Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt,
dass der Kollege Patrick Döring aus dem Eisenbahninfrastrukturbeirat ausscheidet.
({0})
Überraschenderweise sind dazu weder der Wunsch einer
persönlichen Erklärung noch Debattenbeiträge aus den
anderen Fraktionen angemeldet.
({1})
Es gibt auch schon einen neuen Vorschlag.
({2})
Der Kollege Werner Simmling soll ihn in diesem Gremium ersetzen.
({3})
Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege
Torsten Staffeldt werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? ({4})
Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen
Simmling und Staffeldt in den Beirat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zu den Maßnahmen zur Stabilisierung des
Euro
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Michael Schlecht, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kreditausfallversicherungen ({5}) und deren
Handel vollständig verbieten
- Drucksache 17/1733 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Unterschiedliche verfassungsrechtliche Auffassungen in der Bundesregierung zur Verlängerung von Atomkraftwerkslaufzeiten
({7})
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung
der Teilhabechancen junger Menschen und
des Fachkräftebedarfs von morgen stärken
- Drucksache 17/1759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 33
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Marktengpässe bei flüssiger Biomasse
- Drucksache 17/1750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Auseinandersetzung in der Koalition zur
Haushaltskonsolidierung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht ({10}), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämpfen - Opferschutz stärken
- Drucksache 17/1746 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Undine Kurth ({12}), Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auenschutzprogramm vorlegen
- Drucksache 17/1760 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen
- Drucksache 17/1762 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Drucksache 17/1761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit
von Städten, Gemeinden und Landkreisen
- Drucksache 17/1744 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Lisa Paus, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gewerbesteuer stabilisieren - nicht abschaffen
- Drucksache 17/1764 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Tagesordnungspunkt 33 k wird abgesetzt.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die
Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen
- Drucksachen 17/1291, 17/1457 überwiesen:
Finanzausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Eidesleistung des Wehrbeauftragten
Der Deutsche Bundestag hat in seiner 34. Sitzung am
25. März 2010 Herrn Hellmut Königshaus zum WehrbePräsident Dr. Norbert Lammert
auftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes
über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
leistet der Wehrbeauftragte vor dem Bundestag den in
Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr
Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir
zu kommen.
({20})
Ich darf Sie bitten, nun den Eid zu sprechen.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben damit den von der
Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen herzlich zur Übernahme dieses wichtigen Amtes,
und ich freue mich auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages
im Interesse unserer Soldaten. Alles Gute.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die
Tagesordnungspunkte 5 a bis d sowie den Zusatzpunkt 4
auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Nadine Müller ({0}), Albert
Rupprecht ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick
Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung
- Drucksache 17/1435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2010
- Drucksache 17/1550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Verordnungsermächtigung in § 43 Absatz 2
des Berufsbildungsgesetzes entfristen
- Drucksache 17/1745 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht
ziehen - Ehrliche Ausbildungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für alle ermöglichen
- Drucksache 17/1734 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung
der Teilhabechancen junger Menschen und
des Fachkräftebedarfs von morgen stärken
- Drucksache 17/1759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, Frau Dr. Annette Schavan.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit in jungen
Jahren befördert Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit in jungen Jahren führt zu deutlich geringeren Einkommenschancen. - Das ist das Ergebnis einer kürzlich
veröffentlichten Studie der OECD.
Dieselbe Studie hat belegt, dass im internationalen
Vergleich junge Menschen in Deutschland die besten
Berufschancen haben oder - präziser und in Zahlen gesagt -: Das Risiko - zumal während einer Wirtschaftskrise -, im Alter von 15 bis 24 Jahren arbeitslos zu werden, ist nirgendwo so gering wie in unserem Land.
({0})
Als Grund für diese positive Entwicklung hat die
OECD eindeutig das duale Ausbildungssystem genannt.
Während zwischen Ende 2007 und Ende 2009 die Jugendarbeitslosigkeit im OECD-Durchschnitt um 6 Prozent auf
fast 19 Prozent angestiegen ist, ist sie in Deutschland
deutlich gesunken. Deshalb sage ich: Wenn es um die
Europäische Union und um den internationalen Bildungsdialog geht, haben wir allen Grund, selbstbewusst
mit dem Flaggschiff unseres Bildungssystems aufzutreten, und das ist die berufliche Bildung.
({1})
Mehr als 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen in
Deutschland eine Ausbildung. Sie tun dies in einem von
rund 350 Ausbildungsberufen. Gerade in den letzten
Jahren haben wir einen großen Modernisierungsprozess
bei den Ausbildungsberufen erlebt. Es werden neue Ausbildungsberufe geschaffen. Ich glaube, es gibt keinen anderen Bereich, in dem so beweglich, so dynamisch auf
Entwicklungen in der Arbeitswelt, auf technologische
Entwicklungen reagiert wird. Wir sind besonders flexibel bei der Ausbildung von Fachkräften. Deshalb ist die
berufliche Bildung eine der tragenden Säulen der ökonomischen Stärke unseres Landes.
({2})
Welche Merkmale der Situation werden im Berufsbildungsbericht dargelegt? Wir stellen fest, dass es beim
Abschluss der Ausbildungsverträge ein Minus von
8,2 Prozent und zugleich einen deutlichen Rückgang der
Zahl der Bewerber gibt. Diese beiden Feststellungen
werden uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Das
herausstechendste Merkmal der Situation ist, dass die
Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher demografiebedingt deutlich gesunken ist. Ich nenne eine einzige
Zahl, die die Dramatik der nächsten Jahre deutlich
macht: Im Jahr 2020 werden in Deutschland 3,1 Millionen unter 25-Jährige weniger leben als heute; das ist ein
Rückgang um 15 Prozent. Das heißt, die Zahl der Anwärter auf Ausbildung geht zurück. Das heißt aber auch,
unsere Unternehmen werden schon in wenigen Jahren
händeringend Fachkräfte suchen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir jedem Jugendlichen die Chance zu einer
qualifizierten Ausbildung, zu einem Abschluss geben,
um für den Arbeitsmarkt, für eine berufliche Existenz
zur Verfügung zu stehen.
({3})
Was also jetzt zur Entlastung führt - es führt auch zu
einer deutlich besseren Bewertung der Situation -, kann
schon in wenigen Jahren zu einem ernsthaften Nachwuchsproblem werden. Deshalb ist ein Schwerpunkt
der Berufsbildungspolitik dieser Bundesregierung die
Neugestaltung des Übergangssystems zwischen Schule
und Ausbildung. Immer noch haben wir viele junge
Leute, die Probleme haben, von der Schule in eine Ausbildung zu kommen. Wir alle kennen die vielen Initiativen vor Ort. Das Bundesarbeitsministerium, das Bundesbildungsministerium, die Länder und die Kammern, sie
alle führen Initiativen durch.
Zu den wichtigen Aufgaben gehört, dieses Übergangssystem jetzt besser und konzentrierter zu gestalten.
Deshalb haben wir als eine der ersten Maßnahmen beschlossen, dass künftig Bildungslotsen junge Leute begleiten, die sich schwer tun, einen Schulabschluss zu
machen. Wir dürfen nicht warten, bis sie keinen Schulabschluss machen und dann in Warteschleifen geraten.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir sie frühzeitig erreichen, dass wir ihnen deutlich machen, wo ihre Stärken
sind, was notwendig ist und welche Möglichkeiten in der
Schule an individueller Förderung bestehen, damit wir
die weitere Absenkung der Zahl derer ohne Schulabschluss befördern. Wir müssen in vier, fünf Jahren erreichen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Abschluss macht und in Ausbildung geht.
({4})
Am Ende des Ausbildungsjahres 2009 waren
9 603 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Gleichzeitig gab es 17 225 unbesetzte Ausbildungsplätze. Auch
diese Entwicklung wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen.
Die zweite wichtige Herausforderung neben der Neugestaltung des Übergangssystems sind die Altbewerber,
Jugendliche, die in den letzten Jahren nicht in Ausbildung gekommen sind. Im September 2009 zählten etwa
243 000 der insgesamt etwa 533 000 gemeldeten Bewerber zu dieser Gruppe. Das heißt, nahezu die Hälfte derer,
die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, stammt
aus früheren Jahrgängen. Der Anteil ist auf 45 Prozent
gesunken; wir haben etwas erreicht. Klar ist: In dieser
großen Gruppe derer, die noch nicht versorgt sind, sind
eine Menge junger Leute, die wir in den nächsten Jahren
- auch aufgrund ihrer Qualifikation - gut in Ausbildung
bringen können.
Das dritte wichtige Thema sind die Jugendlichen mit
Migrationshintergrund. Wir wissen, dass der Anteil
derer, die keinen Schulabschluss machen, in dieser
Gruppe besonders groß ist. Deshalb wird das von uns
neu gestaltete Übergangssystem - Bildungslotsen, bessere Orientierung und Praktika - auch für diese Gruppe
eine wichtige Rolle spielen.
Wir haben den Ausbildungspakt weiterentwickelt.
Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, der die Verbesserung des Systems der beruflichen Bildung zum Ziel
hat, wird in den nächsten Jahren auf einer weiteren Dynamisierung der dualen Ausbildung liegen. Dabei werden wir neue Berufsbilder und die Modernisierung im
Blick haben. Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir
im Ausbildungspakt für die nächsten Jahre vereinbart
haben, uns eine gute Chance gibt, die gesetzten Ziele zu
erreichen. Ich sage aber auch: Der Erfolg wird ganz wesentlich davon abhängen, dass wir dem, was die Lernkultur in der beruflichen Bildung ausmacht, in allen Phasen des Bildungssystems einen höheren Stellenwert
beimessen und wir aufhören, in Deutschland den Eindruck zu erwecken, als sei allein die akademische Bildung Ausweis der Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein
derer, die die berufliche Bildung ermöglichen. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein, mit dem Ausbildungsbetriebe in Deutschland agieren. Deshalb sage ich
erstens ein herzliches Dankeschön an unsere Ausbildungsbetriebe, und ich sage zweitens: Lassen Sie uns
selbstbewusst über berufliche Bildung sprechen. Sie ist
nicht weniger wert als akademische Bildung. Sie ist das
Rückgrat der ökonomischen Stärke unseres Landes.
({5})
Fazit des Berufsbildungsberichtes 2009:
Erstens. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen,
was den erfolgreichen Einstieg Jugendlicher in die berufliche Ausbildung angeht.
Zweitens. Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen.
Nun wird uns die Frage beschäftigen, wie unsere Unternehmen zu guten Fachkräften kommen.
Drittens. Wir setzen mit dem Ausbildungspakt und
den Initiativen dieser Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit den Ländern auf eine weitere Dynamisierung und Modernisierung der Ausbildungsberufe, und
wir setzen auf eine stärkere Internationalisierung. Jugendliche, die eine Ausbildung machen, sollen genauso
wie Studierende die Möglichkeit haben, einen Teil ihrer
Ausbildung im Ausland zu absolvieren. Die Internationalisierung der dualen Ausbildung ist wichtig, um mit
Selbstbewusstsein auf europäischer Ebene auftreten zu
können.
All das zusammengenommen ergibt ein wichtiges
Maßnahmenbündel, um zu verhindern, dass der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren zur größten Wachstumsbremse in Deutschland wird.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Willi Brase ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan,
Sie haben ein Bild gezeichnet, das der Darstellung im
Berufsbildungsbericht entspricht. Ich bin aber sehr dafür, das eine oder andere zu schärfen.
Wenn es richtig ist, dass wir für die Zukunft alle brauchen und alle mitnehmen wollen, dann müssen wir endlich an den Dschungel mit fast 500 000 Jugendlichen in
Übergangsmaßnahmen herangehen.
({0})
Sie selbst haben in der Antwort auf eine Anfrage mitgeteilt, dass wir allein auf Bundes- und Landesebene fast
200 Programme haben, die sich nur mit dem Übergang
von der Schule in den Beruf befassen. Dabei sind die
Maßnahmen vor Ort noch nicht einmal eingerechnet.
Wenn wir es nicht schaffen, Licht in diesen Dschungel
zu bringen, diesen Knoten durchzuschneiden, die Vielzahl der Projekte auf wenige, vernünftige Maßnahmen
zu begrenzen, werden wir das Ziel, alle mitzunehmen,
nicht erreichen. Das ist Ihre Aufgabe. Das verlangen wir
von Ihnen.
({1})
Wir haben nach wie vor einen hohen Anteil Altbewerber. Sie haben das angesprochen; das ist richtig. Wir
wissen auch, dass diese Altbewerber unterschiedlich
strukturiert sind, unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, etwas
hiergegen zu tun. Wir haben seinerzeit, in der Großen
Koalition, das eine oder andere dazu auf den Weg gebracht. Ich glaube, dass die Berufseinstiegsbegleitung
und der Ausbildungsbonus etwas Positives geschaffen
haben
({2})
und ein Stück weit mit dazu beigetragen haben, dass
diese jungen Leute eine Zukunftsperspektive haben.
({3})
Wenn man das alles zusammenrechnet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann muss man schon sagen: Es
fehlt doch an Ausbildungsplätzen. Ehrlichkeit in der
Statistik ist nichts Verkehrtes. Versuche, die statistische
Erfassung zu verbessern, gibt es, und das müssen wir
auch vorantreiben. Nichts ist schlimmer, als wenn wir
uns etwas vormachen und sagen: „Wir haben auf einmal
mehr Ausbildungsplätze als Bewerber“, wenn gleichzeitig noch Hunderttausende Altbewerber unterzubringen
sind. Wir sagen als SPD: Eigentlich brauchen wir zusätzliche Ausbildungsplätze für 210 000 junge Leute in unserem schönen Lande.
({4})
Wir sind der Auffassung, dass die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt
besonders mit Blick auf die duale Ausbildung. Wir
müssen das duale Ausbildungssystem stärken, wenn wir
es schaffen wollen, alle mitzunehmen.
({5})
Es muss nachdenklich stimmen, wenn in den letzten
30 Jahren, wie man im Berufsbildungsbericht nachlesen
kann, die Quote der Einmündungen in eine duale Ausbildung von knapp 80 Prozent auf knapp 60 Prozent gesunken ist. Wenn man dann auch noch berücksichtigt, dass
über 10 Prozent derjenigen, die derzeit eine duale Ausbildung machen, Abiturienten sind, sieht man, dass wir
hier ein Stück weit nachsteuern müssen. Wir müssen uns
überlegen, wie wir dieses System dahingehend fitmachen, dass auch junge Leute mit Realschulabschluss
oder Hauptschulabschluss weiterhin gute oder beste
Chancen haben. Nur dann tun wir das Notwendige und
Mögliche.
Zu den Übergangsmaßnahmen habe ich etwas gesagt.
Wir wollen mit unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, die
Modernisierung der Berufe vorantreiben. Da ist in den
letzten vier, fünf Jahren viel gemacht worden. Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind neue Entwicklungschancen? Ganz wichtig ist für uns, dass die Erarbeitung und Neuordnung der Ausbildungsberufe im
dualen System vorrangig im Konsens der Sozialpartner
passiert. Da ist noch ein bisschen nachzuarbeiten. Für
den Fall, dass sich die Sozialpartner nicht einigen können, sollten wir - Uwe Schummer, wir haben mehrfach
darüber gesprochen - eine Schlichtungskommission einrichten. Ich glaube, das ist notwendig und richtig.
Es gibt einen weiteren Bereich, der uns sehr große
Sorge macht: Das ist der Bereich „Berufsvorbereitung
und Berufsorientierung“. Zur Berufsvorbereitung habe
ich eben etwas gesagt. Wir haben den Eindruck, dass
sich bei der Hilfe bei der Berufsorientierung - rechtzeitig, frühzeitig - mittlerweile eine Vielfältigkeit etabliert,
die uns Anlass gibt zu der Sorge, dass ein ähnlicher
Dschungel entsteht wie bei den Maßnahmen: Es gibt zig
Initiativen vor Ort, teilweise planlos nebeneinander her.
Jeder, der eine Idee hat, kommt damit an. Das geht von
den Kindergärten bis zu den Schulen: Niemand hat mehr
einen Überblick. Wir müssen aufpassen, dass uns dort
nicht das Gleiche passiert wie bei dem Maßnahmendschungel im Übergangssystem. Man muss auf die
Kommunen und auf die Länder zugehen und darauf bestehen, dass hier strukturiert wird. Nicht jeder, der eine
tolle Idee hat, muss die Welt damit beglücken.
({6})
Es bleibt festzuhalten: Wir brauchen nach wie vor
ausreichend viele Ausbildungsplätze in der Wirtschaft. Der Anteil der Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, aber nicht ausbilden, ist immer noch hoch. Von
dieser Regierung haben wir bisher wenig gesehen, wie
man mehr Unternehmen dazu bewegen will, auszubilden. Das ist, wenn ich das richtig mitbekommen habe,
auch beim Ausbildungspakt kein Thema. Aber es macht
doch Sinn, Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, zu
ermuntern - sei es mit Prämien, sei es durch Kampagnen -,
auszubilden. Wir müssen deutlich machen, dass die Unternehmen eine große Verantwortung haben.
Wir haben überlegt, ob es Sinn macht, analog zu dem,
was wir im Bauhauptgewerbe haben, einen Branchenfonds aufzulegen - nicht nur um quantitativ voranzukommen, sondern auch um ein Instrument zu haben, das
langfristig dazu beiträgt, die Facharbeitsmärkte zu stabilisieren ({7})
und im Zuge von Aus- und Weiterbildung entsprechende
Unterstützungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen.
Deshalb werden wir dieses Instrument in absehbarer Zeit
noch einmal betrachten und hier im Parlament zum
Thema machen.
Wir brauchen die öffentliche Hand. Wer sich die
Zahlen anschaut, kann das nicht leugnen. Wir sind dafür,
dass die 40 000 Plätze aus dem BA-Programm weiter
zur Verfügung gestellt werden, immer vor dem Hintergrund einer ehrlichen Bilanzierung, wie die Lage tatsächlich aussieht.
Wir sind auch dafür, dass das auslaufende Ausbildungsprogramm Ost in ein Programm für strukturschwache Regionen umgewandelt wird. Dann geht es nämlich
nicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern danach,
wo Bedarfe sind. Wir sind auch dafür, dass wir das Instrument der vollzeitschulischen Ausbildung weiterhin
nutzen, mit der Möglichkeit, nach § 43 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz - deshalb die Entfristung - gegebenenfalls
auch eine Kammerabschlussprüfung abzulegen.
Wir schlagen das deshalb vor, weil wir nicht so gutgläubig sind, zu glauben, dass man dieses Problem nur
mit Appellen allein lösen kann, sondern wenn es das Ziel
ist, allen jungen Menschen eine vernünftige Perspektive
zu geben und sie nicht in dem Maßnahmendschungel abdriften zu lassen, dann müssen wir mit der öffentlichen
Hand teilweise auch gegensteuern. Wenn man auf der einen Seite Milliarden Euro für Rettungspakete für den
Banken- und Finanzsektor zur Verfügung stellt, dann
kann man keinem jungen Menschen mehr erklären, warum nicht ein bisschen Geld auch für seine Zukunft auf
dem Tisch liegt. Hier müssen wir ran.
({8})
Ich komme zum Schluss. Die Bildungsrepublik
Deutschland ist ausgerufen worden. Wunderbar! Darüber wird auch an anderer Stelle noch heftig zu diskutieren sein.
Die Bildungsrepublik Deutschland beinhaltet aber
nicht nur die Allgemeinbildung und die Hochschulbildung, sondern auch die duale Ausbildung. Frau Ministerin, ich unterstütze ausdrücklich, was Sie gesagt haben:
die duale Ausbildung sei ein Flaggschiff. Wir müssen
dafür sorgen, dass dieses Flaggschiff immer auf Kurs
bleibt. Die duale Berufsausbildung gehört zu unserem
Ausbildungssystem. Die Einmündungsquoten müssen
besser und höher werden. Dort müssen wir gemeinsam
handeln.
Ich denke, es lohnt sich, sich dafür anzustrengen, und
ich freue mich auf die Beratungen im zuständigen Ausschuss.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Heiner Kamp für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wichtig für die Konkurrenzund Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft im weltweiten Wettbewerb sind die bildungspolitischen Weichenstellungen. Die Qualität unseres Ausbildungssystems ist
das Zukunftsthema.
Was das bedeutet, lässt sich bei der Betrachtung der
Bildungspolitik auf Länderebene schnell erkennen:
Wir investieren in Schüler und nicht in Schulexperimente. Wir fördern Leistung und lehnen Schülerlotterien
wie im rot-roten Berlin ab.
({0})
Wir achten den Elternwillen und stärken Grundschulen
und Gymnasien. Den Schulaufstand in Hamburg hätte es
mit einer liberalen Senatorin nicht gegeben.
({1})
Wir setzen auf das bewährte duale System der betrieblichen Bildung und nicht auf Ausbildungszwangsabgaben,
wie von links stets gefordert.
Die liberale Bildungspolitik ist frei von der Ideologie,
mit welcher die rot-rot-grünen Genossen Kinder und Jugendliche zu Versuchskaninchen degradieren.
({2})
Wir wollen lieber in Bildung und Forschung investieren. Daher stecken wir bis 2013 zusätzliche 12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung ({3})
das hat keine Regierung vor uns geschafft -, und das in
Krisenzeiten.
({4})
Wir werden jedoch auch gewisse Anpassungen im
System vornehmen. Im Bereich der Berufsbildung zeigt
sich deutlich, dass wir umdenken müssen. Während wir
in der Vergangenheit meist mehr Bewerber als verfügbare Ausbildungsstellen hatten, wird uns durch den von
der Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht
2010 gezeigt, dass sich die Schieflage auf dem Ausbildungsmarkt zunehmend umkehrt. Auszubildende werden bald händeringend gesucht.
Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Lage
auf dem Ausbildungsmarkt im Berichtszeitraum besser
als erwartet. Schon zum zweiten Mal in Folge gab es
mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Bewerber. So ist die Zahl der unversorgten Bewerber im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 33,8 Prozent zurückgegangen. In den neuen Bundesländern war der
Rückgang mit 38,1 Prozent deutlich stärker als in den alten Bundesländern mit 32,0 Prozent.
In Zukunft werden wir daher in zunehmendem Maße
mit einem Mangel an Bewerbern um Ausbildungsplätze
konfrontiert sein. Dieser Trend ist ein wesentliches Ergebnis des vorliegenden Berufsbildungsberichts 2010
und wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung
und der zunehmenden Hochschulübergangsquote weiter
verstetigen.
Dass der Ausbildungspakt ein Erfolg auf ganzer Linie ist, hebe ich an dieser Stelle ausdrücklich hervor.
({5})
Die FDP wird sich für eine Fortsetzung und qualitative
Aufwertung des Paktes einsetzen. Ich freue mich sehr,
dass hierbei ein Schwerpunkt gerade auch auf Migranten
gelegt werden soll.
({6})
Den Betrieben möchte ich für ihr großartiges Engagement an dieser Stelle recht herzlich danken. So kann es
weitergehen.
Der künftige Bewerbermangel hat Auswirkungen auf
die Aufgabenstellung der Politik. Unsere wichtigste
Aufgabe ist es nun, einem bereits heute von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Als deutschem Erfolgsmodell kommt der beruflichen
Dualausbildung hierbei eine herausragende Bedeutung
zu. Durch ihre Verankerung in der beruflichen Praxis gewährleistet sie berufliche Qualifikation auf höchstem
Niveau. Zudem bietet die duale Berufsausbildung im
Vergleich zu rein schulischen Ausbildungsgängen überdurchschnittlich hohe Übergangsquoten in reguläre Beschäftigung.
Die Herausforderung der Zukunft wird sein, das derzeit noch brachliegende Potenzial der Schulabbrecher
und jungen Menschen mit mangelnder Ausbildungsreife
zu heben. Wir müssen sie dazu befähigen, in das duale
System der beruflichen Bildung einzusteigen.
({7})
Viele Unternehmen kümmern sich schon. Sie bieten
Nachhilfe- und Förderunterricht für ihre Auszubildenden
an. Dieses in der Tat lobenswerte Engagement muss uns
aber wachrütteln: Wir dürfen Unternehmen nicht auch
noch mit der Aufgabe des Reparaturbetriebs einer mangelhaften Schulpolitik überfrachten. Wir müssen unser
allgemeinschulisches System stärken und zukunftsfest
machen. Dazu gehört eine bessere individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler.
({8})
Unsere allgemeinschulische Bildung gilt es zu verbessern. Jeder Schulabgänger muss richtig lesen, schreiben und rechnen können.
({9})
Aber auch die Verantwortung des Elternhauses bei der
Erziehung des Nachwuchses darf nicht unter den Tisch
fallen.
({10})
Für die meisten Ausbildungsbetriebe sind Unzuverlässigkeit, mangelnde Disziplin und Unpünktlichkeit ein
größeres Problem als mangelnde Algebrakenntnisse.
({11})
Das muss uns doch aufhorchen lassen.
({12})
Wir müssen bei der Bildung früher ansetzen. Der
Bund wird hier seiner Verantwortung gerecht. Unsere
Regierung wird mit den Schulfördervereinen ein Bildungsbündnis schmieden, damit Schülerinnen und Schüler gezielt unterstützt und gefördert werden können.
Dementsprechend werden die Grundschulen ein Budget
erhalten, welches sie je nach Bedarf einsetzen können.
Weil die Bedingungen innerhalb der Republik und von
Schule zu Schule sehr unterschiedlich sind, brauchen wir
solche flexiblen Modelle der individuellen Förderung.
({13})
Es gilt, die Berufsorientierung für junge Menschen an
den Schulen weiter zu verbessern. Hier setzen wir als
Koalition mit den Bildungsketten neue Maßstäbe. Dazu
gehören unter anderem eine Potenzialanalyse ab
Klasse 7 und eine verbesserte Berufsorientierung ab
Klasse 8. Junge Menschen sollen sich frühzeitig über
ihre Begabungen klar werden; denn nur wer einen Beruf
ergreift, für den er begabt ist, wird gut durch die Ausbildung kommen und den Beruf mit Freude und Begeisterung ein Leben lang ausüben können. Eine Schülerin, die
schwach in Mathe ist, wird vielleicht keine gute Bankkauffrau, aber womöglich eine ausgezeichnete Schreinerin.
({14})
Damit gehen wir einen anderen Weg als SPD, Grüne
und Linke. Wir lehnen ein Einheitsschulmodell entschieden ab, mit welchem Schülerinnen und Schüler in eine
Form gepresst werden sollen;
({15})
denn nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung
Ungleicher.
({16})
Vielmehr gilt es, jede Schülerin und jeden Schüler unter
Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Begabungen und Probleme dort abzuholen, wo er oder sie
steht, und mit größter Anstrengung zu fördern und zu
fordern.
({17})
Die Bildungsstatistik gibt uns dabei recht. Oder haben
Sie schon einmal etwas Positives über die Schulpolitik in
Bremen, Berlin oder Hamburg gehört?
({18})
Kein Wunder!
Allen jungen Menschen Chancen auf eine Beschäftigung zu eröffnen, ist unser erklärtes Ziel. Dies wollen
wir durch die bessere Verzahnung und Intensivierung der
bestehenden Maßnahmen sowie durch neue Initiativen
wie die von mir angesprochenen lokalen Bildungsbündnisse erreichen.
({19})
Die jungen Menschen sollen wissen: Ihr werdet gebraucht. Strengt euch an, und Teilhabe an Arbeitsmarkt
und Gesellschaft steht euch offen!
Herr Kollege Kamp, wollen Sie ganz unmittelbar vor
Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert beantworten?
Ich möchte jetzt zum Ende kommen. - Ihr könnt die
Gewinner des demografischen Wandels sein; denn in
manchen Regionen herrscht bereits heute Bewerbermangel; dieser wird sich weiter verstärken. Den Jugendlichen rufe ich zu: Wir brauchen euch. Legt euch mit uns
ins Zeug!
({0})
Der Kollege Lenkert erhält jetzt Gelegenheit zu einer
Kurzintervention.
Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass im Wahlprogramm der FDP das gemeinsame Lernen bis zur
6. Klasse gefordert wurde,
({0})
und möchte Ihre Aussage dazu hören, wieso Sie sich
dann, wenn dies in Berlin umgesetzt wird, dagegen verRalph Lenkert
wahren. Oder ist Ihnen Ihr Wahlprogramm nichts mehr
wert?
({1})
Unser Programm war schon immer etwas wert, mehr
wert als manch andere Programme.
({0})
Nach der Sitzung können wir uns gern darüber unterhalten, wo Sie diese Forderung gefunden haben. Mir ist sie
leider nicht bekannt.
({1})
Mindestens was die Schnelligkeit angeht, könnte man
an dieser Form von Kurzintervention Freude entwickeln.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Alpers für
die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben es schon gehört: Jedem ausbildungswilligen und
ausbildungsfähigen Jugendlichen konnte auch im Krisenjahr 2009 ein Angebot auf Ausbildung gemacht werden. Dies behauptet der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin
Wansleben. Auch im Berufsbildungsbericht 2010 wird
festgestellt, dass es „erneut mehr unbesetzte Ausbildungsplätze als unversorgte Bewerber/Bewerberinnen in
der Statistik der Bundesagentur für Arbeit“ gebe. Welch
ein toller Erfolg wäre es gewesen, wenn wirklich jeder
Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten hätte!
({0})
Wir wissen natürlich alle, dass es nicht so ist. Aber
wie kommt man nun zu solchen Aussagen? Im letzten
Jahr gab es mehr als 83 000 Jugendliche, die über die
Bundesagentur keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
Mehr als 73 000 haben erst einmal mit einer Alternative
wie einer Berufsvorbereitungsmaßnahme begonnen. In
der Statistik erscheinen sie deshalb an einer anderen
Stelle, weil sie ja im Übergang sind. Insgesamt führt die
Bundesagentur diese Jugendlichen aber immer noch als
ausbildungssuchend. Um diese Tatsache zu vertuschen,
forderten die Arbeitgeber in ihrer Stellungnahme zum
Entwurf des Berufsbildungsberichtes 2010, dass auf
diese „widersprüchlichen Angaben“ im Bericht verzichtet werden solle. Meine Damen und Herren, was ist denn
dies für eine Vorgehensweise und was ist das für ein
Umgang mit den Jugendlichen, die zum Teil schon seit
Jahren eine Ausbildungsstelle suchen? Menschenschicksale ausradieren, um zu glänzen - das ist einfach nur ein
Skandal.
({1})
Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht
aber noch weiter: Da gibt es auch noch 96 000 junge
Menschen, die nicht mehr bei der Bundesagentur gemeldet sind. Für die BA ist dann der Vermittlungsauftrag abgeschlossen. Ob nun in Ausbildung, untergebracht in einer Übergangsmaßnahme oder einfach nicht mehr
mitgezählt, die Bilanz all dieser Vertuschungen und Verschiebungen lautet: Es gibt heute in Deutschland
1,5 Millionen Auszubildende, gleichzeitig aber auch
1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Ausbildung. An diesem Punkt sagen wir als
Linke ganz klar: Hören Sie endlich mit der Schieberei
von Zahlen auf und legen Sie eine Ausbildungsstatistik
auf den Tisch, die alle Jugendlichen im Blick behält.
({2})
Als ehemalige Lehrerin in der Berufsausbildung muss
ich Ihnen sagen: Junge Menschen sind nicht unwillig
und unfähig. Sie wollen einen Ausbildungsplatz; denn
sie wollen sich in dieser Gesellschaft eine Perspektive
aufbauen. Die Unfähigkeit liegt eigentlich in der Politik:
Fast die Hälfte aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger einschließlich der Altbewerberinnen und Altbewerber landet im sogenannten Übergangssystem; das
waren im Jahre 2008 500 000 Jugendliche. Hier sollen
die jungen Menschen ihre Kompetenzen so erweitern,
dass sie ausbildungsreif werden. War das Übergangssystem einst eine Maßnahme für wenige, um sie in die Ausbildung zu führen, ist es heute das große Auffangbecken
für ganz viele junge Menschen. Jeder vierte Realschüler
landet im Übergangssystem. Jeder zweite Jugendliche
mit oder ohne Hauptschulabschluss hat nach zwei Jahren
im Übergangssystem noch immer keinen Ausbildungsplatz. Ausgewiesene Bildungsexperten gehen seit Jahren
davon aus, dass das Übergangssystem eher die Aufgabe
hat, die Ausbildungsmarktbilanz zu stabilisieren. Die
Ausbildungsmisere besteht doch darin, dass wir nicht
genügend Ausbildungsplätze haben. Noch immer
herrscht das Prinzip: Oben die Besten abschöpfen, und
die anderen können zusehen, wo sie bleiben.
Eine meiner ehemaligen Schülerinnen verbrachte
Jahre damit, einen Ausbildungsplatz zu finden. Tanja ist
Rollstuhlfahrerin und hat einen Realschulabschluss mit
2,0. Die Bundesagentur für Arbeit forderte sie auf, vor
einer Ausbildung erst einmal die Schulpflicht zu absolvieren. Nach diesen zwei Jahren konnte sie an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme im kaufmännischen Bereich teilnehmen. Die Abschlussprüfung der Ausbildung
nach weiteren drei Jahren bestand sie als eine der Besten. Zum Abschied sagte sie mir: Ich hätte in dieser Zeit
schon zwei Ausbildungen absolvieren können. Wie irrsinnig ist denn das System, und wie lange werde ich jetzt
wohl noch brauchen, bis ich als Rollstuhlfahrerin Arbeit
finde?
({3})
Diese junge Frau ist einer der vielen Gründe, warum
wir Linke sagen: Wir müssen das Recht auf einen Ausbildungsplatz garantieren,
({4})
egal ob die Menschen Ali oder Almut heißen, egal ob sie
in einem Rolli sitzen oder ihre Familie unter der Armutsgrenze lebt. Wir alle wissen doch, dass die Betriebe die
Zahl der Ausbildungsplätze nicht freiwillig erhöhen werden. Wir fordern die Bundesregierung auf: Verpflichten
Sie endlich die Betriebe zu einer Ausbildungsumlage,
damit allen Jugendlichen genügend Ausbildungsplätze
zur Verfügung stehen!
({5})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
FDP, in Ihrem Antrag „Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung“ wollen Sie nun wichtige Aufgaben zur
Unterstützung aller Jugendlichen in Angriff nehmen.
Kommunen, Land und Bund sollen sich an der Bildungspartnerschaft beteiligen. Die Zuständigkeiten sollen gewahrt bleiben. Übersetzt heißt das doch ganz einfach:
Sie wollen das Kooperationsverbot nicht aufheben.
Also sind die Länder für die Finanzierung der Bildung
alleine zuständig. In Ihrem Antrag legen Sie notwendige
Handlungsschritte fest, die Sie selber aber gar nicht
umsetzen müssen. Denn: Senkung der Schulabbrecherquote - Ländersache; Sprachförderung - Ländersache;
Integration der Behinderten - Ländersache; Förderung
benachteiligter Kinder und Jugendlicher - Ländersache.
Das ist doch ein Skandal! Sie tun so, als ob Sie zukunftsweisend handelten, und dabei tun Sie nichts.
({6})
Im Rahmen der Berufsorientierung an Schulen allerdings will der Bund - wir haben es heute schon gehört 50 Millionen Euro investieren. Bundesweit sollen im
Rahmen des Bildungslotsenprogramms 3 200 Berufseinstiegsbegleiterinnen und -begleiter an den Schulen eingesetzt werden. 2 000 Bildungslotsen werden bezahlt.
1 200 sollen ehrenamtlich arbeiten. Frau Bildungsministerin Schavan, ich frage Sie: Wie sollen denn alle motiviert und qualifiziert arbeiten, wenn die einen gar kein
Geld erhalten und wieder andere keine berufspädagogische Ausbildung besitzen?
({7})
Halten wir zusammenfassend fest: die Ausbildungsstatistik - mangelhaft; das Übergangssystem - ein strukturloser Dschungel; die Berufsorientierung - konzeptionslose Häppchen für die Masse. Meine Damen und
Herren, wann hören Sie endlich mit der Flickschusterei
auf? Wann sorgen Sie für ein durchdachtes Konzept für
die Berufsausbildung, das alle Akteure einbezieht? Reden Sie nicht nur davon, wie immens wichtig es ist - ich
zitiere aus Ihrem Antrag -, „jedem jungen Menschen mit
einer bestmöglichen Bildung, Ausbildung und einem
bestmöglichen Studium eine Perspektive für das Leben
zu eröffnen“.
Politik misst sich nicht an schönen Worten. Handeln
Sie daher endlich! Sie sind doch in der Regierung, um
etwas zu verändern.
Eines sage ich Ihnen noch ganz klar: Auch wenn der
Koch aus Hessen heute scheinbar noch sein eigenes
Süppchen kocht, so haben Sie der Bildung doch schon
lange eine Zwangsdiät verordnet. Das ist nämlich das
wahre Gesicht Ihrer Bildungspolitik: endloses Gerede
über Innovation, Fachkräftemangel und Bildungssparen,
aber nicht in die Zukunft investieren und die Probleme
nicht anpacken. Sie tragen Ihre Politik auf dem Rücken
der Jugendlichen aus. Das, meine Damen und Herren,
werden wir als Linke auf keinen Fall mitmachen.
({8})
Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Berufsbildungsbericht 2010 ist ein Beleg dafür, dass die
Zeit der jungen Menschen, die dringend eine Ausbildung
brauchen, verrinnt. Frau Schavan, Sie haben zu Beginn
Ihrer Rede erklärt, dass der OECD-Bericht deutlich
macht, dass wir eine geringe Jugendarbeitslosigkeit im
europäischen Vergleich haben. Das ist sicher richtig;
aber das darf den Blick darauf nicht verstellen, dass konstant 1,5 Millionen junge Menschen bis 29 Jahre ohne
Berufsabschluss in der Arbeitswelt sind.
({0})
Das sind die, die am schnellsten herausgekegelt werden,
das sind die ohne berufliche Perspektive, das sind die
mit den geringsten Löhnen, und das sind die, die am wenigsten zur Innovation unserer Wirtschaft beitragen können.
Das zeigt doch, dass unser Ausbildungssystem gravierende Schwächen hat und dass es vor allen Dingen
noch immer konjunkturabhängig ist. Die Zahl der Ausbildungsplätze ist im letzten Jahr um 8,2 Prozent zurückgegangen. Wir können, so zynisch das klingt, froh sein,
dass die Schulabgängerzahlen zurückgegangen sind;
sonst fielen die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vortrage, noch
viel drastischer aus.
({1})
Wir haben nämlich circa 90 000 Jugendliche, die in
diesem Jahr unversorgt geblieben sind, 90 000 Jugendliche, die entweder in überhaupt keiner Maßnahme gelandet sind oder im Übergangssystem, das sogar Sie inzwischen „Warteschleife“ nennen. Das darf einen nicht
ruhen lassen.
({2})
Priska Hinz ({3})
Wissen Sie, was im Berufsbildungsbericht der Regierung dazu ausgeführt wird? Die Ausbildungssituation
habe sich für Jugendliche nicht wesentlich verschlechtert. Damit darf man sich doch nicht zufriedengeben. Dagegen muss man etwas tun.
({4})
Man muss Rückgrat zeigen und deutlich machen, was
sich in der beruflichen Bildung verändern muss.
Hinzu kommen noch 250 000 Altbewerber. Was erfahren wir jetzt? Was ist die Lösung für dieses Problem?
Wir erfahren, dass an den Maßnahmen weitergearbeitet
wird, die Sie seit fünf Jahren, seitdem Sie in der Regierung sind, ankündigen oder durchführen.
({5})
Seit fünf Jahren gibt es also dieselben Maßnahmen, die
nicht zum Erfolg geführt haben. Dabei darf es doch nicht
bleiben.
Das einzig Neue - das haben Sie auch noch von uns
abgeschrieben - sind die Bildungsketten. Wir als Grüne
haben formuliert: Aus Warteschleifen müssen produktive Bildungsketten werden. - Aber wie sieht denn Ihre
Bildungskette aus? Sie wollen eine Berufsorientierung
ab der 7. Klasse in Form einer individuellen Förderung
bildungsgefährdeter Jugendlicher einführen. Super, klar!
Aber wie verhält sich das zu dem Programm der Berufsorientierung, das schon in den Berufsbildungszentren
stattfindet? Wie verhält sich das zu dem Programm hinsichtlich der Berufseinstiegsbegleiter? Das ist doch völlig unabgestimmt, losgelöst, neu in die Welt gepflanzt.
Ich weiß nicht, wo Sie die 3 200 Leute akquirieren wollen, die Jugendliche begleiten sollen - und das im Wesentlichen noch ehrenamtlich. Das kann doch keine Qualifizierung beim Übergang von der Schule zum Beruf
sicherstellen. Das ist doch kein Konzept.
({6})
Wir haben Ihnen ein Konzept vorgelegt. Wir schlagen
in unserem Konzept DualPlus vor, dass man regionale
Netzwerke schafft und die Berufsbildungszentren stärkt.
Gemeinsam mit den Betrieben sollen dort Ausbildung
ermöglicht und Qualifizierungsschritte als Ausbildungsbausteine anerkannt werden, damit aus Warteschleifen
wirklich Bildungsketten werden.
({7})
Wir schlagen vor, Produktionsklassen einzuführen, so
wie das in Hamburg gemacht wird; die Bundesbildungsministerin will dies unterstützen. Diese Produktionsklassen sollen für die Schwächeren eingeführt werden, damit
der nahtlose Übergang von Schule in Ausbildung möglich ist. Wir wollen das Konzept DualPlus mit zusätzlichen Angeboten für besonders starke Schülerinnen und
Schüler in einer Ausbildung anreichern, damit sie die
Möglichkeit haben, nahtlos in eine fachliche Weiterbildung oder aber an die Hochschule zu wechseln. Diese
Bildungsketten führen weiter, wohingegen Ihr losgelöstes Programm zur Berufsorientierung einsam im Raume
steht.
({8})
Sie haben im Rahmen Ihres Programms Jobstarter
Connect Erfahrungen mit Ausbildungsbausteinen gemacht. Die SPD ist leider noch immer dagegen. Vielleicht kann sie sich irgendwann einen Ruck geben und
einsehen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Wenn Sie
schon Erfahrungen gemacht haben und auch das Handwerk bereit ist, mit uns darüber zu diskutieren, wie man
Ausbildungsbausteine sinnvoll im Rahmen einer Ausbildung anerkennt, dann frage ich mich: Warum sind Sie
als Bundesbildungsministerin so mutlos? Warum tragen
Sie hier nur Allgemeinplätze vor?
({9})
Eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive für Jugendliche mit Migrationshintergrund wurde uns wiederholt versprochen. Schon im Jahr 2007 wurde im Berufsbildungsbericht deutlich gemacht, dass 40 Prozent
der Jugendlichen mit Migrationshintergrund - bei Jugendlichen mit deutschem Hintergrund sind es 12 Prozent - keinen Berufsabschluss hatten. Was ist seitdem
passiert? 9 000 Ausbildungsplätze - 9 000 Ausbildungsplätze! - sind akquiriert worden. Jetzt schlagen Sie im
fünften Jahr Ihrer Regierungszeit vor, dass ein bundesweites Informations- und Beratungsnetzwerk geschaffen werden soll. Herzlichen Glückwunsch! Gut, dass Sie
dort schon nach fünf Jahren angekommen sind.
({10})
Das lebenslange Lernen endet bei Ihnen mit 35 Jahren. Die Öffnung des Meister-BAföGs hat dazu geführt,
dass 80 Prozent derjenigen, die es in Anspruch nehmen,
jünger als 35 Jahre sind. An diesem Punkt dürfen wir
doch nicht stehen bleiben. Wir brauchen ein Erwachsenen-BAföG, mit dem auch Menschen mit 40 und 50 Jahren eine Weiterbildung ermöglicht wird. Gerade diese
Menschen brauchen wir angesichts der demografischen
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.
({11})
Zum Schluss will ich noch einmal an die Bildungsketten anknüpfen und ihren Beginn aufzeigen. Wenn Bildungsketten wirklich ernst gemeint sein sollen, dann
muss man frühzeitig damit beginnen, sie zu knüpfen,
und zwar schon im Kindergarten. Aber Sie haben sich
wegen des Kooperationsverbots und Ihrer Finanzpolitik in Form von Steuergeschenken für Wohlhabende
selbst Fesseln angelegt - und damit auch der Zukunft
dieses Landes.
Sie haben keine Chance, in den Schulen in Deutschland etwas zu verbessern. Sie haben keine Chance, individuelle Förderungen voranzutreiben, außer über Fördervereine, die es noch nicht einmal in jedem Landkreis
gibt, vor allen Dingen nicht an den Schulen, die Kinder
aus besonders benachteiligten Familien, die Förderung
insbesondere brauchten, besuchen. Sie schaffen es nicht,
Priska Hinz ({12})
zusätzliche Ganztagsschulen einzurichten. Sie schaffen
es auch nicht, die Schulabbrecherzahlen zu senken. Das
Problem Ihrer Bildungsketten ist, dass der rechtzeitige
Beginn fehlt.
Das ist kein guter Ausblick auf die Zukunft der beruflichen Bildung; denn diese beginnt schon im Kindergarten, spätestens aber in der Schule. Hier müssen wir endlich zu Ergebnissen kommen. Deswegen muss der
Bildungsgipfel ein Erfolg werden. Das schaffen wir nur,
wenn das Kooperationsverbot endlich fällt.
Danke schön.
