es war eine positive Entwicklung. Dafür müssen Sie
sich heute nicht schämen.
({4})
Peinlich ist Ihre erneute Rolle rückwärts.
({5})
Die letzten Monate erleben wir eine Rolle rückwärts
nach der anderen.
Tun Sie bitte nicht so, als ob befristete Arbeitsverhältnisse keine vollwertigen Arbeitsverhältnisse wären.
({6})
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die befristet beschäftigt sind, stehen sämtliche Rechte zur Verfügung. Das möchte ich in dieser Deutlichkeit sagen. Das
geht bis hin zur Möglichkeit, in den Betriebsrat gewählt
zu werden. Übersehen Sie bitte nicht die wesentliche
Brückenfunktion. Ihren Wert bestreiten nicht einmal Sie
wirklich. Frau Kollegin, mich hat in diesem Zusammenhang heute sehr gewundert, dass Sie als Argument gebracht haben, die Zeitarbeit übe eine Brückenfunktion
aus. Sie sollten in Ihrer Argumentation schlüssiger werden.
({7})
Gleiches gilt für die Flexibilisierungsmöglichkeit.
Auch die Flexibilisierungsmöglichkeit brauchen wir in
unserer Arbeitswelt. Es ist ein Trugschluss, zu behaupten, über die Sachgrundbefristung sei die Flexibilisierungsmöglichkeit zu schaffen, die Unternehmen benötigen. § 14 Abs. 1 Ziffer 1 Teilzeit- und Befristungsgesetz
besagt, dass die Befristung eines Arbeitsvertrages zulässig ist, wenn der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur vorübergehend ist. Es geht dabei um reine
Kampagnenbetriebe, etwa Erntebetriebe. Schauen Sie
einmal in Ihre damalige Begründung! Zeigen Sie mir einen Fall, in dem es mit dieser Sachgrundbefristung möglich war, für die notwendige Flexibilität zu sorgen.
({8})
Ich persönlich halte es für verantwortungslos, zu behaupten, befristete Arbeitsverhältnisse würden Familiengründungen erschweren. Das ist nicht richtig.
({9})
- Nein, das ist nicht richtig. Sonst dürfte es viele Familien hier gar nicht geben.
Wir dürfen als Politik eines nicht machen: den Eindruck vermitteln, dass wir eine arbeitsrechtliche Vollkaskogesellschaft anbieten können. Das gibt es nicht. Das
sieht auch die soziale Marktwirtschaft nicht vor.
({10})
Sie sieht im rechtlich zulässigen Rahmen den Abschluss
und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen vor, und
nichts anderes - nichts anderes! - regelt das Teilzeit- und
Befristungsgesetz.
„Generation 30“ titelte neulich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Da hieß es:
Die Eltern hatten mit 30 schon Haus, Familie und
einen festen Job. Die Jungen plagt das Gefühl, nie
mithalten zu können. Schade. Denn eigentlich geht
es dieser Generation 30 doch ziemlich prächtig.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich unterstreichen. Für gut ausgebildete, qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt es in unserem Land
beste Chancen.
({11})
Sorgen müssen wir uns um die machen, die ohne Berufsabschluss und ohne Ausbildung sind.
({12})
Deswegen war es richtig, in der Spardiskussion Bildung
und Forschung außen vor zu lassen.
({13})
Damit haben wir auch ein Signal gesetzt, nämlich das Signal für Beschäftigung; denn die brauchen wir.
({14})
Ich kann nur an Sie appellieren, Kollegin Kramme,
nicht populistisch ein erfolgreiches Gesetz über Bord zu
werfen. Fangen Sie mit dieser Anbiederung nicht an,
oder, besser, hören Sie damit auf! Machen Sie sich mit
uns zusammen Gedanken über die Weiterentwicklung
des Teilzeit- und Befristungsgesetzes - eine echte
Chance für den deutschen Arbeitsmarkt.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1769 und 17/1968 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequenten Walschutz fortsetzen und verbessern
- Drucksache 17/1982 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Ingbert Liebing von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir
heute in diesem Hause schon über viele Stunden hinweg
Themen strittig diskutiert haben, freue ich mich, dass wir
nun bei einem Thema sind, nämlich dem Schutz der großen Meeressäuger, der Wale, bei dem wir zu einem interfraktionellen Antrag, einem Antrag von Koalitions- und
Oppositionsfraktionen, gekommen sind und heute, so
glaube ich, ein breit getragenes Votum dieses Hohen
Hauses für einen konsequenten Walschutz werden abgeben können.
Ein solches überzeugendes Votum des Deutschen
Bundestages soll zugleich auch Rückhalt geben für die
Position der Bundesregierung, für unseren Bundesumweltminister Norbert Röttgen, der zur morgigen Sitzung des EU-Ministerrats zu diesem Thema gemeinsam
mit den Briten eine sehr überzeugende Positionierung
vorgelegt hat. Mit dem Rückhalt des gesamten Hauses
wird er dort umso besser argumentieren können.
({0})
Dies stärkt Deutschlands Position auch für die bevorstehende IWC-Konferenz Ende des Monats in Agadir in
Marokko, wo wir über die Reform dieser Walfangorganisation sprechen werden.
Ich habe mich sehr stark für diesen gemeinsamen Antrag und für eine gemeinsame Beschlussfassung eingesetzt, weil ich auch schon an dem Bundestagsbeschluss
von vor zwei Jahren mitgewirkt habe; damals haben wir
ein einstimmiges Votum hinbekommen. Ich halte es für
zwingend notwendig, aber auch für besonders wertvoll,
dass wir an diesen Beschluss anknüpfen und als
Deutschland in Kontinuität auch über die Wahlperioden
hinweg einen solchen konsequenten Walschutz auf internationaler Ebene vertreten.
({1})
Ich weiß, dass es noch vor wenigen Wochen Irritationen im Hinblick auf mögliche Positionen des Landwirtschaftsministeriums gegeben hat, das innerhalb der Regierung federführend ist. Mit diesem Antrag können wir
heute eine gemeinsame Position der Bundesregierung,
der Koalitions- wie auch der Oppositionsfraktionen festschreiben, die im Moment viel Anerkennung auch bei
Naturschutzorganisationen findet, die sich für dieses
Thema engagieren. Das alles zeigt, dass wir eine gemeinsame Linie vertreten, und das ist wichtig bei diesem
Thema.
({2})
Die heutige Debatte in Vorbereitung auf die IWCKonferenz in Agadir nimmt Bezug auf die Arbeit, die in
den vergangenen zwei Jahren geleistet wurde. Es geht
um eine Reform dieser Organisation, die sich über mehrere Jahre hinweg nur blockiert hat und nicht zu einer
echten Lösung gekommen ist. Der bisherige Zustand,
dass trotz eines Walfangmoratoriums faktisch kommerzieller Walfang stattfindet, ist unbefriedigend.
Nun liegt als Ergebnis von zwei Jahren Verhandlungen ein Vorschlag des IWC-Vorsitzenden vor, der sicherlich auch einige positive Aspekte enthält; aber insgesamt
wird dieser Vorschlag dem Ziel eines konsequenten Walschutzes nicht gerecht. Dieser Vorschlag ist für uns nicht
akzeptabel.
({3})
Es kann nicht sein, dass die Tötung gefährdeter Arten,
die auf der Roten Liste stehen, legalisiert wird. Dies können wir nicht akzeptieren. Wir können nicht akzeptieren,
dass Walfang in Walschutzgebieten legalisiert wird. Es
kann auch nicht sein, dass für eine Übergangsfrist Quoten akzeptiert werden sollen, die höher als das liegen,
was in den vergangenen Jahren tatsächlich von einzelnen
Walfangnationen gefangen und getötet wurde. Wir müssen höllisch aufpassen, dass das Handelsverbot für Walprodukte nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen CITES nicht unterlaufen wird.
({4})
Es gibt viele gute Gründe, den jetzigen Vorschlag abzulehnen. Wir sind bereit zu Kompromissen. Wenn man
eine Lösung bzw. eine Reform der IWC will, muss man
auch kompromissbereit sein. Wir wollen aber keinen
Kompromiss um jeden Preis. Es gibt Grundbedingungen, die zwingend erfüllt sein müssen. Das oberste Ziel
muss die Perspektive sein, zum endgültigen Ende des
kommerziellen Walfangs zu kommen.
({5})
Dies ist eine zwingende Grundbedingung, die bei jedem
Kompromiss erfüllt sein muss.
Es darf keine Fangquoten für stark bedrohte Arten geben, und es darf keinen Fang in Schutzgebieten geben.
Wir brauchen eine stärkere Reduzierung, eine degressive
Ausgestaltung möglicher Quoten. Der wissenschaftliche
Walfang darf nicht wie in den vergangenen Jahren missbraucht werden. Die Einhaltung von CITES muss sichergestellt werden. Wenn dies auf der nächsten Konferenz
in Agadir nicht erreichbar ist, dann lohnt es sich allemal,
sich noch ein Jahr mehr Zeit zu nehmen, weiterzuarbeiten und weiter zu verhandeln, um vielleicht ein besseres
Ergebnis zu erzielen. Das ist allemal sinnvoller, als vorschnell ein schlechtes Ergebnis zu akzeptieren.
({6})
Dies wird sicherlich keine leichte Aufgabe werden.
Was Island anbelangt, müssen wir natürlich schon im
Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen einfordern, dass dieses Land, das in die EU will, die Regularien und das Recht der EU akzeptiert - und nicht umgekehrt.
Was Japan anbelangt, wachsen allerdings meine
Zweifel. Wenn gerade in diesen Tagen, direkt vor der
IWC-Konferenz, die Walfangflotte Japans wieder ausläuft, um ihr grausames Geschäft zu betreiben, dann ist
das kein gutes Zeichen. Genauso wenig ist es ein gutes
Zeichen, wenn gerade in diesen Tagen die Staatsanwaltschaft in Japan gegen Aktivisten von Greenpeace, die einen Walfangkorruptionsskandal aufgedeckt haben, Anklage erhebt. Diesen Aktivisten werden 18 Monate Haft
angedroht. Das alles sind keine guten Zeichen. Ich baue
darauf, dass, wie bisher auch, das Auswärtige Amt Unterstützung leistet.
Gerade im Jahr 2010, dem Jahr der Biodiversität, ist
dies ein Thema, mit dem wir deutlich machen können,
dass wir es nicht nur bei Reden belassen, sondern auch
wirklich konsequent für den Artenschutz handeln. Hier
geht es um den Artenschutz der größten marinen Säugetiere, der Giganten der Meere. Ich würde mich freuen,
wenn wir heute bei diesem Thema einen einstimmigen
Beschluss des Deutschen Bundestages für einen konsequenten Walschutz erreichen und gemeinsam mit der
Regierung auf internationaler Ebene die genannten Positionen vertreten würden.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Auch wenn man hier nicht zu sentimental
werden will: Es ist durchaus traurig oder, um es auf
Deutsch zu sagen, eine unglaubliche Sauerei, was wir
Menschen unserer Mitwelt antun. Die Bilder rund um
„Deepwater Horizon“ brennen sich ein, ebenso das Leid
der Tiere, das damit verbunden ist.
Ob man es nun religiös mit dem Schöpfungsgedanken
begründet, ökonomisch als Vernichtung von Naturressourcen bezeichnet oder verantwortungsethisch argumentiert gegenüber einer Umwelt und den Mitgeschöpfen, denen wir zumindest vermeintlich intellektuell
überlegen sind: Das Leben der Menschen auf der Erde
ist nicht nachhaltig in dem Sinne, dass wir unser Leben
so gestalten, dass wir noch lange auf dieser einen Welt
leben können.
Man könnte über vieles reden, über Ölverschmutzung, Plastikmüll, Überfischung, Vernichtung von Korallen durch klimawandelbedingte Versauerung. Nirgends allerdings wird der Umgang mit dem Meer - ich
darf daran erinnern, wir haben heute den Tag des Meeres so greifbar, so sinnbildlich, so nachfühlbar wie bei dem
Umgang mit den Walen. So wie man den Klimawandel
mit dem Eisbären verbindet, kann man die Geschichte
der Gefährdung der Meere anhand des Umgangs mit den
Walen erzählen.
Deswegen sage ich es ganz deutlich: Der Deutsche
Bundestag ist sich einig, alle fünf Fraktionen - das will
ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen -, dass wir
keinen Walfang wollen, sondern darauf hinarbeiten, dass
der Walfang beendet wird. Ungeachtet dessen, was einzelne Mitglieder der Exekutive verfolgt haben - mein
Kollege Heinz Paula wird darauf noch eingehen -, sendet jedenfalls die Legislative, wir hier im Deutschen
Bundestag, ein eindeutiges Signal an die Länder der Europäischen Union und an die Weltgemeinschaft, und wir
verpflichten die Regierung auf diese Position. Dafür
könnte ich vielen danken; ich tue das aber ausdrücklich
stellvertretend bei Herrn Kollegen Liebing, der sich um
die Positionsfindung in den letzten Wochen hier im
Deutschen Bundestag wirklich sehr verdient gemacht
hat.
({0})
Meine Damen und Herren, nachdem die Population
der Wale in jahrzehntelanger rücksichtsloser Jagd bis an
den Rand des Aussterbens dezimiert wurde, entschloss
sich die Weltgemeinschaft vor knapp 25 Jahren zu einem
grundsätzlichen Walfangverbot; so kann man es zumindest umschreiben. Doch noch immer werden jährlich
über 1 500 Wale gejagt und getötet. Einige wenige Walfangländer unterlaufen seit Jahren das Walfangverbot.
Ob „wissenschaftlicher“ Walfang oder Walfang für den
örtlichen Gebrauch - beides dient als Schlupfloch für einen letztendlich kommerziellen Walfang. Insbesondere
Japan und Norwegen unterlaufen das Moratorium
schamlos.
Es ist augenscheinlich, dass sich die Fronten zwischen Walfangländern und denen, die Wale weiter schützen wollen, mehr und mehr verhärtet haben. Grundsätzlich ist es also richtig, wenn die Internationale WalfangKommission versucht, nach Jahren erfolglos verlaufender Konferenzen mit einem Kompromiss wieder Dynamik in die Verhandlungen zu bringen. In wenigen Tagen
wird sie in Agadir zur 62. Konferenz zusammenkommen. Mit dem vorliegenden Kompromisspapier des
IWC-Vorsitzenden ist das deutsche Parlament allerdings
nicht einverstanden.
({1})
In den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass
durch die vorgeschlagene Einführung von Walfangquoten das zumindest teilweise Verbot des Walfangs faktisch aufgehoben werden würde. Selbst wenn durch eine
angedachte Quotenregelung tatsächlich in den nächsten
zehn Jahren möglicherweise einige Wale weniger getötet
werden würden, so hieße das auf der anderen Seite, dass
durch diese Quoten der kommerzielle Walfang durch die
Hintertür wieder eingeführt würde, und dies ohne klare
Ausstiegsperspektive in zehn Jahren, sondern ganz im
Gegenteil mit dem Einstieg in ein international akzeptiertes Quotenmanagement.
Das ist inakzeptabel. Walfang ist grausam, gefährdet
die Arten und spielt auch ökonomisch für die Walfangländer, ausgenommen die indigenen Völker, faktisch
keine Rolle. Längst gibt es Alternativen, wie man vernünftig mit den Walen umgehen und sie im touristischen
Bereich durchaus auch ökonomisch nutzen kann.
Meine Damen und Herren, das Jahr 2010 ist das Jahr
der biologischen Vielfalt. In diesem Jahr wird sich zeigen, ob die Weltgemeinschaft in der Lage ist, den Verlust
der biologischen Vielfalt aufzuhalten. Der Schutz der
Wale ist ein Lackmustest für Deutschland, für die Europäische Union und für die Weltgemeinschaft. Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Wochen und Monaten
informell und nun heute mit dem vorliegenden Antrag
formell alles getan, um die deutsche Regierung in einem
guten Sinne in einer guten Position zu unterstützen, damit wir in Agadir zu einem guten Abschluss kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Brunkhorst
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir nach vielen Diskussionen in den einzelnen Fraktionen und mit dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz einen
gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht haben und
wir so wie in der Vergangenheit unserem Anspruch treu
geblieben sind, für einen umfassenden Walschutz einzustehen.
Es ist das Jahr der biologischen Vielfalt. Gerade Wale
sind in ihrer Existenz massiv bedroht. Neben dem kommerziellen Walfang sind die Meeressäuger unterschiedlichsten Umwelteinflüssen ausgesetzt; das wissen wir
alle. Wir wissen, dass sich die Nahrungsketten verschieben, dass der CO2-Anstieg zur Versauerung der Meere
führt und sich durch die Klimaerwärmung die Wassertemperatur erhöht, was für die Wale natürlich nicht gut
verträglich ist. Auch schädliche Einflüsse durch Einträge
und die Folgen der Überfischung sind nicht zu unterschätzen. Dies führt zu zunehmender Nahrungsknappheit. Als Beifang finden viele Kleinwale und Delfine einen fürchterlichen Tod. Selbst im antarktischen
Schutzgebiet wird, wie eben schon erwähnt, weiterhin
gejagt.
Aktuell wird Japan von Australien vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt. Unter dem Deckmantel
von Wissenschaft und Forschung macht Japan Jagd auf
Zwergwale und sogar auf Finnwale und verwertet das
Fleisch weiterhin kommerziell. Wir alle sind uns einig:
Nur eine klare und absolute Absage des Walfangs kann
letztlich zu einer Verbesserung führen.
({0})
Die Internationale Walfang-Kommission hat einen
Kompromissvorschlag vorgelegt, der sicherlich gut gemeint war, aber leider nur der klägliche Versuch war, alle
Mitglieder in ein Boot zu holen. Es darf nicht sein, dass
der kommerzielle Walfang aufgrund solch eines Kompromisses wieder in Kauf genommen wird und dass Länder, die bisherige Vereinbarungen nicht einhalten, quasi
noch belohnt werden. Das werden wir nicht mitmachen.
Das ist völlig inakzeptabel. Der Status der bereits heute
eingerichteten Schutzgebiete muss unbedingt erhalten
bleiben und darf nicht untergraben werden.
({1})
Deshalb lehnen wir den Kompromissvorschlag ab. Wir
wollen weiterhin die doppelte Absicherung: Wir wollen
die Weiterführung des Moratoriums. Zudem muss das
Washingtoner Artenschutzabkommen weiterhin gelten
und darf nicht unterlaufen werden.
Ich kann uns alle nur zu beglückwünschen, dass wir
ein sehr klares Votum für die am 21. Juni stattfindende
Konferenz in Agadir vom Bundestag aussenden können
und Herr Röttgen ein klares Votum mit auf den Weg bekommt. Ich hoffe, dass Europa mit einer Stimme sprechen wird und wir nicht in die Bredouille kommen, dass
wir uns enthalten müssen und die Walfangbefürworter
die Oberhand gewinnen. Das darf nicht geschehen. Dafür wird sich auch die FDP weiterhin einsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Jahr 1987 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger einen Essay mit dem Titel Böhmen am Meer, geschrieben
im Jahr 2006 von einem fiktiven amerikanischen Zeitungskorrespondenten namens Timothy Taylor. Darin
„berichtet“ dieser Journalist unter anderem von einer
Berliner Konferenz zum Artenschutz, wobei die Mauer
und der Grenzstreifen nach Auflösung der innerdeutschen Grenze als Naturschutzgebiet dienen sollen. Es
werden verschiedene fiktive Aussichten auf die Zukunft
geboten, wobei die Verwandlung des Geländes der Berliner Mauer in ein Biotop fast genau der heutigen Realität
entspricht.
Damit sind wir bei zwei Themen, die der zur Abstimmung stehende Antrag tangiert: beim Thema Artenschutz und bei der Mauer, die in den Köpfen der Antragsteller offensichtlich im Gegensatz zur Realität immer
noch existiert. Die Linke ist nicht deshalb nicht unter
den antragstellenden Fraktionen, weil sie kein Herz für
Wale hat, sondern deswegen, weil insbesondere die
CDU/CSU-Fraktion
({0})
in der üblichen undemokratischen und unparlamentarischen Manier die Existenz der Linken nicht wahrhaben
will. Darum wurden wir weder bei der Erarbeitung des
Antrages einbezogen, noch gestattete man uns, den Antrag als fünfte Fraktion mit zu unterzeichnen. Das zeigt
wieder einmal Ihre politische Unreife.
({1})
Auch wenn wir das langsam gewohnt sind, enttäuscht es
mich immer wieder. Das ist übrigens nicht nur unreif,
sondern auch heuchlerisch; denn in Ihrem Antrag schreiben Sie:
Um den Verlust der Arten zu bekämpfen, müssen
national wie international alle Kräfte gebündelt
werden.
Das ist auch richtig. Auf die Kraft von 76 linken Bundestagsabgeordneten scheinen Sie aber verzichten zu
wollen. Ich finde, ein so wichtiges Thema wie der Walschutz müsste doch das Potenzial haben, den Kalten
Krieg in den Köpfen der CDU/CSU-Fraktion zu beenden.
({2})
Kommen wir zum Inhalt. Für mich geht es nach wie
vor darum, dass die Ächtung des Walfangs Allgemeingut
wird, gerade auch in Ländern, in denen er praktiziert
wird. Ich habe nun mehrmals gehört, dass Japans Jugend
deutlich weniger Interesse am Walfang hat, als dies die
offizielle japanische Politik darstellt. Die Definition des
Walfangs als wissenschaftlich zeigt doch bereits, dass
der kommerzielle Walfang sonst keine Unterstützung in
der Bevölkerung fände. Die Ergebnisse der japanischen
Walforschung sind allerdings offenkundig so dürftig,
dass sie von keinem internationalen wissenschaftlichen
Journal zur Veröffentlichung angenommen wurden. Island ist neben Japan übrigens das zweite Land, das Walfang zu angeblich wissenschaftlichen Zwecken betreibt.
Dies ist brisant. Hier wird, wie es schon im Antrag steht,
einiges bei den EU-Verhandlungen zu klären sein. Immerhin hat Island 2002 das Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs unterzeichnet.
Uns muss klar sein, dass der Schutz von Walen weit
mehr ist, als das Bejagen dieser Meeressäuger zu reduzieren und möglichst nur noch den indigenen Walfang zu
erlauben. Dazu gehört auch der Schutz der Meere vor
Stoffeinträgen, Verschmutzungen, Lärm - vor allem
durch technische Anlagen und Schiffe - und Öl sowie
vor industrieller Fischerei.
({3})
Diese Themen bilden ein anspruchsvolles Politikfeld,
wenn wir den Walschutz wirklich ernst nehmen wollen.
Doch die Politik der Bundesregierung verhält sich zu
nachhaltiger Umweltpolitik genauso - und hier möchte
ich auf den Anfang meiner Rede zurückkommen - wie
Böhmen zum Meer: Sie ist weit davon entfernt.
Dieser Antrag ist aus unserer Sicht durchaus ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir sind nicht so wie
Sie: Wir stimmen dem Antrag zu, auch wenn wir ihn
nicht mit erarbeiten durften. Sie sollten sich aber noch
einmal überlegen, mit wem sie in Zukunft Gemeinsamkeiten sehen und mit wem nicht.
Danke.
({4})
Das Wort hat nun Cornelia Behm für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist für mich ganz ungewöhnlich, von dieser Stelle aus
einmal nicht gegen die Regierungsfraktionen zu wettern,
sondern das Gegenteil zu tun. Im Übrigen tun Sie das
zurzeit untereinander bei anderen Sachverhalten ja ganz
trefflich.
Ich möchte noch einmal in die Geschichte gehen. Das
1986 beschlossene Walfangmoratorium hat seinerzeit
Wirkung gezeigt. Bis auf Japan, Norwegen und Island,
die nach wie vor Walfang betreiben, sind deutlich weniger Wale gejagt worden. Sie teilen sich aber nach wie
vor weiter Quoten zu, und nicht nur das: Sie haben auch
weitere Walfangbefürworter geworben. 1986 hatten wir
33 Länder in der IWC. Durch das Werben der Walfangbefürworter besteht zwar noch keine Gefahr, dass sie die
erforderliche Zweidrittelmehrheit stellen, mit der das
Moratorium abgeschafft werden könnte; aber auch die
Walschutzländer haben inzwischen keine Zweidrittelmehrheit mehr.
Deutschland gehörte immer zu den Walschutzländern.
Es spielte unter Rot-Grün eine Vorreiterrolle und engagierte sich auch danach aktiv für den Walschutz, übrigens mit voller Rückendeckung des Bundestages. Der
Bundestag war es auch, der die Bundesregierung beauftragte, in der Arbeitsgruppe der IWC mitzuwirken, und
zwar mit dem Ziel, die Kuh vom Eis zu holen, das heißt,
Japan, Norwegen und Island Brücken zu bauen, um sich
ohne Gesichtsverlust dem Moratorium anschließen zu
können.
Das Ergebnis löste jedoch - zumindest bei mir - Entsetzen aus. Der Vorschlag des Vorsitzenden sah de facto
eine Aufhebung des Moratoriums vor, nämlich durch offizielle Zuteilung von kommerziellen Walfangquoten an
diese drei Länder, und zwar für die nächsten zehn Jahre.
Infolgedessen wäre die Wiederaufnahme des internationalen Handels mit Walprodukten zu befürchten gewesen.
Wo ein Markt ist, zum Beispiel für Walfleisch als Hundefutter oder für Waltran zur Energieerzeugung, da
nimmt auch der Walfang wieder zu. Das kann nicht gewollt sein; das können wir Deutsche nicht wollen.
({0})
Nach ersten ernst zu nehmenden Befürchtungen, dass
Deutschland bei der nächsten IWC-Jahrestagung diesen
Vorschlägen zustimmen würde, gab es zwischen Bundesministerien, Parlamentariern und Walschutzorganisationen einen intensiven Austausch. Ich erinnere mich an
sehr erregte Wortwechsel.
({1})
Obwohl wir fraktionsintern und in Abstimmung mit der
SPD bereits einen Antrag beschlossen hatten, mit dem
die Bundesregierung aufgefordert werden sollte, diesem
Kompromissvorschlag keinesfalls zuzustimmen, war
mir von Anfang an klar, dass nur ein interfraktioneller
Bundestagsantrag weiterhelfen würde. Ich muss aber gestehen: Bis zum Schluss war ich unsicher, ob es wirklich
klappen würde, ob wir zu einem Beschluss kommen
würden, den letztlich auch wir Grüne mittragen können.
Ich bin deswegen sehr froh, dass dies zu guter Letzt gelungen ist. Wir Grüne haben neben den Walschutzorganisationen sicherlich einen Anteil daran. An dieser Stelle
möchte ich mich ausdrücklich beim Kollegen Liebing
bedanken. Ohne seinen Einsatz und seine Bemühungen,
alle zueinanderzuführen, wäre das Vorhaben sicherlich
trotzdem zum Scheitern verurteilt gewesen.
({2})
Zum Schluss noch ein paar Überlegungen zu den
Aussichten, bei den IWC-Verhandlungen mit Japan,
Norwegen und Island ein Ausstiegsszenario vereinbaren
zu können. Die Aussichten sind sicherlich nicht allzu
gut. Allerdings besteht die realistische Möglichkeit, dass
Island die Seite der Walfangländer verlässt, wenn es tatsächlich der EU beitritt. Japan muss demnächst entscheiden, ob es ein neues Fabrikschiff baut oder nicht. Wenn
die Entscheidung gegen den Neubau ausfällt, wird Japan
faktisch keine Wale mehr fangen, unabhängig von seiner
offiziellen Position in der IWC. Ohne den japanischen
Markt wird auch Norwegen den Walfang beenden. Am
Ende sieht es für den Stopp des Walfangs vielleicht doch
besser aus, als es die festgefahrene Lage in der IWC vermuten lässt.
({3})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Dieter
Stier für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem heute vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag „Konsequenten
Walschutz fortsetzen und verbessern“ fordern wir Parlamentarier die Bundesregierung einvernehmlich auf, auf
der 62. Tagung der Internationalen Walfang-Kommission ein klares Bekenntnis zum Schutz der Wale abzugeben.
Wir haben es von den Vorrednern schon gehört: Das
bereits 1986 beschlossene Moratorium, das ein Verbot
des kommerziellen Walfangs vorsieht, wird seit Jahren
von den drei Walfangnationen Norwegen, Island und Japan systematisch unterlaufen. Allein unter dem scheinheiligen Deckmantel des sogenannten wissenschaftlichen Walfanges werden gegenwärtig jährlich etwa
1 000 Wale getötet, und das mit steigender Tendenz.
Dieses Hinwegsetzen über das Moratorium ist nicht länger akzeptabel.
({0})
Der kommerzielle Walfang muss wirksam unterbunden
werden.
Nach zweijährigen Beratungen hat der IWC-Vorsitz
am 22. April dieses Jahres den jetzt vorliegenden Kompromissvorschlag zur Verbesserung des Walschutzes
ausgearbeitet. Das Schlupfloch des wissenschaftlichen
Walfangs soll damit endlich wirksam geschlossen werden. Alle Fänge sollen wieder unter die Kontrolle der
IWC kommen. Auch sollen die Fänge der Walfangnationen insgesamt gegenüber den heutigen Fangzahlen deutlich reduziert werden. Im Grundsatz ist der Versuch der
IWC, einen Kompromiss zu finden, zu würdigen; denn
unserer Meinung nach müssen alle Wege und Möglichkeiten geprüft werden, um dem Schutz der Wale hinreichend Rechnung zu tragen.
({1})
Wie jeder Kompromiss enthält auch das vorliegende
Papier Teile, die von uns nicht uneingeschränkt mitgetragen werden können. Deshalb muss der vorliegende
IWC-Kompromiss in seiner konkreten Ausgestaltung
noch in folgenden zentralen Punkten modifiziert werden:
Erstens. Der Walfang unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Forschung muss beendet werden.
Zweitens. Am Walfangmoratorium muss festgehalten
werden. Jegliche Vorschläge zur Wiederaufnahme des
kommerziellen Walfangs sind deshalb strikt abzulehnen
und nicht akzeptabel.
({2})
Drittens. Nicht akzeptabel ist für uns auch der Fang
von bedrohten Arten wie den Finnwalen. In keinem Fall
darf ein Bestand bejagt werden, wenn nicht vorher der
Wissenschaftsausschuss sein Einverständnis dazu erklärt
hat.
Viertens. Es ist unbedingt sicherzustellen, dass das
Handelsverbot für Walprodukte des Washingtoner Artenschutzübereinkommens nicht unterlaufen werden
kann.
Fünftens. Nicht akzeptabel ist Walfang in Walschutzgebieten wie dem Südpolarmeer. Japan muss uns ein
konkretes Datum für das Ende des Walfangs im Südpolarmeer nennen.
({3})
Die Bundesregierung darf in der IWC keinem Kompromissvorschlag zustimmen, der nicht mindestens diese
Forderungen erfüllt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie diese Position in Agadir mit Nachdruck
vertritt. Ich bin sehr erleichtert darüber, dass wir dem
deutschen IWC-Kommissar, Herrn Staatssekretär a. D.
Lindemann, diesen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages mit auf den Weg nach Agadir geben
können.
Ganz besonders begrüße ich dieses deutlich fraktionsübergreifend vorgesehene Votum von der Regierungskoalition sowie von SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen.
Es demonstriert eindrucksvoll den Schulterschluss und
eine breite Mehrheit der Parlamentarier über Parteigrenzen hinweg, wenn es um die Belange dieser Meeressäugetiere geht. Liebe Kollegin Bulling-Schröter, mir erschließt sich aber nicht, was Artenschutz mit der
Berliner Mauer zu tun hat; das muss ich an dieser Stelle
einmal sagen.
({4})
Um ehrlich zu sein: In dieser 17. Wahlperiode sind
mir noch nicht übermäßig viele parteiübergreifende Anträge im Sinne der Sache begegnet. Deshalb finde ich es
gut und freue mich außerordentlich, dass wir Parlamentarier mit sichtbarer Geschlossenheit weltweit ein Signal
für den hohen Stellenwert des Walschutzes in Deutschland und Europa senden werden. Erfahrungsgemäß werden sich viele EU-Länder der deutschen Position anschließen. Wir können somit in der EU das volle
politische Gewicht bei den Verhandlungen im Interesse
des Walschutzes in die Waagschale werfen. Deshalb
mein Appell an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Lassen Sie uns bei den gleich vorgesehenen Abstimmungen zu diesem Antrag diese Geschlossenheit auch mit einem gemeinsamen Votum bekräftigen.
Erlauben Sie mir am Ende meiner Ausführungen
noch eine persönliche Anmerkung. Die Diskussionen
und Gespräche im Vorfeld dieses fraktionsübergreifenden Antrags waren sehr oft von Emotionalität und dem
Festhalten an ideologisch geprägten Standpunkten geprägt. Gelegentlich wünschte ich mir hier noch mehr
Kompromissbereitschaft auf der Wegstrecke zum gemeinsamen Ziel. Es liegt mit in unserer Verantwortung,
dass alle Walfangnationen und alle Walschutznationen in
der IWC an einen Tisch gebracht werden, um die gegenseitige jahrzehntelange Blockadehaltung endlich aufzubrechen.
Ich wünsche mir von allen beteiligten Akteuren auch
für zukünftige Verhandlungen ein Stück mehr politischen Weitblick für das Machbare und weniger für das
Beharren auf ideologischen Positionen. Entscheidend ist
letztlich das Ergebnis. Ich denke, mit dem vorliegenden
Antrag haben wir der Bundesregierung ein klares und
einvernehmliches Mandat zur Aushandlung eines guten
Kompromissvorschlages der IWC erteilt. Ich bitte deshalb um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({5})
Kollege Stier, dies war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für die weitere Zusammenarbeit!
({0})
Das Wort hat nun Kollege Heinz Paula für die SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wale sind in der Tat faszinierende Lebewesen
und sowohl für unser gesamtes maritimes als auch für
unser ökologisches System unersetzlich. Herr Schwabe
und weitere Kollegen haben bereits darauf hingewiesen,
wie vielfältig die Gefährdung unserer Wale ist. Es liegt
an uns, den Bestand der Wale zu schützen. Es ist wichtig, dass wir Katastrophen wie momentan im Golf von
Mexiko vermeiden, den Walfang verbieten und dieses
Verbot auch konsequent durchsetzen.
Der Kompromissvorschlag der IWC-Arbeitsgruppe
hat uns alle wie ein Schlag getroffen. Der Kompromissvorschlag ist in keinster Weise hinnehmbar. Es wäre die
Legitimation zum Walfang mit Quoten, die deutlich über
den momentanen Fangzahlen liegen. Man stelle sich vor:
In Schutzgebieten würden bedrohte Arten gefangen. Der
Vorschlag hätte Japan, Norwegen und Island im Nachhinein dafür belohnt, dass sie permanent gegen das bestehende Moratorium verstoßen.
Herr Liebing, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
dass momentan die japanische Walfangflotte ausläuft.
Ihr angestrebtes Ziel ist der Fang von 260 Walen. Man
stelle sich vor: Darunter sind über 120 Tiere, deren Art
bedroht ist.
({0})
Es wäre unvorstellbar, wenn ein Land, das in den letzten
25 Jahren aus wissenschaftlichen Erwägungen heraus
über 15 000 Wale getötet hat - wissenschaftliche Erkenntnisse: null -, durch den ursprünglich vorgelegten
Beschlussvorschlag dafür quasi belohnt würde.
Ich als Tierschutzbeauftragter bin wie meine gesamte
Fraktion froh darüber, dass die ursprünglichen Überlegungen im Ministerium aufgrund von massivem Protest
von Nichtregierungsorganisationen ad acta gelegt worden sind. Lassen Sie mich in unser aller Namen bei
Greenpeace, bei Pro Wildlife und dem Internationalen
Tierschutz-Fonds bedanken. Herr Liebing, Sie haben
vorhin zu Recht darauf hingewiesen: Es stünde den Japanern sehr gut an, auf Klagen gegen Aktivisten von
Greenpeace zu verzichten.
({1})
Wir finden es sehr positiv, dass alle Parteien dem vorliegenden Antrag zustimmen werden. Ich bedanke mich
außerordentlich bei allen, die mitgeholfen haben, dass
wir zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen sind.
Wir haben klare Forderungen aufgestellt, ohne deren
Einhaltung keinerlei Zustimmung bei der nächsten IWCTagung möglich wäre. Ich brauche sie nicht zu wiederholen - die Kollegen haben darauf hingewiesen -, auch
nicht, dass der Missbrauch des wissenschaftlichen Walfangs abgelehnt wird.
Das sind Grundvoraussetzungen, und wir erwarten
von der Bundesregierung, dass sie diese in die anstehenden Beratungen im EU-Ministerrat konsequent
einbringt. Wir alle wissen: Europa hat eine zentrale
Funktion. Mein dringender Appell geht an die Bundesregierung: Sorgen Sie bitte dafür, dass ein möglichst einheitlicher Beschluss gefasst wird, der bei der nächsten
Tagung kraftvoll eingebracht werden kann. Es wäre verheerend, wenn eventuell eine Enthaltung drohen würde.
Ich möchte sogar dringend darum bitten, dass die Bundesregierung auf möglichst viele EU-Länder einwirkt,
damit selbst bei einer nicht eindeutigen Beschlusslage
auf europäischer Ebene dafür Sorge getragen wird, dass
- bei all den Schwierigkeiten, denen wir uns durchaus
bewusst sind - die von uns geforderten Punkte Unterstützung finden.
({2})
Mein weiterer Appell an die Bundesregierung: Üben
Sie enormen Druck auf die Walfangnationen aus. Da ist
einiges in Bewegung. Wir haben vor kurzem in einem
Gespräch mit Island deutlich sehen können, dass umgedacht wird. Ich halte es für zwingend erforderlich, dass
vor der Aufnahme von Gesprächen, was den EU-Beitritt
anbelangt, Island zu einer klaren Position gezwungen
wird, nämlich keinen weiteren Walfang zuzulassen.
({3})
Lassen Sie mich abschließend unterstreichen: Wir
alle, das gesamte Haus, werden nicht lockerlassen bei
unserem Engagement für die Wale, und wir werden nicht
aufgeben, bis es endlich geschafft ist, dass keine Tötung
eines Wales aus wissenschaftlichen bzw. kommerziellen
Gründen stattfindet.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({4})
Das Wort hat nun Christel Happach-Kasan für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin sehr froh, dass wir uns beim Walschutz einig sind.
Ich bin sehr froh, dass wir einen gemeinsamen Antrag
auf den Weg bekommen haben und damit wie auch in
den Jahren zuvor deutlich machen, dass der Deutsche
Bundestag hinter dem Ziel steht, die Wale weltweit zu
schützen.
({0})
Seit knapp 25 Jahren gibt es die Internationale Walfang-Kommission. Wir müssen feststellen, dass sich
gleichwohl die Anzahl der gefangenen Wale in den letzten zehn Jahren um knapp 100 pro Jahr erhöht hat. Das
ist etwas, dem wir nicht einfach so zusehen dürfen. Es ist
daher richtig, dass ein neuer Ansatz gefunden wird, um
zu dem Ziel zu kommen, den gesamten kommerziellen
Walfang zu beenden. Das ist das Ziel.
Wir müssen feststellen, dass wir hinsichtlich der Instrumente etwas beweglicher werden müssen, weil wir
dieses Ziel mit einem Moratorium allein bisher nicht erreicht haben. Deswegen müssen wir zu neuen Methoden
kommen. Eine neue Methode, die wir in unserem Antrag
erwähnt haben, sind Quoten. Wir alle sind uns aber darin
einig, dass wir nur eine stark degressive Gestaltung von
Quoten in Kauf nehmen können, dass geschützte, vom
Aussterben bedrohte Arten unter keinen Umständen einbezogen werden dürfen und dass in Meeresschutzgebieten selbstverständlich in keiner Weise gefangen werden
darf. Nur dann ist dieses Instrument überhaupt akzeptabel. Dennoch sind Quoten ein Instrument, mit dem wir
im Moment die Hoffnung verbinden, dass wir dahin
kommen, dass weniger Wale pro Jahr gefangen werden
und wir schließlich auf null kommen. Das ist unser Ziel.
({1})
Wir sollten uns bei der Beratung eines solchen Antrags natürlich auch darüber im Klaren sein, dass Walfang nur ein Bedrohungsfaktor für Wale ist und es viele
weitere Bedrohungsfaktoren für Wale gibt. Da müssen
wir ansetzen. Ich denke daran, dass nach wie vor rund
300 000 Kleinwale und Delfine in Stellnetzen und Treibnetzen verenden. Das ist ein grausamer Tod. Da können
wir nicht stehen bleiben. Wir müssen daran denken, dass
Flussdelfine durch die starke Verschmutzung von Flüssen nach wie vor bedroht sind, weil ihre Lebensräume
zerstört werden. Auch da dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir müssen außerdem feststellen, dass der zunehmende Unterwasserlärm dazu führt, dass es für viele
Wale fast unmöglich ist, Futter zu finden, und dass sie
sich nicht richtig orientieren können. Auch das ist ein
Thema, das wir angehen müssen. Wir sollten ferner daran denken, dass starker Schiffsverkehr dazu führt, dass
Wale häufiger Kollisionen mit Schiffen erleiden. Nordkaper ist zum Beispiel eine Walart, die stark gefährdet ist
und bei Kollisionen immer wieder Opfer ist.
- All das müssen wir in Angriff nehmen; denn wir
sind uns einig: Wir wollen die Wale, die großen Meeressäuger, schützen und ihren Bestand erhalten. Wir wollen
dafür sorgen, dass die seltenen Arten wieder häufiger
vorkommen. Wir wollen die Bedrohung für diese Arten
mildern. Wenn wir uns darin einig sind, dann sollten wir
nicht dabei stehen bleiben, ein Fangverbot aufzulegen,
sondern wir sollten auch an den anderen, die Wale beeinträchtigenden Tatsachen arbeiten und auch diesbezüglich
Abhilfe schaffen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1982 mit
dem Titel „Konsequenten Walschutz fortsetzen und verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig
angenommen.
({0})
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Roth ({1}), Axel Schäfer ({2}),
Dr. Angelica Schwall-Düren, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative
KOM({3}) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes
Europäische Bürgerinitiative bürgerfreund-
lich gestalten
- Drucksache 17/1975 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Konstantin Hunko, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative
KOM({4}) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Europäische Bürgerinitiative bürgerfreund-
lich gestalten
- Drucksache 17/1967 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola
von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative
KOM({6}) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Europäische Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU
- Drucksachen 17/1781, 17/2013 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth ({7})
Dr. Stefan Ruppert
Manuel Sarrazin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Michael Roth von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden über ein Thema, das von Beginn an von der
Sozialdemokratischen Partei mit sehr viel Ernsthaftigkeit und Leidenschaft unterstützt wurde. Es geht um die
große Chance, die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union stärker an diesem Projekt zu beteiligen.
Insofern hätte ich mir gewünscht, dass wir hier im Bundestag durch eine gemeinsame Stellungnahme belegt
hätten, dass dies nicht nur ein zentrales Thema für die
SPD-Fraktion und die Oppositionsfraktionen insgesamt
ist, sondern dass sich auch die Koalitionsfraktionen in
diesen Prozess einbringen, zumal Herr Staatsminister
Hoyer, wenn ich ihn richtig verstanden habe, uns ermuntert hat, die Bundesregierung aktiv zu begleiten und sie
dabei zu unterstützen, die Europäische Bürgerinitiative
zu einem bürgerfreundlichen Instrument werden zu lassen. Da steht das eine oder andere - das muss ich leider
sagen - noch aus.
({0})
Die Europäische Bürgerinitiative ist eine Chance
nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für uns Parlamentarier. Eine europäische Öffentlichkeit, in der die
Bürgerinnen und Bürger Themen gemeinsam besprechen, in der auch gemeinsam gestritten wird, ist das
beste Mittel gegen Renationalisierung. Das sehen wir
nicht nur an den Wahlergebnissen bei vielen unserer
Nachbarn. Das sehen wir nicht nur an der relativ starken
Zurückhaltung, sich der großen europäischen Idee zu
öffnen. Wir sehen das auch im tagtäglichen Handeln und
möglicherweise sogar hier in unseren eigenen Reihen.
Es ist schwieriger geworden für Europa.
Das beste Mittel, um deutlich zu machen, dass wir in
einem Boot sitzen, ist, Themen, die über die Grenzen des
Nationalstaates hinausreichen, auf die gemeinsame
Agenda zu setzen und den Bürgerinnen und Bürgern,
egal ob sie aus Frankreich, Lettland, Ungarn, Deutschland oder Spanien kommen, die Möglichkeit zu geben,
den EU-Institutionen, insbesondere der Kommission,
das zu sagen, was ihnen wichtig ist.
({1})
Es kann sich um Fragen des Friedens und der Sicherheit,
Fragen des Verbraucherschutzes und Fragen der Gesundheit handeln, viele Themen können auf die Agenda gesetzt werden.
Ich habe gestern von den Kolleginnen und Kollegen
der Linkspartei gehört, das, was im Vertrag von Lissabon
stehe, sei eher bescheiden. Ich mahne uns alle: Wir sollten selbstbewusst und nicht verzagt sein. Wo steht in den
Verträgen, dass beispielsweise das Europäische Parlament Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommission der EU anhört, bevor sie ins Amt berufen werden?
All das hat sich das Parlament erkämpft. Genauso können wir jetzt durch eine kritische Begleitung des Gesetzgebungsprozesses dieses Projekt zu einem Erfolg führen,
das ein hohes Maß an Verbindlichkeit erhält und als Ergebnis eben nicht nur eine mehr oder weniger belanglose
Mitteilung der Kommission nach sich zieht.
Vor diesem Hintergrund bin ich von der Koalition
sehr enttäuscht; das will ich deutlich sagen.
({2})
Sie stehen auf der Bremse, nicht auf dem Gaspedal.
Auch gestern in der Anhörung, in dem Fachgespräch,
das wir im Rahmen der Sitzung des Europaausschusses
durchgeführt haben, ist eher über die Bedenken und weniger über die Chancen geredet worden. Ich habe gehört
- möglicherweise kann Herr Staatsminister Hoyer dies
in einer der nächsten Sitzungen klarstellen -, dass die
Bundesregierung auch in Brüssel zögert und dass nicht
deutlich wird, wie wichtig Ihnen das Thema ist. Insofern
hätte ich mir gewünscht, dass wir dem Beispiel Österreichs und anderer nationaler Parlamente gefolgt wären
und eine fraktionsübergreifende Stellungnahme auf den
Weg gebracht hätten, um gemeinsam zu erklären: Dieses
Vorhaben ist uns wichtig. Wir hätten sicherlich einen
Kompromiss finden können.
({3})
Ich will noch einmal die Kernanliegen meiner Fraktion verdeutlichen; denn einiges, was die EU-Kommission in den Verordnungsentwurf geschrieben hat, stößt
bei uns auf Kritik. Unser Ziel ist eine bürgerfreundliche,
unbürokratische und zügige Umsetzung. Deswegen lautet meine Forderung an die Bundesregierung, im Rat dafür zu sorgen, das Gesetzgebungsverfahren gemeinsam
mit dem Europäischen Parlament zeitnah zum Abschluss
zu bringen.
({4})
Wir fordern eine Herabsetzung der Mindestanzahl der
Mitgliedstaaten, die sich an einer solchen Bürgerinitiative beteiligen. Bislang schlägt die Kommission ein Drit4710
Michael Roth ({5})
tel vor. Wir schlagen ein Viertel vor, das heißt sieben
statt neun Mitgliedstaaten. Wir sind dafür, die Zulässigkeitsprüfung frühestmöglich durchzuführen und nicht zu
warten, bis 300 000 Unterschriften gesammelt werden.
Wir sind auch dafür, dass auf die Angabe der Personalausweisnummer verzichtet werden kann.
Wir würden uns freuen, wenn es uns gelänge, den
Zeitraum der Sammlung der Unterschriften von 12 auf
18 Monate zu verlängern; denn es ist schwierig, verschiedene Organisationen in der Europäischen Union
zusammenzuführen. Deswegen sollten wir hier etwas
großzügiger sein. Wenn die 1 Million Unterschriften
schneller gesammelt werden kann, spricht überhaupt
nichts dagegen, das Verfahren dann zügiger abzuschließen.
({6})
Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist: Diejenigen,
die eine Europäische Bürgerinitiative auf den Weg gebracht haben, müssen von der EU-Kommission ernst genommen und respektiert werden. Deswegen sollten vor
einer abschließenden Überprüfung durch die Kommission die Organisatoren einer Europäischen Bürgerinitiative angehört werden, um die Grundlage noch etwas zu
verbreitern und für ein Stück Ernsthaftigkeit zu sorgen.
Gestern haben die Kolleginnen und Kollegen von der
Union gesagt, damit würden wir den Lobbyisten Tür und
Tor öffnen. Das halte ich nun wirklich für maßlos überzogen. Lobbyisten haben in Brüssel schon jetzt direkte
Zugänge, sowohl zum Rat, zur Europäischen Kommission als auch zum Europäischen Parlament. Die Europäische Bürgerinitiative verleiht gerade denen Ausdruck
und gibt gerade denen eine Chance der Mitwirkung, die
möglicherweise nicht über solche Lobbyzugänge verfügen. Das ist Bürgerfreundlichkeit im besten Sinne des
Wortes. Ich will dieses Instrument nicht überhöhen.
Aber ich sehe darin durchaus eine Chance.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte uns im
Deutschen Bundestag nicht nur darum gehen, Märkte zu
europäisieren. Es sollte uns vor allem auch darum gehen,
Bürgerinnen und Bürger, Projekte und Diskussionen in
der Europäischen Union zu europäisieren. Die Europäische Bürgerinitiative kann dazu einen wichtigen Beitrag
leisten.
Insofern fordere ich Sie auf: Geben Sie sich einen
Ruck. Leisten Sie einen Beitrag, dass deutlich wird:
Deutschland und der Deutsche Bundestag stehen hinter
der Europäischen Bürgerinitiative. Wir wollen, dass sie
ein wirklich kraftvolles, ernst zu nehmendes Instrument
wird. Daran müssen wir alle noch ein bisschen arbeiten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Thomas Dörflinger für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zu
Beginn mit einer Begrifflichkeit aufräumen, die für uns
in Deutschland missverständlich ist. Wenn wir das Wort
„Bürgerinitiative“ hören, dann denkt normalerweise jeder von uns an eine Gemeinschaft von Menschen, die
sich in einem Verein einem bestimmten Thema widmen:
vom Stadtteilfest über die erweiterten Kindergartenöffnungszeiten bis hin zu einer Ortsumgehung. Genau das
ist hier nicht gemeint. Gemeint ist das, was wir aus den
deutschen Länderverfassungen unter dem Stichwort
„Bürgerbegehren“ kennen. Ich will anregen, die Begrifflichkeit auch in dieser Debatte zu überprüfen, im Interesse derer, die anschließend von diesem Instrument Gebrauch machen können, damit sich niemand etwas
Falsches darunter vorstellt. Ich denke, die Bezeichnung
„Bürgerbegehren“ wäre die sinnvollere Bezeichnung als
„Bürgerinitiative“.
Ich will zwei Punkte unterstreichen, die der Kollege
Roth angesprochen hat, weil wir uns da einig sind: Erstens. Das Instrument kann eine Chance sein, wenn wir es
richtig ausgestalten. Zweitens. Die Chance besteht darin,
dass wir so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit
herstellen, die wir zumindest im medialen Bereich bis
zum heutigen Tag so nicht haben. Es besteht, wie der
Kollege formuliert hat, für die Bürgerinnen und Bürger
auch die Chance, der Kommission zu sagen, was wichtig
ist.
Wenn gestern in dem Fachgespräch im Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union von unserer Fraktion und von den Kolleginnen und Kollegen der
FDP der eine oder andere kritische Unterton angeklungen ist, dann nicht deswegen, weil wir gegenüber diesem
Instrument prinzipiell skeptisch sind, sondern deswegen,
weil wir schon im Vorfeld, bevor das Instrument schlussendlich greift, klären müssen, welche Risiken und Herausforderungen möglicherweise mit diesem Instrument
verbunden sind. Diese Frage dürfen wir nicht erst dann
klären, wenn wir uns bereits im Verfahren befinden.
Deswegen muss man an dieser Stelle auf ein paar offene Punkte hinweisen, die wir miteinander beraten müssen:
In Art. 11 des Vertrages über die Europäische Union
wird die Marge von 1 Million Unterschriften genannt.
Ich glaube, deshalb wäre es richtig, wenn die Quote unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei einem Drittel und nicht bei einem Viertel liegen würde,
damit die Initiative anschließend auch von einer wirklich
breiten Masse getragen wird.
Das, was der Kollege Roth gestern aus dem Fachgespräch zitiert hat, war insbesondere auch meine Einlassung. Es handelt sich um die Frage an die Expertin und
an den Experten: Wie stellen wir sicher, dass das Instrument, das wohlgemerkt „Bürgerinitiative“ und nicht
„Verbandsinitiative“ heißt, nicht von Verbänden zur VerThomas Dörflinger
tretung von Partikularinteressen missbraucht wird? Das
wäre nämlich nicht im Sinne des Erfinders. Ich habe
festgestellt, dass beide Experten die Antwort auf diese
Frage schuldig geblieben sind. Im Gegenteil, sie haben
meine Bedenken bestätigt. Sie haben bestätigt, dass es
diese Risiken gibt, aber sie haben wenigstens bislang
noch keine Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Deswegen ist das ein Punkt, an dem wir noch arbeiten müssen.
Ich nenne einen weiteren Punkt, der hinzukommt. Es
war die Rede davon, ob man möglicherweise darauf
verzichten könnte, dass man sich in irgendeiner Weise,
beispielsweise durch die Eingabe der Personalausweisnummer, identifiziert oder autorisiert. Ein bisschen komplizierter und anspruchsvoller, als zwei Freunde bei Facebook anzuklicken, sollte es schon sein; denn das ist
tatsächlich ein demokratisch legitimiertes Instrument.
Wir kommen dann natürlich in einen sehr interessanten Bereich, nämlich in den Bereich des Datenschutzes.
Ich kann nur hoffen, dass die Daten, die ich dort eingebe,
anschließend nicht bei irgendjemandem landen, der Unfug damit treibt. Deswegen ist im Rahmen dieses Themas noch einmal separat zu beleuchten, wie wir einerseits eine Möglichkeit der Identifizierung für die
Bürgerinnen und Bürger schaffen, andererseits aber den
Erfordernissen des Datenschutzes gerecht werden.
({0})
Es wäre schön und edel gewesen, wenn der Deutsche
Bundestag, wie der Kollege Roth das eingefordert hat,
zu einer gemeinsamen Initiative gefunden hätte. Dieses
Begehren teile ich durchaus. Sie hätten dann aber auch
die Initiative ergreifen und das Gespräch mit der Koalition suchen können,
({1})
anstatt uns drei unausgegorene Anträge auf den Tisch zu
legen, über die wir heute per Abstimmung zu befinden
haben.
({2})
Mit Blick auf das, was uns die Linksfraktion hier als
Antragstext vorgelegt hat, sage ich: Über einen Punkt
müssen wir uns verständigen. Eine Regelung ist, dass
die Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen an die Kommission herantragen können. Im Rechtssetzungsprozess
innerhalb der Europäischen Union zwischen Rat, Kommission und Parlament soll sich dadurch nichts ändern.
({3})
Wenn man den Text des Antrages der Linkspartei
liest, dann kommt man auf die Idee, dass sie die Europäische Kommission zu einer Poststelle degradieren
will, die für die Eingangsbestätigung bei Bürgeranliegen
zuständig ist, die anschließend auch noch einen Anspruch auf Kostenerstattung für dieses Ansinnen haben.
Das ist auch nicht im Sinne des Erfinders.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Ja, gerne.
Herr Kollege Dörflinger, Sie haben angesprochen,
dass es wünschenswert gewesen wäre, hier etwas Gemeinsames zu machen. Haben Sie mitbekommen, dass
wir mehrfach - auch im Rahmen der Ausschusssitzung gesagt haben, dass wir uns gut vorstellen könnten, uns
über dieses wichtige Thema gemeinsam zu einigen? Auf
diese Aussage hin haben wir von Ihrer Seite auch keine
große Ablehnung erfahren. Insofern finde ich, dass wir
uns willig genug gezeigt haben, um das einmal so zu formulieren, sodass Sie nur noch hätten zugreifen müssen.
Dann wären wir alle zusammen vielleicht einen besseren
Weg gegangen, als wir ihn so zu gehen vermocht haben.
Meine Frage war, ob Sie das mitbekommen haben.
Selbstverständlich habe ich das mitbekommen, so wie
ich alles mitbekomme, was im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union passiert.
({0})
Unsere Reaktion ist durch Sie in diesem Fall aber durchaus missverstanden worden. Für mich war es nicht bereits genug an Offerte, dass Sie einen Halbsatz oder eineinhalb Sätze in einem Ausschuss gesagt haben. Ich
hätte schon erwartet, dass Sie, wenn Sie das Ansinnen
ernsthaft verfolgen, tatsächlich den Versuch unternehmen, mit uns ins Gespräch zu kommen, und das nicht
nur zwischen den Tagesordnungspunkten X und Y am
Rande des Ausschusses irgendwann einmal fallen lassen.