({13})
Der Kollege Uwe Schummer erhält nun das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Frau Alpers, Sie sprachen von einer Zwangsdiät bei den
Bildungsausgaben auf Bundesebene. Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, dass wir mit fast 11 Milliarden Euro
den höchsten Ansatz einer Bundesregierung seit 1949
beim Haushalt für Bildung und Forschung haben,
({0})
dass dieser Haushaltstitel seit 2005 um ein Drittel angestiegen ist und dass derzeit das Konjunkturprogramm II
an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Sportstätten und Bildungseinrichtungen greift, wie man an den
vielen Baustellen sieht. Wichtige Bildungsinvestitionen
in Milliardenhöhe werden also zusätzlich auf kommunaler Ebene aus Bundesmitteln finanziert.
({1})
- Lautes Schreien bringt noch keine Wahrheit.
({2})
Ihre klammheimliche Freude daran, diese Republik
schwachzureden und sich an den Problemen und Nöten
zu ergötzen, um einen ideologischen Mehrwert zu erzielen, ist peinlich für dieses Haus.
({3})
Wir werden alles daransetzen, dass durch die Bildungsrepublik Deutschland Chancen für möglichst viele Menschen entstehen, auch für Sie, Frau Alpers, damit Sie
nicht auf solche Töne zurückgreifen müssen, sondern
auf Konzepte und Inhalte bauen können.
({4})
Dass wir auf Menschen angewiesen sind, ist eine Erkenntnis der Börsenkrise. Dass wir derzeit Ausfälle beim
Wachstum und bei den Auftragsvergaben haben, hat uns
das Institut der deutschen Wirtschaft vorgerechnet. Im
Jahre 2008 konnten Aufträge in Höhe von 29,5 Milliarden Euro nicht angenommen werden, weil bereits Fachkräfte fehlten. Im letzten Jahr lagen die Auftragsverluste
bei 14,4 Milliarden Euro; da war es aufgrund der Weltwirtschaftskrise etwas weniger. Aber die Zahlen zeigen,
dass es schon heute Wachstumsdefizite aufgrund mangelnder Qualifikation gibt.
Deshalb müssen wir miteinander überlegen, wie wir
gerade bei der beruflichen Bildung eine Stabilisierung
oder sogar eine Steigerung erreichen können.
83 Prozent aller Patente werden von den Beschäftigten in den Unternehmen entwickelt. Die Erfahrungen,
auch innerhalb der Wirtschaft, zeigen, dass Beschäftigte
nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch
ein Aktivposten, ein Innovationsfaktor im Unternehmen
sind. In diesem Bewusstsein gibt es derzeit eine gute Zusammenarbeit zwischen der Politik - Annette Schavan,
Frau Merkel und die christlich-liberale Koalition - auf
der einen Seite und der Wirtschaft auf der anderen Seite.
({5})
Nicht die Beschimpfung der Wirtschaft, sondern das
Miteinander, die Partnerschaft in Bezug auf Bildung ist
das richtige Konzept.
Im Jahre 2005 lag die Ausbildungsplatzlücke bei
175 000; derzeit liegt sie bei 47 000. Das hängt mit dem
demografischen Wandel zusammen. Im letzten Jahr gab
es etwa 900 000 Schulabgänger; 2018 wird diese Zahl
bei unter 800 000 liegen. Das heißt, der Kampf um die
Köpfe wird zunehmen. Die Erkenntnis, die daraus folgt,
ist, dass wir jeden Einzelnen stärker und auch früher fördern müssen.
Eine Wirkung unserer Politik, sowohl der Großen Koalition als auch der christlich-liberalen Koalition, ist,
dass die Zahl der Altbewerber von 380 000 in 2008 auf
heute 244 000 gesunken ist und weiter sinken wird. Instrumente wie die Einstiegsqualifizierung haben dazu
geführt, dass ein Drittel der Unternehmen, die bisher
nicht ausgebildet haben, gesagt hat, dass sie aufgrund ihrer guten Erfahrungen mit der EQ-Maßnahme, der Einstiegsqualifizierung, erstmals voll ausbilden wollen,
zwei oder drei Jahre lang.
({6})
- Herr Präsident.
Herr Kollege Schummer, Sie sind offenkundig bereit,
eine Zwischenfrage zuzulassen. - Bitte sehr.
Herr Kollege Schummer, Sie haben gerade gesagt,
dass die Zahl der Altbewerber dankenswerterweise zurückgegangen, aber nach wie vor auf einem sehr hohen
Niveau ist. Ich frage mich, weshalb wir heute nicht darüber diskutieren, dass der Altbewerberausbildungsbonus
verlängert werden muss. Im Entwurf zum Beschäftigungschancengesetz des Arbeitsministeriums - dort wird
dies ja verantwortet - ist vorgesehen, diesen Altbewerberausbildungsbonus abzuschaffen, obwohl wir nach
wie vor eine hohe Altbewerberquote in Deutschland haben. Auslaufen soll auch die Maßnahme hinsichtlich der
Berufseinstiegsbegleiter, die ebenfalls Teil des Gesetzes
ist. Ich frage mich, warum die Bundesregierung nicht
einfach altbewährte Instrumente verlängert, statt neue
Debatten anzustoßen, ohne konkrete Gesetzentwürfe
vorzulegen.
({0})
Sie wissen, dass wir uns festgelegt haben, den Ausbildungspakt zu verlängern, dass wir in unseren Gesprächen über den Ausbildungspakt auch über Instrumente
wie Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus reden werden,
({0})
dass darüber aber erst dann entschieden wird, wenn der
Ausbildungspakt Ende des Jahres verlängert wird. Ich
denke, dass wir auch dieses Thema im Rahmen des Ausbildungspaktes behandeln werden. Im Rahmen der Verlängerung des Paktes wird dann gemeinsam mit der
Wirtschaft entschieden. - Damit ist Ihre Frage beantwortet. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gegeben haben.
Ich kann nur darum bitten, dass im Rahmen des Ausbildungspaktes mit Blick auf die Gewerkschaften ein
Kooperationsgebot vereinbart wird, wie wir es auch in
unserem Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir laden
die Gewerkschaften ein, sich am Ausbildungspakt zu beteiligen, weil sie als Sozialpartner bei der Entwicklung
von Berufsbildern und bei tariflichen Vereinbarungen
die Kompetenz haben, gestaltend tätig zu werden und für
mehr Ausbildungsplätze und richtige Berufsbilder zu
sorgen. Es kann nicht sein, dass sich eine wichtige Organisation der Sozialpartnerschaft, die Gewerkschaften,
larmoyant in die Ecke stellt und beleidigt ist.
({1})
Die Gewerkschaften gehören beim Ausbildungspakt mit
an den Verhandlungstisch und nicht in die Meckerecke.
({2})
Auch ich als Gewerkschafter - ich bin seit mehr als
30 Jahren in der IG Metall - fordere die Gewerkschaften
auf - das erwarte ich von ihnen -, dass sie sich im Interesse der jungen Menschen am Ausbildungspakt beteiligen, nicht indem sie auf andere zeigen, sondern indem
sie selber deutlich machen, welchen Beitrag sie mit ihrer
Gestaltungskompetenz leisten können, um für mehr
Ausbildungsplätze zu sorgen.
Für den Übergang von der Schule in die Ausbildung
werden wir eine Strategie entwickeln müssen, mit der
wir die Programme, die bisher vorhanden sind, verzahnen und zusammenführen. Der Bund muss in die Lage
versetzt werden, sich an den Programmen der Länder
und teilweise der Kommunen subsidiär zu beteiligen. Es
ist richtig, die Potenziale von Schülern im Rahmen von
Bildungsketten bereits ab dem siebten Schuljahr zu messen. Wir dürfen ihnen nicht nur sagen, wo ihre Schwächen sind, sondern wir müssen ihnen auch sagen, wo
ihre Stärken sind. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage
stehen: Wie können wir die Stärken der Schülerinnen
und Schüler durch gezielte Förderung weiterentwickeln?
Darauf aufbauend müssen wir in Form von überbetrieblichen Ausbildungswerkstätten eine Berufsorientierung organisieren. Man kann nicht alle 342 Berufsbilder
im Schulunterricht vermitteln. Aber in einer überbetrieblichen Ausbildungswerkstatt des Kolping-Bildungswerkes oder des Handwerks können Berufsfelder erkundet
werden, ob Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwaltung
oder Gartenbau. Im Anschluss daran könnte ein berufliches Profiling durchgeführt werden, um den jungen
Menschen eine berufliche Orientierung zu geben, damit
sie erfahren, welche Optionen sie haben.
Nun zur Phase der Berufsvorbereitung in der
Schule. Derzeit bekommen 80 000 junge Menschen ausbildungsbegleitende Hilfen. Ich denke, wir sollten darüber nachdenken, ob das Instrument ausbildungsbegleitender Hilfen - dazu gehören unter anderem soziale
Betreuung, Sprachunterricht, Förderunterricht und
Nachhilfe - nicht früher ansetzen sollte, zum Beispiel
schon in der siebten Klasse. Wir sollten im Rahmen der
Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommunen auch schulbegleitende Hilfen anbieten, um den
Übergang systematischer zu organisieren. So können wir
das Ziel, das Frau Schavan genannt hat, erreichen: dass
jedem, der die Schule verlässt, eine berufliche Qualifizierung angeboten wird.
Wir sind diesem Ziel bereits nähergekommen, auch
durch die Politik der Großen Koalition und der christlich-liberalen Koalition. Aber wir sind noch nicht am
Ziel. Wir wollen mit unserem Antrag für mehr Qualität
in der Ausbildung eine umfassende Debatte über die Berufsbildungsreform, die wir vor fünf Jahren hier im Parlament gemeinsam verabschiedet haben, anstoßen, um
herauszufinden, ob wir heute, nach fünf Jahren, Änderungen durchführen oder Weiterentwicklungen einleiten
müssen.
Wir wollen auch über den europäischen Bildungsraum diskutieren und für eine Aufwertung der dualen
Ausbildung zwischen Portugal und Malta sorgen. Außerdem werden wir in diesem Hause die Verlängerung
des Ausbildungspaktes debattieren. Ich bitte Sie darum,
nicht nur dazwischenzuschreien und künstliche Empörung zum Ausdruck zu bringen, sondern im Interesse der
jungen Menschen vor allem auch konzeptionell und inhaltlich mit uns zu diskutieren. Willi Brase hat da einen
guten Anfang gemacht.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass wir heute in der Kernzeit
über das Thema Berufsbildung diskutieren. Denn zu oft
verlieren wir uns gerade in Debatten über die Bildungspolitik in Allgemeinplätze, ohne die Probleme einzelner
Bereiche konkret zu erfassen. Erfreulicherweise ist das
heute anders.
Wir brauchen diese zentrale Debatte, weil das duale
System ein wesentlicher Garant dafür ist, Nachwuchs an
qualifizierten Fachkräften zu gewinnen. Viele Nationen
beneiden uns um die Verbindung von Theorie und Praxis
bei der beruflichen Ausbildung junger Menschen. Darüber besteht hier im Hause, so denke ich, Einigkeit.
Durch die Ausbildung in Betrieben erlernen unsere Jugendlichen stets den Umgang mit Technik auf dem aktuellsten Stand. Sie werden somit optimal auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet.
({0})
Die Qualität der deutschen Berufsausbildung muss erhalten bleiben. Deshalb brauchen wir eine Debatte, bei
der wir genau hinschauen, um die Situation, in der sich
Zehntausende ausbildungswillige junge Menschen befinden, exakter zu analysieren. Dabei fällt auf, dass es in
der Berufsbildung einige Baustellen gibt.
An erster Stelle sind nach wie vor die fehlenden Ausbildungsplätze zu nennen. Noch stimmt es nicht, dass
sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt aufgrund des
demografischen Wandels entspannt, frei nach dem
Motto: Nicht die Plätze sind knapp, sondern die Bewerber. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich auch im
Ausbildungsmarkt niedergeschlagen. Auch wenn der
DIHK sagt, die Trendwende sei da, so ist die Zahl der
neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2009
gesunken. Im Berufsbildungsbericht heißt es lapidar:
Die Ausbildungsmarktsituation hat sich für die Jugendlichen nicht wesentlich verschlechtert.
Diese Formulierung ist bemerkenswert: Die Situation
hat sich also auch nicht verbessert. Bedenkt man zudem
die Unvollständigkeit der Statistik, in der Altbewerber
und junge Menschen ohne Schulabschluss nicht auftauchen, wird klar, wie sehr der Schein trügt. Wir müssen
die erweiterten Zahlen betrachten.
({1})
Wer genauer hinsieht, wird mit einigen erschreckenden Zahlen konfrontiert. Wir haben hier heute schon öfter davon gehört. Besonders die schlechten Chancen sogenannter Altbewerber machen mir Sorgen. Sie stecken
im Übergangssystem fest und drehen eine Schleife nach
der anderen. Rund einem Drittel der Jugendlichen gelang es in einem Zeitraum von zwei Jahren nach Abschluss einer Maßnahme nicht, eine vollqualifizierende
Ausbildung aufzunehmen. Das ist grob fahrlässig; hier
müssen wir dringend handeln.
({2})
Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeitsmarkt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lernund Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, der resigniert. Das kann sich eine Gesellschaft, die laut CDU/
CSU eine Bildungsrepublik sein will, nicht leisten.
({3})
Jeder Mensch braucht die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine
Berufsausbildungsgarantie. Ansonsten steigt die
Quote der Ungelernten in der Altersgruppe der 20- bis
29-Jährigen weiter an. Diese Quote ist ohnehin sehr
hoch.
({4})
Sie liegt bei unglaublichen 15,2 Prozent. Das entspricht
1,5 Millionen Schicksalen.
Frau Hinz hat schon darauf hingewiesen: Wir müssen
auch denen helfen, die ohne Ausbildung bereits im Beruf
stecken. Durch berufsbegleitende Ausbildung müssen
wir es ihnen ermöglichen, sich für den Arbeitsmarkt zu
qualifizieren.
({5})
Es ist doch paradox: Auf der einen Seite stehen Altbewerber und Ungelernte; auf der anderen Seite rufen wir
den Fachkräftemangel aus.
({6})
Jugendliche mit Migrationshintergrund sind von den
Warteschleifen besonders häufig betroffen. „Berlins
Wirtschaft braucht Dich“: So werben IHK und Unternehmen im Rahmen einer Ausbildungskampagne gegen
den Fachkräftemangel in dieser Stadt um Jugendliche
aus Zuwandererfamilien. Das ist keinesfalls nur ein Berliner Phänomen. Wir brauchen für den Arbeitsmarkt der
Zukunft alle Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund; wir müssen alle Talente nutzen.
Mir bereitet auch die immer lauter geführte Diskussion über die Ausbildungsreife unserer Jugendlichen
Sorge. Wir alle kennen die Aussagen des DIHK: Neben
schulischen Grundkenntnissen mangele es den Jugendlichen an Disziplin, Belastbarkeit und Leistungsbereitschaft. - Es fehlen die Soft Skills, wie es auf Neudeutsch
heißt. In den Medien sehen wir Berichte von Vorstellungsgesprächen, die mit dem Satz des einstellenden
Meisters enden: Geeignet war keiner der Bewerber; ich
vergebe den Ausbildungsplatz folglich nicht an den besten Kandidaten, sondern an denjenigen, der weniger
Fehler gemacht hat als andere.
Die Beschreibung fehlender Bewerberqualifikationen ist sicherlich wichtig, vor allem mit Blick auf den
drohenden Fachkräftemangel. Erstens sollten wir aber
nicht unsere Ausbildungsuchenden stigmatisieren, sondern ausbildungsbegleitende Hilfen anbieten,
({7})
damit das Ausbildungsziel erreicht wird. Zweitens müssen wir über die Ursachen sprechen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Nicht unsere Jugendlichen haben
versagt, sondern das Bildungssystem ist verbesserungswürdig.
({8})
Es mangelt an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern,
Psychologen, individueller Förderung, rechtzeitigen Berufsorientierungsphasen, aber auch an Hilfestellungen
während der Ausbildung. Schulen, Unternehmen und
Eltern sind gefordert, wenn es um die frühzeitige Vernetzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.
Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitung
auf den Beruf. Darum gehört eine individuelle Berufswegeplanung als fester Bestandteil in die Lehrpläne ab
der 7. Klasse.
Wir haben in den letzten Tagen viel über den Rettungsschirm für den Euro diskutiert. Lassen Sie uns bei
aller Wichtigkeit des Themas nicht vergessen, das Gold
in den Köpfen unserer Kinder zu fördern. Die Zukunftschancen unseres Landes sind eng verbunden mit den Talenten, die in diesen Köpfen stecken.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Florian
Bernschneider für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass dieser
Berufsbildungsbericht wesentlich mehr ist als ein reines
Zahlenwerk, das es nun in den politischen Streitigkeiten
zu interpretieren gilt. Wenn man die jungen Menschen in
Deutschland fragt, welches Thema sie im Hinblick auf
ihre Zukunft zentral beschäftigt, dann antworten viele:
Mich beschäftigt der Übergang von Schule in Ausbildung und von Ausbildung in Beruf. Auch deswegen
finde ich es so wichtig, aus dieser Debatte vor allem eine
Botschaft an die jungen Menschen in diesem Land zu
senden: Die Wirtschaft braucht junge Köpfe mehr denn
je.
({0})
Ich kenne mittlerweile die Lesart der Opposition zu
dieser Frage: Die Wirtschaft muss noch wesentlich mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen; sie kommt ihren Verpflichtungen nicht nach. Nur auf dem Papier haben wir genügend Ausbildungsplätze. - Aber Sie können
nicht wegdiskutieren: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir in einer der größten wirtschaftlichen Krisen, die dieses Land jemals erlebt hat, immer noch mehr
Ausbildungsplätze anbieten können, als von den Auszubildenden gesucht werden.
({1})
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird noch
klarer, wenn man sich anschaut, wie es in früheren Jahren war. Beispielsweise hat man es im Jahre 2002, also
zu Zeiten der rot-grünen Regierung, noch nicht einmal
- um es mit Ihren Worten zu sagen - „auf dem Papier“
geschafft, genügend Ausbildungsplätze anzubieten. Angesichts dessen kann man die aktuelle Entwicklung nur
wertschätzen.
({2})
Natürlich hilft uns bei der Behandlung dieser Frage
- das dürfen wir nicht übersehen - der demografische
Wandel. Er hat schon geholfen, und er wird in den
nächsten Jahren vermehrt helfen. Die älteren Arbeitnehmer scheiden aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt
aus, und es sind immer weniger da, die ihnen folgen
können. Gute Ausbildungspolitik darf sich aber nicht allein auf den demografischen Wandel verlassen. Im Übrigen geht es bei guter Ausbildungspolitik nicht nur um
die Frage, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügung
stehen, sondern auch darum - das werden Sie feststellen,
wenn Sie junge Menschen ansprechen -, welcher Ausbildungsplatz überhaupt der Richtige ist. Dass junge
Menschen diese Frage stellen, ist nicht unbegründet. Die
Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch die
Spezialisierung, die in den Ausbildungsberufen gefordert wird, nehmen kontinuierlich zu.
Wir stehen vor allem vor zwei politischen Herausforderungen: Zum einen müssen wir gewährleisten, dass
sich die Jugendlichen in dieser Vielfalt möglichst gut
orientieren können, und zum anderen müssen wir dafür
sorgen, dass wir sie möglichst früh in ihren individuellen
Stärken fördern können. Wenn ich mir diese beiden Herausforderungen - Orientierung angesichts der Vielfalt
des Ausbildungsmarktes und die möglichst frühe Förderung junger Menschen in ihren individuellen Stärken anschaue, dann frage ich mich schon, warum gerade die
Einheitsschule der richtige Weg dahin sein soll.
({3})
Ich sage Ihnen auch: Bildungspolitische Grabenkämpfe helfen uns in dieser Frage nicht weiter. Im Übrigen werden Sie auch die integrationspolitischen Fragen,
die dieser Bildungsbericht zweifellos aufwirft, nicht dadurch beantworten, dass Sie das Türschild an den Hauptschulen abmontieren.
Uns hilft aber auch keine unsachliche und undifferenzierte Kapitalismuskritik an dieser Stelle weiter. Das
möchte ich gerade den Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei entgegenrufen. Die Betriebe sagen: Es gibt
immer weniger Jugendliche, die ausbildungsreif sind.
Angesichts dessen müssen wir doch feststellen: Eine
weitere Herausforderung ist, dass Schule und Wirtschaft
in den kommenden Jahren in eine engere Kooperation,
in einen engeren Dialog treten. Im Wahlprogramm der
Linkspartei lese ich:
Zunehmend dreht sich die Diskussion seit geraumer
Zeit um Preis und Leistung und Verwertbarkeit von
Bildung … Der Mensch wird dabei nicht gebildet,
sondern seine Kompetenzen werden für globale
Märkte optimiert. Bildung wird nach kapitalistischer Verwertungslogik geleitet.
({4})
Wer so spricht, der hat doch gar kein Interesse daran,
junge Menschen auf den Ausbildungsmarkt und die
Wirtschaft vorzubereiten.
({5})
Die Bundesregierung und die Koalition aus CDU/
CSU und FDP wird ihren Teil dazu beitragen, die Herausforderungen zu meistern. Wir haben damit begonnen. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, aber
vor allen Dingen auch die jungen Menschen in diesem
Land können sich sicher sein, dass Bildungs- und Ausbildungspolitik bei uns in guten Händen ist.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Bernschneider, ich gratuliere Ihnen
herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
und verbinde das mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Müller für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Kollegen der Opposition: Was muss
ein Jugendlicher denken, der Ihnen heute Morgen zugehört hat? Er muss doch den Eindruck haben, dass es in
Deutschland leichter ist, einen Sechser im Lotto zu gewinnen, als einen Ausbildungsplatz zu bekommen. In
ihm müssen doch Fluchtgedanken aufkommen, wenn er
Ihnen heute Morgen zugehört hat. Sie vermitteln ein rabenschwarzes Bild, das schlimmer nicht sein könnte.
Aber zum Glück ist es ein falsches Bild. Mit der Realität
hat das wenig zu tun.
({0})
Schauen wir uns einmal die Realität an. Werfen wir
einen Blick auf objektive Zahlen, zum Beispiel auf die
Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit ist ja ein verlässlicher Indikator für die Situation der beruflichen Bildung. Zu Beginn des Jahres lag
die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 10,1 Prozent. Das ist für deutsche Verhältnisse sehr viel. Aber in
unserem Nachbarland Frankreich lag sie mehr als doppelt so hoch.
({1})
In Finnland lag sie bei 23,7 Prozent, in Schweden bei
25,6 Prozent. Trauriges Schlusslicht ist Spanien mit über
40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Fast in ganz Europa
gibt es prozentual gesehen mehr arbeitslose Jugendliche
als in Deutschland. Allein diese Zahlen machen deutlich,
dass die Situation in unserem Land nicht so rabenschwarz aussehen kann, wie Sie sie gerne malen würden.
Das sollte als Allererstes festgestellt werden.
({2})
Liebe Kollegen, diese im Vergleich zu anderen bessere Situation in Deutschland ist kein Zufall, sie ist nicht
gottgegeben; nein, dafür gibt es Gründe. Ein entscheidender Grund ist das hohe Verantwortungsbewusstsein
unserer Unternehmen. Sie haben trotz Krise weiter ausgebildet, sie haben auch die Beschäftigten gehalten, so
gut es eben ging. Unsere Unternehmen haben in den
letzten Monaten Verantwortung gezeigt. Ihnen gebührt
an dieser Stelle ein großes Lob.
({3})
Dass sie Verantwortung wahrnehmen, wird nicht nur
in der Krise deutlich, sondern ist Voraussetzung für den
Erfolg unseres Systems, nämlich des Systems der dualen Ausbildung. Ich möchte dieses System mit einem
stabilen Haus vergleichen, das auf einem festen Fundament steht und sich schon über Jahre bewährt hat. Aber
um zeitgemäß zu bleiben, muss das Haus immer wieder
modernisiert werden und neuen Herausforderungen angepasst werden.
({4})
An diesen Modernisierungsarbeiten sind viele beteiligt:
die Politik, die Unternehmen, die jungen Leute selbst.
Sie, liebe Kollegen der Opposition, spielen dagegen eine
eher unrühmliche Rolle. Sie stehen daneben, Sie schauen
zu, Sie stützen sich auf der Schaufel ab, Sie meckern und
kritisieren.
({5})
Schauen Sie sich um: Unsere Nachbarn beneiden uns um
dieses stabile System. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, nehmen Sie die Schaufel ebenfalls in die Hand und
helfen Sie mit, dass dieses System noch besser und noch
zukunftsfester wird. Das ist im Sinne von uns allen. Mitmachen statt Miesmachen - das sollten Sie sich heute
vornehmen.
({6})
Wie beim Bau eines Hauses müssen auch beim
Thema Ausbildung viele zusammenarbeiten. Ein Paradebeispiel dafür ist der Ausbildungspakt. Die Kollegen
haben schon darauf hingewiesen.
Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hinz?
Ja, gerne.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Opposition würde danebenstehen und zuschauen und sich
auf der Schaufel oder wo auch immer abstützen. Ich
möchte Sie jetzt fragen: Haben Sie das Konzept zur Modernisierung des Berufsbildungssystems der Grünen
„DualPlus“ schon gelesen? Haben Sie sich darüber kundig gemacht, dass es mehrfach Veranstaltungen und
Fachgespräche dazu gab?
({0})
- Bitte? ({1})
Können Sie mir bitte erklären, was Sie an diesem Konzept gut und was Sie schlecht finden?
Liebe Kollegin, ich halte es für sehr begrüßenswert,
wenn sich auch die Opposition Gedanken macht.
({0})
Ich finde es gut, wenn wir in den Ausschüssen darüber
diskutieren.
({1})
Aber was heute Morgen gerade von den Linken und
auch von Teilen der Grünen vorgetragen wurde - die
SPD muss ich davon ausschließen, das war recht konstruktiv -, war in überwiegendem Maße Schwarzmalerei. Sie haben nur auf die negativen Sachen hingewiesen.
({2})
Gerade von den Linken kamen keine konstruktiven Vorschläge.
({3})
Über sinnvolle Vorschläge zu diskutieren, sind wir jederzeit bereit.
({4})
Wir müssen diskutieren, da haben Sie recht. Wir müssen uns gemeinsam einbringen; denn der Ausbildungspakt - ich habe ihn bereits erwähnt - wird im Herbst verlängert. Er geht in eine neue Runde. Dadurch stehen wir
vor neuen Herausforderungen, die wir angehen müssen.
Zwei Herausforderungen - das will ich Ihnen zugutehalten - haben Sie bereits angesprochen. Zum einen geht
es darum, alle Potenziale zu erschließen. Es gibt nach
wie vor Jugendliche, die es schwer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden: die Altbewerber und vor allem die
Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Berufsbildungsbericht wird eine erschreckende Zahl genannt:
40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
haben keinen Berufsabschluss. Diese jungen Menschen
sind nicht weniger talentiert als ihre deutschen Freunde,
aber sie müssen mehr Hürden überwinden. Deshalb
brauchen sie frühere und intensivere Förderung und Beratung durch Ausbildungslotsen, Sprachkurse und ausbildungsbegleitende Hilfen. Wir sind auf einem guten
Weg, aber die Anstrengungen dürfen nicht nachlassen.
Alle Partner des Ausbildungspaktes sollten sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sein. Wir wollen allen
eine Chance geben, im Interesse der Jugendlichen, aber
auch im Interesse von uns allen.
Die zweite Herausforderung, der wir im Rahmen des
Ausbildungspaktes begegnen müssen, ist neu: der
zunehmende Fachkräftemangel. Bereits heute gehen
jährlich 200 000 Menschen mehr in Rente, als neue in
das Berufsleben einsteigen. Diese Entwicklung wird sich
noch verschärfen. Schon heute können viele Unternehmen ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. Das Problem ist zwar regional und branchenspezifisch noch sehr
unterschiedlich, es wird sich aber ausweiten. Das muss
uns Sorge bereiten. Hier müssen wir etwas tun, beispielsweise durch eine bessere Vorbereitung auf das Berufsleben, Stichwort: Berufsorientierung.
Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, deutschlandweit ein besseres System der Berufsorientierung auf
die Beine zu stellen: in allen Schulen, frühzeitig, gezielt
und individuell auf den einzelnen Jugendlichen abgestimmt. Es muss ein System sein, das alle Akteure vor
Ort einbindet. Kollegin Hinz, Sie haben eben gefordert,
dass die Akteure, die es bereits vor Ort gibt, eingebunden werden. Wir befürworten das sehr. Es gibt das Konzept der Bildungsketten, das Annette Schavan vorgestellt hat.
({5})
Es gibt das Konzept der Bildungslotsen. Auch das trägt
dazu bei, einen kontinuierlichen Übergang von der
Schule ins Berufsleben sicherzustellen. Dafür wollen wir
uns einsetzen.
({6})
Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen festgestellt:
Unser System der dualen Ausbildung wird von unseren
europäischen Nachbarn geschätzt. Wir werden darum
beneidet. Ich habe allerdings den Eindruck, dass uns das
in Deutschland nicht immer bewusst ist. Stattdessen rufen wir ständig nach mehr Akademikern, mehr Studenten und mehr Abiturienten.
Nadine Müller ({7})
({8})
Diejenigen, die am lautesten rufen, sind Sie von der Linken. Sie haben auf Ihren Wahlplakaten „Gymnasium für
alle“ gefordert. Damit erklären Sie alle anderen Schulformen und Bildungswege für unwürdig. In meinen Augen ist das arrogant und menschenverachtend.
({9})
- Liebe Kollegen der Linken, wenn Sie Ihre eigenen Plakate nicht kennen, dann ist das wirklich sehr bedenklich.
Schauen Sie sich die Kampagne Ihrer Partei im Saarland, im Land Ihres ehemaligen Bundesvorsitzenden, an.
({10})
Dort wurde der Spruch „Gymnasium für alle“ plakatiert.
Wenn Sie nicht dahinterstehen, dann sagen Sie das öffentlich und distanzieren sich von der Kampagne.
({11})
Frau Müller, möchten Sie noch eine Zusatzfrage der
Kollegin Alpers zulassen?
Von mir aus.
({0})
Ich möchte von Ihnen wissen, wo Sie das Plakat gesehen haben. Es gibt kein deutschlandweites Plakat mit der
Aufschrift „Gymnasium für alle“. Da haben Sie sich getäuscht. Was Sie gesehen haben, ist das Plakat mit der
Aufschrift „Reichtum für alle“. Das soll deutlich machen, dass wir in einem der reichsten Länder leben. Wir
gehen davon aus, dass an diesem Reichtum alle beteiligt
werden.
({0})
- Genau. Da sind wir dann beim Bildungsreichtum und
bei gleichen Chancen für alle. Die erste Frage lautet also,
wo Sie das Plakat gesehen haben.
Die zweite Frage lautet: Wo haben Sie jemals von den
Linken gelesen, dass wir uns gegen Auszubildende aussprechen? Sie haben gerade behauptet, dass wir uns nur
für Abiturienten einsetzen. Ich möchte das von Ihnen belegt haben. Auch wir treten in allen Bereichen für ein
umfassendes Ausbildungssystem ein. Ich bitte Sie, mit
den Unterstellungen aufzuhören und mir zu sagen, wo
Sie das gelesen haben.
Ich habe diese Frage bereits beantwortet, liebe Kollegin.
({0})
Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden. Fragen Sie
die Kollegin Ferner oder Ihre Kollegin Ploetz, die Nachfolgerin von Oskar Lafontaine. Ich bin sicher, dass sie
eines dieser Plakate aufgehängt hat. Es war im letzten
Landtagswahlkampf im Saarland flächendeckend plakatiert. Das sollten Sie wissen.
({1})
Wir wissen, was unsere Landesverbände tun. Wir stehen
ein für die Aussagen unserer Landesverbände. Wenn das
in Ihrer Partei nicht der Fall ist, dann finde ich das
schade. Schauen Sie sich das einfach noch einmal an. Es
war flächendeckend plakatiert.
({2})
Liebe Kollegen, wenn Sie „Gymnasium für alle“ plakatieren, dann halten wir dagegen: Für uns sind alle
gleich viel wert, sowohl derjenige, der auf der Realschule oder auf der Hauptschule seinen Abschluss macht
und dann seine Ausbildung beginnt, als auch der Gymnasiast. Dafür werben wir, denn das ist Bestandteil des
dualen Systems. Nur wenn wir für dieses System werben, wenn wir selbst dafür einstehen, kann es seinen hohen Stellenwert erhalten. Mit Ihrer Aussage „Gymnasium für alle“ tun Sie genau das Gegenteil, auch wenn
Sie das heute hier leugnen.
({3})
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem Thema gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Bei der
Modernisierung des Gebäudes der dualen Berufsausbildung sind viele gefordert. Wir alle sollten mit anpacken.
Hier sollte nicht jeder nur seine Interessen verfolgen,
sondern sich seiner besonderen Verantwortung bewusst
sein. Nur dann können wir ein gemeinsames Ziel erreichen. Dafür brauchen wir auch Kritiker, aber keine
Miesmacher. Deshalb, liebe Kollegen, bringen Sie sich
konstruktiv ein! Das ist gut für uns alle.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Stefan Schwartze für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Presse für
Schwarz-Gelb so schlecht ist, dass Sie sich heute Morgen die Welt rosarot reden müssen.
({0})
Wir diskutieren heute über die Ausbildungssituation
in unserem Land, über die Chancen der Jugendlichen, ihr
Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihnen damit
eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Es wäre gut für die Debatte, wenn hier mit ehrlichen Zahlen gearbeitet würde. Dass die Zahl der unversorgten Jugendlichen in 2009 nicht stimmen kann, weiß
jeder Abgeordnete, der auch mal mit Schülern diskutiert.
Hier rechnet sich Schwarz-Gelb in dem Antrag die Welt
schön. Das Ausbildungsangebot für Jugendliche reicht
bei weitem nicht aus.
({1})
Es fehlt, wenn man alle Warteschleifen und Maßnahmen mit einrechnet, eine Vielzahl von Ausbildungsplätzen. Allein im Kreis Herford, in meinem Wahlkreis, fehlten in den letzten Jahren beständig 800 bis 1 000 Plätze.
Die Jugendlichen sind in Maßnahmen gelandet, in den
Warteschleifen an den Berufskollegs, sie jobben, oder
sie sind gänzlich unversorgt geblieben. Trotz allem wollen sie weiterhin einen Ausbildungsplatz. Ihre Probleme
am Ausbildungsmarkt lösen sich nicht in Luft auf.
({2})
Der Ausbildungsmarkt ist kein bundesweiter Markt.
Die Zukunft der Jugendlichen entscheidet sich vielmehr
vor Ort. Deshalb müssen wir auch als Bund auf die regionalen Besonderheiten eingehen. Ostwestfalen-Lippe,
die Region, in der mein Wahlkreis liegt, ist die jüngste
Region in Deutschland. Wir erwarten bis 2013 steigende
Zahlen von Schulabgängern und bleiben dann auf dem
hohen Niveau. Um diesen Jugendlichen eine Perspektive
zu bieten, reichen die Angebote der Wirtschaft nicht aus.
Ähnliche Probleme gibt es in anderen Regionen. Wir
müssen ein flächendeckendes Ausbildungsplatzangebot
für alle strukturschwachen Regionen schaffen und vor
Ort sichern.
({3})
Wir müssen den jungen Menschen eine Perspektive
bieten und dem Fachkräftemangel, der in unserer Region
droht, entgegenwirken. Die SPD hat sich ehrgeizige
Ziele gesteckt, an denen wir für die jungen Menschen
festhalten werden. Wir wollen, dass in der Zukunft jeder
entweder ein Abitur oder einen Berufsabschluss machen
kann. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss
muss deutlich sinken. Das Recht auf einen Schulabschluss hilft weiter, aber noch immer verlassen viel zu
viele Jugendliche die Schulen ohne Abschluss.
({4})
Wir müssen die Jugendlichen, die keinen Schulabschluss haben, nachqualifizieren. Nur so können wir es
ihnen ermöglichen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Ja,
das kostet Geld, aber es sichert den Jugendlichen Teilhabe und die größtmögliche Unabhängigkeit von staatlichen Leistungen. Sie müssen ihre Zukunft selbst gestalten können.
({5})
Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Recht
auf eine Berufsausbildung folgen.
({6})
Auch Ihnen, Herr Kollege Schwartze, gratuliere ich
herzlich zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. Alles
Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man den vorliegenden Berufsbildungsbericht liest,
wird einem deutlich vor Augen geführt, was in Zukunft
Wachstum und Wohlstand am Standort Deutschland
bremsen wird: Es ist der Mangel an gut ausgebildeten
Fachkräften. Aufgrund eines Rückgangs der Zahl der
Ausbildungsplätze in der Krise kann der Bedarf der
Wirtschaft an qualifiziertem Nachwuchs bei weitem
nicht gedeckt werden. Auf der Nachfrageseite ist die
demografische Entwicklung der große Bremsklotz. Allein die Zahl der Abgänger von allgemeinbildenden
Schulen fiel im Jahr 2009 um 34 000 niedriger aus als im
Jahr 2008.
Diese demografische Entwicklung betrifft unsere
ganze Gesellschaft und alle Politikbereiche. Wir als
christlich-liberale Koalition haben deswegen bewusst einen Schwerpunkt auf die Förderung von Familien und
Kindern gesetzt. Diese Wirkung ist langfristig. Sie hilft
den Unternehmen kurzfristig nicht, ihren Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs zu decken. Die Statistik im Berufsbildungsbericht, in der gut 17 000 offiziell gemeldete offene Ausbildungsstellen genannt werden, ist nur
eine Seite der Realität. Eine Umfrage des DIHK unter
seinen Mitgliedsunternehmen vom Februar dieses Jahres
hat ergeben, dass diese von 50 000 unbesetzten Stellen
ausgehen, überwiegend weil geeignete Bewerber fehlen.
Dabei gibt es trotz der demografischen Entwicklung eine
große Zahl an Bewerbern, die bisher keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Der Bericht spricht von
9 600 unversorgten Bewerbern. Hinzu kommen aber
noch 73 000 junge Menschen, die zwar in einer der verschiedenen Formen der Beschäftigung stecken, aber
trotzdem noch nach einem für sie passenden Ausbildungsplatz suchen. Wir brauchen jeden Einzelnen von
ihnen.
({0})
Das ist nicht nur eine sozial- und gesellschaftspolitische Notwendigkeit, sondern in zunehmendem Maße
auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Der für
diese Gruppe schwierige Übergang von der Schule in
das Berufsleben ist neben dem Mangel an qualifizierten
Bewerbern das zweite Phänomen, auf das man beim Lesen des Berufsbildungsberichts immer wieder stößt. Die
Bundesregierung hat das erkannt und handelt dementsprechend. Sie setzt sich mit einer ganzen Reihe von
Maßnahmen dafür ein, dass jeder junge Mensch, der ausbildungswillig und -fähig ist, ein Qualifizierungsangebot
erhält, das zu einem Ausbildungsabschluss führt. Die
Bundesministerin hat das in ihren Ausführungen dargelegt.
Als christlich-liberale Koalition haben wir zudem in
unserem Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik
Deutschland ausgerufen. Das ist keine leere Worthülse.
Neben den qualitativen Verbesserungen, gerade an der
Schnittstelle zwischen Schule und Beruf, werden bis
zum Jahr 2013 die Ausgaben für Bildung und Forschung
um 12 Milliarden Euro erhöht. Gleichzeitig unterstützen
wir die Länder und die Wirtschaft dabei, ihre Ausgaben
in diesem Bereich zu steigern. Unser Ziel ist und bleibt,
bis zum Jahr 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf ein Niveau von 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Diese Ausgaben sind Investitionen in die Zukunft unseres Landes, deren Rendite sich zugegebenermaßen
nicht im Haushalt 2011 niederschlägt, die aber langfristig Wachstum und Wohlstand in unserem Land sichern.
Deswegen ist es zu kurz gegriffen, genau an dieser Stelle
den Rotstift anzusetzen. Ich weiß sehr wohl, dass es
nicht leicht wird, das durchzuhalten. Die Diskussionen
der letzten Wochen sind nur ein Vorgeschmack darauf,
was uns angesichts knapper Kassen und der großen Aufgabe der Haushaltskonsolidierung in den nächsten Jahren bevorstehen wird.
Auch die Aufgabe der Haushaltskonsolidierung
müssen wir im Bewusstsein unserer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation bewältigen. Nur, wenn
wir heute bei den Kindern oder bei der Bildung sparen,
nehmen wir ihnen gleichzeitig ein Stück Grundlage ihrer
Zukunftsfähigkeit.
({1})
Das wäre genauso verantwortungslos, wie ihnen nur
Schulden zu hinterlassen. Ich freue mich daher, dass alle
Spitzenvertreter unserer Koalition den entsprechenden
Sparvorschlägen in den vergangenen Wochen eine klare
Absage erteilt haben.
({2})
Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir in 20 Jahren zurückblicken, sagen können, dass es diese Koalition unter
Bundeskanzlerin Merkel war, die mit ihrem Kurs der
Haushaltskonsolidierung auf der einen Seite und ihren
Investitionen in die Zukunft unseres Landes auf der anderen Seite
({3})
den Grundstein für langfristiges Wachstum und Wohlstand in unserem Land gelegt hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1435, 17/1550, 17/1745, 17/1734
und 17/1759 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht ganz danach aus. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für ein modernes Patientenrechtegesetz
- Drucksache 17/907 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorige Woche, auf dem Deutschen Ärztetag, ließ Dr. Frank
Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, verlauten, dass Vertrauen zu den Ärzten mehr zähle
als das formale Recht. Im Originalton:
Patienten muss man in Deutschland nicht schützen schon gar nicht vor ihren Ärzten.
Nun wollen wir die Patienten in Deutschland nicht
vor den Ärzten schützen. Wir wollen auch kein Patientenschutzgesetz - das wollen Union und FDP; zumindest
haben sie das in den Koalitionsvertrag geschrieben.
Wir haben ein anderes Bild vom Patienten. Deswegen
wollen wir ein Patientenrechtegesetz. Ein solches Gesetz
halten wir für unbedingt notwendig.
({0})
Für die SPD haben die Patientenrechte schon immer einen hohen Stellenwert. In unserer rot-grünen Zeit haben
wir in dieser Hinsicht viel auf den Weg gebracht. Das hat
dem deutschen Gesundheitssystem insgesamt gutgetan.
({1})
Ich erinnere an die Unabhängige Patientenberatung.
Ich erinnere an die Mitwirkung der Patientenvertreter im
Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir haben etabliert,
dass es in der Bundesregierung eine Vertrauensperson
für die Patientinnen und Patienten gibt. Die Funktion des
Patientenbeauftragten fußt auf einem rot-grünen Gesetz.
Leider können wir im Moment nicht sehen, dass der
jetzige Patientenbeauftragte trotz aller Bemühungen viel
bewegen könnte. Ihm scheint der Rückhalt in der eigenen Regierung zu fehlen.
({2})
Wenn es anders wäre, stünde die Unabhängige Patientenberatung jetzt nicht im Regen, sondern es wäre längst
alles geregelt für den Fortbestand der Unabhängigen Patientenberatung.
({3})
Warum brauchen wir ein Patientenrechtegesetz? Ich
frage Sie: Sind Sie schon einmal vor einer ärztlichen
Diagnose oder Therapie nicht umfassend aufgeklärt worden? Kennen Sie vielleicht aus den Sprechstunden
Bürger, die versucht haben, vom Krankenhaus die Dokumente zu der Behandlung ihrer verstorbenen Angehörigen zu erhalten? Musste schon einmal jemand aus Ihrer
Familie oder aus Ihrem Freundeskreis prozessieren, um
nach einem Behandlungsfehler Schadenersatz oder
Schmerzensgeld zu erhalten? Diese Liste könnte ich beliebig fortführen. Ich habe diese Beispiele gebracht, um
deutlich zu machen, wo Regelungslücken sind.
Natürlich haben die Patienten in Deutschland bereits
Rechte; aber viele kennen ihre Rechte nicht. Das liegt
zum Großteil daran, dass die Vorschriften in unterschiedlichen Gesetzen aufgeschrieben sind. Deswegen
wollen wir zum Beispiel die Rechte und Pflichten aus
dem Behandlungsvertrag in einem Patientenrechtegesetz
normieren.
Es gibt Regelungen, die schlicht unzureichend sind.
Diese Regelungen wollen wir angehen. Ich kann hier nur
auf einige Punkte eingehen, Stichwort Patientensicherheit. Patienten haben das Recht auf eine sichere Behandlung; doch in deutschen Krankenhäusern sterben durch
unerwünschte Ereignisse mehr Patienten, als Menschen
bei Verkehrsunfällen sterben, und zwar dreimal so viele.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat im Jahr
2007 eine Untersuchung vorgelegt, nach der in der Chirurgie jährlich mindestens 200 Seiten- und Eingriffsverwechslungen vorkommen. Das ist nicht akzeptabel.
Natürlich müssen die Einrichtungen zunächst einmal
selbst schauen, was organisatorisch verändert werden
kann. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Vermeidung von Fehlern und der Umgang mit Fehlern, ein Fehlermanagement, in den deutschen Krankenhäusern erst
noch etabliert werden muss.
({4})
Erforderlich ist auch die Einführung eines zentralen
Melderegisters, das auf die Vermeidung von Fehlern
ausgerichtet ist. Und: Fehler müssen bekannt werden,
und zwar deswegen, damit man sie zukünftig vermeiden
kann.
Deshalb müssen Beschäftigte, die einen eigenen oder
einen fremden Fehler melden, vor arbeitsrechtlichen
Sanktionen geschützt werden. Es kann doch nicht angehen, dass die Krankenschwester, die einen Fehler des
Chefarztes meldet, entlassen wird.
({5})
- „Weil die das so gut beurteilen kann“: Stellen Sie doch
eine Frage. Ich würde sie gerne beantworten und gerne
etwas dazu sagen.
({6})
Auch im Idealfall lassen sich Fehler natürlich nicht
gänzlich vermeiden, aber wird ein Patient heute Opfer
eines Behandlungsfehlers, dann hat er eine sehr schwache Position. Er trägt ein hohes Prozesskostenrisiko, er
muss sich mit einer jahrelangen, manchmal fast jahrzehntelangen Verfahrensdauer abfinden, und er trägt in
den allermeisten Fällen die Beweislast. Auch hier wollen
wir Verbesserungen.
Wir wollen, dass die Versicherten bei Verdacht auf einen Behandlungsfehler einen Anspruch auf Unterstützung ihrer Krankenkasse haben, wir wollen spezielle
Arzthaftungskammern der Landgerichte, wir wollen Instrumente zur Beschleunigung des Verfahrens, und wir
wollen die Beweislastumkehr immer dann, wenn Krankenhäuser oder Ärzte die entsprechenden Patientenunterlagen unzureichend, unvollständig oder verzögert
weiterreichen.
({7})
Abschließend komme ich noch zu einem wichtigen
Punkt unseres Antrags, nämlich zu den kollektiven Beteiligungsrechten. Die Patientinnen und Patienten werden nur dann von Betroffenen zu Beteiligten, wenn sie
mitentscheiden und mitbestimmen können. Das beste
Beispiel dafür ist die Patientenbeteiligung im Gemeinsamen Bundesausschuss, also dem Gremium, in dem festgelegt wird, was zulasten der Krankenversicherung verordnet wird.
Wir haben die Mitwirkungsrechte der Patienten etabliert, aber sie haben noch kein Stimmrecht. Wir denken,
dass es überfällig ist, dass die Patienten jetzt das Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss erhalten.
({8})
Unser Antrag fußt auf Eckpunkten, die wir in der vorigen Legislaturperiode in einem langen Diskussionsprozess mit vielen Beteiligten erarbeitet haben - mit Patientenselbsthilfegruppen, mit Hilfeverbänden, mit Juristen,
mit Ärzten -, und deswegen sind wir der Meinung, dass
dieser Antrag eine sehr gute Grundlage für die Erarbei4238
tung eines Patientenrechtegesetzes ist, was der Patientenbeauftragte ja will. Der Patientenbeauftragte hat es ja
mehrfach gesagt: Er möchte hier spätestens im nächsten
Jahr ein Patientenrechtegesetz verabschieden.
({9})
Ich bitte Sie herzlich, dass Sie unseren Antrag zur
Grundlage dafür nehmen; denn wir haben mehrere Jahre
gebraucht, um überhaupt die Eckpunkte zu erarbeiten.
({10})
Wir haben mit allen Verbänden und Vereinen, die betroffen sind, darüber gesprochen, und Sie werden bei Ihren
Gesprächen mit Sicherheit zu keinem anderen Ergebnis
kommen.
Wer heute noch der Meinung ist, wir bräuchten ein
solches Patientenrechtegesetz nicht, dem empfehle ich
nur Gespräche mit den betroffenen Patientinnen und Patienten. Sie werden dann zu dem Schluss kommen, dass
wir ein solches Gesetz brauchen.
({11})
Der nächste Redner ist der Patientenbeauftragte der
Bundesregierung, Wolfgang Zöller.
({0})
Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundesregierung
für die Belange der Patientinnen und Patienten:
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie mir eine
Vorbemerkung: Wenn meine Vorgängerin als Patientenbeauftragte auch nur halb so viel Rückhalt in der Regierung gehabt hätte, wie ich sie erfreulicherweise habe,
dann hätten wir schon längst ein solches Gesetz haben
können.
({1})
Man sieht das ja auch schon an einem Beispiel. Wir
haben es sogar schon im Koalitionsvertrag festgelegt,
was Ihnen damals nicht gelungen ist. Auch daran erkennt man die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens.
({2})
Heute sollen wir hier über einen Vorschlag der SPD
reden, in dem verschiedene Einzelregelungen vorgesehen sind, und wir sollen uns nun auf entsprechende Eckpunkte festlegen.
Ich sage es ganz offen: Ich halte diese Vorgehensweise der Festlegung zum jetzigen Zeitpunkt für nicht
zielführend. Sie wollen nämlich etwas festlegen und
werden dann mit den Beteiligten sprechen.
({3})
Wir sprechen erst mit den Beteiligten und legen dann einen gemeinsamen Vorschlag vor.
({4})
Im Übrigen habe ich dies auch schon im Gesundheitsausschuss vorgetragen.
Ich darf auf den Koalitionsvertrag verweisen. Darin
heißt es:
Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht
das Wohl der Patientinnen und Patienten.
({5})
Die Versicherten sollen in die Lage versetzt werden, möglichst selbständig ihre Rechte gegenüber
den Krankenkassen und Leistungserbringern wahrzunehmen. Aus diesem Grund soll eine unabhängige Beratung von Patientinnen und Patienten ausgebaut werden. … Die Patientenrechte wollen wir
in einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln,
das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am
Gesundheitswesen erarbeiten werden.
({6})
So heißt es im Koalitionsvertrag. Die Zusage, dass wir
das Gesetz in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erarbeiten werden, nehmen wir sehr ernst. Deshalb halten
wir uns an den vorgegebenen Zeitplan.
({7})
Was die Formulierung Patientenschutzgesetz angeht,
sind wir uns, glaube ich, darin einig, dass wir ein Patientenrechtegesetz schaffen. Denn es sollte schon in der
Wortwahl verdeutlicht werden, dass wir den Patienten
nicht vor etwas schützen müssen, sondern dass der Patient
als gleichwertiger Partner im System anerkannt wird.
({8})
Sie werden von niemandem in der Regierungskoalition
etwas anderes gehört haben.
Zum Stand des Verfahrens: Ich führe seit Beginn der
Tätigkeit viele Gespräche, um sowohl den Handlungsbedarf als auch die Regelungsmöglichkeiten zu prüfen und
alle Belange zu berücksichtigen. Selbstverständlich werden wir - das hatte ich im Gesundheitsausschuss auch
schon zugesagt - gerne auch Anregungen aus anderen
Fraktionen mit aufnehmen und in diese Überlegungen
mit einbinden.
Nachdem wir alle Anregungen geprüft haben, wird es
Ende des Jahres ein Diskussionspapier geben. Ich bin
zuversichtlich, dass wir anschließend - wiederum ganz
besonders mit der Unterstützung unseres Gesundheitsministers - im nächsten Jahr das parlamentarische Verfahren einleiten.
Beauftragter der Bundesregierung Wolfgang Zöller
({9})
Ich bin auch sicher, dass wir im nächsten Jahr einen mit
allen Beteiligten abgestimmten Gesetzentwurf für die
Patientinnen und Patienten vorlegen können.
Ich habe bisher etwas mehr als 150 Gespräche geführt, angefangen bei Juristen über Selbsthilfegruppen
bis hin zu Gutachtern, Patientenvertretern und allen anderen am System Beteiligten. Wir haben schon weitere
50 Gesprächstermine zugesagt. Ich halte die dafür vorgesehene Zeit für notwendig, um einer ausgewogenen
Betrachtung dieses Themas Rechnung zu tragen.
Was das Patientenrechtegesetz angeht, haben wir alle,
glaube ich, die Erfahrung gemacht, dass sich die Patienten oftmals gegenüber den Leistungserbringern und Kostenträgern im Gesundheitswesen gerade im Konfliktfall
unterlegen fühlen. Schlichtungsstellen und Gutachter
werden häufig als nicht neutral erlebt. Oft wird eine zu
lange Verfahrensdauer beklagt. Patienten und Patientinnen empfinden das bestehende Recht oft als unübersichtlich und nicht gerecht. Dies gründet auch darauf, dass
Patientenrechte im geltenden Recht an unterschiedlichen Stellen verankert sind, teils auch lediglich auf
Richterrecht beruhen.
Vielen Regelungen fehlt es zudem an Klarheit. Ein
Patientenrechtegesetz, das Rechte und Pflichten ausdrücklich regelt und zusammenfasst, kann wesentlich
mehr Rechtssicherheit und Transparenz für die Patienten
schaffen.
Mir als Patientenbeauftragtem liegen folgende Punkte
besonders am Herzen: Ein Hauptanliegen wird sein, dass
wir die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzen,
ihre Rechte wahrnehmen zu können. Das heißt für mich
auch einfache und verständliche Aufklärung und Information, damit nicht gerade die Schwächeren in unserer
Gesellschaft immer die Benachteiligten sind.
({10})
Langfristig müssen wir erreichen, dass die Patienten
nicht erst um ihr Recht kämpfen müssen, sondern Recht
bekommen. Die Patienten müssen über Qualität, über
Kosten und auch über verschiedene Behandlungsmethoden informiert werden.
Es wurde das Modellvorhaben der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschlands angesprochen. Dieses
Modellvorhaben hat sich bewährt. Hier haben wir erreicht, dass man mit einer Anlaufstelle, einer kostenlosen Telefonnummer, für sein Anliegen immer einen Ansprechpartner hat, um eine fundierte Auskunft oder
einen Verweis an eine kompetente Stelle zu erhalten.
Dieses Modellvorhaben - ich glaube, darin sind wir uns
alle in diesem Hause einig - soll in eine Regelleistung
übernommen werden. Es ist auch sinnvoll, dass diese
Regelung möglichst schnell vollzogen wird. Ich möchte,
dass dies noch vor der Sommerpause geschieht, um auch
die Planungssicherheit der Beteiligten zu gewährleisten.
({11})
Allerdings müssen dort noch Verbesserungen stattfinden: Dies fängt bei einer Auswertung der eingegangen
Anliegen an; es kann nicht sein, dass lediglich Strichlisten geführt werden. Ich möchte erreichen, dass die dort
ankommenden Anliegen als Seismograf genutzt werden
können, um Handlungsoptionen abzuleiten. Auch halte
ich die Vernetzung mit Selbsthilfegruppen und Kompetenznetzen für verbesserungswürdig.
Die Ansprechpartner in den Krankenhäusern haben
sich nach meiner Auffassung hervorragend bewährt.
Deshalb sollte man die Funktion der Patientenfürsprecher, wie sie genannt werden, oder Beschwerdebeauftragten in den Krankenhäusern ausbauen.
Ich halte die Informationspflicht für eines der wichtigsten Patientenrechte. Die Stärkung der Patientenrechte
gegenüber den Leistungsträgern wird ein weiterer Punkt
sein:
Wir wollen einen zeitnahen Zugang zu medizinischen
Leistungen erreichen. Wir müssen das Bewilligungsverfahren wesentlich beschleunigen. Es kann nicht sein,
dass wir Briefe bekommen, in denen davon die Rede ist,
dass jemand monatelang auf eine Reha-Maßnahme oder
einen Rollstuhl warten muss. Solche Briefe liegen uns
vor.
Des Weiteren möchte ich eine Implementierung der
Risiko- und Fehlermanagementsysteme. Nicht nur
Fehler, sondern auch Beinahe-Fehler können schneller
Hinweise auf Schwachstellen in Behandlungsabläufen
geben - nach dem Motto: Lernen aus Fehlern.
Wir brauchen eine Stärkung der Opfer bei Behandlungsfehlern. Dies allerdings bedarf einer sehr intensiven
Beratung, angefangen von der Diskussion über verschuldensunabhängige Entschädigung über Beweislasterleichterung, Stärkung der Patienten im Gerichtsverfahren bis
hin zu Qualität und Transparenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen.
Auch im Gemeinsamen Bundesausschuss werden immer mehr patientenrelevante Entscheidungen getroffen.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass wir eine Stärkung
der Patientenmitwirkung brauchen. Wie dies gemacht
werden kann, ist noch offen. Die Patientenvertreter sind
für eine generelle Mitbestimmung; dies lässt sich allerdings nur in bestimmten Bereichen umsetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen
anhand dieser vielen Themen und offenen Fragen, dass
es notwendig ist, mit den Beteiligten weitere Gespräche
zu führen. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen,
unter denen die Patienten wieder Vertrauen in unser nach
wie vor sehr gutes Gesundheitssystem haben können, sodass sie es als gerecht empfinden. Unser Anspruch ist es,
hierfür eine dauerhafte Regelung zu finden. Deshalb gilt
hier: Qualität vor Schnelligkeit. Ich lade Sie ein, gemeinsam ein Patientenrechtegesetz zu erarbeiten, das diesen
Namen auch verdient.
Vielen Dank.
({12})
Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
Krähe hackt der anderen kein Auge aus.
({0})
Diesen Satz hört man oft, wenn man mit Patientinnen
und Patienten spricht, die sich von ihrem Arzt, ihrer
Krankenkasse oder im Krankenhaus schlecht behandelt
fühlen. Damit drücken sie letztlich nur aus, wie sie sich
in einer solchen Situation fühlen, nämlich ohnmächtig,
hilflos und allein gelassen. Das Vertrauen in die Ärztin
oder den Arzt spielt - das wissen wir alle; das ist inzwischen durch Studien gut belegt - eine wichtige Rolle bei
der Bewältigung von Krankheiten und für den Heilungsprozess. Die Arztpraxis ist nämlich kein „Medika“Markt für Gesundheitsdienstleistungen, und der kranke
Mensch ist kein Kunde, der sein defektes Gerät im Garantiefall zurückgeben kann, wenn jemand in der Fabrik
gepfuscht hat. Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Ware.
({1})
In den allermeisten Fällen erweist sich das Vertrauen
in die Behandelnden und die Pflegenden als absolut gerechtfertigt.
({2})
Doch überall da, wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Wer die Arbeitsbedingungen in den meisten deutschen Kliniken kennt und liest, was das Pflege-Thermometer herausgefunden hat - chronischer Mangel; durch
den Stellenabbau in den Kliniken wächst auch das Risiko für Patienten -, wundert sich, dass in deutschen Kliniken nicht noch sehr viel mehr passiert. Da muss man
wirklich sagen: Hut ab vor den Beschäftigten, die unter
diesem Druck und diesen Bedingungen noch so gute Arbeit leisten!
({3})
Für kranke Menschen bedeutet ein Behandlungsfehler in der Regel, dass ein schon vorhandenes Leiden verschlimmert wird oder neue Beschwerden hinzukommen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hätte in einer
solchen Situation nicht die Kraft, um mein Recht zu
kämpfen und nach dem Schuldigen zu suchen. Ich
denke, das geht den meisten Menschen genauso. Leider
ist die Situation aber so: Wenn doch einmal etwas schiefgeht, dann finden sich die Patientinnen und Patienten
ganz schnell am Ende der Nahrungskette wieder.
({4})
Da sind zunächst die Ärztinnen und Ärzte, die mauern
und vertuschen. Das tun sie gar nicht bösartig. Vielmehr
sind sie dazu in vielen Fällen vertraglich verpflichtet,
entweder durch ihren Arbeitgeber oder durch ihre Haftpflichtversicherung. Das ist doch ein Skandal. Daran
müssen wir dringend etwas ändern.
({5})
Dann erleben viele, dass ihre Krankenakten nicht
rechtzeitig, nicht vollständig, nachträglich verändert
oder überhaupt nicht herausgegeben werden. Das alles
ist zwar völlig rechtswidrig - das ist schon nach heutigem Recht illegal -, aber die Patientin oder der Patient
hat keine Möglichkeit, das Recht auf die eigenen Akten
wirksam durchzusetzen.
({6})
Deswegen brauchen wir unbedingt spürbare Sanktionen
gegen Ärztinnen und Ärzte, die Unterlagen fälschen
oder zurückhalten.
({7})
Ist es mir als Betroffener dann doch gelungen, die Akten
zu erhalten, muss ich auch noch selbst beweisen, dass
ich erstens falsch behandelt wurde und zweitens genau
diese falsche Behandlung die Ursache für meine neuen
Beschwerden ist. Das fällt doch allen schwer, die weder
Medizin studiert haben noch das nötige Kleingeld für
teure Gutachten besitzen. Deswegen brauchen wir dringend Erleichterungen bei der Beweisführung für die Patientinnen und Patienten.
({8})
Wenn ich all diese Widrigkeiten überwunden habe,
dann finde ich mich wieder in einem schier undurchdringlichen Paragrafendschungel aus Zivilrecht, Sozialrecht, Strafrecht, Arzthaftungsrecht und Arzneimittelrecht, in dem sich selbst gestandene Juristinnen und
Juristen verirren können, und das alles in einer Situation,
in der ich ohnehin gesundheitlich und emotional belastet
bin. Also fühle ich mich wieder hilflos, ohnmächtig und
allein gelassen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
geht so nicht weiter.
({9})
Was wir brauchen, ist eine veränderte Perspektive.
Der betroffene Mensch muss in den Mittelpunkt unserer
Überlegungen rücken. Er hat nämlich ein Recht darauf,
dass ihm geholfen wird und dass alles getan wird, um
sein zusätzliches Leid zu lindern, ohne dass er dafür von
Pontius zu Pilatus laufen muss. Wir brauchen daher ein
Patientenrechtegesetz, das nicht nur die bisherigen Regelungen zusammenfasst, sondern die Patientinnen und
Patienten wirklich in die Lage versetzt, ihre Rechte
durchzusetzen. Darin stimme ich Ihnen völlig zu, Herr
Zöller.
({10})
Das muss auch nicht etwa neue Bürokratie in den Praxen und Kliniken bedeuten, wie es der Deutsche Ärztetag befürchtet. Wenn wir eine Regelung schaffen, die
Ärztinnen und Ärzten ermöglicht, mit Fehlern offen umzugehen und sich selbst um Schadensbegrenzung und
Hilfe für die Betroffenen zu kümmern, dann haben letztlich alle etwas davon.
({11})
Es kann doch niemand wirklich wollen, dass langwierige
Schiedsverfahren geführt werden müssen, die nach
durchschnittlich 13 Monaten meistens ausgehen wie das
Hornberger Schießen, oder dass sich der Arzt und der
Patient in teuren Gerichtsverfahren gegenüberstehen, die
das dringend benötigte Vertrauensverhältnis vernichten
und an denen sich nur Anwaltskanzleien und Versicherungskonzerne eine goldene Nase verdienen. Deswegen
fordern wir als Linke eine verschuldensunabhängige
Entschädigung. Es ist doch absurd, wie viel Energie,
Zeit und Geld seitens der Ärzteschaft und ihrer Versicherungen darauf verschwendet werden, die Ansprüche der
Patientinnen und Patienten juristisch abzuwehren, statt
dieses Geld und diese Energie darin zu investieren, dass
es den Betroffenen möglichst schnell wieder besser geht.
({12})
Auch von einem verpflichtenden Fehlerregister
könnten alle Beteiligten profitieren; denn erst dann,
wenn alle Behandlungsfehler systematisch dokumentiert
werden, kann man sehen, wo besondere Risiken liegen
und wie man sie vermeiden kann. Aber hier knicken Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Antrag leider
wieder einmal vor der geballten Macht der Ärztelobby
ein, wenn Sie statt einer Verpflichtung nicht mehr fordern als die - ich zitiere - „Auflegung eines Programms
zur Förderung von Risikomanagement- und Fehlermeldesystemen …“. Das ist ganz schön, aber das reicht hinten und vorne nicht. Ich bin der Auffassung, dass uns
freiwillige Vereinbarungen auf diesem Feld nicht weiterhelfen.
({13})
Freiwillig machen so etwas nämlich nur diejenigen mit,
die sowieso besonders sorgfältig arbeiten und von sich
aus einen hohen Anspruch an ihre eigene Qualität haben.
Das ist so wie in der Schule: Die freiwilligen zusätzlichen Hausaufgaben machen immer nur die Kinder, die
keine zusätzlichen Übungen brauchen. Also: Fehlerregister her, aber bitte verpflichtend!
({14})
Es zeugt auch nicht wirklich von Ihrem Realitätssinn,
wenn Sie im Einleitungsteil Ihres Antrags erst einmal
feststellen, dass doch alles recht gut sei, und das alles auf
Ihre Regierungszeit zurückführen. Immerhin haben Sie
das Amt des bzw. der Patientenbeauftragten geschaffen. Das klingt schön, bringt aber wenig Konkretes.
Schließlich wird diese Person jeweils aus dem Kreis der
Regierungskoalition gewählt und vertritt dementsprechend auch deren Politik, auch gegenüber den Patientinnen und Patienten.
({15})
Wie mir berichtet wurde, beklagte sich zum Beispiel ein
Patient vor einigen Jahren bei Ihrer damaligen Patientenbeauftragten Kühn-Mengel über die unsozialen Auswirkungen von Praxisgebühr und Zuzahlungen. Als Antwort wurde ihm gesagt, er solle doch einmal nach
Ägypten fahren und sich die dortige Situation anschauen; dann würde er sehen, wie gut es uns doch hier
geht, auch den Leuten mit wenig Geld. So etwas ist doch
einfach nur zynisch.
({16})
- Das ist kein Schreiben gewesen, das ist ein Telefongespräch mit einem Mitarbeiter gewesen. Ich kann Ihnen
das aber schriftlich einreichen.
Einer solchen „patientenfreundlichen“ Haltung will
aber auch unser neuer Patientenbeauftragter, Herr Zöller
von der CSU, nicht nachstehen.
({17})
In der FAZ vom 30. November 2009 - das habe ich hier
vorliegen; das kann ich Ihnen direkt zeigen - wird er mit
den Worten zitiert, die Praxisgebühr könne abgeschafft
werden, da sich zu viele Patientinnen und Patienten davon befreien lassen könnten und sie deshalb den Krankenkassen zu wenig Geld bringt. Ach so, würden also
mehr Patientinnen und Patienten öfter und mehr Praxisgebühr zahlen, dann wäre der Patientenbeauftragte damit
zufrieden? Dann könnte man sie beibehalten? Das ist
eine Vertretung von Patienteninteressen, über die man
nur noch den Kopf schütteln kann.
({18})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es
ist gut, dass Sie jetzt ein Patientenrechtegesetz fordern.
Schade ist nur, dass Sie elf Jahre in der Regierung waren
und nichts davon auf den Weg gebracht haben. Erst kurz
vor der Bundestagswahl kam Ihre Arbeitsgruppe mit einem Positionspapierchen zum Thema Patientenrechte,
und erst jetzt, da Sie nichts mehr zu entscheiden haben,
legen Sie einen Antrag vor. Für mich verstärkt das leider
den Eindruck, den ich von Ihrer Arbeit habe. Sie haben
manchmal wirklich gute Ideen, die ich nur unterstützen
kann, aber sie werden nur dann in einem Antrag aufgegriffen, wenn Sie sicher sind, dass Sie diese ganz bestimmt nicht durchsetzen können.
({19})
Ich hoffe nur, dass Hannelore Kraft in NRW das ganz
anders macht, sonst wird sie nicht Ministerpräsidentin.
({20})
Das Wort hat nun Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die christlich-liberale Koalition ist
sich einig, dass das Wohl der Patientinnen und Patienten
im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht.
({0})
Wir stehen für Patientensouveränität und Patientenrechte. Genau so haben wir es in unserem gemeinsamen
Koalitionsvertrag festgehalten, und auch in dieser Sache
ziehen wir als Koalition gemeinsam mit dem Patientenbeauftragten an einem Strang.
({1})
Wir sind der Auffassung, dass die Versicherten in die
Lage versetzt werden sollen, ihre Rechte gegenüber
Krankenkassen und Leistungserbringern möglichst
selbstständig wahrzunehmen. Aus diesem Grund plädieren wir für eine unabhängige Beratung von Patienten auf
einer soliden rechtlichen Grundlage, um sie bei der
Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Transparenz und Orientierung im Gesundheitswesen über Qualität, Leistung und Preis.
({3})
Die Patientenrechte wollen auch wir in einem Patientenrechtegesetz bündeln. Das werden wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen erarbeiten. Der Patientenbeauftragte, Herr Zöller, hat
bereits angekündigt, dass er gemeinsam mit Bundesminister Rösler in parlamentarischen Gremien Vorschläge machen wird, wie wir auf der Basis des Bestehenden die unabhängige Beratung weiterentwickeln.
({4})
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie, Ihr Antrag kommt daher leider zu spät;
({5})
denn die Koalition arbeitet bereits an der Sache. Ich
kann Herrn Zöller nur beipflichten, wenn er sagt: Erst
mit den Beteiligten reden und dann gut und richtig handeln.
({6})
Der Patient hat einen hohen Stellenwert.
({7})
Doch wir dürfen auch die Leistungserbringer nicht vergessen,
({8})
die tagtäglich den Herausforderungen des Medizineralltags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechte
und eine Verbesserung der unabhängigen Patientenberatung dürfen nicht auf dem Prinzip des Misstrauens aufgebaut werden. Das ist mir ganz wichtig.
({9})
Meine Damen und Herren, bevor wir über die konkrete Ausgestaltung einer Gesetzesinitiative sprechen,
sollten wir uns über etwas ganz Grundsätzliches einig
werden: Das deutsche Gesundheitswesen braucht einen
Mentalitätswandel.
({10})
Die Wiederherstellung von Vertrauen und Fairness
muss für uns alle ganz oben stehen.
({11})
Ansonsten fressen Bürokratie, Misstrauen und überzogene Kontrollen unser Gesundheitssystem auf.
({12})
Wir werden deshalb Transparenz und Verständlichkeit
für Kosten und Leistungen verbessern. Die Kultur des
Misstrauens muss ein Ende haben, und zwar primär zum
Wohle der Patientinnen und Patienten.
({13})
Mit dem Aufbau eines bundesweiten Verbundes regionaler Beratungsstellen wurde das Modellvorhaben
„Unabhängige Patientenberatung“ erfolgreich umgesetzt. Als Schleswig-Holsteinerin kann ich Ihnen sagen,
dass wir mit der Verbraucherzentrale in Kiel einen sehr
guten Träger haben, der neutrale, professionelle und vor
allen Dingen unabhängige Beratung zu gesundheitlichen, medizinischen und rechtlichen Fragestellungen
leistet. Das ist vorbildlich. Wir müssen dafür sorgen,
dass das weitergeführt wird. An diesem Punkt müssen
wir ansetzen und eine für alle Beteiligten gute Lösung
erarbeiten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Antrag
der SPD kann uns an einigen wenigen Stellen sogar hilfreich sein; das muss ich sagen. Ich gestehe Ihnen zu: In
diesen sechs Seiten steckt wirklich sehr viel Fleiß.
({14})
Aber an den meisten Stellen überdrehen Sie doch merklich, zum Beispiel bei der Beweislastumkehr. Wir sind
uns doch wohl darüber einig, dass wir bei uns in
Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse haben
wollen.
({15})
An vielen Stellen wird Ihr Menschenbild deutlich, das
sich von dem unsrigen unterscheidet;
({16})
da gebe ich Frau Volkmer recht. Sie leiten die durchaus
berechtigten Ansprüche der Patienten quasi aus der Opferrolle ab. Das wird aber den Menschen nicht gerecht;
denn die Patienten sind per se eben nicht Opfer, Nörgler,
Benachteiligte oder Geschädigte, deren schwache PosiChristine Aschenberg-Dugnus
tion gegenüber der mächtigen Ärztelobby verteidigt werden muss.
Nein, meine Damen und Herren, Patienten und Ärzte
sind Partner.
({17})
Das ist so, und das muss auch so bleiben. Wir wollen den
souveränen, aufgeklärten Patienten, der seine Rechte
kennt und nutzt. Deshalb arbeiten wir an einer pragmatischen Regelung zur Stärkung der unabhängigen Patientenberatung. Deshalb arbeiten wir an einer Wiedergewinnung größtmöglichen Vertrauens zwischen Arzt und
Patient, zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger. Was wir aber auf jeden Fall verhindern werden,
ist der Aufbau weiterer Bürokratiemonster, die niemandem nützen.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr gespannt in diese
Debatte gegangen; denn im Vorfeld war relativ unklar,
wie sich die verschiedenen Fraktionen hier positionieren
werden. Das ist deshalb erstaunlich, weil wir im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP ein klares Bekenntnis zur Schaffung eines Patientenschutzgesetzes
finden. Von der SPD sind bereits am Ende der letzten
Legislatur Eckpunkte erarbeitet worden; jetzt liegt ein
beachtlicher Antrag vor. Die linke Fraktion hat in ihrem
Wahlprogramm keine einzige Aussage zu diesem Thema
gemacht; heute allerdings haben wir hier eine sehr
schneidige und pointierte Rede zu den Patientenrechten
gehört, in der die Interessenlagen Freund und Feind, Opfer und Täter ganz klar zum Ausdruck gekommen sind.
Insgesamt haben wir also eine erstaunliche Gemengelage, aus der wir allerdings den Schluss ziehen können:
Um die Patientenrechte müsste es in Zukunft eigentlich
gut bestellt sein; denn offenbar sind sich alle einig, dass
man bei diesem Thema vorankommen muss.
Diese Einigkeit scheint jedoch ein bisschen zu trügen,
wie man feststellt, wenn man einmal genauer betrachtet,
was hier gesagt worden ist. Es ist deutlich geworden,
dass CDU/CSU und FDP auf einem sehr schmalen Grat
der Einigung wandeln,
({0})
auf einer brüchigen Schneebrücke, die so wenig tragfähig ist, dass Herr Zöller große Mühe hat, darauf zu wandeln.
({1})
Das kann man daran erkennen, dass jetzt kurzfristig eine
Regelung für die Patientenberatungsstellen gefunden
werden muss. Auch das ist ein Thema, das im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Aber wir konnten auf einem parlamentarischen Abend, der gestern stattgefunden
hat, hören, dass man jetzt an irgendein Gesetz ganz kurzfristig einen Satz anhängen will, um die Überführung
des Modellprojektes in die Regelversorgung zeitgerecht
erreichen und die Arbeit aufrechterhalten zu können.
Das zeigt, wie wenig Unterstützung die Arbeit für den
Patienten in dieser Koalition tatsächlich findet.
({2})
Ich will aber gleichzeitig ausdrücklich loben, was
Herr Zöller bislang auf den Weg gebracht hat. Man erkennt Sorgfalt und Engagement. Aber der Rückhalt in
Ihren Reihen fehlt wie gesagt bei diesem Thema.
({3})
Sie werden diese Regelung nur ganz knapp hinbekommen können.
Der Rede von Frau Aschenberg konnte man auch
deutlich entnehmen, dass das Patientenrechtegesetz
sehr schmalbrüstig daherkommen wird. Es wird wahrscheinlich eine Minimalregelung geben, die das, was ohnehin in bereits existierenden Sozialgesetzen steht, zusammenschreibt.
({4})
Es wird wohl keine Weiterentwicklung geben. Ich jedenfalls entnehme das Ihren Vorbehalten sehr deutlich.
({5})
Wer so vollmundig von den Patientenrechten und dem
souveränen Patienten spricht, der muss sich auch an seinen Taten messen lassen. Da dürfen nicht nur Wahltarife
geschaffen werden, und es darf nicht nur von Eigenverantwortung gesprochen werden, sondern es muss eine
reelle Basis geschaffen werden, damit diejenigen, die
den letzten und schwächsten Part haben, nämlich die Patienten, in einer oftmals sehr schwierigen Situation die
Möglichkeit erhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Daran
werden wir Sie messen.
({6})
Ich bin sicher, hier steht Ihnen noch eine große Aufgabe
bevor.
({7})
Jetzt will ich noch auf das Verfahren insgesamt zu
sprechen kommen. Ich muss sagen, dass die SPD einen
sehr ernst zu nehmenden Antrag vorgelegt hat.
({8})
Ich finde, dass sämtliche Aspekte, die zu beachten sind,
darin gut aufgeführt sind. Aber an dem Antrag wird natürlich auch deutlich, dass noch viel Arbeit auf uns wartet. Es ist nämlich ziemlich komplex, ein Patientenrechtegesetz auf den Weg zu bringen, das nicht hinter den
Stand, den die ständige Rechtsprechung den Versicherten und Patienten ermöglicht hat, zurückfällt.
({9})
Wir müssen dafür sorgen, dass auch in rechtlicher Hinsicht ein geeignetes Forum geschaffen wird, um die Patientenrechte zu stärken. Das wird Arbeit machen und einen längeren Debattenprozess erfordern.
Ich möchte Herrn Zöller bitten, das ganze Verfahren
ein Stück weit zu öffnen und nicht den gleichen Fehler
wie die SPD-Patientenbeauftragte zu machen, die alles
im stillen Kämmerlein vorbereitet,
({10})
die Gesellschaft nicht mitgenommen und auch die anderen Fraktionen nicht einbezogen hat.
({11})
Wir müssen eine offene Diskussion führen. Es ist notwendig, die Stellung des Patienten in unserem Rechtssystem transparenter und tragfähiger zu gestalten. Das
steht noch aus.
({12})
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage: Was ist
derzeit eigentlich zu regeln? Man muss sagen, dass wir
gerade im Hinblick auf die Opfer von Behandlungsfehlern derzeit eine nicht tragfähige Situation vorfinden.
Erstens stellen wir fest: Die Datenlage ist ausgesprochen
schlecht; das wird Ihnen allen aufgefallen sein. Zweitens
stellen wir fest: Die Gerichtsverfahren dauern sehr
lange. Wir haben enorme Mühe, unabhängige Gutachter
zu finden. Wir haben enorme Mühe, die Rechte der Patienten in einer Form durchzusetzen, durch die sichergestellt wird, dass sie nicht schon am Anfang, nämlich bei
der Dokumentation und beim Nachweis von Sachlagen,
scheitern. Diese Situation können wir auf Dauer nicht
hinnehmen.
Man muss sagen: Die Durchsetzung von Patientenrechten gelingt bislang eigentlich nur den Gruppen, die
die Merkmale der großen Drei aufweisen: Sie sind entweder reich, rechtsschutzversichert oder risikofreudig.
({13})
Das darf heutzutage in einem modernen Rechtssystem
nicht die Grundlage der Patientenrechte sein.
({14})
Gleichzeitig muss man feststellen: In den letzten zehn
Jahren sind in der Tat einige Fortschritte erzielt worden,
die insbesondere durch die Grünen aktiv vorangetrieben
wurden; Frau Volkmer hat vorhin schon einige Punkte
angesprochen. Wir sind, auch was die Fehlerkultur betrifft, schon seit 2004 auf einem guten Weg. Beispielsweise haben wir Qualitätsmanagementprogramme auf
den Weg gebracht.
({15})
Unsere Zeitpläne sind allerdings sehr lang. Bis heute haben bestenfalls 20 Prozent der Krankenhäuser definitiv
Qualitätsmanagementsysteme eingeführt. In allen anderen Krankenhäusern fehlen diese weiteren Ausbaustufen noch. Hier muss natürlich noch einiges passieren.
Wir müssen unseren Anstrengungen in diesem Bereich
mehr Schubkraft verleihen, als es bislang der Fall war.
Bis heute sind diese Maßnahmen nach wie vor der
Selbstverwaltung überlassen. Wir müssen unsere Bemühungen auch in rechtlicher Hinsicht vorantreiben.
({16})
Zum Schluss will ich noch auf Folgendes hinweisen:
Es kann sein, dass diese Woche eine gute Woche für die
Patienten ist. Es ist möglich, dass die Absage an die
Kommission zur Gesundheitsreform durch Minister
Zöller - ({17})
- Vielleicht wäre das derzeit die bessere Wahl. - Unter
Umständen bedeutet die Absage an die Kommission zur
Gesundheitsreform durch Minister Rösler, dass Sie Ihre
Pläne in Sachen Gesundheitsreform tatsächlich ad acta
legen; das wäre ein guter erster Schritt. Der zweite gute
Schritt wäre, wenn Sie den Bereich der Patientenberatungsstellen noch vor den Sommerferien in einem Gesetz ordentlich regeln würden.
({18})
Drittens wäre es schön, wenn wir jetzt in eine wirklich
konstruktive und offene Diskussion über die Patientenrechte eintreten würden.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat nun Kollege Erwin Rüddel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte das Lob meiner Vorrednerin für den Patientenbeauftragten der Bundesregierung aufgreifen und
auch von meiner Seite ausdrücklich seine Arbeit loben
und ihm für die klare Positionierung für ein Patientenschutzgesetz danken.
Die christlich-liberale Koalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die Patientenrechte in einem eigenen
Patientenschutzgesetz zu bündeln. Der Patientenbeauftragte hat dies bereits betont: Wir wollen dies in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen
tun und im kommenden Jahr einen entsprechenden Entwurf vorlegen.
Im Mittelpunkt unseres Gesundheitswesens muss das
Wohl der Patientinnen und Patienten stehen.
({0})
Die Versicherten sollten möglichst selbstständig ihre
Rechte gegenüber Kassen und Leistungserbringern
wahrnehmen können. Deshalb soll die unabhängige Beratung der Patientinnen und Patienten verfestigt werden.
Das wichtigste Patientenrecht besteht im freien Zugang zu medizinischen Leistungen, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Abstammung und Einkommen. Freie Arztwahl und freie Krankenhauswahl sind
für eine vertrauensvolle Beziehung von Arzt und Patient
entscheidend. Wir wollen keine Bevormundung von Patienten, wir wollen keine Wartelisten. Wir wollen eine
qualitativ hochwertige Versorgung und keine Budgetierung. Damit die Patienten ihr Recht auf freie Arztwahl
nutzen können, brauchen wir aber auch künftig ein flächendeckendes Angebot medizinischer Leistungen. Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass eine Unterversorgung besonders in ländlichen Gebieten verhindert
wird. Auch dabei geht es um ein Patientenrecht, das wir
keinesfalls vernachlässigen dürfen.
({1})
Im Versorgungsatlas Rheinland-Pfalz der KV Rheinland-Pfalz wird zum Beispiel ausgeführt, dass sich nur
4 Prozent der rheinland-pfälzischen Medizinstudentinnen und -studenten vorstellen können, in einer bestimmten ländlichen Region des Landes tätig zu werden. Insofern haben wir hier eine wichtige Aufgabe vor uns. Die
CDU/CSU-Fraktion hat hierzu ein entsprechendes Eckpunktepapier vorgelegt. Wir werden das Problem lösen.
Wir brauchen vor allen Dingen mehr Transparenz bei
Leistungen und Preisen. Jeder Patient sollte wissen, was
seine Behandlung kostet und welche Leistungen der Arzt
oder das Krankenhaus mit den Kassen abrechnet.
({2})
Nur informierte Patienten sind mündige Patienten.
Deshalb wollen wir die unabhängige Beratung der Patientinnen und Patienten stärken und dazu das Modellvorhaben zur unabhängigen Verbraucher- und Patientenberatung verstetigen. Auch dies haben wir
bereits im Koalitionsvertrag festgelegt. Ehe die zweite
Modellphase der Unabhängigen Patientenberatung
Deutschland Ende dieses Jahres ausläuft, werden wir daher die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Weiterführung auf den Weg bringen. Wir werden den Patientenbeauftragten bei dem, was er angekündigt hat,
unterstützen, sodass dies auf jeden Fall vor der Sommerpause umgesetzt werden kann. Dabei wollen wir allerdings ein Ausschreibungsverfahren nutzen, das auch anderen als den bisher Beteiligten die Chance gibt, sich an
diesem Verfahren zu beteiligen.
({3})
Beim Stichwort „Patientenrechte“ denken viele Menschen unwillkürlich an mögliche Behandlungsfehler.
Deshalb möchte ich auf einen Aspekt eingehen, den ich
für höchst bedeutsam halte.
Herr Kollege, gestatten Sie zuvor eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler von der Linksfraktion?
Bitte.
Herr Kollege Rüddel, Sie haben gerade eindrucksvoll
geschildert, was die Koalitionsfraktionen planen, um die
unabhängige Patientenberatung in Deutschland fortzuführen. Ist Ihnen bekannt und bewusst, dass eine Ausschreibung immer erhebliche Laufzeiten erfordert, um
wirklich fair zu sein? Ist Ihnen auch bewusst, dass die
existierenden Beratungsstellen an langfristige Arbeitsund Mietverträge gebunden sind, dass wirklich ein großer Zeitdruck besteht, wenn wir den Trägerorganisationen dieser Stellen und den Menschen, die dort arbeiten,
Gewissheit darüber geben wollen, ob sie in der nächsten
Ausschreibung zum Zuge kommen? Wie kann man nach
Ihrer Vorstellung dieses Dilemma überwinden? Sie haben sechs Monate lang nichts getan, und jetzt muss alles
auf einmal ganz schnell gehen. Ich muss sagen: Es überzeugt mich wirklich nicht.
({0})
Uns ist wichtig, dass wir die Patientenberatung stärken. Uns ist wichtig, dass die Kompetenz, die in diesen
Beratungsstellen vorhanden ist, für die Patientenberatung gesichert wird.
({0})
Wir werden einen Weg finden, um diesen Menschen die
Perspektive zu geben, dass die Patientenberatung gestärkt in das neue Jahr gehen wird. Dafür stehen wir.
({1})
Ich möchte auf das Themenfeld Behandlungsfehler
zurückkommen: Es darf uns in erster Linie nicht um
mehr Bürokratie gehen, es darf uns auch nicht darum gehen, den Ruf nach dem Staatsanwalt zu fördern und
möglichst viele Patienten möglichst misstrauisch zu machen, sondern es muss uns um eine neue Sicherheitskultur gehen. Das aber heißt vor allem: Fehler vermeiden
und Fehlern vorbeugen. Ein wirkungsvolles Fehlerberichtssystem, ein Fehlermeldeprogramm, das rechtzeitig auf Risiken hinweist und vermeidbare Fehler verhindert, dient den Patienten ungleich mehr und hilft ihnen
viel wirkungsvoller als sämtliche Maßnahmen, um bereits gemachte Fehler zu verfolgen und zu ahnden.
({2})
Mit anderen Worten: Es soll uns primär nicht um die
Jagd nach vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen gehen, sondern um die Vorbeugung und um die Verhinderung von Fehlern; denn Fehler, die gar nicht erst entstehen, sind allemal besser als nachträgliche Streitigkeiten
und Gerichtsverfahren.
({3})
Ich sehe sowohl im Klinikbereich als auch bei den
Hausarztpraxen sowie bei der Pflege und der Altenbetreuung vielversprechende Ansätze, gerade solche Portale im Internet aufzubauen, die Risiken und Fehlermeldungen registrieren, um andernorts genau solche Risiken
und Fehler von vornherein auszuschließen. Der möglichst flächendeckende Ausbau dieser Netzwerke sollte
deshalb ein zentraler Baustein eines künftigen Patientengesetzes sein.
Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich die
Pionierarbeit des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit“ hervorheben. Wenn wir es schaffen, Krankenhäuser,
Ärzte, Pfleger und Altenbetreuung an ein wirkungsvolles
Meldesystem anzubinden und so flächendeckende Risikovorbeugung zu betreiben, dann haben wir für die Patientinnen und Patienten mehr erreicht als durch noch so
ausgeklügelte Sanktionsdrohungen.
Auf der anderen Seite wollen wir die Stellung der
Opfer eines Behandlungsfehlers wirkungsvoll stärken.
Patientinnen und Patienten haben einen Anspruch darauf, in jeder Hinsicht auf Augenhöhe behandelt zu werden. Sie haben ein Recht darauf, dass Vorwürfe wegen
Behandlungsfehlern in einem transparenten und zügigen
Verfahren geklärt werden. Je komplexer und bürokratischer das Gesundheitswesen wird, desto eher ziehen die
Versicherten den Kürzeren. Lange Bearbeitungszeiten
bei Widersprüchen und bei Gerichtsverfahren wegen des
Verdachts auf Behandlungsfehler machen die Versicherten mürbe und gefährden - ganz unnötig - das Vertrauen
in unser Gesundheitssystem, das im internationalen Vergleich unverändert als vorbildlich gelten darf. Hier werden wir mit dem Entwurf für ein Patientengesetz konkrete Maßnahmen vorschlagen, um auch in diesem
Bereich mehr Klarheit und Transparenz zu schaffen und
der möglichen Verunsicherung von Patientinnen und Patienten entgegenzuwirken.
({4})
Dazu werden wir unter anderem ganz konkret über
Beweiserleichterungen vor Gericht nachzudenken haben. Um die Schwelle für Ratsuchende in solchen Fällen
zu senken, könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, dass
wir eine zentrale bundesweite Rufnummer einrichten,
über die sich Ratsuchende direkt mit dem für ihre Region zuständigen Ansprechpartner in Verbindung setzen
können.
({5})
Über all diese Fragen werden wir in den kommenden
Monaten intensiv zu beraten haben. Wenn ich mir den
vorliegenden SPD-Antrag anschaue, komme ich nicht
umhin, die Kolleginnen und Kollegen davor zu warnen,
das gemeinsame Vorhaben eines Patientengesetzes mit
Dingen zu überfrachten, die im Ergebnis nur zu weiterer
Bürokratisierung oder gar zu Lähmungserscheinungen
im Gesundheitswesen führen.
({6})
Es sollte uns in erster Linie darum gehen, die Interessen aller Beteiligten zu einem möglichst gerechten Ausgleich zu führen. Deshalb sollten wir auch tunlichst ohne
ideologische Scheuklappen versuchen, gemeinsam die
Rechte der Patientinnen und Patienten zu stärken und
unser Gesundheitssystem damit noch besser und noch
transparenter zu machen.