({1})
- Das kann wohl sein, aber in dem konkreten Fall ist das
eben nicht so gelaufen.
({2})
- Ja, das sind Stilfragen. Das ist richtig, Frau Gleicke.
Die Frage ist aber, wer auf welchen Stil pocht, und ich
glaube, Sie können dies in diesem Fall nicht für sich in
Anspruch nehmen, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({3})
Wie gesagt, vielleicht wäre es schön gewesen, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen, aber die Anträge,
und zwar nicht nur der Antrag der Linkspartei, sondern
auch die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD, zeigen, dass wir inhaltlich sehr weit auseinander
liegen. Ich meine, es ist eine Ergänzung zum politischen
Entscheidungsprozess innerhalb der Europäischen
Union, dieses Instrument einzuführen, aber es kann diesen Prozess nicht ersetzen. Schon in diesem Punkt sind
wir sehr weit auseinander.
Deswegen bitte ich um Verständnis, wenn wir den
heute vorliegenden Anträgen nicht folgen können und
uns stattdessen darauf konzentrieren, eigene Interessen
zu entwickeln.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Andrej Hunko für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kennen das Bild aus dem Feudalismus, wie die Untertanen
am Geburtstag des Königs am Hofe vorstellig wurden
und ihre Sorgen und Nöte darlegten, und war der König
milde gestimmt, so konnte es passieren, dass sie Gehör
fanden und der König großzügig Abhilfe versprach.
Nicht viel höher ist das demokratische Niveau der Europäischen Bürgerinitiative, über die wir heute diskutieren. Ich zitiere gerne aus dem entsprechenden Art. 11
Abs. 4 des Vertrages über die Europäische Union:
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl eine Million betragen … muss, können … die
Europäische Kommission auffordern, im Rahmen
ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen
zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener
Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der
Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.
Um es klar zu sagen: Das ist nicht mehr als ein eingeschränktes Massenpetitionsrecht, ein kleines, aber unverbindliches Element partizipativer Demokratie. Es ist
kein Bürgerbegehren, wie Sie gerade gesagt haben, Herr
Dörflinger. Es ist kein plebiszitäres Element und kein
Element direkter Demokratie.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe selbst vor einigen
Jahren in Aachen ein Bürgerbegehren mit initiiert. Wir
haben Unterschriften gesammelt. Ein Quorum wurde erreicht. Es wurde geprüft, und dann musste die Stadt einen Bürgerentscheid organisieren. Wir haben 80 Prozent
gegen die Ratsmehrheit erreicht, und das Bauhaus Europa, ein Prestigeobjekt, um das es dort ging, wurde
nicht gebaut. Das ist direkte Demokratie, und die brauchen wir auch auf Bundesebene und auf europäischer
Ebene.
({0})
Ich erinnere auch daran, dass der Lissabon-Vertrag,
durch den der zitierte Artikel eingeführt wurde, unter
Umgehung europäischer Bürgerbeteiligung durchgesetzt
wurde. Ich erinnere an die Referenden in Frankreich und
den Niederlanden, die dabei umgangen wurden.
Kann mit der Europäischen Bürgerinitiative zum Beispiel ein europäischer Mindestlohn eingeführt werden,
was nicht nur wir sehr begrüßen würden? Nein, denn das
würde Art. 153 Abs. 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Kommission widersprechen.
Kann damit eine soziale Fortschrittsklausel eingeführt
werden, wie sie von den Gewerkschaften gefordert
wird? Nein, denn dazu bräuchte es eine Änderung des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Kommission.
Kann damit die rechtsstaatlich höchst fragwürdige
EU-Terrorliste aufgehoben werden? Sie gehört zu den
schwarzen Listen, die der Rat einsetzt und die dann judikative Folgen haben. Nein, denn das fällt nicht in die Zuständigkeit der Kommission, sondern des Rates.
Es bleibt zu befürchten, dass bei diesen eingeschränkten Möglichkeiten der wünschenswerte Effekt hinsichtlich einer Herstellung europäischer Öffentlichkeit und
der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger äußerst bescheiden sein wird.
Gerade Sie von der Koalition geben sich mit dem viel
kritisierten Umsetzungsvorschlag der Kommission
zufrieden. Um wenigstens das Positive an der Europäischen Bürgerinitiative zu sichern, sollten die Durchführungsbestimmungen möglichst bürgerfreundlich gestaltet werden. Da kann ich Herrn Roth nur zustimmen.
Wir haben ähnliche Vorschläge, die nur etwas weiter gehen. Wir schlagen zum Beispiel vor, dass das Antragsalter auf 16 Jahre gesenkt wird. Außerdem - das halte ich
für sehr wichtig - fordern wir ein Klagerecht vor dem
Europäischen Gerichtshof, falls die Kommission nach
einer erfolgreichen Bürgerinitiative keinen Gesetzentwurf vorlegt.
Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Die Europäische
Bürgerinitiative wird das strukturelle Demokratiedefizit
der Europäischen Union nicht aufheben. Nichtsdestotrotz begrüßt die Linke diesen kleinen Schritt in Richtung mehr Demokratie in der EU. Es bedarf aber weiterhin einer demokratischen Neubegründung der
Europäischen Union mit neuen Grundlagenverträgen.
({1})
Frau Merkel hat heute eine Änderung der Grundlagenverträge gefordert. Dann ist nicht einzusehen, warum
dies nicht auch zu mehr Demokratie in der Europäischen
Union, zu mehr Rechten des Europäischen Parlaments
und zu verbindlichen Rechten der Bürgerinnen und Bürger in Europa führen soll.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Heinz Golombeck für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrücklich das
durch den Vertrag von Lissabon geschaffene Instrument
der Europäischen Bürgerinitiative. Die Europäische Bürgerinitiative kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, den Bürgerinnen und Bürgern die so oft als technokratisch und bürgerfern bezeichnete Europäische Union
näher zu bringen. Es handelt sich hierbei um eine völlig
neue Form der partizipatorischen Demokratie in der EU.
Sie bietet die Chance, das Entstehen eines transnationalen Diskurses zu fördern und den Pluralismus in der EU
zu festigen.
({0})
Gleichzeitig muss die konkrete Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative sowohl effizient und realisierbar sein als auch mit den Werten und Grundrechten
der Europäischen Union im Einklang stehen, um einen
Missbrauch dieses Instruments zu verhindern. Die FDP
steht für Bürokratieabbau und die Vermeidung unnötiger
Verwaltungskosten. Um diese zu vermeiden, sollte die
Europäische Bürgerinitiative mit nicht zu hohen Hürden
ausgestattet und in der Umsetzung bürgernah und praktikabel gestaltet werden.
({1})
Daher ist es uns ein besonderes Anliegen, gewisse
Punkte hervorzuheben, die uns für einen Erfolg der Europäischen Bürgerinitiative als unvermeidlich erscheinen. Zentral ist die Zulässigkeitsentscheidung. Wir fordern, dass die rechtliche Prüfung der Vereinbarkeit einer
Europäischen Bürgerinitiative mit den Verträgen und der
Charta der Grundrechte sofort nach ihrer Anmeldung beginnen muss. Der Verordnungsentwurf der Kommission
sieht eine Prüfung erst nach 300 000 Unterstützungsbekundungen aus mindestens drei Mitgliedstaaten vor.
Dies wäre mit einem unnötigen und vermeidbaren Kosten- und Verwaltungsaufwand verbunden. Zudem sind
wir der Ansicht, dass den Organisatoren im Falle einer
ablehnenden Entscheidung bei der Zulässigkeitsprüfung
der Rechtsweg offenstehen sollte. Des Weiteren halten
wir den Vorschlag der EU-Kommission, die Mindestzahl
für eine Europäische Bürgerinitiative bei einem Drittel
der Mitgliedstaaten festzulegen, für zu hoch angesetzt
und setzen uns für ein Quorum von einem Viertel ein.
Sollten diese Punkte in den Verordnungsvorschlag der
Kommission aufgenommen werden, sind wir zuversichtlich, dass die Europäische Bürgerinitiative erfolgreich
umgesetzt werden kann. Dieses Instrument wird die Europäische Union mit mehr demokratischer Legitimation
ausstatten und durch direktdemokratische Elemente eine
zivilgesellschaftliche europäische Ebene schaffen, von
welcher neue positive Impulse für die europäische Integration ausgehen werden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein voreiliges Aufstehen vorhin kam daher, dass es mir ins Blut
übergegangen ist, immer nach der Linken zu reden. Aber
wir haben Hoffnung, dass sich das irgendwann wieder
ändert.
Herr Hunko, ich habe nur vier Minuten und möchte
mich deshalb nicht zu sehr mit Ihnen auseinandersetzen,
weil Sie bei vielen Punkten des Vorschlags der Europäischen Kommission Verbesserungspotenzial erkennen.
Aber es trennt uns einmal mehr die grundsätzliche
Frage, ob man Europa voranbringt, wenn man immer alles schlechtredet oder wenn man sagt, es ist nicht so,
dass wir keine Kritik hätten, aber wir engagieren uns
ernsthaft und frühzeitig für Verbesserungen.
({0})
Deswegen ist Ihr Vergleich mit einer Massenpetition
nicht richtig. Unser Anliegen ist, aus der Europäischen
Bürgerinitiative mehr als eine Petition zu machen. Wir
wollen, dass das Instrument ernsthaft genutzt wird, um
mehr daraus zu entwickeln. Es soll der Anfang eines Weges sein. Wenn man es jetzt aber in der Art und Weise
bewertet, wie Sie es getan haben, dann können diese
Chancen nicht wahrgenommen werden.
Herr Hunko, ich muss Ihnen zugute halten, dass ich
den wesentlichen Teil meiner Redezeit dazu verwenden
will, mich mit Herrn Hoyer und der Koalitionsseite auseinanderzusetzen.
Ich finde, dass wir eine Riesenchance verpassen. Herr
Golombeck, das, was Sie gerade vorgetragen haben,
wird von der Regierung im Rat nicht gemacht. Die Regierung hat im Rat für Allgemeine Angelegenheiten und
Außenbeziehungen angekündigt, dass sie die Grundlagen der Kommission gut findet. Ich sehe nicht, dass sich
die Bundesregierung für ein einfacheres Verfahren einsetzt. Ich sehe nicht, dass die Bundesregierung die Zulässigkeitsprüfung an den Anfang stellen möchte. Das
halte ich für gefährlich. Stellen Sie sich vor: 300 000
Stimmen werden gegen den Walfang oder für sonst was
Liberales, zum Beispiel für eine Steuererleichterung für
Hoteliers
({1})
- solange Sie in Parlamenten sitzen, muss aber niemand
dafür eine Petition einreichen -, gesammelt, und dann
sagt die Kommission: Hier ist ein Komma falsch gesetzt;
das ist falsch formuliert und damit ungültig. - Was glauben Sie, was das bei den Menschen auslöst? „Die in
Brüssel hören nicht auf uns“, das wird die Reaktion sein.
Deswegen, Herr Staatsminister Hoyer, setzen Sie sich
dafür ein, dass die Zulässigkeitsprüfung am Anfang
kommt!
({2})
Zum Wahlalter. Gerade junge Menschen sind europabegeistert. Ich war gerade am Wochenende in einer überparteilichen Funktion beim Bundesausschuss der JEF.
Ich glaube, das Wahlalter bei der Europäischen Bürgerinitiative allgemein auf 16 Jahre zu senken, wäre ein
Zeichen an diese jungen Menschen, dass sich ihr Engagement für Europa lohnt.
Zu Datenschutz und Onlinesammelsystemen. Wir haben dazu Vorschläge gemacht. Wir wollen nicht, dass jeder Initiator sammeln und dann die online gesammelten
Daten für 7 Euro pro Adresssatz weiterverkaufen kann.
Wir wollen eine zentrale Lösung. Es bedeutet vielleicht
ein bisschen mehr Bürokratie, wenn es gleich entsprechend den europäischen Datenschutzstandards organisiert wird. Aber es ist notwendig, dass das passiert.
Die Quoren sind wichtig. Wir sollten die Quoren
nicht zu hoch setzen. Statt eines Quorums von einem
Drittel der Staaten ist nach meiner Meinung ein Quorum
von einem Viertel ausreichend. Aber ganz wichtig ist,
dass die Menschen ihre Stimme einfach online abgeben
können. Sonst wird dieses Instrument nicht gut wirken
können.
({3})
Sehr geehrter Herr Staatsminister Hoyer, ich muss leider attestieren: Die politische Bedeutung der Europäischen Bürgerinitiative ist von Ihnen nicht erkannt worden. Sie sind nicht der Anwalt der Bürgerinnen- und
Bürgerinteressen, sondern bisher leider nur der Anwalt
der Kommission. Das können Sie noch ändern, indem
Sie entweder einen der Anträge der Opposition, zumindest von SPD und Grünen, beschließen, oder sich für die
von uns vorgelegten Vorschläge im Rat einsetzen. Dann
würden wir die Chance nutzen, tatsächlich ein weiteres
Element für ein höheres demokratisches Niveau in der
Europäischen Union zu schaffen. Dann würden wir nicht
nur abstrakt darüber reden, dass der Vertrag von Lissabon mehr Demokratie ermöglicht, sondern auch konkret
etwas dafür tun.
Danke sehr.
({4})
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Bürger Europas als Motor der europäischen Integration, das wäre doch eine interessante Vorstellung und etwas völlig Neues in der Geschichte der Europäischen
Union. Diese Vorstellung ist seit dem Inkrafttreten des
Vertrages von Lissabon keineswegs unrealistisch. Sie
rückt vielmehr in greifbare Nähe; denn der Vertrag von
Lissabon verbessert nicht nur die Mitwirkungsrechte der
Parlamentarier, sondern gibt auch den Startschuss für ein
echtes europäisches Volksbegehren, die Europäische
Bürgerinitiative. Damit wird den Unionsbürgern erstmals in der Geschichte der EU die Möglichkeit eingeräumt, europäische Rechtsvorschriften direkt anzuregen.
Durch die Europäische Bürgerinitiative wird zwar nicht
das Initiativmonopol der EU-Kommission angetastet.
Aber diese Initiative setzt ein deutliches Zeichen zur
Stärkung der Demokratie in Europa. Sie ist ein Meilenstein für die Demokratie in Europa.
Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist, die EU
bürgernäher zu machen. Das bedeutet zugleich eine
große Chance für die Weiterentwicklung der europäischen Integration.
Wir von der CDU/CSU haben immer klargemacht,
dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allem ein bürgernahes Europa wollen. Das haben wir in unseren
Wahlprogrammen und auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitiative stellen
wir nun die Weichen für eine stärkere Einbeziehung der
Bürgerinnen und Bürger in Europa. Die Menschen in der
Europäischen Union können sich nun mit dieser Initiative Gehör verschaffen und erhalten die Möglichkeit,
selbst ein Wort mitzureden. Sie haben es damit in der
Hand, zum Motor der europäischen Integration zu werden.
Damit das Projekt Europäische Bürgerinitiative auch
in der Praxis ein Erfolg wird, diskutieren wir derzeit mit
der Europäischen Kommission und unseren europäischen Partnern über die Einzelheiten und das konkrete
Verfahren zur Ausgestaltung der Bürgerinitiative. Wir
sind auf dem richtigen Weg.
Was wollen wir? Wir wollen, dass die Bürgerinnen
und Bürger dieses Instrument aktiv nutzen. Der Zugang
muss daher möglichst einfach gestaltet werden. Ich bin
der Letzte, der hohe bürokratische Hürden fordert. Ich
sehe mich eher als Kämpfer des Bürokratieabbaus auf allen Ebenen.
({0})
Position von CDU/CSU war es von Anfang an, die Europäische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompliziert
und praktikabel auszugestalten.
({1})
- Das machen wir auch.
({2})
Aber wir müssen natürlich auch darauf achten, dass
dieses Instrument nicht missbraucht wird.
({3})
Angesichts der politischen Bedeutung, die von der Bürgerinitiative ausgeht, muss sichergestellt sein, dass die
Unterschriften nicht fingiert werden können. Dies ist
nicht einfach; denn die Nachprüfung von 1 Million UnKarl Holmeier
terschriften in ganz Europa ist verständlicherweise eine
Riesenherausforderung. Ob es sinnvoll ist, wie im Antrag der SPD-Fraktion gefordert, auf die Abgabe einer
persönlichen Identifikationsnummer durch Ausweisdokumente zu verzichten, bezweifele ich in diesem Zusammenhang.
({4})
Wir müssen weiter sicherstellen, dass die Bürgerinitiative tatsächlich ein Instrument für die Bürgerinnen und
Bürger wird. Sie darf nicht als populistisches Vehikel
missbraucht werden.
Die vergangenen Wochen, insbesondere die Diskussion um die Finanzmarkttransaktionsteuer und die Initiative der Kollegen der SPD, haben gezeigt, dass hier eine
ganz reale Gefahr besteht; insofern habe ich mich schon
gewundert, Herr Kollege Roth, dass Sie den Hinweis des
Kollegen Dörflinger gestern im Ausschuss bezüglich der
Missbrauchsgefahr durch Verbände als übertrieben und
unrealistisch dargestellt haben. Wir haben durchaus Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger, Herr Kollege,
aber wir wollen niemanden in Versuchung führen, missbräuchlich Einzelinteressen mithilfe der Bürgerinitiative
durchzusetzen.
Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzulegen, ist
es sinnvoll, sich hier am mitgliedstaatlich organisierten
Wahlrecht für das Europäische Parlament zu orientieren.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein demokratisches
Instrument auf europäischer Ebene, und wir sollten hier
in Europa keine unterschiedlichen Altersgrenzen einführen.
Noch eine Bemerkung zum Antrag der Fraktion Die
Linke. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten in
Ihren Anträgen schon Vorschläge machen, die auch mit
dem Lissabon-Vertrag vereinbar sind. Das Initiativmonopol zur Unterbreitung von Rechtsetzungsvorschlägen
hat die EU-Kommission. Art. 11 Abs. 4 des neuen EUVertrages sieht daher ausdrücklich vor, dass die Unionsbürger mit ihren Unterschriften die EU-Kommission
auffordern können, Gesetzgebungsvorschläge zu unterbreiten. Der Vorschlag für den Gesetzgebungsakt muss
also von der EU-Kommission kommen und kann nicht,
wie von Ihnen gefordert, von den Bürgern gemacht werden.
Ich komme zum Schluss. Insgesamt sind wir mit dem,
was von der Europäischen Kommission bisher vorgelegt
wurde und was wir zurzeit noch diskutieren, auf einem
richtigen und guten Weg. Ich halte daher eine besondere
Intervention des Deutschen Bundestages nicht für erforderlich. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die zur
Debatte stehenden Anträge, die ich vor dem Hintergrund
meiner Ausführungen ablehne.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Jimmy Schulz für die FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Europäische Bürgerinitiative ist
kein Feigenblatt. Sie ist eine ernst zu nehmende Möglichkeit der Partizipation. Sie ist mehr als das Petitionsrecht, aber natürlich kein Volksentscheid. Diese Initiative ermöglicht die direkte demokratische Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger am Gesetzgebungsverfahren in der EU. Die Europäische Bürgerinitiative könnte
deshalb das sogenannte Demokratiedefizit der EU erheblich reduzieren. Wir sollten diese Chance nutzen.
Die Anträge von SPD, Grünen und Linken in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung gewährleisten keine Balance
zwischen Nutzerfreundlichkeit und Schutz vor Missbrauch.
({0})
Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bürgerinitiative zu ermutigen und zu motivieren. Falsch ist
es, sie mit bürokratischen Hemmnissen abzuschrecken.
Zum Beispiel darf man nicht verlangen, dass die Organisationen eine Rechtsgrundlage angeben müssen, wenn
eine Initiative eingereicht wird. Die Zulässigkeitsprüfung sollte so früh wie möglich stattfinden. Dies wäre erheblich bürgerfreundlicher und würde den Organisatoren
Kosten und Mühen ersparen. Wird die Zulässigkeit verneint, dann muss es eine Möglichkeit geben, dies überprüfen zu lassen.
({1})
Im Hinblick auf die Sammlung von Unterschriften
sind wir mit der Kommission einer Meinung, nämlich
dass es keinerlei Beschränkungen in der Art und Weise
der Sammlung geben soll. Sehr wichtig ist dabei natürlich die Möglichkeit der Sammlung über das Internet.
Die Frist zur Sammlung von Unterstützungsbekundungen soll mit der positiven Zulässigkeitsprüfung beginnen. Ich glaube, dass eine Frist von 12 Monaten dafür
ausreichend ist. Die Überprüfung und Authentifizierung
der Unterstützungsbekundungen sollte in den Mitgliedstaaten geschehen. Die Mitgliedstaaten selbst sollen entscheiden, in welcher Form sie dies durchführen wollen.
Das Mindestalter der Unionsbürger für die Beteiligung an einer Europäischen Bürgerinitiative soll, wie
von der Kommission vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament unterstützt, an das jeweilige Wahlalter
für die Wahlen zum Europäischen Parlament gekoppelt
sein. Wer alle staatsbürgerlichen Rechte haben will,
muss auch alle staatsbürgerlichen Pflichten übernehmen.
({2})
Das ist in Deutschland bei der Volljährigkeit der Fall, die
man mit 18 Jahren erreicht. Wir müssen konsistent bleiben.
({3})
Datenschutz ist bekanntlich ein mir ganz besonders
wichtiges Thema. Der Schutz der Unterstützerdaten
muss durch die Organisatoren und die zuständigen Behörden sichergestellt werden. Die personenbezogenen
Daten dürfen nur zum Zweck der Einreichung einer Europäischen Bürgerinitiative verwendet werden. Danach
müssen alle gesammelten Daten vernichtet werden.
Die Europäische Bürgerinitiative ist ein mutmachender Schritt in die richtige Richtung. Gerade in Zeiten, in
denen viele Bürgerinnen und Bürger an der europäischen
Idee wieder zu zweifeln drohen, ist es ein wichtiges und
richtiges Signal in Richtung von mehr Teilhabe, mehr
Demokratie und mehr Identifikation mit Europa; denn
wir sind das Volk.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die drei Stellungnahmen gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes zu einem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative.
Zunächst Abstimmung über den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1975 mit dem Titel „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich gestalten“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von
SPD und Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1967 mit dem Titel „Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich gestalten“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die
Stimmen der Linken mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Europäische
Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der
EU“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2013, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1781
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU
und FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei
Stimmenthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({0}) auf Grundlage
der Resolution 1701 ({1}) vom 11. August
2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1884
({2}) vom 27. August 2009 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/1905 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Guido Westerwelle, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die aktuellen Ereignisse
im Nahen Osten zeigen, wie schwierig es ist, politische
Fortschritte im Nahostkonflikt zu erzielen. Wir haben
dies gestern im Auswärtigen Ausschuss ausführlich beraten und sind uns sicherlich einig darüber, dass es umso
wichtiger ist, dass sich die internationale Gemeinschaft
und auch Deutschland als Teil dieser Gemeinschaft weiter für Frieden und Sicherheit in der Region engagieren.
Deutschland hat ein vitales strategisches Interesse an
einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Schlüsselelemente zur Erreichung dieses übergeordneten Zieles
sind die Sicherheit des Staates Israel, die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates und natürlich nicht zuletzt die Stärkung der Souveränität und der
Stabilität des Libanons.
({0})
Die innenpolitische Lage des Landes hat sich in den
vergangenen zwei Jahren durch die erfolgreichen Parlamentswahlen, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unter Ministerpräsident Hariri und die Kommunalwahlen weiter stabilisiert. Deswegen möchte ich
hier mit Nachdruck feststellen, dass es außer Zweifel
steht, dass zu dieser Stabilisierung auch das UNIFIL-Engagement der Vereinten Nationen einen entscheidenden
Beitrag geleistet hat.
In den Gesprächen mit den politischen Spitzen und
auch mit den Verantwortlichen von UNIFIL sowie den
deutschen Frauen und Männern der Bundeswehr wurde
auch bei meinem jüngsten Besuch im Libanon deutlich,
wie wichtig derzeit unser Beitrag für den Aufbau eines
eigenständigen libanesischen Küstenschutzes noch ist.
Bei der UNIFIL-Mandatsverlängerung im letzten Dezember habe ich auf die damals anstehende Evaluierung
durch die Vereinten Nationen hingewiesen. Diese Evaluierung hat mittlerweile stattgefunden. Sie ist im Frühjahr
dieses Jahres abgeschlossen worden. Als Ergebnis dieser
Überprüfung hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen zusammengefasst und festgehalten, dass der UNIFILFlottenverband vorerst weiter notwendig ist, aber - so
heißt es dort auch - wie die gesamte Mission nicht unbegrenzt fortgesetzt werden kann.
Hier knüpfen wir jetzt an und beantragen für ein weiteres Jahr ein Mandat zur deutschen Beteiligung am
UNIFIL-Flottenverband. Ich möchte hier aber auch festhalten: Wir schreiben unseren Einsatz vor der Küste des
Libanon nicht einfach fort. Das Mandat hat qualitativ
wie quantitativ einen neuen Charakter. Es beinhaltet expressis verbis auch eine Beendigungsperspektive.
({1})
Die personelle Obergrenze für die deutsche Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband wird von 800 auf 300
abgesenkt und damit mehr als halbiert. Derzeit sind es
unter 300 Soldaten, die eingesetzt sind und dort ihren
Dienst leisten. Der Schwerpunkt der deutschen Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband wird künftig bei der
Ausbildung der libanesischen maritimen Streitkräfte und
dem Aufbau ihrer Fähigkeiten liegen.
Das Ziel des deutschen Einsatzes ist es, dazu beizutragen, dass die maritimen libanesischen Streitkräfte den
Schutz der seeseitigen Grenzen des Landes möglichst
bald eigenverantwortlich übernehmen können. Genau das
muss der Kern des neuen Mandates sein. Wer eine Beendigungsperspektive will, muss dafür sorgen, dass die
Kräfte vor Ort in der Lage sind, auch die entsprechenden
Aufgaben zu übernehmen. Deshalb geht es um Ausbildung und Training. Das wurde jetzt als neuer Schwerpunkt dieses Mandates aufgeschrieben.
({2})
Der Libanon hat auch auf diesem Gebiet seit 2008
deutliche Fortschritte gemacht. Das wissen vor allem die
Kolleginnen und Kollegen, die es sich vor Ort angesehen
haben. Ich glaube, wir sind uns darüber einig: Noch verfügen die libanesischen maritimen Streitkräfte eben
nicht über die notwendigen umfassenden Fähigkeiten.
Viele von Ihnen waren selbst im Libanon; Sie haben
UNIFIL besucht, und Sie wissen, dass es ausdrücklich
nicht nur von der Ausbildung, sondern auch vom Gerät
her natürlich noch einen Beitrag erfordern wird, damit
die seeseitige Grenzsicherung überhaupt funktionieren
kann. Wenn die bestehenden Lücken geschlossen sein
werden, wenn also der Libanon seine Seegrenze selbst
schützen kann, dann ist es unsere Absicht, diesen Einsatz
zu beenden.
Unsere Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband bleibt
dabei in ein umfassendes Engagement für den Libanon
und die Region eingebettet, das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Maßnahmen umfasst. Denn
- auch da wollen wir uns nichts vormachen - wenn wir
die Lage in der Region nicht insgesamt entspannen,
wenn wir insgesamt keine Fortschritte beim Nahostfriedensprozess schaffen, wenn wir es nicht schaffen, dass
aus den Proximity-Talks, die glücklicherweise begonnen
haben und die aufgrund der klugen Entscheidung von
Präsident Abbas auch nach den jüngsten Vorfällen nicht
beendet worden sind, Ergebnisse entstehen, wenn wir es
nicht schaffen, dass aus den indirekten Friedensgesprächen direkte Friedensgespräche werden, wenn wir all
das nicht schaffen, dann wird auch die Mühe der internationalen Gemeinschaft nicht die Fortschritte erzielen, die
wir uns alle wünschen - im Interesse der Region, im Interesse des Staates Israel und ausdrücklich auch im Interesse eines eigenen palästinensischen Staates, aber eben
auch in unserem europäischen Interesse.
Darum geht es, deswegen beantragen wir dieses Mandat. Es hängt damit eben aufs Engste zusammen, wie wir
alle wissen. Wir bitten um Zustimmung zu diesem neuen
Mandat, das qualitativ und quantitativ geändert worden
ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, das war heute eine bemerkenswerte
Begründung für UNIFIL. Ich hätte sie mir vor sechs Monaten gewünscht,
({0})
weil die Erkenntnisse, die Sie heute hier noch einmal
vorgetragen haben, nach meinem Dafürhalten bereits vor
sechs Monaten bekannt waren.
Es ist richtig, man muss Auslandseinsätze immer wieder messen. Sie waren auch bei uns damals in der SPDBundestagsfraktion umstritten, aber wir hatten auch eine
politische Begründung für dieses Mandat. Was jetzt hier
vonseiten der Bundesregierung präsentiert wurde, ist
nach meinem Dafürhalten ein Novum in der Außenpolitik, weil zum ersten Mal ein Antrag der Bundesregierung
vorgelegt wird, um eine Gesichtswahrung für die FDP
herbeizuführen, die damals in der Opposition wider besseres Wissen gegen diesen UNIFIL-Einsatz stimmte.
Damals waren Sie in der Opposition und hatten einen innenpolitischen Tunnelblick auf diese Auslandseinsätze.
Ich halte es für fatal, dass Sie jetzt im Umkehrschluss
diese sechs Monate dafür genutzt haben, sozusagen die
falschen Signale in die Region zu senden, insbesondere
wenn es um eine verlässliche deutsche Außenpolitik
geht.
Sie haben den Evaluierungsprozess des Generalsekretärs der Vereinten Nationen angesprochen. Ja, das ist richtig; aber dann hätten Sie auch bemerken müssen, dass der
Generalsekretär der Vereinten Nationen gesagt hat: Jetzt
brauche ich, weil diese Marinemission so wichtig ist, eine
Fregatte und ein Patrouillenboot von Bangladesch, die
zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung vor der Küste
durchführen sollen. Welches Bild gibt Deutschland gegenüber den Vereinten Nationen an dieser Stelle ab? Ich
halte das für fatal, und ich halte es auch für die falschen
Signale in die Region hinein.
Es ist richtig, die Bedingungen für Auslandseinsätze
müssen geschaffen werden. Wahrscheinlich haben wir in
den vergangenen Jahren zu wenig darüber diskutiert. Ich
glaube, man muss sich daran messen lassen. Aber genau
das ist bei diesem UNIFIL-Mandat nach meinem Dafürhalten von Anfang an gemacht worden. Es war ein internationales Mandat. Die Erfolgsaussichten haben sich abgezeichnet. Wir wollten eine politische Dynamik in der
Region erreichen und mit diesem UNIFIL-Mandat insbesondere wohl auch die deutschen Interessen wahren.
Es war doch unumstritten, dass die Vereinten Nationen
dieses Mandat wollten und dass die Konfliktparteien vor
Ort dieses Mandat sozusagen erfleht haben. Der libanesische Ministerpräsident Hariri war vor einigen Wochen
bei uns und hat gesagt: Machen Sie etwas aus dieser
Mission. - Israel ist für diese Mission gewesen. Ich
finde, genau das haben Sie in den letzten sechs Monaten
aufs Spiel gesetzt.
({1})
Denn was wurde mit dem UNIFIL-Mandat erreicht?
Das UNIFIL-Mandat hat nach einem heftigen Konflikt,
der in dieser Region möglicherweise ausgeartet wäre,
zum einen eine fragile Waffenruhe gesichert. Das war
wichtig. Zum anderen hat das UNIFIL-Mandat die Souveränität des Libanon gestärkt. Israel hat die Quarantäne
der libanesischen Häfen aufgrund der UNIFIL-Mission
aufgegeben.
Was war das deutsche Interesse? Den Frieden in der
Region mitzuprägen, weil ein kriegerischer Konflikt unmittelbare Auswirkungen auf Europa an den europäischen Außengrenzen gehabt hätte. Ich finde, Sie sind vor
sechs Monaten nicht dem nachgekommen, was erforderlich gewesen wäre. Mit der Begründung, die Sie heute
abgegeben haben, hätten Sie dieses Mandat bereits vor
sechs Monaten fortsetzen können und hätten nicht zu einer solchen Unruhe in der Region beigetragen.
Nach Ihrer Reise in die arabische Welt, die ich für
richtig gehalten habe, möchte ich sagen: Ich hatte mir
gewünscht, dass Sie heute die Gelegenheit nutzen, einmal etwas zu Ihrer Außen- und Sicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten zu sagen. Da haben Sie eine
Chance vertan. Es war richtig, diese Reise in die Region
zu machen, insbesondere auch nach Syrien zu reisen. Für
mich stellt sich aber die Frage: Welche Akzente wollen
Sie eigentlich im Nahen und Mittleren Osten als deutscher Außenminister und in einer gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik der Europäischen Union setzen?
Kein Wort dazu in den vergangenen Monaten. Das halte
ich wirklich für fatal; denn das ist die Krisenregion, um
die wir uns zu kümmern haben. Ich finde, das muss man
dem Deutschen Bundestag, aber auch der deutschen Öffentlichkeit erklären. Es wäre wichtig gewesen, entweder zu sagen: „Ich nehme die Akzente auf, die mein Vorgänger Frank-Walter Steinmeier gesetzt hat“ - er hat zum
Beispiel das Tor nach Syrien sehr früh aufgestoßen - oder
zu sagen, was man in dieser Region anders machen
sollte.
Die Herausforderungen stehen doch sozusagen vor
der Tür. Die Herausforderungen in der arabischen Welt
sind immens. Es gibt dort einen sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Es gibt viele junge Menschen, die nach
Arbeit und sozialer Sicherung schreien, Frauen, die in
ihren Ländern frei werden wollen, die im Grunde genommen erwarten, von den Werten und Menschenrechten, die wir durchgesetzt haben, zu profitieren. Es geht
insbesondere darum, einen Frieden zu schaffen, der dann
fragil wird, wenn es zu Machtwechseln in den arabischen Ländern kommt. Sie sind doch in Ländern gewesen, wo wir in den nächsten Monaten oder auch Jahren
sehen werden, was das für das eine oder andere Land bedeutet.
Ich halte es insbesondere für wichtig - das haben wir
heute Mittag anlässlich der Diskussion über Gaza angesprochen -: Wir müssen uns im Deutschen Bundestag
endlich darüber klar werden, wie wir mit neuen politischen Strömungen in der arabischen Welt umgehen wollen, insbesondere mit dem politischen Islam. Es ist richtig, dass wir die Hamas für das, was sie im Gazastreifen
tut, kritisieren. Aber dazu gehört genauso, die Hamas
nicht ausschließlich mit dem politischen Islam gleichzusetzen. Es gibt in diesem Zusammenhang in Marokko
eine ganz andere Strömung im Vergleich zu anderen
Ländern.
Die Hisbollah als Teil des politischen Islam im Libanon gehört mit zur Regierung. Auch darüber sollte eine
Debatte geführt werden. Ein deutscher Außenminister
muss der Öffentlichkeit und dem Parlament darüber Rechenschaft ablegen, wie er in den nächsten vier Jahren
mit diesen Herausforderungen umgehen will.
({2})
Die Hisbollah, die Mitglied der Regierung im Libanon
ist, hat zum Beispiel offensichtlich etwas zugelassen,
was ich gar nicht erwartet hätte. Mit 12:12 Stimmen hat
sich das Kabinett zwar offensichtlich nicht entscheiden
können, gestern im Sicherheitsrat der Resolution zu Iran
zuzustimmen. Aber was bedeutet das? Das bedeutet
ganz klar, dass die Hisbollah nicht nur der verlängerte
Arm des Iran in dieser Region ist, sondern auch nationale Interessen des Libanon präsentieren will.
({3})
Auch dies gehört zu einer ehrlichen Debatte über die
Nahostpolitik, insbesondere wenn wir heute über
UNIFIL diskutieren.
({4})
Ich finde, diese politischen Diskussionen müssen wir
in den Ausschüssen, die in der nächsten Woche über das
Mandat beraten, führen. Ich würde mich freuen, wenn
Sie zumindest dann Rede und Antwort bezüglich eines
politischen Konzepts für den Nahen und Mittleren Osten
stehen würden.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Karl-Theodor
Freiherr zu Guttenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Mützenich, Sie haben einen breiten Bogen
gespannt.
({0})
Sie haben in acht Minuten einen breiten Bogen gespannt,
der bemerkenswerter Weise zu vier Fünfteln relativ deutliche Kritik enthielt. Man fragt sich, wie dann der Weg
von dieser sehr geharnischten Kritik zu einer gemeinsamen Zustimmung zu einem doch von uns allen
({1})
- fast allen, ich weiß; der Protest musste ja gleich kommen - oder doch von fast allen für notwendig erachteten
Mandat aussehen soll. Da wird die Diskussion gesucht
werden müssen.
Ich darf aber auch sagen: Hier geht es nicht um koalitionäre Gesichtswahrung, sondern hier geht es tatsächlich darum, die richtigen Signale in die Region zu senden. Und die sendet diese Koalition. Das möchte ich
auch noch einmal ausdrücklich sagen.
({2})
Sie haben angesprochen, dass es etwas seltsam sei,
dass sich jetzt unterschiedliche Militärs, selbst aus Bangladesch, beteiligen würden und müssten. Ich halte es
nicht grundsätzlich für ein negatives Signal, wenn eine
Mission der Vereinten Nationen nicht allein auf deutsche
Beiträge zurückgreifen muss, sondern wenn man bei einem von allen für richtig erachteten Mandat tatsächlich
auch auf Beiträge anderer zurückgreifen kann.
Wir sind mit der deutschen Marine mittlerweile seit
Oktober 2006 im Rahmen einer UN-Friedenstruppe von
heute rund 12 000 Soldaten im UNIFIL-Einsatz. Zuvor
hatte der Sommerkrieg 2006 unsägliches Leid und auch
dramatische Zerstörung auf beiden Seiten hervorgerufen.
Die Spannungen im Nahen Osten hatten sich ein weiteres Mal in einem gewaltsamen Konflikt entladen.
Der Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen
- Herr Kollege Mützenich, Sie haben das auch gesagt -,
dass sich seither die innenpolitische Situation im Libanon, insbesondere nach den Wahlen und der Bildung einer Regierung unter Saad Hariri, auf erfreuliche Weise
stabilisiert hat. Das ist eine positive Entwicklung. Wenn
wir die Region allerdings insgesamt betrachten, besteht
weiterhin Anlass zur Sorge.
Es sind sehr wohl aktuelle Punkte aufgegriffen worden, und es ist sehr wohl hier auch der notwendige Bogen durch den Kollegen Westerwelle gespannt worden.
Generell gilt, egal ob das für den Libanon oder für andere Staaten in der Region anzusetzen ist: Die auf Konfrontation ausgerichtete Anhäufung von Waffenarsenalen dient nicht dem friedlichen Interessenausgleich. Das
ist ein weiterer und auch der maßgebliche Zweck für diesen Einsatz.
Es ist ein Verdienst der UNIFIL, zur Deeskalation
beigetragen zu haben - auf See ebenso wie an Land. Das
ist eine Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Unser eigener Beitrag bestand und besteht
auch darin, die libanesischen Marinekräfte zu einer zunehmend eigenständigen Überwachung des eigenen Seeraumes zu befähigen. So haben wir etwa die Einrichtung
von Küstenradarstationen materiell und auch durch praktische Ausbildungshilfe unterstützt. Ich glaube, das war
ein sehr richtiger und maßgeblicher Schritt. Wir haben
dem Libanon drei Küstenschutzboote überlassen und deren Besatzungen mit dem Ziel ausgebildet, die allgemeine Leistungsfähigkeit der libanesischen Marine zu
erhöhen. Wir sind kontinuierlich in der Ausbildung engagiert gewesen und auch engagiert geblieben.
Von daher können wir heute in zweifacher Hinsicht
eine positive Zwischenbilanz ziehen:
Zum einen betrifft das die hilfreiche Rolle der
UNIFIL-Operation als stabilisierender Faktor im gesamten Nahen Osten. Das ist ein stabilisierender Faktor. Die
durch die Entsendung der Maritime Task Force möglich
gewordene Aufhebung der Seeblockade gegenüber dem
Libanon wie auch die wirksame Unterbindung des Waffenschmuggels auf See machen bis heute deutlich, dass
die Präsenz der UNIFIL sehr konkrete Folgen hat. - Es
gab immer wieder die Diskussion über die Frage: Was
nützt uns das, wenn man überhaupt keine Schmuggelerfolge vorweisen kann? Es ist bereits ein Erfolg beim
Kampf gegen den Schmuggel von Waffen und Ähnlichem, wenn er auf See tatsächlich nicht mehr stattfindet wohl wissend, welche Herausforderungen wir weiterhin
auf dem Landweg haben und dass man diese Herausforderungen auch anzunehmen hat.
Zum anderen können wir konstatieren, dass die libanesische Marine vor allem aufgrund der durch UNIFIL,
aber auch bilateral geleisteten Ausbildungsunterstützung
bereits heute einen Zuwachs an Fähigkeiten erreicht hat,
der sich im Ergebnis wiederum entlastend für UNIFIL
auswirkt. Das zeigt, auch hier sind wir auf dem richtigen
Weg.
Ich bin davon überzeugt, es wäre kontraproduktiv,
wenn wir den eingeschlagenen, durch den UN-Sicherheitsrat vorgegebenen Kurs nicht weiter verfolgten.
Ganz konkret geht es darum, mit unseren Möglichkeiten
den Libanon weiter dabei zu unterstützen, seine Souveränität zu festigen. Deswegen werden wir die Aktivitäten
unserer an UNIFIL beteiligten Marinekräfte noch mehr
auf diesen Ausbildungsaspekt hin konzentrieren. Wir
wollen der libanesischen Marine eine Zukunftsperspektive geben. Diese Zukunftsperspektive beinhaltet für uns
zugleich eine Abzugsperspektive. Wir wollen auch deutlich machen, dass man gegenüber denjenigen, denen
man bei der Ausbildung, mit Schutzmechanismen und
ähnlichen Dingen hilft, Erwartungen dahin gehend hat,
dass auch sie Leistungen erbringen, dass sie sich nicht
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag lediglich darauf verlassen, dass schon immer andere da sein werden. Ich
glaube, das bleibt maßgeblich.
({3})
Wenn wir uns die Fähigkeitslücken der libanesischen
Marine genau ansehen und prüfen, wo wir sinnvoll helfen können, um sie zu schließen, dann erkennen wir: Das
geht von der Optimierung des Küstenradarsystems bis
hin zu Fragen der Wartung und Instandsetzung. Wir werden all das weiterhin in enger Abstimmung mit unseren
libanesischen Partnern tun.
Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen, dass die
Obergrenze von 800 auf nunmehr 300 Soldaten abgesenkt wurde. Mit dieser im Vergleich zum bisherigen
Mandat mehr als halbierten Grenze werden wir zwar
nicht mehr das ganze bisherige Spektrum der potenziell
geforderten Fähigkeiten abdecken können, aber wir bleiben handlungsfähig, auch in alternativer Hinsicht. Auch
das ist ein wichtiges und klares Signal.
In einer Mission, die sowohl mit Blick auf die Wahrnehmung deutscher Verantwortung unter dem Dach der
Vereinten Nationen als auch im Kontext der Situation im
Nahen Osten von größerer Bedeutung ist, leisten wir unter dem Strich einen äußerst konstruktiven Beitrag. Diejenigen, die dem UNIFIL-Mandat und unserem Beitrag
weiterhin kritisch gegenüberstehen, darf man immer
wieder daran erinnern, dass nicht alleine Libanon uns
darum bittet, weiterhin diesem Mandat nachzukommen,
sondern gerade auch Israel und dass wir damit einen
übergreifend wichtigen Beitrag zur Stabilisierung dieser
Region leisten. Ich darf Sie diesbezüglich um Ihre Unterstützung bitten.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir Deutschen sind nach dem von uns verschuldeten Zweiten Weltkrieg … deutlich weniger kriegsbereit … Diese Lehre gelernt zu haben ist weiß Gott
keineswegs verwerflich!
Das hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt bei der
Vorstellung seiner Afghanistan-Thesen gesagt.
Die Beteiligung Deutschlands an einem UN-Einsatz
wird in allen Fraktionen kritisch diskutiert.
({0})
Bei Bündnis 90/Die Grünen und der Sozialdemokratischen Partei war bis Mitte der 90er-Jahre ganz klar, dass
es eine Zurückhaltung geben muss. Bei FDP und CDU/
CSU war das viele Jahrzehnte lang eine Selbstverständlichkeit. Das war keine schlechte Zeit für die deutsche
Außenpolitik in dieser Frage.
({1})
Auch unsere Fraktion macht es sich nicht leicht: Wir
diskutieren, wir wägen ab, weil es uns nicht egal ist, was
in der Welt passiert. Erst recht nach dem Ende des zweiten Libanon-Kriegs, also des Kriegs zwischen der Hisbollah und Israel 2006, war die Entscheidung für einen
Einsatz der UNO richtig und sinnvoll. Das ist die Position unserer Fraktion, auch wenn es bei uns Differenzen
über die Frage der Mandatierung nach Kap. 6 oder
Kap. 7 der UN-Charta gibt.
Trotzdem gibt es bezogen auf dieses Mandat Probleme.
Erstens. Wenn man einerseits Waffenlieferungen an
die Hisbollah unterbinden muss und andererseits eine
Rüstungskooperation mit Israel betreibt, dann hat man
nicht die notwendige Neutralität, die eine deutsche Beteiligung an solch einem Einsatz rechtfertigen würde.
Deshalb wird die Linksfraktion dieses Mandat ablehnen.
({2})
Zweitens. Seine Grenzen zu schützen und Waffenlieferungen an die Hisbollah zu unterbinden, muss Libanon
bald selbst leisten. Deshalb begrüßen wir die Anstrengungen von Ministerpräsident Hariri mit dem Ziel des
Aufbaus eigener Kapazitäten. Es ist an der Zeit, ein Ende
dieser in wichtigen Teilen erfolgreichen UNIFIL-Mission zu planen. Das war - Kollege Mützenich hat darauf
Bezug genommen - vor sechs Monaten, als wir das
letzte Mal hier darüber gesprochen haben, die Begründung des Außenministers dafür, nur ein sechsmonatiges
Mandat zu beantragen. Nun wird erneut eine Mandatsverlängerung beantragt. Da war die FDP wohl beim
Wechsel von der Oppositions- in die Regierungsrolle ein
wenig blauäugig.
Am Schluss möchte ich dem Außenminister zustimmen: Das ganze Thema kann man nicht isoliert betrachten. Libanon und der Nahe Osten insgesamt brauchen
eine Friedenslösung auf Basis des Völkerrechts. Das gilt
für alle Beteiligten, auch für Israel. Das muss im Ernstfall von der UNO durchgesetzt werden, wie es in diesem
Fall geschieht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Frithjof Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen diese Debatte auch vor dem Hintergrund der
aktuellen Krise, der israelischen Blockade von Gaza. Im
Libanon ist es trotz der Eskalation vergleichsweise ruhig
geblieben. Das ist auch ein Erfolg von UNIFIL; das
muss man ganz deutlich sagen.
({0})
Diese Mission leistet nach wie vor einen wichtigen
Beitrag zur Stabilität in dieser instabilen Region. Das
trifft sowohl auf den Landeinsatz im Südlibanon als auch
auf den See-Einsatz vor der Küste zu, an dem die Bundesmarine teilnimmt.
({1})
Wie wichtig das nach wie vor ist, zeigt sich auch daran, dass Israel und der Libanon eine Fortsetzung des
Mandats wünschen; denn - und das wissen Sie - ohne
UNIFIL bestünden keine Kontakte zwischen den Konfliktparteien. Das bedeutet auch, dass Eskalationen auf
See und auf dem Land wieder Tür und Tor geöffnet wären. Ich hätte mir gerade deshalb eine Politik der Bundesregierung gewünscht, die in der Frage der Mandatsverlängerung nicht so gezögert und geschwankt hätte.
({2})
Ich muss Ihnen sagen: Dass hier zu hören war, dieser
Einsatz wäre fast schon überflüssig, ist leider völlig unangebracht.
({3})
Die Situation im Libanon bleibt weiterhin schwierig.
In der libanesischen Einheitsregierung hat die Hisbollah
faktisch ein Vetorecht. Nicht zuletzt deswegen geht der
innerlibanesische Reformprozess nur so mühsam voran.
Es gibt Berichte über die erneute Aufrüstung des militärischen Arms der Hisbollah. Das ist eine klare Provokation gegenüber Israel. Das ist auch eine Schwächung des
staatlichen libanesischen Gewaltmonopols. Es bestehen
aber nicht nur die Spannungen zwischen Libanon und
Israel fort. Auch das syrisch-libanesische Verhältnis erfordert weiterhin Aufmerksamkeit. Nach wie vor gibt es
kein Grenzregime zwischen Syrien und Libanon, das
den Waffenschmuggel über Land verhindert.
({4})
Im Antrag der Bundesregierung erkenne ich einen
blinden Fleck; denn die bisherigen Bemühungen und die
Vorschläge in Bezug auf diese Region reichen nicht aus.
An dieser Stelle ist mehr Initiative erforderlich; denn sie
ist nötig und wichtig.
({5})
Meine Damen und Herren von der Koalition, der
UNIFIL-Einsatz sorgt unter anderem dafür, dass der bestehende Konflikt zwischen Israel und Libanon nicht erneut gewaltsam eskaliert. Das muss so bleiben. Daher
hat meine Fraktion von Beginn an den Einsatz unterstützt, und deshalb unterstützen wir ihn auch weiterhin.
({6})
Meine Damen und Herren von der FDP, nach langem
Schwanken haben Sie jetzt eingelenkt. Erst haben Sie
das Mandat für UNIFIL abgelehnt, dann hat man Ihnen
aufgrund Ihrer Regierungsbeteiligung die Zustimmung
zu einem Kurzmandat von sechs Monaten abgerungen,
und jetzt stimmen Sie der Verlängerung des UNIFILMandats um ein weiteres Jahr zu. Ich sage: Das ist gut
so. Warum nicht gleich so?
({7})
Dass UNIFIL bleibt, ist weiterhin notwendig. Die
Haltung Deutschlands muss an dieser Stelle ganz klar
sein. Alles andere würde Signale der Instabilität in die
Region senden. Damit würden Sie Ihrer Verantwortung
nicht gerecht werden.
Danke.
({8})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Philipp
Mißfelder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal begrüße auch ich, dass
wir dieses Mandat in großer Einigkeit beraten. Gerade in
dieser angespannten Situation in der Region - der Kollege Schmidt hat das bereits erwähnt - ist es ganz besonders wichtig, dass wir dieses Mandat heute mit großer
Ernsthaftigkeit diskutieren. Wir müssen deutlich machen, dass wir durch die Verlängerung des Mandats, welches in einem politischen Zusammenhang mit den jüngsten Vorkommnissen rund um die Seeblockade Gazas
steht, ein politisches Signal aussenden. Dieses Signal
soll zu einer breiteren Unterstützung der Konfliktparteien beitragen. Auf diese Weise soll auf die vermittelnden Personen Rücksicht genommen werden. Es sollen
außerdem diejenigen gestärkt werden, die in ihren Ländern nicht unbedingt einen einfachen Stand haben.
Was mich an dieser Debatte gewundert hat, ist, dass
die Linkspartei kritisiert hat, dass wir hier heute erneut
über dieses Thema diskutieren. Ich habe eigentlich immer ein sehr gutes Gefühl, wenn wir im Parlament über
Mandate diskutieren. Ich weiß noch, wie kritisch darüber
diskutiert worden ist, dass wir dieses Mandat lediglich
um sechs Monate verlängern. Ich bin froh über jede Gelegenheit, die der Deutsche Bundestag wahrnimmt, um
erstens sein Recht des Parlamentsvorbehalts auszuüben
und zweitens über Erfolg und über Misserfolg von Missionen zu diskutieren.
({0})
- Frau Präsidentin, es gibt eine Zwischenfrage.
Wenn Sie die Zwischenfrage des Kollegen Liebich
beantworten wollen, lasse ich sie natürlich gerne zu.
Sehr gerne.
Herr Kollege Mißfelder, ich möchte die Aufklärung
eines Missverständnisses in eine Frage kleiden. Sie sind
doch nicht tatsächlich der Auffassung, dass wir kritisiert
haben, dass wir das Thema diskutieren. Das finde ich
selbstverständlich gut. Es wäre geradezu widersinnig, zu
behaupten, dass eine Diskussion über ein so spannendes
Thema falsch sei. Sind Sie denn der Auffassung, dass
man Mandate künftig quartalsweise verlängern sollte,
damit man häufiger darüber diskutieren kann?
({0})
Sie haben eben von Widersinnigkeit gesprochen. Ich
möchte die Widersinnigkeit von Fragen an dieser Stelle
nicht kommentieren. Ich habe Sie so verstanden, dass
Sie die Art und Weise kritisiert haben, wie wir vor einem
halben Jahr über dieses Thema diskutiert haben. Meinem
Verständnis nach haben Sie auch die Evaluation kritisiert. Ich kann nichts dagegen sagen. Das war damals der
Wunsch der FDP, und unsere Fraktion hat sich dem ausdrücklich angeschlossen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass das Parlament darüber diskutieren muss,
wie es mit Mandaten weitergeht und wie sie sich, eingebettet in die politische Gesamtlage, darstellen. So habe
ich das verstanden.
Da ich mich gerade der Linkspartei zuwende: Ich bin
froh, dass ich auf die Debatte von vorhin hinweisen darf.
Frau Kollegin Höger hat am 3. Dezember 2009 im Bundestag gesagt - ich zitiere -:
Ohne einen umfassenden politischen Prozess wird
es keinen dauerhaften Frieden und keine Sicherheit
im Nahen Osten geben ….
Soweit stimme ich Ihnen absolut zu. Sie sagen auch: Wir
sind konsequent gegen Auslandseinsätze. - In diesem
Zusammenhang möchte ich auf etwas zurückkommen,
das mit der Blockade Gazas zusammenhängt. Immer
dann, wenn es um Auslandseinsätze geht, die dem Frieden dienen, sind Sie dagegen. Aber wenn es um Provokation geht, dann machen Sie mit.
({0})
Das kann ich so nicht stehen lassen. Ein Kollege von den
Grünen hat eben richtigerweise durch einen Zwischenruf
- ich glaube, es war Kollege Nouripour - sehr deutlich
gemacht, dass es hierbei um einen Friedenseinsatz geht,
der von allen Beteiligten ausdrücklich gewünscht ist.
Wir alle haben doch persönlich gehört, dass al-Hariri,
der junge Ministerpräsident des Libanon, am 15. März
gesagt hat:
Wir sind … dankbar …
- bezogen auf Deutschland Ihre Präsenz trägt dazu bei, den Frieden und die Sicherheit in unserer Region und unserer Grenze zu
gewährleisten.
Herr Kollege Mützenich hat es gerade gesagt: Die Situation im Libanon ist keineswegs einfach. Deshalb
müssen wir ein besonderes Interesse daran haben, dass
diejenigen, die für die Weltgemeinschaft, die dem Frieden dient, eintreten und die an Gemeinsamkeiten in der
Region interessiert sind, gestärkt werden. Deshalb müssen wir der Bitte des Libanon entsprechen und das Mandat verlängern. Zu diesem Ergebnis ist die Bundesregierung gekommen. Unsere Fraktion unterstützt die Entscheidung der Bundesregierung und wird im Deutschen
Bundestag der Mandatsverlängerung zustimmen.
Wir sind der Meinung, dass unser Auftrag bei UNIFIL
noch nicht erfüllt ist. Die verschiedenen Ziele, die wir
uns gesetzt haben - Stabilisierung und gleichzeitige Sicherung des Libanon insgesamt -, wollen wir weiterhin
erreichen. Die instabilen Verhältnisse dauern trotz aller
Bemühungen noch an. Wir kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie der UNIFIL-Bericht des Generalsekretärs
vom 26. Februar. Es bleibt noch sehr viel Arbeit zu tun.
Weitere Elemente der Resolution des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen müssen noch umgesetzt werden.
Mit unserem Entschluss, die Bundesregierung zu unterstützen, reduzieren wir die Mandatsobergrenze von
800 auf 300 Soldaten; das sind über 60 Prozent. Ich
finde das erwähnenswert. Wir diskutieren über so viele
Mandate und stehen auch in kritischen Diskussionen mit
der Bevölkerung. Deshalb ist es richtig, Mandatsobergrenzen herabzusetzen, wenn Missionen erfolgreich verlaufen. Damit dokumentiert man den Erfolg; sonst wäre
es notwendig, weiterhin mehr Soldaten zu entsenden
oder sich zumindest eine solche Option offenzuhalten.
Das ist derzeit nicht notwendig. Die Stabilisierung ist so
weit fortgeschritten, dass wir ruhigen Gewissens die
Obergrenze des Mandats herabsetzen können. Das halte
ich für bemerkenswert. Das ist schlussendlich all denjenigen zu verdanken, die dort Präsenz als Soldaten zeigen
und damit unserem Land und der Region einen großen
Dienst erweisen.
({1})
Der Bundesminister des Auswärtigen hat deutlich gemacht, dass wir jetzt weitere Aufträge übernehmen und
mehr für die Ausbildung tun. Ich glaube, für die Laufzeit
des nun anstehenden Mandats ist der entscheidende
Punkt, dass wir mehr für die Ausbildung tun, dass wir
dafür sorgen, dass libanesische Ingenieure und Sicherheitskräfte in der Lage sind, für ihre Sicherheit selbst zu
sorgen, und letztendlich auch die Küste des Libanon
langfristig selbst schützen können. Dieses Ziel wollen
wir unterstützen. Dafür ist es allerdings notwendig, weiterhin eine Präsenz der internationalen Gemeinschaft zu
gewährleisten. Insofern bitte ich Sie hier um Unterstützung für die Bundesregierung. Im Namen meiner Fraktion kann ich diese zusagen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1905 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Wehrdisziplinarordnung
- Drucksache 17/572 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jens Petermann für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die Linke geht es bei diesem Gesetzentwurf um
die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit, um
nicht mehr und nicht weniger.
Zum Sachverhalt: Vor gut einem Jahr kassierte der damalige Bundesminister der Verteidigung einen Beschluss des Präsidiums des Bundesverwaltungsgerichts.
Das für die Verteilung der richterlichen Geschäfte zuständige Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts hatte
in diesem Beschluss dem Wehrdienstsenat einen ungedienten Richter zugeordnet. Der Verteidigungsminister
berief sich deswegen auf die aus der Nachkriegsära herübergerettete Vorschrift des § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinarordnung und auf ein ursprünglich geheimes Ressortabkommen zwischen dem Bundesministerium der Justiz
und dem Bundesministerium der Verteidigung aus dem
Jahre 1970.
Normalerweise ist es das ureigene, verfassungsrechtlich garantierte Recht eines jeden Gerichts, die Geschäftsverteilung und die Besetzung der Spruchkammern in Wahrnehmung der richterlichen Unabhängigkeit
selbst zu regeln. Das ist ein Gebot der Gewaltenteilung.
Um es deutlich zu sagen: Die Einflussnahme einer Gewalt auf eine andere ist mit dem Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar.
({0})
Der damalige Verteidigungsminister hat damit in unzulässiger und nicht hinnehmbarer Weise in die von Verfassungs wegen zu beachtende richterliche Unabhängigkeit eingegriffen. Das ist schon starker Tobak.
Die richterliche Unabhängigkeit gilt nicht nur für alle
Richterinnen und Richter, sondern auch für das gewählte
Präsidium eines jeden Gerichts. Der Bundesminister der
Verteidigung hätte die Verfassungswidrigkeit dieses sogenannten Vetorechts erkennen müssen und dieses deswegen trotz seines angeblich rechtsstaatlich guten Gewissens nicht anwenden dürfen. Stattdessen ignorierte er
tragende Prinzipien unserer Verfassung. Diese Tatsache
hätte die Bundeskanzlerin im Übrigen bereits im
Mai 2009 erkennen müssen. Aber anstatt einzugreifen,
hat sie den Minister gewähren lassen und sich dadurch
neben einer Menge Ärger schließlich auch noch einen
veritablen Fehlstart der neuen Regierung eingehandelt.
Mit dem durch § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinarordnung
geschaffenen Eingriffsinstrument kann die Bundesregierung als potenzielle Prozesspartei die Richterinnen und
Richter für alle künftigen Prozesse der Wehrdienstsenate
des Bundesverwaltungsgerichts bestimmen. Faktisch
kann sich die Militärverwaltung also auf diesem Wege
die Richterinnen und Richter selbst aussuchen, die unter
anderem über Rechtsverletzungen bei Militäreinsätzen
wie zuletzt beim Bombardement am Kunduzfluss zu entscheiden haben. Wenn Deutschland weiterhin als vorbildlicher Rechtsstaat gelten will, muss der Einfluss der
Exekutive auf ihre eigenen Inspektoren unterbunden
werden, und sie muss über jeden Verdacht erhaben sein.
({1})
Das gehört einfach zu rechtsstaatlichen Standards. Da
bin ich mir übrigens mit meinen Kolleginnen und Kollegen in den Gerichten einig. In diesem Kontext ist auch
die geplante Einführung von Sondergerichten für Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz zu sehen, die
wir im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes strikt ablehnen.
({2})
Ich gehe davon aus, dass unser Gesetzentwurf bei
Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger auf offene Ohren trifft. Wie ihrem Brief an die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vom Oktober 2009 zu entnehmen ist, will sie sich für eine entsprechende Änderung
der Wehrdisziplinarordnung einsetzen. Sie schreibt, dass
der Respekt vor unserer Verfassung gebiete, den Schutz
der richterlichen Unabhängigkeit sicherzustellen. Dazu
gehöre auch, dass die Gerichte selbstständig entschieden, welcher Richter welchem Senat zugeteilt werde.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Herr zu
Guttenberg - er ist nicht mehr anwesend -, verzichten
Sie auf Ihr verfassungswidriges Vetorecht und folgen Sie
dem Gesetzentwurf der Linksfraktion! Springen Sie über
Ihren koalitionsbedingten Schatten und zollen Sie der
richterlichen Unabhängigkeit auch in diesem Punkt den
nötigen Respekt!
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen
für die Aufmerksamkeit, gerade auch angesichts der meteorologischen Bedingungen, die heute herrschen.
({4})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Kossendey.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den Gesetzentwurf der Linken in Ruhe liest,
hat man das Gefühl, dass sie in erster Linie gar kein Problem mit § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung haben,
sondern eher ein Problem mit der Bundeswehr; das spielt
in diesem Gesetzentwurf eine wichtige Rolle.
({0})
Manches, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf geschrieben
haben, aber auch so manches, was gerade gesagt worden
ist, wirkt arg bemüht.
Lassen Sie mich die Haltung des Verteidigungsministeriums zu diesem Gesetzentwurf und zu dem Verfahren,
das Sie kritisieren, verdeutlichen. Die in dem Gesetzentwurf vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken
entbehren aus unserer Sicht jeder Grundlage. Die Mitwirkung unseres Verteidigungsministers bei der Besetzung der Wehrdienstsenate steht im Einklang mit dem
Grundgesetz.
({1})
Ich will das begründen: Der Bundesminister der Verteidigung hat seit 1957 das Recht, bei der Besetzung der
Wehrdienstsenate mitzuwirken. Zunächst hat sich das
ausdrücklich aus der Wehrdisziplinarordnung ergeben.
Seit 1970 ist es durch eine Ressortvereinbarung gewährleistet. § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung gibt dem
Bundesminister der Justiz das Recht zur Bestimmung
der Richter bei den Wehrdienstsenaten. Der Bundesminister der Verteidigung ist dort zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber ungeachtet dessen erfolgt sein Mitwirkungsrecht weiterhin aus der Ressortvereinbarung. Die
Ressortvereinbarung zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Justizministerium geht auf den Entwurf
eines Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts zurück. Die Gesetzesbegründung sah ausdrücklich vor, dass - unabhängig von einer gesetzlichen Regelung - der Bundesminister der Justiz und der
Bundesminister der Verteidigung Mitwirkungsrechte bei
der Auswahl und Benennung von Richtern für die Wehrdienstsenate in einer besonderen Vereinbarung festlegen
können. Die Ressortvereinbarung sieht vor, dass das
Bundesministerium der Justiz keinen Bewerber vorschlagen wird - jetzt wörtlich -,
gegen den der Bundesminister der Verteidigung im
Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen, die
an einen Richter des Wehrdienstsenats zu stellen
sind, Einwendungen erhebt.
Gleiches gilt, wenn ein Richter oder eine Richterin erst
später zur Mitwirkung bestimmt werden soll. Diese Regelung hat sich über zahlreiche Gesetzesänderungen gehalten, an denen alle Parteien beteiligt waren. In die Kritik geraten ist dieses Mitwirkungsrecht erst, nachdem
der Bundesminister der Verteidigung auf der Grundlage
dieser Ressortvereinbarung im Juli 2009 erstmals die
Zustimmung zur Verwendung eines bestimmten Richters
in den Wehrdienstsenaten verweigert hatte, der für diese
Tätigkeit nicht geeignet schien.
Allerdings kann man dieses kritisierte Mitwirkungsrecht, wenn man genau hinschaut, letztlich sogar auf
Art. 95 Abs. 2 des Grundgesetzes zurückführen. Dieser
sieht vor, dass der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss über die Berufung der Richterinnen und Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes entscheidet.
Für eine Reihe von Fachgerichtsbarkeiten ist diese Befugnis gesetzlich den jeweiligen Fachministerien zugewiesen worden. Herr Petermann, ich will Sie daran erinnern, dass § 42 des Arbeitsgerichtsgesetzes und § 38 des
Sozialgerichtsgesetzes diese Mitwirkung ausdrücklich
vorsehen.
({2})
Diese Paragrafen sehen nämlich vor, dass diese Befugnis
für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales liegt. Wenn es Ihnen
allein um die Unabhängigkeit der Richter gegangen
wäre, hätten Sie das in Ihren Antrag zumindest einbauen
müssen.
Die beiden Wehrdienstsenate beim Bundesverwaltungsgericht stellen, vergleichbar dem Bundesarbeitsgericht oder dem Bundessozialgericht, eine eigene Fachgerichtsbarkeit dar. Sie bilden, abgesehen von der
Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, die
oberste gerichtliche Instanz für den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung auf den Gebieten
der truppendienstlichen Beschwerde und der Disziplinarangelegenheiten, aber eben nicht in solchen Fällen, die
Sie gerade unter dem Stichwort „Kunduz“ angesprochen
haben. Ausschließlich aus organisatorischen Gründen
sind die beiden Wehrdienstsenate beim Bundesverwaltungsgericht angesiedelt.
Die Bildung dieser beiden Wehrdienstsenate wird
ebenso wie die Errichtung der Truppendienstgerichte allein durch die Wehrdisziplinarordnung begründet. Das
bedeutet, dass der Rechtsweg zu den Wehrdienstgerichten und damit auch zu den Wehrdienstsenaten letztendlich ein eigenständiger Rechtsweg ist. Er ist damit von
dem allgemeinen Verwaltungsrechtsweg nach der Verwaltungsgerichtsordnung streng abzugrenzen. Insoweit
unterscheidet sich das Wehrdisziplinarrecht auch deutlich vom Beamtendisziplinarrecht, das die Aufgaben der
Disziplinargerichtsbarkeit für Beamte der Verwaltungsgerichtsbarkeit zuweist.
Im Verhältnis zu den Befugnissen der anderen
Fachressorts schränkt die Regelung für die Wehrdienstsenate die Befugnisse des Bundesverteidigungsministers
sogar ein. Während den übrigen Fachressorts zum
Beispiel bei einer Richterwahl ausdrückliche Mitwirkungsrechte bei einer Richterwahl zu einem obersten
Gerichtshof zustehen, liegt diese Befugnis für das Bundesverwaltungsgericht ausschließlich beim Bundesminister der Justiz.
Indem § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung und
die Ressortvereinbarung nicht bei der Richterwahl als
solcher ansetzen, sondern das Mitwirkungsrecht bei der
Besetzung der Spruchkörper betreffen, stellen sie tatsächlich eine Sonderregelung dar. Aber nur so kann das
Mitwirkungsdefizit des Bundesministeriums der Verteidigung als Fachressort ausgeglichen werden; das habe
ich Ihnen eben erläutert.
Bei Wegfall der Regelung hätte der Bundesminister
der Verteidigung, anders als die übrigen Fachressorts,
nicht die Möglichkeit, entsprechend Art. 95 Abs. 2 des
Grundgesetzes bei der Bestimmung der richterlichen
Mitglieder seiner eigenen obersten Fachgerichtsbarkeit
mitzuwirken. Durch diese Regelung, die es in der Wehrdisziplinarordnung gibt, wird sichergestellt, dass das
höchste Wehrdienstgericht mit fachlich geeigneten Richterinnen und Richtern besetzt wird.
Eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit ist meines Erachtens nicht erkennbar. Die Entscheidung, wer als Richter bestimmt wird, ist schließlich
keine richterliche Entscheidung, sondern eine legitime
Entscheidung der Exekutive. Sie fällt damit eben nicht
unter die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit. Die
gesetzliche Regelung führt schließlich nicht dazu, dass
Einfluss darauf genommen wird, welche Richterin oder
welcher Richter in einem konkreten Verfahren entscheidet.
Auch das Bundesministerium der Justiz hat bereits im
Jahr 2005 in einem Schreiben an das Bundesministerium
der Verteidigung bestätigt, die Prüfung des § 80 Abs. 2
der Wehrdisziplinarordnung habe keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen oder gerichtsverfassungsrechtlichen Bedenken gegen die geltende Rechtslage ergeben. Daher bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dem Gesetzentwurf der Linken nicht zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar
Franke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kossendey, wir entscheiden heute nicht über den
Gesetzentwurf, sondern er wurde heute eingebracht, und
wir diskutieren in erster Lesung über ihn. Insofern muss
man vielleicht erst einmal abwarten, wie dieser Gesetzentwurf abschließend zu beurteilen ist.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Fraktion
der Linken zur Änderung der sogenannten Wehrdisziplinarordnung. Genauer gesagt, § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung soll ersatzlos gestrichen werden. Wenn
ich Sie, Herr Petermann, richtig verstanden habe, haben
Sie gesagt, dieser Paragraf sei verfassungswidrig, weil er
gegen das Gewaltenteilungsprinzip verstoße.
Was ist der Inhalt dieses so wichtigen verfassungsrechtlichen Prinzips? Wir wissen, dass das Grundgesetz
keine absolute Trennung der Gewalten fordert, nach
höchstrichterlicher Rechtsprechung jedoch gegenseitige
Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten im
Einzelnen.
Was wird denn durch die Wehrdisziplinarordnung geregelt, Herr Kossendey? Es ist geregelt, dass Wehrdienstsenate für Disziplinarverfahren gegen Soldaten
- Arrest und was es da noch alles gibt - zuständig sind,
und zwar in zweiter Tatsacheninstanz. Bei Berufungen
gegen Urteile der Truppendienstgerichte sind nämlich
die Wehrdienstsenate, die in das Bundesverwaltungsgericht integriert sind, letztinstanzlich zuständig.
§ 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung ist eigentlich
eine ganz einfache Regelung. Es geht darum, dass allein
das Bundesministerium für Justiz bestimmen kann, welcher Richter im Einzelnen Mitglied in einem der beiden
Wehrdienstsenate wird. Was wird durch diese Regelung
aber bewirkt? Zum einen kann das Bundesministerium
der Justiz bestimmen. Aber nicht nur das - Sie haben es
eben angesprochen -: Auch das Verteidigungsministerium kann Einfluss auf die Besetzung der Wehrdienstsenate nehmen. Es besteht nämlich eine Ressortvereinbarung - das hat Herr Petermann gesagt - von 1970. Sie ist
schon ein bisschen älter, hat aber noch Rechtskraft. Danach besteht im Innenverhältnis zwischen den beiden
Ministerien ein Vetorecht des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber dem BMJ.
Das Bundesverteidigungsministerium - der Bundesverteidigungsminister ist Dienstherr der Soldaten - kann
in dem Verfahren also nicht nur regelmäßig Einfluss auf
die Auswahl der hauptamtlichen Richter nehmen, sondern es kann auch die Richter aussuchen, die letztinstanzlich über Wehrdienstangelegenheiten entscheiden.
Herr Kossendey, das Bundesverteidigungsministerium
kann sich also die Richter aussuchen, die seine eigenen
Entscheidungen und seine eigenen Verwaltungsakte
überprüfen.
Ich glaube, man kann hier in erster Lesung mit gutem
Recht schon fragen, ob solch eine Regelung vernünftig
ist. Man kann sich auch fragen, ob sie sachlich gerechtfertigt ist, und man muss zumindest die Frage stellen
dürfen - auch hier in der ersten Lesung -, ob eine solche
Regelung auch verfassungsrechtlich in Ordnung ist.
Im Übrigen glaube ich, dass die Gefahr groß ist, dass
der Verteidigungsminister letztlich auch persönlich, inhaltlich oder vielleicht sogar politisch genehme Leute
aussucht, wenn sein Ministerium die personelle Besetzung eines Gerichts mitbestimmen kann, wenn es alleine
darüber bestimmen kann oder wenn es zumindest mit einem Vetorecht darauf Einfluss nehmen kann. Auch ich
bin Jurist und habe nicht gedient, habe aber nichts gegen
die Bundeswehr. Ich könnte aber, nur, weil ich nicht bei
der Bundeswehr war, dort kein Richter werden. Ob das
eine sachgerechte Begründung ist, weiß ich im Einzelnen nicht.
({0})
Es gibt aber noch einen Begründungszusammenhang,
nämlich aufgrund des Art. 95 Abs. 2 Grundgesetz, den
Sie, Herr Kossendey, auch genannt haben. Nach
Art. 95 Abs. 2 Grundgesetz entscheidet über die Berufung der entsprechenden Richter der zuständige Fachminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss. Das
heißt, es geht nur zusammen. Bleibt die Zustimmung eines der beteiligten Organe aus, ist die betreffende Kandidatur für das Richteramt gescheitert.
Dagegen wird durch § 80 Abs. 2 Satz 1 Wehrdisziplinarordnung weder der Richterwahlausschuss noch das
Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts in die einzelne Entscheidung mit einbezogen; denn das alleinige
Entscheidungsrecht wird nur der Exekutive zugebilligt.
Ob das unproblematisch ist, wird auch zu prüfen sein;
denn im Normalfall bestimmt gemäß § 21 e des Gerichtsverfassungsgesetzes - das ist schon eine alte Vorschrift - eben das Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts die Geschäftsverteilung seiner Richter. Da die
Wehrdienstsenate in das Bundesverwaltungsgericht eingegliedert sind, müsste das Präsidium jedenfalls aus
meiner Sicht hier eine höhere Entscheidungskompetenz
haben. Aber die Ministerien bestimmen.
Somit ist im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob
nicht ein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip
vorliegt. Es ist auch zu prüfen, ob § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung mit den Vorgaben der Verfassung
hinsichtlich einer eindeutigen Teilung der verschiedenen
Gewalten in Einklang zu bringen ist.
Zweitens muss aus meiner Sicht in dem Verfahren
auch geprüft werden, ob die bestehende Ressortvereinbarung von 1970, dass im Innenverhältnis das Verteidigungsministerium mitbestimmen kann, wer im Einzelnen in den Wehrdienstsenaten Dienst tun kann, sachlich
haltbar ist.
Lassen Sie mich abschließend noch einen anderen
Punkt erwähnen. Strittig ist hier im Hause nach meiner
Kenntnis auch die Frage der Federführung im weiteren
Beratungsverfahren. Sie, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, wollen die Federführung in
den Verteidigungsausschuss überweisen.
({1})
Das ist meiner Meinung nach sachlich nicht gerechtfertigt. Ich halte das für den falschen Weg. Aus meiner Sicht
müssen im weiteren Gesetzgebungsverfahren vor allen Dingen die von mir aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen geklärt werden. Insofern sollte die Federführung beim
Rechtsausschuss liegen, damit die verfassungsrechtlichen Fragen im Einzelnen geklärt werden können.
({2})
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg van
Essen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Staatssekretär Kossendey hat auf die Geschichte dieser
Bestimmung hingewiesen. Es hat zwischen 1957 und
1967 einen eigenen Bundesdisziplinarhof gegeben, der
dann in den Wehrdienstsenaten beim Bundesverwaltungsgericht aufgegangen ist. Man hat diese Gremien
nämlich zusammengelegt und damit Verwaltungskosten
gespart.
Herr Staatssekretär Kossendey hat bereits auf einen
weiteren Gesichtspunkt hingewiesen, den ich deshalb
nicht weiter ausführen muss, nämlich dass es auch in anderen Bereichen wie in § 42 des Arbeitsgerichtsgesetzes,
aber auch in § 38 des Sozialgerichtsgesetzes ähnliche Regelungen gibt. Damit gilt selbstverständlich auch in diesem Zusammenhang, dass das Ganze nicht zu der von der
Linkspartei behaupteten Verfassungswidrigkeit führt.
Der ganze Antrag atmet doch den Widerstand der
Linkspartei gegen Streitkräfte im demokratischen Staat.
({0})
Alle, die auf dieser Seite des Hauses sitzen, die sich nie
über die Militärgerichtsbarkeit in der DDR aufgeregt haben, und über all die Dinge, die dort passiert sind, nie ein
kritisches Wort gefunden haben, meinen, hier die Behauptung aufstellen zu müssen, das Ganze sei verfassungswidrig. Das ist es eindeutig nicht.
({1})
Trotzdem bitte ich uns alle, darüber nachzudenken, ob
wir dem allgemeinen Trend, den wir in vielen Bereichen
sehen, nämlich in unserem Staat die Unabhängigkeit der
Justiz zu stärken, nicht auch in diesem Bereich folgen
sollen. Ich weise etwa darauf hin, dass wir es inzwischen
in allen Ländern und unterstützt von allen in den jeweiligen Ländern vertretenen Fraktionen geschafft haben,
dass die Generalstaatsanwälte nicht mehr politische Beamte sind, wodurch die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt worden ist. Auch andere Überlegungen, beispielsweise was das Weisungsrecht des Justizministers
gegenüber der Staatsanwaltschaft anbelangt, weisen in
die Richtung, die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken.
Der BundeswehrVerband - auch das ist in diesem Zusammenhang wichtig - bittet darum, dass es bei der Regelung des § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung
bleibt. Ich glaube, dass auch die Soldaten ein Interesse
daran haben, dass in diesen Fragen Personen entscheiden, von denen sie das Gefühl haben, dass sie mit den
Dingen, über die sie zu entscheiden haben, in besonderer
Weise vertraut sind. Auf der anderen Seite gibt es den
Wunsch der Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte,
dass die besondere Bestimmung des § 80 Abs. 2 der
Wehrdisziplinarordnung nicht weiter fortbestehen sollte.
Wir müssen also zwischen den verschiedenen Interessen
abwägen.
Was mich persönlich anbelangt - Sie haben mich vorhin angegriffen, Herr Petermann -, setze ich mich tatsächlich für eine zentrale Zuständigkeit im Bereich der
Strafverfahren und Ermittlungsverfahren gegen Soldaten
im Auslandseinsatz ein. Im Übrigen - damit Sie nicht
wieder behaupten, das sei verfassungswidrig - sieht
Art. 96 des Grundgesetzes ausdrücklich als Möglichkeit
vor, dass der Bund entsprechende Gerichte einsetzen
kann. Wenn der Bund davon Gebrauch machen würde,
wäre das auch verfassungsmäßig.
({2})
Meine persönliche Auffassung in diesem Zusammenhang erkennen Sie daran, dass ich möchte, dass diese
Zuständigkeit bei der zivilen Justiz bleibt. Außerdem
sehe ich keine Einflussmöglichkeit des Bundesverteidigungsministeriums auf die Staatsanwälte und die Richter, die in diesen Verfahren entscheiden sollen, vor, weil
mir die Unabhängigkeit der Justiz besonders wichtig ist
und weil dies nach meiner Auffassung auch aus dem
Leitbild des Staatsbürgers in Uniform folgt. Der Soldat
ist ein Staatsbürger in Uniform, und deswegen sollten
die normalen Regeln, sofern nicht ganz besondere
Gründe gegeben sind, so weit wie möglich gelten.
Das Bundesverwaltungsgericht ist ja ein Obergericht.
Das heißt, die dort tätigen Personen sind langjährig erfahrene Richter. Deshalb habe ich persönlich Vertrauen,
dass jeder Richter, der in den Wehrdienstsenaten Recht
spricht, die notwendige Erfahrung und juristische Expertise mitbringt, um seine Entscheidungen fachgerecht
treffen zu können. Ich will in der ersten Lesung die Offenheit meiner Fraktion in dieser Frage ganz deutlich
machen. Unsere frühere rechtspolitische Sprecherin und
heutige Bundesjustizministerin hat sich gegenüber Verdi
- das haben Sie angesprochen - ja auch entsprechend geäußert.
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass ich zu denen gehöre, die gesagt haben, dass die Wehrdisziplinarordnung ganz eindeutig in die Zuständigkeit des Bundesverteidigungsministers fällt. Und da, wo ein Gesetz zu
Hause ist, muss auch die Federführung liegen.
Sie hatten kritisch angemerkt, dass auch der Rechtsausschuss darüberschauen muss. Das ist aber ganz
selbstverständlich. Es gibt überhaupt keine Diskussion
darüber, dass der Rechtsausschuss mitberatend tätig sein
muss. Außerdem wird wohl allen aufgefallen sein, dass,
jedenfalls bisher, Juristen zu dieser Frage gesprochen haben. Deshalb habe ich keine Sorge, dass nicht auch juristischer Sachverstand bei den parlamentarischen Beratungen eine Rolle spielen wird.
Dass es aber auch sachgerecht ist, die Interessen der
Soldaten im Blick zu haben, möchte ich als Reservist der
Bundeswehr ausdrücklich betonen.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kossendey, vielen
Dank für Ihren ausführlichen juristischen Vortrag. Wenn
es Ihre Strategie war, damit Verwirrung zu stiften, dann
waren Sie sehr erfolgreich.
({0})
Der heute zur Debatte stehende § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung erlaubt es der Exekutive, auf die Besetzung der Wehrsenate beim Bundesverwaltungsgericht
Einfluss zu nehmen. In allen anderen Bundesgerichten
entscheidet das Gerichtspräsidium unabhängig und eigenständig, welche Richterin in welchem Senat Recht
spricht. Der Einfluss der Politik endet nach der Wahl eines Juristen zum Bundesrichter. Das muss auch so sein.
Denn in Art. 97 Grundgesetz heißt es:
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze
unterworfen.
Bis zum Sommer letzten Jahres ist es der Fachöffentlichkeit kaum aufgefallen, dass die Wehrdisziplinarordnung der Exekutive praktisch ein Vetorecht bei der Benennung eines Richters einräumt,
({1})
denn bis dahin hatte noch kein Minister von diesem
Recht Gebrauch gemacht. Nach dem Wortlaut des § 80
Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung hat eigentlich nur
das Justizressort ein Bestimmungsrecht. Aber nichts hat
die Ressorts daran gehindert, 1970 zu vereinbaren, dass
das Justizministerium sich verpflichtet, Einwände des
Verteidigungsministers gegebenenfalls zu berücksichtigen.
Im Sommer 2009 war es Minister Jung, der erstmals
einem Präsidiumsbeschluss des Bundesverwaltungsgerichts widersprochen hat. Die Begründung, der benannte
Richter habe nicht gedient und es müsse mehr Sachverstand in die Wehrsenate einziehen,
({2})
ist nicht geeignet, den eigenen Sachverstand des Ministers zu belegen.
({3})
Wenn seine Auffassung richtig wäre, sollten unverheiratete Richter besser kein Familienrecht mehr sprechen,
Richter ohne Führerschein kein Verkehrsrecht und Eigenheimbesitzer kein Mietrecht. Jeder kann sich weitere
absurde Beispiele vorstellen.
({4})
Die Qualität juristischer Arbeit hängt nicht von einem
persönlichen Bezug des Juristen zu dem infrage stehenden Sachverhalt ab.
({5})
Im Gegenteil, die Fähigkeit zur Abstraktion und zur
Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Gesetzesnorm sollte umso ausgeprägter sein, je größer der persönliche und emotionale Abstand des Entscheidenden
ist.
Der Irrglaube, es müsse jemand beim Militär gewesen
sein, um einen militärischen Sachverhalt juristisch beurteilen zu können, begegnet uns derzeit auch bei der
Frage der Einrichtung von Sondergerichten für Straftaten von Soldaten im Ausland. Auch hier gilt: Persönliche
Nähe hat mit juristischem Sachverstand nichts zu tun.
({6})
Das Handwerkszeug des Juristen ist, den konkreten
Einzelfall mit der abstrakten Norm zu vergleichen und
auf Übereinstimmung zu überprüfen. Auf die militärischen Insiderkenntnisse kann der Berufsrichter im Wehrsenat ohne Weiteres zugreifen; denn dafür gibt es dort
zwei Soldatenbeisitzer, die nach Truppengattung und
Dienstgrad jeweils dem beschuldigten Soldaten nahekommen.
Die Begründung des damaligen Verteidigungsministers für die Einlegung des Vetos zeigt, dass die Einflussnahme der Exekutive nicht etwa einer Qualitätskontrolle
dient, sondern einer Interessenwahrnehmung des jeweiligen Ressorts. „Wohin kommen wir, wenn Bundesminister entscheiden, von welchen Richtern sie gerne
Angelegenheiten aus ihrem Ressortbereich entschieden
sehen wollen?“, fragten zu Recht die protestierenden
Richter.
({7})
§ 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung ist ein Fremdkörper in unserem Rechtssystem und auch im Hinblick
auf den Gewaltenteilungsgrundsatz höchst problematisch.
Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichtes, Frau
Marion Eckertz-Höfer, appellierte bereits im Herbst an
die Bundesregierung, die Möglichkeit der Ministerien,
Einfluss auf die Richterbesetzung durch § 80 Abs. 2 der
Wehrdisziplinarordnung zu nehmen, abzuschaffen. Dieser Forderung schlossen sich alle Präsidenten der obersten Verwaltungsgerichte, der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen sowie die Neue
Richtervereinigung an.
({8})
Die Bundesjustizministerin versprach den Richtern daraufhin, sich für eine Änderung dieser Regelung starkzumachen. Ich zitiere:
Zum Schutz richterlicher Unabhängigkeit gehört,
dass die Gerichte selbstständig über die Richterbank bestimmen. In diesem Sinne werde ich mich
in der neuen Wahlperiode für eine entsprechende
Änderung der Wehrdisziplinarordnung einsetzen.
({9})
Möge die Justizministerin endlich aus der Deckung
kommen und Flagge zeigen!
({10})
Wir Grüne werden uns dem versammelten richterlichen Sachverstand nicht verweigern und dem Gesetzentwurf der Linksfraktion zustimmen.
Vielen Dank.
({11})
Für die Unionsfraktion spricht der Kollege Dr. Sensburg.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke verfolgt mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf rein politische Ziele.
({0})
Nicht im Geringsten geht es der Fraktion Die Linke um
den Schutz der verfassungsrechtlich verankerten richterlichen Unabhängigkeit. Diese ist nämlich gar nicht in Gefahr. Ihnen und Frau Kollegin Keul sage ich: Das Grundgesetz geht hinsichtlich der Richterernennung sowohl in
Art. 95 als auch in Art. 98 von der Personalhoheit der Regierungen aus, sowohl der Bundesregierung als auch der
jeweiligen Landesregierung. Herr Petermann, der von Ihnen im Antrag zitierte Art. 95 Abs. 2 lautet dementsprechend:
Über die Berufung der Richter dieser Gerichte entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss …
({1})
Wenn Sie bemängeln, dass es den Bundesministern möglich ist - so steht es in Ihrem Antrag -, nur ihnen politisch
genehme Richter an die obersten Gerichte entsenden,
dann ist dem entgegenzuhalten: Diese Sichtweise ist einfach falsch.
({2})
Denn es geht nicht um politisch genehme Richter, sondern um die verfassungsrechtlich statuierte Verantwortung der Minister, an der Entscheidung über die Auswahl
der Richter der obersten Gerichte teilzunehmen; allein
darum geht es.
({3})
Ihr Antrag ist unter diesem Gesichtspunkt verfassungsrechtlich sogar bedenklich. Ich empfehle Ihnen, die
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem
Jahre 1998 und des OVG Schleswig aus dem Jahre 2002
zu lesen, die gerade darauf abstellen, dass eine andere
Verfahrensweise dem aus dem parlamentarischen Prinzip
abgeleiteten Letztentscheidungsrecht des zuständigen
Bundesministers widersprechen würde. Wenn Sie darauf
abstellen - das haben die Kollegen Kossendey und
van Essen gesagt -, dass es sich bei § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinarordnung um eine Sonderregelung handelt, die neben § 13 des Richterwahlgesetzes unzulässig ist, ist dem
wiederum entgegenzuhalten: Auch dies ist falsch. Auch
in § 42 Arbeitsgerichtsgesetz oder § 38 Sozialgerichtsgesetz finden Sie entsprechende Regelungen für das Arbeits- und Sozialministerium.
({4})
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist
die Unterstellung der Fraktion Die Linke, ausgerechnet
beim Bundesverteidigungsministerium bestehe nun die
Gefahr politischer Einflussnahme, mehr als aussagekräftig; denn sie zeigt deutlich, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen wollen: Sie wollen das Verteidigungsministerium und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in ein schlechtes Licht rücken. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen; denn das gehört sich nicht.
({5})
Herr Petermann, dass Sie sich als ehemaliger Zeitsoldat im Wachregiment „Feliks Dzierzynski“, das direkt
Herrn Mielke unterstand, gerade an dieser Stelle so
echauffieren und diesen Gesetzentwurf an erster Stelle
unterschrieben haben, das ist wirklich Ironie.
({6})
Sie hatten wirklich keine Schwierigkeit mit der Nähe zur
Exekutive. Art. 95 Grundgesetz und § 80 Wehrdisziplinarordnung sind Beispiele für funktionierende Gewaltenteilung!
({7})
Die Wehrdienstsenate waren ab 1956 zunächst Bestandteile des Bundesdisziplinarhofs - das haben wir
eben schon von Herrn Kossendey gehört -, der unabhängig vom Bundesverwaltungsgericht war. 1967 wurde der
Bundesdisziplinarhof in das Bundesverwaltungsgericht
integriert, sodass nunmehr dort besondere Wehrdienstsenate eingerichtet wurden. Es ist also ein historischer
Prozess gewesen. Nach der Ressortvereinbarung aus
dem Jahre 1970 - sie ist heute schon zitiert worden wird diese Befugnis nach dem Richterwahlgesetz nun im
Einvernehmen mit dem Bundesverteidigungsministerium ausgeübt.
Durch die Regelung des § 80 Abs. 2 Wehrdisziplinarordnung wird dem Bundesverteidigungsministerium daher gar kein weitreichenderer Einfluss eingeräumt, als
dies bei anderen Ministerien auch der Fall war. Das haben wir heute bereits mehrmals gehört. Ich bitte Sie, dies
zur Kenntnis zu nehmen. Die unterschiedlichen Formulierungen ergeben sich aus der historischen Entstehungsgeschichte der Wehrdisziplinarsenate.
Die Fraktion Die Linke scheint hier in ihrer Tradition
der Agitation gegen die Bundeswehr eine juristische
Diskussion lostreten zu wollen, um zu verunsichern und
zu verwirren. Mehr steckt nicht hinter ihrem Gesetzentwurf. Was die Linke vorhat, wird ihr nicht gelingen.
({8})
- Zur Sache kann ich Ihnen sagen, dass das Bundesverteidigungsministerium seit den 50er-Jahren nur ein einziges Mal eine andere Sichtweise als das Präsidium des
Bundesverwaltungsgerichts gehabt hat. Einen Missbrauch kann ich hierin nicht erkennen.
Daher ist festzustellen, dass das Bundesministerium
der Verteidigung auf die Berufung der Wehrdienstrichter
keinen weiter gehenden Einfluss ausübt als zum Beispiel
das Arbeitsministerium bei der Berufung der Arbeitsrichter oder der Sozialrichter. Würden Sie dies meinen,
dann hätte Ihr Gesetzentwurf anders lauten müssen.
Dann hätten Sie eine Grundgesetzänderung beantragen
müssen, durch die sichergestellt wird, dass es keine ministeriale Einflussnahme mehr auf die Benennung von
Bundesrichtern gibt. Gerade das schreiben Sie aber
nicht, sondern Sie picken nur einen Bereich heraus. Das
zeigt ganz deutlich, was Sie wünschen und was Sie wollen.
({9})
Ihr Gesetzentwurf ist schnell zu durchschauen. So wie
er gestellt ist, ist er verfassungsrechtlich bedenklich. So
wie er gemeint ist, ist er verfassungswidrig. Damit ist er
abzulehnen.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/572 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Federführung beim Verteidigungsausschuss liegen soll.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Friedensmission der
Vereinten Nationen im Sudan ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1590 ({1}) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
24. März 2005 und Folgeresolutionen
- Drucksache 17/1902 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur ({3}) auf Grundlage
der Resolution 1769 ({4}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
und Folgeresolutionen
- Drucksache 17/1901 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Jahre 2010 und
2011 werden ganz gewiss Schicksalsjahre für den Sudan.
Am 11. April, also vor wenigen Wochen, wurde im Sudan nach über 24 Jahren zum ersten Mal wieder gewählt.
Die Menschen haben von ihrem demokratischen Grundrecht regen Gebrauch gemacht, und die Zivilgesellschaft
hat sich mutig engagiert.
Wir wissen aber auch, dass die Wahl ganz gewiss
nicht internationalen Standards entsprochen hat. Die internationale Gemeinschaft hat zu Recht die zahlreichen
Manipulationen als nicht akzeptabel kritisiert. Mit der
internationalen Gemeinschaft fordern wir, dass der Sudan mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeitet. Schwerste Verbrechen wie die in Darfur
müssen geahndet werden; das möchte ich vorab hier
noch einmal feststellen.
({0})
Noch immer ist die Lage in Darfur von Gewalt geprägt. Der Waffenstillstand von Doha zwischen der Regierung und den Rebellengruppen wird wieder und wieder gebrochen. Die Menschen in Darfur werden Opfer
des Bürgerkriegs und Opfer von Kriminellen, die die angespannte Sicherheitslage ausnutzen.
Auch im Südsudan kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen zwischen den Ethnien. Es gibt zahllose
irreguläre Milizen. Es droht die Gefahr, dass extremistische Kräfte aus dem Nordsudan diese Konflikte weiter
anheizen. Ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs zwischen Nord und Süd wird von den Beobachtern und den
Kennern nicht ausgeschlossen.
In dieser Lage braucht der Sudan von der internationalen Gemeinschaft mehr Engagement und nicht weniger. Das fordert zu Recht auch der dem Deutschen Bundestag dazu vorliegende interfraktionelle Antrag. Die
Bundesregierung wird diesen Antrag und dessen konstruktive Vorschläge ihrer Politik zugrunde legen. Auf
dieser Basis werden wir uns in internationalen Foren und
Gremien für eine vollständige Umsetzung des umfassenden Friedensabkommens und für einen Friedensvertrag
in Darfur einsetzen. Fünf Punkte, die ich hier nennen
möchte, sind dabei für unser Engagement besonders
wichtig:
Erstens muss das Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudan transparent und friedlich verlaufen. Es
ist für die Zukunft des Sudan entscheidend, dass das Ergebnis von allen Parteien akzeptiert wird. Dafür müssen
jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden. Nach dem
umfassenden Friedensabkommen von 2005 ist das Referendum bis zum Jahr 2011 durchzuführen. Die Sicherung des Referendums ist eine Hauptaufgabe von
UNMIS. Damit auch die inhaltlichen Standards erfüllt
werden, drängen wir in der Europäischen Union auf eine
große und umfassende Wahlbeobachtungsmission.
Zweitens braucht der Südsudan stärkere staatliche
Strukturen. Das ist entscheidend für die Stabilität der gesamten Region. Während meiner Afrikareise haben
meine Gesprächspartner in Dschibuti und in Tansania
die Risiken betont, die von einem instabilen Südsudan
für die gesamte Region ausgehen würden. Die Ausbildung der Sicherheitskräfte im Südsudan und die Entwaffnung irregulärer Milizen ist neben der Vorbereitung
des Referendums Hauptaufgabe von UNMIS. Der Süden
des Sudan hat nur dann eine friedliche Zukunft, wenn
nationale Behörden den Schutz der Zivilbevölkerung
auch garantieren können. Die Bundesregierung kann zur
Stärkung staatlicher Strukturen weiterhin wichtige Beiträge leisten. Auch besteht enormer Beratungsbedarf für
den Fall, dass die Mehrheit der Wähler sich im Referendum für die Unabhängigkeit des Südsudan entscheidet.
Schon vor dem Referendum muss auch dieser Fall vorbereitet werden, den die überwiegende Zahl der BeBundesminister Dr. Guido Westerwelle
obachter für das wahrscheinliche Ergebnis der Abstimmung hält. Damit greifen wir der Abstimmung gewiss
nicht vor, aber vorbereitet müssen wir sein.
({1})
Drittens brauchen wir einen Erfolg bei den Friedensgesprächen über Darfur. Auf Dauer wird nur eine Einigung aller Konfliktparteien die Situation befrieden. Im
Mai habe ich dem Chefunterhändler für die Vereinten
Nationen und für die Afrikanische Union Bassolé hier in
Berlin die volle Unterstützung der Bundesregierung zugesichert. Er ist trotz aller Rückschläge zuversichtlich,
dass die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres Fortschritte machen werden. Wir wünschen ihm das natürlich - und uns auch. Bis zu einer Verhandlungslösung
und voraussichtlich darüber hinaus steht UNAMID in
Darfur vor einer sehr schweren Aufgabe. Deswegen
werden wir die Mission weiter nach Kräften unterstützen.
Viertens dürfen wir bei der humanitären Hilfe und
beim Wiederaufbau nicht nachlassen. Die Menschen in
Darfur sind auf Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn Gewalt nicht überall
verhindert werden kann, können wenigstens die Folgen
gelindert werden.
Fünftens und letztens muss die Menschenrechtslage
im gesamten Sudan langfristig verbessert werden. Hier
werden wir nur Fortschritte sehen, wenn sich die Sicherheitskräfte im Norden wie im Süden an rechtsstaatlichen
Kriterien orientieren. Irreguläre Milizen - ich sage das
noch einmal - müssen deshalb entwaffnet und wieder in
die Zivilgesellschaft eingegliedert werden. Eine bessere
Ausbildung und Unterstützung im Rahmen dieser Demobilisierungsprogramme ist unverzichtbar.
Mit den Blauhelm-Missionen begleiten die Vereinten
Nationen den Sudan bei der Konfliktlösung. Deutschland will und wird dazu auch weiter seinen Beitrag leisten. Das Bundestagsmandat für UNMIS soll inhaltlich
unverändert verlängert werden. Für das UNAMID-Mandat beantragt die Bundesregierung eine Anpassung der
Obergrenze von bisher bis zu 250 Soldatinnen und Soldaten auf bis zu 50 jetzt. Wir müssen im Rahmen des
Mandats nicht mehr für die eigenen Flüge der Bundeswehr vorsorgen; denn UNAMID hat inzwischen zuverlässige Lösungen für den Lufttransport gefunden. Das ist
der fachliche Hintergrund der Reduktion. Diese Anpassung bedeutet keine Verringerung des deutschen Engagements für UNAMID. Das Mandat wird lediglich an
die zukünftigen Anforderungen angepasst. Das dient der
Mandatswahrheit und der Mandatsklarheit, auf die der
Deutsche Bundestag zu Recht Wert legt.
Zum Schluss möchte ich mich für den großen Einsatz
unserer Soldatinnen und Soldaten, unserer Polizistinnen
und Polizisten, der Mitarbeiter der humanitären Hilfe
und Entwicklungszusammenarbeit, aber auch bei den
Diplomatinnen und Diplomaten ausdrücklich bedanken.
Sie leisten - das können wir uns alle, glaube ich, vorstellen - unter großem persönlichen Einsatz und unter sehr
schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen einen
ganz wichtigen Beitrag.
Ich bitte Sie um Unterstützung dieser Mandate.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie auch mir einige kurze Vorbemerkungen zur
Situation im Sudan, bevor ich konkret auf das Mandat zu
sprechen komme. Ich denke, das kann man an der Stelle
nicht trennen.
Zunächst einmal möchte ich auf unsere gemeinsame
interfraktionelle Aktivität hinweisen, die wir vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit auf den Weg gebracht haben. Es gab heute Morgen
ein sogenanntes parlamentarisches Frühstück mit vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen, die aktuell aus Juba, Darfur und Khartoum gekommen sind. Ich kann Ihnen nur sagen - es ist
ja manchmal ein schwieriges Verhältnis zwischen Parlament und Nichtregierungsorganisationen -, dass es noch
nie eine derartig einhellige Zustimmung zu einem Beschluss des Deutschen Bundestags gegeben hat wie zu
dem, den wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben.
Ich sage noch einmal: Das war eine gute Aktion. Die
Menschen im Sudan haben gemerkt: Wir kümmern uns,
und wir nehmen wahr, was dort stattfindet. - Ich würde
mir wünschen, dass wir an dieser Stelle weitere gemeinsame Aktivitäten ergreifen. Das ist die Sache, glaube
ich, wert. Wir sollten auch einmal an unsere eigene
Adresse gerichtet sagen: Das war eine gute Aktion. Wir
sollten sie nicht als Einzelfall stehen lassen.
({0})
Ich möchte noch einmal betonen: Der Antrag, den wir
beschlossen haben, hat sich auf die beiden Mandate,
über die wir heute reden, bezogen. Mit aller Klarheit
sage ich: Kein einziger Vertreter dieser Nichtregierungsorganisationen hat uns erzählt, die Einbeziehung der
Mandate für UNMIS und UNAMID sei bei ihren Organisationen streitig. Das Gegenteil ist richtig. Viele von
ihnen haben uns aufgefordert, die Mandate nachzubessern und an die Notwendigkeiten anzupassen. Darüber
werden wir gleich noch einmal reden. Es ist jedenfalls
klar geworden: Nichtregierungsorganisationen, die seit
vielen, vielen Jahren - viel länger, als wir uns mit diesem Thema befassen - dort aktiv sind, sehen den Einsatz
der Bundeswehr bzw. von UNMIS und UNAMID gerade nicht als einen Kriegseinsatz, sondern als einen
klassischen Peacekeeping-Einsatz. Ich glaube, auch das
sollte zu Beginn dieser Debatte ganz deutlich klargemacht werden.
({1})
Eine Entwicklung bereitet mir Sorgen: Sie hat etwas
mit dem bereits angesprochenen Haftbefehl gegen den
wiedergewählten Präsidenten al-Baschir zu tun. Ich war
vor eineinhalb Wochen auf der Vorbereitungskonferenz
der Parlamentarier zur Überprüfung des Römischen Status des ICC in Kampala. Dort ist schon mit einiger Verwunderung zur Kenntnis genommen worden, dass bei der
Amtseinführung und Vereidigung von Herrn al-Baschir,
der immerhin vom ICC mit Haftbefehl gesucht wird, neben einigen wenigen Vertretern afrikanischer Staaten
- ich habe gehört, dass sie aus fünf Ländern kamen - sowohl die beiden Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für den Sudan und Darfur als eben auch ein Vertreter der deutschen Botschaft vor Ort gewesen sind.
Das, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist eine Geschichte, die ich doch ganz offen
und offensiv kritisiere, denn wir stehen beim ICC als
eine der Nationen, die dieses Mandat des ICC ganz offensiv unterstützt haben, in der Verantwortung. Es tut
unserer Glaubwürdigkeit in dieser Frage wirklich nicht
gut, wenn die deutsche Bundesregierung über ihre Botschaft einem mit Haftbefehl gesuchten Staatspräsidenten
bei dessen Amtseinführung die Ehre erweist. Das sollten
wir deutlich sagen; ich halte das für nicht in Ordnung.
({2})
Wir haben - das ist ebenfalls angesprochen worden auch an der einen oder anderen Stelle das Mandat zu kritisieren, wobei ich deutlich sage: Bei der Kritik an diesem Mandat geht es nicht um eine grundsätzliche Entscheidung, sondern um die konkrete Ausgestaltung.
Ich will dies einmal an einem Beispiel von UNMIS
deutlich machen, das uns auch heute Morgen vorgetragen worden ist. Im Südsudan - dies ist auch von Ihnen,
Herr Außenminister, angesprochen worden - besteht
eine ausgesprochen schwierige Situation. Es gab im letzten Jahr - das ist vielen von uns nicht bewusst gewesen eine größere Zahl von Opfern im Südsudan. Nach allgemeinen Schätzungen gab es 2 500 Tote und über
30 000 Binnenvertriebene, mehr als in Darfur.
Diese Situation macht uns Sorgen. Wenn man dann
von Menschen, die zum Beispiel in dem DDR-Prozess,
also bei der Demobilisierung und Entwaffnung, aktiv
sind, von den immer noch vorhandenen gegenseitigen
Aktivitäten hört, dann fragt man sich natürlich: Was machen die da eigentlich? Wenn ich dann höre, auch von
denjenigen, die vor Ort aktiv sind, es sei unklar, ob
UNMIS-Soldaten, wenn sie von Stammeskämpfen, von
bewaffneten Kämpfen erfahren, dort eingreifen und die
Beteiligten und die Zivilbevölkerung schützen dürften,
und höre, dass sie es nicht tun, weil sie Angst haben, sie
verletzten damit das Mandat, dann muss an diesem Mandat inhaltlich nachgebessert werden.
Ich halte es gegenüber niemandem und nirgendwo für
vertretbar, dass für viel Geld Soldatinnen und Soldaten
in einer Region stehen und es nicht schaffen, einzugreifen, wenn Stammesauseinandersetzungen oder Auseinandersetzungen um Ressourcen stattfinden. Da muss
nachgebessert werden; anderenfalls machen wir uns mit
unserem Engagement im Südsudan unglaubwürdig,
meine Damen und Herren. Auch dies ist eine Botschaft,
die wir einmal adressieren müssen.
({3})
Ich habe jetzt die Erklärung gehört - sie hat mich ein
Stück weit überzeugt; ich habe das zunächst nicht verstanden -, warum die Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen des UNAMID-Mandats reduziert wird. Die Zahlen bezüglich unseres Engagements
über UNAMID im Sudan sind eigentlich eher marginal.
Das Hybrid-Mandat, das wir anstrebten - die alte
Bundesregierung, die EU, die Vereinten Nationen -,
ging davon aus, wir benötigten dort 26 000 Soldatinnen
und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten. Dieses
Mandat ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Das hat auch
etwas damit zu tun, dass insbesondere die europäischen
Staaten, obwohl sie das Mandat gewollt und unterstützt
haben - ich sage es einmal vorsichtig -, bei der personellen und materiellen Ausstattung des Mandats in Darfur
und anderswo ausgesprochen zurückhaltend sind.
Das ist auch ein Teil des Problems, denn wir können
- das erwarten viele Menschen auch von uns - nicht auf
der einen Seite immer sagen, das sei eine eigene Angelegenheit der Afrikanischen Union, jedoch auf der anderen
Seite fordern, dass hierbei nicht allein die Afrikanische
Union aktiv wird, sondern auch die EU und andere,
wenn wir uns dann bei der Gestellung und bei der Ausstattung zurückhalten. Das verstehen die Menschen in
den Flüchtlingslagern nicht, die wir schützen wollen und
die nach wie vor in sehr großen Schwierigkeiten sind.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir auch an dieser
Stelle insbesondere im europäischen Rahmen nachbessern müssen.
Herr Kollege Strässer, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Schuster zu?
Ja, gerne.
Lieber Herr Kollege Strässer, sind Sie denn bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass auch unter der Vorgängerregierung weder beim UNAMID- noch beim UNMISMandat mehr deutsche Bundeswehrsoldaten im Sudan
tätig waren?
Ich habe das schon an vielen anderen Punkten gesagt:
Wenn an bestimmten Stellen eine alte Regierung oder
eine ganz alte Regierung, wie auch immer, mit ihrem
Mandat nicht auf der Höhe der Zeit gewesen ist, dann
heißt das noch lange nicht, dass wir das jetzt weiterführen müssen.
({0})
Das Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
wohl deutlich geworden. Wenn man mit dem, was wir
gemeinsam auf den Weg gebracht haben, ernsthaft Erfolge erzielen will, dann muss auch die Effektivität geChristoph Strässer
währleistet sein. Man kann das drehen und wenden, wie
man will: Dies ist sie im Moment im Sudan nicht. Aus
meiner Sicht ist völlig klar, dass wir gerade vor dem
Hintergrund der fragilen Situation vor dem Referendum
im Südsudan - dies wurde angesprochen - dann nachbessern müssen, wenn wir dies tun können. Es wäre auf
jeden Fall das völlig falsche Signal, wenn die internationale Staatengemeinschaft und wir als Bundesrepublik
Deutschland an dieser Stelle sagen würden: Das war es.
Wir kündigen das Mandat. Wir beteiligen uns nicht an
der Befriedungsaktion, die uns bevorsteht.
Ich finde, wir sollten in den Diskussionen im Ausschuss darüber nachdenken, wo es effektivere Möglichkeiten gibt, uns dort einzubringen, den Frieden zu sichern und den Menschen im Sudan eine menschenwürdige, vernünftige und nachhaltige Zukunft zu sichern.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Strässer, Sie haben sehr zu Recht darauf hingewiesen, welche Folgen eine Aufkündigung dieses Mandates
haben könnte. Ich glaube, wir alle dürfen noch mehr Anstrengungen unternehmen, um den Gesamtkomplex Sudan im Bewusstsein unserer Bevölkerung noch etwas
mehr zu verankern. Das ist einer der Einsätze, die vielen
himmelschreiend fern erscheinen und bei denen ich feststelle, dass wir noch einen erheblichen Erklärungsbedarf
haben. Wenn wir dies parteiübergreifend leisten können,
dann wäre insbesondere dem Einsatz der beteiligten Soldaten, aber auch jenen, denen wir helfen wollen, ein
Dienst getan. Ich glaube, das wäre ein wichtiger und
weiterer Ansatz über die konkreten Punkte hinaus, über
die wir heute diskutieren.
Bei dem, was Sie mit Blick auf die richtige Einschätzung eines Peacekeeping-Einsatzes angesprochen haben,
aber auch bei der Kritik, die Sie gleichzeitig haben einfließen lassen, was die Effektivität anbelangt, gilt es natürlich, eine genaue Differenzierung und eine sehr genaue Abwägung dahin gehend vorzunehmen, wo man
letztlich möglicherweise die Grenzen überschreitet. Dass
wir immer bemüht sind, so weit nachzubessern, dass
man solchen Anforderungen nachkommen und gerecht
werden kann, steht völlig außer Frage. Aber die Grenzüberschreitung ist auch sehr schnell geleistet. Deswegen
ist der Hinweis sicherlich richtig, dass wir uns um
höchstmögliche Effektivität zu bemühen haben. Aber
wenn wir dies gleichzeitig in den so schön und wohl
klingenden Begriff „Peacekeeping-Einsatz“ einbetten
wollen, dann muss man sich auch dieser Debatte und
dieser Diskussion bewusst sein.
Sudan befindet sich - das wurde bereits gesagt - am
Scheideweg. Die kommenden zwölf Monate werden für
dieses größte Land Afrikas, aber auch für die gesamte
Region - auch diesen regionalen Gesamtansatz sollten
wir im Blick behalten - von ganz entscheidender Bedeutung sein. Es konnte bislang weder für den Darfur-Konflikt eine nachhaltige Lösung gefunden werden, noch
wurde das umfassende Friedensabkommen zwischen
Nord- und Südsudan von 2005 in allen Teilen umgesetzt.
Die nächsten Monate - Herr Westerwelle hat darauf hingewiesen - werden im Zeichen der Vorbereitung für das
im Januar 2011 anstehende Referendum stehen. An dessen Ende könnte auch die Entscheidung für die Unabhängigkeit des Südsudan stehen. Die Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft wird hierbei dringend gebraucht.
Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die beiden Missionen - UNMIS im Südsudan und UNAMID in Darfur um weitere zwölf Monate verlängert bzw. in Kürze verlängern wird. Die Mitgliedstaaten der UN sind weiter
zur Beteiligung an der Mission aufgerufen. Dem werden
wir uns, wie Herr Westerwelle bereits gesagt hat, nicht
verschließen.
Es ist gelegentlich wichtig, auf diesen vergessenen
Konflikt und auf die Zahlen hinzuweisen, darauf, was
sich im Sudan an menschlicher Dramatik abgespielt hat
und weiterhin abspielt. Da haben wir zum einen die Lage
in Darfur. Die Lage bleibt ohne Frage angespannt. Ich
möchte einmal die Zahlen nennen: Nach UN-Schätzungen hat der Konflikt seit 2003 etwa 300 000 Menschen
das Leben gekostet. Das ist zunächst einmal eine unvorstellbar hohe Zahl. Manche sagen dann zynisch: Da haben wir schon ganz andere Dinge gesehen. - Sie ist unvorstellbar hoch. 2,7 Millionen verloren ihr Zuhause.
Dies ist eine gewaltige Zahl. Die Zahlen, was letztlich
den Südsudan anbelangt, haben Sie genannt, Herr
Strässer. Ich glaube, dass wir die Zahl der Binnenvertriebenen höher ansetzen müssen als die von Ihnen genannte
Zahl von 30 000. Ich glaube, dass sie erheblich höher ist.