({7})
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst muss ich hier noch einmal auf die Vorgängerin von Herrn Zöller im Amt des Patientenbeauftragten zu sprechen kommen, Frau Kühn-Mengel. All
das, was Frau Klein-Schmeink sagte, ist bis auf eine Einschränkung richtig gewesen: Frau Kühn-Mengel hat immer versucht, im System die Betroffenen in die Gespräche mit einzubinden. Sie hat keine Politik hinter
verschlossenen Türen gemacht. Ich kenne sie sehr gut.
Sie hat mit allen diskutiert, im Übrigen auch mit Mitgliedern der Fraktion der Grünen. Sie ist nicht gescheitert,
weil ihr der Rückhalt in den eigenen Reihen fehlte, Herr
Zöller, sondern ihr fehlte damals der Rückhalt in der Regierung,
({0})
bei der Union, genau wie Ihnen jetzt der Rückhalt fehlt.
So verhält es sich.
({1})
Vorhaben sind damals nicht an Ihnen gescheitert, Herr
Zöller. Wir kennen uns gut, ich habe Ihre Arbeit immer
geschätzt. Aber Sie sehen doch jetzt selbst, wohin die
Reise geht. Sie haben es gerade beim Vorredner wieder
hören können: Es wird vor Sanktionen gewarnt, es fällt
der Begriff „Bürokratie“. Von der Kollegin von der FDP
wird zwar gesagt, der Patient sei der Partner, aber seien
wir doch ehrlich miteinander: Was ist denn der Patient
für die FDP? Für die FDP ist der Patient - das wissen Sie
doch so gut wie ich - der Kunde; der Facharzt und der
Apotheker dagegen sind die eigentlichen Partner.
({2})
- So ist es aber. - Von daher ist es auch zu verstehen,
dass Herr Winn die FDP daran erinnert, dass sie 2 Prozentpunkte ihres Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl den Fachärzten verdankt. Somit ist doch klar: Von
diesen werden Ihnen die Preise diktiert und wird Ihnen
vorgegeben, wie weit Sie bei der Durchsetzung der Patientenrechte gehen dürfen.
({3})
Die FDP wollte doch sogar auf einem Parteitag eine Einkommensgarantie für Fachärzte beschließen.
({4})
Vom Patienten war da keine Rede.
Herr Zöller, bei allem Respekt: Sie sagen, Sie hätten
für dieses wichtige Thema Rückhalt von der Regierungsbank. Ja, Herr Zöller, wo ist denn der Minister heute bei
der Debatte über dieses wichtige Thema? Er ist nicht
einmal da. Die Wahrheit ist doch, dass sich das der Minister gar nicht anhört.
({5})
- Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. - Frau Ministerin Schavan hat sich löblicherweise für diese Diskussion interessiert. Aber sind wir doch ehrlich: Für den Minister ist dieses Thema nicht wichtig genug. Da wir nur
über die Patientenrechte und nicht über Kopfpauschale
sprechen, kommt der Minister nicht. So sieht die Priorisierung aus, wie wir sie mittlerweile kennengelernt haben.
({6})
Herr Zöller, rufen Sie sich einmal in Erinnerung: Wer
war denn damals dagegen, das Amt, das Sie heute bekleiden, überhaupt einzurichten? Die FDP hat doch damals davor gewarnt, einen Patientenbeauftragten zu benennen. Das Amt, das Sie jetzt bekleiden, gäbe es gar
nicht, wenn die FDP schon damals regiert hätte. Es gehört zur Ehrlichkeit, hier einmal festzuhalten, dass die
FDP alles unternommen hat, damit dieses Amt erst gar
nicht eingerichtet wird.
({7})
Seien Sie gewiss: Wenn Ihnen hier etwas gelingt, wird
die Umsetzung an uns nicht scheitern. Wir werden Sie
bei allem, was Sie tun, unterstützen.
({8})
Es ist auch richtig, hier Richterrecht - die Materie ist
ja tückisch - in Bundesrecht zu gießen. Diese Rechtssicherheit zu schaffen, hat einen hohen Wert, da gebe ich
Ihnen recht. Aber ich möchte Sie daran erinnern: Zum
Schluss wird es daran scheitern, dass Ihnen - wie damals
Frau Kühn-Mengel der Rückhalt in der Union fehlte der Rückhalt in den eigenen Reihen und insbesondere
bei der FDP einschließlich des Ministers fehlt.
({9})
Ihre Rede hat mich in diesem Glauben noch einmal
bestärkt. Von Ihnen ist kein einziger konkreter Vorschlag
gekommen, wie man die Patientenrechte umsetzen
könnte.
({10})
Ihre Rede war der Beweis dafür.
({11})
Ich komme zum Schluss.
({12})
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf das
von Ihnen nicht gern gehörte Thema Kopfpauschale zu
kommen.
({13})
Ich weiß, dass Sie darauf gewartet haben. Wir können
dankbar sein, dass Sie heute überhaupt hier sein können,
normalerweise hätte die Regierungskommission getagt,
({14})
aber sie ist mit der abenteuerlichen Begründung abgesagt worden, Herr Singhammer, dass die Vorschläge so
konkret wären, dass man es sich nicht leisten könne,
diese konkreten Vorschläge durch Indiskretion in der
Kommission der Öffentlichkeit zuzuführen. Das ist absurd.
({15})
Wer hat hier im Haus schon einmal eine blödere Argumentation gehört? Der Pressesprecher, Herr Lipicki, ist
zugegen. Was bedeutet das? Hat der Minister nicht die
Autorität, für Vertraulichkeit zu sorgen, oder sind die
Vorschläge so schlecht, dass sie der Öffentlichkeit nicht
zugemutet werden können?
({16})
Meine profane Vermutung ist: Der Minister hat nichts.
Er steht mit blanken Händen da und hält stur an der
Kopfpauschale fest.
({17})
Am Ende wird es der Kopfpauschale so gehen wie der
Steuersenkung: Sie wird in einem Nebensatz der Bundeskanzlerin versenkt werden.
({18})
Das Wort hat nun Dr. Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Lauterbach, im Gegensatz zu Ihnen werde ich nicht über
die Kopfpauschale sprechen,
({0})
sondern über Ihren Antrag zum Patientenschutzgesetz.
Niemand bestreitet ernsthaft die Notwendigkeit eines
Patientenschutzgesetzes. Die Regierungsparteien haben
sich im Koalitionsvertrag für die Einführung ausgesprochen;
({1})
denn die bisher zersplitterten Regelungen sollen gebündelt werden, um es den Patienten leichter zu machen,
ihre Rechte zu erkennen und auszuüben.
Manche Forderungen des Antrags, den wir heute debattieren, sind schon längst anerkannt oder nicht wirklich
ernsthaft streitig. Das gilt vor allem für die Zusammenfassung von Regelungen, die heute auf Haftungsrecht,
Sozialversicherungsrecht und ärztliches Berufsrecht verteilt sind. Das gilt auch für den Vorschlag eines besseren
Fehlermeldesystems, das auch sogenannte Beinahefehler
einschließt. Dabei ist jedoch entscheidend, dass das System Anonymität wahrt und nicht zu weiterer Bürokratie
führt; denn das Meldesystem wird nur dann Erfolg haben, wenn es Mediziner oder Menschen in Heilberufen
motiviert, an ihm mitzuarbeiten.
({2})
Fehlermanagement muss freiwillig und sanktionsfrei
bleiben, damit Klinikärzte und niedergelassene Ärzte in
der erforderlichen Weise mitwirken. Wir dürfen nicht
vergessen: Die Zahl der Behandlungsfehler bewegt sich
im Promillebereich. Durch ein umfassendes Register für
den stationären wie den ambulanten Sektor wäre es einfacher, die Anzahl der Fälle festzustellen, die Bereiche
zu benennen, in denen sie am häufigsten vorkommen,
und Gerichten und Schiedsstellen dabei zu helfen, mehr
Transparenz in ihre Entscheidungen zu bringen.
Rechte von Patienten sind allerdings weniger durch
die Ärzteschaft gefährdet als durch die zunehmende Bürokratisierung und Reglementierung ärztlicher Leistungen.
({3})
Bei uns, Frau Vogler, stehen Patienten nicht am Ende der
Nahrungskette,
({4})
sondern bei uns sind Ärzte und Patienten Partner; denn
die einen wollen gesund werden und die anderen wollen
ihnen dabei nach bestem Wissen und Gewissen zur Seite
stehen.
({5})
- Da ist eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Sie haben vorhin vor der zunehmenden Bürokratie
gewarnt. Stimmen Sie mit mir überein, dass ein großes
Hindernis für die Opfer von Behandlungsfehlern dann
besteht, wenn die ärztliche Dokumentation von Fällen
nicht wirklich vollständig ist, sodass sich da einiges verbessern muss, was ja, je nachdem, wie Sie Bürokratie
beschreiben, dazu führt, dass die Dokumentationspflichten natürlich ausgeweitet werden müssen?
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, es ist ja schon
heute so geregelt, dass dann, wenn Dokumentation nicht
vorliegt oder unvollständig ist, eine Beweislastumkehr
eintritt. Wenn Sie im Gesundheitsbereich tätig wären,
dann wüssten Sie, dass man heute mehr Zeit damit verbringt, zu dokumentieren, Zettel auszufüllen, als sich
dem Patienten zu widmen.
({0})
Fachgerechte Behandlung nach dem jüngsten Stand
der medizinischen Erkenntnis ist für mich als Arzt
ebenso selbstverständlich wie für meine Patienten. Entscheidend sind offene Gespräche zwischen allen Beteiligten und Transparenz. Ein Patientenschutzgesetz, das
ein modernes Arzt-Patienten-Verhältnis fördert und zu
Aufklärung und Ehrlichkeit auf beiden Seiten motiviert,
wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Lassen Sie mich jetzt einige Aspekte des SPD-Antrages aufgreifen, denn in einigen Punkten schießt er über
das Ziel hinaus.
Die Stärkung der Opfer von Behandlungsfehlern ist
fraglos ein entscheidendes Anliegen im Patientenschutz.
Im Bereich der groben Behandlungsfehler gibt es bereits
Beweiserleichterungen zugunsten der Patienten. Im Bereich sonstiger Behandlungsfehler können jedoch nicht
alle Fälle über einen Kamm geschoren werden. Hier
sollte in jedem Einzelfall über die Beweislage entschieden werden.
In diesem Zusammenhang warne ich noch einmal vor
einer übermäßigen Bürokratie durch noch weiter ausufernde Dokumentationspflichten. Selbstverständlich
müssen die derzeitigen Vorschriften in Kliniken und Privatpraxen erfüllt werden. Deren Ausweitung kann jedoch auch nicht im Sinne der Patienten sein. Eine effiziente und zeitintensive Behandlung wird leiden, wenn
zu den aktuellen Aufbewahrungs- und Berichtspflichten
noch weitere Anforderungen hinzukommen. Zusätzliche Dokumentationspflichten sind im Bereich der Patientenrechte fehl am Platz.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volkmer?
Ja.
Ich frage Sie, an welcher Stelle Sie gelesen haben,
dass Dokumentationspflichten ausgeweitet werden sollen.
Letztendlich wollen Sie auf alles
({0})
noch eines draufsetzen. Sie wollen eine umlagefinanzierte Versicherung, um die Behandlung solcher Behandlungsfehler finanzieren zu können, obwohl das alles
schon durch die Arzthaftpflicht geklärt ist. Das alles bedeutet Organisation und Verwaltung. Sie wollen einen
Fonds einrichten, aus dem die Behandlung von Behandlungsfehlern finanziert werden soll. Das ist doch alles
mit Verwaltung, Aufwand und Bürokratie verbunden.
({1})
Ihr Antrag geht ja in die richtige Richtung. Das Problem
ist aber, dass Sie überall noch etwas draufsetzen und das
Ganze erschweren, verkomplizieren und verteuern.
({2})
Die SPD fordert des Weiteren mehr kollektive Beteiligungsrechte der Patienten in Bundes- und Landesgremien. Hier ist Vorsicht geboten. Über ein Stimmrecht in
Verfahrensfragen könnte man reden. Ein volles Mitbestimmungsrecht kann aber nicht für alle Gremien verfügt
werden, da hier ein spezielles und besonderes Fachwissen notwendig ist. Es führt zu nichts, wenn Ärzte und
Heilberufe durch eine grundsätzlich sinnvolle Patientenbeteiligung unter Druck geraten und sich ein höherer
Aufwand in der Verwaltung einstellt.
({3})
Ich betone nochmals: Kooperation, Transparenz und
die Schaffung von Vertrauen sind die Gebote der Stunde.
Dann wird ein Patientenschutzgesetz seinen Zweck erfüllen und die Situation der Patientinnen und Patienten
weiter verbessern.
({4})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
muss sagen: Die Rede von Herrn Kollegen Zöller hat
mich ein Stück weit enttäuscht. Wenn sich jemand wie
Herr Zöller, der schon sehr lange in der Gesundheitspolitik unterwegs ist bzw. diese macht - ich habe seine Sachkenntnis in den letzten vier Jahren in der Großen Koalition kennen und schätzen gelernt -, dahinter versteckt,
dass man erst einmal noch alles erfahren müsse, alles
eruieren müsse, um Zeit zu gewinnen und erst im nächsten Jahr etwas vorzulegen, ist das ein bisschen dürftig;
das muss ich ganz ehrlich sagen.
({0})
Es ist dürftig, weil viele von uns in ihren Sprechstunden mit den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder von
entsprechenden Fällen erfahren; diese werden dem Patientenbeauftragten in vielfacher Weise, aber auch uns
vorgetragen. Wir kennen die größten Problemlagen;
nicht alle, aber die größten. Herr Zöller hat das auch in
den Punkten, die er konkret benannt hat, deutlich gemacht. Er scheint ja doch zu wissen, wo es mangelt und
wohin man muss. Das zeigt mir hinsichtlich dieser Koalition wieder einmal: Im Koalitionsvertrag steht eine
wunderbare Passage, aber wenn es darum geht, diese mit
Leben zu füllen und konkret zu machen, gibt es das übliche Geeiere, dann besteht keine Einigkeit. Um die Uneinigkeit zu übertünchen,
({1})
versucht man, Zeit zu gewinnen. Das machen Sie schon
die ganze Zeit zur Maxime Ihrer Gesundheitspolitik,
nicht nur im Bereich der Patientenrechte, sondern in allen Bereichen.
({2})
Das drückt sich auch darin aus, dass innerhalb von
acht Monaten bisher noch kaum eine Initiative aus dem
Gesundheitsministerium gekommen ist.
({3})
Wir haben jetzt Eckpunkte zum Thema Arzneimittel gesehen. Eckpunkte für die Kopfpauschale waren für
heute angekündigt. Offenbar ist der Minister von höchster Stelle zurückgepfiffen worden. Die Kommission, die
eingesetzt worden ist, ist zur Farce geworden. Ich kann
jedes Mitglied, das sich der Kommission noch zugehörig
fühlt, nur bedauern. Ich kann allen empfehlen, sie zu
verlassen; denn zu entscheiden hat diese Kommission
sowieso nichts.
({4})
Die Tatsache, dass ein Konzept ganz dicht nach dem
9. Mai 2010 plötzlich fertig ist, zeigt, dass man offenbar
wieder eines im Sinn hatte: über den 9. Mai zu kommen.
Jetzt hat die FDP ein desaströses Wahlergebnis bekommen.
({5})
Die Union scheint sich jetzt allmählich Gedanken zu machen. In dieser Woche war nachzulesen, dass Herr
Singhammer darauf hingewiesen hat, dass es in erster
Linie darauf ankommt, sich die Ausgaben noch einmal
anzuschauen, bevor man ein Kopfpauschalensystem etabliert, das weder finanzierbar noch gerecht ist und vor
allen Dingen, wenn man das Stichwort Bürokratie zurate
zieht, alles andere als unbürokratisch ist.
({6})
- Eines ist sicher, Frau Flach: Schwarz-Gelb ist in Nordrhein-Westfalen mit Karacho abgewählt worden. Wer
das noch nicht erkannt hat, hat Tomaten auf den Augen.
({7})
Ich möchte noch etwas zur Unabhängigen Patientenberatung sagen. Es ist gut, dass es sie gibt, und es ist
gut, dass sie fortgeführt wird. Ich kann jetzt nur davor
warnen - es heißt, dass noch vor der Sommerpause verbindliche und verlässliche Klarheit darüber geschaffen
werden soll, dass die Unabhängige Patientenberatung
weitergeführt wird; wir unterstützen das -, das Thema
mit irgendwelchen Ausschreibungen zu befrachten;
diese halte ich persönlich für nicht notwendig. Denn
welchen Sinn hat eine Ausschreibung, wenn dadurch
bewährte Trägerschaften mit bewährten und erfahrenen
Beraterinnen und Beratern - bei mir in Saarbrücken
macht die Verbraucherzentrale zusammen mit dem VdK
diese Beratung - in noch größere Unsicherheit getrieben
werden? Ich sehe überhaupt nicht, dass eine Ausschreibung erforderlich ist. Es geht schließlich nicht um irgendwelche Profitorganisationen, sondern es geht um
Beratungsstellen. Insofern rate ich Ihnen: Machen Sie
lieber noch einmal eine Übergangsregelung, die dazu
führt, dass die Berater und Beraterinnen die Sicherheit
haben, über das Jahresende hinaus in den Beratungsstellen arbeiten zu können. Machen Sie lieber im zweiten
Gang noch einmal die Diskussion darüber auf, was noch
ergänzt werden muss, und darüber, ob eine Ausschreibung notwendig ist oder nicht.
Ich glaube, dass wir eine gute Diskussionsgrundlage
für ein Patientenrechtegesetz geliefert haben. Bei uns
stehen die Patienten und Patientinnen im Mittelpunkt.
Das bedeutet, dass man ihnen zu ihrem Recht verhelfen
muss. Zur Not - das sage ich hier auch - muss die Dokumentation vollständiger sein als heute; denn es kann ja
wohl nicht sein, dass die Patientinnen und Patienten, die
schlecht behandelt worden sind, es in Zukunft noch
schwerer haben, zu ihrem Recht zu kommen, weil Ihnen
der Bürokratieabbau wichtiger ist.
Zum Abschluss gestatten Sie mir bitte noch eine Bemerkung: Bei allen Schwierigkeiten, die viele im Gesundheitswesen haben, ist festzustellen: Die überwiegende Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überwiegende
Zahl der Krankenpfleger und der Krankenschwestern sowie der anderen Leistungserbringer macht einen tollen
Job. Sie engagieren sich sehr für die Patienten und sorgen dafür, dass es ihnen besser geht und sie gesunden.
({8})
Trotzdem müssen wir zu einer anderen Einstellung
kommen, wenn es darum geht, über Fehler offen reden
zu können und sie offenzulegen;
({9})
denn vielfach brauchen die Angehörigen von Patienten,
die durch einen Behandlungsfehler verstorben sind,
nicht mehr als Gewissheit, vielfach nicht mehr als eine
Entschuldigung. Dass Menschen Fehler machen, wissen
alle.
({10})
Insofern wären wir, glaube ich, gut beraten, das Thema
ernst zu nehmen, zügig voranzubringen und nicht, wie
offenbar geplant, auf die lange Bank zu schieben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns in dieser
17. Legislaturperiode heute erstmals in einer Plenarsitzung ausführlich und im Rahmen eines gesonderten Tagesordnungspunktes mit dem Thema Patientenrechte.
Die Partner der christlich-liberalen Koalition, CDU/CSU
und FDP, wollen die Patientenrechte in einem eigenen
Gesetz bündeln und dieses Gesetz in Zusammenarbeit
mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten erarbeiten.
Der Patientenbeauftragte, Wolfgang Zöller, hat vorhin
seine Ankündigung wiederholt, dass wir seine Eckpunkte
({0})
für ein Patientenrechtegesetz bis Ende 2010 erwarten
können.
Es ist deshalb gut, wenn wir uns über den Stand der
Dinge austauschen und über den Handlungsbedarf, den
wir sehen, sprechen. Aber wir sollten dabei nicht mit
zweierlei Maß messen. Frau Ferner, ich finde, es ist mit
zweierlei Maß gemessen, wenn Sie Zeitverzögerungen
beklagen - Sie werfen Herrn Zöller sein Bemühen vor,
auf Grundlage einer sorgfältigen Debatte, die notwendig
ist, im Rahmen eines sehr ehrgeizigen Zeitplans zu einem Gesetzentwurf zu kommen -, da sie selbst in der
vorletzten Legislaturperiode, als Rot-Grün regiert hat,
Ihr Vorhaben, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu
verabschieden, aufgegeben haben. Sie haben damals gesagt: Wir erarbeiten eine Patientencharta. Das war eine
Initiative von Frau Schmidt und Frau Däubler-Gmelin.
Es steht Ihnen ja frei, dem heute zu widersprechen und
Ihre Meinung um 180 Grad zu drehen, aber dann sollten
Sie die Untätigkeit, die Sie damals an den Tag gelegt haben, nicht anderen vorwerfen.
({1})
Das Gleiche gilt doch auch für die letzte Legislaturperiode. Sie haben davon gesprochen, wie viel Frau
Kühn-Mengel erarbeitet hat. Aber, verehrte Frau Ferner,
verehrter Herr Lauterbach, es ist doch nicht so, dass die
SPD diese Eckpunkte, die Konklusion aus der Arbeit
von Frau Kühn-Mengel, in der letzten Legislaturperiode
zu irgendeinem Zeitpunkt in den Meinungsbildungsprozess der Koalition eingespeist hat. Von Ihnen hat es in
der letzten Legislaturperiode keinen Vorschlag für ein
Patientenrechtegesetz gegeben, keine Aufforderung an
die CDU/CSU, darüber konkret zu debattieren.
({2})
Deswegen finde ich, dass Sie mit zweierlei Maß messen,
wenn Sie jetzt Kritik daran üben, wie die Koalition vorgeht.
Ich finde es übrigens auch nicht korrekt, wie Sie mit
Minister Rösler umgehen. Nach meinem Kenntnisstand
- ich habe mich erkundigt - ist Minister Rösler heute bei
einer Veranstaltung des Deutschen Bundestages, wo er
über die Gesundheit junger Menschen diskutiert, ein
Thema, das er mit Recht ernst nimmt.
({3})
Auch dieses Thema hat viel mit Patientenrechten zu tun.
({4})
Da sollte man nicht so beckmesserisch auftreten, wie Sie
das tun.
Eine korrekte ärztliche Berufsausübung verlangt von
uns Ärztinnen und Ärzten - Sie wissen, dass ich zu dieser Profession gehöre -, dass wir beim Umgang mit Patientinnen und Patienten deren Würde und ihr Selbstbestimmungsrecht respektieren, ihre Privatsphäre achten,
über die beabsichtigte Diagnostik und Therapie - gegebenenfalls über Alternativen - und über die Beurteilung
ihres Gesundheitszustandes in einer für die Patientinnen
und Patienten verständlichen, angemessenen Sprache informieren und insbesondere das Recht respektieren,
empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen abzulehnen,
({5})
dass wir Rücksicht auf die Situation der Patientinnen
und Patienten nehmen, dass wir bei Meinungsverschiedenheiten sachlich und korrekt bleiben, dass wir Mitteilungen der Patientinnen und Patienten die gebührende
Aufmerksamkeit entgegenbringen und Kritik der Patienten sachlich begegnen.
Die Übernahme und Durchführung der Behandlung
erfordert die gewissenhafte Ausführung der gebotenen
medizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztlichen Kunst. Dazu gehört, dass wir, wenn die eigene
Kompetenz zur Lösung der Aufgabe nicht ausreicht,
rechtzeitig andere Ärztinnen und Ärzte hinzuziehen bzw.
die Patientin oder den Patienten zur Fortsetzung der Behandlung rechtzeitig an andere Ärztinnen und Ärzte
überweisen, dass wir dem Wunsch von Patientinnen und
Patienten nach Einholung einer zweiten Meinung entsprechen und dass wir die Berichte, die die mit- oder
weiterbehandelnden Ärztinnen und Ärzte brauchen, zeitgerecht erstellen.
Diese Grundsätze ärztlicher Berufsausübung sind Teil
der Berufsordnungen, die die Landesärztekammern als
untergesetzliches Recht auf der Grundlage des Heilberufsrechts der jeweiligen Bundesländer beschlossen haben; sie sind für die Ärztinnen und Ärzte verbindlich.
Wir alle wünschen uns, dass diese Grundsätze nicht nur
für den Umgang zwischen Ärzten und Patienten gelten,
sondern in entsprechender Form auch die anderen Berufe, Dienste und Einrichtungen binden, die für Patientinnen und Patienten tätig sind.
Ich will noch einmal auf das Modell der partnerschaftlichen Kooperation zurückkommen, das eben
schon von der FDP-Fraktion angesprochen worden ist.
Die Frage war: Was für eine Partnerschaft soll das sein?
Prominente Autoren wie der Kölner Rechtswissenschaftler Professor Katzenmeier sprechen im Zusammenhang
mit der Arzt-Patienten-Beziehung von einem therapeutischen Arbeitsbündnis. Richtig: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verlangt vom Arzt, den Kranken an
den Entscheidungsprozessen - so schwierig das ist - zu
beteiligen. Er hat sich mit dem Patienten über Krankheit
und Behandlung zu verständigen. Das führt dazu, dass
nicht ein von außen diktierter Behandlungsstandard vollzogen wird - gewissermaßen ohne innere Begegnung -,
sondern dass in persönlicher ärztlicher Unabhängigkeit
eine individuelle Begegnung und Behandlung stattfindet, bei der, wie Katzenmeier es ausdrückt, die Wertewelt des Gegenübers Beachtung und Eingang findet.
Eine solche echte Partnerschaft setzt voraus, dass
nicht einseitig Pflichten auf einer Seite gesehen werden,
sondern dass ein gemeinsames Anliegen definiert wird.
Ärzte und Patienten haben ein gemeinsames Anliegen.
Deswegen ist - das finde ich jedenfalls - von dem Patienten zu erwarten, dass er Heilung nicht in einer Konsumentenhaltung als zu liefernde Reparaturleistung erwartet, nach dem Motto - Verbraucherkontext -: Ich bin
der Kunde. Der Patient hat auch selbst Verantwortung
für seine Gesundheit und Gesundung. Der Arzt hat ein
Recht darauf - zumindest ein Anrecht -, dass der Patient
diese Haltung als seine Pflicht begreift.
Übrigens hat auch die Solidargemeinschaft einen Anspruch darauf, dass der Patient dieses Mitwirken als
seine Pflicht begreift, und das ist auch im Sozialgesetzbuch so geregelt.
({6})
Herr Präsident, wenn Sie mögen, wäre ich, falls Frau
Klein-Schmeink fragen möchte, bereit, zu antworten.
({7})
Wenn Sie mich schon so herzlich dazu einladen, dann
bin ich allergnädigst bereit, das zuzulassen. - Bitte
schön.
Ich bedanke mich sehr.
Da habe ich ja Glück. - Herr Henke, ich möchte Sie
fragen: Ist es so, dass Sie in einem Patientenrechtegesetz
tatsächlich die Pflichten eines Patienten zur Mitwirkung
an einer Behandlung formulieren wollen?
Ich bin hocherstaunt darüber, was Sie hier vorhaben
und worüber Sie jetzt gerade reden,
({0})
weil ich gedacht habe, dass wir hier im Saal bislang darüber geredet haben, wie wir den Patienten innerhalb
dieses Verhältnisses stärker machen können. Sie reden
jetzt ja mehr darüber, welche Pflichten Sie ihm auch
noch auferlegen wollen.
({1})
Erstens gibt es keine Rechte ohne Pflichten.
Zweitens sprechen wir ja, Frau Klein-Schmeink, über
den Antrag der SPD-Fraktion. In diesem Antrag der
SPD-Fraktion findet sich manches Richtige, etwa die
Aussage:
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den
Schutz von Patientinnen und Patienten in Deutschland sind im internationalen Vergleich gut.
Richtig ist auch diese Aussage:
Das deutsche Arzthaftungsrecht ist verglichen mit
anderen Ländern patientenfreundlich.
Daneben findet sich aber auch folgende Aussage: Wir
möchte gerne, dass wir über eine vielleicht nicht ganz
vollständige, aber doch über eine Beweislastumkehr reden.
Bei der Erörterung der Beweislastumkehr, ist, so
finde ich, der Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses
ein sehr wesentlicher Punkt. Wir können die Frage, ob
die Beweislastumkehr richtig oder falsch ist, nicht beantworten, ohne uns über den Charakter des Arzt-PatientenVerhältnisses Aufschluss gegeben zu haben; denn eine
defensive Medizin, bei der zur Vermeidung von Haftungsansprüchen darauf verzichtet wird, dringend notwendige Operationen oder dringend notwendige Eingriffe durchzuführen, sondern erst einmal abgewartet
wird, auch wenn der Eingriff für den Patienten sinnvoll
wäre, kann ja in niemandes Interesse liegen, weder in
dem des Patienten noch in dem des Arztes. Deswegen
glaube ich, dass dieses therapeutische Arbeitsbündnis,
von dem ich ja schon sprach, notwendig ist.
Ich leite aus dem Leitbild des therapeutischen Arbeitsbündnisses ab, dass wir mit der Beweislastumkehr
in solchen Fällen sehr zurückhaltend sein müssen, in denen der Arzt notwendigerweise, wenn er den Patienten
schonend versorgt, kaum in der Lage sein wird, Beweise
dafür anzutreten, dass er nicht schuldhaft einen erwünschten Erfolg nicht geliefert hat.
Ich finde, das muss man en détail diskutieren. Man
kann es sich hier nicht ganz so einfach machen wie die
SPD in ihrem Antrag. Das war der Grund dafür.
({0})
Möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantworten, Herr Kollege?
Ja, von mir aus - wenn es Herr Lauterbach ist, dann
gerne.
({0})
Sie haben eben hinsichtlich der Verträge der Bundesärztekammer und der Landesärztekammern eloquent
vorgetragen, und Sie haben vorgetragen, wie Sie sich - Rudolf Henke ({0}):
Nicht Verträge.
Ja, die Abmachungen bzw. die Vereinbarungen.
Nein, es geht um die Berufsordnung. Das ist untergesetzliches Recht, das von den Aufsichtsbehörden der
Bundesländer genehmigt und auf der Basis von Heilberufsgesetzen erlassen wurde, die der Landesgesetzgeber
verabschiedet hat und wofür er die Kompetenz in Anspruch nimmt, die Sie hier im Bundestag für sich auch
beanspruchen.
Ja, das will ich ja nicht in Abrede stellen. Ich fasse
nur Ihre Rede zusammen.
({0})
Sie haben uns vorgetragen, wie sich die Ärztekammern die Patientenrechte vorstellen und wie die Ärzte
besser gegen überbordende Patientenrechte zu schützen
sind. Der Eindruck, der sich mir hier aufdrängt, ist, dass
Sie damit die Arbeit von Herrn Zöller nicht leichter machen werden, weil ich bisher nicht einen einzigen Satz
dazu gehört habe, wie Sie die Patienten und nicht die
Ärzte stärken wollen, Herr Henke.
({1})
Nun zu meiner Frage: Wo ist in Ihrem Beitrag der
Punkt, mit dem den Patienten und nicht den Ärzten geholfen werden würde?
Ich glaube, dass es unsere primäre Sorge sein muss,
nicht Misstrauen in diesem Bündnis zu erzeugen. Wir
haben hier von allen Fraktionen gehört, dass sie den in
Gesundheitsberufen tätigen Menschen - übrigens nicht
nur den Ärzten, sondern auch den Pflegekräften, den
Krankenschwestern und denen, die sonst an den Leistungen in den Krankenhäusern mitwirken - für ihre Arbeit
danken, weil sie ihre Arbeit ganz überwiegend in Ordnung leisten.
({0})
Diese Aussage hat doch auch Frau Volkmer getroffen.
Deswegen meine ich, dass wir uns, wenn wir über das
Thema Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern diskutieren - das ist Ihr Vorschlag zur Stärkung der Patientenrechte -, Aufschluss geben müssen, ob das nicht in
der Konsequenz zu mehr Misstrauen und defensivem
Verhalten führt und die partnerschaftliche Beziehung
zerstören würde.
({1})
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gespräche, die
Herr Zöller hat, dazu führen, dass wir uns auseinanderentwickeln. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir eine
gewisse Skepsis gegenüber dem Vorschlag einer Beweislastumkehr durchaus teilen. Das ist jedenfalls mein
bisheriger Eindruck.
Lassen Sie uns diese Debatte offen führen. Nehmen
Sie nicht jedes Wort von jemandem, der einer anderen
Fraktion angehört, gleich zum Anlass dafür, ihm irgendetwas Schlechtes zu unterstellen! Das ist nämlich Ihre
Methode.
({2})
Das ärgert mich; denn es führt weg von der sachlichen
Auseinandersetzung.
Ich wollte nur vermeiden, dass allzu viel Gewicht auf
eine materielle Änderung des Rechts gelegt wird und darin der Kernzweck des Patientenrechtegesetzes gesehen
wird; denn es geht doch zumindest auch um eine Bündelung des Rechts. Wenn ich Frau Volkmer richtig verstanden habe, dann hält sie diese Bündelung deswegen für
notwendig, weil sie dafür sorgt, dass das Recht klarer,
transparenter und einfacher anwendbar wird und dass
Umsetzungsdefizite leichter zu vermeiden sind. Insofern
sollten Sie vielleicht einmal Ihre unterschiedlichen Auffassungen klären.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, der Patient hat
Anspruch auf eine individuelle, an seinen Bedürfnissen
ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Er hat Anspruch auf die freie Arzt- und Krankenhauswahl, auf
Transparenz, Wahrung des Patientengeheimnisses und
die Solidarität der Gesellschaft. Er hat auch Anspruch
auf eine in diesem Sinne solidarisch gestaltete und mit
ausreichender Finanzkraft versehene Krankenversicherung. Er hat Anspruch auf ein bürgernahes Gesundheitswesen, und er erwartet mit Recht Fürsorge und Zuwendung.
Wenn die Debatte um das Patientenrechtegesetz einen
Beitrag dazu leistet, Impulse für die Umsetzung dieser
Rechte zu geben, dann können wir jedem dankbar sein,
der dazu seinen Beitrag leistet, allen voran dem Patientenbeauftragten, dem Kollegen Zöller.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/907 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j,
33 l bis 33 o sowie Zusatzpunkt 5 auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Staatsvertrag vom 16. Dezember 2009 und
26. Januar 2010 über die Verteilung von Versorgungslasten bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln
- Drucksache 17/1696 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Insel Man zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von im internationalen Verkehr tätigen Schifffahrtsunternehmen
- Drucksache 17/1697 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Insel Man über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch
- Drucksache 17/1698 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 26. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Guernsey über den
Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/1699 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 13. August 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Gibraltar über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Auskunftsaustausch
- Drucksache 17/1700 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. September 2009 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums
Liechtenstein über die Zusammenarbeit und
den Informationsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/1701 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 2008 über die Änderung des Vertrags vom 11. April 1996 über die
Internationale Kommission zum Schutz der
Oder gegen Verunreinigung
- Drucksache 17/1702 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Betriebsprämiendurchführungsge-
setzes und des Agrarstatistikgesetzes
- Drucksache 17/1703 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-
Verbotsgesetzes und zur Änderung des See-
fischereigesetzes
- Drucksache 17/1704 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhebung von Daten zu der Versorgung mit
Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen
- Drucksache 17/1587 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel
Knoerig, Albert Rupprecht ({8}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. Martin
Neumann ({9}), Dr. Peter Röhlinger, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Brücken bauen - Grundlagenforschung durch
Validierungsförderung der Wirtschaft nahe
bringen
- Drucksache 17/1757 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({11}), Jan van Aken, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Abschaffung der Wehrpflicht
- Drucksache 17/1736 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({13}), Tom Koenigs, Marieluise Beck
({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einigkeit über die Definition des Tatbestandes
des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut
erzielen
- Drucksache 17/1767 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Atomausstieg beschleunigen - Strommarkt
zukunftsfähig entwickeln
- Drucksache 17/1766 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Marktengpässe bei flüssiger Biomasse
- Drucksache 17/1750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 81 zu Petitionen
- Drucksache 17/1590 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 81 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 82 zu Petitionen
- Drucksache 17/1591 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 82 ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 83 zu Petitionen
- Drucksache 17/1592 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 83 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
- Drucksache 17/1593 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 84 ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 85 zu Petitionen
- Drucksache 17/1594 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 85 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
- Drucksache 17/1595 4256
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 87 zu Petitionen
- Drucksache 17/1596 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
der SPD und der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 88 zu Petitionen
- Drucksache 17/1597 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen
- Drucksache 17/1598 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD
und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Nunmehr rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auseinandersetzung in der Koalition zur
Haushaltskonsolidierung
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Steffen Bockhahn von der Fraktion Die Linke das Wort.
({27})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Zeiten der Krise darf man von einer Regierung eines erwarten: ein Konzept. Aber was
sind die Tatsachen? „Koalition konfus“. Besser kann
man es nicht ausdrücken.
({0})
Erst verzichten Sie freiwillig auf Einnahmen, indem Sie
Geschenke für Reiche und Superreiche und für Spender
des Wahlkampfes machen, und dann stellen Sie fest,
dass Sie kein Geld haben.
({1})
Was ist Ihre Antwort darauf? Wahnsinnige Streichlisten von scheinbar nicht mehr ganz bewussten Politikerinnen und Politikern in Ihrer Fraktion!
({2})
Wie kann man denn auf die Idee kommen, dass es zukunftsgerichtet sei, wenn man heute an einer Zukunftsinvestition spart, wie sie besser nicht sein könnte? Wenn
man heute an Bildung spart, dann investiert man nicht in
die Zukunft, dann macht man nichts Gutes, sondern dann
würgt man sich selbst eine gute Zukunft ab. Das ist genau der falsche Weg, meine Damen und Herren.
({3})
Um Folgendes auch gleich zu sagen: Es heißt immer,
wir müssten heute mit unseren Finanzen aufpassen und
dürften den Schuldenberg nicht noch größer machen,
weil wir ihn künftigen Generationen aufbürden. Nun
nehme ich jetzt einmal für mich in Anspruch, eher Teil
der kommenden Generationen zu sein als jemand, der
diese Schulden aufgehäuft hat.
({4})
- Ja, das kann man so und so sehen. Ich wünsche Ihnen
aber, dass ich Teil der kommenden Generationen bin.
Aber das mögen Sie sicherlich nicht teilen.
({5})
- Vor allen Dingen der politischen, danke.
Wie kann man auf die Idee kommen, dass es richtig
sei, sich jetzt so zu strangulieren? Wie kann man auf die
Idee kommen, dass es richtig sei, jetzt einfach kein Geld
mehr in der Hoffnung auszugeben, dass dies kommenden Generationen helfen würde? Das ist genau der falsche Weg; denn das Geld, das Sie heute nicht ausgeben,
führt zu Entwicklungen, die in der Zukunft zu steigenden Kosten führen werden. Dies führt uns tiefer in die
Krise, und das ist etwas, was wir genau nicht brauchen.
Wir brauchen jetzt Konjunkturprogramme, wir brauchen
etwas, was für die Zukunft dieses Landes gut ist. Dazu
gehören Bildung und Kinderbetreuung, meine Damen
und Herren.
({6})
- Herr Schirmbeck, ich bin mir sehr sicher, dass Sie vielen Frauen dabei helfen, Kinder zu bekommen; aber das
ist hier nicht das Thema.
({7})
Es geht vielmehr darum, wie man die Gesellschaft für
Kinder attraktiv machen kann, wie man Kindern, die in
dieser Gesellschaft leben, beste Entwicklungsperspektiven bieten kann. Darüber müssen wir sprechen. Wenn
dann ein hessischer Ministerpräsident sagt, der KitaAusbau, der gesetzlich verankert ist und einen Anspruch
darstellt, müsse geschoben werden, dann ist dies erstens
sozialpolitisch kreuzgefährlich, weil es wieder diejenigen trifft, die auf die 150 Euro Herdprämie angewiesen
sind, anstatt dass sie ihr Kind in eine Kindertageseinrichtung schicken. Es führt zweitens dazu, dass die Kinder
aus sozial benachteiligten Familien wieder zu Opfern
von Bildungsarmut werden. Genau das kann doch nicht
der Weg sein. Es ist noch schlimmer, wenn gerade aus
Hessen ein solcher Vorschlag kommt; denn Hessen gehört bekanntermaßen eher zu den wohlhabenden Ländern. Vielleicht könnte man es in Hessen noch selber regeln. Aber in Bremen, Schleswig-Holstein oder anderen
strukturschwachen Flächenländern wird es dann umso
schwieriger, den notwendigen Kita-Ausbau voranzutreiben. Wenn Herr Koch trotzdem das in seine Vorschläge
einbezieht, dann handelt er grob fahrlässig und sicher
nicht im gesamtdeutschen Interesse.
({8})
Natürlich kann er jetzt stolz vorangehen und sagen,
dass er es ernst meint; denn er hat die Mittel für die
Hochschulen im eigenen Land um 30 Millionen Euro
gekürzt. Aber genau das ist doch der Wahnsinn. Wenn
Deutschland eine Zukunft als starker Standort haben
möchte, dann brauchen wir Innovation sowie Forschung
und Entwicklung. Das geht nicht ohne gute Bildung und
ohne gute Hochschulen. Ich habe vor noch nicht allzu
langer Zeit selbst an einer Hochschule studiert. Ich kann
Ihnen sagen, dass es kein Vergnügen ist, wenn man mit
150 Leuten in einem Grundkurs sitzen muss, weil Personal und Räume fehlen. Die Universitäten in Deutschland
sind nicht ausreichend ausgestattet. Wir brauchen mehr
Geld für Bildung und Forschung und nicht weniger.
({9})
Es ist grob fahrlässig, wenn Sie heute durch die Welt
laufen und sagen: Wir müssen streichen. - Es geht Ihnen
gar nicht um das Sparen. Man spart nämlich, wenn man
etwas übrig behält. Sie wollen streichen. Das ist etwas
anderes. Es ist wichtig, diesen Unterschied festzuhalten.
Wenn Sie schon streichen, dann schauen Sie sich wenigstens an, was etwas für die Zukunft bringt und was
nichts bringt. Es mag Ihnen eigenartig vorkommen,
wenn ich Ihnen das jetzt sage, aber: Investitionen in die
Atomenergie sind keine zukunftsweisenden Maßnahmen.
({10})
Investitionen in Rüstungsmittel sind keine zukunftsweisenden Maßnahmen. Was wirklich etwas bringt, sind Investitionen in Bildung, Forschung und soziale Gerechtigkeit. Das stärkt Deutschland und hilft allen, mit
Sicherheit nicht ein konzeptionsloses Sparen. Diese Regierung sollte einen Plan haben. Sie hat aber keinen. Das
ist ganz armselig.
({11})
Nächster Redner ist Steffen Kampeter, der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium.
({0})
Herr Kollege Bockhahn, Ihre Rede hat deutlich gemacht: Es ist gut, dass Hessen von einer christlich-liberalen Koalition und nicht von Ihnen regiert wird.
({0})
Ich bedanke mich für diese Aktuelle Stunde, gibt sie mir
doch die Möglichkeit, Ihnen die Haushaltspolitik der
Bundesregierung einmal darzulegen. Ich bitte die Zuschauerinnen und Zuschauer, sich nicht mit den Diffamierungen des Vorredners aufzuhalten.
({1})
Die derzeit laufenden Arbeiten und Diskussionen bei
der Vorbereitung des Haushaltes 2011 und der mittelfristigen Finanzplanung sind Ausdruck des ernsthaften Willens der christlich-liberalen Koalition, einen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen und eine
zukunftsorientierte Haushaltspolitik zu machen. Dass
die Einhaltung der neuen Schuldenregel ab dem Jahr
2011 und die Rückkehr zu den zulässigen MaastrichtKriterien allerdings kein leichter Weg ist, ist, glaube ich,
allen Beteiligten klar. Das heißt, die notwendigen Veränderungen werden spürbar sein und werden sich - das
zeigt die Erfahrung - zweifelsohne nicht ohne Widerspruch durchsetzen lassen. Dabei befinden wir uns, verglichen mit anderen Volkswirtschaften, beispielsweise
mit der Griechenlands, noch in einer komfortablen Situation. Die ganze Welt schaut jetzt auf unser Land.
({2})
Sie schaut auf die Fiskalpolitik des wirtschaftlich stärksten Landes innerhalb der Europäischen Union. Eine erfolgreiche Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiges Signal an die Märkte und ein Garant für den Fortbestand
der europäischen Währungsunion. Die jetzt angelaufenen Stabilisierungsmaßnahmen für Griechenland und
der in dieser Woche in der Beratung befindliche EuroRettungsschirm können nur dann ihre Wirkung voll entfalten, wenn die Haushaltskonsolidierung in der Bundes4258
republik Deutschland - allerdings gemeinsam mit allen
anderen Ländern - ernsthaft weiterbetrieben wird.
Experten analysieren, dass Kapital aus hoch verschuldeten Staaten mit niedrigen Wachstumsraten abgezogen
wird und in niedrig verschuldete Staaten mit hohen
Wachstumsraten investiert wird. Das zeigt den politischen Gestaltungsauftrag für die Fiskalpolitik und die
Wachstumspolitik in der Bundesrepublik. Wir müssen
uns wieder sehr viel stärker um eine niedrigere Verschuldung und um höhere Wachstumsraten in der Bundesrepublik Deutschland kümmern. Das ist der Anspruch der
christlich-liberalen Koalition. Daran werden wir uns
messen lassen.