Dies zeigt noch einmal den gesamten Komplex, vor dem
wir stehen.
Zu beiden UN-Missionen im Sudan leistet die Bundeswehr einen zahlenmäßig kleinen, vergleichsweise bescheidenen Beitrag, aber trotzdem einen wichtigen und
hochanerkannten. Diese Rückmeldungen bekommen wir
immer wieder. Er ist gleichzeitig ein unentbehrlicher
Teil der Gesamtanstrengungen der Bundesregierung und
der internationalen Gemeinschaft zur Befriedung dieser
Region. Wir haben bei UNMIS derzeit 32 Soldaten der
Bundeswehr als Militärbeobachter im Südsudan und in
den UNMIS-Stäben im Einsatz.
Ich möchte ausdrücklich auf die fünf Polizisten hinweisen. Auch die sollten wir in den Rahmen einbeziehen.
({0})
- Auch so eine Zahl; aber es sind fünf Polizisten. Ich
glaube, wir können dankbar sein und sollten bedenken,
unter welchen Bedingungen diese fünf Polizisten dort ihren Dienst vollziehen. Auch das muss man einmal sagen.
({1})
Der Dank richtet sich ebenso an unsere Soldaten.
Diese 32 Soldaten - wie ich zu Beginn sagte - stehen
auch nicht im ständigen Fokus und Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie tun unter sehr harten Bedingungen vor
Ort ihren Dienst. Auch an sie geht der Dank von uns allen.
({2})
Von ebenso großer Bedeutung für die Gesamtstabilisierung ist - wie bereits genannt - die UNAMID-Mission. Herr Strässer, Sie haben gesagt, jetzt hätten Sie es
verstanden, warum wir von den 250 auf 50 runtergegangen sind. De facto ist die Lufttransportfähigkeit einfach
nicht abgefragt worden. Das ist für uns natürlich auch
eine Frage der entsprechenden Planbarkeit insgesamt:
Was können wir vorhalten? Gleichzeitig ist es aber auch
wichtig, das Signal an die Vereinten Nationen zu setzen:
Wir sind bereit, uns zu engagieren. Ich glaube, es ist aber
auch richtig - wenn Dinge nicht abgerufen werden, weil
sie nicht benötigt werden -, dass man einmal das Signal
setzt, dass man bereit ist, die Dinge auch abzuschmelzen, und vielleicht in der Hinsicht auch einmal einen
Weg erkennbar werden zu lassen.
Wir sind derzeit mit acht Experten in verschiedenen
Stabspositionen in der Mission engagiert. Mit der Verlängerung der beiden Einsätze entspricht die Bundesregierung auch einem Anliegen des Bundestages. Sie haben auf den interfraktionellen Beschluss vom 25. März
2010 hingewiesen, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, den Friedensprozess über das Referendum hinaus zu begleiten.
Ich darf Sie um Zustimmung zu den beiden Mandaten
und das entsprechende Engagement bitten. Ich glaube, in
der Hinsicht haben wir eine zielführende und über die jeweiligen Grenzen hinwegreichende gute Diskussion als
Grundlage.
Herzlichen Dank.
({3})
Christine Buchholz ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung möchte die deutsche Beteiligung an den
UN-Einsätzen im Sudan verlängern. In ihrer Antragsbegründung argumentiert sie, das sei zum Schutz der sudanesischen Bevölkerung.
({0})
Um aber den Menschen im Sudan helfen zu können,
macht es Sinn, die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ursachen der Konflikte im Sudan anzuschauen. Ich
möchte hier ein paar Punkte umreißen, um deutlich zu
machen, dass die UN-Missionen und die Bundeswehr
auch im besten Falle nicht helfen können.
Der Sudan ist an sich ein reiches Land. Der US-Ölkonzern Chevron schätzte, dass der Sudan so viel Ölvorräte wie Iran und Saudi Arabien zusammen hat. Außerdem verfügt der Sudan über die drittgrößten Uranvorkommen und die viertgrößten Kupfervorkommen der
Welt.
({1})
Von diesem Reichtum hat die große Mehrheit der Bevölkerung nichts.
Im Nordwesten des Landes, in Norddarfur, hat der
Klimawandel in den letzten 20 Jahren die Lebensgrundlage der Bevölkerung zerstört. Hunderttausende flohen
vor der sich ausbreitenden Wüste, Konflikte um Land
und Wasser in Zentraldarfur waren die Folge.
Im Südsudan, wo das meiste Öl liegt, gibt es seit Jahrzehnten einen Bürgerkrieg. Hauptsächlich streiten sich
die sudanesische Zentralregierung und lokale Machthaber um die Verteilung der Öleinnahmen. Verschärft werden die Konflikte durch das Eingreifen verschiedener
Staaten. China zum Beispiel unterstützt die Zentralregierung, die weitreichende Handelsabkommen mit China
abgeschlossen hat. 80 Prozent der aktuellen Ölexporte
gehen an China.
({2})
Die US-Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die USÖlimporte aus Afrika bis 2020 rund zu verdreifachen.
Der Sudan ist dafür von zentraler Bedeutung, aber vor
allem muss dafür der chinesische Einfluss zurückgedrängt werden. Die USA wollen im Südsudan eine ihnen
wohlgesonnene und abhängige Regierung haben, die
über die Ölvorkommen verfügen kann. Ob das im Rahmen einer Teilautonomie oder einer Abtrennung passiert, ist ihnen egal, Hauptsache die Zentralregierung
wird geschwächt und muss Zugeständnisse machen.
Der Aufbau eigenständiger staatlicher Strukturen im
Südsudan durch die UN, an dem sich auch die Bundesregierung beteiligt, spielt dieser Zielsetzung in die Hände.
Vor diesem Hintergrund ist eine friedliche Lösung des
Konfliktes leider unwahrscheinlich.
({3})
Die UNO-Soldaten sind bei dem Konflikt geduldete
Zaungäste. Eine Eskalation verhindern können sie nicht.
Was werden die UNO-Truppen machen, sollte es wieder
zum Krieg kommen? Im besten Falle ziehen sie sich zurück; dann werden sie schlicht überflüssig. Im
schlimmsten Falle ergreifen sie Partei und kämpfen auf
einer Seite mit.
Wie der ehemalige Bundespräsident Köhler feststellte, leben wir in Zeiten, in denen der Zugang zu Rohstoffen und Märkten militärisch abgesichert wird.
({4})
Anscheinend kann und will sich die Bundesregierung
dieser Logik nicht verschließen, auch wenn sie an dieser
Stelle nur ein symbolisches Kontingent beisteuert. Was
auch immer sich die Bundesregierung von diesen Einsätzen erhofft - vielleicht eine gestiegene internationale
Bedeutung, eventuell am Ende sogar einen ständigen
Sitz im Weltsicherheitsrat -, auf keinen Fall tragen sie
zur Lösung der Probleme der sudanesischen Bevölkerung bei.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kerstin Müller,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident!
Frau Kollegin Buchholz, zu Ihrem Beitrag würde ich sagen: Man muss ihn in das Kapitel „antimilitaristische
und antikapitalistische Folklore“ einordnen.
({0})
- Nein, das ist wirklich wahr. Sie wissen nicht, wovon
Sie reden. Sie sagen, dass UNMIS und UNAMID „nicht
helfen können“. Tatsächlich tragen aber beide Einsätze
entscheidend zur Stabilisierung der Situation sowohl im
Süden des Sudans als auch in Darfur bei.
Ich möchte etwas zu UNMIS sagen. Es handelt sich
bei UNMIS nicht um einen Kriegseinsatz zur Sicherung
von Ölinteressen, wie Sie es hier behauptet haben, sondern um einen Einsatz, der von beiden Konfliktparteien
gewünscht war. Es ist ein Einsatz nach Kapitel VI der
UN-Charta: im Kern eine Beobachter- und Verifikationsmission - so heißt das - zur Überwachung der Einhaltung eines Friedensvertrages, der sehr mühsam zustande
gebracht wurde. Der Einsatz hat keinen neuen Krieg gebracht; er hat den längsten und blutigsten Bürgerkrieg in
Afrika, den Krieg im Sudan, beendet.
({1})
Die Parteien haben gewünscht, dass es diese Beobachtermission gibt. Ich finde wirklich, solange Sie solche
Einsätze als Kriegseinsätze zur Sicherung von Ölinteressen diffamieren,
({2})
sind Sie einfach nicht satisfaktionsfähig, um in solch einer Debatte seriös mitzudiskutieren. Das muss ich hier
wirklich sagen.
({3})
Auch ich bin froh, dass wir hier gemeinsam einen interfraktionellen Antrag zur Lage im Sudan beschlossen
haben. Ich sage aber auch: Es ist wichtig, dass die entscheidenden Punkte Schritt für Schritt umgesetzt werden. Da reicht es eben nicht, dass der Sudan jetzt ein
Schwerpunktthema des Ressortkreises des Unterausschusses „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ ist. Wir erwarten wirklich, dass auf europäischer
Ebene und der Ebene der Vereinten Nationen die Forderungen des interfraktionellen Antrags aktiv umgesetzt
werden.
Zu den Wahlen im Sudan. Sie waren weder frei noch
fair; diese Auffassung teile ich natürlich. Die Wahlen haben gerade nicht zur Entspannung beigetragen, nicht
zwischen Nord und Süd, erst recht nicht in Darfur. Gerade in Darfur war der Betrug am größten, weil die Wählerlisten fehlerhaft waren und viele erst gar nicht zur
Wahl gegangen sind. Es gab keine unabhängigen Wahlbeobachter. Eine transparente Klärung der Vorwürfe ist
nicht zu erwarten. Stattdessen flammen immer wieder
Kämpfe auf: Allein im Mai gab es 600 Tote; Hunderttausende brauchen noch immer Schutz.
Ich sage deshalb: UNAMID und UNMIS sind richtig
und wichtig für die Menschen.
({4})
Insofern müssen gerade die Wahlen im Sudan für uns
Anlass sein, sowohl die Peacekeeping-Mission der UNO
effektiver zu machen als auch zivile Friedensschaffungsmaßnahmen auszubauen, das heißt das Peacebuilding zu
stärken. Sonst wird es, glaube ich, keinen dauerhaften
Frieden geben; das Unabhängigkeitsreferendum im
Südsudan würde dann zu einem Desaster führen.
Ich will auf die Reduzierung eingehen, die Sie bei
UNAMID beschlossen haben. Ich denke, es ist klar, dass
eine schlichte Reduzierung des Mandates von 250 auf
50 Soldaten bei der UNO natürlich nicht als Verstärkung
unseres Engagements verstanden werden kann,
({5})
zumindest dann nicht, wenn man nicht wenigstens parallel das zivile Engagement, das Peacebuilding, verstärkt.
Ich will auf den interfraktionellen Antrag eingehen.
Da fordern wir im Hinblick auf die Mandate, die notwendige Ausrüstung und Unterstützung für UNAMID
bereitzustellen und den Anforderungen vor Ort anzupassen. Herr von Guttenberg, es ist richtig: Die Transportkapazitäten werden schon seit langem nicht mehr angefordert; ich habe das hier mehrmals angemahnt. Es ist aber
Kerstin Müller ({6})
auch richtig, dass immer noch Hubschrauberkapazitäten
benötigt werden, dass Aufklärungsgerät, über das wir
durchaus verfügen, gebraucht und von der UNO immer
noch angefordert wird. Es ist eine große Region; die
Mission ist im Verhältnis dazu immer noch zu klein. Die
Forderung nach Anpassungen aus dem interfraktionellen
Antrag heißt nach meiner Auffassung nicht, dass man
das Mandat einfach reduzieren, sondern den realen Anforderungen vor Ort anpassen soll. Das hätte ich mir gewünscht. An dieser Stelle bin ich daher damit, wie Sie
das hier gehandhabt haben, nicht einverstanden.
({7})
Ich möchte ein paar Dinge nennen, die man in Bezug
auf Peacebuilding machen kann. Wieso zum Beispiel
bauen Sie nicht die erfolgreiche Unterstützung für die
UNO-Polizisten durch das THW aus? Warum bauen Sie
keine Polizeistation, damit die Menschen nach Darfur
und in den Südsudan zurückkehren und dort sicher leben
können? Wir haben zum Beispiel gerade den Vorsitz bei
der UNO-Peacebuilding-Kommission. Um die internationale Unterstützung wirksam zu bündeln, könnte man
also einiges machen.
Für mich ist ganz klar: Ohne Friedensvereinbarung ist
ein erfolgreiches Peacekeeping und Peacebuilding nur
schwer möglich. Ich spreche in diesem Zusammenhang
vor allem von Darfur. Dort gibt es nämlich noch keinen
tragfähigen Friedensvertrag. Ich möchte hier außerdem
einen Gedanken anbringen: Ich wünsche mir, dass wir
aufgrund des Unabhängigkeitsreferendums Darfur nicht
links liegen lassen.
({8})
Diesen Fehler haben wir nämlich im Jahre 2005 ein
Stück weit mit dem CPA gemacht. Ich glaube, es wäre
jetzt wichtig, dass Darfur Gegenstand einer hochrangigen UNO-Sudan-Konferenz wird.
({9})
Ich möchte Ihnen noch etwas ans Herz legen:
Das muss aber kurz und knapp erfolgen.
Das ist mein letzter Satz. - Ich spreche von einer hervorragenden Initiative des Max-Planck-Instituts, und
zwar von Deutschland aus. Es handelt sich um einen
Entwurf eines Friedensvertrages, der die Zivilgesellschaft und viele andere Seiten betrifft. Wir müssen - das
würde ich erwarten - jetzt richtig Druck auf die Konfliktparteien machen, damit dieses Dokument zur
Grundlage der Friedensgespräche in Doha wird. Diese
stocken nämlich.
({0})
Da passiert im Moment gar nichts. Diese Initiative
könnte neue Perspektiven eröffnen, damit es auch in
Darfur zu einem Friedensvertrag kommt, den UNAMID
dann überwachen kann.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSUFraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Müller, ich hatte heute hier im Plenum fast immer die Gelegenheit, Ihnen zuzustimmen.
Nachdem ich das bei der Debatte zu Gaza bereits aus
voller Überzeugung getan habe, möchte ich es an dieser
Stelle erneut tun. Ihr Hinweis in Bezug auf die Luftunterstützung und die Hubschrauber war wichtig. Wir sind
uns darin einig, dass wir in diesem Bereich gern mehr
Kapazitäten zur Verfügung hätten. Diese haben wir allerdings schlichtweg nicht. Das ist das Problem an der
Stelle.
Trotz der aktuellen Spardiskussionen sehen wir sehr
wohl, dass es durchaus Einsatzgebiete gäbe. Wir sind
auch der Meinung, dass es sowohl moralisch als auch
politisch sinnvoll wäre, in diesen Gebieten Kapazitäten
zur Verfügung zu stellen. Wir müssen daher mit größerem Engagement als bisher die Diskussion darüber führen, wofür die Bundeswehr in Zukunft zuständig sein
soll und mit welchen Mitteln sie dafür ausgerüstet sein
muss.
Das, was Sie angemahnt haben und was von der UNO
angefordert wird - nämlich Hubschrauberkapazitäten -,
können wir nicht in dem Maße bieten, wie es notwendig
wäre. Das gestaltet diese Frage sehr schwierig. Denn
wenn wir es könnten, hätten wir es auch gemacht. Das
ist gar keine Frage. Vor diesem Hintergrund betrachte
ich Ihren Hinweis als Ermutigung für den Fortgang der
weiteren Debatten über die Zukunft der Bundeswehr.
Das nehme ich gerne mit. Ich möchte anhand dieses konkreten Beispiels deutlich machen, dass man sich überlegen muss, welche Aufgaben die Bundeswehr in Zukunft
bewältigen soll und wie sie das tun soll.
Ich möchte gern das, was vorhin von der Kollegin
Buchholz von der Linksfraktion gesagt wurde, aufgreifen. Ich halte es nämlich nicht für eine einzelne verbale
Entgleisung. Sie steht vielmehr in einer Reihe von vielen
Äußerungen der Linkspartei zu diesen Mandaten. Vor
längerer Zeit ist hier im Deutschen Bundestag von neokolonialistischen Herangehensweisen in Bezug auf unser
Engagement für Afrika gesprochen worden.
({0})
Das halte ich nun wirklich für eine noch schwerwiegendere verbale Entgleisung als das, was Sie vorhin gesagt
haben.
Frau Kollegin Müller hat ja schon ausdrücklich etwas
dazu gesagt. Dem kann ich mich nur anschließen. Es
handelt sich bei den Missionen, über die wir heute diskutieren, um völkerrechtlich legitimierte Einsätze, die von
den beteiligten Parteien angefordert und erwartet werden. Außerdem stehen wir auch moralisch in der Pflicht,
Verantwortung zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund
irgendwelche Verschwörungskonstrukte in Bezug auf
Neokolonialismus oder ähnliche Diskussionen aufzubauen, die nichts mit unserem Thema zu tun haben, halte
ich für geschmacklos. Das zeigt, dass Sie sich in der Außenpolitik absolut verantwortungslos darstellen.
({1})
Der Versuch, sich aus diesem schwerwiegenden Konflikt einfach herauszuhalten, ist der Weltgemeinschaft
gegenüber unverantwortlich. Ich kann an vielen Stellen
nachvollziehen - Herr Strässer hat das betont -, dass
mehr Engagement gefordert wird. Ich sehe die Schwierigkeiten, dies in Deutschland im Rahmen der politischen Diskussion durchzusetzen, aber ich glaube, dass
wir den Beitrag, den wir leisten, schon allein deshalb
weiterhin leisten müssen, um in dieser Diskussion überhaupt noch ernst genommen zu werden.
In der Tat handelt es sich um einen vergessenen Konflikt, wie fast alle Konflikte, die mit Afrika zu tun haben.
Sie werden sowohl in den deutschen Medien als auch bei
unseren eigenen Diskussionen häufig vergessen. Umso
wichtiger ist es, dass wir uns im Deutschen Bundestag
nicht nur heute mit dieser Frage beschäftigen. Mit unserem interfraktionellen Antrag zum Sudan haben wir bereits deutlich gemacht, welchen Stellenwert dieses
Thema für uns hat.
Ich danke insbesondere meinem Fraktionskollegen
Fischer dafür, dass er sich vehement mit diesem Thema
beschäftigt hat. Das ist wichtig, um auf bestehende Konflikte jenseits der Themen, die uns im Alltag beschäftigen, hinzuweisen, um uns zu ermutigen, dauerhaft moralische Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn
deutsche Interessen - wie auch immer sie definiert werden, und das ist immer eine schwierige Frage - in diesem Konflikt nicht auf den ersten Blick betroffen sind.
Die moralische Verantwortung der Weltgemeinschaft ist
gegeben. Ich bedanke mich bei jedem, der sich für dieses
Thema und die Durchsetzung der Menschenrechte vor
Ort beharrlich einsetzt.
Ich möchte darauf eingehen, wie wichtig der weltweite Einsatz der Vereinten Nationen ist. Daran, dass
Länder wie Malawi, Norwegen und Thailand Personal
für UNMIS und UNAMID stellen, wird deutlich, dass
man an dieser Stelle nicht von Neokolonialismus oder
von der Durchsetzung von Rohstoffinteressen sprechen
kann. Vielmehr handelt es sich um eine vielfältige Mission, in der die Weltgemeinschaft ihre Bereitschaft zeigt,
sich für den Frieden einzusetzen.
Aufgrund Ihrer ideologische Ablehnung könnte man
meinen, dass Sie grundsätzlich auf die Ahndung von
Menschenrechtsverletzungen verzichten und auch darauf, die Durchsetzung von Friedensverträgen zu überwachen. Darum geht es an dieser Stelle. Es geht um
einen mühsam errungenen Friedensschluss, der durchgesetzt werden muss. Die Situation ist sehr fragil. Der Sudan wird uns heute sicherlich nicht zum letzten Mal beschäftigen.
Im Namen unserer Fraktion bitte ich um die Unterstützung für diese Mandate. Ich danke den Soldatinnen
und Soldaten und den fünf Polizisten für ihren Einsatz.
Es wurde vorhin darüber gewitzelt, dass es sich lediglich
um fünf Polizisten handelt, aber auch diese fünf Menschen haben eine Familie, die sich berechtigterweise
Sorgen darüber macht, was mit ihrem Angehörigen im
Einsatz passiert. Ich danke ihnen dafür, dass sie für unser
Land im Einsatz sind.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1902 und 17/1901 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu Einwände? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung
weiterentwickeln
- Drucksache 17/1779 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Hat jemand
Einwände dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit unserem Antrag fordern wir im Kern die
Aufnahme des Rechts auf Wasser in den Katalog der
Menschenrechte. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser
und Sanitärversorgung ist in unserer Wohlstandsgesellschaft eine alltägliche Selbstverständlichkeit, über die
kaum jemand nachdenkt.
Das ist für mindestens 17 Prozent der Weltbevölkerung anders - das sind 1,2 Milliarden Menschen -, die
über keinen Zugang zu sauberem Wasser verfügen. Mehr
als doppelt so viele, etwa 3 Milliarden Menschen, verfügen über keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Die Folgen sind fatal: Weltweit sterben mehr Menschen an
Krankheiten, die auf verschmutztes Wasser und mangelhafte Sanitärversorgung zurückzuführen sind, als an
Aids oder im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten.
Noch immer wird der Zugang zu sauberem Wasser
und Sanitärversorgung nicht von allen Staaten als Menschenrecht anerkannt. Dabei können andere Menschenrechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf Nahrung
oder das Recht auf Bildung erst durch den Zugang zu
sauberem Wasser und sanitären Anlagen verwirklicht
werden. In der Abschlusserklärung der Weltwasserkonferenz 2009 in Istanbul ist lediglich die Rede von einem
Grundbedürfnis. Ein Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung wurde dort noch nicht formuliert. Das
Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung muss
aber als eigenständiges Recht kodifiziert werden und damit gleichberechtigt neben die anderen Menschenrechte
treten.
({0})
Erst wenn der Rechtsstatus des Menschenrechts auf
Wasser und Sanitärversorgung stark und eindeutig ist,
können die Rechtsträger ihre Rechte effektiv einfordern.
Nur so erhalten alle Menschen eine konkrete Anspruchsgrundlage. Nur so kann ein diskriminierungsfreier
Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung überall
eingefordert werden. Nur so werden Staaten zu Rechtsadressaten mit klaren Verpflichtungen, und nur so können effektive Kontroll- und Sanktionsmechanismen etabliert werden, die eine zielgerichtete Implementierung
des Menschenrechts auf Wasser und Sanitärversorgung
sicherstellen.
Wir können eine Kodifizierung natürlich nicht von
heute auf morgen erreichen. Sie ist das Endziel eines
langen und schwierigen diplomatischen Prozesses. Es
sind beharrliche Anstrengungen der internationalen
Staatengemeinschaft notwendig, um das Menschenrecht
auf Wasser und Sanitärversorgung in den internationalen
Konventionen zu verankern. Genau das erwarten wir
von der Bundesregierung. Jedes Regierungsgespräch
über Wasser, über Sanitärversorgung, jede Demarche,
jede Deklaration und jede Resolution im internationalen
Völkerrecht ist ein Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel.
Diesbezüglich unterstützen wir es ausdrücklich, dass
die Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit einen Schwerpunkt auf das Thema Wasser gelegt
hat. Wir dürfen uns darauf aber nicht ausruhen, sondern
müssen weitere Schritte gehen, damit die bisherigen Anstrengungen mehr sind als ein Tropfen auf den heißen
Stein. Das ist der Gegenstand unseres Antrages. Dafür
bitten wir Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({1})
Frank Heinrich ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ein großes Privileg. Momentan habe ich ein großes
Privileg: Ein Glas Wasser steht vor mir. Ich darf trinken.
Wir dürfen trinken und uns darauf verlassen, dass wir
das morgen und übermorgen auch noch tun können, dass
wir damit kein Problem haben werden.
Das geht vielen Menschen auf dieser Welt - Herr
Koenigs hat gerade gesagt, dass es 17 Prozent der Weltbevölkerung sind - ganz und gar nicht so.
Zurzeit werden wir auf sehr kreative Weise über dieses Thema aufgeklärt. Es gibt eine Kampagne zur Fußball-WM; Sie haben vielleicht das eine oder andere Poster gesehen, auf dem jemand drei Finger hochhält. Die
Kampagne trägt den Namen eines fiktiven Sportvereins:
WASH United. Ich zitiere eine kurze Passage von der
Website dieser Kampagne:
Eine schreckliche Wahrheit steht allerdings fest:
Wenn während der Fußball-WM um den Worldcup
gekickt wird, werden in Afrika Spiel für Spiel zwischen Anstoß und Abpfiff fast 150 Kinder an den
Folgen verunreinigten Trinkwassers, fehlender Toiletten und mangelnder Hygiene sterben. Alle 45 Sekunden stirbt ein Kind einen vermeidbaren Tod.
Das Motto lautet: Wasser und Gesundheit für alle.
Brot für die Welt, Bayern München, Fußballstars aus
Afrika und viele andere Organisationen machen im
WM-Jahr 2010 mobil für das Menschenrecht auf Wasser
und sanitäre Grundversorgung.
Wenn ich heute darüber nachdenke, wenn ich mir die
hygienische Situation vieler Kinder vor Augen führe,
wird mir ganz anders. Heute vor 22 Jahren ist nicht nur
die EM eröffnet worden, ich bin an diesem Tag auch
zum ersten Mal Vater geworden.
({0})
Ich bin inzwischen vierfacher Vater.
({1})
Ich bitte, die Beifallsbekundungen jetzt ein bisschen
in Grenzen zu halten. Ich fürchte, daraus werden hinterher noch geschäftsordnungsrechtliche Ansprüche, die
bei entsprechenden Debatten eingelöst werden müssen.
({0})
Trotzdem danke. - Ich habe mir in Bezug auf meine
inzwischen vier Kinder über einen Zugang zu sauberem
Wasser nie Gedanken machen müssen. Das ist ein Vorrecht angesichts der Zahlen, die wir immer wieder hören.
Die Anerkennung eines Menschenrechts auf sauberes
Wasser, auf Trinkwasser, ist heute Abend Thema. Etwa
900 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 2,5 Milliarden Menschen verfügen
über keine ausreichende Sanitärversorgung; das haben
wir gerade gehört. Täglich sterben 5 000 Kinder an
Durchfallerkrankungen, die meist durch verunreinigtes
Wasser und fehlende Sanitäranlagen ausgelöst werden.
In Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention ist der Zugang zu Trinkwasser im Rahmen des Rechtes von Kindern auf Gesundheit geregelt. Die Millenniumsentwicklungsziele sehen vor, dass der Anteil der Bevölkerung
ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und grundlegender Sanitärversorgung bis 2015 halbiert werden soll.
Was wurde bis jetzt erreicht? Seit 1990 haben 1,6 Milliarden Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser erhalten. Hält dieser Trend an, kann bis 2015 das Zwischenziel, dass der Anteil der Bevölkerung ohne Zugang
zu sauberem Trinkwasser halbiert wird, erreicht werden.
Bei der Sanitärversorgung sieht es schlechter aus. Seit
1990 ist der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zu Sanitärversorgung hat, zwar von 49 auf 59 Prozent gestiegen, aber bis 2015 einen Anteil von 75 Prozent zu erreichen, ist im Moment nicht realistisch.
Für den Zeitraum 2005 bis 2015 haben die Vereinten
Nationen eine Wasserdekade, „Water for Life“, ausgerufen. Das BMZ unterstützt dies durch die Förderung der
Aktivitäten von UN-Water. Ich weiß - ich war vor wenigen Wochen in Uganda -, dass auch die GTZ an vielen
Stellen den Zugang zu Wasser als oberste Priorität gesetzt hat.
In dem heute vorliegenden Antrag wird die Bundesregierung von Ihnen aufgefordert, sich im Europäischen
Rat, im Rat der Europäischen Union und im Ausschuss
der Ständigen Vertreter immer wieder für die Anerkennung dieses Menschenrechts einzusetzen. Dieser Standpunkt hat unsere Zustimmung. Die Forderung, sich dafür
einzusetzen, dass die nachfolgende belgische Ratspräsidentschaft diesen Schwerpunkt weiterhin setzt, hat ebenfalls unsere Zustimmung. Die Forderung, sich im Ministerkomitee des Europarates für die Anerkennung dieses
Menschenrechts einzusetzen, ist in gewisser Weise überflüssig; denn das ist bereits der Fall. Am 22. März 2010
hat Catherine Ashton das sehr deutlich erklärt. Der vierten Forderung, sich für einen Allgemeinen Kommentar
des VN-Menschenrechtskomitees zur Sanitärversorgung einzusetzen, kann man auch zustimmen.
Wir haben ein Problem damit - mein Kollege wird
bestimmt noch genauer darauf eingehen -, sich für die
Kodifizierung in einem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt
einzusetzen. Ich möchte einen Satz dazu sagen:
Einer ausdrücklichen Kodifizierung …, etwa in
Form einer Konvention, bedarf es deshalb aus Sicht
der Bundesregierung in juristischer Hinsicht nicht
mehr.
Das war eine Antwort auf eine Kleine Anfrage, die
Sie gestellt haben.
Unsere Position als CDU: Wir und ich persönlich finden diese Debatte sehr richtig. Wir finden es klasse, zu
diesem Zeitpunkt, kurz vor der WM - wir haben nachher
noch eine Debatte, die auch mit der WM zusammenhängt -, dem Thema Priorität zu geben und es sehr hoch
zu hängen, den Fokus der Weltöffentlichkeit darauf zu
richten.
Wir haben aber ein Problem damit, dass in Ihrem Antrag ein paar Forderungen stehen, die so schon erfüllt
sind, und dass verzögernde Aufforderungen statt konkreter Schritte genannt werden. Als Antwort sagen wir: Wir
wollen zu diesem Thema selbst einen Antrag einbringen;
er entsteht in diesen Tagen. Außerdem arbeiten wir an
einem Antrag zu den Millenniumszielen, der sich natürlich mit sehr vielem, was schon gesagt wurde, überschneidet; das habe ich gerade deutlich gemacht. Uns
geht es allerdings um etwas mehr Klärung.
Wichtig für uns ist - damit komme ich zum Ende -,
dass die öffentliche Wahrnehmung dieses Themas erhöht
wird und dass eine Bewusstseinsschärfung stattfindet.
Ich bin froh über die Aktion im Zusammenhang mit dem
Fußballclub WASH United und bitte dafür um Unterstützung. Ich bin auch dankbar für die Thematisierung in
diesem Haus. Wir sollten aber noch weiter voranschreiten. Auch dabei bitten wir um Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ullrich Meßmer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ban Ki-moon, Generalsekretär der Vereinten Nationen, hat den Satz geprägt: Wasser
ist Frieden. - Das hört sich im ersten Moment vielleicht
sehr pathetisch an, gerade angesichts dieser Diskussion
in diesem Haus, in dem der Zugang zu Wasser für die
Menschen gesichert ist. Das, was bei uns Alltag ist, ist
allerdings nicht für alle Menschen auf der Welt und
schon gar nicht für alle Kinder eine Selbstverständlichkeit; darauf ist schon hingewiesen worden.
Auch wenn heute in der Schule gelehrt wird und jedes
Kind weiß, wie wichtig Wasser als Lebensgrundlage ist,
wissen wir auch: Das ist es nicht für alle Menschen. Im
vorliegenden Antrag der Grünen - Herr Kollege
Heinrich, ich würde die Hoffnung, dass wir es schaffen,
einen interfraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen,
nicht aufgeben; schließlich geht dieses Thema uns alle
an - wird der Blick darauf gelenkt, dass das Thema Wasser hochpolitisch ist. Denn ohne Wasser gibt es keine
Nahrung und damit auch keine wirtschaftliche Entwicklung. Wo keine wirtschaftliche Entwicklung ist, bleibt
der Wohlstand fern, gibt es keine Gesundheit, und damit
- in einem der vorigen Tagesordnungspunkte ging es um
ein ähnliches Thema - geht auch die politische Stabilität
in der Welt verloren. Angesichts der Zahl von Menschen, überwiegend Kindern, um die es geht, ist es zwingend notwendig, den Zugang zu sauberem Trinkwasser
und vor allen Dingen ausreichender Sanitärversorgung
als Menschenrecht zu verankern.
({0})
Ich möchte deutlich machen: Dazu gehört auch, dass
Freiheitsrechte immer nur dann möglich sind, wenn sie
auch Sicherheit bieten. Menschenrechte, meine Damen
und Herren, müssen stets in ihrer Gesamtheit verwirklicht sein. Die Umsetzung von Freiheitsrechten ist nicht
möglich, wenn nicht gleichzeitig auch das Recht auf
Nahrung verwirklicht wird, und Ernährungssicherheit
funktioniert niemals ohne sauberes Trinkwasser und sanitäre Versorgung.
Weil ich mich in der Vorbereitung umfassend informiert habe, erlaube ich mir, noch einmal zu zitieren.
Albert Einstein hat einmal gesagt:
Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf
um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei
dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist.
Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Untergang der Gesellschaft bedeuten.
Ich kann für meine Fraktion begrüßen, dass der Antrag
zur Weiterentwicklung des Menschenrechts auf sauberes
Trinkwasser und Sanitärversorgung gestellt ist. Ich
hoffe, dass er in der nächsten Beratung breite Unterstützung und Zustimmung finden wird.
({1})
Was die Ausgangslage angeht, kann man feststellen,
dass viele Experten, vor allen Dingen Experten der Vereinten Nationen, auf die Bedeutung dieses Menschenrechts hingewiesen haben.
Was ich dabei vor allen Dingen wichtig finde, ist die
Rolle, die sie der Europäischen Union zumessen. Sie erwarten, dass die EU als supranationale Organisation ihren politischen Einfluss auf andere Akteure in Nationalstaaten, aber auch in nichtstaatlichen Einrichtungen
geltend macht. Deshalb ist es notwendig, auch deutlich
zu machen, dass die Diskussion über das Thema Wasser
allein nicht ausreicht, weil die Themen Wasser und Sanitärversorgung zwingend zusammengehören.
Spanien hat das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung bereits anerkannt und
zum Schwerpunkt seiner EU-Ratspräsidentschaft gemacht. Dies ist ein positives Signal. Aber längst nicht
alle EU-Staaten betrachten diesen Zugang als Menschenrecht. Die Tschechische Republik geht zum Beispiel davon aus, dass es sich hierbei vielmehr um ein
Grundbedürfnis handelt.
Ein Grundbedürfnis - das ist eben vom Kollegen
Koenigs schon gesagt worden - ist im internationalen
Recht und auch in der internationalen Wirkung aber etwas anderes. Menschenrechte stehen als unveräußerliche, unteilbare und universelle Normen fest, und vor allen Dingen - das halte ich für wichtig - haben die
Menschen einen individuellen Anspruch auf Einhaltung
der Menschenrechte gegenüber ihrem jeweiligen Staat
und ihren staatlichen Einrichtungen. Allein schon deshalb wäre es wichtig, dass die Staaten klare und unumstößliche Verpflichtungen erhalten.
({2})
Dazu gehört, das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung in dem jeweils eigenen
Land zu achten und zu erfüllen. Es gehört ebenfalls
dazu, das Menschenrecht auch in anderen Ländern zu
achten und die Erfüllung auch in anderen Ländern einzufordern. Vor allen Dingen muss sichergestellt werden,
dass Verletzungen dieses Menschenrechts vorgebeugt
wird. Ich sage ausdrücklich dazu: Vor allen Dingen muss
auch darauf geachtet werden, dass nichtstaatliche Akteure zur Einhaltung des Menschenrechts auf sauberes
Trinkwasser und Sanitärversorgung verpflichtet sind;
denn auch sie haben dort, wo sie tätig sind, eine Verantwortung für die Menschen.
({3})
- Gerade wurde „BP“ gerufen; das ist ein gutes Beispiel.
Deshalb haben die Vereinten Nationen dieses Menschenrecht bereits in mehreren Verträgen aufgegriffen,
zum Beispiel in dem VN-Übereinkommen zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der Frau, in
der VN-Kinderrechtskonvention und im Allgemeinen
Kommentar Nr. 15 des VN-Menschenrechtskomitees
zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte. Nach wie vor fehlt allerdings die
Behandlung der Sanitärversorgung im Allgemeinen
Kommentar Nr. 15. Außerdem steht natürlich - das ist
eben schon angesprochen worden, aber ich denke, über
diese Frage sollten wir auch weiter beraten - die Kodifizierung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung in einem Zusatzprotokoll zum
Sozialpakt noch aus. Ich meine, auch hier sollten wir
nicht daran gehindert sein, zu versuchen, zu gemeinsamen Positionen zu kommen.
({4})
Für mich und meine Fraktion ist es allerdings auch
sehr wichtig, dass gerade unsere Bundesregierung ihre
Vorreiterrolle auf den Ebenen der Vereinten Nationen
und der EU behält und ausweitet. Es wird in Zukunft
wichtig sein, dass die EU hier mit einer Stimme spricht,
damit sie als Vorreiter und gleichzeitig auch als Bezugspunkt für andere Staaten dienen kann.
Meine Damen und Herren, mit der Unterstützung der
Regierung für die Erreichung dieser Ziele kann Europa
einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung vorangetrieben und die Trinkwasser- und Sanitärversorgung weltweit verbessert und
vor allem gerechter gestaltet wird. Das sind Aufgaben,
denen es sich zuzuwenden lohnt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht nur in
Europa, sondern in der ganzen Welt gehört werden,
wenn wir die Anerkennung dieses Menschenrechts aus
diesem Parlament heraus betreiben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt Zusammenhänge, die sich nicht unbedingt auf den
ersten Blick erschließen. Jeder und jede von uns weiß,
dass Bildung und eine gute Ausbildung die Voraussetzung für individuelle Chancen und individuelle Entwicklung sind. Jeder und jede weiß freilich auch, dass eine
fundierte Bildung und Ausbildung auch die Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand einer Gesellschaft sind. Das gilt in Deutschland, in
Europa, aber auch weltweit. Es gilt auch insbesondere in
den ärmsten Gegenden der Welt.
Diesen Zusammenhang kennt, wie man so schön sagt,
jedes Kind. Aber kaum einer weiß, dass man, wenn man
alle Tage zusammenzählt, an denen Kinder wegen Durchfallerkrankungen nicht in die Schule gehen können, auf
die unvorstellbare Summe von 400 Millionen Fehltagen
kommt. Das sind 400 Millionen Tage Schulausfall weltweit wegen Durchfallerkrankungen.
Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Ursache für
viele Durchfallerkrankungen verunreinigtes Trinkwasser
und mangelnde sanitäre Versorgung sind, dann wird mit
einem Mal ein Zusammenhang sichtbar, den man auf
den ersten Blick vielleicht nicht gesehen hat. Deshalb ist
es gut, dass wir uns in Fragen des Einsatzes für Menschenrechte, der Außenpolitik und der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit und Entwicklungen nicht im KleinKlein vieler aufeinander unabgestimmter Projekte verlieren, sondern dass wir unseren Verstand bemühen und
eine kluge, aufeinander abgestimmte, in sich stringente
und damit effiziente Politik verfolgen, wie sie Dirk
Niebel und Guido Westerwelle gemeinsam begonnen haben, die den Zusammenhang von Ursache und Wirkung
kennt und deshalb aus jedem Mitteleinsatz den maximalen Nutzen für die betroffenen Menschen generiert.
({0})
Es ist deshalb auch kein Wunder, dass das Engagement für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung in dieser Bundesregierung, die es
sich zum Kernziel gemacht hat, eine stringente und aufeinander abgestimmte Außenpolitik und Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung zu verfolgen, eine so bedeutende Stellung einnimmt.
Dirk Niebel und Guido Westerwelle haben anlässlich
des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im letzten Jahr das
Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und angemessene Sanitärversorgung als zentrales Element ihrer Politik
genannt. Denn die Verwirklichung dieses Menschenrechts
ist die Grundlage für viele weitere Entwicklungsschritte
in vielen Gegenden der Welt, wie ich zu Beginn meiner
Rede am Beispiel des Zusammenhangs von Bildungserfolg und Trinkwasserversorgung aufgezeigt habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Sie fordern in Ihrem vorliegenden
Antrag beispielsweise, dass sich die Bundesregierung
auf europäischer Ebene stärker für die Anerkennung des
Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung einsetzt. Vielleicht übersehen Sie dabei, dass
die Bundesregierung das bereits erfolgreich tut. So behält beispielsweise die Bundesregierung zusammen mit
der spanischen Regierung als Doppelspitze die Federführung beim Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung auf europäischer Ebene.
Sodann fordern Sie in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, sich um eine Kodifizierung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung
in einem Zusatzprotokoll zum Sozialpakt zu bemühen.
Der Kollege Frank Heinrich hat bereits die Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage Ihrer Fraktion
zitiert, in der die Bundesregierung darauf hinweist, dass
die Kodifizierung des Menschenrechts auf Wasser und
Sanitärversorgung in Form einer Konvention in juristischer Hinsicht nicht nötig ist. Denn deutlich genug lässt
sich das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und
Sanitärversorgung bereits aus den bestehenden Texten
ableiten.
Worauf es viel eher ankommen muss, ist, dass wir
zum einen für die Umsetzung dieses Menschenrechts
weltweit werben. Das tut die Bundesregierung. Sie unterstützt die Arbeit der Unabhängigen Expertin der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf sauberes
Trinkwasser und Sanitärversorgung, die diesem Menschenrecht eine hörbare Stimme gibt. Sie engagiert sich
auf europäischer Ebene für die Schaffung einer Freundesgruppe aus mehreren Staaten, die sich in ihrer Region
als Multiplikatoren für dieses Menschenrecht engagieren
wollen.
Zum anderen kommt es aber vor allem darauf an, dass
wir tatkräftigen Anteil an der Lösung des Problems haben. Allein südlich der Sahara werden durch das Engagement der Bundesregierung bis 2015 circa 30 Millionen
Menschen Zugang zu Trinkwasser und Sanitärversorgung erhalten.
Außerdem - auch darauf wurde in dieser Debatte
schon hingewiesen - fördert die Bundesregierung die
Initiative „WASH United“, die während der Fußballweltmeisterschaft in acht Ländern Afrikas über Bestehen
und Inhalt des Menschenrechts auf Wasser und Sanitärversorgung und Hygieneerfordernisse aufklärt.
Wir als Parlamentarier der christlich-liberalen Regierungskoalition werden die Regierung bei ihren Bemühungen für die Verwirklichung des Menschenrechts auf
sauberes Trinkwasser und eine angemessene Sanitärversorgung unterstützen sowie die erforderlichen Schritte
prüfen und miteinander gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ohne
Wasser kein Leben“ lautet eine alte Wahrheit. Heute
müsste es heißen: Ohne Zugang zu sauberem Wasser
und sanitärer Grundversorgung gibt es kein würdevolles
Leben. Dennoch trinken mehr als 1 Milliarde Menschen
aus verschmutzten Quellen.
Aber was bedeutet das im Lebensalltag von Menschen? - Auf dem Land bedeutet es, erst einmal eine
halbe Stunde aus dem Dorf heraus zu laufen, um sich hinter irgendeinen Busch zu hocken. Für Frauen bedeutet es,
sich der Gefahr von sexuellen Übergriffen auszusetzen.
Für viele Mädchen und Frauen bedeutet es, dass sie sich
aufgrund mangelnder Privatsphäre und Scham nirgendwo
erleichtern können und krank werden. Viele Mädchen besuchen mangels eigener Toilette keine Schule.
In Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, greifen viele
Menschen mangels Toiletten auf die einfachsten Mittel
zurück, etwa die „fliegende Toilette“. Man macht in eine
Plastiktüte und wirft sie dann auf der Straße weg. Alle
20 Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfachen Erkrankungen wie Durchfall. Dies alles sind unhaltbare Zustände. Die reichen Industriestaaten sind aufgefordert, viel mehr zu tun.
({0})
Denn vom Erreichen des UN-Millenniumsziels, die
Zahl der Menschen ohne Zugang zu Wasser und Abwasserentsorgung zu halbieren, sind wir meilenweit entfernt.
Dafür müsste pro Sekunde mehr als eine Toilette gebaut
werden.
Ein sehr deutliches Beispiel für lebensbedrohliche
Wasserprobleme ist die Situation der Menschen in Gaza
und der Westbank. Der Salzgehalt im Trinkwasser ist im
Gazastreifen mittlerweile gesundheitsgefährdend hoch.
Die von Israel errichtete Mauer in der Westbank verhindert den Zugang von Palästinensern zu Wasserquellen.
Es ist ihnen verboten, auf ihrem eigenen Land neue
Brunnen zu bauen oder alte zu reparieren.
Israel hat zusätzlich durch seinen extremen Wasserverbrauch drastisch zum Absinken des Grundwasserspiegels beigetragen. Ein weiteres Beispiel hat der Kollege Herr Haibach heute schon zu Gaza genannt: Zurzeit
versucht die GTZ, in Gaza eine Kläranlage zu bauen.
Doch auch das kann nicht funktionieren, weil Israel die
Einfuhr von Bauteilen verbietet und die Abwassersituation damit verschärft.
Als Besatzungsmacht ist Israel völkerrechtlich zur
Versorgung der palästinensischen Bevölkerung verpflichtet. Diese Verpflichtung wird von Israel aber vollkommen missachtet. Dabei stünde es Israel gut zu Gesicht, die Menschenrechte, auch das Recht auf Wasser,
endlich zu achten.
({1})
Dennoch denkt Entwicklungsminister Niebel öffentlich über trilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Israel nach. Warum gerade Israel als Experte für Wasserfragen in Entwicklungsprojekten herangezogen werden
soll, ist mir unbegreiflich, denn es honoriert die Menschenrechtsverletzungen.
({2})
Der Antrag der Grünen greift vor allem die Anerkennung des Menschenrechts auf Wasser und auf sanitäre
Grundversorgung in allen EU-Ländern auf. Das ist lobenswert, und deshalb werden wir dem Antrag heute zustimmen.
Aber es muss auch die Frage gestellt werden, was die
Ursache dafür ist, dass weltweit jeder fünfte Mensch keinen Zugang zu sauberem Wasser hat. Denn es gibt genügend Wasser auf der Erde. Ob es jedoch sauber und
trinkbar ist und wie es verteilt wird, hängt von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen ab. Denn
Wasser wird weltweit von Firmen durch Ölbohrungen
verseucht. Es wird den armen Menschen durch Anstauung und Bewässerungsprojekte vorenthalten.
Warum haben circa 40 Prozent der Weltbevölkerung
keine hygienischen Toiletten und erst recht keinen Abwasseranschluss, wenn es Konzepte für dezentrale und
technisch einfache Lösungen sehr wohl gibt?
({3})
Hier geht es um den politischen Willen zu strukturellen
Veränderungen und darum, dass Menschenrechte über
Profiten zu stehen haben.
In der letzten Wahlperiode haben Sie von der FDP
dem Antrag der Grünen auf Verbesserung der sanitären
Grundversorgung zugestimmt. Dass Sie dies heute aus
koalitionstaktischen Gründen nicht tun, ist wirklich
schade.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Movassat, so ganz habe ich Ihre Rede nicht verstanden.
({0})
Daran, dass Sie am Ende immer wieder Israel kritisieren,
haben wir uns inzwischen gewöhnt. Israel scheint grundsätzlich an allem Schlimmen schuldig zu sein, das auf
dieser Welt passiert. Das ist der eine Punkt.
({1})
Der andere Punkt ist: Wir überweisen den zur Diskussion stehenden Antrag. Wir diskutieren heute darüber
zum ersten Mal. Wir werden heute noch gar keine Entscheidung fällen. Bleiben Sie also ganz ruhig und entspannt, und schauen Sie, was im weiteren Verlauf des
parlamentarischen Verfahrens passiert!
Es gibt durchaus Schnittmengen. Vieles, was der von
Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag enthält, ist
unterstützenswert. Ich glaube aber, dass es einige Aspekte gibt, die leider übersehen worden sind. Wenn wir
über die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes
Trinkwasser reden, dann müssen wir auch darüber reden,
welche politische, strategische und taktische Bedeutung
Wasser inzwischen gewonnen hat. Wir haben in der letzten Legislaturperiode im Deutschen Bundestag oft über
den Ilisu-Staudamm in der Türkei diskutiert, nicht nur
weil dieses Projekt in irgendeiner Form für uns wichtig
ist, sondern weil die Frage, dass man, wenn man in einem Land das Wasser aufstaut, dabei anderen Ländern
das Wasser abgräbt, hoch politisch ist. Wenn wir über
die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes
Trinkwasser reden, müssen wir auch über solche Punkte
diskutieren.
({2})
Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels, den
wir derzeit erleben, ist es wichtig, daran zu erinnern,
dass Wasser eine wichtige Ressource ist und dass diese
Ressource in Zukunft - vermutlich noch mehr als heute ein Ausgangspunkt für Konflikte sein wird.
({3})
Wir werden Konflikte in vielen Regionen dieser Welt erleben, die wegen Wasser geführt werden. Wasser hat
eine unglaublich hilfreiche, aber auch zerstörerische
Kraft.
Herr Kollege Movassat, natürlich haben Sie recht,
wenn Sie sagen, dass die reichen Industriestaaten ihre
Aufgabe erfüllen müssen. Ich glaube aber, dass man ausgerechnet Deutschland nicht den Vorwurf machen kann,
wir täten es nicht; denn neben der Anerkennung des
Menschenrechts auf Zugang zu sauberem Wasser ist die
entscheidende Frage, was man daraus ableitet. Daraus
muss abgeleitet werden, dass man durch das eigene politische Handeln dafür sorgt, dass der Zugang gewährt
wird. Auf die Folgen zum Beispiel für die Millennium
Development Goals oder die Mütter- und Kindersterblichkeit ist schon hingewiesen worden. Aber gerade an
dieser Stelle - ich finde, das könnte man auch sagen,
wenn man ständig kritisiert - macht Deutschland seine
Aufgabe sehr gut.
Deutschland ist im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit über 350 Millionen Euro im Jahr der drittgrößte Geber, wenn es um den Zugang zu sauberem
Trinkwasser geht. Herr Movassat, wir sitzen im gleichen
Ausschuss. Das wissen Sie genauso gut wie ich und hätten Sie auch sagen können. Es tut mir leid, dass das nicht
in Ihr Bild passt. Dann muss ich es eben sagen.
({4})
40 Prozent dieser Gelder fließen nach Afrika. In insgesamt 60 Ländern ist Deutschland im Wassersektor aktiv.
In 28 Ländern ist das ein Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit. Das heißt, wir haben es hier mit
einem Punkt zu tun, der nicht nur in der menschenrechtlichen, sondern auch in der entwicklungspolitischen Debatte in Deutschland und im entwicklungspolitischen
Handeln sowohl dieser Bundesregierung als auch der
Vorgängerregierung eine sehr große und entscheidende
Rolle spielt bzw. gespielt hat.
Herr Movassat, Sie haben gefragt, warum ausgerechnet Israel eine besondere Rolle spielen soll, wenn es um
trilaterale Kooperationen geht. - Wenn Sie mir zuhören,
kann ich es Ihnen vielleicht erklären
({5})
- Ja, das ist mir klar. Deswegen hat er Dinge behauptet,
die so nicht stimmen.
Warum also ausgerechnet Israel, wenn es um multilaterale Kooperationen im Bereich Wasser geht? Ganz einfach: Israel hat eine sehr große Erfahrung und eine sehr
große Kompetenz in diesem Bereich. Wir führen zusammen mit Israel in Afrika ein Projekt auf dem Gebiet der
trilateralen Kooperation durch. Israel hat nämlich viel
Erfahrung damit, wie man in Gebieten mit großer Trockenheit ein kompliziertes Problem wie das der Bewässerung vernünftig lösen kann.
({6})
- Diese Debatte haben wir heute Mittag geführt, Herr
Dehm. Ich glaube, ich habe heute Mittag ganz deutlich
gesagt, was ich davon halte. Ich finde, man darf das eine
mit dem anderen nicht vermischen. Es geht darum, wo
man am besten Effekte erzielen kann. Wenn Sie wie ich
an vielen Tagungen teilgenommen und sich mit dieser
Frage beschäftigt hätten, dann würden Sie wissen, dass
es in Israel, auf der Seite der Palästinenser oder der Jordanier und anderenorts in der Region viele Experten
gibt, die wissen, dass die Frage des Wassers entscheidend ist für Krieg und Frieden. All diese Experten wissen ebenfalls, dass es nationale Alleingänge an dieser
Stelle nicht gibt. Dass die israelische Politik zurzeit vielleicht nicht so ist, wie wir sie gern hätten, entbindet uns
doch nicht von dem Versuch, etwas dafür zu tun, dass
die Wasserproblematik - Wasser ist ein verbindendes
Element - regional gelöst wird; anders kann sie nicht gelöst werden. Ich halte eine billige Israel-Kritik an dieser
Stelle, ehrlich gesagt, für intellektuell ziemlich überschaubar.
({7})
Ich finde, wir sollten uns eher konkret an das halten,
was der Antrag, den Bündnis 90/Die Grünen uns heute
hier vorgelegt haben, beinhaltet.
({8})
Ich verweise aber auch auf die Punkte, die ich darüber
hinaus erwähnt habe. Wir sollten versuchen, eine sachliche Debatte über ein extrem wichtiges Thema zu führen;
denn dieses Thema ist es auf jeden Fall wert.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1779 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 bis 9 auf:
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Einen effizienten und schlagkräftigen Europäischen Auswärtigen Dienst schaffen
- Drucksache 17/1981 ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten
- Drucksachen 17/1204, 17/2012 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dietmar Nietan
Michael Link ({2})
Manuel Sarrazin
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether
Dehm, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu dem Entwurf eines Beschlusses des Rates
über die Organisation und die Arbeitsweise
des Europäischen Auswärtigen Dienstes und
zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung ({3}) Nr. 1605/
2002 des Rates über die Haushaltsordnung für
den Gesamthaushaltsplan der Europäischen
Gemeinschaft in Bezug auf den Europäischen
Auswärtigen Dienst
Ratsdok. 8029/10 und KOM({4}) 85 endg.,
Ratsdok. 8134/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Den Europäischen Auswärtigen Dienst entmilitarisieren
- Drucksache 17/1976 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Roderich Kiesewetter von
der CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
10. Juni 1979 wurde um diese Zeit die erste Europawahl
ausgezählt. Da schwitzte man nicht in Berlin bei 30 Grad
Celsius, sondern bei den Auszählungen der ersten Wahlen
zum Europäischen Parlament. Damals war die Bevölkerung der Mitgliedstaaten aufgerufen, das erste Europäische
Parlament zu wählen. Heute, 31 Jahre später, sprechen wir
über die Außendarstellung, über die Außenrepräsentanz,
über die Außenpolitik der Europäischen Union. Das ist
ein Riesenfortschritt innerhalb einer Generation und Ausdruck der Bewältigung schwierigen Zusammenwirkens
der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft.
({0})
Der Europäische Auswärtige Dienst ist natürlich ein
ganz besonders innovatives Element im Bereich der Europäischen Union. Die Schaffung dieser Institution ist
die wichtigste verbliebene Umsetzung dessen, was mit
dem Vertrag von Lissabon vereinbart worden ist. Der
Bundestag begleitet die Diskussion über die europäische
Außendarstellung seit dem Konvent von 2002. Wir haRoderich Kiesewetter
ben uns seit Jahresbeginn im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wie auch im Auswärtigen Ausschuss intensiv damit auseinandergesetzt. Am
26. April gab es die Ratseinigung. Unsere heutige Befassung ist auch darin begründet, dass man das Ziel hat,
nächste Woche die politische Einigung im Europaparlament herzustellen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Staatsminister Hoyer,
der beiden Ausschüssen stets umfassend Rede und Antwort stand, sehr herzlich für die immer zeitnahen Informationen danken.
({1})
- Auch Herr Sarrazin hat viele Fragen gestellt, und Herr
Staatsminister Hoyer hat immer intensiv Antwort gegeben.
Es sind noch drei wesentliche Rechtsakte zu verhandeln: das Personalstatut, die Haushaltsordnung und der
Haushalt des EAD. Die Einigung soll, wenn möglich,
noch unter spanischer Präsidentschaft erfolgen.
Worum geht es eigentlich? Warum haben wir unseren
Antrag gestellt? Was sind unsere Kernforderungen? Wir
möchten natürlich, dass das Europäische Parlament intensiv beteiligt wird. Wir brauchen die parlamentarische
Kontrolle des Europäischen Auswärtigen Dienstes, nicht
nur in Haushaltsfragen, aber insbesondere dort. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir in Europa
stehen - ich nenne einige: Klimaschutz, Energiepolitik,
Nichtverbreitung, Menschenrechte, Terrorismus, organisierte Kriminalität, entwicklungspolitische Fragen -, brauchen wir einen klaren Dialog über die außenpolitischen
Prioritäten. Deshalb fordern wir dies auch ausdrücklich in
unserem Antrag. Die neuen großen Herausforderungen
müssen in eine Priorisierung gebracht werden.
Des Weiteren geht es uns - das unterscheidet unseren
Antrag sehr deutlich vom Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen - um die institutionelle Ausgestaltung der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir dürfen nicht neue bürokratische Strukturen schaffen, eine
extra Generaldirektion, sondern wir müssen schauen,
dass wir einen schlanken europäischen Dienst schaffen.
Es gilt der Primat der Politik. Gerade bei den sicherheitspolitischen Fragen, die das Militär betreffen, gilt der
Bundestagsvorbehalt. Ich halte es für ganz wichtig, dass
wir nicht nur in Deutschland einen ganzheitlich vernetzten Sicherheitsbegriff fordern, sondern einen solchen
auch praktizieren, wenn wir die Chance dazu haben. Das
tun wir, indem wir Krisenprävention und frühzeitige Krisenerkennung im Europäischen Auswärtigen Dienst ermöglichen sowie zivile und militärische Fähigkeiten zusammenbinden. Wer anders als die Zivilmacht der EU
kann das leisten? Ich glaube, das ist ein ganz besonderer
Fortschritt. Ich weiß noch, wie vor zehn Jahren die ersten Soldaten im EU-Militärstab wie weiße Raben betrachtet wurden. Heute sind sie - ich möchte nicht sagen:
unter kontrollierter Aufsicht - in die entsprechenden
Strukturen sehr eng eingebunden.
Uns geht es darum, dass es nicht zu Duplizierungen
von Fähigkeiten kommt. Was meine ich damit? Es geht
uns darum, dass wir die Expertise der bilateralen Zusammenarbeit mit den Drittstaaten zusammenfassen, die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Länderreferate, die Themen- und Länderorientierung zusammenbringen. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Des
Weiteren fordern wir, dass die Vertretungen der Europäischen Union in Drittstaaten - sprich: mit längerfristigem
Blick die konsularischen Vertretungen, aber auch die Delegationen selbst - Teil des EAD werden.
Wir brauchen eine starke Führung des Europäischen
Auswärtigen Dienstes. Sie erfolgt dadurch, dass die
Hohe Vertreterin nicht nur Weisungsrecht haben soll,
sondern auch bei der Personalauswahl die entscheidende
Hürde darstellen soll. Wir wissen: Die Hohe Vertreterin
hat drei Hüte auf. Sie ist Vorsitzende des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, Vizepräsidentin der Kommission und die Telefonnummer, die Kissinger immer gefordert hat: der europäische Außenminister.
Hierbei brauchen wir eine politische Vertretung.
Diese politische Vertretung, die nicht nur das Europäische Parlament fordert, muss erst einmal implementiert
werden. Für uns ist es ganz wichtig, dass wir diese Einrichtungen dann nicht als gegeben hinnehmen, sondern
unsere Forderung, die wir im Antrag auch deutlich machen, lautet, dass der Europäische Auswärtige Dienst in
seinen Managementstrukturen, aber auch in der Frage
der politischen Vertretung durch die Hohe Vertreterin
zeitnah überprüft wird; Zwischenbericht im Jahr 2011.
Im Jahr 2013 möchten wir einen Sachstandsbericht haben und, wenn es sein muss, die notwendigen Anpassungen in den entsprechenden Verwaltungsstrukturen.
({2})
Das führt die außenpolitischen Fähigkeiten der Europäischen Union zusammen. Es geht uns um vernetzte Sicherheitspolitik. Es geht uns um vernünftige Personalpolitik. Ein Drittel der Angehörigen des Auswärtigen
Dienstes kommt aus den Mitgliedstaaten. Wir wollen, dass
hier ein Teamgeist herrscht - die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen drückt das mit „Esprit de Corps“ sehr vornehm
aus -, der zusammenschweißt und europäische Außenpolitik mit den Mitgliedstaaten ganz eng vernetzt. Ich
glaube, wir sind uns alle einig: Das ist eine ganz wesentliche Leistung in diesem Zusammenhang.
Natürlich geht es auch darum, die Entwicklungszusammenarbeit zu vernetzen, die in etwas anderen Strukturen stattfindet.
Ein letzter Punkt, der uns wichtig ist: Es geht um
Deutsch als Amtssprache. Wir haben seit langer Zeit
erstmals wieder eine solche klare Forderung in einem
Antrag. Es geht darum, dass im Europäischen Auswärtigen Dienst Deutsch als Amts- und Arbeitssprache in den
Entscheidungsvorlagen, aber auch in der Binnen- und
Außenkommunikation besonders gefördert werden soll.
({3})
Ich fasse zusammen: Wir möchten einen schlanken,
leistungsfähigen Europäischen Auswärtigen Dienst. Wir
möchten keine zusätzlichen Organisationsstrukturen wie
ein Generaldirektorat, sondern ganzheitliche, vernetzte
Zusammenarbeit. Diese Strukturen möchten wir erproben und zeitnah bewerten, um sie dann möglicherweise
anzupassen. Und wir brauchen Synergien, damit das erkennbar wird, was mit der europäischen Telefonnummer
für die Außenwirkung unserer großen Gemeinschaft mit
über 500 Millionen Einwohnern wirksam wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie
deshalb um Unterstützung für den Antrag der Regierungskoalition.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt Kollege Axel Schäfer von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Frage des Europäischen Auswärtigen Dienstes ist in einer Gemeinschaft, wie sie die EU darstellt, etwas ganz
Besonderes. Es ist das „Spezifische sui generis“. Das ist
mehr als ein Wortspiel, sondern es ist aus meiner Sicht
deshalb etwas Besonderes, weil wir mit den vergemeinschafteten zentralen Politikbereichen wie Wettbewerb,
Handel, Zölle und vor allen Dingen mit der Währung
- dem Euro - das große europäische Projekt des
21. Jahrhunderts haben. An ihm wird sich die Handlungsfähigkeit bzw. das gemeinsame Europa zeigen oder eben auch nicht.
In Bezug auf den Europäischen Auswärtigen Dienst
wird die Frage sein, ob dieser Wille vorhanden ist oder
ob man - statt eine Institution zu schaffen, die im
Dienste aller, nämlich des Rates, der Kommission und
des Europäischen Parlamentes, stehen muss - zu einer
Ausrichtung kommt, die zu sehr auf den Rat zugeschnitten ist.
Ich bin froh, dass die SPD-Fraktion als Erste dies thematisiert hat. Wir haben bereits vor mehreren Monaten
eine Kleine Anfrage mit insgesamt 38 Fragen gestellt. Es
ist gut, dass sich jetzt auch andere Fraktionen dazu positioniert haben. Dass CDU/CSU und FDP besonders spät
Stellung bezogen haben, ist ihre Sache.
Was die konkrete Ausgestaltung anbelangt: Wir müssen uns insbesondere auf die folgenden Punkte beschränken. Erstens brauchen wir einen politischen Gestaltungswillen vonseiten dieses Europäischen Auswärtigen
Dienstes. Das würde bedeuten, dass wir in einer globalisierten Welt handlungsfähig werden.
Wir brauchen zweitens eine strategische Ausrichtung,
wie wir in Europa mit diesem Instrument die Außenpolitik gestalten.
Drittens brauchen wir Personal, das den Zielen der
Europäischen Union loyal gegenübersteht.
Viertens ist dafür notwendig, dass wir eine entsprechende Grundlage für die Rekrutierung von Beschäftigten - auf der Basis von Leistung und Qualifikation schaffen.
Fünftens. Gleichzeitig werden wir ein hohes Maß an
Flexibilität bekommen. Wir brauchen das - mit gemeinsamen Ausbildungsmaßnahmen - auch zur Weiterentwicklung.
Sechstens muss es ein vernünftiges Rotationsverfahren des Personals zwischen dem Europäischen Auswärtigen Dienst, den nationalen Dienststellen sowie anderen
europäischen Institutionen geben. Dies wird, glaube ich,
zu einer Stärkung beitragen.
Natürlich gehört auch dazu, dass der Deutsche Bundestag laufend - und zwar intensiver als bisher - über
die weitere Entwicklung des Europäischen Auswärtigen
Dienstes informiert wird und dass wir dabei auch zu einer politischen Willensbildung kommen.
Es wird wichtig sein, dass wir im Zusammenwirken
von Europäischem Parlament und den nationalen Parlamenten - so wie das auch angelegt worden ist - zu Ergebnissen kommen, die darauf hinauslaufen, dass die
Rechte des Europäischen Parlaments in den jetzt anstehenden drei Entscheidungen voll zur Geltung kommen.
Das heißt, es muss deutlich sein, dass die Kompromisse,
die zustande kommen werden, die Rechte des Europäischen Parlaments wahren. Nur so kann dies meiner Ansicht nach gelingen.
({0})
Das Gelingen setzt voraus, dass wir von einem Punkt
Abschied nehmen. Ich hoffe, es gibt hier in diesem Haus
genügend überzeugte europäische Föderalisten, die das
im Kopf, aber auch im Herzen tragen. Wir müssen ein
Stück weit davon Abschied nehmen, dass die klassische
Außenpolitik etwas ist, was letztendlich als etwas sehr
Wichtiges noch beim Nationalstaat verbleiben muss, mit
allen Instrumenten, Symbolen und Personen. Vielmehr
sollte man wissen, dass dieses Gemeinsame in Europa
zum Ausdruck kommt; das heißt, das Ganze ist da mehr
als die Summe seiner Teile.
Das erfordert sowohl ein Stückchen Mut als auch die
Bereitschaft, an einigen Stellen auch in politischer Hinsicht das Herz über die Hürde zu werfen. Ich glaube, das
ist bei allen Außenministern der Fall, völlig unabhängig
von ihrer parteipolitischen Ausrichtung, weil wir wissen,
welche zentrale Rolle Außenpolitik spielt.
An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, weil uns
hier in diesem Hause vieles verbindet, uns aber an einigen Punkten manches auch trennt: Dazu gehört, dass wir
solche Debatten wie heute mit Blick auf die geneigten
Zuhörer zu einem solchen Zeitpunkt wie jetzt,
22.50 Uhr, nicht führen sollten.
({1})
- Ach, die Zuhörer. Wir sind ja die Beteiligten. Wir hören zwar auch zu, aber wir sind hier keine Zuhörer. Wir
sind die beteiligten Abgeordneten.
Das Folgende sage ich ausdrücklich an die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linkspartei: Der
Europaausschuss
({2})
hat, beginnend in der letzten Legislaturperiode, eine bestimmte Stilprägung vorgenommen, indem er Wert darauf legte, sich bei wichtigen Fragen zu verständigen
- gerade solchen, bei denen es um institutionelle Dinge,
aber auch um Verfahren und das Miteinander hier geht -,
ohne dass man inhaltlich alles glattbügelt. Wir haben es
als Einzige geschafft, mit fünf Fraktionen eine interinstitutionelle Vereinbarung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung hinzubekommen, die sogar stilbildend für andere Länder ist.
Dies ist auch in unseren Begleitgesetzen niedergelegt.
Wir haben es als Erste geschafft, Folgendes zu vereinbaren: Wenn es um die Kommission geht, machen wir
etwas ganz anderes, indem wir den designierten Kommissar einladen, damit er angehört wird. Das war ein
Antrag der SPD, der aber auch von CDU/CSU, FDP,
Grünen und von der Linkspartei unterstützt wurde.
Hierzu sage ich noch einmal ausdrücklich Dank an die
Beteiligten und auch an Günther Oettinger.
Wir haben es einvernehmlich geschafft, dass wir in
der Regel öffentlich tagen; das ist ein sehr großer Fortschritt. Es ist mir nicht erklärlich, dass wir heute Abend
eine Debatte zu diesem wichtigen Punkt um diese Zeit
führen müssen, zumal noch andere Debatten anstehen,
bei denen wir das in diesem Rahmen machen; das kann
man auch in der Öffentlichkeit überhaupt nicht transportieren.
({3})
Ich appelliere wirklich an Sie, dass wir uns auch aufgrund unseres Selbstverständnisses und unseres europäischen Engagements in Zukunft darauf verständigen,
({4})
dies so zu platzieren, dass alle ihr Recht haben und mit
ihren differenzierten Meinungen hier zur Geltung kommen, aber bitte füglich nicht mehr um 22.52 Uhr.
({5})
- Jetzt lobe ich die, die da sind. Vielen Dank noch einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es gibt auch andere wichtige Dinge. Wir haben nämlich - das war der Hauptkritikpunkt; entschuldigt, es ist
wirklich schon spät - heute die in dieser Legislaturperiode einzige Sitzung mit dem Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments. Die Teilnehmer daran sind jetzt seit 20 Uhr zusammen.
Eigentlich sollten wir bis 23 Uhr ebenfalls anwesend
sein, weil es dort Debatten mit Verfassungsrichtern, mit
Ministern usw. gibt. Dies war jetzt nicht kontinuierlich
möglich, weil auf dieser Debattenzeit beharrt wurde. Es
war meines Erachtens von der Sache her nicht richtig,
dass man dies so auseinanderreißt und die Möglichkeit
des Gesprächs mit den Kolleginnen und Kollegen des
Europäischen Parlaments nicht so nutzt, wie es gut gewesen wäre. Das sei an dieser Stelle auch gesagt. - Jetzt
ist meine Redezeit zu Ende; jetzt gibt es auch keine Zwischenfragen mehr.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Oliver Luksic von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
unserem Antrag wollen wir der Bundesregierung den
Rücken stärken, im Rat darauf hinzuwirken, dass der
EAD ein leistungsfähiges Instrument wird. Es ist wichtig, dass der Bundestag ein Signal nach Brüssel sendet,
um die Chance zu nutzen, den EAD offensiv mitzugestalten.
Der EAD soll dazu beitragen, dass die EU ihre außenpolitischen Interessen möglichst geschlossen, kohärent
und wirkungsvoll vertreten kann. Damit wird ein neues
Kapitel in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aufgeschlagen werden. Es handelt sich bei der
Einrichtung des EAD um einen wichtigen Meilenstein
der europäischen Integration.
({0})
Der EAD muss unserer Überzeugung nach eine starke
und eigenständige Institution sui generis sein. Die EU
wird im 21. Jahrhundert - das wurde eben zu Recht gesagt - außenpolitisch nur gehört werden können, wenn
sie mit einer Stimme spricht. Hierzu muss dem EAD und
der Hohen Vertreterin notwendigerweise eine starke
Rolle zukommen. Daher begrüßen wir ausdrücklich die
in diesem Zusammenhang getroffene Entscheidung für
die politische Vertretung der Hohen Vertreterin, die wir
für wichtig erachten.
Bei der Einrichtung des EAD betreten wir Neuland.
Deswegen wird es in Zukunft notwendig sein - das sagen wir auch in unserem Antrag -, seinen Aufbau und
seine Struktur auf Effektivität zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu justieren und anzupassen.
({1})
Wir wollen einen schlagkräftigen, effizienten EAD. Deswegen legen wir in unserem Antrag ein besonderes Augenmerk auf seinen Aufbau und die Leitungsstruktur.
Schwierig wird es insbesondere dann, wenn es zu Über4748
schneidungen mit den Zuständigkeiten der Europäischen
Kommission kommt. Hier muss ein einheitliches Auftreten gesichert sein. Ich glaube, dass hier gute Lösungen
gefunden werden. Das gilt etwa für die Frage der Delegationen der Europäischen Union, die grundsätzlich
integraler Teil des EAD werden sollen. Dabei müssen
geeignete Lösungen für die spezifischen Belange derjenigen Politikbereiche gefunden werden, für die die
Kommission originär zuständig ist, etwa Handel und Erweiterung.
Ich meine, die Hohe Vertreterin sollte in jedem Fall
die zentrale Rolle bei Weisungen an die Delegationen
spielen. Auch bei der Benennung der Delegationsleiter
soll die Hohe Vertreterin in Abstimmung mit der Kommission eine wichtige Rolle spielen.
Von besonderer Bedeutung ist es, dass mit der Einrichtung des EAD mittel- und langfristig ein Synergieeffekt erreicht wird. Deswegen gilt es, wo immer möglich, Doppelstrukturen in den Institutionen des EAD, des
Rats und der Kommission zu vermeiden.
({2})
Deren wirksame Zusammenarbeit sollte unserer Meinung nach in Form einer institutionalisierten politischen
Koordinierung sichergestellt werden, beispielsweise indem in einem Gremium die Hohe Vertreterin, die Leitungsebene des EAD und die entsprechenden EU-Kommissare zusammenkommen. Denn klar ist: Der EAD
muss das institutionelle Herzstück der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik werden. Deswegen ist es
wichtig, dass sowohl die Arbeitsstrukturen im Rahmen
des Krisenmanagements und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik als auch die Aspekte der
Entwicklungszusammenarbeit in den EAD eingebunden
werden. Hierdurch kommt es nicht zu einer Abkopplung
bzw. Verselbstständigung, was einige Kollegen der Linken immer kritisieren. Im Gegenteil: Indem wir die
zweite Säule in den EAD integrieren, haben wir mehr
demokratische Kontrolle in diesen Bereichen.
Wichtig ist, dass der EAD die Zuständigkeit für die
strategische Programmierung der einschlägigen Finanzinstrumente erhält und die Hohe Vertreterin eine entscheidende Rolle bei der Programmierung und Umsetzung des Haushalts der GASP und der kurzfristigen
Aspekte der Stabilitätsinstrumente einnimmt.
Die Synergieeffekte sollten meiner Meinung nach
mittel- und langfristig nicht nur auf die übrigen EU-Institutionen begrenzt bleiben, sondern auch die nationalen
auswärtigen Dienste umfassen. Dafür haben wir uns in
unserem Antrag explizit ausgesprochen. Es ist ein wichtiger Punkt, dass langfristig durch die Einrichtung der
Delegationen der Europäischen Union auch eine Ausübung konsularischer Tätigkeiten angestrebt werden
soll. Ich glaube, auch das ist ein wichtiger Impuls.
Lassen Sie mich abschließend einige Worte zur
Finanzierung des EAD sagen. Wir meinen, die Finanzierung des EAD muss von Anfang an auf soliden Füßen
stehen. Im Antrag ist vorgesehen, dass die Hohe Vertreterin und die Kommission vor Annahme des Beschlusses
zur Einrichtung des EAD einen Vorschlag für das Budget vorlegen sollen. Die Schaffung des EAD sollte dem
Grundsatz der Kosteneffizienz genügen. Haushaltsneutralität ist das Ziel, um eine Mehrbelastung für die nationalen Haushalte zu vermeiden. Vor allem muss der
Haushalt des EAD vollumfänglich der Kontrolle des
Europäischen Parlaments unterliegen.
Wir senden mit unserem Antrag ein Signal aus. Wir
stärken der Regierung den Rücken. Es ist wichtig - dies
wurde eben zu Recht gesagt -, dass der Initiative des
Außenministers, der deutschen Sprache eine angemessene Bedeutung im EAD zukommen zu lassen, Rechnung getragen wird.
Für uns ist klar, dass am Ende dieser Verhandlungen
der EAD nicht nur Gestalt angenommen haben soll, sondern die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der
EU darüber hinaus ein Gesicht bekommt, das der Bedeutung der EU in der Welt des 21. Jahrhunderts gerecht
wird. Ich glaube, dass der Bundestag mit der Verabschiedung unseres Antrages dazu ein kleines Stück beitragen
kann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Diether Dehm von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Axel Schäfer, die Koalition hat diesen Tagesordnungspunkt aufgesetzt. Uns ist Europa zu wichtig, als dass wir
eine Rede hierzu zu Protokoll geben.
({0})
Reden zu Militärfragen gehören im Übrigen nicht zu
Protokoll gegeben. Die Parlamentarier werden gut genug
bezahlt, auch noch um diese Uhrzeit die Regierung zu
kontrollieren.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
bezeichnend für Ihr Demokratieverständnis in militärischen Fragen ist, dass die Konsultationen mit dem Europäischen Parlament erst nach der politischen Weichenstellung im zuständigen Rat stattfinden werden und dass
auch den nationalen Parlamenten wichtige Dokumente
fehlen wie das von Baroness Ashton überarbeitete Organigramm zur personellen Ausgestaltung des EAD. Den
Vorschlag der Kommission zur Personalausstattung haben wir ebenso wenig wie den Haushaltsentwurf der
Kommission; der kommt erst am 15. Juni.
Ist der Antrag der Koalition Ihr Beitrag zu § 9 Abs. 1
des Zusammenarbeitsgesetzes? Wo ist die Aufforderung
zur Stellungnahme mit angemessener Zeitvorgabe? Meinen Sie, dass militärische Einigungen im Rat keiner vorherigen Stellungnahme des Bundestages unterliegen?
Wenn die Koalition überfallartig einen solchen Antrag
stellt, den wir erst gestern Nachmittag auf dem Rechner
hatten, ist das ein Versuch, das Zusammenarbeitsgesetz
und das Bundesverfassungsgericht ins Leere laufen zu
lassen.
({2})
Die gestrige Unterrichtung durch Staatsminister
Hoyer im Europaausschuss war - ich sage das vorsichtig; ich habe es im Europaausschuss etwas deutlicher gesagt - substanzarm. Auf meine schlichte Frage an Sie,
Herr Hoyer, wie viele Beschäftigte der EAD hat, kam
undurchsichtiger Zahlennebel. Zu der Frage, was es den
Steuerzahler kosten wird, gab es eine komplette Fehlanzeige. Wie sollen das deutsche und das Europäische Parlament unter diesen Voraussetzungen angemessen reagieren?
Im Schweinsgalopp will der Europäische Rat, assistiert von Kommission, High-Level-Group, Planungsund Arbeitsgruppe der Hohen Vertreterin und Bundesregierung, bereits am kommenden Montag im Rat die politische Einigung durchpeitschen. Die EU ist bisher ohne
EAD ausgekommen. Warum dann jetzt diese Hast?
({3})
Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung werden bei
Ihnen zum Wurmfortsatz degradiert. Unter dem verschleiernden Begriff der „vernetzten Sicherheit“ wird
die Entwicklungszusammenarbeit der Militärlogik einverleibt. Zivile Konfliktlösung braucht viel Geduld, Mittel und Menschenliebe.
({4})
Aber dann stolzierten in der Geschichte immer Militärs
heran und riefen: Wir lösen euch das ruckzuck! - Entwicklungshilfe für arme Menschen der Militärpolitik
starker Rüstungskonzerne unterzuordnen, zeigt, wer bei
Ihnen den Kürzeren ziehen soll.
Mit dem EAD in seiner Konzeption als „Institution
sui generis“ entsteht ein Apparat, dessen Ausrichtung
sich jeder echten parlamentarischen Kontrolle entzieht.
Die Haushaltskontrolle ersetzt das eben nicht, Kollege
Luksic, und die Anhörungsrechte des Europäischen Parlamentes sind ohnehin unterbelichtet. In der EU versuchen Sie zu vermischen, was Sie hierzulande aus gutem
Grund nicht dürfen, was hier streng getrennt ist: Außenministerium, Verteidigungsministerium und Geheimdienste mit der Entwicklungshilfe.
({5})
Schon bei Georg Orwell wurde das Kriegsministerium Friedensministerium getauft. Lassen wir die unverbindliche Friedenslyrik in Ihrem Antrag durchs Netz laufen: Hängen bleiben die harten Fakten. Das fängt bei
dem Titel an: „Einen … schlagkräftigen Europäischen
Auswärtigen Dienst schaffen“. Schlagkräftig, das klingt
nun wirklich sehr nach einem Kriegsministerium, aber
natürlich „sui generis“.
({6})
Das alles geht bei Ihnen hopplahopp, damit das die Öffentlichkeit und das Bundesverfassungsgericht nicht
merken. Aber die Umfragemehrheiten gegen Ihre
Kriegseinsätze wachsen weiter. Die Völker in dieser EU
sind eben friedlicher als ihre Regierungen, und denen ist
der Antrag der Linken verpflichtet.
({7})
Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir Grünen wünschen uns einen modernen, in
seinem Selbstverständnis europäischen und effizienten
Auswärtigen Dienst.
({0})
Es geht dabei nicht um klassische, nationalstaatlich geprägte Außenpolitik, sondern darum, Antworten auf die
Probleme zu geben, die unsere Welt am meisten betreffen: Klimawandel, Armutsbekämpfung, Umgang mit
fragiler Staatlichkeit, Bekämpfung der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen. All diese Sachen kann kein
Staat mehr im Alleingang lösen. Deswegen muss der
EAD dem effektiven Multilateralismus gewidmet sein.
Er muss eindeutig widerspiegeln, dass die EU eine Zivilmacht ist; die Priorität muss auf dem Zivilen liegen.
({1})
Gut ist, dass das Europäische Parlament bei der Frage
der parlamentarischen Kontrolle und der Rechenschaftspflicht des EAD gegenüber dem Parlament seine Position deutlich und entschieden vertreten hat. Deswegen
musste dem Parlament entgegengekommen werden. Nun
wird das Europäische Parlament bei der Ausarbeitung
von Strategien und Mandaten im Bereich der GASP eine
Rolle spielen. Auch im Bereich der organisatorischen
Eingliederung der Krisenmanagementstrukturen im
EAD gibt es zumindest nach dem, was uns bisher nur informell vorliegt, Herr Hoyer, Verbesserungen. Eine Sonderstellung dieser Strukturen ohne jegliche Anbindung
an alle anderen für diesen Bereich relevanten Strukturen
hätten wir nicht akzeptieren können.
Herr Dehm, Sie sprechen sich letztlich dafür aus, dass
die Geheimdienst- und Militärstrukturen in keiner
Weise, in keiner Form in den EAD integriert werden.
Dies würde dazu führen, dass diese Strukturen total freischwebend, außerhalb jeglicher vernünftigen parlamentarischen Kontrolle durch das EP oder die nationalen
Parlamente agieren könnten. Insofern fordern Sie nicht
das, was Ihre Worte suggerieren, und das ist ein Fehler.
({2})
Wir finden, dass Krisenmanagement nicht allein auf
militärische Strukturen reduziert werden darf. Vielmehr
muss der gesamte Konfliktzyklus zusammen betrachtet
werden, von der Konfliktprävention über die Bewältigung bis zur Nachsorge, und zwar unter dem Primat des
Zivilen. Der Wiederaufbau und die Mediation müssen
im EAD eine Rolle spielen. Deswegen haben wir immer
eine Generaldirektion für „Peacebuilding and Civilian
Crisis Management“ gefordert. Wenn Sie Ihre Forderung
ernst meinen und die militärischen Strukturen außerhalb
des zivilen Krisenmanagements - nicht unter der Vorherrschaft des Zivilen - installieren wollen, dann werden
Sie Ihren Worten, dass Sie keinen freischwebenden Militarismus in der EU wollen, nicht gerecht.
({3})
Wir sehen keine Anzeichen für eine Militarisierung im
EAD, wenn sich das Organigramm, so wie es sich derzeit darstellt, durchsetzt, obwohl wir mehr fordern würden.
Wir wollen auch nicht, dass die Entwicklungspolitik
einfach außenpolitischen Zielen untergeordnet wird.
Deswegen ist es wichtig, dass sich der EAD zu den Menschenrechten und zur weltweiten Bekämpfung von
Armut und Hunger bekennt. Die UN-Millenniumsziele
sind entscheidend für die Arbeit dieses Dienstes.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben gestern im Ausschuss zugegeben, dass manche der
Forderungen in unserem und Ihrem Antrag deckungsgleich sind. Folgerichtig kann ich nicht behaupten, dass
Ihr Antrag kompletter Nonsens wäre. Zumindest in den
deckungsgleichen Bereichen finden sich positive Ansätze.
({4})
Dennoch muss ich - Hand aufs Herz - zugeben: Auch
wenn nicht alles in Ihrem Antrag schlecht ist, so ist unserer doch deutlich besser. Sie hätten sich die Arbeit sparen und einfach unserem Antrag zustimmen können.
({5})
Dann hätten Sie sich wirklich für einen wertegebundenen EAD ausgesprochen. So müssen wir hier wohl auseinanderlaufen.
Unabhängig vom „Esprit de Corps“, den Sie, Herr
Kiesewetter, angesprochen haben, ist es wichtig, dass
sich der EAD auf die Ziele und Werte der Europäischen
Union bezieht und wir diese auch im aktuellen Verfahren
nicht aus den Augen verlieren. Bei allen Grabenkämpfen
um Posten, die von manchen in Brüssel geführt werden,
ist es wichtig, dass wir die Arbeit des EAD in Zukunft
konstruktiv begleiten. Ein Beitrag dazu wäre, dass die
Bundesregierung uns jährlich einen ausführlichen
Bericht über die Arbeit des EAD aus ihrer Sicht vorlegt;
dann könnte der Bundestag weiterhin seine Rolle spielen.
Ich bedanke mich für diese schöne Debatte. Es war
eine Freude, noch um diese Zeit mit Ihnen allen zusammen sein zu dürfen. Gute Nacht!
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Thomas Silberhorn von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kaum eine Forderung ist in den letzten Jahren so
häufig und so nachdrücklich erhoben worden wie die,
dass wir außenpolitisch in der Europäischen Union mit
einer Stimme sprechen müssen.
({0})
Der Europäische Auswärtige Dienst kann das Instrument
dazu werden. Er muss dazu natürlich leistungsfähig und
effizient organisiert sein. Nach meiner Einschätzung
wird er auf Dauer auch auf die Unterstützung der Mitgliedstaaten angewiesen sein.
Dass dieser Europäische Auswärtige Dienst eine Einrichtung eigener Art wird, entspricht der Forderung in
unserem Koalitionsvertrag. Es entspricht durchaus auch
der Vertragslage; denn im Bereich der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik ist durch den Vertrag von
Lissabon nicht vorgesehen, dass eine weitere Kompetenzübertragung von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union stattfinden soll. Die Kommission verfügt
zwar über für die Außenbeziehungen relevante Kompetenzen im Bereich der Handels- und der Entwicklungspolitik. Die Verträge sehen aber nicht vor, dass der Europäische Auswärtige Dienst vollständig an die Stelle der
nationalen Dienste treten soll. Deswegen ist es richtig,
dass bei der institutionellen Verankerung des Europäischen Auswärtigen Dienstes Äquidistanz gegenüber dem
Rat und der Kommission zum Tragen kommt. Das entspricht im Übrigen auch der Konzeption eines Doppelhuts für den Hohen Vertreter, der zugleich Vizepräsident
der Kommission und Vertreter der Mitgliedstaaten in der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist. Dass
ein solches Organisationsmodell parlamentarische Kontrolle nicht ausschließt, liegt auf der Hand. Insbesondere
muss das Europäische Parlament die Haushaltskontrolle
in vollem Umfang ausüben. Ich denke, da sind wir uns
über alle Fraktionen hinweg einig.
({1})
Dass der Europäische Auswärtige Dienst keine Doppelstrukturen schaffen darf, ist bereits mehrfach zu
Recht angesprochen worden. In diesem Zusammenhang
stellt sich eine Reihe von Zukunftsfragen. Ich denke
schon, dass wir langfristig anstreben sollten, dass beiThomas Silberhorn
spielsweise konsularische Aufgaben durch EU-Delegationen wahrgenommen werden. Es ist aber genauso
notwendig, dass intern kein Nebeneinander von Weisungssträngen existiert und keine Loyalitätskonflikte
entstehen.
Der Europäische Auswärtige Dienst muss angemessen an die Mitgliedstaaten angebunden bleiben. Deswegen ist es richtig, dass ein Drittel dieses Dienstes mit
nationalen Beamten bestückt wird,
({2})
die den übrigen Bediensteten gleichgestellt werden. Um
Ihren Zuruf aufzugreifen: Das soll möglichst schnell
geschehen.
({3})
Ich bin der Meinung, dass der Europäische Auswärtige Dienst haushaltsneutral finanziert werden muss.
({4})
Die Mittel können nicht „on top“ kommen; die Finanzierung muss sich vielmehr vollständig im Rahmen der geltenden finanziellen Vorausschau bewegen. Die laufenden Kosten müssen ausschließlich aus dem Haushalt der
Europäischen Union gedeckt werden. Es gibt überhaupt
keinen Grund, den Europäischen Auswärtigen Dienst als
Vorwand zu nehmen, um Finanzmittel der EU aufzustocken. Es ist eher umgekehrt: Wir haben schon vor dem
Jahre 2007 die jetzt geltende Vorausschau so ausgestattet, dass der damalige Entwurf des Verfassungsvertrages
bzw. der Vertrag von Lissabon in diese Maßnahme
gewissermaßen eingepreist worden ist.
Dass Deutsch im Europäischen Auswärtigen Dienst
eine wichtige Bedeutung hat, ist der CSU immer ein besonderes Anliegen gewesen. Es freut mich, dass ich dies
aufgrund der Einlassungen meiner Kollegen aus der
CDU und der FDP nicht mehr besonders apostrophieren
muss.
({5})
Deutsch ist die meistgesprochene Muttersprache in
Europa. Dass wir als größter Nettozahler bei der Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes finanziell
den größten Anteil tragen, darf auch erwähnt werden.
Deswegen ist es notwendig, dass Deutsch dem Englischen und dem Französischen weitestgehend gleichgestellt wird.
({6})
Es liegt noch vieles im Argen, wenn wir europaweit
mit einer Stimme sprechen wollen. Hin und wieder gibt
es Vielstimmigkeit und manchmal wohl auch einen
Wettstreit um größtmögliche Sichtbarkeit unter den Mitgliedstaaten. Deswegen werden die Strukturen des Europäischen Auswärtigen Dienstes alleine nicht ausreichen.
Es gehört der politische Wille der europäischen Mitgliedstaaten dazu, gemeinsame Interessen in der Welt
auch gemeinsam wahrzunehmen. Dann kann Europa mit
Stärke nach außen auftreten. Ich glaube, der Europäische
Auswärtige Dienst ist dafür - wenn wir es richtig machen - ein geeignetes Mittel. Ich wünsche der Bundesregierung Erfolg bei den anstehenden Verhandlungen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/1981 mit dem Titel „Einen effizienten und schlagkräftigen Europäischen Auswärtigen Dienst schaffen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2012,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1204 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 9. Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1976 mit dem Titel „Den Europäischen
Auswärtigen Dienst entmilitarisieren“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Es gibt noch eine größere Zahl von Tagesordnungspunkten, zu denen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Ich bitte Sie, mir noch Gesellschaft zu leisten,
damit wir das ordentlich abwickeln können.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Fußballweltmeisterschaft - Eine Chance
für Südafrika
- Drucksache 17/1959 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die Reden, die zu Protokoll gegeben werden, stam-
men von den Kollegen Hartwig Fischer und Stephan
Mayer, CDU/CSU, Dagmar Freitag, SPD, Marina Schuster,
FDP, Jens Petermann, Die Linke, und Uwe Kekeritz,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1959 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates
- Drucksache 17/1954 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Kai Wegner, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD, Frank
Schäffler, FDP, Michael Schlecht, Die Linke, und
Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1954 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unsere Meere brauchen Schutz
- Drucksache 17/1960 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt sollen die Re-
den zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ingbert
Liebing und Josef Göppel, CDU/CSU, Frank Schwabe,
1) Anlage 3
2) Anlage 4
SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Sabine Stüber, Die
Linke, und Dr. Valerie Wilms, Bündnis 90/Die Grünen.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1960 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Europäisches Jahr gegen Armut und soziale
Ausgrenzung ernst nehmen
- Drucksachen 17/889, 17/1246 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
Mechthild Heil und Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU,
Gabriele Hiller-Ohm, SPD, Pascal Kober, FDP, Cornelia
Möhring, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist untauglich. Mit
seinen Ansätzen wird es weder gelingen, Armut in unse-
rer Gesellschaft zu reduzieren, noch wird er die große
Gruppe derer stärken, die mit ihrer Arbeit und ihrem
Verdienst die Steuereinnahmen erwirtschaften, die es
uns ermöglichen, eines der erfolgreichsten und stabils-
ten Sozialsysteme der Welt aufrechtzuerhalten. Sinnvolle
Ansätze und wirksame Mittel sind in der zur Beratung
anstehenden Initiative nicht zu erkennen. Meine Frak-
tion wird daher diesen Antrag ablehnen.
Allein der über 200 Seiten starke Dritte Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr
2008 zeigt uns, dass wir sowohl in der Analyse der Ur-
sachen von Armut in unserer Gesellschaft die Augen
nicht verschließen, als auch in der Umsetzung der erfor-
derlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf dem
richtigen Weg sind. Wir setzen unsere Anstrengungen
dabei vor allem vor dem Hintergrund eines breiten poli-
tischen und gesellschaftlichen Bewusstseins in Deutsch-
land an, dass unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsord-
nung allen Menschen Chancen bieten muss und kann.
Chancen auf Bildung, auf Wissen und den Erwerb von
Fähigkeiten, Chancen auf Erfolg am Arbeitsmarkt, auf
ein gesichertes Einkommen, auf soziale Akzeptanz und
sozialen Aufstieg.
Nicht zuletzt steht deshalb auch der Begriff der „Bil-
dungsrepublik Deutschland“ mit einem klaren Bekennt-
nis zu mehr Ausgaben für Schule, Hochschule, Aus- und
Weiterbildung sowie für Forschung im Mittelpunkt unse-
3) Anlage 5
rer Politik. Chancengerechtigkeit ist daher ein vorrangiges Ziel der Politik der unionsgeführten Bundesregierung, und dies ist es am Ende allein, was nachhaltiges
Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland schaffen
wird.
Wir verschließen gleichwohl nicht die Augen vor den
Herausforderungen unserer Zeit bei der Bekämpfung
von Armut. Wir wissen, dass etwa Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen und Kinder mit
Migrationshintergrund in besonderer Weise von Armutsrisiken betroffen sind. Wir sind wesentlich mehr für Kinderbetreuung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, damit Alleinerziehende und Eltern die Chance
haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Im Bereich der frühkindlichen Bildung sind die Zeichen der Zeit erkannt worden, damit etwa Kinder von
Migranten bei Schuleintritt ausreichende deutsche
Sprachkenntnisse erworben haben, um im Unterricht
mitzukommen. Kinder brauchen Verlässlichkeit und Zuwendung in der Familie und in ihrem Umfeld. Wir wollen allen Kindern und Jugendlichen faire Startchancen
und die besten Möglichkeiten für ihre Entfaltung bieten.
Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen sind mit unserer Politik aus christlichem
Verständnis unvereinbar. Armut ist mehr als materielle
Armut. Wir vertrauen auf die Bereitschaft der Menschen,
ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Wo
immer es geht, wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe bieten.
Mit einer eigens eingesetzten Kommission werden wir
das Problem der zunehmenden Altersarmut angehen.
Wir benötigen hier ein in sich schlüssiges Konzept, um
auch in Zukunft eine bedarfsgerechte Alterssicherung in
Deutschland herzustellen. Die Anbindung der Rente an
die Lohnentwicklung wirkt der Altersarmut entgegen.
An diesem bewährten Prinzip halten wir fest und werden
uns auch künftig für eine Rentenentwicklung einsetzen,
die den Rentnerinnen und Rentnern eine verlässliche
und gerechte Beteiligung an der allgemeinen Einkommensentwicklung gewährleistet, ohne der jüngeren Generation Chancen auf Entfaltung und Wohlstand zu nehmen.
Anstatt eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes, der Arbeitsplätze für Geringqualifizierte gefährdet,
werden wir das Verbot sittenwidriger Löhne gesetzlich
festschreiben, um Lohndumping zu verhindern. Wir
bauen hier auf den bewährten Mechanismus der verantwortlichen Verhandlungen der Tarifpartner in Deutschland, der 60 Jahre lang sozialen Frieden maßgeblich
mitgeschaffen hat. Wir wollen die Tarifautonomie als einen Garanten für die Stabilität des Standortes Deutschland stärken. Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft. Der wichtigste
Ansatzpunkt ist dabei, dass die Lohnfindung nicht verstaatlicht wird, sondern Aufgabe der Tarifpartner bleibt.
Deshalb ist Reglementieren, Regulieren und Sozialisieren nicht unser Weg.
Wir sind der Auffassung, dass starke Schultern einen
relativ stärkeren Beitrag für das Gemeinwohl leisten
sollen. Dies wird in Deutschland durch die Progressivität der Einkommensteuer gesichert. So tragen die 5 Prozent der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen
etwa 42 Prozent zum Aufkommen der Einkommensteuer
bei, während sie etwa ein Viertel des Gesamtbetrages
der Einkünfte vor Steuern erzielen. Dies ermöglicht einen Sozialstaat, in dem sich Leistung lohnt. Ein Abstandsgebot zwischen Lohneinkommen und sozialen
Transferleistungen bleibt darüber hinaus unabdingbar,
um Menschen den Anreiz zu geben, eine Arbeit aufzunehmen.
Die Bundesregierung gestaltet das Europäische Jahr
gegen Armut und Ausgrenzung 2010 zielgerichtet und
nachhaltig mit. Daran besteht kein Zweifel. Deutschlandweit erhalten 40 sogenannte Leuchtturmprojekte
Förderungen der EU im Rahmen des Europäischen Jahres. Die zahllosen Informationsquellen dazu sind Ihnen
bekannt.
Im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Armut
und soziale Ausgrenzung findet in Kürze vom 19. bis
25. Juni 2010 eine nationale Fokuswoche statt. Mit
zahlreichen Veranstaltungen werden die Themen Armut
und Armutsbekämpfung stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Fokuswoche wird von der Nationalen
Armutskonferenz, nak, durchgeführt und durch Mittel
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, BMAS,
gefördert.
Die Politik steht nicht alleine, sondern hat viele gesellschaftliche Akteure an ihrer Seite, die zielgerichtet
und engagiert mithelfen. Ich erwähne hier die Nationale
Armutskonferenz. Sie setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der Spitzenverbände der Freien
Wohlfahrtspflege und Vertreterinnen und Vertretern von
bundesweiten Verbänden und Initiativen. Dieses regelmäßig tagende Forum will mit seiner Arbeit dazu beitragen, das Armutsproblem zu überwinden bzw. die Selbsthilfeansätze der von Armut betroffenen oder bedrohten
Menschen zu unterstützen. Die Nationale Armutskonferenz sieht ihren Auftrag unter anderem darin, einen Beitrag zu einer veränderten Politik zu leisten, damit die
Lebenslage armer Menschen verbessert und eine strukturelle Überwindung von Armutsbedrohung erreicht
wird.
Armutsbekämpfung bleibt für uns in der Union ein
wichtiges Oberziel unserer Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, und wir werden den erfolgreichen Weg
weitergehen!
Wenn man ernsthaft an einer Verbesserung der Situation der hierzulande in Armut lebenden Menschen interessiert ist und etwas bewegen will, ist doch deutlich
mehr Substanz und inhaltliche Reife nötig, als es Ihrem
Antrag zu entnehmen ist.
Sie sprechen von „Armutsregelsätzen“ und „Stigmatisierung“: Was glauben Sie denn, wie sich jemand fühlt,
der von ebendiesen Regelsätzen sich und seine Familie
ernähren muss und gleichzeitig immer wieder hört, dass
er ein Armutseinkommen bezieht? Eine treffsicherere soziale Ausgrenzung ohne triftigen Grund hätten Sie nicht
vornehmen können! Dass solche Bewertungen nicht geZu Protokoll gegebene Reden
rade zum Wohlbefinden der Betroffenen beitragen, sondern diese in ihrer ohnehin schon schwierigen Lage zusätzlich belasten, dürfte eigentlich auf der Hand liegen.
In Ihrem Antrag finden sich diffus formulierte Kriterien als Antwort auf die Beseitigung von Armut. So fordern Sie zum Beispiel „verbindliche Ziele“ und ein
„Handlungsprogramm zur Unterfütterung“. Bei allem
Respekt - etwas konkreter sollten Sie schon werden, damit man ernsthaft darüber diskutieren könnte. Der Blick
auf andere Statements zu sozialen Themen oder in Ihr
Wahlprogramm ist zwar ein bisschen aufschlussreicher
dahin gehend, wie Sie sich den Kampf gegen Armut und
soziale Ausgrenzung vorstellen, wenngleich auch die
materiell verwertbare Ausbeute sich stark in Grenzen
hält. Ihre wiederkehrenden Themen sind: die Verteilungsgerechtigkeit im Sinne einer Umverteilung von
oben nach unten; die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne sowie Abschaffung von Hartz IV.
Lassen Sie mich zu diesen Punkten Folgendes ausführen:
Erstens: Die Umverteilung von Vermögen bewirkt
keine soziale Gerechtigkeit, auch wenn die Linke das immer wieder skandiert. Soziale Gerechtigkeit entsteht
dort, wo jeder Bürger die Chance erhält, seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert zu werden. Da nun mal jeder unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt, bedeutet dies automatisch unterschiedliche Förderung.
Soziale Gerechtigkeit heißt aber auch, dass jeder die
Möglichkeit haben muss, an gesellschaftlichen Abläufen
teilhaben zu können, sich eigenverantwortlich einzubringen und seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Eine rein passive Umschichtung von Kapital kann
kein eigenständiges oder eigenverantwortliches Denken
und Handeln hervorrufen. Sozial ist nicht, wenn etwas
gleichgemacht wird, sondern wenn Gleiches gleich und
Ungleiches ungleich behandelt wird.
Zweitens: Ein gesetzlich festgeschriebener Mindestlohn - so wie Sie ihn sich wünschen, also bei 10 Euro würde sich in denjenigen Branchen, die sich im Niedriglohnsektor befinden, verheerend auswirken. Die Lohnkosten würden dramatisch ansteigen, wodurch Wettbewerbsnachteile gerade im Vergleich zu ausländischen
Unternehmen vorprogrammiert wären. Dies wiederum
würde zahlreiche Unternehmen finanziell ruinieren und
somit Arbeitsplätze vernichten. Dagegen brächte ein flächendeckender Mindestlohn in Branchen wie zum Beispiel der Metallindustrie keinen Gewinn, da dort die
Löhne oft ohnehin höher liegen. Mindestlöhne machen
dort einen Sinn, wo sie branchenbezogen angewendet
werden und für inländische und ausländische Betriebe
gelten, sodass kein Verdrängungswettbewerb entstehen
kann.
Drittens: Es gibt außer den Linken keine Fraktion
mehr in diesem Hause, die das System von Hartz IV
grundsätzlich infrage stellt. Es gibt an manchen Stellen
Bedarf, nachzubessern, zum Beispiel bei der Umsetzung
des Bundesverfassungsgerichtsurteils hinsichtlich des
Berechnungsverfahrens bei den Regelsätzen. Übrigens
wurden weder die Berechnungsmethode noch die Leistungshöhe beanstandet, weshalb Ihre Forderung, die
Regelsätze auf 500 Euro zu erhöhen, völlig unangemessen und irreführend ist. Was die Zusammenführung der
früheren Arbeitslosen- und Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitsuchende betrifft, so herrscht unisono die Auffassung,
dass dies der Schritt in die richtige Richtung war. Dies
zeigt sich unter anderem auch darin, dass die Ausweitung des Optionsmodells bundesweit auf große Zustimmung in den Kommunen stieß. Die Arbeitsmarktstatistiken weisen zudem ebenfalls darauf hin, dass sich die
zahlreichen Instrumente positiv für viele Langzeitarbeitslose ausgewirkt haben.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu Ihrem
Vorwurf, die Bundesregierung verfolge kein Programm
zum Thema Armut und soziale Ausgrenzung: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat ein recht
vielseitiges Programm zum Europäischen Jahr 2010
aufgelegt, das drei Hauptziele verfolgt:
Estens. Die Entwicklungschancen für Kinder verbessern.
Zweitens. Mithilfe von Arbeit die Hilfebedürftigkeit
überwinden.
Drittens. Integration statt Ausgrenzung.
Die Details hierzu sind Ihnen bekannt - zumindest
Herrn Lothar Bisky, der die Inhalte ja anlässlich der
Auftaktveranstaltung zu diesem Programm ausdrücklich
begrüßt hat.
Heute beraten wir erneut den Antrag der Linken zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Bereits am 4. März 2010 hatten wir unsere Reden
hierzu - genau wie heute - zu Protokoll gegeben. Das ist
bei einem so wichtigen Thema mehr als bedauerlich!
Das Thema Armut darf nicht in den Ordnern verschwinden, sondern muss - so auch der Titel des Antrags ernst genommen werden.
SPD, Grüne und Linke haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten zum Thema Armut stark parlamentarisch eingemischt. Der SPD liegt das Thema
ganz besonders am Herzen. Das haben wir unter anderem mit unseren Anträgen zu den Regelsätzen, zur
Gleichstellung und zu Guter Arbeit aufgezeigt.
Mit der nationalen Ausgestaltung des Europäischen
Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung, die noch
von SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz auf den Weg gebracht wurde, haben wir der neuen Regierung und der
Ministerin von der Leyen eine gute Vorlage gegeben,
auch unter europäischer Flagge aktiv zu werden. Leider
hat die schwarz-gelbe Bundesregierung den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung bislang komplett
verschlafen. Sie nimmt auch das Europäische Jahr als
guten Anlass nicht ernst. Schlimmer noch: Die von der
Bundesregierung vorgelegte Sparliste zeigt, dass ganz
bewusst zulasten der Ärmsten in unserem Land der
Sparhammer geschwungen wird. Die Bundesregierung
arbeitet für Armut - nicht gegen sie.
Zu Protokoll gegebene Reden
Welche Maßnahmen hat denn die Bundesregierung
aus CDU, CSU und FDP zur Armutsbekämpfung bisher
ergriffen? Die „armen“ Hoteliers wurden entlastet, dafür wird der Rotstift jetzt gnadenlos bei den Sozialleistungen angesetzt. Hier zieht die FDP die Unionsparteien am Nasenring durch die politische Arena.
Wer Armut bekämpfen will, muss Geld an den richtigen Stellen einsetzen. Das Elterngeld zu kürzen, ist dabei grundlegend falsch. Insbesondere für Alleinerziehende ist diese Nachricht eine Katastrophe. Außerdem:
Wo liegt die Gerechtigkeit, wenn Alleinerziehende in der
Grundsicherung kein Elterngeld bekommen - die Bankiersgattin, die nicht arbeitet, dagegen schon? Letztere
wird die zusätzlichen 300 Euro kaum spüren. Die Arbeitsuchenden trifft der Wegfall umso stärker.
Aber auch die anderen Kürzungen im Sozialbereich
sind auf gar keinen Fall hinnehmbar. Wohngeldbezieher
bekommen die soziale Kälte der Regierung hautnah zu
spüren: Der Heizkostenzuschuss fällt ersatzlos weg.
Diese Kürzung des Wohngeldes bedeutet für viele Menschen den Gang zum Jobcenter - sie werden dann wieder zu sogenannten „Aufstockern“. Gerade viele Familien konnten sich mit Wohngeld und Kinderzuschlag aus
der Grundsicherung herausrechnen. Für diese Familien
zählt jeder Euro.
Die Rentenversicherungsbeiträge für Menschen in
der Grundsicherung sollen entfallen. Damit verschärft
die Bundesregierung nicht nur die Altersarmut, es hat
auch ganz einschneidende Wirkungen im Bereich der
Erwerbsminderung.
Viele Pflichtleistungen der Bundesanstalt für Arbeit
sollen nach dem Willen der schwarz-gelben Bundesregierung zu Ermessensleistungen degradiert werden. Das
heißt nichts anderes, als dass die Arbeitsförderung massiv zusammengestrichen wird. Den Ausbildungsbonus
sehe ich dabei genauso gefährdet wie das Nachholen des
Hauptschulabschlusses für benachteiligte Jugendliche
oder auch die Weiterbildung. Die Bundesregierung verhindert so von Grund auf, dass Menschen eine Chance
auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Das bedeutet für die
meisten Betroffenen eine Karriere als Empfänger von
staatlichen Transferleistungen. Von Teilhabe, Überwindung von Hilfebedürftigkeit oder guten Entwicklungschancen keine Spur.
Zur Erinnerung: Die vom damaligen Minister Scholz
angestoßenen Hauptthemenfelder des Europäischen
Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung sind:
„Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern!“
„Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit
überwinden!“
„Integration statt Ausgrenzung - Selbstbestimmte
Teilhabe für alle Menschen!“
Wie es scheint, ist der Bundesregierung aber nicht jedes Kind gleich wichtig, sonst wäre die Diskussion um
Kürzungen, die besonders zulasten der Familien gehen,
gar nicht erst entstanden. Kinderarmut und Armut der
Eltern hängen eng miteinander zusammen. Deswegen
fordert ein Themenfeld auch zu Recht: „Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden“. Aber auch hier kann man
der Bundesregierung nur ein Armutszeugnis ausstellen.
Wenn man Armut bekämpfen will, dann geht es ganz
konkret um faire Arbeitsbedingungen und existenzsichernde Löhne. Dazu brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. 8,50 Euro pro Stunde
sind die absolute Untergrenze, um Armut zu vermeiden.
Schwarz-Gelb scheut hingegen den Mindestlohn wie der
Teufel das Weihwasser. Stattdessen propagieren CDU,
CSU und FDP Kombilöhne. So werden Armutslöhne
auch noch subventioniert.
Auch bei den Transferleistungen für Menschen ohne
Arbeit und deren Familien muss dringend gehandelt
werden. Die neuen Regelsätze werden auf die lange Regierungsbank geschoben. Zum transparenten Bemessungssystem für die Regelsätze schweigt diese Regierung. Macht man als Mitglied des Deutschen
Bundestages von seinem parlamentarischen Fragerecht
Gebrauch, um sich über den Planungsstand bei den Regelsätzen zu informieren, antwortet die Bundesregierung inhaltsleer und zeitlich vage. Wenigstens die Kriterien, wie die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
künftig für die Regelsätze herangezogen wird und in
welchen Abständen sie erhoben wird, muss die Regierung vorlegen. Die Zeit drängt.
Dieses Verhalten zeigt: Schwarz-Gelb lässt die Menschen, die von Armut bedroht sind, im Unklaren, statt ihnen zu helfen. Skandalös handelt Schwarz-Gelb nicht
nur bei den Regelsätzen. In meinem wunderschönen
Schleswig-Holstein hat sich die schwarz-gelbe Landesregierung dadurch hervorgetan, die Entwicklungschancen von Kindern sogar zu verschlechtern. Das letzte
Kita-Jahr kostenfrei - in Schleswig-Holstein gestrichen.
Finanzmittel, damit Schüler in ländlichen Regionen mit
dem Bus zur Schule befördert werden - gestrichen, nach
dem Motto: Sollen die Eltern doch selbst schauen, wie
ihre Kinder zur Schule kommen. Es ist zur Überwindung
von Armut und sozialer Ausgrenzung wichtig, dass Familie und Beruf miteinander vereinbar sind. SchleswigHolstein zeigt dabei, wie man die Vereinbarkeit wieder
erschwert. In diesem Zusammenhang muss man vor allem an die rund 650 000 Alleinerziehenden denken, die
auf der Suche nach Arbeit sind oder so schlecht bezahlt
werden, dass sie mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. Sie sind ganz besonders auf kostenfreie und qualitativ hochwertige Betreuungsangebote angewiesen. Genauso ist der Staat in der Pflicht, Mittel bereitzustellen,
dass Schülerinnen und Schüler die Schule erreichen
können.
Gute Bildung und Ausbildung sind der wesentliche
Schlüssel, um Armut wirksam zu bekämpfen. Leider wird
das durch schwarz-gelbe Politik konterkariert und die
Axt zum sozialen Kahlschlag angesetzt. Kinder aus armen Familien brauchen eine gute und vor allem diskriminierungsfreie Unterstützung. Die Gebührenfreiheit
von der Kita bis zur Uni spielt dabei eine wesentliche
Rolle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich
begrüße, dass Sie mit Ihrem Antrag das Thema Armut
Zu Protokoll gegebene Reden
- auch im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr
gegen Armut und soziale Ausgrenzung - auf die Agenda
gebracht haben. Ihre Analyse und Ihre Fragen sind nicht
falsch, gehen allerdings aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion nicht weit genug. Der Forderungskatalog ist
sehr abstrakt und stellenweise auch inhaltlich noch ausbaufähig. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich deswegen bei diesem Antrag der Stimme enthalten.
Gleichzeitig laden wir alle Fraktionen dazu ein, mit
uns gemeinsam nach Wegen aus der Armut zu suchen.
Das Europäische Jahr 2010 wird zu Ende gehen. Der
Kampf gegen Armut wird uns allerdings - leider - noch
lange erhalten bleiben. Deswegen gilt es jetzt weiterzuarbeiten und wirksame Strategien zu entwickeln und umzusetzen.
Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist eine gute Gelegenheit, um in unserem Land
den Blick auf die Menschen zu richten, die auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind. Deshalb begrüßen wir, dass sich die Koalition und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorbildlich an
diesem Projekt beteiligen.
Ich möchte Ihnen jedoch auch sagen, dass es nicht, so
wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, es
in Ihrem Antrag machen, nur darum gehen kann, nur im
Jahr 2010 etwas zu unternehmen und den Fokus der Öffentlichkeit nur in diesem Jahr auf das Thema zu richten.
Auch über das Jahr 2010 hinaus werden wir als christlich-liberale Koalition dem Thema Beachtung schenken.