({3})
Der Bundeshaushalt und der jetzt aufzustellende Finanzplan stellen einen Wendepunkt dar. Im Rahmen der
laufenden Haushaltsaufstellungsverfahren müssen wir
den Ausstieg aus den konjunkturstützenden Maßnahmen
finden und zum Konsolidierungskurs zurückkehren. Es
ist richtig: International war vereinbart, 2009 und 2010
die Konjunktur durch eine Schuldenaufnahme zu stützen. Es ist aber auch vereinbart worden, dass wir ab
2011 das Wachstum nicht mehr durch Schulden finanzieren, sondern die Kräfte, die einen sich selbst tragenden
Aufschwung ermöglichen, mobilisieren. Das ist eine
Herkulesaufgabe, insbesondere wenn man bedenkt, wo
wir jetzt stehen.
Der Haushalt 2010 ist der Haushalt mit der höchsten
Nettokreditaufnahme in der Finanzgeschichte unseres
Landes. Allein die konsumtiven Ausgabenblöcke - Soziales, Zinsausgaben, Personalausgaben - machen derzeit drei Viertel des gesamten Bundeshaushalts aus. Sie
sind weitgehend durch gesetzliche Vorgaben bzw. durch
Rechtsverpflichtungen gesetzt. Zudem - das muss man
in aller Klarheit sagen - hat die vorgelegte Steuerschätzung nicht den erhofften Spielraum für weitere entlastende Maßnahmen gebracht. Im Gegenteil: Wir werden
in den kommenden drei Jahren zusätzlich 18 Milliarden
Euro Steuermindereinnahmen zu verkraften haben.
Etwas grundsätzlicher formuliert: Haushaltsdisziplin
ist die Voraussetzung für den Erhalt politischer Gestaltungsfähigkeit. Länder, die dies nicht beherzigen, werden wegen stark steigender Zinsausgaben und ihrer
mangelnden Kreditwürdigkeit dieser politischen Handlungsfähigkeiten beraubt. Unsere Konsolidierungsstrategie, die nicht auf das nächste Jahr beschränkt ist, erhält
diesen politischen Handlungsspielraum und ermöglicht
aktives Handeln in der Zukunft. Das ist das haushaltspolitische Kredo der christlich-liberalen Koalition.
({4})
Haushaltsdisziplin ist auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit; denn alles, was wir heute unterlassen,
schränkt die Handlungsfähigkeit zukünftiger Generationen ein. Es gilt der Satz: Auf Schuldenbergen können
keine Kinder spielen. - Das müssen wir auch bei unseren
politischen Entscheidungen mit berücksichtigen.
({5})
Im internationalen Kontext gilt: Nur wer selber Vorbild ist, kann auch von anderen Staaten Haushaltsdisziplin verlangen. Politische Führung gründet eben auch
in Europa auf die Voraussetzung solider Haushaltspolitik. Lassen Sie mich deswegen feststellen: Die Behauptung, dass gute Politik sich ausschließlich durch hohe
Ausgaben oder gar durch hohe Schulden definiert, ist
veraltetes Denken. Eine aufgeklärte und moderne Haushalts- und Finanzpolitik weiß, dass das Ergebnis von
Politik vielmehr von der Wirkmächtigkeit der eingesetzten Mittel abhängt. Was wir aus dem Geld machen, ist
doch die eigentliche Gestaltungsaufgabe. Kluge Politik
kommt daher in manchen Bereichen auch mit weniger
Geld aus. Das werden wir in dieser Legislaturperiode
wagen. Das ist der Anspruch unserer Haushaltspolitik.
({6})
So ist Haushaltspolitik zu verstehen, und es müssen auch
ein Stück weit Strukturen infrage gestellt werden. Das
hat mehr mit Klugheit als mit Kürzungen zu tun.
({7})
Das machen wir. Für die zukünftigen Haushaltsjahre gilt
ein dezidiertes Ausgabenmoratorium. Zur Erinnerung:
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag unter dem
Stichwort „generationengerechte Finanzen“ goldene Regeln aufgestellt.
({8})
Alle Aufgaben- und Ausgabenbereiche sind kritisch zu
hinterfragen. Zusätzliche Maßnahmen müssen solide gegenfinanziert werden. Letztlich stehen die Maßnahmen
des Koalitionsvertrags unter einem Finanzierungsvorbehalt.
({9})
Das macht deutlich, dass wir uns auch weiterhin kritisch
mit den Strukturen unseres Haushalts beschäftigen müssen. Wir müssen genau hinschauen, wo es Ineffizienzen
gibt und wo wir mit dem eingesetzten Geld nicht die von
uns gewünschten politischen Ziele erreichen.
({10})
Was können wir auch angesichts eines sich verändernden finanzwirtschaftlichen Umfelds besser machen? Wo
- auch das muss man aufzeigen - besteht ordnungspolitischer Handlungsbedarf? Ich nenne beispielsweise das
staatliche Handeln. Die Finanzkrise hat die Nachfrage
nach mehr Staat steigen lassen. Wir als christlich-liberale Koalition wissen aber: Ein totaler Staat kann nicht
die Antwort auf die gesellschaftlichen und wirtschaftliParl. Staatssekretär Steffen Kampeter
chen Herausforderungen sein. Wir brauchen zwischen
Markt und Staat wieder eine normalisierte Aufgabenteilung in einer sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
({11})
Wir werden und müssen uns also mit den Strukturen
des Bundeshaushalts sehr kritisch beschäftigen. Wir
müssen genauer hinschauen. Das bedeutet sechs Wochen
intensive Arbeit. In einem ersten Schritt haben wir in
diesen Tagen die Ressorts aufgefordert, bei den sogenannten Flexibilisierten Ausgaben ihre Vorstellung zu
Einsparungen darzulegen. Wir werden in einer Haushaltsklausur in Vorbereitung auf den Kabinettsbeschluss
Ende Juni/Anfang Juli weitere Maßnahmen besprechen.
Wir wissen um die Notwendigkeit, solide zu haushalten.
({12})
Klar ist: Nur wer seinen eigenen Haushalt in Ordnung
hält, der ist für die Aufgaben der Zukunft gewappnet.
Die christlich-liberale Koalition ist für diese Zukunft gewappnet.
({13})
Das Wort hat nun Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kampeter, das war sozusagen die Vorlesung über
Kampeters Glaubenssätze.
({0})
Wenn Sie das als Gastdozent an der Uni anbieten, dann
bin ich sicher, dass beim zweiten Mal keiner mehr kommen wird, Herr Kampeter, weil hinterher zwar alle Honig im Gesicht haben, aber keinen Erkenntniszuwachs.
({1})
Wir wollen an dieser Stelle wissen: Was gilt denn
nun? Wir wollen nicht irgendwelche goldenen Fäden gesponnen haben und auch nichts von goldenen Glaubenssätzen hören. Wir wollen wissen: Was ist die Haushaltsprämisse? Wo soll es langgehen? - Roland Koch hat
gesagt: Bei der Bildung soll gespart werden. Die Kanzlerin hat erklärt: Bildung ist Cheffinnensache. Daher veranstaltet sie einen Bildungsgipfel nach dem anderen.
Deshalb sage ich: Hic Rhodus, hic salta! Was gilt denn
nun, Herr Kampeter? Gilt nun, dass die CDU-Ministerpräsidenten, vornean Roland Koch, diese Bundesregierung am Nasenring durch die Republik führen, Merkel
immer hinterher? Oder gibt diese Bundesregierung die
Haushaltspolitik des Bundes vor? Dazu haben Sie kein
einziges Wort gesagt, Herr Kampeter.
({2})
Wir haben erhebliche Zweifel, ob überhaupt noch etwas kommt. Ihre allgemeinen Ausführungen von Glaubenssätzen bestärken mich in meinen Zweifeln. Dass
Roland Koch seine Äußerungen direkt nach dem 9. Mai
und dem für die CDU desaströsen Wahlergebnis in
Nordrhein-Westfalen - nämlich ein Minus von 10 Prozentpunkten - gemacht hat, ist doch eine Kampfansage.
Da muss man doch sagen, was gilt. Ich sehe: Merkel ist
eine Kanzlerin ohne Rückhalt. Merkel ist ohne Rückhalt
in der Union und ohne Rückhalt in der Koalition. Dass
sie auch ohne Rückhalt in Europa ist, haben wir in diesen Tagen schon gemerkt.
({3})
Sie sind angetreten, um, wie mit dem Koalitionspartner vereinbart, die Steuern zu senken. Dieses Vorhaben
ist nun gestrichen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was die
FDP will. Das Ergebnis, von einer Ein-Punkt-Partei zu
einer Null-Punkte-Partei, bringt keinen Erkenntnisgewinn.
({4})
Also wende ich mich an Sie. Was gilt denn? Das wissen
wir in keinem Bereich. Bei der Atompolitik machen Sie
es vor: Söder, die Lichtgestalt der deutschen Politik,
({5})
hat gesagt, Röttgen habe kein Konzept. Gut, dass er sich
gemeldet hat. Mappus aus einem großen Flächenland
fordert den Rücktritt des Umweltministers. Koch sagt:
Wenn du, Angela Merkel, nicht führst, dann führe ich. An dieser Stelle wird man doch einmal fragen dürfen,
wer jetzt führt und wohin die Reise gehen soll.
({6})
Gilt die moderne CDU, oder erlebt seit dem 9. Mai das
Tiefschwarze der CDU aus dem Süden dieser Republik
seinen zweiten Frühling und tritt wieder stärker hervor?
Wir sagen: Wir wollen wissen, wo es langgehen soll.
Ich will Ihnen auch sagen, warum wir fragen. Roland
Koch hat schon einmal die Bildungspolitik in diesem
Lande bestimmt.
({7})
Ich war in der Föderalismuskommission I dabei, in der
Stoiber und Müntefering Vorschläge vorgelegt haben.
Diese wurden im Bundesrat in der Leipziger Straße spät
nachts bei einer Sondersitzung von Koch ausgebremst.
Er stand kurz vor Mitternacht wütend auf und sagte: Mit
uns geht das nicht! Er hat die Vorschläge in ihre Einzelteile zerlegt. Sein Vorschlag war, die Kompetenz für die
Bildung komplett an die Bundesländer zu übergeben und
ein Kooperationsverbot zu verhängen. Der Bund darf
den Kommunen in der Bildungspolitik also nie beistehen. Wir haben schon damals gesagt, dass das noch einmal unser Untergang wird, weil das die zentrale Aufgabe
der Bildungspolitik zunichtemacht, die eigentlich solidarisch angegangen werden müsste.
({8})
Frau Merkel hat sich damals mit Blick auf eine potenzielle Kanzlerschaft nicht getraut, den Ministerpräsidenten der CDU in die Parade zu fahren; stattdessen hat sie
an der Stelle einen Kotau gemacht und die Ministerpräsidenten machen lassen. Aber wenigstens jetzt muss
sie zeigen, dass sie einen Hintern in der Hose hat, indem
sie sagt: Ihr wolltet es, also macht es und finanziert es
auch! - Das erwarte ich von dieser Koalition.
({9})
Sie machen Rosstäuschertricks und veranstalten einen
Bildungsgipfel nach dem anderen, bei denen nichts herauskommt. Nachher kommen auch noch Roland Koch
und der Koordinator der Bildungspolitik der CDU, Herr
Tillich, Ministerpräsident von Sachsen, und reißen alles,
auch das 10-Prozent-Ziel, das Sie früher, um sich selber
zu loben, wie eine Monstranz durch die Republik getragen haben, wieder ein.
Ich will jetzt wissen, was gilt. Auch die Hessinnen
und Hessen wollen das wissen. Nehmen wir einmal das
Beispiel Hessen. Fast 8 Prozent der Kinder dort haben
keinen Schulabschluss, und es fehlen 23 000 Betreuungsplätze. Da geht es um Chancengerechtigkeit, darum,
dass es allen Kindern gleich gut geht, dass sie sich
gleichermaßen entwickeln können. Es geht um Geschlechtergerechtigkeit; denn auch Frauen sollen später
erwerbstätig sein können. Letztlich geht es auch um eine
wirtschaftspolitische Frage.
({10})
Wir wissen, dass es nicht einfach ist, zu sparen. Ich
hätte von Herrn Kampeter erwartet, dass er das einmal
sagt. Abbau ökologisch schädlicher Subventionen, weg
mit dem Steuerprivileg für Dienstwagen, weg mit dem
Betreuungsgeld, Abschmelzen des Ehegattensplittings,
ran an die Mehrwertsteuer, die Lobbyliste abarbeiten,
wobei man mit der Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen anfangen kann ({11})
wer Mut hat, an diesen Stellen etwas zu verändern,
bringt damit zum Ausdruck: Gute Bildung ist eine wichtige Ressource, in die klug investiert werden muss,
({12})
weil das zu mehr Gerechtigkeit führt und unserer Wirtschaft hilft.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Satz. - Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern; aber es gab einmal einen Koalitionsvertrag mit
dem Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“. Dass
Sie sich beim Thema Zusammenhalt gut auskennen in
der Koalition, wissen wir alle; deshalb müssen wir das
nicht weiter ausführen. Die Republik hat schon lange genug davon. Vielleicht könnten Sie wenigstens einmal
versuchen, beim Thema Bildung für jedes Kind in diesem Land haushalterisch eine Marge vorzugeben, und
einen Bildungssoli seitens des Bundes fordern, um in jedes Kind zu investieren.
({0})
Das würde das Land nach vorne bringen. Dazu wollen
wir eine Aussage haben.
({1})
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von
den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ist eine Aktuelle Stunde beantragt worden. Ich habe bisher nicht erkennen können, warum sie überhaupt beantragt worden
ist.
({0})
Ich konnte bisher nur Polemik vernehmen. Der Kollege
Bockhahn von den Linken fragt: Wie kann man auf die
Idee kommen, an Bildung zu sparen? Auch ich finde
manches nicht gut, was Herr Koch sagt. Aber ich bin
froh, dass Herr Koch nicht die Liste des Berliner Senats
abgeschrieben hat; denn da gibt es plötzlich Lotteriespiele, die darüber entscheiden, ob man einen Platz in
der Schule bekommt. Ähnliches gilt für die Feuerwehr
usw.
({1})
Schauen Sie sich die lange Liste des Berliner Senats, an
dem Sie beteiligt sind, einmal an. Dazu haben Sie kein
Wort gesagt.
Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der mir sehr
wichtig und zudem erfreulich ist. Gestern hat, was auch
in einigen Medien eigentlich nur eine Randnotiz war, der
Schleswig-holsteinische Landtag - ich komme aus
Schleswig-Holstein - mit den Stimmen der Koalition
von CDU und FDP, aber auch mit den Stimmen einiger
Oppositionsfraktionen,
({2})
nämlich Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und
die dänische Minderheit SSW, als erstes Landesparlament die Schuldenbremse beschlossen. Das finde ich
ausgesprochen erfreulich. Dass die Linken da nicht mitgemacht haben, kann ich verstehen. Ich sage auch,
warum ich das erfreulich finde: Es zeigt, dass es bei
Haushaltsberatungen - das wünsche ich mir auch für den
Bundestag - nicht mehr darum geht, wer die besten Anträge hat und wer sich wie noch steigern kann, sondern
darum, dass man in einen Wettbewerb eintritt in der
Frage, wo effizient und vernünftig gekürzt oder wie der
Haushalt eines Landes saniert werden kann.
({3})
Das ist endlich einmal ein Wettbewerb, der mir und vermutlich auch den Bürgern gefällt. Ich bin jedenfalls froh.
Dass natürlich Herr Stegner gleich sagt, Streichungen
gebe es mit der SPD nicht, stattdessen seien Steuererhöhungen notwendig, ist seine Sache; damit müssen die
Sozialdemokraten fertigwerden.
({4})
Aber in einem Punkt sind wir uns doch einig: Angesichts
der Verschuldung, an der viele mitgewirkt haben, sollte
man überlegen, wie wir von diesen Schulden wieder herunterkommen. - Ich sage gleich noch etwas zu den Sozialdemokraten, die elf Jahre an der Regierung waren. Niemand - keine Regierung, kein Parlament, keine Partei, auch nicht Eltern oder Großeltern - hat das Recht,
Schulden aufzunehmen, die Generationen, die noch gar
nicht geboren sind, begleichen müssen. Das ist das Entscheidende. Darum müssen wir uns kümmern.
({5})
Vorhin kam der Zuruf, wir würden die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durchführen. Ich sage Ihnen: Das haben die Sozialdemokraten
getan. Es handelte sich um eine Größenordnung von
mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr. Sie haben dieses
Geld nicht nur ausgegeben, sondern Sie haben es dreimal ausgegeben und mussten trotzdem noch Schulden
aufnehmen. Das und nichts anderes war Ihre Politik.
({6})
Meine Damen und Herren, ich bin seit langem der
Auffassung - das besagen auch die Steuerschätzungen -:
Dieser Staat hat genug Geld. Er geht teilweise nur nicht
vernünftig damit um. Wir werden deshalb anders an die
Aufstellung des Haushalts für das nächste Jahr herangehen. Wir können nur noch Maßnahmen finanzieren, die
vernünftig sind. Ich finde es richtig, dass Minister
Schäuble die Ministerien schon darauf hingewiesen hat,
dass die Vorschläge, die sie bisher eingereicht haben, zu
viel kosten. Das geht so nicht.
Nun kommt Frau Künast als Rächer der Enterbten.
({7})
Frau Künast, dass Sie sich in dieser Form hier hinstellen,
ist sehr mutig.
({8})
Sie rechnen wohl damit, dass die Menschen schnell vergessen. Sie waren in Nordrhein-Westfalen in einer
Koalition mit Herrn Steinbrück. Herr Steinbrück legte
zusammen mit Herrn Koch Vorschläge zum Subventionsabbau vor; ich habe diesen dicken Wälzer sogar
hier. Diese Vorschläge sind das reinste Gruselkabinett.
Dazu haben Sie aber kein Wort gesagt. Warum haben Sie
denn damals nicht das Wort ergriffen und deutlich gemacht: „Das machen wir nicht mit“?
({9})
- Ich nenne Ihnen doch nur ein Beispiel; wir sind
übrigens dagegen vorgegangen. - Ich frage Sie: Was
war denn damals in Sachen Entfernungspauschale?
Steinbrück hat versucht, seinen Vorschlag durchzusetzen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Regelung geändert werden muss.
({10})
- Entschuldigung, Sie waren doch in einer Koalition.
({11})
Da können Sie sich hier doch nicht - ich sage es noch
einmal - als Rächer der Enterbten hinstellen und so tun,
als hätten Sie mit all dem nichts zu tun.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davon
überzeugt, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, dafür zu sorgen, dass wir die hohen Schulden, die wir alle
gemeinsam - die Jungen natürlich nicht - zu verantworten haben, abbauen.
({13})
Schließlich haben wir eine Verantwortung gegenüber
den kommenden Generationen.
Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2011 gespannt.
({14})
Macht es bitte nicht wieder so wie beim letzten Mal. Bei
den letzten Haushaltsberatungen habt ihr einerseits über
die hohe Verschuldung, die wir von Steinbrück übernommen haben, gejammert, uns aber andererseits einen
Erhöhungsantrag nach dem anderen präsentiert.
({15})
Das läuft nicht. Das lassen wir euch nicht durchgehen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Koppelin, dass Sie
nicht verstanden haben, warum diese Aktuelle Stunde
beantragt worden ist, habe ich nach Ihrem Redebeitrag
wiederum sehr gut verstanden.
({0})
Der Streit in Union und FDP
({1})
um Kürzungen bei der Bildung und den Familien
({2})
hat eines sehr deutlich gemacht: dass die Koalition, die
Bundesregierung und die Bundeskanzlerin das Wort
„Bildungsrepublik“ aus ihrem Wortschatz streichen sollten. Herr Kollege Kampeter, natürlich ist uns allen klar,
dass wir in den öffentlichen Haushalten erhebliche Konsolidierungsbemühungen walten lassen müssen; das ist
nicht die Frage. Aber es gibt mindestens zwei Dinge, die
wir und die Menschen im Lande Ihnen nicht abnehmen
und die einfach nicht hinnehmbar sind.
Erstens. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung
den Menschen ein halbes Jahr lang das Märchen erzählt,
geringere Steuern und bessere Bildung würden nahtlos
zueinanderpassen, nur um eine Landtagswahl zu überstehen. Das war versuchter Wahlbetrug. Aber es war
eben nur versuchter Wahlbetrug; denn die Menschen haben es gemerkt und Sie dafür in NRW abgestraft.
({3})
Zweitens. Niemand kann verstehen, dass ausgerechnet die beiden Zukunftsbereiche Bildung und Familie
von den Koalitionären als Erstes genannt werden, wenn
es um Einsparungen geht.
({4})
Es kann natürlich sein, dass Sie mit verteilten Rollen
spielen. Heute Morgen wurden die CDU-Ministerpräsidenten und die CDU-Politiker in Ihren Reihen ja als
C-Promis abgestempelt.
({5})
Es mag sein, dass Sie sich gegenseitig nicht mehr ernst
nehmen. Aber wir nehmen das, was Sie sagen, sehr
ernst.
({6})
Deshalb machen wir uns große Sorgen. Schauen Sie
nach Hessen, schauen Sie nach Bayern, schauen Sie
nach Hamburg: Überall, wo die Union regiert, erleben
wir Abrissarbeiten an der Bildungsrepublik.
({7})
Die Süddeutsche Zeitung hat vorgestern sehr treffend
analysiert - ich zitiere -:
Roland Koch ist, bildungspolitisch betrachtet, ein
Intensivtäter. Schulen und Hochschulen sind vor
ihm nicht sicher. … wann immer es um große,
wichtige Vorhaben in der Bildungspolitik geht,
funkt Koch auch bundespolitisch dazwischen.
({8})
Das Schlimme ist: Herr Koch ist in der Union kein Einzelfall. Ich könnte auch Herrn Tillich aus Sachsen, den
haushaltspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herrn Barthle, oder Ihren Generalsekretär,
Herrn Gröhe, zitieren. Eines ist sicher: Sie haben die
Botschaft der Wählerinnen und Wähler vom Wahlsonntag in NRW nicht kapiert.
({9})
Ich sage es in aller Deutlichkeit: Weder die Bundeskanzlerin noch die Bundesbildungsministerin noch die
Bundesfamilienministerin haben bislang Klartext geredet, ob es bei den konkreten Verabredungen für die Bereiche Bildung und Kinderbetreuung bleibt.
({10})
Vage Beteuerungen, dass Bildung ein Schwerpunkt bleiben soll, sind weder glaubwürdig noch konkret genug.
Die Menschen haben ein Recht auf klare Ansagen. Wir
erwarten von einer Bundesregierung, dass sie führt. Wir
erwarten von Ministerinnen, dass sie führen; so sieht es
der Eid auf das Ministeramt vor.
Wenn Frau Schröder sagt, dass der Rechtsanspruch
auf die U-3-Betreuung ab 2013 kommt, dann sagt sie
nichts Neues. Das hat nichts mit ihrer Amtsausführung
zu tun; das ist schon Gesetz. Ich erwarte aber, dass sie
Antworten auf offene Fragen gibt: Wie werden die Menschen für die Kita-Betreuung qualifiziert?
({11})
Wie werden Erzieherinnen und Erzieher herangeholt?
- 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. - Wo bleiben die Gelder für die Kommunen?
({12})
Erstens ist der Bedarf mit dem Zielwert, der zugrunde
gelegt worden ist - eine Betreuungsquote von 32 bis
35 Prozent -, nicht gedeckt. Zweitens sind die Voraussetzungen nicht gegeben, den Rechtsanspruch zu erfüllen. Drittens frage ich: Wo bleibt die Auseinandersetzung zwischen den Ministerien über diese Themen, über
die Frage, wie die Finanzausstattung von Kommunen,
Bund und Ländern neu geordnet werden kann, wenn solche Zukunftsinvestitionen nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Mitteln getätigt werden können?
({13})
All das erwarte ich von der Amtsausübung einer Ministerin; all das wird versäumt. Man sagt: Der Rechtsanspruch kommt, aber die Verantwortung überlassen wir
anderen. So darf eine Bundesregierung, wie wir sie uns
vorstellen, wie wir sie in diesem Land brauchen, nicht
handeln.
({14})
Ich möchte die Position unserer Fraktion anhand von
drei Punkten deutlich machen:
Erstens. Wir erwarten - Frau Künast hat das bereits
gesagt -, dass es beim dritten Bildungsgipfel Anfang
Juni endlich zu verbindlichen Verabredungen zwischen
Bund und Ländern zum 10-Prozent-Ziel kommt. Das
heißt konkret: Ab 2015 müssen zusätzliche Bildungsaufwendungen in Höhe von mindestens 13 Milliarden Euro
getätigt werden. Der Anstieg der Ausgaben darf nicht
zeitlich gestreckt werden, sondern muss ab 2015 verbindlich umgesetzt werden.
Zweitens. Der Bildungsgipfel muss ein Infrastrukturgipfel werden. Je knapper das Geld ist, umso unverantwortlicher wäre es, das Geld in sinnlosen Projekten zu
verbrennen, die keine nachhaltige Wirkung in Form von
besserer Bildung und mehr Chancengleichheit erzielen.
Das Geld muss in den Ausbau der Kitas und Ganztagsschulen fließen. Der Lehrpakt für die Hochschulen muss
solide ausgestattet werden. Das Geld darf aber nicht in
ungerechte Stipendienprogramme, nicht in wirkungslose
Bildungsbündnisse und schon gar nicht in ein bildungspolitisch völlig kontraproduktives Betreuungsgeld fließen.
({15})
Hier haben Sie Einsparungsmöglichkeiten. Nutzen Sie
diese!
Drittens. Politische Verantwortung setzt Gestaltungswillen voraus. Es wäre wirklich unverantwortlich,
gesellschaftspolitische Gestaltungsansprüche aufgrund
scheinbarer Sachzwänge aufzugeben. Wir haben schon
im vergangenen Jahr einen Bildungssoli gefordert. Denken Sie noch einmal in aller Ernsthaftigkeit darüber
nach! Einen Aufschlag auf die Steuer bei sehr hohen
Einkommen könnte man den Menschen in diesem Land
vermitteln, nachdem Sie die Hoteliers entlastet haben.
({16})
Die Menschen haben vor allen Dingen ein Recht darauf, von der Bundeskanzlerin zu erfahren, wofür sie
einsteht, wofür sie in den eigenen Reihen kämpft. Sie hat
es in den vergangenen Wochen und Monaten bei zentralen steuer- und finanzpolitischen Fragen nicht geschafft,
die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herzustellen. Genauso ratlos und kraftlos agiert sie in der Bildungspolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Hier ist sie von den eigenen Ministerpräsidenten getrieben.
Wenn der dritte Bildungsgipfel kein Flop werden soll,
dann sollte die Bundeskanzlerin - das rate ich ihr - eine
Reise durch das Land machen und in Dresden, Stuttgart,
München und Wiesbaden erklären, wie es weitergehen
soll und was sie wirklich von einer Bildungsrepublik
Deutschland hält.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Michael Luther für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde das Thema dieser Aktuellen Stunde
schon sehr interessant.
({0})
Ich finde auch ganz interessant, wie sehr sich die Opposition um das Thema Haushaltskonsolidierung kümmert.
({1})
Es ist völlig klar: Die Neuverschuldung ist zu hoch.
Davon müssen wir herunter. Die Ursache dafür, warum
wir in diesem Jahr 80 Milliarden Euro Neuverschuldung
im Haushalt haben, ist klar: Das liegt an der Finanz- und
Wirtschaftskrise.
({2})
Wenn wir sie nicht gehabt hätten, wären wir hier schon
wesentlich weiter. Nach der mittelfristigen Finanzplanung wären wir jetzt bereits bei null. Wir mussten handeln - meines Erachtens ist das allen im Hause klar -,
um die schwierige Zeit zu überbrücken. Aber es ist auch
klar, dass wir die Neuverschuldung senken müssen.
Ich bin froh, dass es in der letzten Legislaturperiode
in der Großen Koalition gelungen ist - ich sage einmal:
auf Drängen der Union -, die Schuldenbremse ins
Grundgesetz aufzunehmen;
({3})
denn gerade beim ersten Redner
({4})
habe ich heute wieder gemerkt, dass es zwar sehr schön
ist, staatliche Leistungen zu versprechen - das ist eine
wunderbare Sache; mir fällt auch viel ein -, aber natürlich schlecht, wenn das Ganze schuldenfinanziert ist.
({5})
Eine Schuldenfinanzierung geht auf Dauer nicht; denn
das schränkt unseren Handlungsspielraum für die Zukunft ein. Diesen Handlungsspielraum brauchen wir jedoch, und deswegen brauchen wir eine Disziplinierung.
Ich bin deshalb froh, dass wir die Schuldenbremse haben.
Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, sondern für mich das Gebot der Stunde. Ich will es an dieser
Stelle einmal klar sagen, weil das manchmal in der Öffentlichkeit falsch ankommt: Dies liegt weder an der
Griechenland-Hilfe noch an dem Stabilisierungsschirm
für den Euro. Wir müssen in Deutschland den Haushalt
sanieren, weil wir Deutschland zukunftsfähig gestalten
müssen.
({6})
Ich will an dieser Stelle auf eine Aussage von Herrn
Steinmeier eingehen, die mich gestern aufgeregt hat. Er
hat das Zitat „über die Verhältnisse gelebt“ mit der Frage
verknüpft, ob der Wachmann oder die Verkäuferin etwa
zu viel verdiene. Nein, es ist genau andersherum. Der
Wachmann und die Verkäuferin sind diejenigen, die arbeiten und die Steuern zahlen.
({7})
Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als Deutscher
Bundestag, dass wir als Staat die Steuergelder, die wir
von ihnen bekommen, vernünftig und verantwortlich
ausgeben,
({8})
und zwar nur so viel, wie wir einnehmen.
Herr Kampeter hat erklärt, wie der Zeitplan bis zum
Sommer aussieht, bis der Haushalt vorgelegt werden
wird, und wie sich die Konsolidierungsziele darin widerspiegeln werden. Es ist natürlich klar, dass in dieser Zeit
auch darüber geredet wird, wo man einsparen könnte. In
diesem Zusammenhang wird manches Gute und manches nicht so Gute gesagt. Der eine sagt, wo gespart werden soll. Roland Koch hat etwas dazu gesagt; dies teile
ich nicht.
({9})
Aber es gibt eine viel größere Anzahl von Leuten, die sagen: Sparen müssen wir, aber nicht bei mir. - Das wird
uns nicht weiterführen. Ich halte es für viel besser, ein
Gesamtkonzept vorzulegen, in dem dann steht, was alles
der Reihe nach gemacht werden wird.
({10})
Es wird vorliegen, wenn die Bundesregierung den Haushalt vorlegt. Dann lohnt es sich auch, intensiv darüber zu
diskutieren. Wir werden dann in den Beratungen im
Haushaltsausschuss und hier im Deutschen Bundestag
genügend Zeit haben, darüber zu reden, ob das, was vorgeschlagen worden ist, vernünftig und gerecht ist, oder
ob wir an der einen oder anderen Stelle andere Steuerungsmechanismen einbauen sollten.
({11})
Im Übrigen sage ich noch eines: Es lohnt sich, zu sparen. In Sachsen - ich komme aus Sachsen - gibt es seit
1990 Sparhaushalte. Das Ergebnis ist Folgendes: Das,
was wir heute in Sachsen nicht an Zinsen zahlen, weil
wir dafür keine Schulden gemacht haben, ist genauso
viel wie das, was wir für Kinderbetreuung, kommunalen
Straßenbau und regionale Kulturförderung ausgeben. Im
Verhältnis zum Beispiel zu Thüringen oder Sachsen-Anhalt bezahlen wir, wenn ich es umrechne, in diesem Jahr
knapp 1 Milliarde Euro nicht für Zinsen. Das zeigt, dass
es sich lohnt, zu sparen, dass man sich damit nicht die
Zukunft verbaut, sondern handlungsfähig bleibt.
({12})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Letztes sagen. Ministerpräsident Tillich hat gesagt: Mehr
Geld macht nicht klüger. Er hat nicht gesagt, dass er im
Bildungsbereich kürzen will. Ich will nur eine Wahrheit
sagen, die ebenfalls aus Sachsen stammt: Sachsens Bildungshaushalt ist im Vergleich zu denen anderer Bundesländer eher gering. Das Ergebnis der PISA-Studie ist
spitze. - Das zeigt, dass viel Geld nicht immer dazu
führt, dass etwas besser wird; vielmehr muss man das
Geld klug ausgeben.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenige Tage nach der Wahl
in Nordrhein-Westfalen ist der Streit in der Koalition
über die Haushaltskonsolidierung öffentlich geworden.
Es werden sogar aus der eigenen Partei Rücktrittsforderungen gestellt.
({0})
In der nächsten Zeit wird es also interessant werden.
Der Druck innerhalb der Koalition ist erheblich. Die
Reden der Kollegen Kampeter und Luther haben gezeigt, dass Sie kein Konzept haben. Sie haben zwar wunderschöne blumige Reden gehalten, haben aber nicht
konkret gesagt, an welchen Stellen gespart werden muss.
Davon war nichts zu hören.
({1})
Herr Kollege Koppelin, Sie haben nicht einmal das Liberale Sparbuch erwähnt. Es scheint schon im Papierkorb
verschwunden zu sein, weil es eh nicht zu verwirklichen
ist.
({2})
Es geht jetzt darum, einmal die Zahlen zu beleuchten.
Sie, diese Koalition hat die höchste Nettokreditaufnahme beschlossen, obwohl es Einsparungsmöglichkeiten gab, die Sie aus taktischen Gründen nicht genutzt haben, damit man, Herr Kollege Koppelin, wenn die
Schuldenbremse greift, entsprechend kürzen kann. Die
Steuersätze für Hoteliers und entfernte Erben hat man
gesenkt, obwohl vorauszusehen war, dass die Steuereinnahmen erheblich niedriger ausfallen werden. Dafür
brauchte man nicht den 6. Mai 2010 abzuwarten, als die
Steuerschätzung bekanntgegeben wurde. Herr Kollege
Koppelin, bis 2014 wird es gesamtstaatlich mindestens
40 Milliarden Euro an Steuereinnahmen weniger geben.
Trotzdem wird immer noch von Steuersenkungen gesprochen. Ihre Wahlversprechen werden nicht umgesetzt; sie werden reihenweise eingesammelt. Das müssen
Sie vor Ihren Wählerinnen und Wählern verantworten.
Da kein Konzept vorgestellt wurde, möchte ich folgende Fragen stellen: Wie viel wird im Verteidigungsressort eingespart? Heute wurde eine Riesensumme in
der Presse genannt. Wie viel wird bei der Verkehrsinfrastruktur, also im Verkehrsbereich gespart? Diesbezüglich
wurden Hunderte Millionen Euro genannt. Herr Weise
von der Bundesagentur für Arbeit hat gestern in der
Haushaltsausschusssitzung gesagt: Man kann im Sozialund Arbeitsbereich nicht einsparen, weil sehr viele
Menschen aus dem Regelungsbereich des Sozialgesetzbuches III in den Regelungsbereich des Sozialgesetzbuches II fallen - die Kollegin Bettina Hagedorn hat darauf
hingewiesen -, also Hartz IV empfangen werden. Deswegen sind an dieser Stelle erhebliche Mittel notwendig.
In Bezug auf die Diskussion innerhalb der Union ist
noch Herr Koch zu erwähnen. Die Welt, eine Zeitung,
die nicht gerade der Hort der Sozialdemokratie ist, titelt:
„Geld für Bildung wird zum Zankapfel der Union“. Die
Kakofonie in Ihrer Partei ist groß. Ich hoffe, dass Sie
bald Lösungen finden.
Die Kürzungen im Bildungsbereich sind genannt
worden. Hier ist nicht nur Herr Koch in Hessen zu erwähnen, der die Mittel für den Wissenschafts- und Bildungsbereich um 75 Millionen Euro gekürzt hat. Auch
in Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden die
beitragsfreien Kindergartenjahre gestrichen. Leider ist
auch Hamburg zu nennen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der Union.
Auch bei den Rechtsansprüchen auf einen Krippenplatz ist nicht genügend Vorsorge getroffen worden. Es
stellt sich die Frage, warum man die Mittel gerade im
Bereich der Bildung kürzt. Ich verstehe, dass unser Bundespräsident über die Äußerungen von Herrn Koch und
anderen aus der Union entsetzt ist. Seine Haltung ist
durch Pressemeldungen deutlich geworden.
Ich frage mich sowieso, wie das 10-Prozent-Ziel im
Bildungsbereich überhaupt erreicht werden soll. Gilt das
überhaupt noch? Diese Frage richtet sich an den Vertreter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Gilt dieses Ziel noch, wenn die Kommunen und die Länder einsparen müssen und auch der Bund entsprechend
vorgeht?
({3})
Das sind eine Menge Fragen, auf die es keine Antworten
gibt. Sie hätten für eine ausreichende Einnahmebasis
sorgen können.
({4})
Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich gezeigt,
dass man den Staat nicht verteufeln soll. Man muss vielmehr dafür sorgen, dass der Staat seine Pflicht tun und
Ausgleich schaffen kann. Ich möchte das Zitat von
Frank-Walter Steinmeier, das Herr Luther eben angesprochen hat,
({5})
einmal aufgreifen. Herr Steinmeier hat gefragt, wer eigentlich mit „wir“ gemeint ist, wenn gesagt wird: „Wir
müssen sparen; wir haben über die Verhältnisse gelebt“.
Ist es der Schüler oder der Student,
({6})
der über seine Verhältnisse gelebt hat, der eine starke
Unterstützung, eine gute Schule oder eine gute Universität braucht? Nein, hier sind staatliche Mittel gefordert,
damit wir die Zukunft unserer Kinder gewährleisten
können. Dazu gehört es auch, die Einnahmeseite im
Blick zu behalten, lieber Kollege Fischer, und diejenigen
zur Kasse zu bitten, die sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise eine goldene Nase verdient haben.
Morgen bei der Abstimmung über das Euro-Hilfspaket haben wir die Möglichkeit, eine Finanzmarkttransaktionsteuer auf den Weg zu bringen.
({7})
Sie bringt nötige Einnahmen, um für Bildung und Forschung mehr zu tun, als dies bisher geschah. Sie bietet
die Möglichkeit, die Versprechen einzuhalten, die gemacht worden sind. Die nächste Chance gibt es beim
Bildungsgipfel. Ich hoffe, dass keine schweren Wolken
über dem Gipfel aufziehen werden, sondern dass die Bildungssonne scheinen wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Ihre Glaubwürdigkeit steht
auf dem Spiel, lieber Herr Kollege Schirmbeck. Sie steht
zur Disposition. Tragen Sie dazu bei, dass sie nicht beschädigt wird.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Florian Toncar für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte ist zu dem geworden, was sie werden musste:
eine routinierte Auseinandersetzung, bei der es um
kleine politische Geländegewinne geht, und das in einer
Woche, in der wir uns alle zusammen etwas anders verhalten sollten, als es in dieser Debatte der Fall ist.
({0})
Was sind die Fakten? Der hessische Ministerpräsident
gibt ein Interview. Dieses Interview wird auf einen Satz
reduziert. Daraus wird ein Streit der Koalition konstruiert, den es in dieser Form nicht gibt.
({1})
Die FDP-Fraktion ist wie viele andere der Meinung, dass
es nicht sinnvoll ist, in dieser Situation ausgerechnet die
Bildungspolitik herauszugreifen, um an die Haushaltskonsolidierung heranzugehen.
({2})
- Das ist keine Überraschung, Herr Bockhahn, das wissen Sie genau.
({3})
Wir sollten etwas redlicher diskutieren. Frau Künast
und viele andere haben unter anderem die Rekordneuverschuldung, die unter dieser Koalition entstanden ist,
angeprangert. Ich sage Ihnen: Der Schuldenstand dieser
Bundesrepublik ist ungefähr seit 1970 von allen Bundesregierungen kontinuierlich - manchmal etwas schneller,
manchmal etwas langsamer - aufgebaut worden. Es gibt
hier niemanden, der frei von Mitverantwortung ist.
({4})
- Sie sind die Allerletzten, die frei von Verantwortung
sind. Das kann man festhalten.
({5})
Wir erleben gerade, was passieren kann, wenn Staaten
so viele Schulden machen, dass sie mit der Refinanzierung nicht mehr zurechtkommen, dass ihnen das Geld
ausgeht, und welche Dramatik und Geschwindigkeit das
annehmen kann. Ich glaube, dass die Folgen von dem,
was wir in Südeuropa zurzeit erleben, für uns in
Deutschland viel weitreichender sein werden, als diese
Debatte es bisher widergespiegelt hat.
({6})
In diesem Thema steckt eine Brisanz und, wenn es
schlecht läuft, auch eine Dynamik, die wir ernst nehmen
müssen. Deswegen müssen wir festhalten: Die Zeiten, in
denen Politiker Wählern versprechen konnten, mehr
Geld auszugeben, als sie einnehmen, sind auf absehbare
Zeit vorbei. Jede Partei, die politisch gestalten möchte,
muss sich daran messen lassen.
({7})
Wir müssen darüber sprechen, dass unser Staatsverständnis ein grundlegend anderes werden muss und dass
der Staat Prioritäten setzen muss. Herr Kollege
Bockhahn, ich weiß nicht, ob es wirklich haltbar und
klug ist und ob Sie damit das Vertrauen der Wählerinnen
und Wähler gewinnen, wenn Sie beispielsweise beantragen - ich beziehe mich auf die aktuellen Anträge zum
Haushalt -, den Einzelplan des Familienministeriums
von ungefähr 6 auf ungefähr 15 Milliarden Euro zu erhöhen.
({8})
- 17 Milliarden Euro, und Sie sind auch noch stolz darauf.
({9})
Ich glaube, dass die Wählerinnen und Wähler eine andere Art von Politik erwarten. Solche unseriösen Versprechungen müssten spätestens seit dieser Woche der
Vergangenheit angehören.
({10})
Wir müssen uns - das erlebe ich oft in politischen
Diskussionen, Podiumsdiskussionen oder bei Beratungen im Haushaltsausschuss - davon verabschieden,
mehr Geld mit politischer Schwerpunktsetzung gleichzusetzen; denn wer mehr Geld gibt bzw. einen Titel erhöht, tut nicht unbedingt Gutes. Vielleicht sollte man
auch überlegen, wie man mit dem vorhandenen Geld
besser wirtschaften kann, statt die Diskussion immer so
zu führen, dass der, der mehr Geld verspricht - was er
nachher auch einlösen muss -, der Gute bzw. derjenige
ist, der das Thema ernst nimmt.
({11})
Wir werden mit Sicherheit im Bundeshaushalt 2011
mit einer Vielzahl von Maßnahmen auf die Situation reagieren müssen. Da geht es um die Subventionen.
({12})
Wir als FDP sind beispielsweise der Meinung, dass wir
an die Steinkohlesubventionen heran müssen. Wir sind
der Meinung, dass es bei bestimmten steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten einen Missbrauch gibt.
({13})
Ich persönlich habe dies zum Beispiel im Bereich der
Energie- und Stromsteuer erlebt, wo sich Betriebe in
Vergünstigungen hineinbegeben, die ihnen eigentlich
nicht zustehen. Das Thema Subventionen ist ein großer
Komplex, mit dem wir uns beschäftigen werden.
({14})
- Herr Trittin, Sie sind doch von der Partei, die auch in
der letzten Woche wieder dafür eingetreten ist, dass man
Investoren im Bereich Solarenergie Traumrenditen garantiert und das vom Stromkunden bezahlen lässt. Das
Thema Subventionsabbau sollten wir uns also alle auf
die Tagesordnung schreiben, anstatt ständig das Wort im
Munde zu führen und das Gegenteil dessen zu vertreten,
wie Sie das tun.
({15})
Wir werden uns sicherlich um das Thema Arbeitsmarkt kümmern müssen, nicht was das Leistungsniveau,
aber was die Treffsicherheit und die Effizienz von Eingliederungsleistungen und -maßnahmen angeht. Wir
werden uns mit dem Personalbedarf der Bundesagentur
für Arbeit
({16})
und mit dem Thema Bürokratieabbau, womit wir in der
Verwaltung nachhaltig Kosten einsparen könnten, beschäftigen müssen.
({17})
Beispielsweise hat die FDP-Fraktion vorgeschlagen,
die Wohnkosten im ALG-II-Bereich regional differenziert zu pauschalieren, weil da sehr viel Verwaltungsaufwand betrieben wird und sehr viele Prozesse geführt
werden. Diese Themen müssen diskutiert werden. Natürlich können da unterschiedliche Meinungen vertreten
werden, auch von Mitgliedern der Parteien, die die
Koalition bilden. Es ist völlig verfehlt, jeden Diskussionsprozess sofort als destruktiv oder die Parteien als
zerstritten darzustellen. Dafür sind die Probleme zu
schwierig. Niemand hat heute alles im Kopf - dies sollte
man auch nicht für sich beanspruchen -, was nötig ist,
um aus dieser Lage herauszukommen.
({18})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
({19})
Wir als Koalition haben den klaren Vorsatz, die Schuldenbremse, die es glücklicherweise im Grundgesetz gibt
und die viele im Hause nicht wollten - die Kollegin
Nahles hat das Thema Schuldenmachen als Handlungsspielraum bezeichnet; ich kann Ihnen das Zitat geben;
das wollen wir nicht -, einzuhalten. Wir werden das tun,
weil wir wissen und merken, wie wichtig das Thema
Verschuldung für unseren Staat und vor allem auch für
unsere Bürger ist.