In Ihrem Antrag fordern Sie verbindliche Messgrößen
und Bekenntnisse der Politik. Das ist für uns eindeutig
zu wenig. Diese Koalition ist eine Koalition des Handelns. Deswegen haben wir konkrete Projekte zur Verbesserung der Situation der Menschen schon beschlossen, auf den Weg gebracht oder in Planung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sie werfen der Regierungskoalition in Ihrem Antrag vor, dass
sie keine Initiative gegen Armut in Deutschland ergriffen habe. Dass dies falsch ist, werde ich gleich belegen.
Aber in Ihrem Antrag ist keine einzige konkrete Forderung, die den Menschen weiterhelfen würde. Nur in die
Begründung des Antrags haben Sie Ihre altbekannten
Forderungen wie den gesetzlichen Mindestlohn verpackt. Da hätte ich schon mehr von Ihnen erwartet. Und
dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze in Branchen gefährdet, haben diverse Studien, unter anderem der
Friedrich-Ebert-Stiftung, nachgewiesen. Wenn wir Ihren
Vorschlägen in der Arbeits- und Sozialpolitik folgen
würden, hätten wir deutlich mehr Arbeitslose und arme
Menschen, die kaum Chancen auf einen Wiedereinstieg
ins Berufsleben hätten.
Unser Ansatz ist da ein anderer: Wir möchten die
Brücken in den Arbeitsmarkt, wie es zum Beispiel die
Zeitarbeit und aufstockende Leistungen zum Lohn für
die Betroffenen sind, weiter nutzen. So haben wir beschlossen, die Instrumente zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt zu evaluieren, um dann die wirksamen Instrumente im Interesse der Menschen zu bündeln. Die
Verbesserung der Hinzuverdienstgrenzen, die wir im Koalitionsvertrag beschlossen haben und umsetzen werden, sorgen dafür, dass es sich mehr lohnen wird, wieder
Arbeit aufzunehmen. Zudem wird den Menschen dann
mehr von Ihrem Zuverdienst übrig bleiben. Und auch die
Verdreifachung des Schonvermögens im Sozialgesetzbuch II von 250 auf 750 Euro ist nicht nur ein Akt der
Fairness, sondern wird Armut, vor allem im Alter, vermindern.
Der Vorwurf, dass sich die christlich-liberale Regierungskoalition dem Problem der Armut in Deutschland
nicht annehmen würde, trifft schlichtweg nicht zu. Aber
Strategien zur Vermeidung von Armut dürfen nicht nur
in der Arbeits- und Sozialpolitik angedacht werden.
Dort ist, um es sprichwörtlich zu sagen, das Kind meist
schon in den Brunnen gefallen. Diese Regierung setzt
vor allem auf Bildung als langfristige Investition zur
Vermeidung von Armut. Es gilt noch immer, dass gute
Bildungspolitik die beste Sozialpolitik ist. Gute Bildung
versetzt den Menschen in die Lage, frei, verantwortlich
und selbstbestimmt zu leben. Sie mindert daher unmittelbar das spätere Armutsrisiko. Sie ermöglicht individuelle Entfaltung, persönliche Förderung und sichert
dadurch auch den Wohlstand der Gesellschaft. Zudem
ist nur durch gute Bildungspolitik Chancengerechtigkeit
zu erfüllen, indem sie Aufstiegsperspektiven eröffnet.
Entgegen Ihrer Kritik beteiligt sich die Bundesregierung aktiv und konkret am Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. So hat Bundesministerin
von der Leyen im Rahmen einer Festveranstaltung das
Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung
im Februar eröffnet. Dies ist auch medial auf Interesse
gestoßen. Im Rahmen des Europäischen Jahres fördern
die EU und das Ministerium gezielt 40 Sozialprojekte
mit insgesamt 1,5 Millionen Euro.
Die drei großen Themenfelder, mit denen das Europäische Jahr sichtbar gemacht werden soll, unterstützen
wir als FDP ausdrücklich: „Jedes Kind ist wichtig Entwicklungschancen verbessern!“, „Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden!“ und
„Integration statt Ausgrenzung - Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen!“ sprechen die drei zentralen
Themenbereiche für die Vermeidung und Bekämpfung
von Armut an: Bildung, Arbeit und Integration.
Wir sehen Armut als wichtiges Problem in unserem
Land und gehen gezielt mit Maßnahmen dagegen vor.
Dabei setzen wir vorrangig darauf, Menschen in Arbeit
zu bringen. Wir haben bereits in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik Akzente gesetzt. Wir unterstützen alle Maßnahmen, die auf dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von
Arbeitsplätzen ausgerichtet sind. Der oftmals aus ideologischen Gründen künstlich aufrechterhaltene Gegensatz von ökonomischer Vernunft und sozialstaatlicher
Verantwortung hilft keinem von Armut, prekärer Lebenssituation oder Arbeitslosigkeit Betroffenen und gehört
daher endlich überwunden.
Ein Arbeitsplatz ist zum einen der beste Schutz vor
Armut, er ist aber noch wichtiger für die Persönlichkeit
Zu Protokoll gegebene Reden
des Einzelnen, der Wertschätzung und das Gefühl des
Gebrauchtwerdens erfährt. Daran arbeitet diese Bundesregierung, und Sie werden bald feststellen können mit Erfolg!
Ich möchte meine Rede mit einem Märchen beginnen:
Es war einmal ein Mann, der wurde durch seine Hände
Arbeit reich … So weit das Märchen. Und hätte ich gesagt: Es war einmal eine Frau …, dann wäre uns allen
noch schneller aufgefallen, dass da etwas nicht stimmen
kann.
Das Gegenteil des Märchens ist in unserer Gesellschaft der Fall: In der Bundesrepublik werden Menschen trotz Arbeit arm. Etwa 1,4 Millionen Erwerbstätige erhalten für ihre Arbeit so wenig Lohn, dass sie auf
ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Circa
300 000 von ihnen arbeiten in Vollzeitjobs. Und schauen
wir noch genauer hin, wünschten wir uns das Reich der
Fantasie lieber nicht zu verlassen - so skandalös ist die
Realität in unserem Land.
Laut offizieller Statistik sind rund 11,4 Millionen
Menschen in der BRD arm oder von Armut bedroht. Das
ist mittlerweile jede/r Siebte.
Wenn wir von mehr als 2,5 Millionen Kindern sprechen, die in Armut leben, dann ist das nicht nur eine
Zahl. Dahinter verbergen sich Schicksale, Geschichten,
die davon erzählen, wie Kinder hungrig und ohne Frühstück in die Schule kommen, von Jugendlichen, die sich
ein bisschen Geld durch Leergut im Müll sammeln verdienen müssen. Es sind Geschichten von Kindern und
Jugendlichen, die kraft Geburt schon weniger Chancen
auf Bildung und Arbeit - auf eine Zukunft - haben als
die Kinder wohlhabender Eltern.
Wir reden über Rentnerinnen und Rentner, die auf ein
arbeitsreiches und bewegtes Leben zurückblicken und in
ihrem wohlverdienten Ruhestand trotzdem jeden Cent
umdrehen müssen. Wir reden über Millionen ehemals erwerbstätiger Männer und Frauen, die per Gesetz in die
Armutsfalle Hartz IV abgeschoben wurden. Wir reden
über die stetig steigende Anzahl von Frauen, die gleich
mehrere Arbeitsverhältnisse eingehen müssen, um ihre
Familien zu ernähren. Sie bekommen ihre Kinder und
Partner kaum noch zu Gesicht, arbeiten deutlich über
10 Stunden pro Tag und steuern dennoch in die Altersarmut.
Die Armut in unserem Land zeigt sich auch an fehlenden Kindergartenplätzen, Lehrerinnen und Lehrern,
Fachärzten, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Kommunen und Städte müssen Theater schließen, Kinderbetreuung abbauen, können notwendige Investitionen nicht
vornehmen. Sportvereine, Initiativen, Beratungsstellen,
soziale Projekte bekommen keine Zuschüsse mehr.
Kultur, Sport, Bildung, Mobilität, Gesundheit, Erholung: All das kostet, ist zum Luxus geworden, den sich
viele nicht mehr leisten können. Wir leben in einer armen Gesellschaft! Und steuern in eine noch ärmere,
wenn nicht endlich was passiert.
Hier und heute findet eine politisch gewollte, gigantische Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums statt.
Sie macht wenige Reiche immer reicher und vergrößert
die Armut in unserem Land rasant. Das jüngste Beispiel
dieser unsozialen Politik sind die von der Bundesregierung am schwarzen Montag dieser Woche vorgeschlagenen Kürzungen. Im Namen der Haushaltskonsolidierung
wird der Rotstift einseitig zulasten derjenigen angesetzt,
die eh schon wenig haben. Die Verursacher von Krisen
und Armut dürfen ungehindert weitermachen.
Während die Beteiligung von Unternehmen an der
Haushaltssanierung bis zum Ende der Wahlperiode mit
insgesamt rund 14 Milliarden Euro beziffert wird, sollen
im selben Zeitraum bei Arbeitslosen und ihren Familien
40,7 Milliarden Euro gekürzt werden: durch Streichung
der Rentenbeiträge und des Elterngeldes für Hartz-IVEmpfängerInnen, Kürzungen bei den Fördermitteln für
Erwerbslose, Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst.
Selbst die von der Bundesregierung ausgewiesene Beteiligung von Unternehmen an den Kürzungen ist bei genauem Hinsehen eine Luftnummer. Die mit 2 Milliarden
Euro angesetzte „Kernelemente-Abgabe“ kostet die Betreiber der Atommeiler keinen müden Cent. Es werden
lediglich Subventionen der Bundesregierung gekürzt
und im Gegenzug die Laufzeiten der AKW verlängert.
Auch die angebliche Beteiligung des Bankensektors
mit 2 Milliarden Euro ab 2012 fließt nicht in die Haushaltskasse, sondern in einen speziellen Fonds, in den die
Steuerzahler bereits Hunderte Milliarden Euro gezahlt
haben. Damit soll nicht die jetzige Krise bewältigt, sondern die nächste vorbereitet werden.
Diese Kürzungsorgie der Bundesregierung ist sozial
ungerecht, politisch gefährlich und schadet der Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft. Die Linke
lehnt sie deshalb ab. Wir werden gemeinsam mit Initiativen, Vereinen, Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften
gegen ihre Umsetzung kämpfen.
Seit einem halben Jahr läuft die EU-weite Kampagne
gegen Armut und soziale Ausgrenzung, weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es scheint, als hätten
auch die meisten in diesem Hause davon - wie von der
gesellschaftlichen Realität - bisher nichts mitbekommen. Das die Kampagne begleitende Motto der Bundesregierung lautet: „Mit neuem Mut“. Ihren eigenen Mut
für neue Strategien gegen Armut kann die Bundesregierung damit nicht gemeint haben. Im Gegenteil: Die
Kanzlerin lehnte im Europäischen Rat das gemeinsame
Ziel ab, die Armutsquote auf 25 Prozent zu senken, und
damit auch die entsprechenden Maßnahmen zur Armutsbekämpfung.
Mit der Beteiligung an der Kampagne will die Bundesregierung nicht die gesellschaftlichen Ursachen der
Armut bekämpfen, sondern die politische Verantwortung
verschieben, weg von den politischen Akteuren hin zu
den von Armut betroffenen Menschen in der Gesellschaft. Bei der Eröffnungsveranstaltung der Kampagne
gegen Armut erklärten die Vertreterinnen der Bundesregierung, es sei unter den heutigen Verhältnissen leider
nicht unwahrscheinlich, arm zu werden. Nicht alle Betroffenen seien aus eigenem Verschulden arm, deshalb
Zu Protokoll gegebene Reden
brauchten sie auch Verständnis statt Stigmatisierung.
Wir alle sollten ihnen Mut machen, sich aus eigener
Kraft aus Armut zu befreien. Diesen Zynismus mit Worten zu beschreiben, würde mir eine Rüge des Präsidenten einbringen.
Wer aber denkt, es sei geistige Armut, der irrt. Es ist
politisches Kalkül der verantwortlichen Regierung und
ihrer Hintermänner. Armut ist und bleibt ein politisches
Problem und wird als politisches Instrument genutzt.
Wer Armut ernsthaft beseitigen will, muss besonders in
Krisenzeiten strukturelle und konsequente Gegenmaßnahmen entwickeln und umsetzen. Die Linke fordert im
vorliegenden Antrag deshalb ein sofortiges politisches
Gegensteuern in allen maßgeblichen Politikfeldern, und
das in Europa wie auch in unserem Land. Wir brauchen
endlich eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten. Wir brauchen tatsächliche
Investitionen in die Zukunft.
Ein Programm zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung muss gerade in Krisenzeiten an den Ursachen ansetzen und diese mit wirksamen Maßnahmen
bekämpfen. Anstatt die Reste des Sozialstaates zu beerdigen, muss die Bekämpfung von Armut national wie international höchste Priorität erhalten. Doch die Bundesregierung verfolgt im Europäischen Jahr gegen
Armut und soziale Ausgrenzung eine Politik der Ignoranz und der sozialen Kälte. Sie treibt das Land immer
tiefer in die Krise. Dafür gehört sie schleunigst abgewählt. Denn eine andere Politik ist nötig und möglich!
Die EU-Kommission hat in ihren fünf Kernzielen definiert, was die EU bis 2020 ihres Erachtens erreichen
soll. Diese Kommission, des Linksradikalismus ja ziemlich unverdächtig, schlägt in einem der fünf Kernziele
vor, die Zahl der armutsgefährdeten Personen in der EU
bis 2020 um 20 Millionen Menschen zu senken. Das
würde eine Senkung der in relativer Armut lebenden
Menschen um 25 Prozent bedeuten. Das wäre in der Tat
ein Ziel, für das es sich lohnen würde, zu kämpfen.
Von dem - wohlgemerkt von der Kommission vorgeschlagenen - Ziel der Armutsreduktion scheint die Bundesregierung aber nicht viel zu halten. Anders kann ich
mir nicht erklären, dass sie auf dem Europäischen Rat
am 25. und 26. März noch erhebliche Kritik an der Verfolgung des Ziels der Armutsreduktion geübt hat und sogar den Indikator dafür infrage stellt, der schon seit
2001 zu Armutsmessung im Einsatz ist. Dem Vernehmen
nach soll die deutsche Kritik sogar besonders heftig gewesen sein. Ich habe die Bundesregierung aufgefordert,
in einer Kleinen Anfrage Stellung dazu zu beziehen, wie
sie sich geäußert hat. Ich wollte wissen, wie sich die
Bundesregierung den Kampf gegen die Armut in der EU
vorstellt; denn ich glaube, wir alle haben ein Recht zu
erfahren, ob die Bundesregierung die Armut in der EU
bekämpfen will und welche Vorschläge sie dafür macht,
oder ob sie den Kampf gegen die Armut torpedieren will,
weil sie den Einflüsterungen des kleinen Koalitionspartners FDP erlegen ist.
Es ist schön, dass die Herstellung der Öffentlichkeit
durch Zivilgesellschaft und Opposition nun wohl Wirkung gezeigt hat und die Bundesregierung diese Woche
doch noch dem Ziel zugestimmt hat, die Armut zu reduzieren.
Auch ich finde, dass wir das „Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ernst nehmen müssen, wie es die Fraktion Die Linke fordert. Das heißt,
dass man nicht, wie es die Bundesregierung tut, nur
1,24 Millionen von 2,25 Millionen Euro in die Förderung
konkreter Projekte gegen Armut und soziale Ausgrenzung geben kann und den Rest in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für PR-Projekte und Werbeagenturen;
denn dafür ist das Thema von Armut und Ausgrenzung in
der EU zu ernst.
Ich habe ja schon in der ersten Lesung dieses Antrags
gesagt, dass ich ihn im Grundsatz richtig finde. Ich finde
richtig und gut, dass man Ziele und - das ist wichtig Wege zur Armutsreduktion beschreibt. Ich habe aber
auch gesagt, dass ich dieser Bundesregierung auf diesem Feld nicht viel zutraue. Ich glaube, sie braucht ein
bisschen mehr Hilfestellung, als dieser Antrag bietet.
Wir sehen ja, wo es hinführt, wenn die Bundesregierung
beim Europäischen Rat ohne genaue parlamentarische
Vorgaben agiert. Wir haben das gerade beispielhaft am
Umgang mit dem Ziel der Armutsreduktion gesehen. Wir
brauchen also außer dem Druck aus diesem Hause auch
Druck aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und Nichtregierungsorganisationen, wenn die Bundesregierung
außerhalb der deutschen Grenzen agiert. Es kann nicht
sein, dass sich Frau Merkel hier als die bessere präsidiale Bundeskanzlerin geriert und dann im Ausland die
knallharte FDP-Politik ihres schwindsüchtigen Koalitionspartners exekutiert.
Trotzdem ist es ein notwendiges Zeichen, diesem Antrag gerade vor dem Hintergrund der kürzlich beschlossenen Milliardenbürgschaften und des Sparpakets zuzustimmen. Es darf bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht
der Eindruck entstehen, der Staat würde nur denen aus
der Patsche helfen, die „too big to fail“ sind. Der Staat
muss gerade auch Strategien entwickeln, zunehmend
auch auf europäischer Ebene, den Armen und sozial
Ausgegrenzten in unserer Gesellschaft zu helfen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1246, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/889 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beteiligung der Energiekonzerne an den Kosten für das Atommülllager Asse
- Drucksache 17/1599 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
den Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul und
Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Ute Vogt, SPD, Angelika
Brunkhorst, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, und
Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
125 787 Fässer radioaktiver Abfälle wurden in den
Jahren 1967 bis 1978 im ehemaligen Salzbergwerk Asse
eingelagert. Über die Frage, wie dieses „Versuchsendlager“ sicher stillgelegt werden kann und wie teuer dies
ist, hat man sich damals sicher keine ausreichenden Gedanken gemacht. Jedenfalls gab es keine aus heutiger
Sicht realistischen Schätzungen der Kosten: Das zeigt
die Tatsache, dass die Ablieferer der Abfälle insgesamt
nur rund 16,5 Millionen DM Gebühren zahlen mussten.
Bei der Kalkulation dieser Gebührenhöhe wurden nicht
einmal ansatzweise die tatsächlich entstehenden Kosten
einer sicheren Stilllegung zugrunde gelegt. Wie Bundesumweltminister Norbert Röttgen im Umweltausschuss am 27. Januar 2010 vorgetragen hat, wird die
Stilllegung - je nachdem, welche Option der Stilllegung
verwirklicht wird - mindestens weitere 800 Millionen
Euro bis hin zu 3,9 Milliarden Euro kosten.
Es liegt daher auf der Hand, zu fragen, wer diese
Kosten tragen soll. Die Rechtslage dazu ist eindeutig:
Eine nachträgliche Heranziehung der Abfallverursacher ist heute nicht mehr möglich. Diese Auffassung hat
im Übrigen auch der frühere Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel immer vertreten. Der Grund dafür liegt
darin, dass die Abfallverursacher über 30 Jahre nach
der Ablieferung der Abfälle nicht mehr damit rechnen
müssen, für die Entsorgung der Abfälle nochmals herangezogen zu werden. Für sie stellte der Ablieferungsvorgang einen abgeschlossenen Sachverhalt dar. Sie
konnten auf die „befreiende Wirkung“ ihrer Gebührenzahlung vertrauen. Gleiches gilt für die Ablieferer der
Jahre bis 1975. In dieser Zeit wurden keine Gebühren
oder Entgelte gezahlt. Auch für sie ist der Vorgang der
Abfallentsorgung erledigt.
Dieses Vertrauen gilt in unserer Rechtsordnung als
schützenswert. Deshalb sind Regelungen, die eine
„echte Rückwirkung“, also einen Eingriff in abgeschlossene Vorgänge der Vergangenheit bewirken,
grundsätzlich unzulässig, so auch hier. Die Abfallverursacher können auch nicht über die Entsorgungsverträge,
die sie in den Jahren 1975 bis 1978 mit dem damaligen
Betreiber der Asse geschlossen hatten, zu einer weiteren
Zahlung verpflichtet werden. Darin hatten sich die Abfallablieferer zur Zahlung eines Entgelts, das „Gebühr“
genannt wurde, verpflichtet. Im Gegenzug hat sich der
Betreiber der Asse zur Einlagerung der Abfälle verpflichtet. Mit der Zahlung dieser Entgelte und der Einlagerung der Abfälle war der Vertrag erfüllt. Eine „Nachzahlung“ kann nicht geltend gemacht werden. Nach der
geltenden Rechtslage trägt damit der Bund als Anlagenbetreiber das Risiko höherer Stilllegungskosten. An diesen Kosten können auch nicht die Bundesländer beteiligt
werden. Das wurde im März letzten Jahres ausdrücklich
in § 57 b Abs. 1 Satz 3 des Atomgesetzes klargestellt.
Kann diese Risikoverteilung im Ergebnis als fair angesehen werden? Die Abfälle, die in der Asse eingelagert wurden, stammen zu einem großen Teil von den
Kernkraftwerken der Energieversorgungsunternehmen.
Dies gilt für 40 Prozent der Abfallgebinde, die entweder
direkt von den Energieversorgungsunternehmen, EVU,
an die Asse abgegeben wurden oder indirekt von den
EVU über die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe in
die Asse gelangten. Noch deutlicher sieht es aus, wenn
man auf die Radioaktivität der Abfälle abstellt: Deutlich
über 70 Prozent der Aktivität, die in der Asse eingelagert
ist, sind direkt oder indirekt der Energiewirtschaft zuzurechnen. Die Gesamtmenge von über 125 000 Abfallgebinden, die eingelagert wurden, überschreitet auch objektiv die Menge, die für Forschungsarbeiten tatsächlich
notwendig war.
Auf der einen Seite haben damit die EVU die Vorteile
einer Entsorgung ihrer Abfälle erlangt. Auf der anderen
Seite decken die von allen Ablieferern gezahlten Gebühren aber weniger als 1 Prozent der Kosten der Asse. Den
Rest, über 99 Prozent, trägt die öffentliche Hand, damit
der Steuerzahler. Dieses Ergebnis verträgt sich nicht mit
dem Verursacherprinzip. CDU, CSU und FDP haben
deshalb in ihrem Koalitionsvertrag vom 26. Oktober
2009 festgelegt, dass die Energieversorger an den Kosten der Schließung der Asse zu beteiligen sind. Dies geschieht auch: Die Bundesregierung hat am Montag im
Rahmen des „Sparpakets“ beschlossen, eine Brennelementesteuer einzuführen. Zur Begründung dieses „steuerlichen Ausgleichs der Kernenergiewirtschaft“ hat sie
dabei ausdrücklich auf die Beteiligung der EVU an den
Stilllegungskosten hingewiesen. Einen Antrag, wie ihn
die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hier vorgelegt
hat, brauchen wir daher nicht.
Jedenfalls müssen weitere Konsequenzen aus diesem
bei der Asse aufgetretenen Problem gezogen werden:
Bei den künftigen Endlagern, sowohl beim Endlager
Konrad als auch beim Endlager für hochradioaktive Abfälle, muss von vornherein klar die verursachergerechte
Finanzierung der Kosten, einschließlich der Stilllegungskosten, verbindlich geregelt werden. Die Geldmittel müssen in ausreichendem Umfang zu dem Zeitpunkt verfügbar sein, an dem sie benötigt werden.
Sie sprechen in Ihrem Antrag das an, was man als
„Verantwortungsprinzip“ beschreiben könnte. In einem
Rechtsstaat gibt es für diese Verantwortlichkeit feste und
verlässliche Regeln, namentlich etwa die der Ursächlichkeit, der Zurechenbarkeit, der Verjährung etc.
Diese Regeln gelten selbstverständlich auch im Energieversorgungsbereich. Demzufolge sind Anlagenbetreiber eines Kernkraftwerks in Verantwortung zu nehmen.
Dies ist unstreitig und richtig, und das will ich nochmals
hervorheben. Wir hatten hierzu in der letzten Legislatur
nicht zuletzt und richtigerweise die Haftungsregeln in
dem Bereich entscheidend detailliert und verschärft.
Das erklärte Antragsziel in der Drucksache 17/1599
wäre juristisch betrachtet allerdings unter eine Art
„rückwirkende Nachforderungspolitik“ im Rahmen eines abgeschlossenen Sachverhalts zu subsumieren, und
dies ist mit der Rechtsstaatlichkeit gerade nicht vereinbar.
Genau zu diesem Punkt bezüglich der rückwirkenden
Gebührenerhebung im Bereich Asse habe ich in der letzten Legislatur in einer Plenarrede bereits ausführlich
Stellung bezogen. Ich will meine Ausführungen gerne in
Erinnerung rufen, denn das parlamentarische Erinnerungsvermögen von den Kollegen Bündnis 90/Die Grünen scheint nahezu so schlecht zu sein wie ihr parlamentarisches Gewissen.
Bezüglich Letzterem darf ich zuvörderst daran erinnern, dass Sie in Ihrer eigenen Regierungszeit nicht den
sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie veranlasst haben, auch wenn Ihre Partei unmittelbar nach Ausscheiden aus dem Regierungsamt wieder zum Hardliner-Ansatz der „unmittelbaren Ausstiegsbewegung“ zurück
mutiert zu sein scheint und man ab der Niederlegung des
Regierungsamtes wieder mit organisierten Sitzblockaden bei Transporten von radioaktivem Material rechnen
musste, die fortan nicht mehr von grüner Prominenz, wie
Trittin und Co., zurückgehalten wurden.
Und um an der Stelle zum Thema Asse zu kommen:
Sie haben hier in Ihrer eigenen Regierungszeit auch
keine Rechtsgrundlage für eine rückwirkende Gebührenerhebung geschaffen, und zwar deshalb, weil sie einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht standgehalten hätte. Just diesen Punkt, dass eine rückwirkende Gebührenerhebung nicht erfolgen kann, hatte ich
im Zuge der Änderung des Atomgesetzes in der letzten
Legislatur bereits ausgeführt und darf ergänzen, dass
dies juristisch davor wie danach vielfach belegt wurde.
Aber ich werde gerne nochmals und ergänzend für Sie
meine Ausführungen niederlegen: Bei der Asse handelt
es sich um ein Bundesforschungsbergwerk. Die von der
Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe in die Schachtanlage Asse angelieferten Abfälle sind, um hier Ihre Kritik
im Antrag aufzugreifen, bei der Wiederaufbereitung als
Betriebsabfall der Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe entstanden und gingen in das Eigentum und damit
in die Verantwortung der öffentlichen Hand über. Die
damalige Gesellschaft für Kernforschung hat die Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe im Auftrag des Bundes - ich wiederhole: im Auftrag des Bundes - als Prototypanlage mit dem Ziel erstellt, Untersuchungen zur
sicheren Betriebsführung durchzuführen, die die Prozesse der Wiederaufarbeitung optimieren sollte.
Zur Kritik an der Gebührenhöhe: Die veranschlagten
Gebühren wurden ordnungsgemäß entrichtet. Dabei ist
unstreitig - und insofern stimme ich Ihrer Kritik partiell
zu -, dass der hierfür veranschlagte Betrag ex post ein
zu geringer ist. Aber wir können die Uhren nicht zurückdrehen. Genauso wenig kann der Gesetzgeber heute
nachträglich weitere Gebühren erheben. Und dies gilt,
obwohl wir rund 30 Jahre später nicht nur die Einlagerung in einem ausgebeuteten Bergwerk überhaupt nicht
mehr vornehmen würden, sondern für die Abnahme des
Materials ganz andere Gebühren zu entrichten wären.
Eine nachträgliche Gebührenerhebung scheitert am verfassungsrechtlich verankerten Verbot der Rückwirkung.
Es handelt sich um einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Lebenssachverhalt, an den rückwirkend
weitere Rechtsfolgen geknüpft würden. Deshalb kann inhaltlich am Bestand von § 57 b Abs. 1 Satz 3 Atomgesetz
nichts geändert werden.
Eng damit in Zusammenhang steht, dass Sie in Ihrem
Antrag so tun, als ob die Regierungsparteien das Thema
Kostenbeteiligung der Energiekonzerne einfach nicht
behandeln würden: Ich darf insofern im Hinblick auf
den chronologischen Rückblick in diesem Jahr exemplarisch auf die Ausführungen von Herrn Minister Röttgen
verweisen anlässlich einer Sitzung des Umweltausschusses im Januar 2010. Im unmittelbaren Nachgang
hierzu hatte Minister Röttgen ein Papier an alle Fraktionen im Umweltausschuss - auch an die Grünen, wie mir
der Umweltausschuss aktuell nochmals bestätigte - versenden lassen, in dem er drei Möglichkeiten einer Beteiligung der Energieversorgungsunternehmen nochmals
schriftlich niederlegte. Ich darf die damaligen Niederlegungen des Ministers wiederholen, wenn die Herrschaften von den Grünen unter anderem an dieser Stelle konsequent die Arbeit der Regierung ignorieren: die
Einführung einer Brennelementesteuer und Verwendung
der Einnahmen für die Stilllegung der Asse; die freiwillige Verpflichtung der EVU, auch im Falle der Einlagerung der Asse-Abfälle in den Schacht Konrad, eine Kostenteilung von 1/3 Bund und 2/3 EVU zu akzeptieren; die
Schaffung eines Asse-Fonds analog zum SalzgitterFonds durch die EVU und damit teilweise Deckung der
Stilllegungskosten und Schaffung eines finanziellen Ausgleichs für die Region.
Ihr Ziel war es, mit dem stimmungsmachenden Antrag 17/1599 vom Mai 2010 die Regierung vorzuführen
als vermeintlich nicht handelnd. Das entspricht aber
nicht den realen Gegebenheiten, und ich darf insofern
auf die aktuellen Ergebnisse der Haushaltsklausur des
Bundeskabinetts hinweisen. Hierin ist unter anderem
auch explizit der steuerliche Ausgleich seitens der Kernenergiewirtschaft niedergelegt, unter ausdrücklichem
Verweis auf den Ausgleich, der sich durch die Stilllegung
und den Rückbau von kerntechnischen Anlagen - einschließlich Endlager - ergibt. Dies ist das Ergebnis einer kontinuierlichen parlamentarischen Arbeit der Regierungsparteien. Hier darf ich nochmals insbesondere
auf unsere Arbeit 2010 im Umweltausschuss verweisen,
die ich auszugsweise vorab angeführt habe.
Diese destruktiv stimmungsmachende Haltung, meine
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, halte ich in
den schwierigen Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, für schlichtweg gleichermaßen unprofessionell wie
unhaltbar. Und weil die Hoffnung zuletzt stirbt: Ich
würde mir wünschen, dass Sie im Bereich der Energieversorgung und Energieversorgungssicherheit, auch
wenn es das Thema Kernenergie und Endlager anbeZu Protokoll gegebene Reden
langt, künftig mit fundierter und aufrichtiger Parlamentsarbeit überzeugen würden.
Zu den überbordenden Kosten für die Atomenergie
liegt uns immer noch keine ehrliche Rechnung seitens
der Bundesregierung vor. Auf 258 Milliarden Euro
beziffert eine Studie des Forums Ökologisch-Soziale
Marktwirtschaft die realen Kosten der Atomkraft.
165 Milliarden davon sind bereits bis 2008 durch den
Bund geleistete Zahlungen und dazu kommen weitere
92,5 Milliarden, von denen wir heute schon wissen, dass
sie noch geleistet werden müssen. Die Bundesregierung
hat dagegen die Höhe der Subventionen mit nur
200 Millionen Euro angegeben. Dazwischen liegen ja
„tausend Welten“ könnte man flapsig sagen und sich
trefflich darüber streiten, wer denn nun richtig gerechnet hat. Jedoch allein für die Sanierung von Asse II werden aktuell Kosten von 3,7 Milliarden Euro veranschlagt. Da werden Dimensionen sichtbar, die die
Atomlobbyisten in der Regierungskoalition gerne unterschlagen und die deutlich machen, dass die Zahlen der
Bundesregierung - freundlich umschrieben - mehr als
geschönt sind.
Wenn im vorliegenden Antrag die Beteiligung der
Energiekonzerne an den Kosten für Asse gefordert wird,
so ist dieses Ziel vollkommen gerechtfertigt. Denn diese
enormen Kosten allein den Steuerzahlern aufzubürden,
wäre nicht nur unredlich, sondern auch unsozial. Es gilt
vielmehr, die wahren Verursacher angemessen an den
Kosten zu beteiligen. Denn es kann nicht sein, dass die
großen Energieversorger die Gewinne einstreichen und
die Steuerzahler die Lasten tragen.
Die SPD hat dazu bereits den Vorschlag unterbreitet,
über eine „Brennelementesteuer“ auf Uran für eine
angemessene Beteiligung der Atomenergieerzeuger zu
sorgen. Dass die schwarz-gelbe Regierung nun diese
„Atomstromsteuer klaut“, wie die „Financial Times
Deutschland“ titelt und so unsere Idee aufgreift, ist ja
grundsätzlich sehr lobenswert, und es würde uns freuen,
wenn sie dies auch noch auf andere politische Felder
übertrüge, um Deutschland endlich wieder in ruhigeres
Fahrwasser zu bringen. Allerdings verfolgt die Bundesregierung hier mit dieser Steuer ein vollkommen anderes
Ziel: Nicht eine angemessene Beteiligung der Kraftwerksbetreiber an den wahren Kosten der Atomenergie
ist vorgesehen, vielmehr plant sie einen Ablasshandel.
Sie will stattdessen nur längere Atomkraftwerkslaufzeiten schmackhaft machen. Auch die geplante Höhe der
Besteuerung von 2,5 Milliarden Euro relativiert sich,
sieht man die Gewinne, die die Atomstromerzeuger jedes
Jahr mit ihren abgeschriebenen Atomkraftwerken im
Gegenzug erwirtschaften können. 1 Million Euro Gewinn pro Tag erbringt ein Atomkraftwerk. Bei 17 laufenden Atommeilern landen so in einem Jahr über 6 Milliarden Euro auf den Konten der Atomstromerzeuger.
Von diesem „Geschenk“ nicht einmal die Hälfte abgeben zu müssen, fällt natürlich leicht.
Dass mit jedem Jahr Atomkraftwerkslaufzeit auch
jede Menge neuer Atommüll entsorgt werden muss, wird
dabei gerne von der schwarz-gelben Regierung unter
den Tisch gekehrt. Auch, dass wir nach wie vor noch
über kein Endlager für hochradioaktiven Müll verfügen,
wird ebenfalls gerne vergessen. Und wie ein falscher Lagerstandort für Atommüll schnell Unsummen verschlingt, wenn eine Sanierung notwendig wird, zeigt
sich uns gerade jetzt leidvoll in Asse.
Deshalb heißt es zunächst natürlich, die Kraftwerksbetreiber an allen Kosten der Atomstromerzeugung angemessen zu beteiligen, wie auch in diesem Antrag gefordert. Aber vor allen Dingen müssen wir am
Atomausstieg - wie unter Rot-Grün beschlossen und von
den Energieversorgern zugesichert - festhalten. Denn
jeder Tag, den ein Atommeiler weiterläuft, bringt nicht
nur satte Gewinne für die großen Energiekonzerne, sondern auch jede Menge Gefahren für uns und unsere Umwelt und die nach uns kommenden Generationen.
Mit Wirkung zum 1. Januar 2009 wurde das Forschungsbergwerk Asse II in eine Anlage des Bundes zur
Endlagerung radioaktiver Abfälle überführt. Der Betrieb der Anlage ging vom Helmholtz-Zentrum München
auf das Bundesamt für Strahlenschutz über. Parallel
wechselte die Verantwortung für die Asse II. Sie wechselte vom Bundesforschungsministerium zum Bundesumweltministerium.
Die Stilllegung des Forschungsbergwerks soll nun
durch ein atomrechtliches Planfeststellungsverfahren
erfolgen. In § 57 b Abs. 1 Satz 3 des Atomgesetzes ist
festgeschrieben worden, dass die Kosten für den Weiterbetrieb und die Stilllegung der Schachtanlage Asse II
durch den Bund zu tragen sind. Diese Vorschrift wurde
Anfang 2009 während der Amtszeit des damaligen Bundesumweltministers Sigmar Gabriel eingeführt. Die
FDP hat während der Beratungen betont, dass die Kosten nach dem Verursacherprinzip getragen werden müssen. Bei der Asse handelt es sich um eine Forschungseinrichtung des Bundes. Der überwiegende Teil der
eingelagerten Abfälle stammt aus der Forschung, dementsprechend ist die Regelung über die Kostentragung
bei der Asse grundsätzlich sachgerecht.
Es ist jedoch nicht nur legitim, sondern auch angezeigt, die Energieversorgungsunternehmen mehr an der
Finanzierung der Schließung der Asse zu beteiligen. In
die Asse wurden nicht nur radioaktive Abfälle unmittelbar aus Forschungseinrichtungen verbracht, sondern
auch radioaktive Abfälle, die von den Energieversorgungsunternehmen stammen. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deshalb mit der CDU und der CSU darauf
verständigt, dass die Energieversorger an den Kosten
der Schließung der Asse II zu beteiligen sind.
Die angestrebte Beteiligung der Kraftwerksbetreiber
an den Sanierungskosten der Schachtanlage Asse II hat
auch auf der Kabinettsklausur der Bundesregierung in
dieser Woche eine Rolle gespielt. Im Rahmen der Eckpunkte für die weitere Aufstellung des Haushaltsentwurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014 hat die christlich-liberale Bundesregierung unter anderem die
Einführung einer Brennelementesteuer beschlossen. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Einnahmen sollen auch für die Stilllegung der Asse verwendet werden. So kann die Kernenergiewirtschaft an
den Sanierungskosten der Asse II angemessen beteiligt
werden.
Bei der Entscheidung über die Schließung der Asse
hat für uns Liberale der Schutz der in der Region lebenden Menschen sowie der in der Asse beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter absolute Priorität. Bevor
endgültig über die Rückholung entschieden wird, muss
konzeptionell sichergestellt werden, dass die betroffenen
Menschen keinen unnötigen Risiken ausgesetzt werden.
Unser Ziel ist es, eine dauerhafte und umweltverträgliche Schließung der Asse II sowie eine gefahrlose Verwahrung der radioaktiven Abfälle sicherzustellen.
Das sogenannte Verursacherprinzip besagt, dass
Kosten zur Beseitigung und zum Ausgleich von Beeinträchtigungen der Umwelt dem Verursacher zugerechnet
werden.
Im Versuchsendlager Asse liegen über 126 000 Fässer radioaktiven Mülls mit zu großen Teilen unbekanntem Inhalt. Das Bergwerk ist einsturzgefährdet, es tritt
Salzlauge ein, die Abfälle müssen zeit- und kostenaufwändig zurückgeholt werden.
Unabhängig von Vereinbarungen zur kostenlosen
Versuchseinlagerung in der Asse sind die Kosten der
Rückholung und endgültigen Endlagerung des rund
80 Prozent betragenden Anteils des Inventars, der von
AKW-Betreibern stammt, auch durch diese zu tragen.
Selbst die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag festgestellt, dass die Energiekonzerne an
den Kosten der Asse zu beteiligen sind. Danach behauptete Umweltminister Röttgen allerdings, dass keine
rechtliche Grundlage dafür in Aussicht sei. Wenn nicht
Generationen von Politikern die Atomindustrie geschont
und mit mehr als 165 Milliarden Euro öffentlicher Gelder subventioniert hätten, stünden wir heute ganz anders da.
Bis zu 40 Milliarden Euro flossen an Subventionen
auch in Sackgassen und Altlasten. Durch den rot-grünen
Konsens wurden zudem abgesichert: über 30 Milliarden
für das hausbankähnliche System der steuerfreien Entsorgungsrücklagen, ebenso die Garantie eines reibungslosen Betriebs, zum Beispiel Transportsicherung, ein
Betreiber förderndes Strahlenschutzgesetz, das die
Strahlenwirkung stark kostensenkend unterschätzt, mangelnde Abschirmung und fehlende Fallversuche für Behälter, fehlende Versicherungsabdeckung. Die Liste lässt
sich beliebig fortsetzen.
Dennoch begrüßen wir den Antrag der Grünen. Denn
da nicht davon auszugehen ist, dass die Atomwirtschaft
freiwillig aus moralischen Gründen auf die Idee kommt,
ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die angehäuften Milliarden den Menschen zurückzugeben, müssen ordnungsrechtliche Maßnahmen her. In den Eckpunkten aus der Sparklausur der Bundesregierung für
die weitere Aufstellung des Haushaltentwurfs 2011 und
des Finanzplans bis 2014 heißt es, man wolle nun durch
eine Brennelementesteuer einen Anteil der Kosten für
die Asse-Sanierung decken.
Diese geplante Brennelementesteuer stellt nur die
Abschaffung eines bisherigen Subventionsprivilegs dar.
Uran wird damit anderen fossilen Brennstoffen zum ersten Mal gleichgestellt. Einen Ersatz für die gesetzlich
vorgeschriebenen Entsorgungsrücklagen kann die
Brennelementesteuer also gar nicht darstellen. Die Regierung behauptet, die Atomwirtschaft mit einer Brennelementesteuer in die Verantwortung zu nehmen. Dabei
fördert sie sie aber nur wieder einmal, indem sie durch
die Kopplung dieser Steuer mit einer Laufzeitverlängerung den Energiekonzernen weitere Milliardenprofite,
den Menschen im Land aber weitere Tausende Tonnen
von radioaktivem Müll beschert und die regenerativen
Energien ausbremst.
Die Linke fordert, die Verpflichtungen der Energiekonzerne zur Kostenbeteiligung an allen Endlagervorgängen endlich konsequent und schonungslos umzusetzen. Dass die Verursacher jetzt für ihren Müll zahlen, ist
das Mindeste, was man angesichts der kaum mehr abwendbaren ökologischen Katastrophe in der Asse durchsetzen muss - neben einem sofortigen Atomausstieg, um
weiteren Müll zu verhindern.
Die Entsorgungsrücklagen, die die Energiekonzerne
steuerfrei und gut verzinst anlegen dürfen, beliefen sich
2009 immerhin auf wenigstens 26 Milliarden Euro.
Diese Rücklagen sind mit sofortiger Wirkung und auch
in Zukunft an einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu
überführen, um eine risikoarme Verwaltung der Entsorgungsrücklagen zu gewährleisten. Aus diesem Fonds
werden sowohl die anteiligen Kosten für die Rückholung
und Endlagerung des Asse-Mülls bestritten als auch für
die vergleichende Suche nach einem bestmöglichen
Endlager für hochradioaktiven Atommüll in Deutschland sowie für dessen Bau und Betrieb. Des Weiteren
fordert die Linke, jede, wirklich jede Subventionierung
der Atomenergie sofort zu streichen.
Wenn die Atomindustrie, wie selbst von Regierungskreisen vorhergesagt, anfängt, die zusätzlichen Kosten
auf die Strompreise umzulegen, wird bald jedem im Land
klar sein, dass das Märchen vom billigen Atomstrom aus
ist und die harte Realität zuschlägt. Damit käme diese
uralte Lüge endlich einmal vom Tisch. Atomstrom ist auf
Dauer nicht bezahlbar, hochrisikoreich und ein ökologisches Desaster für Tausende Jahre mit allen Folgekosten. Dass das niemand mehr bezahlen will, liegt auf der
Hand. Da gibt es nur eins: Abschalten!
Jahrzehntelang wurde die Asse von den für sie Verantwortlichen als leuchtendes Beispiel der Endlagerforschung dargestellt, das rein dem hehren Wissensgewinn
diene. Angeblich stellte sie - allen kritischen Stimmen
zum Trotz - keinerlei Risiko dar, und mit den Atomkraftwerken und ihrem Strahlenmüll hatte sie schon gar
nichts zu tun. Dieses Märchen ging jäh zu Ende. Heute
ist klar, dass die Asse akut einsturzgefährdet ist und die
Abertausende Atommüllfässer in ihr eine massive Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Asse ist mit ziemlicher Sicherheit das größte Umweltproblem Europas. Ihre Sanierung stellt uns vor gewaltige Probleme und immense Kosten. Neben der Suche nach der bestmöglichen Lösung für das Problem
Asse stellt sich daher auch die Frage, wer diese Kosten
tragen soll. Bislang stehen dafür die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler in der Pflicht - wie so oft, wenn es darum geht, Verantwortung für die strahlenden Hinterlassenschaften der Atomwirtschaft zu übernehmen. Dabei
war es nicht die Bevölkerung, die von der billigen Müllkippe Asse profitierte, sondern die Atomwirtschaft.
Die Asse ist untrennbar mit der kommerziellen Nutzung der Atomkraft verknüpft. Dies zeigt schon ein Blick
auf das radioaktive Inventar: Der Anteil der in der Asse
eingelagerten Radioaktivität, der auf Anlagen kommerzieller Betreiber zurückgeht, beträgt nach heutigem
Kenntnisstand mindestens 86 Prozent. Alleine drei Viertel der eingelagerten Radioaktivität gehen auf abgebrannte Brennelemente aus den Atomkraftwerken Obrigheim und Gundremmingen zurück.
Der in den 70er- und 80er-Jahren vollzogene Ausbau
der Atomkraft in Deutschland wäre unmöglich gewesen,
hätte man nicht Abertausende Atommüllfässer in der
Asse verscharren können. Der Historiker Detlev Möller
kommt in seiner Dissertation zu dem Schluss, dass die
Asse gerade dazu diente, der damals noch in den Kinderschuhen steckenden deutschen Atomwirtschaft auf
die Beine zu helfen. Zahlreiche AKW-Genehmigungen,
in denen die Asse als Endlagermöglichkeit aufgeführt
wird, bestätigen dies. So heißt es beispielsweise in einer
Genehmigung für den berühmt-berüchtigten Pannenmeiler Krümmel, die Asse sei seit 1967 als Endlagerstätte in Betrieb.
Neben ihrer Rolle als Nachweis für die Entsorgungsvorsorge für den radioaktiven Abfall aus den Atomkraftwerken gibt es noch eine weitere Verbindung zwischen
der Asse und der kommerziellen Atomkraftnutzung.
Viele der erwähnten AKW-Genehmigungen belegen,
dass die Asse insbesondere auch als „Versuchsanlage
für Gorleben“ diente. Entsprechend wurde in der Asse
mit Bezug zu Gorleben anlagenbezogene Endlagerforschung durchgeführt. Finanziell unterscheidet sich anlagenbezogene Forschung ganz wesentlich von der
Grundlagenforschung. Letztere finanziert der Staat, die
Kosten für Erstere sind aber nach dem Verursacherprinzip zu tragen. Gerade deshalb forderte der Bundesrechnungshof im Jahr 1992, die AKW-Betreiber an den Kosten dieser im Hinblick auf Gorleben durchgeführten
Forschung in der Asse angemessen zu beteiligen. Dazu
kam es jedoch nicht. Warum, wissen wohl nur die ehemalige Regierung von Helmut Kohl und vielleicht auch
die AKW-Betreiber.
Diese wollen heute aber bekanntermaßen nichts mit
der Asse zu tun gehabt haben und streiten jede Verantwortung ab. Umso erstaunlicher ist es, dass sie es waren, die im Jahr 1975 dafür sorgten, dass Annahmebedingungen für den Atommüll in der Asse gelockert
wurden. Dokumente aus der damaligen Zeit belegen ihr
Motiv: Nachdem ihnen die Entsorgungsmöglichkeit Asse
acht Jahre lang völlig kostenlos zur Verfügung gestanden hatte, sollten ab 1976 erstmals Gebühren dafür erhoben werden, den Müll in der Asse loszuwerden. Die
Konzerne waren daher entschlossen, wenigstens möglichst viel für ihr Geld zu bekommen. In der Folge wurden auf ihren Druck hin die Abfallbestimmungen in der
Asse um den Faktor fünf gelockert.
In der Summe haben die Energiekonzerne gerade einmal umgerechnet rund 2 Millionen Euro an Asse-Gebühren entrichtet. Demgegenüber hat der Bund bis heute
schon rund 800 Millionen Euro für die Asse ausgegeben.
Insgesamt wird das Problem Asse wohl 4 Milliarden
Euro teuer. Ohne Beteiligung der Energiekonzerne
müssten ausschließlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dafür aufkommen. Dagegen haben meine Fraktion und ich bereits in der letzten Legislaturperiode protestiert. Der Antrag, in dem wir eine Beteiligung der
Energiekonzerne an den Asse-Kosten forderten, wurde
aber mit den Stimmen der Unions- und der FDP-Fraktion abgelehnt. Mittlerweile haben jedoch die heutigen
Regierungsfraktionen anerkannt, was geboten ist. In ihrem Koalitionsvertrag heißt es wörtlich: „Die Energieversorger sind an den Kosten der Schließung der Asse II
zu beteiligen.“
Eine Kostenbeteiligung der Energiekonzerne ist notwendig, und es darf sie nur ohne Gegenleistung geben.
Der Schuldenberg, den die Atomwirtschaft bei der Bevölkerung angehäuft hat, ist bereits groß genug, und er
wächst munter weiter. Doch anstatt diesen Schuldenberg
endlich zu verkleinern, konzentriert die Regierung ihre
ganze Energie darauf, den Atommüllberg zu vergrößern.
Anstatt die Energiekonzerne endlich finanziell in die
Verantwortung zu nehmen, verwendet die Regierung immer größeren Eifer darauf, den Konzernen dicke Gewinne aus der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu bescheren.
Das muss ein Ende haben. Die Hauptprofiteure der
Asse, die AKW-Betreiber, müssen endlich angemessen
herangezogen werden, wenn es darum geht, das Milliardenloch der Asse-Kosten zu stopfen. Gerade auch angesichts der gigantischen Staatsverschuldung kann es
nicht sein, dass dafür wieder einmal die Bevölkerung zur
Kasse gebeten werden soll. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag „Beteiligung der Energiekonzerne an den Kosten für das Atommülllager Asse“ zu.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1599 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph
Strässer, Angelika Graf ({1}), Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenrechtsverteidiger brauchen den
Schutz der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({2}), Marieluise Beck ({3}), Viola von
Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger
- Drucksachen 17/1048, 17/1165, 17/1936 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Serkan Tören
Katrin Werner
Volker Beck ({4})
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
Frank Heinrich, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD,
Marina Schuster, FDP, Annette Groth, Die Linke, und
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Druck-
sache 17/1936. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1048
mit dem Titel „Menschenrechtsverteidiger brauchen den
Schutz der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1165 mit dem Titel „Mehr
Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und Men-
schenrechtsverteidiger“. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen hat beantragt, dass über die Ziffer II.3 des An-
trags einerseits und den übrigen Antrag andererseits ge-
trennt abgestimmt werden soll.
Wir stimmen daher zunächst über die Ziffer II.3 des
Antrags auf Drucksache 17/1165 ab. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Ziffer II.3
des Antrags ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
lehnt.
Wer stimmt für den übrigen Teil des Antrags auf
Drucksache 17/1165? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der übrige Teil des Antrags ist mit dem glei-
chen Mehrheitsverhältnis abgelehnt. Damit ist der An-
trag insgesamt abgelehnt.
1) Anlage 6
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b so-
wie Zusatzpunkt 11 auf:
22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Dagmar Ziegler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide
nach Abzug der Bundeswehr
- Drucksache 17/1961 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Ausschuss für Tourismus ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Friedliche Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide
und Interessen der Region sichern
- Drucksache 17/1972 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({7})
Ausschuss für Tourismus ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({9}), Agnes Malczak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche
Regionalentwicklung
- Drucksache 17/1989 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und
Kollegen Anita Schäfer und Norbert Brackmann, CDU/
CSU, Hans-Joachim Hacker, SPD, Jens Ackermann,
FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, und Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Im Juli letzten Jahres verzichtete Verteidigungsminister Jung auf eine Nutzung des Truppenübungsplatzes
Wittstock als Luft-Boden-Schießplatz. Im Nachgang
dazu ergaben weitere Prüfungen des Ministeriums, dass
seitens der Bundeswehr auch kein Bedarf an einer anderen militärischen Nutzung des Geländes besteht. Dem
Anita Schäfer ({0})
waren lange Jahre vorangegangen, in denen alle beteiligten Parteien mit großer Überzeugung berechtigte Interessen vertreten haben. Hierzu gehören ganz gewiss
die Interessen der Anwohner und die der Tourismusindustrie der Region. Lassen Sie mich dazu ganz klar sagen: Niemand nimmt eine Belastung durch militärischen
Übungsflugbetrieb auf die leichte Schulter. Wer selbst
wie ich in einem Gebiet lebt, in dem dies regelmäßig
stattfindet, weiß um die Sensibilität dieses Themas. Das
gilt sowohl im Hinblick auf den Schutz der Anwohner
vor unnötiger Ruhestörung als auch im Hinblick auf die
Auswirkungen auf den Tourismus.
Zu den berechtigten Interessen gehört aber auch die
Notwendigkeit eines militärischen Übungsbetriebes, der
einen sicheren Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleistet. Auch das wird niemand ernsthaft bestreiten. Egal, ob unsere Piloten ihr Alltagsgeschäft der
Landes- und Bündnisverteidigung verrichten oder wir
sie zu Friedens- und Stabilisierungsmissionen ins
Ausland entsenden: Sie haben einen Anspruch darauf,
so gut dafür vorbereitet zu sein wie möglich. Gerade für
die einsatzrelevante Aus- und Weiterbildung im Rahmen
der Luftnahunterstützung wäre der Truppenübungsplatz
Wittstock von großer Bedeutung gewesen. Welche Bedeutung eine solche Luftnahunterstützung haben kann,
ist uns allen vor Ostern vor Augen geführt worden.
Aber nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten
bedeutet die Preisgabe einen Verlust. Gerade den Kommunen vor Ort entstehen damit auch greifbare wirtschaftliche Einbußen. So wird erstens das IV. Luftwaffenausbildungsregiment erst gar nicht nach Wittstock
verlegt. Und zweitens führt dies zur Auflösung des bestehenden Standortes. Für die Stadt Wittstock war über
viele Jahre lang die mit dem Luft-Boden-Schießplatz
verbundene Bundeswehrgarnison eine Grundlage für
stabile und sichere Arbeitsplätze, die nicht der Abhängigkeit verschiedenster Faktoren unterlagen. Der Zuzug
der dort zu stationierenden Zeit- und Berufssoldaten und
ihrer Familien sowie der regelmäßige Austausch auszubildender und übender Truppen hätten einen langfristigen und stabilen positiven Effekt auf Wirtschaft und Demografie der Region entwickelt.
Diese Chancen sind nun jedoch vertan. Seitens der
Bundeswehr wurden zwischenzeitlich die ersten Schritte
für eine anstehende Konversion eingeleitet. Bei allen vorangegangenen Differenzen besteht kein Zweifel daran,
dass jetzt allen Beteiligten daran gelegen ist, unverzüglich zu einer Abgabe der Liegenschaft zu gelangen. Aber
es ist offensichtlich noch nicht allen Beteiligten klar,
welche Hürden hierzu noch zu überwinden sind. So habe
ich durchaus meine Zweifel daran, ob all jene, die in den
vergangenen Jahren mit Begriffen wie dem Bombodrom
polemisch gegen die Nutzung durch die Bundeswehr
vorgegangen sind, sich auch Gedanken darüber gemacht haben, was die von ihnen angestrebte zivile Nutzung letzten Endes an Anstrengungen voraussetzt.
Derzeit prüft die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben die Modalitäten einer Übernahme der Liegenschaft
und hat hierzu auch schon den Kontakt mit dem Land
Brandenburg aufgenommen. Eine Eigentumsübertragung vom BMVg zur BImA als erste Voraussetzung für
eine zivile Nutzung setzt aber eine umfassende Regelung
der Räumungs- und Kostentragungspflichten voraus.
Hierfür wird eine sehr detaillierte Ermittlung der
Munitions- und Altlastensituation notwendig sein. Das
alles wird leider nicht - wie vielleicht von vielen erträumt - von heute auf morgen zu erhalten sein. Die Erfahrungen bei der Freigabe anderer Übungsplätze zeigen, dass sich die notwendigen Verfahren über weitere
Jahre hinziehen werden. Bevor die technischen Voraussetzungen für eine Übergabe der Liegenschaft geschaffen werden können, ist zuerst sogar noch zu prüfen, auf
welcher gesetzlichen Grundlage diese dann zu erfolgen
hat. Grundsätzlich unterläge der Übungsplatz dem Verwaltungsabkommen zur Übertragung der von der russischen Armee genutzten Liegenschaften. Aber selbst dies
ist nicht zweifelsfrei.
Zusätzlich werden sicherlich die anfallenden Räumungskosten dazu beitragen, die zivile Nutzung der
Kyritz-Ruppiner Heide erst in einiger Zeit zu realisieren.
Für die Nutzung durch die Bundeswehr wurden circa
220 Millionen Euro ermittelt. Eine zivile Nutzung setzt
jedoch ganz andere Standards voraus. Hier wird von einer deutlich höheren Kostenbelastung auszugehen sein.
Sosehr ich der Region auch eine baldige spürbare
touristische Weiterentwicklung durch die Nutzung der
Kyritz-Ruppiner Heide wünsche, so sehr halte ich es für
unangebracht, durch Anträge wie die drei vorliegenden
den Eindruck zu erwecken, dies in absehbarer Zeit erreichen zu können.