Vielen herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir erleben die tiefgreifendste Krise des
Euro-Raums: zunächst den Ausbruch in Griechenland,
inzwischen sind alle Euro-Staaten davon erfasst. Die
FDP hat dessen ungeachtet weiter von Steuersenkungen
gefaselt, die im Klartext nichts anderes als eine weitere
Umverteilung von unten nach oben bedeutet hätten. Genau das ist der Kern des Stufentarifs. Die Kanzlerin rief
Sie zurück - spät, ich sage: zu spät.
Große Krise! Die Reaktionen der Staaten der EuroZone erfolgten über Nacht und ohne Parlamentsbeteiligung. Herr Sanio, Chef der BaFin, erklärte gestern in der
Anhörung des Haushaltsausschusses, ohne die Beschlüsse der Nacht hätte er am Montagmorgen nicht aufwachen mögen. Dann wäre die Nach-Lehman-Zeit ein
laues Lüftchen gewesen.
Die Bevölkerung hat schlicht und ergreifend Ängste.
Die häufigsten Fragen, die mir derzeit gestellt werden,
egal ob von Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreisbüro
oder von Bekannten, lauten: Wie geht denn das jetzt weiter? Was wird mit meinem bisschen Ersparten? Wo soll
ich denn mit meinem bisschen Geld hin? Wie kann ich
das retten? - Für ein Haus oder so etwas reicht es bei den
allermeisten nicht. Die haben natürlich die Erwartung,
dass die Regierung - dafür ist sie gewählt - jetzt endlich
Antworten gibt, einen Plan hat, damit man das Gefühl
hat, dass sie weiß, was sie tut.
({0})
Aber Sie agieren nicht, Sie reagieren nur, und das machen Sie völlig kopflos. Bestenfalls kommt ein Flickenteppich dabei heraus, schlimmstenfalls ein Chaos. Das
ist Ihre Art der Krisenbewältigung.
({1})
In der Finanzkrise 2008 wurde hier im Parlament
Hals über Kopf ein Rettungsschirm für die Banken verabschiedet,
({2})
aber es herrschte Einigkeit im Parlament, dass es notwendig ist, ein Konjunkturprogramm aufzulegen, dass
gerade in dieser Situation die öffentliche Hand die Binnennachfrage ankurbeln muss, indem man den Bürgerinnen und Bürgern etwas Geld gibt, damit sie kaufen können.
({3})
Das Konjunkturprogramm war antizyklisches und damit
richtiges Agieren.
({4})
Jetzt, anderthalb Jahre später, gilt das nicht mehr? Sie
haben hier noch vor Wochen verkündet, wie stolz Sie auf
Ihr Konjunkturprogramm sind, weil es erwiesenermaßen
funktioniert hat.
({5})
Wir hätten es besser gemacht, wir hätten es umfangreicher gemacht, aber es hat funktioniert. Die Arbeitslosigkeit ist einigermaßen begrenzt. Es gibt keine Masseninsolvenzen von Unternehmen.
({6})
Jetzt gilt das nicht mehr, jetzt brauchen wir das alles
nicht mehr? Jetzt ist das europaweit nicht notwendig?
Nein, Sie haben europaweit Konditionen durchgesetzt,
die krisenverschärfend wirken werden. Das ist schlicht
und ergreifend ein Skandal und stellt Sie in die Ecke;
denn Sie wissen wirklich nicht, was Sie tun.
({7})
Entweder wollen wir nun konjunkturpolitisch wirken
oder nicht. Was im eigenen Land gilt, sollte auch europaweit gelten. Deshalb lautet unser Vorschlag, europaweite
Konjunkturprogramme einzuführen, wobei jedes Land
2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufbringen sollte.
Das haben wir gestern ausgeführt.
({8})
Jetzt spielen Sie - unter Ausschaltung des Bundestages - über die Bande, indem Sie sagen, Europa schreibe
uns jetzt vor, dass wir sparen müssen. Nein, Sie wollen
streichen. In Griechenland haben Sie angefangen. Da haben Sie zum Beispiel die Streichung des Mindestlohnes
bei Jugendlichen verfügt; das wurde einfach durchgesetzt.
({9})
Vor der NRW-Wahl sind Sie zu feige gewesen, zu sagen,
wo Sie streichen wollen. Herr Koch übernimmt nun die
Vorreiterrolle und sagt, bei der Bildung könne man jetzt
streichen. Das ist absolut kurzsichtig. Denn wir wissen:
Investitionen in frühkindliche Bildung, in Bildung im
Kindesalter vor der Einschulung, in Schulen und Hochschulen zahlen sich doppelt und dreifach aus.
({10})
Wenn man sie nicht tätigt, schadet man erstens den Kindern und Jugendlichen, vor allem mit Blick auf ihre Zukunft; denn dann fehlt Wissen, das für die Entwicklung
wichtig ist. Zweitens wird es teurer. Sie wissen genau,
dass dadurch eine Vielzahl sozialer Probleme entsteht,
wo wir dann mühsam nachbessern müssen und die wir
nie gelöst bekommen. Das ist eine skandalöse Politik,
die Sie hier lostreten.
({11})
Wir sind uns einig: Für Investitionen in Bildung kann
man Schulden machen. Wir waren gegen diese Schuldenbremse. Wenn ich mich recht entsinne, besteht die
Möglichkeit, trotz Schuldenbremse Schulden unter anderem für Bildung aufzunehmen.
Herr Kampeter - ich sehe ihn gerade nicht - hat vorhin großartig verkündet, man müsse in die Struktur des
Bundeshaushaltes schauen. Ja, gerne. Schauen Sie sich
die Zahlen an. Wenn wir heute die Abgaben- und Steuerquote des Jahres 2000 hätten, hätten wir fast keine Neuverschuldung gebraucht. Das ist die Realität. Schauen
Sie sich die Struktur des Haushaltes an. Sie haben doch
laufend Steuersenkungen verabschiedet. Stichwort Mövenpick: rund 1 Milliarde Euro, das haben wir alles in
der Portokasse. So agieren Sie.
({12})
Machen Sie endlich eine gerechte Steuerpolitik bei
der Einkommensteuer. Setzen Sie die Körperschaftsteuer
bei der Unternehmensteuer wieder hoch; das ist möglich.
Sagen Sie endlich, dass die Reichen und Vermögenden
nun zur Kasse gebeten werden. Eine erneute Erhebung
der Vermögensteuer ist möglich und verfassungskonform.
({13})
Durch eine Reform der Erbschaftsteuer könnten wir
mehr Geld einnehmen. Diese Anträge liegen auf dem
Tisch.
Ich bin trotz allem hoffnungsvoll. Ich habe 1997 im
Bundestag die Einführung der Tobin-Steuer gefordert.
Jetzt haben Sie zumindest bekundet, dass Sie es machen
wollen. Sie wissen, dass eine Einführung der Finanzmarkttransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent europaweit etwa 27 Milliarden Euro bringen würde.
({14})
Das sind Möglichkeiten. Dort ist Geld vorhanden. Deshalb lassen Sie uns endlich handeln und zeigen Sie, ob
Sie noch einen Kopf und einen Plan haben oder nicht.
Danke.
({15})
Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Koppelin, nachdem Sie acht Monate gebraucht haben,
um die finanzpolitische Realität in diesem Land wahrzunehmen, wundert es mich nicht, dass Sie es nicht schaffen, von Montag bis heute zu verstehen, warum diese
Aktuelle Stunde beantragt wurde.
({0})
Sie haben gesagt, dass viele beim Anhäufen des Schuldenbergs mitgemacht haben. Stimmt, das kann ich Ihnen
nur zurückgeben. Die höchste Verschuldung ist mit dem
Haushalt 2010 eingetreten, an dem die FDP beteiligt
war. Durch Ihr Schuldenbeschleunigungsgesetz haben
Sie die öffentlichen Kassen zusätzlich belastet, den
Bund um 4 Milliarden Euro, Länder und Kommunen um
4 Milliarden Euro. Das ist nach acht Monaten Regierungszeit die Bilanz der FDP in Sachen Schuldenberg.
Sie sollten einmal in den Spiegel schauen!
({1})
Es war falsch, die Haushaltskonsolidierung auf die Zeit
nach der NRW-Wahl zu verschieben. Das war nicht nur
inhaltlich falsch, sondern auch taktisch. Aber Sie haben
Priska Hinz ({2})
ja die Rechnung dafür bekommen, sowohl FDP als auch
CDU. Wir haben überhaupt kein Mitleid mit Ihnen.
({3})
Ich habe ja gedacht, dass Sie die Zeit bis Juni nutzen,
um sich zu orientieren, um zu überlegen, was Sie nach
der NRW-Wahl machen wollen.
({4})
Aber nicht einmal das haben Sie geschafft. Jetzt haben
Sie folgendes Problem: Es gibt jede Menge Sparvorschläge aus Ihren Reihen, die sich aber widersprechen
und sich diametral gegenüberstehen. Herr Meister von
der CDU fordert, den Bundeszuschuss an die gesetzlichen Krankenkassen einzufrieren. Frau Flach und Herr
Spahn sind umgehend dagegen. Die Unionsministerpräsidenten Koch und Wulff bringen Steuererhöhungen ins
Gespräch. Seehofer sagt, dann würde die Hütte brennen.
Herr Barthle will eine Pkw-Maut einführen. Fraktionsexperten der Union, die für Verkehr zuständig sind,
zeigen sich skeptisch. Was gilt denn nun eigentlich? Sie
haben wirklich acht Monate verschlafen. Das zeigt nicht
nur der Bundeshaushalt 2010, das zeigt auch die jetzige
Debatte. Sie haben sich nicht vorbereitet. Sie sind völlig
orientierungslos, und das schadet diesem Land.
({5})
Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Ministerpräsident aus den eigenen Reihen im Zuge der Haushaltskonsolidierung ausgerechnet zum Sparen im Bereich Kinderbetreuung und Bildung auffordert, und das, obwohl
Frau Merkel die Bildungsrepublik ausgerufen hat. Also
vom Schwerpunkt zum Sparpunkt! Frau Merkel kann
man da nur zurufen: Wer nicht führt, der wird vorgeführt, in diesem Fall von Herrn Koch.
({6})
Den Angriff auf die Bundeskanzlerin können wir von
der Opposition, als Grüne, besonders gut verschmerzen.
Das tut uns nicht weh. Aber es geht um die Zukunftsfähigkeit des Landes. Das ist ein Angriff auf die Zukunftsfähigkeit des Landes. Wer an der Bildung spart, hat nicht
kapiert, worauf es in diesem Land ankommt.
({7})
Wir brauchen besser ausgebildete junge Menschen. Wir
brauchen weniger Schulabbrecher. Wir brauchen Kinderbetreuungsplätze, damit die frühe Förderung gelingt.
Heute Morgen haben wir über Aus- und Weiterbildung
diskutiert. Die Hochschulen brauchen mehr Studienplätze und nicht ein Sparpaket, wie es in Hessen Herr
Koch ausgerufen hat. All das brauchen wir, damit wir
tatsächlich zukunftsfähig sind, damit die Wirtschaft aus
der Wirtschaftskrise gut herausfindet, damit wir innovativ sind. Das entlastet den Haushalt auf Dauer. Aber das
haben Sie nicht verstanden, und das ist das Problem dieser Regierung.
({8})
Wir möchten gerne wissen, wie es mit dem 12-Milliarden-Euro-Programm weitergeht. Sie haben groß getönt, dass es keine Sparrunden in Sachen Bildung geben
wird. Aber ob, wie geplant, zusätzlich investiert wird, ist
noch die Frage. Insofern ist der Haushalt eine Nagelprobe. Darauf werden wir achten.
Wir Grüne haben Ihnen schon bei den letzten Haushaltsberatungen Vorschläge unterbreitet, wie es gehen
kann. Wir wollen den Haushalt konsolidieren, ja. Wir
wollen die Schulden senken, ja. Wir wollen aber auch
investieren, wo das notwendig ist, ja. Wir Grüne haben
gezeigt, wie das gehen kann. Würden Sie unseren Haushaltsvorschlägen folgen, könnten wir zusätzlich über
5 Milliarden Euro in den Klimaschutz investieren, über
700 Millionen Euro mehr in die Bildung investieren und
gleichzeitig 7 Milliarden Euro weniger Schulden machen.
({9})
Auch darauf kommt es an; das haben wir doch jetzt in
der Euro-Debatte gesehen. Wir wollen die Einnahmebasis verbreitern und das Steuersystem gerechter gestalten.
({10})
So sieht intelligentes Sparen aus.
({11})
Der grüne Kompass zeigt in die Zukunft, während Sie
orientierungslos im Land herumirren. Wir brauchen eine
andere Gestaltung. Wir hoffen, dass dieser grüne Kompass auch Ihnen irgendwann den Weg zeigen wird.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat nun Jürgen Herrmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, jeder hat dieses Sprichwort schon einmal gehört: Geld
regiert die Welt. Auch wenn ich dem nicht vorbehaltlos
zustimmen kann, so kann ich mich des Eindrucks nicht
erwehren, dass vieles daran stimmt.
({0})
- Bei Ihnen regiert das Geld auch Ihr politisches Handeln, nur in eine Richtung, die uns weiter vor die Wand
fahren lässt.
({1})
Ihre Umverteilungsmentalität führt zu nichts außer zu
neuen Schulden.
({2})
Wir haben in den letzten Wochen erleben müssen,
dass die Märkte unberechenbar sind. Mit moderner
Technik lassen sich von einer Sekunde auf die andere
Milliardenbeträge verschieben. Die Finanzkrise, über die
wir seit Monaten diskutieren, ist sicherlich auch ein
Ergebnis davon.
Durch die Konjunkturpakete, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, die finanziellen Hilfen für Griechenland und Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Finanzstabilisierungsprogramms haben wir
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich bin mir darüber
im Klaren, dass diese Stabilisierungsmaßnahmen Geld
kosten; dieses Geld ist aber gut angelegt.
({3})
Herr Bockhahn und Frau Dr. Höll, es ist richtig, über
Konjunkturpakete zu sprechen; aber Sie sollten nicht,
wie wir das bei den Beratungen über den Haushaltsplan
2010 erlebt haben, Ausgabensteigerungen fordern, die
zu nichts führen, außer dass sie ein noch größeres Ausgabenloch hinterlassen.
({4})
Ich bin äußerst zufrieden damit, dass sich die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich dazu
geäußert hat, was sie von den anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union fordert. Sie hat auch gesagt,
dass auch wir in Deutschland bei der Haushaltskonsolidierung entscheidende Dinge voranbringen müssen.
({5})
Ich bin mir sicher, dass es in der Bevölkerung nicht
für alle Dinge Verständnis gibt - wir sind zweifellos
gefordert -; aber wir werden diese Dinge auf den Weg
bringen. Die Haushälter, aber auch die anderen Mitglieder der Koalition sind sich der Erfordernisse und der
Auswirkungen durchaus bewusst. Für den Haushalt
2010 hatten wir einen Regierungsansatz von mehr als
325 Milliarden Euro. Wir haben bewiesen, dass wir sparen können: In den Haushaltsberatungen haben wir mehr
als 5 Milliarden Euro davon gespart. Das war ein erster
Schritt, die Weichen richtig zu stellen.
({6})
- Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt.
({7})
Das hat auf der Seite der Fachpolitiker natürlich keinen
Jubel hervorgerufen; aber wir sind auf dem richtigen
Weg und werden diesen Weg in den nächsten Beratungen fortsetzen.
Wir haben eine Schuldenbremse in das Grundgesetz
eingebaut. Diese Schuldenbremse wird erstmals 2011
Wirkung zeigen. Strukturelle Einsparungen sind von uns
gefordert: Wir müssen in den Haushaltsberatungen mindestens 10 Milliarden Euro einsparen, und das nicht nur
im Jahr 2011, sondern auch in den Jahren, die folgen.
Diesen Konsolidierungskurs brauchen wir. Hierbei werden uns die Länder unterstützen: Die Länder sind gefordert, bis zum Jahr 2020 ebenfalls ihre Hausaufgaben zu
machen. Dabei werden strukturelle Ausgaben zu berücksichtigen sein.
Es wird immer davon geredet, dass wir ein Ausgabenoder Finanzierungsproblem haben. Wenn Sie sich einmal
anschauen, wie sich die Steuereinnahmen in den letzten
Jahrzehnten entwickelt haben, werden Sie feststellen,
dass die Einnahmen des Staates massiv gestiegen sind.
Allerdings sind auch die Ausgaben - suboptimal, würde
ich sagen - nach oben getrieben worden. Letztendlich
wurde mehr Geld ausgegeben, als wir eingenommen
haben.
Die Opposition verweist immer darauf, dass es Länder in der Europäischen Union gibt, die deutlich weniger
Steuereinnahmen haben. Schauen Sie sich dann bitte
auch einmal die Standards in diesen Ländern an: Sie sind
vollkommen anders.
Wir werden in den anstehenden Beratungen über den
Haushalt 2011 überlegen müssen, in welche Richtung
wir gehen wollen, wo wir sparen müssen, wo Luxus beiseitegeschoben werden muss.
({8})
Sie haben gefragt, wann wir den Haushalt 2011 vorlegen. Sie wissen doch - Sie waren selbst in der Regierung -: immer vor der Sommerpause. Gestern im Gespräch mit Herrn Schäuble ist noch einmal deutlich
gemacht worden: Noch vor der Sommerpause wird es einen Regierungsentwurf für den Haushalt für das Jahr
2011 geben. Damit werden wir Ihnen gemeinsam mit unseren Freunden aus der Koalition aufzeigen, wie wir den
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre
konsolidieren werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Ich
lade Sie herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen, und
zwar nicht an einer Ausgabenorgie, sondern daran, die
Gelder gezielt und klug einzusetzen, damit wir unseren
Haushalt konsolidieren können.
({9})
Das Wort hat jetzt Ernst Dieter Rossmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kampeter ist als Sprecher der Regierung ja so gewaltig eingestiegen, als ob er die ganze Welt auf sich gerichtet sah und meinte, man würde auf ihn gucken.
Im Tagesspiegel von gestern kann man lesen - ich zitiere -: „Ein Haufen Union“. - Man darf hinzufügen: ein
Haufen Regierung.
Was ist das Problem, weshalb der Tagesspiegel zu
dieser Analyse kommt? - Das Problem ist, dass das goldene Dreieck der schwarz-gelben Regierungsphilosophie - es lautete immer: Jede Steuersenkung ist gut, man
will auch Leistung für die Bürger und diese möglichst
verbessern, und zwar in gewisser Beliebigkeit, siehe
Mövenpick, und man will die Haushalte gleichzeitig entschulden - vor die Wand gefahren ist. Weil es vor die
Wand gefahren ist, sind Sie jetzt in Unruhe, und Sie wissen nicht mehr, in welcher Richtung Sie noch die Peilung haben sollen. Damit müssen Sie aber fertig werden.
({0})
Es gibt Einzelreaktionen, zum Beispiel von Herrn
Barthle, den Haushälter, der schon vor der NRW-Wahl
meinte, man müsse auch bei der Bildung, der Kinderbetreuung und anderen Dingen kürzen.
({1})
Daneben gibt es den hessischen Ministerpräsidenten, der
den Kochlöffel herausholt und einmal kräftig auf den
Tisch haut. Außerdem gibt es den Herrn Tillich in Sachsen, der sagt: Es muss bei der Mehrwertsteuer etwas geschehen, weil wir mehr Mittel brauchen.
Dies ist die Gemengelage, aufgrund derer Sie sich neu
finden müssen und Sie Abschied von Ihrem falschen
goldenen Dreieck nehmen müssen; denn das ist nur
schwarz-gelb angemalt und blättert sehr - und nicht
mehr. Sie werden so nicht mehr durchkommen, und das
merken Sie auch selbst.
Nächste Beobachtung. Gestern haben wir Frau
Merkel und Herrn Kauder gehört. Das sind ja die Autoritäten in diesem Regierungsbündnis,
({2})
und es fällt auf, dass von der FDP keine Autorität mehr
zu nennen ist. Sie haben in Bezug auf die Bildungsrepublik Deutliches gesagt. Frau Merkel und Herr Kauder
haben gesagt: Die 12 Milliarden Euro stehen; das soll
ein Markenzeichen werden. - Sie haben auch gesagt:
Die 10 Prozent für Bildung und Forschung in 2015 sollen stehen. Es fällt auf, dass das heute hier noch von keinem Sprecher der CDU/CSU und der FDP gesagt worden ist.
({3})
Wir wissen natürlich, woher das kommt: Die Setzungen
der obersten Autoritäten werden gar nicht mehr richtig
getragen, Sie erkennen die Autorität von Merkel und
Kauder in Bezug auf diese Eckpunkte für die Bildungsrepublik Deutschland in der Zukunft gar nicht mehr an;
denn Sie müssen sich daran messen lassen.
Aber auch die Autorität von Merkel und Kauder wird
daran gemessen, ob bei der Haushaltsklausur herauskommt, dass die 12 Milliarden Euro tatsächlich manifest
gesichert sind, und ob beim Bildungsgipfel zwischen
dem Bund und den Ländern, der drei Tage später stattfindet, nämlich am 10. Juni 2010, herauskommt, dass die
10 Prozent im Jahre 2015 gesichert und nicht aufgeschoben und nicht diffundiert sind. Das würde dann Autorität
bedeuten, die in dieser Regierung vielleicht neu hergestellt werden kann.
Heute fällt auf: So weit sind Sie noch nicht. - Sie sind
auch deshalb noch nicht so weit, weil sich die Länder
und Kommunen, die Sie beteiligen müssen, wenn es um
die Veränderung der Republik in den Bereichen Bildung,
Forschung und Innovation geht, betrogen fühlen. Sie
sind mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz betrogen worden, was nichts anderes als ein Entfinanzierungsgesetz für die Länder und Kommunen war.
({4})
Das, was Sie derart aufgebaut haben, ist einfach eine
Falle. Ich will das anhand des Bundeslandes SchleswigHolstein aufzeigen, wo wir auch die Mövenpicks mitfinanzieren mussten und wo die gleiche CDU/FDP-Landesregierung jetzt das beitragsfreie Kindergartenjahr
wieder abschaffen musste. Es wurden 35 Millionen Euro
an die Hoteliers gegeben und 35 Millionen Euro von den
Eltern genommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({5})
An dieser Stelle bekommen Sie die Kurve nicht mehr,
wenn Sie nicht zu einem neuen Dreieck kommen. Dieses
Dreieck beinhaltet eine Einnahmeverbesserung durch
gerechte Steuern und eine Steuerverbesserung.
Es geht nicht mehr nur darum, die ermäßigten Mehrwertsteuersätze abzuschaffen. Das hat Hans Eichel versucht, und Sie haben ihn dafür als Steuererhöher denunziert. Ist Herr Tillich ein Steuererhöher? Werden die
CDU-Ministerpräsidenten zu Steuererhöhern,
({6})
oder kriegen Sie die Balance hin, was vielleicht vernünftig sein könnte, indem Sie manchen ermäßigten Mehrwertsteuersatz wieder zurücknehmen, damit man mehr
Geld für gute, innovative Politik hat? Hierzu gehört aber
auch Gerechtigkeit, sodass Sie auch die Reichensteuer
einführen und die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer entsprechend erhöhen müssen.
Das war das Erste.
Zweitens müssen Sie, um zu einem neuen Dreieck zu
kommen, die richtigen Prioritäten setzen, und zwar auf
Bildung, Forschung und Innovation. Dann können Sie
die Haushaltskonsolidierung erfolgreich angehen. Wenn
das geschieht, wird dies nicht nur die CDU/CSU, sondern auch die FDP verändern.
({7})
Die spannende Frage ist, ob der Umbruch, der jetzt
stattfindet, dazu führt, dass Sie sich als Regierung neu
erfinden, vielleicht dann auch mit einer neuen FDP. Es
gruselt einem manchmal bei der Entschlossenheit, mit
der Sie sich bei einer leergelaufenen Ideologie wie in einer Wagenburg sammeln.
({8})
Auch der Koalitionspartner empfindet dieses Gruseln,
wenn er die Debatten wie gestern verfolgt. Er merkt
nämlich, dass er mit diesem Partner die Einsichten, die
er gewonnen hat, gar nicht umsetzen kann.
Fazit: Was jetzt ein Haufen Union, ein Haufen FDP
und ein Haufen Regierung ist,
({9})
hat die Chance, von diesem Haufen zur handelnden Regierung zu werden und damit in die neue Zeit zu finden.
Versuchen Sie es! Wir werden Sie dabei gerne treiben.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun Alois Karl für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Diskussion ist von
Ihnen bereits gestellt worden, Herr Koppelin. Ich formuliere es positiv: Wir sind eine Regierungskoalition, in der
verschiedene Parteien vertreten sind. Die Parteien haben
außerordentlich tüchtige Leute, die sich täglich Gedanken machen und auch von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen. Daran finde ich zunächst nichts Schlechtes.
Wir sind in diesen Tagen in einer schwierigen Zeit.
Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben das
in den letzten Tagen vielfach ausgeführt. Sie geben uns
Gelegenheit, Grundsätzliches zu diesen Themenbereichen zu sagen. Viele von uns machen sich ihre Gedanken. Es ist gut, dass wir uns in dieser schwierigen Zeit
auseinandersetzen.
Wir sind, wie gesagt, verschiedene Parteien. Wir sind
keine Einheitsfront, und wir haben auch kein einheitliches Sprachregime. Uns geben keine Politbüros vor, was
wir zu sagen haben. Ich danke herzlich denen, die sich in
den letzten Tagen so sachlich und intensiv an der Diskussion beteiligt haben.
({0})
Wir haben zwei Hauptaufgaben: Die eine ist Sparen
und Konsolidieren. Das ist bereits angesprochen worden.
Die andere Aufgabe besteht darin, dass wir investieren
müssen, wie es schon in den letzten Jahren der Fall war.
Ich wundere mich manchmal, wie die Vergangenheit
auch von manchen aus den Reihen der SPD verdrängt
wird. Wir hatten doch den größten Konjunktur- und
Wirtschaftseinbruch seit Gründung der Bundesrepublik
vor mehr als 60 Jahren. Deshalb haben wir einiges machen müssen, was wir eigentlich von vornherein nicht
machen wollten, was uns aber aufgedrängt worden ist.
Wir haben investiert, statt in die Krise hineinzusparen, wie es in der letzten großen Wirtschaftskrise 1932
der Fall war. Tüchtige Finanzminister, Peer Steinbrück
und auch Wolfgang Schäuble, haben mit unserer Unterstützung das Richtige getan. Wir haben durch vielfache
Maßnahmen die Konjunktur gestützt, und wir haben in
die Menschen investiert. Wir haben viel Geld in die
Kurzarbeiterregelung investiert, um die Menschen zu
qualifizieren und sie in der Krise nicht hängen zu lassen.
Wir wissen, dass 100 000 zusätzliche Arbeitslose Mehrausgaben von 2 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Deshalb war es richtig, dass wir in dieser schwierigen Zeit
gemeinsam investiert haben. Lieber Herr Hagemann,
auch das sollten Sie in einer Debatte wie dieser durchaus
erwähnen; denn wir haben eine gute Leistung vollbracht.
({1})
Wir müssten uns darüber freuen, dass die Zahl der Arbeitslosen dieses Jahr statt der prognostizierten
4 Millionen nur noch 3,4 Millionen betragen soll. Wir
haben eine soziale Politik betrieben, die auch Geld gekostet hat. Jetzt ist das Gebot der Stunde, dass wir uns
ans Sparen und Konsolidieren machen. Jeder weiß, dass
derjenige, der Einsparungen fordert, zunächst Beifall erhält. Wenn es aber konkret wird und man sieht, dass die
Einsparungen einen selber betreffen, dann wird man zurückhaltender. Es war richtig, dass wir die Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen haben und uns
damit selber vorgegeben haben, wie wir in den nächsten
Jahren haushalten müssen.
Wir wissen doch, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben, in der es schon heute mehr über 65-Jährige
als unter 20-Jährige gibt. Aus diesem Grunde wird es
eine der Hauptfragen sein, welche Reformen, die sich
erst in Jahrzehnten auswirken werden und von denen die
heute Alten wahrscheinlich nichts mehr haben werden,
wir heute machen. Es ist das Gebot der Korrektheit, dass
wir den jungen Leuten in unserem Lande Perspektiven
geben. Dafür sind wir gewählt, und dafür haben wir Verantwortung.
({2})
Auch den Herrschaften auf den Tribünen muss gesagt
werden, dass wir seit 40 Jahren mehr Geld in unserem
Lande ausgeben, als wir einnehmen. Das ist in einer gewissen Weise eine unethische Politik. Wir müssen heute
zugeben, dass wir alle daran irgendwie beteiligt und irgendwie schuldig waren. Aber es geht nicht darum, die
Vergangenheit zu bewältigen, sondern darum, die Zukunft zu gewinnen. Darum sind kleinkrämerische Reden,
wie sie heute zum Teil geschwungen worden sind, das
völlig verkehrte Mittel, wenn man an diese großen Aufgaben herangehen will.
({3})
Die Bundesregierung wird in der Klausurtagung Anfang Juni die Grundlinien vorgeben und die Weichen
stellen. Selbstverständlich haben wir Grundsätze. An
Bildung und Forschung wird als Allerletztes gespart; das
haben wir gesagt.
({4})
Wir wollen für unsere Kinder sparen, und wir wollen
nicht an unseren Kindern sparen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich danke für den Hinweis. - Herr Tillich hat recht,
wenn er sagt, das Geld könne auch in der Bildung klug
eingesetzt werden und niemand sei davor gefeit, heute
bessere Gedanken als im letzten Jahr zu haben.
Meine Damen und Herren, der eine mag zwar der
Koch sein. Aber der Küchenchef sind wir hier im Deutschen Bundestag. Wir werden auf der Grundlage der
Vorschläge entscheiden, die wir hier machen. Auch die
Opposition ist aufgerufen, sich nicht nur renitent zu verhalten und nicht nur destruktive Vorschläge zu machen.
Herr Kollege!
Vielmehr sollte sie sich hier an einer Aufgabe beteiligen, die die nächsten Generationen in unserem Lande
betreffen wird.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Volkmar Klein von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was wir im Zuge dieser Aktuellen Stunde gelernt haben, ist, dass Folgendes leider immer noch sehr
aktuell ist: Wir brauchen gerade auf der linken Seite dieses Hauses viel mehr Verständnis dafür, dass Haushaltskonsolidierung nun wirklich ein moralisches Gebot, eine
moralische Aufforderung im Interesse unserer Kinder
ist. Dies ist leider immer noch sehr aktuell, weil es noch
längst nicht überall verstanden worden ist.
({0})
Ansonsten habe ich diese Diskussion als ziemlich
skurril empfunden. Was werfen Sie uns denn im Kern
vor?
({1})
Sie werfen uns doch offensichtlich vor, dass wir es uns
in der Vorbereitung der im zweiten Halbjahr zu führenden Diskussionen nicht leicht machen. Aber, meine Damen und Herren, was denn sonst? Natürlich machen wir
es uns nicht leicht, weil es abzuwägen gilt. Auf der einen
Seite gibt es wichtige Anliegen, für die wir hier Verantwortung haben: Bildung zu stärken, Straßenbau zu organisieren, weil diese Infrastrukturinvestition für unsere
Zukunft ebenfalls wichtig ist, unsere Bundeswehr ordnungsgemäß auszustatten, sodass sie wirklich Sicherheit
für uns produzieren kann, Verantwortung für andere
Länder in Sachen Entwicklungshilfe zu übernehmen. All
dies sind doch wichtige Dinge, die abgewogen werden
müssen. Auf der anderen Seite haben wir eben auch Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.
({2})
Es ist einfach ethisch unanständig, hier so zu tun, als sei
nur Ausgeben moralisch einwandfrei, nicht aber Haushaltskonsolidierung. Ganz im Gegenteil!
({3})
Das, was wir im Hinblick auf die Zukunft und gegenüber den nachfolgenden Generationen für moralisch anständig halten, kommt doch sozusagen aus der Zukunft
zu uns zurück. Wir stellen fest, dass auch die Finanzmärkte Zweifel haben, ob künftige Generationen tatsächlich so belastbar sind, wie das in dem einen oder anderen Land im Moment ausgetestet wird.
({4})
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, nun über eine
Haushaltskonsolidierung nachzudenken, und zwar nicht
nur deshalb, weil wir sie als Selbstverpflichtung im
Grundgesetz verankert haben. Wir müssen sicherlich die
Vorgaben der Schuldenbremse einhalten. Aber wir wollen es auch, weil wir es für richtig und moralisch anständig halten, nicht auf Kosten künftiger Generationen zu
leben.
({5})
Deshalb ist es im Grunde auch richtig, einen Wettbewerb
- diesen kann man sicherlich ein bisschen leiser oder
hinter verschlossenen Türen durchführen, wie der eine
oder andere meint - zu starten, bei dem es um die Frage
geht, wo wir mit geringstem Schaden weniger Geld ausgeben können. Es wäre schön, wenn man sich dabei
nicht renitent verhalten würde, wie mein Vorredner es
ausgedrückt hat, sondern wenn ein bisschen konstruktiv
mitgedacht würde.
({6})
Wir müssen in unserem Land einen Wettbewerb starten,
in dessen Mittelpunkt die Frage steht, wie wir mit unserem Geld mehr erreichen können. Das ist die zentrale
Frage, die uns in den nächsten Monaten und Jahren leiten wird.
Es wäre schön, wenn wir über die im zweiten Halbjahr dieses Jahres anstehenden Beratungen über den
Haushalt 2011 hinaus einen kleinen Beitrag zu einer
neuen Kultur der Stabilität, der Zukunftsorientierung
und des besseren Abwägens leisten könnten. Das wünsche ich mir. Es wäre diesem Hause angemessen, wenn
sich alle daran beteiligten.
Herzlichen Dank.
({7})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Die Fraktionen haben sich verständigt, die Sitzung
jetzt für etwa zwei Stunden für Fraktionssitzungen zu
unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal bekannt gegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Europa 2020 - Die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union
braucht realistische und verbindliche Ziele
- Drucksache 17/1758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche ist von schwerwiegenden Entscheidungen geprägt, die über die Zukunft unseres Landes
und Europas bestimmen. Mit der heutigen Diskussion
über die Inhalte und Maßnahmen der Europa-2020-Strategie und der zu verabschiedenden Stellungnahme des
Deutschen Bundestages beraten wir, wie Wachstum und
Beschäftigung im kommenden Jahrzehnt in der Europäischen Union geschaffen werden können.
Die langfristige Ausrichtung ist aber nur dann erfolgreich, wenn wir bei dieser Strategie Prioritäten setzen,
Probleme erkennen und gemeinsam handeln.
({0})
Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen benennen wir unsere Vorstellungen, um der Bundesregierung
durch das Parlament Handlungsaufträge für den Europäischen Rat am 17./18. Juni 2010 mit auf den Weg zu
geben.
Die Auswirkungen der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise sind mit ein Anstoß für die Wirtschafts- und
Beschäftigungsstrategie. Außerdem soll die Strategie das
Konzept sein, wie Europa seine Wettbewerbsfähigkeit in
der Welt sichern kann.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht bereits in ihrer Regierungserklärung am 5. Mai dieses Jahres erklärt, dass
sie sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie
wir die neue Wachstumsstrategie verabschieden können,
ohne dass in konkreter Form deutlich wird, welche Lehren Europa aus der Krise zieht. Erst gestern sagte sie,
dass wir uns, wenn wir Europa positiv entwickeln wollen, an den starken und erfolgreichen Volkswirtschaften
orientieren müssen und nicht an den Schlusslichtern.
({2})
Die Länder der Europäischen Union sitzen in einem
Boot. Das merken wir in diesen Tagen ganz besonders.
Deshalb unterstützen wir die Forderung nach einer Abstimmung zwischen einzelnen Langzeitstrategien der
Europäischen Union.
Es ist wichtig, Kernziele herauszuarbeiten und sich
darauf zu konzentrieren. Bisherige Entscheidungen wie
die zum Krümmungswinkel von Bananen oder das Kinderwagenverbot auf Rolltreppen gehören nicht in die
Zuständigkeit der EU. Sie sind eher das Ergebnis von
Regelungswut und rufen bei den Bürgern nur Kopfschütteln hervor.
Es geht darum, andere Ziele zu benennen. Um noch
einmal mit den Worten der Kanzlerin zu sprechen: Es
geht um die Aufgabe, durch eine vernünftige Infrastruk4276
tur und Forschungspolitik den europäischen Kontinent
zukunftsfest auszurichten.
Mit dem vorliegenden Antrag setzen wir diesen Anspruch um und ziehen die richtigen Lehren aus der in
vielen Belangen enttäuschenden Lissabon-Strategie. Das
sieht auch die Europäische Kommission so. Sie hat wenige wichtige Leitlinien und Kernziele benannt, denen
wir uns zum großen Teil anschließen können. Wir werden aber auch darauf achten, dass die Zielvorgaben realistisch sind und sich an der Kompetenzordnung der EUVerträge ausrichten.
({3})
Im Hinblick auf die geplante Reduzierung der Zahl
der von Armut Betroffenen kann ich nur davor warnen,
Fortschritte bei der Armutsbekämpfung einzig und allein
durch eine Übersicht zur Einkommensverteilung abzubilden. Jeder in diesem Hohen Haus ist für soziale Eingliederung und Armutsbekämpfung.
({4})
- Ich habe gerade gesagt: jeder. Da zähle ich uns mit
dazu.
({5})
Allerdings lehnen wir, CDU/CSU und FDP, das Ziel einer Armutsrisikoquote, wie sie die Kommission vorschlägt, ab.
({6})
Ein ausschließlich quantitativ formuliertes Armutsreduktionsziel sagt noch gar nichts über das Wie der Reduktion aus. Die Armutsrisikoquote ignoriert die nichtmonetären Sozialleistungen, zum Beispiel für präventive
Maßnahmen, für die Sicherung des Zugangs zu Bildung,
zu Kinderbetreuungseinrichtungen und zu Hilfen für Alleinerziehende. Hier ist Klarheit über die Zielformulierung unbedingt notwendig; andere Mitgliedstaaten sehen
das im Übrigen genauso. Überdies ist es wichtig, darauf
zu achten, dass der sozialpolitische Bereich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.
Beim Bildungsziel muss es auch darum gehen, die
Kompetenzordnung der Mitgliedstaaten zu beachten. Deshalb fordern wir eine objektive Berücksichtigung der speziellen Bildungswege und Bildungsangebote in Deutschland, die vielfach einen dem Hochschulabschluss
ähnlichen Abschluss ermöglichen. An dieser Stelle sehen wir auch die von der Kommission vorgeschlagene
Quantifizierbarkeit von Bildungserfolgen sehr kritisch.
Eine reine Ausrichtung an absoluten Zahlen greift bei
der Bewertung des Bildungssystems nach unserer Auffassung zu kurz.
({7})
Die konkrete Umsetzung der Leitlinien und Kernziele
der neuen Wachstumsstrategie soll durch nationale Aktionspläne erreicht werden. Mit den in unserem Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen gehen wir in die
richtige Richtung; er ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt.
Inhaltlich sind die Berichterstattung zur Europa-2020Strategie und das auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt
gegründete Bewertungsverfahren zwar getrennt. In der
Kombination haben wir aber die Möglichkeit, noch stärker auf diejenigen innerhalb der Europäischen Union zu
achten, die sich etwas schwerer tun. Wir werden darauf
hinwirken, dass die Zusammenarbeit in diesem Bereich
verbessert wird.
({8})
Um dabei mögliche Hindernisse zu überwinden und
die Ziele von Europa 2020 zu verwirklichen, müssen alle
auf EU-Ebene verfügbaren Instrumente und insbesondere der Binnenmarkt in den Dienst der Strategie gestellt
werden. Dabei sind die Leitlinien eines innovativen,
integrativen und nachhaltigen Wachstums und Wirtschaftens sehr richtig gewählt. Die EU muss jetzt noch
intensiver zusammenarbeiten, um sich aus der Krise zu
befreien und die richtigen Lehren aus ihr zu ziehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin bin ich der
Auffassung: Dieser Antrag der Koalitionsfraktionen
zeigt schwarz auf weiß die Handlungsunfähigkeit der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen in der
Europapolitik.
({0})
Dieser Antrag, meine Damen und Herren, ist erschreckend ideenlos. Es geht bei der Strategie Europa 2020
um die Zukunft der Europäischen Union, um nicht mehr
und nicht weniger. Es geht um die Weichenstellungen für
unsere Zukunft auf der europäischen Ebene. Gerade
jetzt, in der Krise, ist es nicht nur von ganz entscheidender Bedeutung, mit welchen Antworten wir dieser Krise
begegnen, sondern auch, welche Lehren wir daraus ziehen.
Ich stelle fest, dass die Koalitionsfraktionen bis heute,
20. Mai, keine Vorschläge vorgelegt haben. Die Kommission hat ihre Ideen am 3. März präsentiert, und der
Europäische Rat wird abschließend bereits in vier Wochen darüber entscheiden. Aber die Bundesregierung hat
nichts vorgelegt, sie hat keine Ideen, und im Gegensatz
zu dem, was Sie, Frau Molitor, gesagt haben, hat sie
auch keine Lehren aus der Lissabon-Strategie gezogen.
In Bezug auf diese so wichtige Strategie zeigen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen genau dasDr. Eva Högl
selbe Verhalten, das sie auch in der Krise, über die wir
jetzt diskutieren, und mit Blick auf das Stabilisierungspaket, über das wir morgen zu entscheiden haben, an den
Tag legen. Verzögern und sich weigern, zu gestalten, das
ist das Motto der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen.
({1})
Die SPD hat dagegen bereits Anfang März, noch bevor die Kommission ihre Vorstellungen präsentiert hat,
einen umfassenden Antrag vorgelegt. Es lohnt sich, den
Antrag zu lesen und zu studieren. Darin machen wir
nämlich sehr deutlich, wohin wir auf dem Weg nach
Europa wollen; da wird klar, dass wir im Gegensatz zu
Ihnen Konzepte für Europa haben.
Am deutlichsten wird die Ideenlosigkeit, wenn man
sich anschaut, wie Sie mit den fünf Kernzielen umgehen,
die die Kommission vorschlägt: Drei davon werden abgelehnt, nämlich die wichtigen Ziele in den Bereichen
Bildung und Forschung, Armut und Beschäftigung.
Diese Ziele werden mit, wie ich finde, fadenscheinigen
Argumenten abgelehnt. Bei der Armutsbekämpfung verschanzt man sich hinter der Begründung, es gebe keinen
geeigneten Indikator, um die Armut zu messen. Es geht
hier aber nur darum, ob wir die Armut auf europäischer
Ebene bekämpfen wollen, ob wir dies endlich zu einem
wichtigen Ziel machen wollen.
({2})
Es geht auf europäischer Ebene nur um den Willen.
Es geht darum - Stichwort „Krise“ -, mit welchen Botschaften aus Europa wir unseren Bürgerinnen und Bürgern begegnen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht
weniger als die Akzeptanz der Europäischen Union und
die Gestaltung unserer Demokratie. Das heißt für mich,
dass es nach der Lissabon-Strategie und nach dieser
Krise kein Weiter-so geben kann.
({3})
Wir können so nicht weitermachen. Deswegen brauchen
wir keine Plattitüden dergestalt: Wenn die Wirtschaft
läuft, dann funktioniert das schon mit der Sozialpolitik.
({4})
Das reicht nicht aus.
({5})
Wir müssen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik eigene Akzente setzen. Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik, eine bessere Beschäftigungspolitik und
eben auch die klare Ansage, dass wir auf europäischer
Ebene die Armut bekämpfen und reduzieren wollen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine
bessere Koordination, und zwar nicht nur der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern gerade auch der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Wir sehen bei der Debatte über die Krise, dass wir nicht weiterkommen, wenn
wir uns dahinter verschanzen - das machen Sie mit Ihrem Antrag -, dass doch die Kompetenzen der Mitgliedstaaten zu wahren seien. Wir brauchen in dieser Krise
mehr Europa und mehr Abstimmung auf europäischer
Ebene.
({6})
Wir wollen eine Ergänzung des Wachstums- und Stabilitätspakts - das ist dringend erforderlich - um einen
sozialen Stabilitätspakt. Wir halten es für dringend erforderlich, ein solches Signal zu setzen. Gerade jetzt, in dieser Krise, wird deutlich, dass wir im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik Leitlinien festlegen und
Ansagen machen müssen.
Mich erstaunt besonders, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen sogar hinter den Aussagen der Bundesregierung zurückbleibt. Die Bundesregierung hat nämlich in den Debatten, die wir geführt haben, immer
gesagt, dass sie sich sehr wohl zu den Zielen bekennt
und Überlegungen anstellt, wie man die Umsetzung ausgestalten kann. Ihr Antrag besagt jetzt, dass Sie diese
Ziele auf keinen Fall unterstützen wollen. Das wundert
mich doch ein bisschen. Da wird, wenn ich das noch einmal sagen darf, die Ideen- und Konzeptlosigkeit ganz
deutlich.
({7})
- Herr Kollege Wadephul, keine Plattitüden, sondern
klare Aussagen. Sie haben keine Konzepte für Europa,
keine Konzepte für Deutschland.
Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: Schauen
Sie sich an, was die SPD formuliert hat! Wir stellen weder, wie Sie eben eingewandt haben, den Lissabon-Vertrag infrage noch wollen wir Europa auf den Kopf stellen. Wir wollen vielmehr Europa auf die Füße stellen.
Wir wollen auf europäischer Ebene gute Politik machen.
Wir wollen eine gute Nachfolgestrategie für die Lissabon-Strategie entwickeln. Im Gegensatz zu Ihnen wollen
wir Europa gestalten und für die Bürgerinnen und Bürger deutlich machen, wohin der Weg geht. Da haben wir
etwas Gutes vorgelegt. Vielleicht kann sich der Deutsche
Bundestag dazu durchringen, den wundervollen Antrag
der SPD zu beschließen,
({8})
nicht Ihren von Substanzlosigkeit und Ideenlosigkeit geprägten Antrag, den Sie uns heute, vier Wochen vor der
entscheidenden Beschlussfassung im Europäischen Rat,
hier präsentieren.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich weiß nicht so recht, ob man eigentlich weinen oder lachen soll.
({0})
- Ich will Ihnen gleich erklären, worum es mir geht und
was mich berührt.
Sie sprechen von Ideenlosigkeit, Sie weisen auf die
historische Stunde hin, in der sich die Europäische
Union in der Tat befindet, Sie sprechen von entscheidenden Weichenstellungen, vor denen wir in Europa stehen.
Dann müssen wir aber feststellen: Die sozialdemokratische Fraktion wird sich morgen bei der Abstimmung
über das Euro-Rettungspaket enthalten. Wenn hier jemand vor Europa versagt, dann sind Sie das. Sie sitzen
hier im Glashaus.
({1})
Sie geben Ihre europapolitische Glaubwürdigkeit auf,
wenn Sie in einer solchen Krisensituation nicht bereit
sind, unsere Währung und damit die Idee einer politischen Einigung Europas zu retten.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Tat
braucht Europa nicht nur angesichts der von Frau Kollegin Molitor bereits vollkommen zu Recht erwähnten Regelungswut - der Krümmungsgrad der Banane ist erwähnt worden -, sondern auch in dieser Zeit der
Währungskrise sowohl Unterstützung als auch eine positive Vision. Ich halte dies für das Gute an dieser Strategie, das wir unterstützen sollten und weshalb wir uns
auch zu ihr bekennen. Europa darf nicht nur mit Regelungen identifiziert werden, Europa darf gerade in der
jetzigen Situation nicht nur mit Krise und mit notwendiger Hilfe für Staaten identifiziert werden, die sich derzeit
in einer schwachen währungspolitischen Situation befinden. Europa braucht auch eine Wohlstandsperspektive;
nur dann werden die Menschen zu Europa stehen. Deswegen ist diese Strategie wichtig und gut, und deswegen
unterstützen wir sie.
({3})
Zum anderen steht darin in der Tat mehr als Armutsbekämpfung, obwohl diese auch wichtig und in der jetzigen Situation gerade aufgrund der Währungskrise sehr
richtig und sehr notwendig ist. Denn Wachstum und Beschäftigung sind die Grundlage dafür, dass es den Menschen gut geht, dass sie Geld verdienen, dass der Staat
Steuereinnahmen hat und dass die Staaten, die sich ja
alle - so auch wir; die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen - in einer schwierigen finanzpolitischen Situation befinden, aus diesem Schuldenturm wieder herauskommen. Nur, allein mit Sparen wird dies nicht
gelingen. Wir brauchen Wirtschaftswachstum in ganz
Europa, und deswegen ist auch dieser Ansatz richtig,
und wir unterstützen ihn.
Wir mischen uns nun, Frau Kollegin Högl, um auf das
einzugehen, was Sie gerade gesagt haben - Sie haben Ihren eigenen Antrag dazu „wunderbar“ genannt; dazu
sage ich gleich noch zwei, drei Sätze -, in einer relativ
späten Phase in die Diskussion ein. Es ist nicht so, dass
alle anderen Mitgliedstaaten darauf warten, dass
Deutschland jetzt einen ganz neuen Entwurf vorlegt.
Vielmehr hat die Kommission etwas vorgelegt; darüber
wird diskutiert. Gestern hat uns das Wirtschaftsministerium gesagt, wie weit der Konsens schon vorangetrieben
ist. Deswegen ist unser Antrag genau die richtige Antwort, weil wir an den Vorschlag der EU-Kommission anknüpfen und an der einen oder anderen Stelle in der Tat
Hinweise geben, die sich von Ihrer Politik unterscheiden.
Es ist vollkommen illusionär, jetzt Politikbereiche
einzubeziehen, die Sie genannt haben, bei denen keiner
der anderen Mitgliedsstaaten daran denkt, sie in einer
Strategie zu verarbeiten, etwa die Bildungspolitik. Die
Bildungspolitik gehört nicht zum Gemeinschaftsrecht
der Europäischen Union - die Bildungspolitik ist noch
nicht einmal nationales Recht in Deutschland; sie gehört
in die Länderhoheit -, und deswegen ist es völlig falsch,
nun den Eindruck zu erwecken, als wäre es eine der vornehmsten Aufgaben dieser EU-Strategie, Bildungspolitik auf die europäische Ebene zu heben. An dieser Stelle
verwechseln Sie Äpfel mit Birnen. Das gehört dort einfach nicht hin, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strengmann-Kuhn?
Ja, ich gestatte die Zwischenfrage.
Wir haben im Arbeits- und Sozialausschuss bereits
über dieses Thema diskutiert. Dort haben Sie die Position vertreten, dass es bei der EU-2020-Strategie nicht
nur nicht um Bildungspolitik geht, sondern auch nicht
um Sozialpolitik. Könnten Sie hier einmal erklären, ob
Sie immer noch dieser Meinung sind? Im letzten Drittel
geht es ja um sozialpolitische Ziele, die schon in der Lissabon-2010-Strategie enthalten waren, so die offene MeDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
thode der Koordinierung und Ähnliches. Sind Sie also
immer noch der Meinung, dass die sozialpolitische
Dimension, die in der EU-2020-Strategie unter der
Überschrift „Integratives Wachstum“ angesprochen
wird, nach wie vor keine Rolle spielt?
Wenn Sie dieser Meinung sind, könnten Sie das dann
auch einmal begründen, angesichts des Widerspruchs zu
dem, was eigentlich in der Strategie, in dem Vorschlag
der EU-Kommission steht? Wäre es jetzt nicht eigentlich
auch für diese Bundesregierung an der Zeit, zu verdeutlichen, dass sozialpolitische Ziele neben Wachstumszielen
durchaus Ziele der Europäischen Union sind, wohl wissend, dass es bei deren Umsetzung um die Subsidiarität
der Mitgliedstaaten geht?
Ich bin dankbar, dass ich das aufklären kann und dass
Sie, sicherlich völlig unabsichtlich, mich und meine
Fraktion falsch verstanden haben.
Niemand ist - das ist hier mehrfach betont worden gegen Armutsbekämpfung. Vielmehr ist das ein Ziel, das
uns politisch wohl über alle Fraktionsgrenzen und politischen Grenzen hinaus eint. Die Frage ist nur: Wie geht
man mit dem Thema um? Dazu möchte ich drei Punkte
ansprechen.
Erstens. Die Kollegin Molitor hat hier - ich möchte
das nicht wiederholen - eindrücklich nachgewiesen, warum die sogenannte Armutsrisikoquote, die bisher von
der EU-Kommission genannt worden ist, völlig ungeeignet ist, um die Armut eines Landes zu messen.
({0})
Sie haben uns bisher immer vorgeworfen, dass wir diesen Indikator ablehnen.
({1})
- Entschuldigung, aber das ist in der öffentlichen Diskussion der Fall gewesen. Wenn Sie Wert darauf legen,
dass ich antworte, sollten Sie mir Gelegenheit geben, das
zu tun.
({2})
Sie können hinterher bewerten, ob es Ihnen ausreicht,
aber ich würde gerne versuchen, das auszuführen.
({3})
Dieser Indikator ist, wie gesagt, völlig ungeeignet.
Zweitens. Niemand hat bisher einen anderen brauchbaren Indikator dafür gefunden.
Drittens. Es ist schlicht und ergreifend so, dass man
Armut immer nur dann verringern kann, wenn es Wachstum und Beschäftigung gibt. Denn nur dann sind Staaten
in der Lage, sozialpolitisch zu handeln. Arbeit ist nun
einmal die beste soziale Maßnahme. Dafür setzen wir
uns ein. Daraus muss man die Kraft schöpfen, sozialpolitisch tätig zu sein. Das ist unsere Philosophie.
({4})
Ich bin dankbar, dass Sie das Subsidiaritätsprinzip erwähnt haben. Ich möchte es an dieser Stelle noch einmal
erwähnen, weil es für uns in der Tat ein wichtiger Aspekt
ist. Ich möchte Ihnen das einmal entgegenhalten - Sie
können sich gerne auch andere Politikbereiche anschauen -: Würden Sie sich von den Dänen vorschreiben
lassen, wie man ein gutes Kündigungsschutzrecht verfasst? Würden Sie sich das von den Dänen sagen lassen?
({5})
Die Dänen haben nämlich gar kein Kündigungsschutzrecht. Wollen Sie sich von den Briten vorschreiben lassen, wie das Mitbestimmungsrecht, das wir haben und
auf das wir stolz sind - Montanmitbestimmung und alles, was dazugehört -, auszusehen hat? Die haben nämlich keines. Kaum ein Land hat es.
Diese Beispiele zeigen, dass Subsidiarität auch bedeuten kann, dass Deutschland - das ist vollkommen
richtig; dahinter stehen wir auch - eine andere Sozialpolitik macht als andere Länder. Deswegen ist das Subsidiaritätsprinzip richtig und muss gelebt werden. Es darf
nicht gleich bei der ersten Strategie, die wir nach dem
Lissabon-Vertrag verabschieden, konterkariert werden.
Damit führen wir die europäische Idee ad absurdum. Das
tragen wir nicht mit.
({6})
Letzte Bemerkung: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist wichtig und muss verschärft werden; darauf hat
Wolfgang Schäuble in der letzten Debatte am Freitag vor
zwei Wochen hingewiesen. Es darf nicht zu einer Verquickung dieser Strategie mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt kommen. Denn dieser Pakt ist ein wichtiger und immer wichtiger werdender Pfeiler der Europäischen Union. Deswegen lehnen wir alle Vorschläge
ab, die darauf abzielen, aufgrund der vermeintlichen
Verwirklichung der EU-2020-Strategie auf Kriterien der
Stabilität zu verzichten, wie das die spanische Ratspräsidentschaft Anfang des Jahres angedeutet hat.
({7})
Herr Zapatero hat dazugelernt. Er hat hinzugelernt,
dass er seine Haushalte in Ordnung bringen muss. Nur
so wird ein Schuh daraus. Man muss das eine tun und
darf das andere nicht lassen. Die EU-2020-Strategie ist
richtig. Stabilität ist aber noch wichtiger.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Alexander
Ulrich das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bürgerinnen und Bürger am Bildschirm müssen
wirklich glauben, dass wir hier eine Debatte im Tollhaus
führen.
({0})
Europa weiß nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, ob
sich das, was die Bundeskanzlerin angedeutet hat, bewahrheiten wird. Wir machen uns Gedanken, wie Europa 2020 aussehen könnte. Das nimmt uns keiner ab. Es
kommt einem so vor, als würde ein Haus lichterloh brennen, sich aber CDU/CSU, FDP und die Kommission in
Brüssel darüber Gedanken machen, ob man das abgebrannte Kinderzimmer renovieren sollte.
({1})
Unsere Auffassung ist folgende: Wir als Bundestag
sollten die Kommission auffordern, die EU-2020-Strategie als Fortsetzung der Lissabon-Strategie nicht zu
beschließen. Wir sollten uns vielmehr zuerst um die Krisenbewältigung kümmern, und zwar unter sozial gerechten Gesichtspunkten. Wir sollten uns dann möglicherweise im Jahre 2011 darüber Gedanken machen, wie
man Europa in kleineren Schritten über vier oder fünf
Jahre so gestalten kann, dass sich solche Krisen, wie sie
uns zurzeit in immer kürzeren Abständen einholen, nicht
wiederholen. Deshalb wäre es gut, wenn wir uns über
Anträge unterhielten, die die Kommission dazu verpflichteten.
({2})
Bei dem, was Sie hier vorbringen, merkt man, dass
Sie nicht zurückblicken und sich fragen, warum die Lissabon-Strategie gescheitert ist. Zur Verdeutlichung:
Wachstum und Forschungsausgaben sind nicht, wie geplant, gestiegen. Gewachsen hingegen ist die Zahl der
Beschäftigten in Europa, die für einen Hungerlohn arbeiten, gewachsen ist auch die Armut und insbesondere die
Kinderarmut. Es ist fatal, dass sich CDU/CSU und FDP
überhaupt nicht darüber verständigen wollen, wie man
Armut bekämpfen kann. Man will auch keine Zahlen
mehr nennen. Man möchte nur noch lose Formulierungen hineinschreiben; dabei haben lose Formulierungen
dazu beigetragen, dass die Lissabon-Strategie gescheitert
ist. Deshalb dürfen wir so nicht weitermachen.
({3})
Die Grundideen der Lissabon-Strategie waren Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung. Daran gemessen ist die Strategie natürlich nicht gescheitert; denn
es wurde eine Umverteilung vollzogen. An der Privatisierung haben sehr viele, auch die Konzerne, sehr gut
verdient. Für diese, für die Sie Lobbypolitik betreiben,
war die Lissabon-Strategie ein voller Erfolg; aber für die
Masse der Menschen ist der Begriff „Lissabon“ verbunden mit Sozialabbau, schlechteren Lebensverhältnissen,
prekärer Beschäftigung, Kinderarmut und auch damit,
dass die Reichen immer reicher und die Armen immer
ärmer geworden sind. Das muss man deutlich zum Ausdruck bringen.
({4})
Zur Klarstellung: In Deutschland hat damals der Arbeitsminister Müntefering gesagt: Die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie sind die Agenda 2010 und
Hartz IV. Mit europäischem Rückenwind ist sozusagen
der größte Sozialabbau in Deutschland seit dem Zweiten
Weltkrieg vorgenommen worden. Das muss man deutlich sagen. Frau Högl, manchmal ist es gut, Sie von der
SPD und auch die Grünen daran zu erinnern, dass Sie
dafür verantwortlich waren und nicht die jetzige Regierung.
({5})
Einer der Hauptwidersprüche der Europa-2020-Strategie ist folgender: Auf der einen Seite will man intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum schaffen, auf der anderen Seite soll strikt gespart werden, um
die durch die Bankenrettung und Wirtschaftskrise aufgetürmten Schulden abzubauen. Diesen Grundwiderspruch
löst man sicherlich nicht dadurch, dass man, wie im Antrag von CDU/CSU und FDP vorgelegt, lapidar fordert,
man müsse einfach beides machen: die Strategie umsetzen und sparen.
Lassen Sie mich den Widerspruch anhand der drei
Oberziele der Strategie - intelligentes, nachhaltiges und
integratives Wachstum - deutlich machen. Intelligentes
Wachstum soll durch Innovation und Bildung erreicht
werden. Aber wie soll das ohne Geld bzw. trotz Spardiktaten wie in Griechenland funktionieren? Nachhaltiges
Wachstum kann nicht nur durch Marktanreize erreicht
werden, nötig sind auch Investitionen in die Klima- und
Energiewende, und auch das kostet bekanntermaßen
Geld.
Der Widerspruch zwischen Haushaltskonsolidierung
und integrativem Wachstum, dem dritten Oberziel der
neuen Strategie, lässt sich derzeit am Beispiel Griechenland in aller Härte studieren. Der Sparplan von EU und
IWF, der dem Land aufdiktiert wurde, sieht unter anderem Folgendes vor: die Kürzung von Gehältern und
Renten, die Einschränkung der Tarifautonomie, die Lockerung des Kündigungsschutzes, Kürzungen im Gesundheitswesen sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. All diese Maßnahmen treffen vor allem die
kleinen Leute, von sozialer Integration keine Spur. In
Spanien und Portugal sieht es nicht anders aus. Gespart
wird bei den Rentnerinnen und Rentnern, bei jungen Eltern und im öffentlichen Dienst.
Einer Sache können wir uns sicher sein: Diese unsozialen Sparmaßnahmen bleiben nicht auf Griechenland,
Spanien und Portugal beschränkt. Sie stellen eine BlauAlexander Ulrich
pause für die gesamte EU dar, und damit auch für
Deutschland. Deshalb ist die EU-2020-Strategie falsch.
Sie will das fortsetzen, was mit der Lissabon-Strategie
grandios gescheitert ist.
Ich fordere alle Fraktionen des Bundestages auf: Fordern Sie die Kommission in Brüssel auf, die Strategie
dorthin zu tun, wo sie hingehört, nämlich in den Mülleimer. Lassen Sie uns die Krise bewältigen, aber nicht
durch Sozialabbau und unter dem Diktat von Haushaltskonsolidierung. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitionsprogramm, damit Wachstum generiert werden kann.
Durch Sparen entsteht kein Wachstum. Durch Sparen
verringert man auch nicht die Armut.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit dem Thema Armutsrisikoquote.
Es gibt ein Argument, das man Ihnen vorhalten muss,
meine verehrten Damen und Herren von der Koalition:
Es wäre nicht so schlecht, wenn die Koalition grundsätzlich in dem Ziel übereinstimmen würde, dass wir uns in
Europa verbindlicher auf Standards einigen müssen und
dass das nicht nur im Stabilitäts- und Wachstumspakt
passieren kann, wo es auch passieren muss, sondern
auch in den Bereichen, die mit entscheidend dafür sind,
wie starke wirtschaftspolitische Koordinierung - oh,
welch Wunder, kein Einspruch von der FDP; Zitat aus
dem EU-Vertrag - geschehen kann.
({0})
Man fragt sich ja, warum Sie sich dagegen wehren,
das in Ihren Antrag hineinzuschreiben.
({1})
Sie sagen, die Indikatoren sind Quatsch. Hier könnte
man zwei Argumente aufzählen. Erstens. Ich habe auch
in Ihrem Antrag keine Vorschläge dafür gelesen, wie
man das trotzdem quantitativ bemessen kann und
möchte.
Zweitens. Diesen Indikator - 60 Prozent des Medianeinkommens -, den Sie infrage stellen, nutzt die Bundesregierung seit Jahren selber, weil, zumindest wenn man
eine Statistik an Maßstäben berechnen möchte, die von
manchen deutschen Instituten nicht genommen werden,
es in der Statistik vielleicht besser aussieht, selber die
Lage darzustellen. Also fangen Sie hier keine Scheindebatte an. Das Armutsziel in der 2020-Strategie zu verankern, ist richtig und wichtig.
({2})
Man kann sich fragen, warum. Wir haben ja gerade
das Problem, das Herr Ulrich angesprochen hat, nämlich
dass sich die Menschen fragen, wo eigentlich das soziale
Gesicht der Europäischen Union in dieser Krise ist.
({3})
Der Vertrag von Lissabon enthält ein soziales Versprechen, das Versprechen vom sozialen Fortschritt und
von sozialer Wohlfahrt. Diesem Versprechen müssen wir
gerecht werden. Herr Wadephul, ich arbeite gerne mit
Herrn Ulrich zusammen, vielleicht nicht in einer Koalition, aber sonst parlamentarisch, aber wenn Sie meinen,
dass Herr Ulrich widerlegt werden muss, dann sollten
Sie einmal etwas in dem Bereich tun, anstatt immer nur
zu blockieren und zu bremsen.
({4})
Da sind wir schon bei einem wunderbaren Beispiel
der aktuellen Debatte: blockieren und bremsen. Ihre
Fraktionen betreiben doch eigentlich eine Vogel-StraußPolitik, und zwar sowohl bei der EU-2020-Strategie als
auch bei der gesamten Krisenbewältigung. Wir brauchen
jetzt mehr Koordination in der Wirtschaftspolitik zwischen den Staaten. Wir brauchen mehr Governance. Wir
brauchen verbindliche Zielerreichungen. Entschuldigen
Sie, wenn ich es so sagen muss, aber das Einzige, was
uns jetzt noch aus der Krise führt, ist, einerseits im Rahmen des Stabilitätspaktes auf Schuldenabbau zu setzen
und für gesunde öffentliche Finanzen einzustehen und
andererseits für verbindliche wirtschaftliche Koordinierung zu sorgen. Aber mit welchen Instrumenten? Zum
Beispiel mit dem Instrument der integrierten Leitlinien
und mit dem Instrument der nationalen Reformprogramme, die verbindlicher geregelt werden sollten. Auch
diese Vorschläge sollte Herr Schäuble morgen in Brüssel
vortragen, wenn Sie etwas machen wollen. Wer aber die
EU-2020-Strategie nur mit Bremsen und Blockieren
begleitet, wird keinen Weg aus dieser Krise heraus aufzeigen können.
({5})
Ich muss noch etwas zum Thema Bildungsziel sagen.
Ich finde, man sollte sich, wenn man eine anspruchsvolle
Politik betreiben möchte, nicht hinter dem deutschen Föderalismus verstecken. Nach dem, was ich in der Vorbereitung auf die heutige Debatte erfahren habe, ist es sogar so, dass inzwischen im Bildungsrat für den Bereich
Bildung und Forschung mit der Zustimmung der Bundesregierung ein Bildungsziel konzertiert wurde. Warum
wettern Sie hier eigentlich noch so dagegen?
Finden Sie, Ihre Bundesregierung hat in Brüssel mal
wieder nicht gut genug verhandelt? Oder finden Sie,
dass das sachlich Quatsch ist? Dann sollten Sie aber in
Ihrem Antrag andere Schwerpunktsetzungen vornehmen
und das tun, was wir auch machen, nämlich die Bundesregierung zu Recht kritisieren.
Ich habe bereits gesagt - andere Redner der Opposition auch -, die EU-2020-Strategie sollte geschärft und
noch ehrgeiziger werden. Das gilt auch für den Bereich
Klimaschutz und Energie. Das gilt für den Bereich
Governance.
({6})
- Entschuldigung, die Kollegin von der SPD hat das gesagt. Da hatten Sie - das muss ich zugeben - unrecht,
Herr Ulrich.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Strategie im Sinne
des Green New Deal ausgestaltet wird, das heißt nachhaltiges Wachstum, sparsamer Umgang mit Ressourcen,
kluge, zukunftsweisende technologische Innovationen in
Bildung, in Forschung, im Sozialen, in Kultur, um endlich den anscheinenden Gegensatz zwischen Herrn
Wadephul und Herrn Ulrich, der so gar nicht existiert,
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit seien ein Gegensatz, aufzulösen.
({7})
Sie mit Ihrem Gerede von Wachstum haben uns auch
nicht in eine Situation geführt, die uns jetzt ganz besonders gut dastehen lässt. Wenn man wirklich nachhaltig
wachsen will, dann muss man in die Zukunft investieren.
Daran führt kein Weg vorbei.
({8})
Letzter Satz. Ich habe das Gefühl, Sie behandeln die
Strategie EU 2020 wie ein Schüler, der versucht, den
Lehrer davon zu überzeugen, weniger Hausaufgaben
aufzugeben. Aber auch in der Brüsseler Klasse landet
man so nicht unter denen mit den besten Noten, sondern
gilt als Problemschüler. Das finde ich schade.
Danke.
({9})
Der Kollege Thomas Silberhorn hat nun das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn nun die Europäische Union eine neue
Strategie für Wachstum und Beschäftigung 2020 vorlegt,
dann ist das vielleicht nicht beabsichtigt gewesen, aber
durchaus sinnvoll, dass wir jetzt im Zusammenhang mit
der aktuellen Krise auf den Finanzmärkten darüber diskutieren dürfen. Denn die beiden Themen hängen enger
miteinander zusammen, als man auf den ersten Blick
wahrhaben will. Eine stabile Währung, Preisstabilität ist
die Grundlage für mehr Wachstum in Europa. Andererseits erleichtert wirtschaftliches Wachstum, das Hauptziel dieser Strategie EU 2020 zu erreichen, nämlich die
öffentliche Verschuldung abzubauen und zu soliden
Staatsfinanzen zurückzukehren. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir über beides im Zusammenhang diskutieren
können.
({0})
Nun hat diese Strategie eine Vorläuferin in der sogenannten Lissabon-Agenda, die den Binnenmarkt zum
weltweit wettbewerbsfähigsten Raum machen wollte.
Wir können heute feststellen, dass diese Zielsetzung gut
gemeint war, aber grandios gescheitert ist. Deswegen
muss es nicht verkehrt sein, eine neue Strategie zu Papier zu bringen, die auf Wachstum und Beschäftigung
fokussiert ist. Im Gegenteil: Es ist durchaus zu begrüßen,
dass wir uns darauf konzentrieren, bei unseren wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Zielen Prioritäten
zu setzen und nationales und europäisches Handeln
besser miteinander zu verzahnen.
Dabei muss gelten: Diese Ziele und Prioritäten, auf
die wir uns in der Europäischen Union verständigen wollen, müssen sich im Rahmen der geltenden Kompetenzordnung bewegen. Sie müssen einer Subsidiaritätsprüfung standhalten, und sie müssen einen klaren
europäischen Mehrwert bringen. Was die Mitgliedstaaten selber tun können, müssen wir nicht europaweit organisieren. Es muss klar sein, dass diese Strategie nicht
ausreichend ist, wenn sie nur zu Papier gebracht wird,
sondern sie muss tatsächlich in die Praxis umgesetzt
werden. Sonst bleibt sie so wertlos, wie es die LissabonStrategie gewesen ist.
({1})
Deswegen ist es notwendig, dass wir uns auf Ziele
konzentrieren, die realistisch, verständlich und tatsächlich erreichbar sind. Wenn ich mir den Vorschlag der
Kommission anschaue, sehe ich, dass dort von sich
gegenseitig verstärkenden Prioritäten, von fünf EUKernzielen, von sieben Leitinitiativen, von zehn integrierten Leitlinien usw. die Rede ist. Es ist also eine
ganze Fülle von geradezu verwirrenden Kategorien. Wer
soll das verstehen? Weniger wäre manchmal mehr. Deswegen wird es für den Erfolg der Strategie EU 2020 entscheidend sein, dass wir den politischen Willen haben,
beschlossene Reformen tatsächlich in Angriff zu nehmen und in die Praxis umzusetzen.
({2})
Ich begrüße es, dass diese Strategie der Europäischen
Union einen wirksameren Überwachungsmechanismus
beinhalten soll, als es bei der Lissabon-Strategie der Fall
war. Insbesondere wollen die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat eine federführende Rolle
übernehmen. Ich glaube, das ist dringend notwendig.
Der Europäische Rat muss seine Funktion als Leitungsorgan der Europäischen Union wieder hervorheben. Es
muss klar werden, dass Politiker und nicht Beamte das
Heft in der Hand halten. Deswegen ist es richtig und
wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs deutlich
machen, dass sie letztlich die Hauptverantwortung dafür
tragen, ob diese Strategie ein Erfolg wird.
Ich halte viel davon, dass wir hier nicht nur Papier
beschreiben, sondern auch einen Wettbewerb in Gang
setzen, welche Mitgliedstaaten die besten Ideen haben,
um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Ich finde es sinnvoll, dass der Bundesrat in diesem Zusammenhang angeregt hat, eine Rangliste der EU-Mitgliedstaaten in den
einzelnen Bereichen wie Wirtschafts-, Beschäftigungsund Sozialpolitik zu erstellen. Das ist der Weg, wie man
zu einem solchen Wettbewerb der besten Politikansätze
kommt.
Ich halte es für sehr gelungen, dass die Bundesregierung in den bisherigen Gesprächen ihre Handschrift
durchsetzen konnte.
({3})
Die Bundesregierung hat mit Nachdruck vertreten, dass
wir uns nicht auf Ziele bei der Armutsbekämpfung und
Bildung verständigen werden, die weder mit der Kompetenzordnung vereinbar sind noch eine Realisierungschance
haben. Es ist auch wichtig, dass wir die Wachstumsstrategie und den Stabilitätspakt inhaltlich strikt voneinander
trennen. Wenn man beides vermengen würde, wie es die
Kommission vorgeschlagen hat, dann würde man den
Stabilitäts- und Wachstumspakt politischer Einflussnahme aussetzen und inhaltlich aushöhlen. Das wäre
zum jetzigen Zeitpunkt ein geradezu fatales Signal an
die Finanzmärkte. Genau das Gegenteil ist jetzt erforderlich.
Auch etwas anderes ist vom Tisch, nämlich der Vorschlag, Lasten der Mitgliedstaaten automatisch durch
andere Mitgliedstaaten zu übernehmen, wenn einzelne
Länder der Europäischen Union ihre Ziele nicht erreichen können. Es gibt also keinen Blankoscheck für säumige Staaten. Das ist wichtig; denn wenn diese Strategie
am Ende nicht nur geduldiges Papier, sondern in der Praxis anwendbar sein soll, dann müssen wir einen Wettbewerb um die beste Lösung in den Mitgliedstaaten in
Gang setzen. Ich hoffe, dass der Bundesregierung dies
gelingt, wenn Anfang Juni diese Strategie beschlossen
werden soll.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Nink für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es gleich festzustellen: Dem vorliegenden Antrag
mangelt es mit Blick auf die europäische Wirtschaftspolitik an Ehrgeiz und Visionen.
Durch die Strategie EU 2020 soll Europa gestärkt aus
der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen. Damit
dieses Europa Wirklichkeit werden kann, brauchen wir
transparente Konzepte, klare Ziele und ein entschlossenes Handeln. Nichts von alldem ist in Ihrem Antrag enthalten. Von Strategie kann keine Rede sein; im Gegenteil: Liest man Ihre Forderungen, gewinnt man den
Eindruck, dass Sie Ihrer eigenen Regierung misstrauen.
Das, was Sie da an Forderungen formulieren, sind Maßnahmen, die für eine gut funktionierende Bundesregierung eigentlich selbstverständlich, gewissermaßen Tagesgeschäft sein müssten.
({0})
Die Kommission hat fünf messbare Kernziele vorgeschlagen. Diese sollen in nationale Ziele umgesetzt und
bis 2020 verwirklicht werden. Bis dahin ist noch ein langer Weg, aber nur noch wenig Zeit; denn bereits im Juni
sollen im Europäischen Rat die ersten Einzelheiten verabschiedet werden. Die Mitgliedstaaten sind deshalb
aufgerufen, jetzt im Dialog mit der Kommission die nationalen Beiträge zu definieren. Bisher haben wir dazu
reichlich wenig von der Bundesregierung erfahren. Es ist
schon gesagt worden: Von den fünf von der Kommission
vorgeschlagenen Kernzielen ist lediglich zwei Zielen zugestimmt worden, nämlich dem Ziel bezüglich der Beschäftigungsquote und dem Vorschlag, in Forschung und
Entwicklung zu investieren.
Auf die von der Kommission aufgestellten Leitinitiativen, an denen sich die Kernziele orientieren und die
künftig für die Mitgliedstaaten bindend sein sollen,
gehen Sie nicht im Detail ein. Jetzt, nachdem es inzwischen unter allen Staats- und Regierungschefs Konsens
ist, stimmen Sie wenigstens der Feststellung zu, dass es
künftig einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung bedarf. Aber wie eine effektive Koordinierung der
europäischen Wirtschaftspolitik aussehen soll und wie
die Mitgliedstaaten in die Verantwortung genommen
werden können, sagen Sie nicht.
Ich stelle weiterhin fest: Die europäische Wirtschaftspolitik ist ein Thema, welches auch bei unserem Bundeswirtschaftsminister bisher nicht angekommen ist. Ich
darf daran erinnern, dass die SPD-Fraktion unlängst einen Antrag für die Gestaltung der Strategie Europa 2020
vorgelegt hat. Sie hat unter anderem folgende wirtschaftspolitischen Ziele gefordert: Zum Beispiel hat sie
ein Angebot innovativer Technologien und Produkte gefordert, die ein Wirtschaftswachstum bei verringertem
Energie- und Ressourcenverbrauch ermöglichen.
({1})
Sie hat gefordert, dass Möglichkeiten sondiert werden,
wie Mittel für zusätzliche Investitionen generiert werden
können, um die dringend gebotene Belebung des innereuropäischen Handels zu fördern.
All unsere Vorschläge haben Sie abgelehnt, ohne Stellung dazu zu beziehen. Was hat der zuständige Wirtschaftsminister in dieser Hinsicht bisher vorgetragen?
Was hat er dargestellt? Nichts. Sein Handeln wird den
aktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen nicht
annähernd gerecht.
({2})
Die zentralen Fragen der Zukunft Europas bleiben unbeantwortet.
Bezeichnend ist auch der Bericht des Bundeswirtschaftsministers vom 17. Mai 2010 zu den Vorschlägen
der Kommission. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
dieser Bericht ist nicht mehr als ein kurzes, inhaltsleeres
Papier. Jede Praktikantin, jeder Praktikant hätte am ersten Tag des Praktikums einen fundierteren Bericht erstellt.
({3})
Das Schlimme daran: Mehr - so hat das Wirtschaftsministerium auf Nachfrage geantwortet - sei nicht möglich
gewesen, da man noch im Verhandlungsprozess sei. Was
wird hier verhandelt?
Man muss doch zumindest Ziele benennen können.
Ich erwarte ja noch keine endgültigen Ergebnisse in allen Einzelheiten; aber ich denke, das Parlament sollte
darüber informiert sein, in welche Richtung die Regierung gehen will. Wir fragen uns: Wo bleiben die Vorschläge des Ministers? Wann gedenkt die Bundesregierung das Parlament und die deutsche Bevölkerung über
ihr Vorhaben und über die Maßnahmen zu unterrichten?
Es kann doch nicht sein, dass die Chancen Deutschlands, Europa für die nächsten zehn Jahre mitzugestalten, wegen Planlosigkeit aus der Hand gegeben werden,
ohne die weltweiten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Krise Griechenlands und der Krise des Euros
zu beachten.
({4})
Ich frage mich: Kann es sein, dass der Bundeswirtschaftsminister noch immer nicht begriffen hat, dass die
fundamentalen Herausforderungen, denen die europäische Wirtschaft gegenübersteht, von der Politik
entschlossene Antworten verlangen? Die zunehmende
weltwirtschaftliche Verflechtung hat gezeigt: Die Weltwirtschaft wartet nicht auf Europa, und Europa wartet
nicht auf Deutschland. An dieser Stelle wird erneut die
Konzept- und Tatenlosigkeit der Regierung deutlich.
Als Rheinland-Pfälzer - das sage ich aus voller Überzeugung und in voller Ernsthaftigkeit -, der die Arbeit
von Herrn Brüderle als ehemaligem Wirtschaftsminister
von Rheinland-Pfalz kennt und schätzt, kann ich nur sagen: Herr Minister, nehmen Sie die vernichtende Medienschelte bezüglich Ihrer bisherigen Arbeit wie beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Mai
ernst. Hier muss mehr geschehen: Wir brauchen keine
reine Konsolidierungsstrategie, wir brauchen auch eine
Wachstumsstrategie. Das ist die Aufgabe von heute, und
das ist der Weg in die Zukunft. Wachen Sie auf und werden Sie endlich aktiv!
Schönen Dank.
({5})
Herr Kollege Nink, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und verbinde
das mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Nink, Sie haben Vorschläge der SPD zu Europa 2020 angesprochen und kritisiert, dass es hierzu noch keine Stellungnahme gibt. Zu Vorschlägen ohne ausreichende Substanz muss die Koalition, glaube ich, nicht Stellung
nehmen.
Heute Morgen haben wir hier im Plenum den Berufsbildungsbericht 2010 diskutiert. Dabei wurde einmal
mehr die überragende Bedeutung der beruflichen Bildung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes offenbar.
Unser System der dualen Bildung mit allen Formen und
Möglichkeiten der Aufstiegs- und Weiterbildung ist
weltweit einzigartig, und wir werden weltweit darum beneidet.
Was hat dieser Befund mit dem vorliegenden Antrag
der Koalitionsfraktionen zu Europa 2020 zu tun? Die
Europäische Union möchte sich mit der Strategie Europa
2020 zu quantitativen Bildungszielen in den einzelnen
Mitgliedstaaten bekennen. Dies soll eine der Maßnahmen sein, um die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der EU nachhaltig zu steigern. Konkret sollen
höchstens 10 Prozent eines Jahrgangs Schulabbrecher
sein - damit haben wir kein Problem - und mindestens
40 Prozent eines Jahrgangs ein Hochschulstudium absolvieren.
Was bedeutet das für Deutschland? Derzeit machen in
Deutschland circa 28 Prozent eines Jahrgangs einen
Hochschulabschluss, also deutlich weniger als 40 Prozent. Nehmen wir jedoch die Absolventen beruflicher
Bildungsgänge, beispielsweise der Meisterausbildung
oder der Fachwirtausbildung, hinzu, so liegt die entsprechende Absolventenquote in Deutschland bei circa
39 Prozent. Wir müssen uns also nicht verstecken. Europaweit reicht die Spannbreite bei der Hochschulabsolventenquote derzeit von 23 Prozent bis über 50 Prozent.
Natürlich kommt es hierbei entscheidend darauf an, welche Abschlüsse in die Quote eingerechnet werden und
wie die Bildungsgänge und Bildungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgestaltet sind. Damit wir das
im Strategiepapier der EU formulierte ehrgeizige Absolventenziel erreichen können, ist es von zentraler Bedeutung, dass in die Hochschulabsolventenquote auch Abschlüsse, die mit einem Hochschulabschluss qualitativ
vergleichbar sind, eingerechnet werden.
({0})
- Das stimmt doch nicht.
Nur so kann im Übrigen garantiert werden, dass unser
System der beruflichen Bildung nicht auf Dauer ausgeDr. Stefan Kaufmann
höhlt wird. Eine Erzieherin muss nicht an einer Hochschule ausgebildet werden, ebenso wenig eine Krankenschwester, und beim Fliesenleger käme hierzulande
ohnehin niemand auf die Idee, die Ausbildung an die
Hochschule zu verlegen.
Dem unbestreitbaren Trend zur Höherqualifizierung
in einer komplexen Arbeitswelt trägt unser System der
beruflichen Bildung in hervorragender Weise Rechnung.
Dem weiteren Ausbau dualer Ausbildungsgänge ist daher unbedingt Priorität einzuräumen. Dies hat mir erst
gestern ein Bildungsforscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in einem Gespräch bestätigt.
Demnach stellt der Fachkräftemangel in den nächsten
Jahren ein deutlich größeres Problem dar als der immer
wieder beklagte Akademikermangel.
Ich verhehle nicht, dass innerhalb des Bundestages
wie auch des Bundesrates erhebliche Bedenken bestehen, auf EU-Ebene überhaupt quantitative Bildungsziele
festzulegen. Dies widerspricht dem Kompetenzgefüge
der Europäischen Union und insbesondere dem Subsidiaritätsprinzip. Es besteht kein Zweifel, dass für die inhaltliche und strukturelle Entwicklung des Bildungssystems allein die Mitgliedstaaten - im Falle Deutschlands
die Bundesländer - und nicht Brüssel verantwortlich
sind.
Es ist im Vorfeld des Europäischen Rates allerdings
nicht gelungen, einen Verzicht der EU auf quantitative
Bildungsziele im Strategiepapier durchzusetzen. Umso
dringender ist es daher, den bildungspolitischen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten dadurch Rechnung zu tragen, dass beim Definieren des Absolventenziels im Juni eben auch solche Abschlüsse beruflicher
Bildungsgänge einbezogen werden, die Hochschulabschlüssen vergleichbar sind. Nur dann nämlich achtet die
EU auch bei der Umsetzung ihrer Ziele die unterschiedlichen Wege des Kompetenzerwerbs und damit die Bildungshoheit der Mitgliedstaaten.
({1})
Die ursprünglich sehr verengte, rein formale Sicht der
EU auf bloße Hochschulabschlüsse kann mithin nicht
aufrechterhalten werden. Dies gilt umso mehr, wenn die
EU tatsächlich am 40-Prozent-Ziel festhält.
Darüber hinaus muss es dabei bleiben, dass die Bundesregierung quantitativen Festlegungen beim Kernziel
Bildung nur zustimmt, wenn dies in Abstimmung mit
den für den Bildungsbereich zuständigen Bundesländern
geschieht. Dies ist in den Ziffern 5 b und 5 c der
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März
auch so vorgesehen. Dort wird ausdrücklich auf die Festlegung nationaler Ziele unter Berücksichtigung der nationalen Gegebenheiten abgestellt.
Es darf jedenfalls unter keinen Umständen eine
schleichende Kompetenzverlagerung weg von der bisher
praktizierten offenen Koordinierung im Bildungsbereich geben. Eine Gleichbehandlung des Bildungsbereichs mit vergemeinschafteten Politikbereichen muss
verhindert werden. Darüber sollte auch hier im Hause
Einigkeit bestehen.
In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für den
Koalitionsantrag.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Korrektur der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht
- Drucksache 17/1631 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Legende, dass es den Ostrentnerinnen
und -rentnern durchweg gut geht. Natürlich wirkt sich
eine lange, kaum unterbrochene Erwerbsbiografie günstig auf die Rente aus. Verkannt wird aber, dass die Rente
für fast alle das einzige Alterseinkommen ist. Private
Vorsorge war nicht üblich, Betriebsrenten gab es kaum.
({0})
Außer Acht gelassen wird bei Ihren Durchschnittsbetrachtungen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz erhielten alle
eine Rente nach SGB VI. Zusatzversorgungen und sonstige Besonderheiten blieben außen vor.
Es ist klar: Wenn im Osten alle Berufsgruppen - also
auch Akademikerinnen und Akademiker, Beschäftigte
des öffentlichen Dienstes, Pädagogen oder Ärztinnen in den Durchschnitt eingerechnet werden, dann wird dieser verfälscht, weil im Westen Beamte oder Freiberufler
in berufsständischer Versorgung bei der Berechnung des
Durchschnitts außen vor bleiben.
({1})
Dahinter steckt aber auch, dass 1991 bei der Rentenüberleitung etliche DDR-Regelungen bewusst nicht
überführt wurden. Diesen Problemkreisen widmet sich
unser Antrag. Da uns häufig vorgeworfen wird, wir würden uns nur um Personen mit vermeintlichen Privilegien
oder besonderer Staatsnähe kümmern, lassen Sie mich,
obwohl ich nur vier Minuten Redezeit habe, die Spannbreite der Probleme aufzeigen. Die Beschäftigten des
Gesundheits- und Sozialwesens mit einem besonderen
Steigerungsfaktor werden nicht anerkannt. Zu nennen
sind weiter die Geschiedenen ohne Versorgungsausgleich, die Zuwendungen für Ballettmitglieder, nachdem
sie die Bühne verlassen haben, die Bergleute aus der
Braunkohleveredelung, diejenigen, die Angehörige gepflegt haben ebenso wie mithelfende Familienangehörige von Handwerkern und Selbstständigen. Handwerker
sind in der DDR bei Gott nicht mit Glacéhandschuhen
angefasst worden, aber was Sie machen - zehn bis
15 Jahre setzen Sie auf dem Rentenkonto gleich null -,
ist beschämend.
({2})
Dazu gehören auch zweite Bildungswege, Aspiranturen und vereinbarte längere Studienzeiten von Spitzensportlerinnen und -sportlern. Das ist übrigens ein Grund
für die Erfolge von DDR-Athletinnen und -Athleten; es
ist nicht immer anderes, was Sie vermuten und vorbringen.
Aber weiter zur Rente: Negiert werden im Ausland
erworbene Rentenansprüche und freiwillige Beiträge.
Sie waren zwar mit 3 bis 12 Mark in der Tat niedrig, aber
man konnte auch eine gediegene 3- bis 4-Raum-Wohnung für 50 bis 60 Mark mieten. Damit ergibt sich eine
völlig andere Relation. Subventionierte Preise haben
nämlich die niedrigen Bruttolöhne gestützt. Diese sind
jetzt wiederum die Grundlage für die Rentenberechnung.
Das ist ein weiteres Problem.
Zu den Betroffenen gehören nicht nur die eingangs erwähnten Akademikerinnen und Akademiker, sondern
auch Beschäftigte von Bahn und Post, die eine historisch
gewachsene Alterssicherung hatten. Vergessen wir nicht:
Die Wertneutralität des Rentenrechts wurde verletzt, indem willkürlich in die Rentenformel eingegriffen wurde.
Für als staatsnah Eingestufte gilt nicht die Beitragsbemessungsgrenze, sondern für die Berechnung wird nur
der Durchschnitt zum Ansatz gebracht.
Gregor Gysi hat vielen von Ihnen vor fast einem Jahr
an dieser Stelle bei der Beratung unserer 17 Anträge versprochen: Wenn Sie nichts tun, dann werden wir Sie in
der neuen Legislaturperiode daran erinnern, damit Sie
tätig werden. Wir halten Wort.
({3})
Was tun Sie? Was tut die Bundesregierung? Vage Versprechen, selbst von der Kanzlerin. Das hilft aber nicht
bei den Existenznöten, die viele haben. Sie kündigt an,
sie will DDR-Hinterlassenschaften in der Rente endlich
aufarbeiten. Die FDP hat in der letzten Legislaturperiode
als Opposition einen eigenen Antrag mit fast allen von
uns aufgezeigten Problemen eingebracht. Der Lösungsvorschlag war zwar nicht toll,
({4})
aber was passiert jetzt? Wir sind mitten in der Legislaturperiode, aber es geschieht nichts.
Nehmen Sie unseren Antrag als Gedankenstütze! Ich
denke, hier sind Hausaufgaben zu machen, die bisher
keine Bundesregierung erledigt hat. Seien Sie nicht weiter borniert und ignorant! DDR-Biografien müssen anerkannt werden. Es ist gelebtes Leben, das sich auch in
den Altersbezügen widerspiegeln muss.