Viel wichtiger ist es, die möglichen positiven Impulse,
die von der Kyritz-Ruppiner Heide für einen nachhaltigen Tourismus in der Region entstehen können, auf einer
rechtlich sicheren Basis zu erzeugen. Auch hier bietet
sich an, Erfahrungswerte, die an anderen Orten gemacht wurden, zu nutzen. Ich denke hier zum Beispiel an
den ehemaligen Übungsplatz Münsingen. Er ist Teil des
Biosphärenreservates Schwäbische Alb und wird von
der BImA langfristig als Naturschutzfläche geführt.
Daher ist auch die zum Beispiel von der SPD geforderte Einbeziehung in den Flächenpool des Nationalen
Naturerbes nicht angebracht. Hier hat es in der Vergangenheit schon weitreichende Abstimmungen mit den
Ländern gegeben. Für eine Einbeziehung in die noch offenen 25 000 Hektar sehe ich daher keine Notwendigkeit. Wichtig ist es, dass nun die verschiedenen Stellen
des Bundes gemeinsam mit dem Land Brandenburg
sämtliche Modalitäten der Eigentumsübertragung klären und hinsichtlich künftiger Nutzungsüberlegungen
frühzeitig auch die Interessenträger vor Ort in die entsprechenden Verfahren einbinden.
Zeitliche und inhaltliche Festlegungen, wie sie ganz
konkret in den Anträgen gefordert werden, sind aber weder glaubhaft noch verantwortbar zu tätigen. Sowohl die
technischen Dimensionen wie auch die finanziellen und
rechtlichen Umfänge des Verfahrens können derzeit
nicht annähernd überzeugend beschrieben werden. Deshalb lassen die vorliegenden Anträge vermuten, dass die
Diskussionen auch zukünftig mehr emphatisch und amZu Protokoll gegebene Reden
Anita Schäfer ({1})
bitioniert geführt werden, als sachlich und an der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Angelegenheit
orientiert. Die Formulierung im Antrag der Grünen,
dass den Bürgerinnen und Bürgern ein Stück Heimat zurückgegeben werde, unterstreicht dies noch einmal im
nachhinein.
Gleiches gilt für den Antrag der Linken. Gerade aus
diesem spricht wieder einmal ihre fundamental misstrauische und oppositionelle Gesinnung gegenüber den
formalrechtlichen Strukturen und Verfahren unseres
Rechtsstaates. Die in ihm aufgestellten Forderungen
lassen jegliche Sachlichkeit in der Herangehensweise
für die Übergabe des Geländes vermissen. Diese Unsachlichkeit findet ihre konsequente Fortsetzung in der
Forderung, auch die beiden verbliebenen Übungsplätze
in Nordhorn und Siegenburg zu schließen. Deutlicher
kann eine Fraktion nicht ihre Weigerung formulieren,
für eine Gesamtgesellschaft verantwortlich handeln zu
wollen.
Bei dem Antrag der Fraktion der SPD ist zwar anzuerkennen, dass sich hierin sehr viel mehr um Sachlichkeit bemüht wurde. Gleichwohl ist aber auch er abzulehnen. Denn ihm ist mit dem Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen und dem Antrag der Linken gemein, dass er
vorab aller notwendigen Prüfungen weitgehende Festlegungen des Bundes fordert. Dem kann aus verständlichen Gründen nicht stattgegeben werden. Und deshalb
lehnt die CDU/CSU-Fraktion auch alle drei Anträge ab.
Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner-Heide möglich machen - das ist allen drei Anträgen der Oppositionsfraktionen gemein. Mit dieser sprachlichen Ungenauigkeit fängt die Verharmlosung der Größe dieser
Aufgabe aber bereits an. Denn nur rund 12 000 Hektar,
das sind rund 120 Quadratkilometer der über 700 Quadratkilometer großen Kyritz-Ruppiner-Heide im Norden
Brandenburgs, werden nicht zivil, sondern militärisch
genutzt. Auf diesem Gebiet befindet sich der Truppenübungsplatz Wittstock.
Die Bundeswehr hat den Verzicht auf eine weitere
Nutzung dieser Fläche beschlossen. Für eine Umwidmung dieser Fläche ist der erste, zunächst allerdings
auch wichtigste Schritt getan. Mit den vorgelegten Anträgen wird den Bürgern jetzt vermittelt, dass eine Nutzung der bisher militärisch genutzten Fläche unmittelbar bevorsteht. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn
grundsätzlich gibt es nur zwei Formen der Nachnutzung: Erstens. Eine, die das Betreten durch Menschen
unterbindet, das heißt ausschließlich dem Naturschutz
gewidmet ist. Eine sich selbst entwickelnde Natur könnte
sicherlich einen umweltfachlichen Reiz haben. Schließlich gibt es kaum noch zusammenhängende Flächen dieser Größenordnung und Qualität in Deutschland. Zweitens. Eine zivile Nutzung, die den Menschen in Zukunft
ein Betreten zu touristischen oder sonstigen Zwecken ermöglicht.
Ihre Anträge interpretiere ich so, dass Sie die letztgenannte Variante bevorzugen. Wenn das so ist, muss aber
zuallererst für die Sicherheit der Menschen gesorgt werden. Auch Sie, liebe Antragssteller, kennen die Medienberichte über die militärischen Hinterlassenschaften.
Nach Presseberichten sollen Entmunitionierungsmaßnahmen mehrere Hundert Millionen Euro kosten. Die
konkreten Kosten sowie die Darstellung und Bewertung
der aktuellen Belastungssituation werden noch ermittelt.
Allerdings deutet die Tatsache, dass etwa die Hälfte der
Fläche den Munitionsbelastungsgraden B und C gemäß
der Zentralen Dienstvorschrift der Bundeswehr 40I11
zugeordnet ist und damit einem Betretungsverbot oder
strengen Betretungsauflagen unterliegen, auf das sehr
hohe Gefahrenpotenzial für Leib und Leben und auf ein
Kostenrisiko hin, welches von der Liegenschaft ausgeht.
Die konkrete Bewertung wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Die gebotene Gefahrenabwehr und die
öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, hat höchste
Priorität. Wir können nicht zulassen, dass Mitmenschen
mit unserem Wissen einem erhöhten Risiko für Leib und
Leben ausgesetzt werden!
Der Entscheidung über die zivile Anschlussnutzung
des Truppenübungsplatzes Wittstock in der Kyritz-Ruppiner-Heide muss daher zwingend eine detaillierte Ermittlung der Munitions- und Altlastensituation und die
Festlegung der konkreten Modalitäten des Eigentumsübergangs vom Bundesministerium der Verteidigung auf
die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben vorausgehen. Wenn man sich die Anträge der Opposition anschaut, mutet es an, zu glauben, die Bundesregierung
wäre hier untätig. Genau das Gegenteil ist der Fall! Und
genau dieses Vorurteil möchte ich hier ausräumen.
Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ist vom
Bundesfinanzministerium mit der Übernahme der Liegenschaft - Truppenübungsplatz Wittstock - in das Allgemeine Grundvermögen des Bundes beauftragt worden. Derzeit laufen Prüfungen sowie Gespräche mit der
Bundeswehr und vornehmlich mit dem Bundesverteidigungsministerium, bei denen selbstverständlich die Altlasten- und Kampfmittelsituation sowie Sicherheitsfragen im Vordergrund stehen, aber auch Haftungsrisiken
geklärt werden müssen. Eine Kontaktaufnahme mit dem
Land Brandenburg ist erfolgt. Fragen der Sicherheit der
Liegenschaft nach Wegfall des militärischen Sicherheitsbereichs sowie eine mögliche Einbindung der örtlichen Interessens- und kommunalen Aufgabenträger in
die Konversionsplanung sollen erörtert werden.
Bevor diese Schritte abschließend erfolgt sind, kommt
die Opposition mit der Forderung daher, geeignete Flächen in das Nationale Naturerbe zu überführen. Wir verschließen uns keinesfalls einer solchen Überlegung, jedoch ist dies ein zweiter Schritt vor dem ersten. Ob und
in welcher Form die Liegenschaft dem Nationalen Naturerbe zugeführt werden kann, ist abhängig von der Ermittlung der Munitions- und Altlastenbelastung und der
Feststellung der naturfachlichen Eignung. Die weitere
Forderung der Opposition, bereits jetzt Teile des Geländes für den Tourismus freizugeben, ist wiederrum ein
zweiter Schritt vor dem ersten. Die Verhandlungen zur
Konversion des Truppenübungsplatzes Wittstock laufen,
und diese gilt es, im Interesse aller und zum Schutze aller abzuwarten. Dabei ist auch klar, dass ein mögliches
Konzept für eine zivile Anschlussnutzung unter wirtZu Protokoll gegebene Reden
schaftlicher Betrachtungsweise die Gewährleistung der
öffentlichen Sicherheit, die Altlasten- und Kampfmittelthematik, die Naturschutzvorgaben und die Interessen
des ländlichen Raumes berücksichtigen muss.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Entscheidung des Bundesverteidigungsministeriums zur Schließung des Truppenübungsplatzes Wittstock. Diese Entscheidung erfolgte spät, aber nicht zu spät. Sie ist das
Ergebnis vielfältiger Aktivitäten von Bürgerinitiativen
aus Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns. Hierin kommt am Ende auch zum Ausdruck, dass
Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Wahlterminen
in demokratischen Prozessen in Deutschland etwas bewegen können. Die SPD-Bundestagsfraktion hat im parlamentarischen Bereich über Jahre eine Umwandlung
des Truppenübungsplatzes für zivile Zwecke unterstützt
und hierbei die Anliegen der Bewohnerinnen und Bewohner der Region vertreten.
Jetzt geht es darum, Entscheidungsprozesse für die
Zukunft des ehemaligen Truppenübungsplatzes Wittstock und der angrenzenden Region anzustoßen und zu
konkreten Ergebnissen zu führen. Genau diesem Ziel
dient der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, über den
wir heute in erster Lesung beraten. Wir halten es für notwendig, dass in einer konzertierten Aktion zwischen
Bund, dem Land Brandenburg und den Kommunen die
notwendigen Maßnahmen beraten werden.
Für uns ist wichtig, dass in diesem Prozess die Akteure vor Ort eingebunden werden und sie ihre Ideen
und Vorschläge einbringen können. Das wäre ihre Dividende aus den jahrelangen Bemühungen für die Umnutzung des Truppenübungsplatzes. Uns ist es wichtig,
deutlich zu machen, dass der Bund für die Entwicklung
der Region mit dem Abzug der Bundeswehr nicht aus der
Verantwortung entlassen ist. Gerade wenn es darum
geht, eine zivile Nutzung, insbesondere eine touristische,
vorzubereiten, muss die Bundesregierung dabei sein,
wenn Maßnahmenpakete geschnürt werden. Ich denke
dabei insbesondere an die bundeseigene Koordinierungsstelle für Konversionsfragen, die beauftragt werden sollte, Machbarkeitsstudien und Nachnutzungskonzepte gemeinsam mit den lokalen Akteuren zu erstellen.
Der Bund ist auch gefordert, wenn es um eine Altlastenuntersuchung und die zügige Räumung der Kampfmittel
geht. Mit einem vorzulegenden Bericht über die Umweltbelastung sollte Klarheit geschaffen werden, was auf
dem Gelände gemacht werden muss, um dauerhaft eine
zivile Nutzung zu ermöglichen.
Im Mittelpunkt unseres Antrages steht aber die
Frage, welcher Weg beschritten werden soll, um neue
Chancen für die Region zu eröffnen. Dafür müssen die
verschiedenen Akteure aus dem Bund, dem Land und
den Kommunen sowie die Bürgerinitiativen an einen
Tisch geholt werden. Der Bund hat hier die Chance, diesen Prozess zu moderieren und zu einem positiven Ergebnis zu führen.
Die Kyritz-Ruppiner Heide hat ein enormes Potenzial, das auf den Nordosten Deutschlands einschließlich
der Hauptstadt positiv ausstrahlen kann: für den sanften
Tourismus, als Teil eines nationalen Naturerbes, als
Teilfläche für Wildnis, als Nutzungsgebiet für erneuerbare Energien. Vor allem sollen die Menschen der Region und aus Nah und Fern das Gebiet wieder für sich
erobern können. Familien mit Kindern könnten auf einem sicheren Gelände spazieren, wandern, picknicken.
Über weite Strecken wäre Fahrradfahren möglich. Deshalb soll mit unserem Antrag auch jetzt schon geprüft
werden, welche Flächen zügig für die Naherholung geöffnet werden könnten. Die umliegende Tourismusbranche mit Hotels, Restaurants und weiteren Angeboten
würde davon deutlich profitieren und könnte sich entwickeln. Der Bund ist in der Verantwortung, die Folgen
der jahrzehntelangen militärischen Nutzung zu bewältigen und mitzuhelfen, der Region eine Entwicklung als
Tourismusstandort unter ökologischen Aspekten zu ermöglichen.
Dieser Antrag soll dazu einladen, parteienübergreifend und mit den lokalen Akteuren die Entwicklungspotenziale der Kyritz-Ruppiner Heide zu diskutieren. Die
Umsetzung der sich dabei darstellenden Chancen muss
durch die Bundesregierung unterstützt werden. Dies soll
und muss ein offener Prozess sein, weshalb die SPDBundestagsfraktion nach der Vorlage einer Beschlussempfehlung für den Bundestag auch für Ideen der anderen Fraktionen dankbar ist und diese gern prüfen wird.
Lassen Sie uns dazu in den Fachausschüssen diskutieren. Am Ende wird es darum gehen, wie wir die gesamte
Region aufwerten und was wir dazu konkret tun können.
Damit schaffen wir nicht nur eine wirtschaftliche und
ökologische Perspektive für das Areal des ehemaligen
Truppenübungsplatzes Wittstock, wir helfen, Zukunftsperspektiven für die Menschen in einer strukturschwachen Region Deutschlands zu entwickeln.
Untersuchungen des Bundesministeriums der Verteidigung haben ergeben, dass die vorhandenen Kapazitäten der Truppenübungsplätze in Deutschland auch ohne
den Übungsplatz in Wittstock ausreichend sind. Auf dieser Grundlage hat der damalige Bundesminister für
Verteidigung Dr. Jung entschieden, auf die Nutzung des
Truppenübungsplatzes Wittstock als Luft- und Bodenschießplatz zu verzichten.
Zugleich haben sich die Menschen in der Region jahrelang gegen eine militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide durch die Bundeswehr engagiert. Auch
wenn ein exakter Zeitplan für die Standortauflösung
gegenwärtig noch nicht feststeht, eröffnet die Entscheidung des Ministeriums für die Region nun vielfältige
Nutzungsmöglichkeiten. Sie ist eine Chance, für die
Menschen und Natur gleichermaßen.
Es gilt nun, das Verfahren für die umfassende zivile
Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide mit den betroffenen
Kommunen eng zu verzahnen und den Willen der Bürger
vor Ort zu berücksichtigen. Die FDP hat sich dabei in
der Vergangenheit für die berechtigten Belange der Anwohner und umliegenden Gemeinden eingesetzt. Auch
ich konnte mir in der vergangenen Legislaturperiode als
Zu Protokoll gegebene Reden
Mitglied des Petitionsausschusses vor Ort einen Eindruck verschaffen und mich mit den Menschen austauschen. Diesen Weg wollen wir nicht verlassen, sondern
gemeinsam weiter beschreiten und zusammen künftige
Nutzungsmöglichkeiten erarbeiten.
Bevor nun die zivile Nutzung möglich wird, müssen
noch zwei Probleme gelöst werden: Zunächst - und
nicht unerheblich - muss die Frage der Haftung für Altlasten geklärt werden. Nach mehreren Jahrzehnten militärischer Nutzung benötigen wir ein nachhaltiges Konversionskonzept. Gleichzeitig müssen aber Lösungen
geschaffen werden, die eine Nutzung der Flächen erlauben, ohne von vornherein von ungeklärten Haftungsfragen überschattet zu werden.
Das zweite ungelöste Problem ist die Eigentumsfrage.
Eines ist, glaube ich, jetzt schon sicher: Es wird für die
Kyritz-Ruppiner Heide ohnehin keine Lösung aus einem
Guss geben. Den verschiedenen Anforderungen und Zielen auf der Fläche muss mit den jeweils passenden Eigentumsformen entsprochen werden. Dabei kann bei
stärker ökonomisch genutzten Teilkonzepten ein privater
Investor die erste Wahl sein. Bei den eher gemeinwohlorientierten Aspekten kann diese Rolle das Land selbst
oder auch eine Stiftung übernehmen.
Dass wir aber überhaupt gegenwärtig darüber diskutieren können, was aus dem Gelände zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg werden kann, was
möglich ist und letztlich umgesetzt wird, ist jedoch bereits ein großer Erfolg. Denn auch hier zeigt sich eindrucksvoll das Ende der deutschen Teilung und im Konkreten: das Ende des Kalten Krieges, welcher stets auf
militärische Abschreckung baute. 1952 als Übungsplatz
entstanden, kann dieses Areal nun anderen Nutzungsmöglichkeiten zugeführt werden - eine friedliche, eine
zivile und vor allem eine touristische Nutzung sind denkbar.
Ungeachtet konkreter Schritte in Richtung Zukunft ist
das doch schon ein wichtiger Erfolg. Zugleich zeigt sich,
dass sich auch bürgerliches Engagement lohnt. Denn
auch die Initiativen der Menschen vor Ort gegen das
sogenannte Bombodrom waren erfolgreich. Ein Stück
gelebter Demokratie der Menschen vor Ort und eine
Entscheidung vonseiten der Bundeswehr, die von Verantwortung für das Gemeinwohl zeugt. Unsere Soldatinnen und Soldaten nutzen effizient bestehende Übungskapazitäten innerhalb Deutschlands, sagen ehrlich, dass
die Kyritz-Ruppiner Heide hier nicht als weiterer Standort benötigt wird und eröffnen uns allen und dem Tourismus nun neue Perspektiven. Denn die Entscheidung ist
nicht nur ein Erfolg für die Menschen vor Ort. Es ist
auch ein Glücksfall für die Natur, die sich in weiten Teilen nun - nach Beseitigung der bereits angesprochenen
und nicht unerheblichen Altlasten - entfalten kann.
Noch einige Sätze zum Antrag der Linken. Sie schreiben, ich zitiere: „Diese Widerstandsbewegung hat dem
bürgerschaftlichen Engagement ein Denkmal der lebendigen Demokratie gesetzt.“ Ich möchte darauf hinweisen, dass es auch zu Zeiten der DDR kritische Stimmen
in der Bevölkerung zur militärischen Nutzung dieser Region gab. Diese Stimmen wurden jedoch massiv unterdrückt. Es ist ein Zeichen, dass es in der DDR keine lebendige Demokratie gab, im Gegenteil.
Weiter schreiben Sie: „Während dieser 17 Jahre, in
denen schwarz-gelbe, rot-grüne und schwarz-rote Bundesregierungen rechtsstaatswidrig versucht haben, ihr
militärisches Nutzungsbegehren in der Kyritz-Ruppiner
Heide rechtsstaatswidrig gegen die Interessen der dort
lebenden Bürgerinnen und Bürger und ihrer Gäste
durchzusetzen, wurde die wirtschaftliche Entwicklung in
der Region blockiert. Angesichts dieser Situation ist der
Bund noch stärker in der Pflicht, die Durchsetzung der
Interessen der Bürgerinnen und Bürger der Region an
einer friedlichen Zukunft des Geländes nun unverzüglich
zu sichern.“ Ich möchte daran erinnern, dass in 40 Jahren SED-Herrschaft sich nicht nur die Kyritz-Ruppiner
Heide nicht entwickeln konnte, sondern die wirtschaftliche Entwicklung in der gesamten DDR blockiert worden
ist. Angesichts dieser Situation wäre es hilfreich, wenn
sich die Erben der SED ein wenig in Demut üben würden.
Nun zum Tourismus und dessen Förderung in der Region. Nationale Naturlandschaften sind reizvolle Urlaubsziele, in denen die Vielfalt der Natur und der Kultur Deutschlands entdeckt werden können. Nicht nur die
Tourismusbranche kann von einer intakten Natur profitieren. Auch die Umwelt und Natur selbst können durch
den Tourismus gewinnen. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass durch den Tourismus in Großschutzgebieten
beispielsweise willkommene Einnahmen entstehen, die
wiederum den Biosphärenreservaten oder den Naturparken zugutekommen.
Naturnaher und nachhaltiger Tourismus ist deshalb
ideologiefrei zu fördern. Gerade der Ausbau von Fahrradwegen und Wanderwegen sowie die Förderung nachhaltiger Natursportmöglichkeiten wie zum Beispiel Klettern und Paddeln ermöglichen es den deutschen
Tourismusbetreibern, den Standort Deutschland - und
hier eben das landschaftlich reizvolle Gebiet zwischen
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - noch attraktiver zu gestalten. Gerade in diesen Regionen ist der
Tourismus schon heute Motor der Entwicklung. Zusammen mit der Servicebereitschaft und einem Preis-Leistungs-Verhältnis auf hohem Niveau, guten Angebotsstrukturen, persönlicher Sicherheit und Sauberkeit
bieten die neuen Bundesländer schon jetzt ein herausragendes kulturelles und touristisches Angebot.
Wir wollen das Ziel der Barrierefreiheit stärker in allen Bereichen vernetzen und Kultur und Tourismus enger verzahnen - das gilt auch für die Kyritz-Ruppiner
Heide. Wir setzen uns für eine Tourismuskonzeption für
den ländlichen Raum ein und wollen die Rahmenbedingungen vor Ort verbessern. Die Entscheidung der Bundeswehr ist eine Chance, Tourismus und Natur weiter zu
verzahnen und der mittelständisch geprägten Tourismuswirtschaft weiteren Auftrieb zu geben. So kann auch
das Gelände des dann ehemaligen Truppenübungsplatzes den Tourismusstandort in den neuen Bundesländern
weiter stärken und zusätzliche Wachstumspotenziale der
Branche als Jobmotor freisetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundeswehr macht den Weg frei für die gute Entwicklung der Kyritz-Ruppiner Heide. Nun ist die Politik
am Zuge, die weiteren Schritte konstruktiv und solide zu
gestalten. Dabei gilt es, alle Interessengruppen vor Ort
in den Prozess einzubeziehen - zum Wohle der Region.
Die Menschen in der Region rund um das ehemalige
„Bombodrom“ - die Kyritz-Ruppiner-Heide - erwarten
zuallererst Rechtssicherheit, Rechtssicherheit in Bezug
auf einen endgültigen militärischen Nutzungsverzicht.
Deshalb ist es schade, dass wir heute nicht einen überfraktionellen Gruppenantrag diskutieren. Stattdessen
preschte die SPD vor, sodass jetzt mit dem Antrag der
Grünen und der Linken drei vorliegen. Eigentlich erwarten die Menschen in der Region fraktionsübergreifendes Handeln. Dazu brauchen Sie nur die Presseerklärung vom 9. Juni der Bürgerinitiative „Freier Himmel“
aus Mecklenburg-Vorpommern zu lesen. Allerdings sind
die Unterschiede in den Anträgen der drei Fraktionen
nicht so groß, als dass sie in den Ausschussberatungen
nicht noch zu überwinden wären.
Erst Rechtssicherheit ermöglicht eine Planung zur
nachhaltigen zivilen Nutzung des Gebietes. Im Antrag
der Linken steht daher als erste Forderung eines Sofortprogramms, den „Truppenübungsplatz Wittstock“ aus
dem Standortkonzept der Bundeswehr zu streichen und
einen Zeitplan zum Abzug der Bundeswehr aus der Region vorzulegen. Beide Forderungen sind in den Anträgen von SPD und Grünen leider nicht zu finden. Sie gehören aber zu den Voraussetzungen der weiteren
Vorgehensweise.
Neben rechtlicher Klarheit muss Sicherheit über die
Finanzierung einer nutzungsorientierten Räumung von
Munition und Altlasten hergestellt werden. Dazu steht
die Bundesregierung in der Pflicht. Und dieses ist die
Grundvoraussetzung, um sanfte Nutzungskonzepte - zunächst für Teilbereiche der Heide - zu schaffen. Die
Linke fordert daher schon in diesem Jahr die Öffnung sicherer Wege für geführte Heidewanderungen. Das setzt
die Sicherung der Wege, den Brandschutz und das Offenhalten der wertvollen Heideflächen voraus. Eine Öffnung sicherer Wege ist zudem angebracht, da das Gebiet
unmittelbar an die touristisch bedeutsamen Regionen
der mecklenburgischen Seenplatte und des Naturparks
Stechlinsee angrenzt. Warum sollen wir nicht wieder auf
Fontanes Spuren durch die gesamte Mark Brandenburg
wandern können? Die gesamte Region ist touristisch geprägt. Die wirtschaftliche Zukunft dieser ländlichen Region liegt auch im sanften Tourismus. Das ist natürlich
nichts Neues und bereits ausführlich in allen relevanten
Gutachten zur regionalen Entwicklung, die in den Prozessen gegen die militärische Nutzung herangezogen
wurden, dokumentiert. Umso höher ist jetzt der Erwartungsdruck, endlich konkrete Ergebnisse für die Region
zu erzielen.
Die Linke fordert zudem in ihrem Antrag, auf eine
Privatisierung des Geländes zu verzichten. Bei einer
Übertragung der Flächen an die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImA, muss dieses verbindlich geregelt werden. Die Mitsprache der Menschen und Kommunen der Region und der Brandenburger Landesregierung
an Entscheidungen und an der Erarbeitung eines nachhaltigen Nutzungskonzepts für die Heide muss gewährleistet werden. Hierbei besteht die Anforderung darin,
den Erhalt des Naturreichtums, sanften Tourismus und
nachhaltige wirtschaftliche Nutzungskonzepte in Einklang zu bringen.
Neben dem oben genannten Sofortprogramm verlangt
die Linke die Unterstützung der Bundesregierung bei
der Einbeziehung des Geländes in eine naturnahe, länderübergreifende Entwicklungskonzeption für die Region. Süd-Mecklenburg und das nördliche Brandenburg
haben viele Jahre unter der Blockade gelitten und eine
Reihe von Defiziten, die durch die Unsicherheit entstanden, hinnehmen müssen. Diese müssen nun länderübergreifend beseitigt werden.
Die Linke will weder, dass die Menschen erneut aus
dem Gelände ausgeschlossen werden, noch, dass die
wertvolle Naturlandschaft gefährdet wird. Die vielen
Akteure, die in den letzten 17 Jahren für eine „freie
Heide“ kämpften, dürfen jetzt nicht von der Zukunftsgestaltung ausgeschlossen werden.
An dieser Stelle sei noch einmal den Aktiven, die sich
in verschiedenen Interesseninitiativen zusammenfanden,
herzlich gedankt. Sie schafften es, gemeinsam für ein
Ziel zu streiten und sich über einen sehr langen Zeitraum nicht auseinanderdividieren zu lassen. Die wesentlichen Gruppen, die an diesem schwierigen Kampf beteiligt waren, sind im Antrag der Linken würdigend
genannt. Mir sei es gestattet, an dieser Stelle einmal den
großen persönlichen Beitrag meiner Fraktionskollegin
Dr. Kirsten Tackmann besonders hervorzuheben. Das
habt ihr gemeinsam toll gemacht!
Der Weg für eine zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide ist frei. Der langjährige friedliche Protest der
Bürgerinnen und Bürger vor Ort hat bewiesen, dass zivilgesellschaftliches Engagement und friedenspolitische
Arbeit einen entscheidenden Einfluss auf die Politik haben können. Dafür möchte ich den Menschen in der Region, aber auch bundesweit meinen tiefen Dank aussprechen.
Nachdem eine weitere Nutzung des Geländes durch
die Bundeswehr ausgeschlossen wurde, kommt es nun
darauf an, die Weichen für die Zukunft so zu stellen, dass
die Chancen der Region in ihrer Vielfältigkeit gewahrt
bleiben. Als Bündnisgrüne haben wir uns in den vergangenen Jahren immer wieder für ein breites, parteiübergreifendes Bündnis für die Kyritz-Ruppiner Heide
eingesetzt. Dies halten wir auch für die zukünftige Entwicklung der Region für unerlässlich. Ich möchte deshalb alle Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag bitten, sich in den kommenden Wochen für eine
gemeinsame Position in dieser Frage starkzumachen.
Wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern rund um die
Heide schuldig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu den zentralen Punkten, die für die Entwicklungsperspektiven der Region in den kommenden Wochen und
Monaten maßgeblich sind, gehört der Erhalt der Heide
als Heide, und das in ihrer Gesamtheit. Wir Bündnisgrünen sprechen uns deshalb für eine zeitnahe Übertragung des Geländes an die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben aus, damit die konkreten Planungsschritte
gegangen werden können. Mit ihrer vielfältigen schützenswerten Naturausstattung und aufgrund ihrer
Großflächigkeit und Unzerschnittenheit ist die KyritzRuppiner Heide wert, in das Nationale Naturerbe aufgenommen zu werden. Ausgenommen vom Privatisierungsauftrag kann dann unter dem Dach „Nationales Naturerbe“ die Erarbeitung eines einvernehmlich mit den
Bürgerinnen und Bürgern vor Ort abgestimmten regionalen Nutzungskonzepts erfolgen, ohne dass dessen Umsetzung durch unterschiedliche Besitz- und Eigentumsverhältnisse behindert werden würde.
Um die Heide überhaupt wieder für zivile Zwecke
nutzbar machen zu können, bedarf es eines großen
Kraftaktes bei der Munitionsbeseitigung. Hier steht
auch der Bund in der Verantwortung. Denn ohne seine
finanzielle und fachliche Mitwirkung ist eine zügige Munitionsbergung und Altlastensanierung nicht zu machen.
Insbesondere der Brandschutzriegel um das Offenland
und einige zentrale Wege durch das Gelände müssen
schnellstmöglich beräumt werden. Der schnelle Beginn
der Munitionsbergung ist zum Erhalt der Heide von
höchster Dringlichkeit. Denn die zunehmende Verbuschung und Bewaldung der Heidelandschaft - und damit
ihr Verschwinden - kann nur aufgehalten werden, wenn
das Gelände wieder betretbar gemacht wird.
Der Erhalt des Heidecharakters ist nicht nur unter
naturschutzfachlichen Aspekten geboten, sondern auch
hinsichtlich der touristischen Entwicklungschancen der
Region. Mit der Einbeziehung der Heidelandschaft in
diese wald- und wasserreiche Region wird ein touristischer Dreiklang geschaffen, der deutschlandweit einzigartig ist und großes Potenzial im Hinblick auf naturverträglichen Tourismus verspricht.
Mit der Aufgabe der militärischen Nutzungspläne für
die Kyritz-Ruppiner Heide endet nicht die Verantwortung des Bundes für das Gelände. Im Gegenteil: Die verantwortungsvolle Begleitung und ressortübergreifende
Förderung der naturverträglichen Nutzbarmachung des
Geländes für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort ist ein
wichtiger Pfeiler der Zukunftschancen für die Region.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1961 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Verteidigungsausschuss.
Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Tourismus.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD - Federführung beim Tourismusausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD und der Linken abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Verteidigungsausschuss - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken und
der SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b. Die Vorlage auf Drucksache 17/1972 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und
FDP wünschen Federführung beim Verteidigungsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss für Tourismus.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung
der Fraktion Die Linke, Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Verteidigungsausschuss - abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Linken und
bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Zusatzpunkt 11. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 17/1989 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru:
Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestages
sichern
- Drucksache 17/1970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
den Kolleginnen und Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU,
Dr. Sascha Raabe, SPD, Dr. Martin Lindner, FDP, Heike
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Hänsel, Die Linke, und Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die
Grünen.
Die CDU/CSU begrüßt es, dass sich die Europäische
Kommission am 1. März 2010 auf ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru geeinigt hat. Trotz im
Vorfeld strittiger Punkte wie der Menschenrechtsklausel
- Peru und Kolumbien haben sich gegen die Verknüpfung von Handels- und Menschenrechtsfragen gewehrt wurde am 18. Mai 2010 auf dem 6. Gipfeltreffen der EU
und der Länder Lateinamerikas und der Karibik der Abschluss des Abkommens zustimmend zur Kenntnis genommen. Angesichts des Stillstandes der Handelsliberalisierung im Rahmen der WTO ist es nahezu unerlässlich
und erforderlich, mit bilateralen Vereinbarungen Märkte
für die eigenen Unternehmen zu erschließen, sodass es
nicht nur recht und billig, sondern auch höchst bedeutend und zielführend war, dass die EU seit Januar 2009
über ein multilaterales Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru verhandelt hat. Es setzt zudem Zeichen
gegen weltweit zunehmende Protektionismustendenzen
sowie für eine Stärkung des internationalen Regulierungsrahmens und entwickelt hoffentlich auch eine Sogwirkung auf die ganze Region, solche Abkommen abzuschließen - stockende Verhandlungen mit MERCOSUR,
Andengemeinschaft, Zentralamerika.
Für die EU sind die Ergebnisse insbesondere beim
Zollabbau - 100 Prozent bei Industriegütern in maximal
zehn Jahren -, Dienstleistungen und öffentlichem Auftragswesen sehr gut. Peru und Kolumbien profitieren
insbesondere von zusätzlichen Marktöffnungen bei
Agrargütern, vor allem Bananen, Zucker sowie Dienstleistungen. Kolumbien verpflichtet sich außerdem, den
Schutz der Menschenrechte sowie der Arbeitnehmerrechte auszubauen. Dass das Abkommen eine eigene
Menschenrechtsklausel enthalten wird, ist auf die Kritik
aus dem Europäischen Parlament und von deutschen
Gewerkschaften wegen der Behandlung von Gewerkschaftern in Kolumbien zurückzuführen und wird von
CDU und CSU ausdrücklich begrüßt.
Die Union freut sich über den Abschluss des Abkommens, nicht zuletzt aufgrund des Handelsvolumens mit
beiden Staaten, das im Jahr 2009 circa 3 Milliarden
Euro betrug, und der Tatsache, dass Kolumbien und
Peru schon jetzt diejenigen Staaten sind, die in Lateinamerika die größten Wachstumsraten aufweisen. Im
Übrigen möchte ich daran erinnern, dass nicht nur die
Europäische Union und Deutschland ein großes Interesse an einem Freihandelsabkommen haben, auch
Kolumbien und Peru haben sich stark für ein solches
Abkommen eingesetzt. Dies betonte erst kürzlich Kolumbiens Präsident Uribe im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen.
Einige Stimmen beklagen, dass der Verhandlungsprozess mit Kolumbien und Peru nicht transparent genug
abgelaufen sei, dass eine politische Debatte über das
Handelsabkommen nicht stattgefunden habe und zu wenig Fortschritte beim Schutz der Menschen- und Arbeitnehmerrechte gemacht würden. Dem widerspreche ich,
denn das Abkommen ist seit Verhandlungsbeginn sowohl
bei den zuständigen Berichterstattern im Deutschen
Bundestag als auch bei den EU-Parlamentariern in der
Diskussion. Die EU pflegt darüber hinaus einen regelmäßigen bilateralen Menschenrechtsdialog mit kolumbianischen Behörden. In diesem Forum wurde auch
immer wieder darauf gedrängt, Betroffene wie Gewerkschafter und Angehörige von Opferverbänden zu schützen.
Im Übrigen macht es sich die Fraktion Die Linke zu
einfach, Peru und Kolumbien in einen Topf zu werfen.
Niemand bezweifelt, dass es vor allem in Kolumbien
noch Menschenrechtsverletzungen gibt. Wir werden darüber gerade in der aktuellen Presse angesichts der derzeit stattfindenden Präsidentschaftswahl informiert. Es
muss aber auch einmal gesagt werden, dass sowohl in
Kolumbien als auch in Peru in den letzten Jahren in der
Justiz und bei der Aufarbeitung viele Fortschritte gemacht wurden.
Das Abkommen unterstützt diese Fortschritte, indem
es einen Schritt weiter geht und eine von mir bereits anfangs erwähnte eigene Menschenrechtsklausel und eindeutige Festlegungen zur Einhaltung internationaler
Kernarbeitsnormen enthält. Dass man sich darauf hat
einigen können, ist in hohem Maße anzuerkennen, da
Menschenrechtsaspekte üblicherweise in Handelsabkommen nicht verhandelt werden.
Wir haben Ihnen bereits in den Beratungen zu Ihrem
Antrag „Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda
setzen - Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stoppen“ auf Drucksache 17/1546 dargelegt, dass die CDU/
CSU der Überzeugung ist, durch das Freihandelsabkommen die menschen- und arbeitsrechtliche Lage entspannen zu können. Es macht keinen Sinn, Kolumbien zu
isolieren. Sie sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass
solche Verträge viele positive Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung in einem Land selbst haben und diese
wiederum zur Verbesserung der menschenrechtlichen
Lage beiträgt. Gelingende Handelsbeziehungen können
das Vehikel sein, und sie waren es in der Vergangenheit
oft genug, die Einhaltung von Menschenrechten zu ermöglichen und dann auch einzufordern.
Die Widersprüchlichkeit der Linken wird an diesem
Antrag geradezu exemplarisch sichtbar. Während ständig gefordert wird, den Handel nicht unabhängig von
Menschenrechten, Umwelt und Sozialstandards zu sehen, wird in der konkreten Ausgestaltung nun gerade die
Erweiterung der Abkommen zum Anlass genommen, sie
verzögern und verhindern zu wollen. Im Übrigen ist die
geradezu sprichwörtliche Einäugigkeit der Linken gerade bei den Abkommen mit Peru und Kolumbien sichtbar geworden. Diese Fraktion zeigt bei der Kritik an sozialen und politischen Zuständen in Lateinamerika ein
so ausgeprägtes Maß an Doppelstandards, dass ich
mich immer frage, wie sie das aushalten kann. Wir wollen, dass ganz Lateinamerika auf dem Weg der sozialen
Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der wirtschaftlichen
und der demokratischen Entwicklung vorankommt.
Dazu bieten wir als Europäer partnerschaftliche Wege
an, die von Peru und Kolumbien angenommen worden
Zu Protokoll gegebene Reden
sind, während sie andere abgelehnt haben. Dass gerade
das Europäische Parlament Wert auf Abkommen legt,
die nicht nur wirtschaftliche Beziehungen im Auge haben, ist ganz im Sinne der Diskussionen im Deutschen
Bundestag über eine nachhaltige Entwicklung. Deshalb
sollte alles vermieden werden, was erste sehr positive
Ansätze sabotieren würde, wie der Antrag der Linken
das versucht.
Die Fraktion Die Linke fordert, die Mitspracherechte
des Deutschen Bundestages bei EU-Vorlagen zu sichern.
Durch den neuen EU-Grundlagenvertrag, den - wenn
wir uns erinnern - die Linke nicht wollte, sind die Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte des Bundestages und
des Bundesrates gestärkt wurden. Bei den Verhandlungen dazu hat sich vor allem die CDU/CSU-Fraktion dafür eingesetzt, dass erstens die Regelungen der Zusammenarbeitsvereinbarungen in dem Gesetz über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union,
EUZBBG, festgehalten werden, und zweitens die Bundesregierung unser Parlament frühzeitig und besser
über die Vorhaben der EU unterrichtet. Die Berichtsund Informationspflicht seitens der EU-Kommission
wurde also ausgeweitet. Die Mitwirkungsrechte dürfen
aber nicht zu einem Blockadeinstrument im Sinne der
Linken ausgestaltet werden.
Wir werden bei der weiteren Debatte über die Abkommen sorgfältig beachten, ob sich aus den über die Handelszuständigkeit hinausgehenden Teilen des Abkommens
ein bestimmtes Verhalten des Bundestages notwendigerweise ergibt. Der bisherige Beratungszeitplan sowohl
auf europäischer als auch nationaler Ebene lässt überhaupt nicht den Eindruck entstehen, dass nun hektische
Aktivitäten erforderlich seien, wie es der vorliegende Antrag vorgaukelt.
Da die endgültigen Texte des EU-Freihandelsabkommens mit Kolumbien und Peru zurzeit noch erstellt und
rechtsförmlich geprüft werden und damit noch die Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments notwendig ist, bin ich zuversichtlich
und überzeugt davon, dass die mit den Begleitgesetzen
zum Lissabon-Vertrag eröffneten Möglichkeiten größerer parlamentarischer Kontrolle aktiv und umfänglich
wahrgenommen werden. Was der Deutsche Bundestag in
der Wahrung seiner eigenen Rechte tun kann, wird er auf
keinen Fall versäumen.
Zu den europarechtlichen Aspekten des Antrags der
Linken „Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru:
Mitwirkungsrecht des Deutschen Bundestags sichern“
und der Frage, ob der Deutsche Bundestag das Freihandelsabkommen ratifizieren muss, kann ich keine juristische Beurteilung abgeben.
Zu den menschenrechts- und entwicklungspoltischen
Komponenten des Antrags möchte ich auf den Antrag
der SPD-Fraktion „Menschrechtsschutz im Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und
Peru verankern“, Bundestagsdrucksache 17/883, verweisen, der bereits am 4. März 2010 in den Bundestag
eingebracht und beraten wurde. Auch die Linkspartei
hatte hierzu nochmals einen eigenen Antrag eingebracht. Da hierzu bereits eine ausführliche Debatte im
Parlament stattfand, möchte ich die Argumente der
SPD-Fraktion hier nicht noch einmal wiederholen. Zusammengefasst ist es aus meiner Sicht äußerst wichtig,
dass in Freihandelsabkommen der EU mit Entwicklungsländern ein besonders starkes Gewicht auf menschenrechtliche, ökologische und soziale Standards gelegt wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert seit vielen Jahren in unzähligen Bundestagsanträgen neben der Einhaltung der Menschenrechte die verbindliche Aufnahme
von ökologischen und sozialen Mindeststandards wie
den ILO-Kernarbeitsnormen in das Regelwerk der Welthandelsorganisation, WTO, und analog in alle bilateralen Handelsabkommen Deutschlands und der EU.
Die Menschenrechtssituation in Kolumbien ist besorgniserregend, und deshalb ist es richtig, eine gravierende Verbesserung im Handelsabkommen einzufordern.
Im Unterschied zur Linkspartei sehe ich jedoch im Vergleich zu früheren Zeiten auch viele Verbesserungen insbesondere der Sicherheitssituation in Kolumbien, weshalb die Mehrheit der dortigen Bevölkerung auch hinter
der dortigen Regierung steht. Es ist trotzdem richtig,
weiterhin Druck auf die Regierung auszuüben, die Menschenrechtssituation erheblich zu verbessern. Allerdings
würde ich mich freuen, wenn die Linkspartei endlich
auch gleiche Maßstäbe an die venezolanische und kubanische Regierung anlegen würde. Die Einhaltung von
Menschenrechten ist überall einzufordern, unabhängig
von der parteipolitischen Ausrichtung der Regierung.
Ich möchte abschließend noch einmal die Forderungen der SPD-Fraktion aus dem bereits im Bundestag
eingebrachten Antrag vom 4. März 2010 zitieren:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
Erstens. Sich gegenüber den Regierungen von Kolumbien und Peru nachdrücklich für die Einhaltung von
Grundrechten, Menschenrechten und Arbeitnehmerrechten und für ein Ende der Gewalt einzusetzen.
Zweitens. Bilateral und auf EU-Ebene darauf hinzuwirken, dass in Kolumbien und Peru der interne politische Dialog der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure intensiviert wird mit dem Ziel, die Umsetzung der
wesentlichen Übereinkommen der Vereinten Nationen
und der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, zu
Menschenrechten und Arbeitnehmerrechten zu fördern.
Drittens. Die EU-Kommission und die spanische
Ratspräsidentschaft zu bitten, das multilaterale Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru auf
dem EU-LAK-Gipfel, EULAC, am 18. Mai 2010 in
Madrid nicht übereilt zu unterzeichnen. Eine Unterzeichnung kommt nur dann infrage, wenn menschenrechtliche, soziale und ökologische Standards sowie entsprechende Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen
verbindlich verankert sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viertens. Auf EU-Ebene darauf hinzuwirken, dass
künftig wieder konsequent die Strategie verfolgt wird,
regionale statt bi- oder multilaterale Abkommen zu
schließen.
Der Deutsche Bundestag bittet das Europaparlament,
für den Fall der Unterzeichnung des Abkommens auf
dem EU-LAK-Gipfel bei der anschließenden Entscheidungsfindung im Parlament die oben genannten
Gesichtspunkte zu berücksichtigen und sein Votum an
menschenrechtliche Forderungen und überprüfbare
Fortschritte zu binden.
Der Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Kolumbien-Peru ist eine gute Nachricht - für alle beteiligten Länder. Es ist an der Zeit, die enormen wirtschaftlichen und politischen Potenziale von Südamerika für uns
zu nutzen. Südamerikanische Länder haben in den letzten Jahren eine atemberaubende Erfolgsgeschichte hingelegt und sind wirtschaftspolitisch, aber auch außenpolitisch eine wichtige Stimme in der Welt geworden.
Das Handelsvolumen mit beiden Staaten betrug 2009
circa 3 Milliarden Euro. Das Abkommen wird es den
europäischen Unternehmen ermöglichen, an diesem
Wachstum gleichberechtigt zu partizipieren, insbesondere im Verhältnis zu den USA, die schon entsprechende
Abkommen haben. Ein positiver Aspekt ist weiterhin,
dass Probleme bei Exporten von Bananen und in der
Automobilindustrie ausgeräumt werden konnten. In
Deutschland profitieren die Verbraucher durch niedrigere Bananenpreise. Die deutsche Automobilindustrie
findet nun gleichberechtigte Bedingungen vor, wie bislang die USA.
Der erfolgreiche Abschluss noch während der spanischen EU-Präsidentschaft ist auch ein gutes Zeichen gegen Protektionismus und die Stärkung des internationalen Regulierungsrahmens. Der Antrag der Fraktion Die
Linke zum Thema Freihandelsabkommen EU-Kolumbien-Peru bezüglich des Mitwirkungsrechts des Deutschen Bundestags impliziert, dass Informationen über
das Abkommen nicht verfügbar sind. Tatsächlich sind im
Rahmen des Zusammenarbeitsverfahrens alle Dokumente auch dem Bundestag übermittelt worden. Die Verhandlungen zu diesem Abkommen sind schon lange bekannt und begannen zum Assoziierungsabkommen 2007
unter deutscher EU-Präsidentschaft. Die unter deutscher EU-Präsidentschaft 2007 begonnenen bi-regionalen Assoziierungsverhandlungen der EU mit der Andengemeinschaft wurden nach dem Rückzug Boliviens seit
Januar 2009 als Freihandelsverhandlungen mit Kolumbien, Peru und Ecuador geführt, wobei am 1. März 2010
nur die Verhandlungen mit Kolumbien und Peru zum Abschluss gebracht werden konnten. Die Paraphierung der
Abkommen beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU und Lateinamerikas erfolgte am
18. Mai 2010 in Madrid.
Die Kritik der Antragsteller kann ich im Bezug auf
behauptete Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
und Peru nicht nachvollziehen. Denn durch die weiteren
wirtschaftlichen Fortschritte der beiden Länder, die das
Abkommen mit sich bringt, wird auch der politische Prozess der Öffnung der beiden Länder unterstützt, zumal
auch das Abkommen selbst darauf einen Augenmerk
legt. Es enthält eine eigene und sanktionierbare Menschenrechtsklausel und eindeutige Festlegungen zur
Einhaltung zum Beispiel internationaler Kernarbeitsnormen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist politisch einseitig, inhaltlich zumeist falsch und lässt weitestgehend
die erfolgreichen Anstrengungen beider Staaten außer
Acht, Gewalt einzudämmen und Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen.
Auf dem EU-Lateinamerika-Gipfel am 18. und
19. Mai dieses Jahres hat die EU mit Kolumbien und
Peru ein sogenanntes Assoziierungsabkommen unterzeichnet, trotz der massiven Kritik von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen
an der Menschenrechtssituation in diesen Ländern und
den Auswirkungen von Freihandelsabkommen. Das
steht der Mitte der 1990er-Jahre verabschiedeten Menschenrechts- und Demokratieklausel der EU entgegen.
Diese besagt, dass die EU mit Staaten, die die Menschenrechte verletzen, ihre Kooperation erst gar nicht
beginnen bzw. aussetzen oder einschränken soll, beispielsweise durch eine Einschränkung des Waffenhandels, von Militärhilfen oder eine inhaltliche Änderung
anderer wirtschaftlicher Kooperationsprogramme, die
diese Staaten bei die Verletzung der genannten Klausel
hart treffen würde.
Nach den verschiedenen Stellungnahmen der Bundesregierung zur Menschenrechtslage in Kolumbien zu urteilen, ist der Bundesregierung, aber auch der europäischen Exekutive bekannt, dass in dem Partnerland
Kolumbien massive Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Warum also dieses Abkommen? Die Annahme, die Umsetzung wirke sich positiv auf die Menschenrechtslage eines Landes wie Kolumbien aus, ist
reiner Hohn für die 300 000 neuen Vertriebenen, die
48 ermordeten Gewerkschafter im Jahre 2009 und für
die Familien der über 1 200 Fälle der durch das kolumbianische Militär systematisch erfolgten Verschleppung
und Ermordung von Unschuldigen. In diesem aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer und nur wenige
Gewinner geben. Um nur ein Beispiel zu benennen,
warnte die kolumbianische Viehzüchterföderation noch
vor der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens:
„… das zu unterzeichnende Freihandelsabkommen zerstört die Produktion von Fleisch, Milch und deren Erzeugnisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und
bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen Regionen und für 400 000 Familien den Ruin“.
Gerade die Bundesregierung war Motor bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien. Das zeigt: Menschenrechte zählen nichts gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der in Kolumbien
tätigen deutschen und europäischen Unternehmen.
Denn deren Handelsgewinne vergrößern sich mit dem
Freihandelsabkommen, ihren Investitionen werden höZu Protokoll gegebene Reden
here Profite garantiert - sie gehören zu den wenigen Gewinnern.
Die Linke fordert das gesetzlich garantierte Mitspracherecht des Bundestages bei EU-Verträgen, die über
die Handelspolitik hinausreichen, bei dem anstehenden
Ratifizierungsprozess des Freihandelsabkommens ein.
Dieses Abkommen enthält Regelungen zur Liberalisierung der öffentlichen Beschaffungsmärkte und zur Liberalisierung des Wettbewerbsrechts sowie des Investitions- und Patentschutzes und greift fundamental in die
Ordnungspolitik der lateinamerikanischen Partnerländer ein. Somit berührt es entwicklungspolitische Fragen, die die Zuständigkeit der nationalen Parlamente
der Mitgliedsländer betreffen. Zudem beinhaltet das Abkommen auch Klauseln zu Menschenrechten und der
Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die
nicht handelsrelevant sind.
Stärken wir den demokratischen Entscheidungsprozess in der EU, schenken wir endlich den Opfern der
Öffnung der Märkte im Süden Aufmerksamkeit. Setzen
wir uns gemeinsam für solidarische Wirtschaftsbeziehungen und für eine andere Handelspolitik ein, die den
Kleinbauernbewegungen in Lateinamerika und der Karibik sowie in Europa das Überleben und die Ernährungssouveränität der Länder ermöglicht.
Das Freihandelsabkommen zwischen der EU, Kolumbien und Peru, das beim EU-Lateinamerika-Gipfel in
Madrid paraphiert wurde, hat mich in den vergangenen
Wochen und Monaten stark beschäftigt und ich habe es
auch wiederholt kritisiert. Denn mit diesem Abkommen
wird die EU nicht dem Anspruch gerecht, den sie selbst
für Abkommen dieser Art definiert hat. Am offensichtlichsten reißt die EU die Latte bei der Förderung der regionalen Integration: Nicht ein Assoziierungsabkommen
mit der gesamten Andengemeinschaft soll bald unterzeichnet und ratifiziert werden, sondern ein reines Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien. Ecuador
und Bolivien stiegen aus dem Verhandlungsprozess aus.
Denn sie waren nicht bereit, ihre Märkte so weit zu öffnen, wie es die EU verlangte. Der Integrationsprozess in
der Andengemeinschaft geht geschwächt und nicht gestärkt aus den Verhandlungen hervor.
Die EU hatte zudem postuliert, mit dem Abkommen zu
mehr Entwicklung und weniger Armut beitragen zu wollen. Die Europäische Kommission gab zwar eine Studie
über die Nachhaltigkeit des geplanten Abkommens in
Auftrag, EU-Andean Trade Sustainability Impact Assessment. Die Ergebnisse der Studie scheinen aber wenig Einfluss in das Abkommen gefunden zu haben.
Auch zum Schutz der Menschenrechte sollte das Abkommen einen Beitrag leisten. Von der Bundesregierung
wurde uns wiederholt zugesichert, dass das Abkommen
eine „sanktionsbewehrte Menschenrechtsklausel“ enthält. Wie diese Klausel aber genau formuliert sei und in
welchem Fall welche Sanktionen greifen würden, das
konnte uns die Bundesregierung bisher nicht beantworten. Es ist sogar zu befürchten, dass das Abkommen gar
keine neue Menschenrechtsklausel enthält, sondern sich
lediglich auf die bereits bestehenden Verträge bezieht,
die gezeigt haben, dass sie keine Zähne haben.
Aber das wissen wir nicht, da wir den endgültigen
Text des Abkommens noch immer nicht kennen. Die
Frage, ob es sich um eine „neue“ oder eine „alte“ Menschenrechtsklausel handelt, ist aber zentral für die
Frage, ob der Bundestag das Abkommen ratifizieren
muss oder nicht. Denn nach dem Begleitgesetz zum Lissabonner Vertag muss der Bundestag Verträge ratifizieren, wenn Politikbereiche tangiert sind, die anders als
der Handelsbereich nicht alleinige Kompetenz der EU
sind. Menschenrechtspolitik ist ein solcher Bereich.
Ich hoffe, dass das Abkommen wirklich eine neue
Menschenrechtsklausel enthält, die sanktionsbewehrt
ist. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag das Abkommen ratifizieren muss. Ich hoffe und erwarte aber auch,
dass die Bundesregierung ihren Pflichten gerecht wird,
die sich aus dem Lissabonner Vertrag ableiten, und uns
zügig und umfänglich über das Abkommen informiert
und uns den Text zugänglich macht. Denn zum jetzigen
Zeitpunkt haben wir schlicht und ergreifend nicht ausreichend Informationen, auch wenn der Antrag der Linken diesen Eindruck vermittelt.
Ich habe mir das im Antrag erwähnte Papier des Wissenschaftlichen Dienstes angeschaut. Ich muss sagen,
ich war schon erstaunt, dass die Linke, obwohl sie sich
auf diesen Sachstand bezieht, im zentralen Punkt zu einer vollkommen anderen Schlussfolgerung kommt als
der Wissenschaftliche Dienst. Während es in dem Sachstand heißt „Nach vorläufiger Einschätzung spricht einiges dafür, dass eine Ratifikation durch die Mitgliedstaaten nicht erforderlich ist“, lese ich im Antrag der
Linken: „Deshalb ist eine Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedstaaten der EU erforderlich“.
Ich teile den Wunsch der Linken, dass das Abkommen
in diesem Hohen Hause thematisiert wird, und wir als
Abgeordnete die Möglichkeit haben, der Ratifikation zuzustimmen oder sie abzulehnen. Wenn es sich um ein
gemischtes Abkommen handelt, dann muss die Bundesregierung auch ohne einen solchen Antrag einen Gesetzentwurf für die Ratifizierung vorlegen. Dann wird meine
Fraktion sehr genau prüfen, ob dieses Abkommen wirklich einen Beitrag zu Entwicklung, Menschenrechten,
Demokratie und regionaler Integration leistet. Und
sollte der Bundestag mit dem Argument, dass es sich
nicht um ein gemischtes Abkommen handelt, nicht zur
Ratifizierung aufgefordert werden, dann können wir immer noch überlegen, ob diese Frage nicht auch auf dem
Rechtsweg geklärt werden kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1970 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch hier ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Illegalen Holzeinschlag durch eine durchgreifende EU-Verordnung wirksam verhindern
- Drucksache 17/1962 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und
Kollegen Alois Gerig, CDU/CSU, Petra Crone, SPD,
Dr. Christel Happach-Kasan, FDP, Eva Bulling-Schröter,
Die Linke, und Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
In vielen Teilen der Welt ist es noch nicht gelungen,
die Zerstörung der Wälder aufzuhalten. Jährlich gehen
13 Millionen Hektar Naturwälder verloren - insbesondere in den Tropen. Durch Waldzerstörungen verschwinden nicht nur wertvolle Lebensräume für Tiere und
Pflanzen. Auch die für den Klimaschutz notwendige
Kohlenstoffspeicherung der Wälder wird erheblich abgesenkt. Waldzerstörungen tragen mit rund 20 Prozent
zu den globalen Emissionen von Treibhausgasen bei.
Die Ursachen für die Waldzerstörungen sind vielfältig. In Schwellen- und Entwicklungsländern tragen neben der Gewinnung von Agrar- und Siedlungsflächen
auch der illegale Holzeinschlag zur Waldzerstörung erheblich bei. Der illegale Holzeinschlag wird wesentlich
durch die - nicht zuletzt bei uns in Europa - bestehende
Nachfrage nach Holz verursacht. Aufgrund der überragenden Bedeutung des Waldes für die Biodiversität und
den Klimaschutz muss der Waldzerstörung unbedingt
Einhalt geboten werden. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist,
den Handel mit illegal geschlagenem Holz zu unterbinden.
Der illegale Holzeinschlag ist ein globales Problem,
das Deutschland alleine nicht lösen kann. Fortschritte
sind nur zu erwarten, wenn die Europäische Union geschlossen handelt. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist der EU-Aktionsplan „Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Handel im Forstsektor“ ({0}). Mit
diesem Aktionsplan setzen die EU und die Mitgliedstaaten richtigerweise an verschiedenen Stellschrauben an,
um illegalen Holzeinschlag zu bekämpfen - beispielsweise beim Holzhandel, in der Entwicklungszusammenarbeit und im öffentlichen Auftragswesen.
Ein wichtiger Baustein des FLEGT-Aktionsplans der
EU ist eine Verordnung, die den Handel mit Holz regelt.
Die EU-Kommission hat deshalb einen Entwurf für eine
Verordnung über die Verpflichtungen von Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen,
vorgelegt. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat erhebliche Änderungswünsche angemeldet.
Zurzeit verhandeln die Kommission, Agrarministerrat und Parlament über eine Lösung. Es ist nicht auszuschließen, dass heute in diesem Trilog eine Einigung erzielt werden kann. In diesem Fall wäre der Antrag
überflüssig. Aber auch sonst macht es wenig Sinn, mit
diesem Antrag Forderungen an die Bundesregierung zu
richten. In den schwierigen Verhandlungen zeichnen
sich in den strittigen Punkten Lösungen ab. Die Bundesregierung arbeitet konstruktiv und kompromissbereit an
einer tragfähigen Einigung mit. Hervorzuheben ist, dass
sich die Bundesregierung bereits seit Jahren engagiert
für eine wirksame Verordnung einsetzt.
Der strittigste Punkt in den Verhandlungen ist, ob ein
Vermarktungsverbot für illegal geschlagenes Holz eingeführt werden soll. Ein Vermarktungsverbot wäre nur
schwer umzusetzen, da im Einzelfall der illegale Einschlag, also der Rechtsbruch im Drittland, nachgewiesen werden müsste. Dies ist derzeit in aller Regel nicht
gerichtsfest möglich. Gleichwohl ist die Bundesregierung bereit, ein Vermarktungsverbot zu akzeptieren. Aus
meiner Sicht ist das richtig: Von Europa muss das unmissverständliche Signal ausgehen, dass der illegale
Holzeinschlag entschieden bekämpft wird.
Richtig ist auch die Zielsetzung der Bundesregierung,
dass aus der angestrebten Verordnung keine übermäßigen Belastungen für die Waldbesitzer und die Holzwirtschaft in Deutschland resultieren dürfen. So sollte die
Rückverfolgbarkeit über die gesamte Handelskette
gewährleistet werden. Besondere Sorgfaltspflichten darüber, ob das Holz aus legalem Einschlag stammt, sollten aber nur dem Erstinverkehrbringer auferlegt werden.
Ebenso sollte darauf geachtet werden, dass deutsche
Waldbesitzer, die Holz aus dem eigenen Wald vermarkten, keine überzogenen Nachweispflichten erfüllen müssen. Die bestehenden Dokumentationspflichten für
Waldbesitzer sind ausreichend, um die Rückverfolgbarkeit sicherzustellen. Hinzu kommt, dass in Deutschland
wie in den allermeisten anderen EU-Mitgliedstaaten
Holz nachhaltig erzeugt wird und das Risiko des illegalen Holzeinschlags vernachlässigbar gering ist. Das
Problem des illegalen Holzeinschlags ist außerhalb der
Europäischen Union zu finden. Dies darf nicht zu Belastungen für die legale und nachhaltige Waldbewirtschaftung hierzulande führen.
Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.
Es ist zu erwarten, dass seine stoffliche und energetische
Nutzung in den kommenden Jahren zunehmen wird. Dies
ist auch erforderlich, wenn wir unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele erreichen wollen. Gleichzeitig wollen wir
die biologische Vielfalt im Wald schützen und den Wald
als Erholungsraum für Menschen erhalten. Vor diesem
Hintergrund verbietet es sich, die circa 2 Millionen privaten Waldbesitzer mit neuer ungerechtfertigter Bürokratie zu belasten.
Vielmehr muss erreicht werden, dass die notwendige
EU-Verordnung zu einem Vorteil für die heimische
Forstwirtschaft wird. Der Handel mit illegal geschlagenem Holz drückt den Holzpreis - dies ist eine erhebliche
Wettbewerbsverzerrung für unsere Forstwirtschaft, die
ihr Holz durch eine naturnahe und nachhaltige Waldbewirtschaftung und damit kostenintensiv erzeugt. Die baldige Umsetzung der Verordnung ist nicht nur aus Klimaschutzgründen notwendig. Es geht auch darum, für
einen faireren Wettbewerb auf dem Holzmarkt zu sorgen.
Die illegale Abholzung ist leider in vielen waldreichen
Ländern der Welt immer noch gängige Praxis. Der gesamte Waldflächenverlust der Erde beläuft sich laut Berechnungen der Welternährungsorganisation, FAO, auf
jährlich auf etwa 13 Millionen Hektar; in jeder Minute
verschwinden 14 Hektar Wald unwiederbringlich, überwiegend tropischer Regenwald. 130 000 Quadratkilometer entsprechen ungefähr der Größe Griechenlands.
Deutschlands Wälder mit insgesamt 110 000 Quadratkilometern wären innerhalb eines Jahres demzufolge komplett weg.
Ein starker Motor für die Zerstörung der Wälder ist
die internationale, auch die europäische Nachfrage
nach billigem Holz und die Umwandlung von Waldfläche in Acker- oder Weideland. Illegaler Holzeinschlag
ist ein Problem, das in seinen Ausmaßen nicht verheerend genug beschrieben werden kann: vom Verlust der
Artenvielfalt bis hin zu den nachteiligen sozialen Folgen
für die dortige Bevölkerung. Waldrodung ist zudem nach
Berechnungen für rund 20 Prozent der Treibhausemissionen verantwortlich. Umso unverständlicher ist, dass
bisher der Import solch illegal geschlagenen Holzes in
die Europäische Union und damit auch nach Deutschland ungeahndet bleibt. Es ist vorrangig ein Verdienst
der zahlreichen Umweltorganisationen, dass sie unseren
Blick - als Gesellschaft im Allgemeinen und als Parlamentarier im Besonderen - immer wieder in diese Richtung lenken. Die globale Waldvernichtung ist kein Problem, dass erst jetzt bekannt wurde. Seit Jahrzehnten
- so Cornelia Behm in einer früheren Rede zum Thema wird diskutiert, wie die Zerstörung der Urwälder gestoppt werden könnte.
So wurde von der rot-grünen Regierung ein Gesetz
zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vorgelegt,
das das Ziel verfolgte, Urwälder vor illegalem Holzeinschlag zu schützen. Auch ein 2004 von der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag eingebrachter Antrag
forderte die Bundesregierung auf, den Besitz und die
Vermarktung von Holz und Holzprodukten zu unterbinden. Durch die vorgezogenen Bundestagswahlen im
Jahr 2005 wurde der parlamentarische Vorgang nicht
zum Abschluss gebracht. 2006 wurde er von Bündnis 90/
Die Grünen wieder aufgegriffen und mit den Stimmen
der jetzigen Regierungskoalition und - das kann ich
nicht unerwähnt lassen - derer der SPD abgelehnt.
Meine Vorgänger innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion sahen damals vor allem Schwierigkeiten im Hinblick auf die Nachweisführung und Kontrolle des vorgeschlagenen Zertifizierungsprozesses und fürchteten
einen gewaltigen bürokratischen Aufwand für eine
große Zahl von Betrieben der Holzwirtschaft. Auch die
Linke äußerte damals Zweifel an der Wirksamkeit, unter
anderem wegen Lücken bei den vom Gesetz erfassten
Holzprodukten und wegen der Jahresumsatzgrenze für
Unternehmen. Auch ich finde es bedauerlich, dass dieses Gesetz in der vorherigen Legislaturperiode nicht in
Kraft treten konnte. Trotz inhaltlicher Schwächen wäre
die Symbolkraft doch eine hohe gewesen und hätte an
der einen oder anderen Stelle Prozesse beschleunigen
können.
Die Notwendigkeit, eine europaweite Regelung einzuführen, war schon damals unstrittig. Um den Blick wieder nach vorn und auf Europa zu richten: Über 90 Prozent aller EU-Bürger fordern ein wirksames Gesetz zur
Bekämpfung des Handels mit Holz aus illegalen Quellen, wie eine Umfrage des WWF ergab. Gerade verhandeln Vertreter von Kommission, Parlament und Rat der
EU ein Holzhandelsgesetz im Rahmen des FLEGT-Prozesses. Deutschland könnte durch sein Stimmengewicht
im EU-Rat zu einem klaren Votum beitragen, um den
Raubbau an den Wäldern entscheidend zu bremsen.
Auch die altbekannten Einwände aus der Holzwirtschaft sind durch gute Argumente entkräftet: Illegaler
Holzeinschlag drückt durch seine Billigangebote den
Holzpreis weltweit um schätzungsweise 16 Prozent.
Deutsche Waldbesitzer und Unternehmen der Holzbranche, die auf Nachhaltigkeit im Anbau und Vertrieb setzen, sind dadurch einem unfairen Wettbewerb ausgesetzt. Allein hierzulande kommen fast 10 Prozent der
Holzimporte aus illegalen Quellen. Der jährliche wirtschaftliche Schaden durch entgangene Einnahmen für
Staat, Industrie und Waldbesitzer beläuft sich EU-weit
auf rund 11 Milliarden Euro. Hinzu kommt der Imageschaden für den Rohstoff Holz und den gesamten Forstsektor. Der dann mögliche Nachweis von Legalität wird
ein erheblicher Pluspunkt im Wettbewerb sein.
Der illegale Holzeinschlag unter Missachtung nationaler und internationaler Rechtsvorschriften muss effektiver eingedämmt werden, als es die schwarz-gelbe Koalition bisher betreibt. Wir bekräftigen mit unserem
Antrag unsere Forderung nach einer kombinierten Herangehensweise aus generellem Verbot von Holz und
Holzerzeugnissen aus illegalen Quellen in Ergänzung zu
einem effizienten System der Sorgfaltspflichtregelung,
welches alle Marktteilnehmer nutzen, die Holzprodukte
als Erste auf den europäischen Markt bringen. Alle weiteren Marktteilnehmer nutzen ein System der lückenlosen Rückverfolgung. EU-weit fordern wir ein Mindestmaß an Sanktionen und Strafmaßnahmen, um gleiche
Zu Protokoll gegebene Reden
Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer zu
schaffen und um dadurch Eingangsstellen illegalen Holzes in den EU-Markt zu vermeiden. Alle Holzprodukte,
die illegal geschlagenes Holz enthalten könnten, müssen
unter den Anwendungsbereich der Verordnung fallen.
Wir appellieren an die Bundesregierung, unseren
Vorschlägen zu folgen und damit eine für Umwelt und
Wirtschaft wirksame Verordnung auf den Weg zu bringen. Die Verbraucher können dann sicher sein, dass ihre
Waren aus Holz und das Holz selbst aus legaler Waldwirtschaft stammen und nicht zur Zerstörung der letzten
Urwälder beitragen. In diesem Zusammenhang begrüße
ich auch das „Industry Statement“, unter anderem von
großen deutschen bzw. in Deutschland in der Fläche
vertretenen Firmen.
Es wäre schön, wenn es durch unser aller Zutun gelänge, ein höchst wirksames Gesetz gegen den Handel
mit Holz illegalen Ursprungs auf die Beine zu stellen.
Damit schlagen wir gemeinsam ein neues Kapitel für
den Schutz der Regenwälder auf. Weitere werden folgen
müssen.
In den letzten zehn Jahren gingen nach Angaben der
FAO jährlich 13 Millionen Hektar naturnaher Wälder
verloren. Das ist mehr als die Waldfläche in Deutschland, die 11,1 Millionen Hektar umfasst. Die größten
Verluste treten dabei in Afrika, Südostasien, Südamerika, aber auch in Australien auf. Satellitenbilder zeigen
die Verluste deutlich, die Wälder im Kongobecken sind
löchrig geworden, in Brasilien sind die Verluste an Wald
im Amazonasbecken entlang der Flüsse erheblich. An
diesen Verlusten hat der illegale Holzeinschlag einen erheblichen Anteil. Die Zahlen aus dem „Global Forest
Resources Assessment 2010“ der FAO machen zudem
deutlich: Außerhalb Europas wird nur ein Bruchteil der
Wälder nach den Kriterien der Nachhaltigkeit bewirtschaftet.
Wir brauchen die Urwälder für die Menschen vor
Ort, die Sicherung ihres Lebensunterhalts, für den
Schutz des Klimas, den Erhalt der Wasserreserven und
insbesondere den Erhalt der Artenvielfalt. Artenvielfalt
sichert biologische Informationen. Deshalb sind die Urwälder die Schatzkammern der Erde. Mit dem Verlust
der artenreichen Urwälder sinkt nicht nur die Fähigkeit,
Kohlenstoffdioxid zu binden, auch die einzigartige Biodiversität wird zerstört.
Neben dem illegalen Holzeinschlag sind die Wälder
auch bedroht durch die Schaffung von Flächen für den
Anbau von Soja- sowie Palmölplantagen. Deshalb ist es
ein wichtiges Anliegen, über eine Nachhaltigkeitszertifizierung für Biomasse zu verhindern, dass die Nachfrage
in Europa zusätzlichen Anreiz zur Vernichtung von Urwald schafft. Wir wollen, dass die energetische Nutzung
von Biomasse nicht in Misskredit gerät; denn dies ist ein
wichtiges Instrument des Klimaschutzes. Wir sind uns
alle einig, dass der weltweite Schutz der Wälder ein
überragendes gemeinsames Ziel ist. Laut IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change, stammen bis zu
30 Prozent der zusätzlichen Belastungen der Atmosphäre mit CO2 aus der Zerstörung von Wäldern, insbesondere durch illegalen Holzeinschlag. Deutschland
gehört wie China, die USA und Japan zu den großen Importländern von Holz und Holzprodukten. Die EU hat im
Jahr 2006 etwa ein Drittel ihres Rohholzes aus Drittstaaten importiert. Deshalb haben wir eine besondere
Verantwortung, dass von uns genutztes Holz nur aus legaler und selbstverständlich auch nachhaltiger Bewirtschaftung von Wäldern stammt. Wir sind uns einig, dass
der Handel mit illegal geschlagenem Holz und insbesondere dessen Import in die EU unterbunden werden muss.
Auch die FDP unterstützt ausdrücklich den Kampf gegen den illegalen Holzeinschlag.
Bei aller Einigkeit über das Ziel behalten wir uns
gleichwohl vor, die vorgeschlagenen Maßnahmen daraufhin zu überprüfen, ob sie unser gemeinsames Ziel
wirklich auf den Weg bringen. Ziel des SPD-Antrages ist
es, durch Errichtung von Handelshemmnissen Wälder in
Ländern mit schlechter Regierungsführung zu schützen.
Ob dies eine wirksame Strategie ist, ist völlig offen.
Vor Jahren wurde die Zertifizierung von Holz als Allheilmittel für den Schutz bedrohter Wälder gepriesen.
Wir mussten leider feststellen, dass die Zertifizierung
der Waldbewirtschaftung in Ländern ohne gute Regierungspraxis, ohne starke Regierungen nicht den erhofften Erfolg gebracht hat. Eine zuverlässige Zertifizierung
ist mit zeit- und kostenintensiven Kontrollen durch vertrauenswürdige Stellen vor Ort verbunden. Eine Reihe
von Ländern, beispielsweise China, ist nach wie vor bereit, nichtzertifiziertes Holz oder solches mit fragwürdigen Dokumenten in riesigen Mengen zu verarbeiten. Vor
diesem globalen Hintergrund stellt sich die Frage, ob
realitätsferne Regelungen in der EU den Schutz gefährdeter Wälder wirklich sicherstellen können.
Der Kampf gegen den illegalen Holzhandel darf die
nationalen und europäischen Kleinwaldbesitzer nicht
mit unnötigen Bürokratiekosten belasten. Bei der Definition der Sorgfaltspflichten für Erstinverkehrbringer, bei
der Rückverfolgbarkeit von Holz und Holzerzeugnissen
dürfen keine unrealistischen, bürokratischen Türme aufgebaut werden.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben im Jahr
2008 den sogenannten US Lacey Act auf Holzprodukte
ausgedehnt. Damit sollen illegale Holzimporte verhindert werden. Bisher wurde ein einziger Fall, der Import
illegalen Rosenholzes aus Madagaskar, durch Umweltaktivisten aufgedeckt und vor Gericht gebracht. Wegen der Verletzung der Sorgfaltspflicht des Importeurs
wäre dieser Import auch ohne Verbot des illegalen Holzhandels bei uns strafbar. Es bleibt daher abzuwarten, ob
das Verbot des Imports von illegalem Holz einen nachhaltigen Effekt haben wird.
Der im Jahr 2005 von der EU beschlossene FLEGTAktionsplan und die Verhandlungen über bilaterale Verträge mit gefährdeten Staaten, die sogenannten freiwilligen Partnerschaftsabkommen oder Voluntary Partnership Agreements, VPA, könnten im Gesamtpaket mit
einer praktikablen Handelsverordnung zu einer wesentlichen Verbesserung im EU-Holzhandel mit Drittstaaten
führen, da sie neben dem Umweltschutz auch soziale BeZu Protokoll gegebene Reden
lange umfassen und vor Ort ein nachhaltiges Bewusstsein stärken.
Für die Bekämpfung folgender Ursachen, der Zerstörung der Urwälder, des illegalen Raubbaus und der bedrückenden Armut der Bevölkerung in den betroffenen
Gebieten, müssen wir eine jeweils eigene Strategie finden. Die Waldnutzung in Entwicklungsländern muss wesentlich der heimischen Bevölkerung zugutekommen.
Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde zu
helfen, ihre Wälder für die Bekämpfung der Armut zu
nutzen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wälder und deren nachhaltiger
Nutzung zu entwickeln. Dafür ist eine Stärkung des Regierungshandelns erforderlich. Statt weiterer internationaler Verordnungen ist Hilfe zur Selbsthilfe die wichtigste Aufgabe internationaler Entwicklungshilfepolitik,
aber auch unserer Klimapolitik.
Vor diesem Hintergrund unterstützen wir die vielfältigen Bemühungen der Bundesregierung und halten den
vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion, obwohl wir mit
den Zielen einverstanden sind, für nicht zielführend.
Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Gestern fand ein parlamentarischer Abend der Umweltschutzorganisation WWF statt. In ihren Kurzstatements machten die Vertreterinnen und Vertreter der Bundestagsfraktionen klar, dass ihnen der Schutz der letzten
noch verbleibenden Urwälder dieser Erde am Herzen
liegt. Daher solle sich wirksam gegen den Handel mit
Tropenholz aus Raubbau eingesetzt werden. Die Abholzung von Regenwald bedeutet die unwiderrufliche Zerstörung von Lebensräumen für Orang-Utans, Leoparden
oder Anakondas. Dem Raubbau an der Natur gilt es,
Einhalt zu gebieten. Zumindest für den europäischen
Markt können wir das versuchen, indem wir eine wirklich wirksame Verordnung über die Verpflichtung von
Marktteilnehmern, die Holz und Holzerzeugnisse in Verkehr bringen, auf den Weg bringen.
Genau das wird im vorliegenden Antrag der SPDFraktion gefordert. Ich freue mich darüber, dass nun
auch die SPD in diesem Bereich aktiv wird. Noch in der
letzten Legislatur hat sie sich gegen ein wirksames
Urwaldschutzgesetz ausgesprochen. Zumindest in
Deutschland hätten wir uns schon vier Jahre lang aktiv
gegen den Raubbau von Holz zur Wehr setzen können,
wenn die SPD gewollt hätte. Doch leider ist auch im
Jahr 2010 alles andere als klar, ob es eine wirksame Verordnung geben wird. Holzindustrie und Teile der Forstwirtschaft, Bundesregierung und andere politische
Kräfte wollten bisher wichtige Verbesserungsvorschläge
des Europäischen Parlaments und von Umweltorganisationen nicht annehmen und somit dem illegalen Holzeinschlag einen Riegel vorschieben.
Auf der gestrigen Veranstaltung des WWF weckte der
Vertreter des Bundeslandwirtschaftsministeriums jedoch
die Hoffnung, dass die Bundesregierung nun zu sinnvollen Zugeständnissen bereit ist. Sie hält zwar das Verbot
von illegalem Holz für nicht umsetzbar, wird sich einer
solchen Forderung jedoch nicht weiter verschließen.
Falls dem so sein sollte, dann zeigt dies, wie wichtig der
Druck von Umweltschutzgruppen und Opposition in den
vergangenen Wochen gewesen ist. Die Bundesregierung
scheint sich zu bewegen, auch wenn die FDP-Fraktion
von der Notwendigkeit eines Verbots von Raubbauholz
noch nicht überzeugt ist. Die liberale Vertreterin machte
deutlich, dass sie davon nichts halte.
Hoffen wir also, dass die Bundesregierung nun mit an
Bord ist und eine Light-Verordnung, wie sie aktuell ohne
die besagten Verbesserungsvorschläge existiert, verhindert werden kann. Dazu sind die vielen Lücken im Verordnungsentwurf zu schließen. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich in den Verhandlungen
zwischen dem EU-Parlament, dem Ministerrat und der
EU-Kommission engagiert für eine wirksame Verordnung einsetzen wird. Die Fraktion Die Linke unterstützt
die Forderungen der Umweltverbände nach effizienter
Kontrolle, lückenloser Verfolgbarkeit bei Verstößen,
Mindestmaßen von Sanktionen und Strafen, keiner Ausnahme von Recyclingprodukten und weiteren Punkten.
Dabei ist die Debatte für mich nicht neu. Als umweltpolitische Sprecherin meiner Fraktion Die Linke im
Bundestag bin ich bereits seit vielen Jahren mit diesem
Thema vertraut. Ich weiß, wie langsam die Mühlen in
der EU-Umweltgesetzgebung mahlen. Doch dass wir bei
einer Holzverordnung inhaltlich und qualitativ den USA
- die nun leider wirklich nicht als die größten Umweltschützer bekannt sind - hinterherhinken, das verwundert
mich schon sehr. Seit 2008 regeln die USA im Lacey Act
den Umgang mit illegal geschlagenem Holz.
Doch in Europa - und auch in Deutschland - gibt es
noch viele Vorbehalte gegen deutliche Verbesserungen
im Verordnungsentwurf. Dabei ist doch gerade für die
einheimische Forst- und Holzwirtschaft ein wirksames
Vorgehen gegen Raubbauholz neben den ökologischen
Gründen auch vor allem aus ökonomischer Hinsicht bedeutsam. Im „Industry Statement“ des WWF haben sich
über 60 Wirtschaftsvertreter für eine wirksame Verordnung ausgesprochen.
Der Antrag enthält die zentralen Forderungen der
Umweltverbände. Dies ist ein Schritt in die richtige
Richtung, ein Baustein, um die massive Abholzung des
Regenwaldes zu verhindern und den damit verbundenen
CO2-Ausstoß zu senken.
Wir Bündnisgrüne begrüßen und unterstützen diesen
SPD-Antrag zur Bekämpfung des illegalen Holzeinschlags und Holzhandels. Ich denke, diesen Antrag hätten wir gut und gerne gemeinsam einbringen können.
Aber dafür war die Zeit offenbar noch nicht reif. Immerhin haben wir es aber geschafft, einen gemeinsamen
Bundespräsidentenkandidaten zu benennen. Ich hoffe,
dass durch das positive Echo darauf nun auch bei der
SPD die Einsicht greift, dass man durch gemeinsame
Anträge seine Anliegen aufwertet und die Erwartung,
sich bei fehlendem Dissens durch eigenständige Anträge
besser profilieren zu können, ein Trugschluss ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Insbesondere begrüße ich das klare Bekenntnis für
ein generelles Verbot von Holz und Holzerzeugnissen
aus illegalen Quellen auf dem europäischen Markt.
Denn für dieses Verbot haben wir uns in der letzten Legislaturperiode sehr stark eingesetzt - und sind dabei
immer wieder auf den knallharten Widerstand der großen Koalition aus Union und SPD gestoßen.
Ich kann es den Kollegen von der SPD nicht ersparen,
sie darauf hinzuweisen, dass die schwarz-rote Bundesregierung, und damit auch die SPD, bei diesem Thema
eine ziemlich unrühmliche Rolle gespielt hat. Zunächst
lehnte sie unseren Gesetzentwurf zur Einführung eines
nationalen Importverbots für illegales Holz mit Verweis
auf die EU-Hoheit für die Außenhandelspolitik ab. Dann
weigerte sie sich standhaft, von der EU-Kommission einen Vorschlag zur Einführung eines Importverbotes für
illegales Holz zu fordern, bevor nicht die Kommission
ihren Verordnungsentwurf vorgelegt haben würde. Das
haben wir in mehreren Antworten auf Kleine Anfragen
von der alten Regierung schriftlich mitgeteilt bekommen. Und zu guter Letzt lehnte die Bundestagsmehrheit
aus Union und SPD unseren Antrag 16/8052 ab, mit dem
wir erreichen wollten, dass sich die Bundesregierung in
der EU für ein EU-weites Importverbot für illegales
Holz einsetzt. Der Kollege Gerhard Botz sagte damals
zur Begründung der Ablehnung: „Partnerschaftsabkommen sind grundsätzlich der bessere Weg.“ Die Frustration über diese jahrelang unverrückbare Linie der
SPD haben wir Grüne noch keineswegs vergessen.
Insofern begrüße ich die Kehrtwende der SPD in dieser Frage ausdrücklich. Aber ich frage mich, warum die
SPD erst in die Opposition wechseln musste, um auch
bei dieser Frage zur Vernunft zu kommen. Es wäre doch
sehr viel besser gewesen, diese Position bereits konsequent zu vertreten, als sie noch Regierungspartei war.
Dann wären wir heute vielleicht schon ein Stück weiter.
Was den Verlauf der Beratungen zum Entwurf für eine
FLEGT-Sorgfaltspflichten-Verordnung der EU betrifft,
so waren wir Bündnisgrüne froh darüber, dass das EUParlament den unzureichenden Verordnungsentwurf der
Kommission in der 1. Lesung im April letzten Jahres erheblich verschärft und sich für ein vollwertiges Importverbot für illegales Holz ausgesprochen hat. Umso enttäuschter waren wir, dass der Ministerrat dann im
Dezember nahezu sämtliche dieser Änderungen abgelehnt hat. Wir hoffen nun, dass das Europäische Parlament seine Vorschläge in der 2. Lesung bestätigt. Das
Votum des Umweltausschusses ist hier ermutigend. Und
wir erwarten, dass diese Änderungen dann endlich auch
vom Ministerrat bestätigt werden.
Es wäre gut, wenn dies auch mit Zustimmung
Deutschlands erfolgen würde. Allerdings hat die Bundesregierung im Agrarausschuss des Bundestages bereits deutlich gemacht, dass Deutschland auch hier wieder auf der umweltpolitischen Bremse stehen wird. Die
Bundesregierung lehnt das im Dezember von Großbritannien, den Niederlanden, Spanien, Dänemark und
Belgien geforderte Importverbot für illegales Holz nach
wie vor ab. Deutschland ist im Begriff, seinen Ruf als
umweltpolitischer Vorreiter gründlich zu verspielen,
durch eine Politik, die unter Schwarz-Rot begonnen hat
- ich erinnere nur an das Trauerspiel mit der Bodenschutzrahmenrichtlinie - und jetzt unter Schwarz-Gelb
in verschärfter Form fortgesetzt wird. Es wird Zeit, dass
Deutschland mit dieser Bremserrolle Schluss macht und
bei der FLEGT-Sorgfaltspflichten-Verordnung wieder in
die umweltpolitische Offensive kommt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1962 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht,
Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Eurozone reformieren - Staatsbankrotte verhindern
- Drucksachen 17/1058, 17/1602 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Dr. Axel Troost
Die zu Protokoll zu nehmenden Reden stammen von
Peter Aumer, CDU/CSU, Manfred Zöllmer, SPD, Frank
Schäffler, FDP, Alexander Ulrich, Die Linke, und Viola
von Cramon-Taubadel, Bündnis 90/Die Grünen.
Mit dem Antrag der Fraktion Die Linke wird nicht erreicht - wie in der Überschrift genannt -, die Euro-Zone
zu reformieren und Staatsbankrotte zu verhindern, sondern die Antragsteller wollen ein anderes Europa, weg
von der sozialen Marktwirtschaft, dem Wirtschaftsmodell, das Deutschland stark gemacht hat. Scheinbar wollen Sie mit Ihrem Antrag die Kräfte des Marktes außer
Kraft setzen. Dies vermag keiner in unserem Land, und
das wird auch die Starrheit der Linken nicht erreichen.
Zudem machen Sie es sich mit Ihren Erklärungen über
die Ursachen der Krise doch etwas einfach. Schuld sind
die EU, der IWF, da Sie von Griechenland eine solide
Haushaltspolitik einfordern, Deutschland, weil wir angeblich Steuer- und Lohndumping betreiben.
Doch so wünschenswert es wäre, Schuldige zu finden
und eine Situation wie die heutige auf einfache Grundstrukturen herunterzubrechen, so zeigen doch aktuelle
Studien, dass Sie mit Ihren Thesen falsch liegen. Meine
sehr geehrten Damen und Herren Antragssteller, werfen
Sie einen Blick in die Stellungnahme des Rates zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Griechenlands für
2010 bis 2013: Sie zeigt, wie falsch Sie in Ihrer Einschätzung liegen. Denn darin ist beispielsweise vermerkt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands
auch im nichtpreislichen Bereich verbessert werden
muss, nämlich durch Investitionen, Reformen der öffent4780
Peter Aumer ({0})
lichen Verwaltung, Verbesserung der Qualität der Bildung und Reformen bei den Renten. Die Griechen selbst
widersprechen im Übrigen Ihrem Antrag, was ihr eigenes Land betrifft. Sie haben Reformen beschlossen und
werden diese auch durchsetzen, weil sie spüren, dass
dies der Weg einer stabilen europäischen Gemeinschaft
und eines stabilen Euros ist.
Zudem verlangt Ihr Antrag, dass Deutschland seine
internationale Wettbewerbsfähigkeit zugunsten eines
Ausgleichs innerhalb der Europäischen Union senken
solle. Deutschland konkurriert nicht primär mit wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten, sondern doch
vor allem mit den Global Playern dieser Welt. Damit
würde die von Ihnen beabsichtigte Maßnahme nicht nur
den Wirtschaftsstandort Deutschlands schwächen, sondern auch für die anderen Mitgliedstaaten nicht den erhofften wirtschaftlichen Vorteil herbeiführen.
In Deutschland geschieht die Lohnfindung auf
Grundlage eines bewährten Instrumentariums. Die Tarifautonomie hat sich bewährt, stellt einen Stabilitätsanker dar und trägt zu sozialer Sicherheit und Ausgewogenheit in unserem Land bei. Diese infrage zu stellen, ist
äußerst gefährlich. Eine andere Lohnfindung als die
derzeit praktizierte hätte starke Ungleichgewichte auf
dem Arbeitsmarkt zur Folge und auch einen Verlust der
Wettbewerbsfähigkeit, der auch nicht durch eine Steigerung der Binnennachfrage kompensiert werden könnte.
Ihr Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren
der Linken hätte zur Folge, dass die Krise in Griechenland verschärft werden würde. Damit verspielen Sie
auch die Chance, die in jeder Krise steckt, nämlich einen
zukunftsfähigen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu gestalten, der uns vor einer Situation wie der heutigen in
Zukunft bewahren soll.
Es ist wichtig und richtig, sich in Zukunft auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu konzentrieren oder, wie
die Wirtschaftsweise di Mauro es formuliert, ihm
„Zähne zu geben". Er muss dort, wo es nötig ist, verschärft werden. In Zukunft müssen Tricksereien in der
Haushaltsstatistik unterbunden werden, Kontrollen verstärkt und wirkungsvolle Instrumente der Prävention
und Sanktion eingerichtet werden. Die Arbeitsgruppe
des EU-Ratspräsidenten Van Rompuy ist dabei, Ansätze
zu entwickeln, wie wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt weiterentwickeln können. Wir müssen in Europa
wieder zurückkehren zu mehr Solidität. Das ist unsere
Aufgabe in Europa und für Europa. Dazu gehören solide
Finanzen, und dazu gehört ein solides Wirtschaftssystem.
Der eingeschlagene Weg der Bundesregierung ist der
einzig richtige, um die finanzielle Stabilität in der EuroZone als Ganzes zu gewährleisten und den nachhaltigen
Erfolg des Euro zu sichern. Der Antrag der Linken erfüllt diese Ziele in keinster Weise. Mit der Zustimmung
zu den Hilfen für Griechenland und den daran geknüpften Auflagen hat der Deutsche Bundestag Entscheidungen von allergrößter Tragweite getroffen. Die Beschlüsse sind wegweisend, für die Zukunft Europas und
Deutschlands. Wir handelten und handeln im Interesse
der Bürger, zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität
unseres Landes und der Stärke des Euro. Das ist unser
Ziel, und wir sind auf dem besten Weg.
Vor fast genau einem Monat, am 9. Mai, haben die
EU, der Internationale Währungsfonds, IWF, und die
Europäische Zentralbank, EZB, ein Maßnahmenbündel
mit Garantien in Höhe von insgesamt 750 Milliarden
Euro geschnürt, das der Stärkung und dem Schutz des
Euro dienen soll. Die Finanzminister der Euro-Länder
einigten sich diesen Montag in Luxemburg endgültig auf
dieses Paket. Es wird eine Zweckgesellschaft gegründet,
die im Notfall Kredite am Kapitalmarkt für Partnerstaaten aufnehmen soll. Anders als beim Kreditpaket für
Griechenland steuern die Euro-Länder nicht direkt Geld
bei, sondern bürgen für die Kredite in Höhe ihrer jeweils
festgeschriebenen Teilbeträge. Der Anteil Deutschlands
an den Kreditbürgschaften wird etwa 148 Milliarden
Euro betragen.
Die Euro-Währung steht seit Wochen unter starkem
Druck, und ein Kurs von unter 1,20 zum Dollar ist zum
Beginn der Woche neuester Tiefstand seit vier Jahren. Es
ist aber weniger der Kurs an sich, der einen besorgt
macht; denn wir erinnern uns alle auch noch an Kurse
von 88 Cent im Verhältnis zum Dollar. Es ist vielmehr
der schnelle Verfall unserer Gemeinschaftswährung, der
problematisch ist. Seit November hat der Euro über
20 Prozent verloren. Für diese krisenhafte Situation gibt
es mehrere Gründe.
Der wichtigste Grund ist sicherlich die erhebliche
Verschuldung der Staaten, wobei insbesondere die südlichen Länder wie Griechenland, Italien, Spanien oder
Portugal am stärksten von einer Überschuldung ihrer
Staatshaushalte betroffen sind. Aber auch Länder wie
Ungarn gerieten zuletzt in das Fadenkreuz möglicher
Totalverschuldung.
Doch auch in den anderen EU-Ländern besteht wenig
Grund zur Freude. Nach aktuellen Schätzungen der EUKommission steigen die Staatsdefizite in den 27 EUStaaten 2010 erheblich. Lag das Staatsdefizit 2007 im
Durchschnitt des Euro-Raums bei nur 0,7 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, BIP, und damit weit unter dem
Maastrichter Referenzwert von drei Prozent, so erwartet
die Europäische Kommission für 2010 im Euro-Raum
ein Staatsdefizit im Schnitt von 7,2 Prozent des BIP. Die
Euro-Staaten Irland, Griechenland und Spanien wiesen
2009 sogar ein zweistelliges Defizit auf. Die durchschnittliche Verschuldung in der Euro-Zone liegt anstatt
bei den geforderten 60 bei 84 Prozent.
Verstärkt wird die finanzielle Schieflage dadurch,
dass es in der Euro-Zone derzeit nur ein geringes wirtschaftliches Wachstum gibt. Damit wird es sehr viel
schwerer, aus den Schulden „herauszuwachsen“, und es
erscheint in vielen Ländern unklar, wie die Schulden abgebaut werden können.
Wir müssen insgesamt auch eine mangelnde Haushaltsdisziplin konstatieren. Die Maastricht-Kriterien
sind sehr oft nicht eingehalten worden. Durch so ein
Verhalten verliert man auf Dauer aber das notwendige
Zu Protokoll gegebene Reden
Vertrauen in die Solidität der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Länder in der Euro-Zone. Letztlich sinkt damit die Kreditwürdigkeit, wie wir es im Fall Griechenland leider in den vergangenen Monaten erleben
mussten.
Angesichts dieser Entwicklung ist es richtig, wie es
im Antrag der Linken heißt, die Euro-Zone zu reformieren und Staatsbankrotte zu verhindern. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind dazu aber nicht tauglich. Sie
fordern ein Sammelsurium problematischer Maßnahmen, die häufig kontraproduktiv wirken. Sie schlagen
sogar die Aussetzung des Europa-Vertrages vor, wenn
Sie eine aktive Umgehung der Bail-out-Klausel fordern.
Da befindet sich die Linkspartei wieder außerhalb der
Realität.
Die Maßnahmen, die nun auf EU-Ebene vereinbart
wurden, sind der richtige Weg:Die Euro-Staaten haben
sich verpflichtet, ihre massiv gestiegenen Defizite beschleunigt abzubauen, um die Verschuldung zu stoppen
und umzukehren. Griechenland, Spanien und Portugal
haben mehr als ehrgeizige Sparpläne vorgelegt und verabschiedet.
Auch der 750-Milliarden-Schutzschirm ist notwendig,
weil die Spekulationen damit eingedämmt werden können. Damit sind die Mittel aus dem Notfallfonds ein eigenständiger Krisenmechanismus. Dies ist das richtige
Signal an die Finanzmärkte, dass sich Spekulationen gegen notleidende Länder in der Eurozone nicht lohnen.
Wir bräuchten jetzt weitere Maßnahmen zur Stabilisierung des Euro: Die neue Zweckgesellschaft muss gegründet werden und ihre Arbeit schnellstmöglich aufnehmen. Frühzeitige Sanktionen gegen Schuldensünder
und eine stärkere europäische Kontrolle über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten werden den Euro weiter
stabilisieren. Es ist richtig, wenn die Finanzminister
sich für einen direkten Zugang der Kommission zu nationalen Haushaltsstatistiken ausgesprochen haben. Damit
werden Tricksereien wie im Falle Griechenlands zukünftig nicht mehr möglich sein.
Die Beratungen der letzten Monate haben deutlich
gemacht, dass die Regierung in dieser Euro-Krise weder
Linie noch Richtung hatte, keinen Mut zeigte und vor allem auf europäischer Ebene versagt hat. Die Regierung
hat versucht, notwendige Entscheidungen zu verschleppen, und war in ihrer Meinung wankelmütig. Allein die
Äußerungen der Bundeskanzlerin zu möglichen Hilfen
an Griechenland oder zur Frage der Einführung einer
Transaktionsteuer belegen dies leider allzu deutlich.
Sowohl Merkel als auch Bundesminister Schäuble
wirken fast wie Getriebene auf der internationalen und
der europäischen Ebene. Das für sich genommen wäre
vielleicht nur ein politisches Desaster. Aber wäre die
Kanzlerin früher bereit gewesen, zu handeln, wären die
Kosten der Hilfsmaßnahmen sehr viel geringer gewesen.
Die Bundesregierung muss jetzt endlich auch ihrem Versprechen gerecht werden, gegen Spekulanten vorzugehen und dies auch international durchzusetzen. Wir
brauchen endlich Taten!
Was die Linke heute hier vorlegt, ist eine Pervertierung unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Für eine
Partei, die den Sozialismus in Deutschland einführen
will, ist dies nur konsequent. Wer die marktwirtschaftliche Ordnung jedoch stärken will, der darf Risiko und
Verantwortung nicht außer Kraft setzen, der muss dafür
sorgen, dass eine Sozialisierung von Verlusten nicht
stattfindet. Wer - wie die Linken - die Monetarisierung
der Staatsschulden durch die EZB fordert und einer
Euro-Anleihe das Wort redet, macht jedoch genau dies.
Er nimmt den Mitgliedstaaten des Euro-Raumes jeglichen Anreiz, selbst für Haushaltsdisziplin zu sorgen.
Das führt nicht nur bei den Mitgliedstaaten zu einer
neuen Schuldenlawine, die ohnehin in der Vergangenheit über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern es untergräbt auch bei den noch stabilen Ländern den Anreiz
zur Haushaltskonsolidierung.
In der Folge würde dies zu einer Politik des billigen
Geldes und damit zu einer galoppierenden Inflation führen. Inflation ist die Enteignung von Sparvermögen. Sie
wirkt wie eine Steuer. Diese „Inflationssteuer“ zerstört
das Vermögen von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land, die ihr Leben lang hart gearbeitet
haben und einen Teil ihres Lohnes für die eigene Altersvorsorge zur Seite gelegt haben. Aber nicht nur dies: Inflation, die unweigerlich mit der Umsetzung der Vorschläge der Linken eintreten würde, verändert das Sparund Investitionsverhalten von Bürgern und Unternehmen. Wer heute nicht weiß, welche Kaufkraft das Sparvermögen in 20, 30 oder vielleicht 40 Jahren hat, wird
gegebenenfals gar nicht mehr sparen. Diese Politik führt
zu einer wachsenden Abhängigkeit der Bürger vom
Staat. Das ist das Gegenteil dessen, was wir wollen. Wir
wollen die Eigenverantwortung fördern und die Abhängigkeit der Bürger vom Staat verhindern.
Unser Menschenbild ist das von Ludwig Erhard, der
gesagt hat: „Das mir vorschwebende Ideal beruht auf
der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich
aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein. Sorge Du Staat dafür, dass ich dazu in der Lage
bin.“
Die Konsequenz aus der Krise des Euro muss das genaue Gegenteil des vorliegenden Antrags sein. Wir müssen die Politik des billigen Geldes beenden. Das gilt für
die Monetarisierung der Staatsschulden durch die EZB
auf der einen Seite und für die Verschuldungspolitik der
Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Das ist die Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Dynamik.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt war bislang ein
zahnloser Tiger, der zur kollektiven Verantwortungslosigkeit geführt hat. Der Pakt braucht Zähne. Aber nicht
nur! Recht muss nicht nur eingehalten werden, sondern
es muss auch gelebt werden. Es braucht ein Wertegerüst,
damit Normen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern
auch gelebt werden.
Doch das wollen die Linken in diesem Hause nicht.
Sie sind Gegner eines stabilen Euro. Sie wollen das
Zu Protokoll gegebene Reden
Chaos. Sie nehmen billigend in Kauf, dass kleine Sparer,
Rentner, aber auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger besonders unter einer Inflation leiden werden. Hohe
Inflationsraten führen dazu, dass gerade die Preise für
Güter des täglichen Bedarfs explodieren. Das verschweigen Sie.
Die Gegner der Marktwirtschaft haben immer auf Inflation gesetzt, um ihre Ziele durchzusetzen. Lenin wird
schon von Walter Eucken mit dem Satz zitiert: „Wer die
bürgerliche Gesellschaft zerstören will, muss ihr Geldwesen verwüsten.“ Sie wollen die menschenverachtende
Politik Lenins fortsetzen, aber wir werden dies verhindern.
Der Antrag, um den es hier geht, sollte eigentlich gemeinsam mit dem „Euro-Schutzschirm“ abgestimmt
werden. Die Koalition hat aber kalte Füße bekommen,
ihn abgesetzt und ihm nun einen Randplatz eingeräumt es gibt keine öffentliche Diskussion. Dies ist bedauerlich
und unverständlich. Vielleicht zeigt es aber auch, dass
die anderen Fraktionen sich nur ungern an ihre Beiträge
aus der ersten Lesung erinnern möchten. Nach dem
Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“: So fragte die FDP noch spöttisch, ob die Linke alles besser wisse. Die SPD warf uns Einfältigkeit vor, die
CDU/CSU bezichtigte uns naiver Utopien und fragte ungläubig, ob wir denn etwa das Beistandsverbot aufheben
wollten.
Das war am 25. März dieses Jahres. Nun, gerade einmal elf Wochen später, kann man klar sagen: Wir waren
weder naiv noch einfältig - wir wussten es besser. Einige
unserer Forderungen wurden mittlerweile umgesetzt.
Das Beistandsverbot ist durch das Euro-Rettungspaket
faktisch aufgehoben. Unsere Forderung, dass die EZB
Staatsanleihen erwerben soll, um die Macht der Spekulanten und Rating-Agenturen zu brechen - übrigens ein
wesentlicher Grund für die SPD, unseren Antrag abzulehnen - ist fast erfüllt: Die EZB hat eigenständig entschieden, Staatsanleihen aufzukaufen. Allerdings kauft
sie diese nicht direkt, sondern über den Umweg privater
und öffentlicher Banken. Somit verdienen die Banken
weiterhin an den Staatsschulden, die zu einem großen
Teil von ihnen selbst verursacht wurden. Wir fordern daher weiterhin: Die EZB sollte in gewissem Umfang direkt Kredite an Staaten vergeben. Es kann nicht sein,
dass sich Banken billiges Geld bei der EZB leihen und es
zu Wucherzinsen an Staaten verleihen. Die Steuerzahler
müssen endlich von den Zinshaien befreit werden. In Japan ist dies gängige Praxis, ohne dass es zu einer Inflation gekommen wäre.
Unsere dritte Forderung, ein Verbot des Handels mit
Kreditausfallversicherungen, ist zumindest im Hinblick
auf nackte Kreditausfallversicherungen erfüllt. Bisher
konnten sich Spekulanten gegen einen Staatsbankrott
versichern, auch wenn sie gar keine Kredite an den entsprechenden Staat vergeben haben. Diese finanziellen
Massenvernichtungswaffen müssen jedoch vollständig
und europaweit verboten werden. Wir fordern weiterhin:
Keine Feuerversicherungen für Brandstifter!
Die Kernforderungen aus dem Antrag - ein Ende des
Lohn- und Steuerdumpings - sind jedoch nicht erfüllt.
Ohne diese Kernforderungen wird es immer wieder zu
neuen Schuldenkrisen kommen. Eine zentrale Forderung, um Krisen künftig zu verhindern, ist eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf der europäischen Ebene. Dabei geht es explizit nicht darum,
die EU durch eine Verschärfung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes in die nächste Rezession zu sparen,
wie die deutsche Bundesregierung es dieser Tage fordert
und auch gleich vormacht. Die Bevölkerung soll nach
dem Willen der Bundesregierung die Krise bezahlen. Es
geht vielmehr um die Beseitigung der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und die besondere deutsche Verantwortung hierfür. Denn das Ausland kauft wegen der
deutschen Billiglöhne immer mehr Waren und Dienstleistungen bei uns als umgekehrt. Das treibt sie in die
Schuldenkrise.
Die Bundesregierung ist international isoliert. Nicht
nur die Linke kritisiert das deutsche Lohndumping, auch
der französische und der amerikanische Finanzminister,
der Vorsitzende der Euro-Gruppe und verschiedene
Wirtschaftsnobelpreisträger. Der deutsche Wirtschaftsminister entgegnete, man dürfe nicht immer den Klassenbesten kritisieren. Mit anderen Worten: Die Regierung will Hartz IV, Leiharbeit, Befristungen und
Hungerlöhne in ganz Europa. Darin sind wir Klassenbester, ohne Zweifel. Aber was gut für Siemens ist, ist
nicht gut für Deutschland. Beim Wachstum sollten wir
doch lieber bei unseren Nachbarn abschreiben. Die
Euro-Zone wuchs seit 1999 im Jahresdurchschnitt um
1,4 Prozent, Frankreich um 1,5 Prozent, und Deutschland um 0,8 Prozent. Die deutschen Billiglöhne waren
daher nicht nur schlecht für Europa, sondern schlecht
für Deutschland.
Hätte Herr Brüderle im Mathematikunterricht besser
aufgepasst, dann wüsste er, dass nicht alle gleichzeitig
Vize-Exportweltmeister sein können. Wohin wollen sie
denn exportieren, wenn die ganze EU so wird wie
Deutschland? Vielleicht auf den Mond? Da leben keine
Menschen, nur hinter dem Mond. Da lebt die deutsche
Regierung. Die Linke fordert daher einen Pakt für ein
außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Deutschland muss
die Verpflichtung aus dem eigenen Stabilitätsgesetz von
Karl Schiller endlich ernst nehmen. Dies bedeutet nicht,
weniger zu exportieren, sondern mehr für den heimischen Binnenmarkt zu tun, etwa durch Mindestlöhne und
ein Zukunftsprogramm in Bildung und Energiewende.
Das ist die beste Medizin für Europa.
Eine sinnvolle Koordinierung der Wirtschaftspolitik
in der EU umfasst auch die Steuerpolitik, was die Koalition an unserem Antrag ja zumindest nicht grundsätzlich
abgelehnt hat, wenngleich sie es gesondert diskutieren
will. Es gehört aber notwendigerweise zu dieser Diskussion dazu. Denn wenn wir über Schulden reden, darf
man nicht nur die Ausgabenseite betrachten, sondern
muss auch auf die Steuereinnahmen schauen: Das Steuerdumping in der EU, das nicht nur in Griechenland
große Löcher in die Staatskassen gerissen hat, muss
endlich beendet werden. Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen müssen endlich angemessen an der
Zu Protokoll gegebene Reden
Finanzierung der Krise beteiligt werden. Die Linke fordert daher eine europaweite Mindestbesteuerung von
Unternehmen und Einkommen.
Alle Fraktionen beziehen sich in ihrer Ablehnung unseres Antrags darauf, dass mit den vorgeschlagenen
Maßnahmen gegen die Stabilitätspolitik verstoßen
würde, derer sich insbesondere Deutschland immer wieder rühmt. Schauen wir aber auf die letzten Wochen und
Monate, so zeigt sich ganz deutlich, wohin Frau Merkels
Verteidigung der Stabilität uns geführt hat: Instabiler
als jetzt waren der Euro, die Euro-Zone und die EU als
Ganzes wohl noch nie - ganz zu schweigen von den von
der Krise besonders hart getroffenen Ländern wie Griechenland. Stabilität erreicht man nicht durch unsoziale
Sparprogramme und ungehinderten Wettbewerb, Stabilität erreicht man durch eine sozialere und solidarischere Ausrichtung der EU. Wer also die europäische
Integration will, der muss wollen, dass sie anders wird.
CDU, CSU, FDP und Grüne wollen mir ihrer Ablehnung des Antrags die gescheiterte Politik fortsetzen. Die
Linke will kein Europa der Banken und Konzerne. Deshalb werden wir weiter streiten: für ein soziales und solidarisches Europa!
Die Euro-Zone steht zweifelsfrei vor einer existenziel-
len Bewährungsprobe. Am 6. Mai ging man davon aus,
dass die griechischen Staatsfinanzen mit einer Interven-
tion von 22,4 Milliarden Euro - der deutsche Anteil des
Pakets - stabilisiert werden können. Einen Tag nach der
Verabschiedung des Rettungspakets am 7. Mai ließen
sich französische Wertpapiere nicht mehr handeln, die
Bundesbank schaute nach eigenen Angaben „in einen
Abgrund“. Der Anruf des US-Präsidenten bei der Bun-
deskanzlerin sowie die Drohung Frankreichs, aus der
Euro-Zone auszusteigen, machen die Dramatik der
Situation deutlich.
Vor dieser aufziehenden Flut schaffte man die Sand-
säcke in Form eines weiteren Rettungspakets - diesmal
ohne Beteiligung des IWF - vor und auf die Deiche.
Aber werden diese kurzfristigen Katastrophenschutzak-
tionen ausreichen, um den Euro langfristig wieder auf
ein stabiles Niveau zu hieven? Anders als an der Oder
können die Euro-Rettungskräfte noch lange nicht abzie-
hen. Die Angst vor dem Auseinanderbrechen der Euro-
Zone ist auch mit dem neuen Rettungspaket nicht ge-
bannt.
Was passiert denn, wenn die vom IWF zugrunde ge-
legten Annahmen für das griechische Sparpaket sich
nicht erfüllen, wenn die Steuereinnahmen weit hinter
den Erwartungen zurückbleiben und die Einnahmen
nicht ausreichen, um die anfallenden Schulden zu til-
gen? Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Ende dennoch
zu einem Zahlungsausfall Griechenlands kommen wird,
wird sogar vom IWF als nicht gering eingeschätzt.
Selbst wenn die Griechen guten Willens sind, auch sen-
sible Themen wie die Senkung der übermäßigen Rüs-
tungsausgaben endlich einmal ernsthaft anzugehen,
könnte das rigorose Sparprogramm nicht reichen.
Die Annahme der Linken ist, Schuld an der griechi-
schen Misere seien die „anderen“. Wer somit ablenkt
von der Eigenverantwortung und der verantwortungslo-
sen Wirtschaftspolitik Griechenlands der letzten Jahr-
zehnte, der greift zu kurz.
Wer bringt also endlich den Mut auf, Präventions-
maßnahmen zu ergreifen, um weitere Katastrophensze-
narien zu verhindern? Was muss noch passieren? Die
Wahlen in NRW sind vorbei.
Der Euro befindet sich seit Wochen in einer instabilen
Lage. Wir halten es für vernünftig, kurzfristig ein Kri-
seninstrumentarium einzusetzen, das jetzt auch in der
Europäischen Zentralbank diskutiert wird: die Euro-
Bonds. Die EZB muss ferner dazu ermuntert werden,
ihre Selbstständigkeit unter Beweis zu stellen. Sie soll
selbst beurteilen, welche Staatsanleihen sie als Sicher-
heiten akzeptiert und welche nicht.
Die Bundeskanzlerin hat aus dem ersten Aktionismus
heraus vorsichtige Schritte in die richtige Richtung un-
ternommen: Ungedeckte Leerverkäufe wurden am
19. Mai ohne große Vorankündigung und leider ohne die
notwendige Koordination auf europäischer Ebene ver-
boten. „Na also - es geht doch!“ möchte man rufen,
nachdem genau diese Forderung jahrelang ungehört
verhallt war. Der Grund für die Absage war immer wie-
der derselbe: Sinn mache ein Verbot nur, wenn dieses
auch international durchzusetzen sei.
Wir Grünen verlangen, dass die Bundesregierung die
Spekulationen endlich ernsthaft bekämpft und die Fi-
nanzmärkte nachhaltig und komplett neu ordnet. Eine
zögerliche Haltung hilft niemandem. Das national, eu-
ropäisch und international umzusetzen, bleibt unser
Ziel.
Jetzt geht es in einem weiteren Schritt darum, echte
europäische Solidarität unter Beweis zu stellen - und
dieses nicht nur in Form von einmaligen Finanzspritzen,
sondern durch strukturelle Änderungen. Unerlässlich
sind dabei, auf der Einnahmeseite aller Länder eine
Mindestbesteuerung und vor allem auch eine harmoni-
sierte Bemessungsgrundlage durchzusetzen.
Für eine Rettung des Euros reicht der Stabilitäts- und
Wachstumspakt in der heutigen Form nicht aus. Wie ge-
stalten wir die Euro-Zone krisenfest? Wir Grünen for-
dern seit langem, diesen um ein außenwirtschaftliches
Stabilitätspaket zu ergänzen, wie er heute schon im deut-
schen Stabilitäts- und Wachstumspakt angelegt ist.
Deshalb kann es aus grüner Sicht nur eines geben: effi-
zientere Governance-Strukturen und verschärfte Sank-
tionsverfahren.
Die derzeit heterogenen Wirtschaftspolitiken der ver-
schiedenen Einzelstaaten lassen das Ziel einer starken
gemeinsamen Währung nur halbherzig erscheinen. Erst
wenn wir wichtige Schritte hin zu einer Wirtschafts-
regierung gegangen sind, werden wir tatsächlich eine
wirtschaftspolitische Angleichung vollzogen haben, die
keine übermäßigen Asymmetrien mehr zulässt.
Zu Protokoll gegebene Reden
4784 C)
Dann steht einer politischen Union nicht mehr viel im
Weg, und die brauchen wir, um die wirklich großen Probleme in der Welt gemeinsam anzugehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1602, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1058 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen
aller übrigen Fraktionen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunft öffentlich-rechtlicher Sparkassen
sichern - Privatisierung verhindern
- Drucksache 17/1963 ({0})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1963. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Jetzt kommt die große Überraschung: Wir sind am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({1})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Juni 2010, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.