({5})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Für meine Fraktion gilt: Solange Sie nichts tun, werden wir Sie in dieser Sache nicht in Ruhe lassen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Heinrich für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bunge, ich möchte
einen Schritt zurückgehen und am Anfang etwas allgemeiner bleiben. Denn auch Ihr Antrag ist am Anfang
sehr vergangenheitsorientiert - um es so kurz zu sagen.
Die Übertragung des Rentensystems West auf das
Rentensystem Ost war eine großartige gesellschaftliche
Leistung, von der man nicht wissen konnte, dass sie so
ausgeht, wie wir es zum Schluss geschafft haben.
({0})
- Das wollte ich damit einfach in den Raum stellen.
Die schwierigen Ausgangsbedingungen, die man gar
nicht oft genug in Erinnerung rufen kann, waren das von
Ihnen gerade geschilderte in Berufsgruppen zergliederte
und um Sonderversorgungssysteme angereicherte DDRRentenrecht.
({1})
- Das bundesdeutsche hatte auch seine Eigenarten. - Es
handelte sich um einen hochkomplizierten Vorgang ohne
vergleichbares Beispiel in der Geschichte. Kein Patentrezept war vorhanden, auf das man hätte zurückgreifen
können.
Bei dieser komplexen Angelegenheit stand man vor
der Wahl, entweder ein Tabellenwerk zu nehmen und es
- aus westlicher Sicht - dem Osten überzustülpen, um
alles bis ins Feinste für jede einzelne Person festzulegen,
oder sich bei seinem Vorgehen einiger Leitplanken zu
bedienen. Das Tabellenwerk wurde aus verständlichen
Gründen abgelehnt, weil es dabei um eine Aufgabe gegangen wäre, die vom bürokratischen Aufwand her
kaum zu überbieten gewesen wäre, und weil dadurch
keinesfalls mehr Gerechtigkeit entstanden wäre. Die geschaffenen Leitplanken und Eckpunkte, die wir jetzt diskutieren und auch früher schon immer wieder diskutiert
haben - Sie haben selber die 16 Anträge und den Gesetzesvorschlag angesprochen, den Herr Gysi im letzten
Jahr eingebracht hatte -, sind, wie wir alle wissen, in
Abhängigkeit von den tatsächlichen Entgelten und nach
einer nach bestem Wissen und Gewissen eingeführten
Regelung, was die Stichtage und die Rentenhöhe angeht,
entstanden.
Dass Sie jetzt das Wort „Willkür“ in den Mund genommen haben und dieses Wort in Ihrem Antrag mindestens zweimal vorkommt, kommt mir aus Ihrer Richtung als etwas schwierig vor. Eine Linie wurde gezogen,
die dem Thema, den Menschen und den zusammenwachsenden Systemen nach dem besten Wissen und Gewissen der damals Verantwortlichen am nächsten kam.
Es war nie der Anspruch, und es gab auch nie die Möglichkeit, 40 Jahre DDR mit diesem Rentensystem einfach ungeschehen zu machen. Oder sollten dadurch
entstehende Kunstrenten, die letztendlich jeglicher
Rechtsgrundlage entbehrt hätten, den Bürgern in den alten Bundesländern zur solidarischen Mitbezahlung vorgelegt werden? Es sollte nicht nach dem Rosinenpickerprinzip gehen. Trotzdem ist offensichtlich, dass durch
die errungene Linie ein Teil von Betroffenen eher Gewinner und ein anderer Teil von Betroffenen eher Verlierer sind. Das liegt in der Sache selbst, nämlich den Leitplanken, begründet.
({2})
Die Kompliziertheit dieser zu überführenden oder
miteinander zu vereinbarenden Systeme bringt eine Aufgabe mit sich, die sich in dem ausdrückt, was wir heute
hier vor uns haben. Wie schon gesagt, die BRD war
nicht in der Lage, alle Ungerechtigkeiten der ehemaligen
DDR auszugleichen, und darüber hinaus ist das Rentensystem wahrlich nicht der Reparaturbetrieb des Erwerbslebens.
({3})
Noch gestern habe ich mit jemandem gesprochen, der
zu den in Ihrem Antrag angesprochenen Personengruppen gehört. Er sagte mir Folgendes: Wir unterstützen
diesen Antrag in keinster Weise. - Denn es geht dieser
Gruppe nicht um eine gerechte Rente, sondern vielmehr
um eine leistungsgerechte Altersversorgung, die weit
mehr als nur Rente ist.
({4})
Es geht um eine Anerkennung von Lebensleistung.
Darum ist eine Differenziertheit nötig, die in dem Antrag, den Sie jetzt stellen, nicht vorkommt. Was in diesem Werk zusammenfließt, war eine gemeinschaftliche
Leistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von Arbeitgebern als Beitrags- und Steuerzahler, die
letztlich hohe Anerkennung verdient. Die Grundlage war
ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und -fähigkeit. Ganz im Sinne des bundesdeutschen Rentensystems, das auf den Gleichheitsgrundsatz setzt, wurde mit
der Übertragung dieses Systems Gewaltiges geleistet.
Die Gerichte, sowohl das Bundesverfassungsgericht
als auch Sozialgerichte, haben in mehreren Verfahren
sehr deutlich gemacht, dass die durch den Einigungsvertrag geschaffene Lösung und die entsprechenden Fristen
und Leitlinien sicher sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Bunge?
Bitte schön.
Herr Kollege Heinrich, Sie sind ja im A-und-S-Ausschuss und in dieser Problematik neu. Sie kommen aus - ({0})
- Ja, aber ich glaube, Ihr Wahlkreis ist jetzt im Osten?
Ich bin im Wahlkreis Chemnitz, richtig.
Dieser Bürger aus Ihrem Wahlkreis, mit dem Sie gesprochen haben, hat gesagt, es gehe ihm nicht um die
Rentenüberleitung, sondern um eine gerechte Altersversorgung. Sie interpretieren nun unseren Antrag und sagen, dazu stehe nichts drin. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass ich gerade in meiner Rede gesagt habe,
dass das Problem für viele, die eine Zusatz- und Sonderversorgung hatten, darin besteht, quasi in die Renten gestopft worden zu sein, um es salopp zu formulieren? Sicherlich handelt es sich bei der Rentenüberleitung um
eine historische Leistung; das steht auch in unserem Antrag. Aber es sind viele Probleme entstanden. Wir schlagen in unserem Antrag für die Überleitung von DDRAlterssicherungen in bundesdeutsches Recht ein System
sui generis vor, das nur für begrenzte Zeit und für eine
bestimmte Personengruppe gilt. Wenn Sie nun trotzdem
etwas anderes behaupten, dann haben Sie entweder unseren Antrag nicht richtig gelesen, oder Sie können ihn
nicht interpretieren.
Die Frage, die ich aus Ihren Ausführungen herauslese, beantworte ich wie folgt: Ja, ich habe Ihren Antrag
gelesen, genauso wie dieser Bürger, der aus einer der
Gruppen kommt, die Sie angesprochen haben. Was ich
vorgetragen habe, ist seine Interpretation Ihres Antrags.
Ich habe ihn zitiert. Es ist seine Auffassung, dass er sich
in Ihrem Antrag nicht wiederfindet. Das ist meine kurze
Antwort auf Ihre Frage.
({0})
Wenn wir unser Rentensystem, um das wir oft beneidet werden und auf das wir stolz sein können, und damit
die Umlagefinanzierung nicht aufs Spiel setzen wollen,
müssen wir mit den daraus erwachsenden Härten, Verwerfungen und Randschwächen leben. Aber die meisten
dieser Verwerfungen und der - nur zu verständlich - gefühlten Ungerechtigkeiten sind nicht bei der Umwandlung des DDR-Rentensystems entstanden, sondern aufgrund der Gerechtigkeitsverhältnisse damals in der
DDR, die mit meinem heutigen Verständnis von Gerechtigkeit nicht mehr ganz so viel zu tun haben.
Sie reden von den Durchschnittszahlen. Dabei werden
manchmal Einzelschicksale nicht berücksichtigt; das ist
richtig. Sie als Linke konzentrieren sich in Ihrem Antrag
auf die Besonderheiten, die weggefallen sind, unterschlagen aber die Vorteile, die den Menschen durch das
gesamtdeutsche System letztlich zugute gekommen sind.
({1})
Es können nicht alle Vorteile des DDR-Rentensystems
mit dem bundesdeutschen System kombiniert werden.
Das ist erstens nicht finanzierbar - hierzu halten Sie sich
in Ihrem Antrag übrigens sehr bedeckt. Und zweitens:
Wäre dies denn letztlich gerecht? Dazu habe ich sehr
viele Bedenken in meinem Wahlkreis gehört. Das Gerechtigkeitsempfinden spielt meiner Meinung nach eine
große Rolle in dieser Auseinandersetzung. Jeder ostdeutsche Bürger und jede ostdeutsche Bürgerin, der bzw. die
sich durch eines der Sonderversorgungssysteme der
DDR eine höhere Rente erhofft hat und diese nun nicht
bekommt, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Fakt ist,
dass ein Großteil der ostdeutschen Rentner durch die
Rentenüberleitung erhebliche finanzielle Verbesserungen hat.
({2})
Politik kann nicht - das wissen wir nicht nur aus diesem Bereich - allen in gleichem Maß gerecht werden.
Die Problematik besteht darin, dass Menschen, die zu
DDR-Zeiten lange Jahre schwer gearbeitet haben, Versprechungen gemacht wurden, die mit dem Ende des
Systems nicht eingelöst werden konnten. Dass sich diese
Menschen nun benachteiligt fühlen, ist absolut verständlich. Aber dass das jetzt gültige Rentensystem diese ungedeckten Schecks einlösen soll, die es selber nicht ausgestellt hat, ist schlicht nicht finanzierbar.
({3})
Vielleicht ist es auch an der Zeit, sich dieser Realität
endlich zu stellen, anstatt weiter unbegründete Hoffnungen zu schüren und jahraus, jahrein zu vertrösten. Ich
denke, es geht an dieser Stelle sogar weiter. In dem Moment, wo Sie unberechtigte Hoffnungen schüren, werden
Sie den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Land
nicht gerecht.
({4})
Wir wollen keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Wir
werden ganz genau hinschauen, wo es Ungerechtigkeiten gibt, die beseitigt werden müssen. Wir werden den
Wechselwirkungen und den materiellen Verwerfungen,
die bei diesem Bemühen entstehen können, entgegentreten. Wir werden das genau im Blick behalten.
Noch einige Worte zu dem letzten Satz Ihres Antrags,
zur Angleichung des Rentenwerts Ost an den Rentenwert West.
Die CDU/CSU-Fraktion hat den hohen Anspruch, bereits zur Mitte der Legislaturperiode im gemeinsamen
Rentenrecht eine Lösung zu finden. Dazu hat sich vor
etwa zehn Tagen der Regierungsbeauftragte für die
neuen Bundesländer, unser Innenminister Thomas de
Maizière, eindeutig geäußert: Wir werden an einer Lösung arbeiten, die Gerechtigkeit schafft - das ist ein Zitat -,
und zwar entsprechend unserem Koalitionsvertrag. Dazu sind allerdings genaues und sorgfältiges Arbeiten
und eine Prüfung notwendig, wobei Sie dabei herzlich
willkommen sind. Dieses Projekt steht für eine intensive,
verantwortungsvolle Auseinandersetzung der Regierungskoalition mit dem Thema Rente - das wollten Sie
uns eben absprechen -, eine Suche nach einem Konsens,
der möglichst breit sein sollte, und eine gerechte Lösung,
die Ungerechtigkeiten oder Verwerfungen bei dieser Angleichung ausschließt. Auch hier wird ähnlich viel Kompromissfähigkeit nötig sein wie vor 20 Jahren. Ich bin sicher, dass wir zu einem gerechten Ergebnis kommen
werden. Nach meiner Erkenntnis werden dazu bereits
erste Berechnungen bzw. Kalkulationen angestellt. Sie
alle wissen, dass es sich hierbei rein rechnerisch und
haushälterisch um eine große Aufgabe handelt. Ich bin
zuversichtlich, dass wir im Gegensatz zur Wendezeit einen Vorteil haben: Wir stehen nicht ganz so unter Zeitdruck. So können wir die nötigen Schritte maßvoll und
hoffentlich in guter Zusammenarbeit auch mit den anderen Parteien in diesem Hause angehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Anton Schaaf
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bunge, auch wenn man aus Sicht der Betroffenen berechtigte Anliegen aufgreift, bin ich immer sehr
vorsichtig, wenn man die gesetzliche Rentenversicherung als Reparaturbetrieb begreift.
({0})
So wie sie aufgebaut ist, ist sie lohn- und beitragsbezogen. Sie spiegelt also die Lebensleistung real wider. Sie
kann nicht Dinge ausgleichen, die nicht stattgefunden
haben, und sie kann nicht Defizite von Menschen, die zu
kurz gekommen sind, ausgleichen. Sie kann nicht ungedeckte Schecks, die einmal in der DDR ausgestellt worden sind, einlösen. Das muss man begreifen.
({1})
Ich sage damit nicht, dass all die Anliegen, die Sie, Frau
Bunge, in Ihrem Antrag formuliert haben, unberechtigt
sind. Das sage ich in keinster Weise, aber ich warne davor, die Rentenversicherung als Reparaturbetrieb zu betrachten. Wir delegitimieren sonst die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenversicherung, und damit
delegitimieren wir auch Solidarität und Parität in diesem
System. Ich wäre an der Stelle sehr vorsichtig.
({2})
Wenn wir bei den Personengruppen, die Sie aufgelistet haben - die könnte man im Einzelnen einmal durchgehen; ich greife nachher einen Punkt auf -, berechtigte
Interessen ausmachen, dann muss man anders darüber
diskutieren. Ich persönlich sage: Da hilft uns am Ende
nicht die gesetzliche Rentenversicherung alleine, sondern man muss so etwas wie ein Rentenüberleitungsabschlussgesetz beschließen, in dem eventuelle Fragen geklärt werden. Das muss übrigens im Zusammenhang mit
der Frage der Ost-West-Angleichung geschehen. Ich
fand die Kommunikation, die dazu in den letzten Tagen
stattgefunden hat, spannend. Im Koalitionsvertrag dieser
christlich-liberalen Koalition - auch ich habe mir diese
Begrifflichkeit angewöhnt, damit Sie sie nicht dauernd
benutzen müssen ({3})
steht, dass die rentenrechtliche Angleichung zwischen
Ost und West in dieser Legislaturperiode geregelt werden soll. Dabei lege ich Wert auf das Wort „rentenrechtlich“. Das heißt, für die Menschen wird wahrscheinlich
materiell nichts dabei herauskommen. Auch das ist relativ klar bei dieser Begrifflichkeit. Im Koalitionsvertrag
steht: für diese Legislaturperiode. Dann gibt es einen
kleinen Parteitag der CDU, auf dem beschlossen wird,
dass es eine rentenrechtliche Angleichung von Ost und
West gibt. Da steht aber nichts mehr davon, dass das in
dieser Legislaturperiode geschehen soll.
({4})
Schauen Sie einmal hin. Wahrscheinlich gibt es zu viele
Wahlen im Osten. Wenn materiell nichts dabei herauskommt, dann kann man das nicht machen. Das ist völlig
klar. Dann sagt der Kollege Kolb, die Ost-West-Angleichung müsse man noch in diesem Jahr auf den Weg bringen, die ersten Pflöcke müssten eingeschlagen werden.
Das habe ich zumindest gelesen. Daraufhin kontert die
Arbeitsministerin gleich und sagt: Um Himmels willen,
in diesem Jahr können wir gar nichts machen, weil wir
so sehr mit dem SGB II beschäftigt sind. Da passiert gar
nichts. - Ich bin gespannt, wie diese Regierung an der
Stelle das, was sie den Menschen im Osten versprochen
hat, einlösen will. Dabei erkenne ich unsere eigenen Defizite an, nämlich dass es uns in der letzten Legislaturperiode nicht gelungen ist, tatsächlich einige Schritte voranzukommen.
({5})
Das will ich überhaupt nicht bezweifeln. Nur: Wenn das
als Arbeitsplan in einen Koalitionsvertrag hineingeschrieben wird, erwartet man auch Konkretes dazu; denn
die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass das,
was sie gewählt haben, dann auch real Politik wird. Das
ist der Anspruch, den Sie immer formuliert haben.
Jetzt konkret zum Antrag. Wenn man Ansprüche ausfindig macht und auflistet, darf es nicht dabei bleiben,
sie aufzulisten, sondern man muss auch sagen - das gehört zur Seriosität dazu -, wie man es denn machen will
und wie man es denn rechtfertigen kann.
Sie sprechen beispielsweise die Geschiedenen an. Es
gab in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Wie soll
man jetzt, 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit,
einen Versorgungsausgleich über das Rentenversicherungssystem ordentlich darstellen? Das geht schlichtweg
nicht, wenn man nicht neue Ungerechtigkeiten schaffen
will. Wenn man es seriös meint, muss man auch Antworten auf die Frage geben, wie das gemacht werden soll,
wie man den berechtigten Interessen dieser Menschen
eventuell gerecht werden kann. Über das Rentenversicherungssystem können Sie das aus meiner Sicht in
keinster Weise darstellen.
Das ist genau der Punkt bei vielen Dingen, die Sie
aufgelistet haben, zum Beispiel bei den Beschäftigten im
Bereich Braunkohle. Gibt es nicht rentenrechtliche
Wechselwirkungen in den Westen hinein, wenn man da
die Zugeständnisse macht?
Dann haben Sie Anwälte und ähnliche Gruppen angesprochen. Es gab in der DDR keine Versorgungswerke,
die wir hätten übernehmen können oder die wir in westdeutsche Versorgungswerke hätten überführen können.
Das sind technische Probleme. Deswegen hat man im
Zusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetz
beschlossen, die Menschen in die Rentenversicherung
hineinzunehmen; damit hatten sie einen gesicherten Anspruch im Alter. Das war eine herausragende Leistung.
Übrigens - das sage ich sehr gerne; es ist auch das erste
Mal, dass ich das in dieser Form in einem Antrag von Ihnen zum Thema Rente gelesen habe -: Die Übernahme
in die Rentenversicherung ist für die allermeisten Menschen in der DDR, für 4 Millionen Rentnerinnen und
Rentner, völlig glatt gelaufen.
({6})
- Nein, ich habe nie darauf abgestellt, dass Sie staatsnahe
und parteinahe Leute im Besonderen im Fokus hätten;
das unterstelle ich nicht. Aber ich kann die Kolleginnen
und Kollegen verstehen, die sich an der Stelle verdammt
schwertun, zu springen und zu sagen: Alles, was da versprochen worden ist, wird jetzt auch gewährt. - Ich kann
verstehen, dass viele Menschen, insbesondere Opfer dieses Staates oder dieses Systems, ihre Schwierigkeiten
damit haben. Insofern habe ich ganz klar eine andere
Meinung als Sie,
({7})
und die begründe ich auch. Das waren Menschen, die in
der DDR, als sie noch gearbeitet haben, partei- oder
staatsnah, in der Regel besondere Privilegien hatten.
({8})
Diese besonderen Privilegien vor dem Hintergrund dessen, dass sie nicht Opfer dieses Staates und dieses Systems waren, einfach auf die Rente zu übertragen, halte
ich zumindest aus Sicht der Opfer und der anderen Menschen, die in der DDR gelebt haben, für ziemlich problematisch.
({9})
Wir werden Sie von der Regierung jetzt an dem messen müssen, was Sie zum Thema Ost-/West-Rente auf
den Weg bringen. Sie werden sagen müssen, wie es mit
der Angleichung des Rentenwertes aussieht. Es geht dabei nicht nur um die rein rechtliche Frage der Angleichung, sondern auch um die Frage des Rentenwertes. Sie
werden darlegen müssen, was sie mit dem Höherwertungsfaktor machen wollen; denn der ist für die Menschen ganz entscheidend, die jetzt noch nicht in Rente
sind, sondern arbeiten, und zwar durchschnittlich für viel
weniger Geld arbeiten als im Westen. Was machen wir
also mit dem Höherwertungsfaktor? Ich sage Ihnen: Eine
rentenrechtliche Ost-/West-Angleichung, die nur rechtlich an dem Thema schraubt und nicht die Frage beantwortet, was wir im Hinblick auf die Menschen machen,
die jetzt nur unterdurchschnittlich verdienen können,
kann nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten der Republik sein.
Ich bin auf Ihre schlüssigen Antworten gespannt. Wir
werden uns an der Debatte beteiligen. Ich sage noch einmal: Lasst uns die Einzelfragen nicht innerhalb des Rentenrechts regeln, sondern lasst sie uns als sozialpolitische Fragen regeln, auch vor dem Hintergrund dessen,
dass es um die Herstellung von Gerechtigkeit geht! Damit wäre ich einverstanden. Lasst uns ansonsten
schauen, dass die Ost-/West-Frage nicht auf eine rechtliche Frage reduziert wird, sondern für die Menschen im
Osten tatsächlich substanziell und materiell beantwortet
wird!
Danke.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist wichtig,
aber es ist alles andere als neu. Neu ist - da pflichte ich
Herrn Kollegen Schaaf bei -, dass ein Antrag der Linken
mal nicht mit Kampfparolen beginnt, sondern mit einer
Art Lob für die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung, die das Renten-Überleitungsgesetz und das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz 1991
formuliert hat.
({0})
- Das muss man einmal besonders hervorheben. Das ist
nicht der Normalfall bei Ihren Vorlagen, Frau Kollegin
Bunge.
Die beiden Gesetze damals waren eine große historische Leistung, die die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates allen Menschen in den neuen Ländern deutlich
vor Augen geführt hat.
({1})
Sie waren ein entscheidender Beitrag zur Verwirklichung der deutschen Einheit. Wäre das westdeutsche
Rentensystem damals sofort auf die neuen Länder übertragen worden, hätte es dort Anfang der 90er-Jahre nicht
die starken Rentensteigerungen von bis zu 30 Prozent
pro Jahr geben können. Millionen von Menschen haben
wir damit einen Lebensstandard im Alter gesichert, den
sie jedenfalls zu DDR-Zeiten in keiner Weise erhoffen
konnten.
Ich freue mich, Herr Kollege Schaaf, dass die Koalition sich in dieser Legislaturperiode vorgenommen hat,
eine Vereinheitlichung des Rentenrechts Ost/West vorzunehmen, also ein einheitliches Recht einzuführen.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das überfällig.
Für mich ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass der
Rentenwert Ost gegenüber dem Rentenwert West seit
2004 nicht mehr spürbar aufgeholt hat. Deswegen sollten wir jetzt die Umstellung vornehmen. In den neuen
Bundesländern gibt es zunehmend Gebiete, wo die
Durchschnittsverdienste über denen in den ärmeren Regionen der alten Bundesländer liegen. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat in seinem aktuellen
Gutachten deswegen ausdrücklich die Rechtsangleichung als Handlungsoption empfohlen. Das werden wir
sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch debattieren,
Herr Kollege Schaaf.
Ich will mich jetzt auf den vorliegenden Antrag konzentrieren. Er berührt viele in der Regel eher komplizierte Sonderfälle. Bis heute wirken sich nämlich einige
Besonderheiten des DDR-Rentenrechts aus, die man
nicht ohne Weiteres ausräumen kann, Frau Kollegin
Bunge; das müssen Sie zugestehen.
Die Fälle lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen: solche, die aus rechtlichen, politischen oder anderen
Gründen zu DDR-Zeiten keine Rentenversicherungsbeiträge leisten konnten; solche, deren Rentenansprüche
aus DDR-Zeiten nicht mit dem SGB VI kompatibel sind
und deswegen nicht überführt werden konnten; solche,
deren Anwartschaften ins SGB VI anstelle anderer Versorgungssysteme übergeleitet wurden, weil es kein bundesdeutsches Äquivalent zur DDR-Regelung gab.
Man sieht schon an dieser zusammenfassenden Beschreibung, wie komplex und unterschiedlich die Fälle
sind. Glauben Sie mir: Wir haben viele Gespräche mit
Betroffenen geführt und noch viel mehr Briefe erhalten,
und wir haben uns auch viele Gedanken gemacht, wie
man die Ungerechtigkeiten beheben kann, ohne neue zu
schaffen.
Besonders schwierig wird die Sache dadurch, dass
- was ein Stück weit paradox ist - ein Teil der Betroffenen fordert, dass das frühere DDR-Recht heute keine
Wirkung mehr entfalten soll, und ein anderer Teil genau
das Gegenteil fordert, nämlich dass ihre Ansprüche nach
dem früheren Recht komplett anerkannt werden. Daher,
Frau Bunge, ist es viel schwerer, allen Interessen gerecht
zu werden, als die Linke uns - ich wäre fast geneigt, zu
sagen: wie so oft - glauben machen will.
Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bereits in der
letzten Legislaturperiode, ziemlich genau vor einem
Jahr, eine Debatte über das gleiche Thema hatten. Damals gab es auch eine Anhörung mit einem recht klaren
Ergebnis: Die Sachverständigen empfahlen keine Korrektur der geltenden Gesetze. Ich erinnere mich an die
Erläuterung, wie viele Sondersysteme in der Altersversorgung der DDR bestanden haben und dass diese zum
Teil gar nicht kodifiziert waren. Jedenfalls machten uns
die Sachverständigen sehr deutlich, dass jede Nachjustierung zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuen
Ungerechtigkeiten führen würde.
({2})
Deswegen will ich hier noch einmal den Vorschlag
einführen, den wir damals gemacht haben. Die FDPFraktion bevorzugt nach wie vor das Modell eines Nachversicherungsangebotes. Damit bleiben wir in dem
bewährten Gesamtmodell der Rentensystematik. Das hat
sich auch bewährt, als 1992 die Rentenberechnung aus
dem früheren Angestelltenversicherungsgesetz ins
SGB VI überführt worden ist. Wir wollen eine solche
Lösung für alle Versicherten auf dem Boden der Beitragsäquivalenz, eine Nachversicherungslösung auf freiwilligem Wege. Den Betroffenen wird dadurch die
Chance gegeben, ihre nicht in das SGB VI übertragenen
oder aus anderen Gründen ausgeschlossenen Rentenansprüche geltend zu machen. Frau Bunge, wichtig ist:
Die Höhe einer nachträglichen Beitragsentrichtung ist an
dem auszurichten, was zu DDR-Zeiten zur Erlangung eines vergleichbaren Anspruchs hätte aufgewendet werden
müssen. Ich denke, selbst wenn man eine Verzinsung der
so ermittelten Beiträge vornimmt, dürfte ein solches Angebot auf großes Interesse stoßen und dürfte eine attraktive Verzinsung der nachzuentrichtenden Beiträge gewährleistet sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Bunge?
Ja. Bitte sehr.
Herr Kolb, ich versuche, es ganz kurz zu machen. Ich
folge Ihnen aufmerksam.
Können Sie mir bitte sagen, wie sich ein Professor,
der jetzt in Rente geht oder der in den 90er-Jahren ohne
Vertrauensschutz in Rente gegangen ist, der nach 45 Arbeitsjahren 1 400 Euro Rente bekommt und ein Häuschen mit Bibliothek hat - das soll ja zum Lebensstil gehören -, mit diesem Alterseinkommen nachversichern
soll? Er hat doch Beiträge gezahlt.
Frau Kollegin Bunge, ich denke, die Frage ist: Rechnet sich das insgesamt, kann also das eingesetzte Kapital
eine angemessene Verzinsung erwirtschaften? Das
müsste nach dem, was ich vorgetragen habe, der Fall
sein. Dann kann es im Einzelfall auch zumutbar sein,
dass ein Betroffener für seine Nachversicherung einen
kleinen Kredit aufnimmt, den er in der Folge aufgrund
höherer Rentenversicherungsanwartschaften zurückzahlen kann. Das rechnet sich im Einzelfall; davon bin ich
überzeugt. Das ist eine Frage der Verzinsung und der zuvor zu erbringenden Beiträge. Das ist der einzige Weg,
den ich sehe, eine systemkonforme Behebung des geltend
gemachten Unrechts vorzunehmen. Ansonsten würde es
schwer werden, ja unmöglich sein, die beschriebenen
Ungerechtigkeiten zu beseitigen.
Herr Kollege Schaaf, die christlich-liberale Koalition
({0})
hat festgelegt, die Angleichung des Rentenrechts in Ost
und West grundsätzlich anzugehen. Ich denke, das ist der
Rahmen, in dem auch die noch bestehenden Ungleichgewichte behandelt werden müssen; das sehen auch Sie so.
Dabei wären auch die Modalitäten der Nachversicherung
für jede Gruppe einzeln festzulegen. Das wird irgendwann in dieser Legislaturperiode - ich kann Ihnen nicht
sagen, wann genau - geschehen.
Um Ihre Bemerkung, Herr Schaaf, aufzugreifen, kann
ich Ihnen eines sagen: Die Deutsche Rentenversicherung
hat, was die Vereinheitlichung des Rentenrechts angeht,
festgestellt, dass man diese zu jedem Zeitpunkt vornehmen kann, allerdings mit einem ausreichenden organisatorischen Vorlauf. Klar ist: Zum 1. Juli 2010 ist das nicht
mehr zu schaffen; das wäre zu kurzfristig. Zum 1. Juli
2011 wäre das aber möglich. Es gibt in dieser Legislaturperiode noch weitere Rentenanpassungszeitpunkte. Zu
geeignetem Zeitpunkt werden wir wieder auf dieses
Thema zu sprechen kommen. Für heute bedanke ich
mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel mit
der Überschrift „Rentner am Rand der DDR“ zu lesen.
Darin geht es um Untersuchungen eines Historikers, der
sich mit der Situation der Senioren in der DDR auseinandergesetzt hat.
({0})
In diesem Artikel, der sehr interessant ist, wird Dierk
Hoffmann - so heißt der Wissenschaftler - wie folgt zitiert:
Sie
- damit sind die Rentnerinnen und Rentner gemeint lebten am Rande der sozialistischen Arbeitsgesellschaft. Die SED hat die knappen Geldressourcen
vor allem dafür eingesetzt, die Löhne und Gehälter
in der volkseigenen Industrie zu erhöhen. Da blieb
für die Rentner weniger übrig.
({1})
Das heißt, die Renterinnen und Rentner waren in der
DDR eine diskriminierte, benachteiligte Gruppe.
({2})
Das muss man als Vorbemerkung deutlich machen.
Die Ergebnisse aller Untersuchungen, die es zu diesem Thema gibt, zeigen, dass die Rentnerinnen und
Rentner diejenigen sind, die von der deutschen Einheit
am meisten profitiert haben. Nicht nur, wenn man ausschließlich die Höhe der Rente, sondern auch, wenn man
das Gesamteinkommen berücksichtigt, kommt man zu
dem Schluss: Es waren die Rentnerinnen und Rentner,
die stark profitiert haben, während es andere Gruppen
gab, die durch die Einheit eher benachteiligt worden
sind. Auch diese Vorbemerkung muss man hinzufügen.
Es ist ja schon gelobt worden, dass dies auch im vorliegenden Antrag zur Kenntnis genommen wird.
Vielleicht noch ein kleiner Hinweis an die FDP. Dass
die Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner der DDR
so gut in unser System überführt werden konnten, liegt
natürlich daran, dass wir ein umlagefinanziertes Rentensystem hatten und haben. Mit mehr Kapitaldeckung, die
die FDP immer noch und immer wieder fordert - damals
haben Sie dies besonders nachdrücklich gefordert -,
wäre all das nicht möglich gewesen,
({3})
weil die Rentnerinnen und Rentner dann gar keine Rentenansprüche gehabt hätten.
({4})
Insofern ist es für uns wichtig, dass die Umlagefinanzierung auch in Zukunft Kern und Basis der Alterssicherung in Deutschland ist.
Nun aber zurück zum Renten-Überleitungsgesetz. Es
ist zu betonen, dass es hier nicht darum ging, beide Systeme in irgendeiner Form zu fusionieren oder das Rentensystem der DDR eins zu eins in das deutsche Rentenrecht zu überführen. Es ist aber in Einzelfällen zu
Benachteiligungen gekommen. Wir haben durchaus Verständnis dafür, dass manche diese Überführungsregeln
als Aberkennung der Lebensleistung und als Diskriminierung empfinden. Andererseits sagen wir: Es gibt kein
Patentrezept, mit dem jeder Einzelfall gerecht bewertet
werden kann.
({5})
Insofern halten wir eine grundlegende Korrektur des
Renten-Überleitungsgesetzes für nicht sinnvoll.
Nichtsdestotrotz gibt es natürlich Probleme. Sie haben diverse Einzelgruppen benannt; auch wir haben sie
uns angeschaut und werden noch einmal genauer hinschauen. Im Osten wird es in Zukunft enorme Armutsprobleme geben; da besteht Handlungsbedarf. Unsere
Antwort auf die Probleme besteht aus drei Punkten:
Erstens. Wir werden uns die einzelnen Gruppen genauer anschauen und prüfen, ob Handlungsbedarf besteht. Das wird aber sicherlich die Ausnahme sein. In der
letzten Legislaturperiode haben wir bereits einen Antrag
zur Versorgung für in der DDR Geschiedene gestellt; das
werden wir auch in dieser Legislaturperiode tun.
Zweitens. 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist es
aus unserer Sicht endlich an der Zeit, dass es ein einheitliches Rentenrecht gibt. Zum einen betrifft das den aktuellen Rentenwert, der möglichst bald in Ost und West
gleich hoch sein muss. Zum anderen betrifft das die Berechnung der Entgeltpunkte; hier sollte es in Zukunft
keine Aufwertung der Einkommen im Osten mehr geben. Jetzt benachteiligte Gruppen im Osten würden von
der Angleichung des aktuellen Rentenwertes profitieren.
({6})
Drittens. Bei der Berechnung der Entgeltpunkte sollten die Einkommen im Osten nicht einseitig aufgewertet
werden. Es gibt nämlich nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen niedrige Einkommen. Vor dem Hintergrund der ansteigenden Altersarmut im Osten, aber auch
im Westen sagen wir: Wir brauchen eine Garantierente,
ein Minimum der Leistungen aus der Rentenversicherung in Ost und West, mit der sichergestellt wird, dass
zumindest langjährig Versicherte eine Rente erhalten,
die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Nach 30 Jahren Versicherungszeit sollten Rentnerinnen und Rentner
mindestens 30 Entgeltpunkte haben, also mindestens
etwa 800 Euro Rente erhalten. Damit würden wir sowohl
den aktuellen als auch den zukünftigen Problemen der
Altersarmut gerecht werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/1631 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 17/1683 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Hier ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister Dr. Guido
Westerwelle.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten
20 Jahren hat der westliche Balkan uns sehr schmerzlich
daran erinnert, dass Frieden in Europa nicht selbstverständlich ist. Wir mussten die leidvolle Erfahrung machen, dass Europa in den 90er-Jahren nicht in der Lage
war, die Rückkehr von Krieg und Zerstörung auf dem eigenen Kontinent zu verhindern. Die Erfahrung aus den
90er-Jahren, als Krieg und Zerstörung auf unserem eigenen Kontinent stattfanden, ist eine Mahnung, die zeigt:
Die europäische Einigung hat als Friedensprojekt eben
ausdrücklich nicht ausgedient. Gerade in diesen Tagen
sollte man das noch einmal sagen, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
({0})
Zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist die
Lage im Kosovo stabil. Die Verbesserung der Sicherheitslage ist der Erfolg des jahrelangen Einsatzes von
KFOR. Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der veränderten Aufgabenstellung von KFOR wider: Weil KFOR erfolgreich war, können wir die Soldatinnen und Soldaten
seit dem vergangenen Jahr verstärkt für die Ausbildung
von Sicherheitskräften im Kosovo einsetzen. Weil
KFOR erfolgreich war, können wir jetzt, gemeinsam mit
unseren Verbündeten, die Missionsstärke deutlich verkleinern. Das Mandat, das ich dem Bundestag heute gemeinsam mit dem Bundesverteidigungsminister vorlege,
sieht eine Reduzierung der Obergrenze der Kräfte der
Bundeswehr von 3 500 auf 2 500 vor. Wir sind zuversichtlich, dass bald weitere Reduzierungen möglich werden. Militärisches Eingreifen - darin sind wir uns in diesem Hause einig - ist immer nur das allerletzte Mittel
der internationalen Politik. Dies ist eine Konstante der
deutschen Außenpolitik. Unser Ziel ist ein Kosovo, das
ohne ausländische Truppen für seine eigene Sicherheit
sorgen kann, und auf diesem Weg sind wir ein gutes
Stück vorangekommen.
({1})
Auf dem langen und sehr schwierigen Weg nach Europa muss das Kosovo noch enorme Herausforderungen
bewältigen. Das hat die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2009 festgestellt, und das soll auch nicht
verschwiegen werden. Die Defizite bei der Bekämpfung
von Korruption und organisierter Kriminalität wurden
darin ausdrücklich angemahnt. Trotz Wachstumsraten
zwischen 4 und 5 Prozent ist das Kosovo immer noch
das wirtschaftliche Schlusslicht in Europa. Über all diese
Probleme habe ich Anfang Mai mit Präsident Fatmir
Sejdiu gesprochen, und ich bin zuversichtlich, dass er
sowie seine ganze Regierung diese Probleme seines Landes auch energisch angehen. Er kann dabei auf die Unterstützung Europas zählen. Mit der Rechtsstaatsmission
EULEX hat die Europäische Union Verantwortung übernommen. Sie will das Kosovo dabei unterstützen, zu einem gleichberechtigten und ebenbürtigen Teil Europas
zu werden.
Der Schlüssel zu einer europäischen Zukunft liegt vor
allem im Kosovo selbst. Das Kosovo soll schrittweise
für die Sicherheit im eigenen Land sorgen. Die Polizei
Kosovos hat in den letzten Monaten die Verantwortung
für serbisch-orthodoxe Klöster und andere schutzbedürftige Kulturstätten übernommen. Das hört sich in
Deutschland nicht sehr spektakulär an; aber angesichts
einer Geschichte der gegenseitigen Verletzungen ist es
eine wirklich beachtliche Leistung, ein bedeutender
Fortschritt. Wir sind immer leicht dabei, zu kritisieren,
wenn etwas von dem, was wir uns vorgenommen haben,
nicht gelingt. Aber wenn etwas gelingt, was wir uns gemeinsam überparteilich in diesem Hause vorgenommen
haben, dann darf dies auch einmal erwähnt werden und
positive Resonanz finden, so meine ich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Mit der Unabhängigkeit sind die Kosovo-Albaner zur
Mehrheit in ihrem Staat geworden. Mit der Anerkennung des Staates Kosovo verbindet die internationale
Gemeinschaft die Erwartung, dass das Kosovo mit dieser neuen Machtverteilung verantwortungsvoll umgeht.
Die Verfassung des neuen Staates garantiert die Sicherheit und Gleichberechtigung auch für die Kosovo-Serben, die dort lebenden Roma und andere Minderheiten.
Erst dann, wenn alle Ethnien im Kosovo in Freiheit und
Sicherheit leben können, wird das Kosovo zur Ruhe
kommen. Die Kommunalwahlen vom Herbst letzten
Jahres haben gezeigt, dass die Trennlinien zwischen den
ethnischen Gruppen nicht so eindeutig sind, wie es radikale Kräfte aller Gruppierungen immer wieder behaupten. In den mehrheitlich von ethnischen Serben bewohnten Gebieten im Süden des Kosovo haben sich viele
Menschen gegen einen Wahlboykott und für die Teilnahme entschieden. Auch das ist bemerkenswert und
sagt etwas über die Bevölkerung aus.
({3})
Frieden im Kosovo wird es aber auf Dauer nicht gegen Serbien, sondern nur mit Serbien geben. Dafür müssen wir die verantwortungsbewussten Kräfte im Kosovo
wie auch in Serbien stärken. Wir haben den Präsidenten
Boris Tadic darin bestärkt, eine Politik der Verständigung und des Ausgleichs entschlossen zu verfolgen. Vor
dem Mut und der Durchsetzungskraft, mit der er sich gegen diejenigen wendet, die auf Konfrontation und Zwiespalt setzen, habe ich - ich glaube, dass ich das nicht nur
für mich, sondern für die allermeisten Kollegen in diesem Hause sage - sehr großen Respekt. Die große Mehrheit der Menschen in Serbien und im Kosovo ist es leid,
dass ihnen die Demütigungen, Zerstörungen und Morde
der Balkankriege den Weg in die Zukunft verstellen.
Niemand wird die Opfer dieser Zeit vergessen. Kosovo
und Serbien gehen denselben Weg in die Zukunft. Es ist
ein europäischer Weg, über den wir sprechen.
({4})
Dass der westliche Balkan heute eine europäische
Perspektive hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Deswegen will ich
damit schließen - nicht als Pflichtübung, sondern in unser aller Namen von Herzen sprechend -: Sie verdienen
unsere Anerkennung und unsere Unterstützung. Ich
danke ihnen wie auch ihren Familien, Freunden und Angehörigen. Ihr Mut und ihre Tapferkeit machen diesen
Einsatz erst möglich. Ich bitte um eine breite Zustimmung für dieses Mandat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Gernot Erler hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion wird einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Absicherung der
Friedensregelung für Kosovo durch die KFOR-Mission
mit großer Mehrheit zustimmen. Wir sehen dies als einen noch notwendigen Beitrag im Rahmen eines nun
schon über zehn Jahre andauernden, sehr breiten Engagements Deutschlands für eine gute Zukunft des Kosovo
und der gesamten Westbalkanregion.
In diesem breiten Engagement finden wir sehr verschiedene Elemente. Das hat schon mit der Aufnahme
der Flüchtlinge in den Jahren 1998 und 1999 begonnen.
Bis heute leben 300 000 Kosovaren in Deutschland.
Dazu gehört die prominente Rolle Deutschlands als Geber für den Wiederaufbau. Mit den von Deutschland bereitgestellten Mitteln - allein 42 Millionen Euro im vergangenen Jahr - liegen wir hinter den Vereinigten
Staaten an zweiter Stelle. Diese Mittel wurden für verschiedene Schwerpunkte verwendet: Aufbau der öffentlichen Verwaltung, Demokratisierung, Stärkung der
Zivilgesellschaft, Bildungsmaßnahmen, aber auch Infrastruktur wie Wassermanagement und Stromversorgung.
Zu unserem Engagement für den Kosovo zählt auch
die Unterstützung von EULEX, der bis heute größten
Rechtsstaatsmission der Europäischen Union mit über
2 600 Fachleuten - darunter etwa 1 000 Einheimische -,
sowie des Aufbaus einer multiethnischen Justiz und einer Polizei sowie einem Zollwesen. Wir sind ungewöhnlicherweise auch mit exekutiven Aufgaben betraut.
Deutschland leistet nicht nur finanzielle Hilfen, sondern
stellt auch circa 80 Polizisten sowie 25 Experten, Richter, Staatsanwälte und Rechtsfachleute.
Zu unserem Engagement gehören auch die langjährige Unterstützung der Ahtisaari-Mission und die Unterstützung der Troika bei ihrem Versuch, eine Einigung
mit Serbien zu erreichen. Als das nicht funktionierte, gehörte dazu auch unsere frühe Anerkennung der Erklärung der Selbstständigkeit des Kosovo, und zwar nur
vier Tage nach der Unabhängigkeitserklärung. Heute haben sich dieser Anerkennung 66 Staaten angeschlossen.
Wir unterstützen den Kosovo bei seinem Bemühen, in
die regionale Zusammenarbeit einbezogen zu werden.
Häufig ist das nur unter dem Label UNMIK, der Mission
der Vereinten Nationen, möglich und mit der Unterstützung der Arbeit des internationalen zivilen Repräsentanten, der gleichzeitig Sonderbeauftragter der EU ist und
für die vorläufig noch überwachte Souveränität des Kosovo eine wichtige Rolle spielt.
Das alles zeigt: KFOR, die militärische Absicherung
des Friedens- und Stabilisierungsprozesses im Kosovo,
ist Teil eines breiten politischen und finanziellen Gesamtengagements Deutschlands, um dessen Details wir uns
immer wieder kümmern müssen. Zum Glück können wir
heute sagen - hierin muss man dem Außenminister zustimmen -: Es ist verantwortbar, die Präsenz von KFOR
schrittweise zu reduzieren, weil sich die Sicherheitslage
im Kosovo insgesamt verbessert hat, was für die Minderheiten und ihren aktiven Anteil am politischen Leben
im Kosovo besonders wichtig ist - besonders im Süden
des Kosovo wird das umgesetzt -, und weil heute blutige
Ausschreitungen wie die vom März 2004 - wir haben
und werden sie nicht vergessen - kaum noch denkbar erscheinen. Auch andere Aufgaben sind erledigt. Zum Beispiel ist das Kosovo Protection Corps zum Sommer letzDr. h. c. Gernot Erler
ten Jahres aufgelöst worden. Es gibt gute Fortschritte bei
der Aufstellung eigener Sicherheitskräfte im Kosovo unter dem Titel Kosovo Security Force.
Das bedeutet, dass man die Truppenstärke von KFOR
durch das sogenannte „Gate 1“ schon zum 1. Februar
dieses Jahres von 14 000 auf 10 000 Kräfte reduzieren
konnte. Es macht daher Sinn, die Obergrenze des deutschen Anteils, wie es im Antrag der Bundesregierung
steht, von 3 500 auf 2 500 Kräfte herabzusetzen und sich
auf eine - mit der KFOR etwa über die Stufen
5 500 Mann, 2 500 Mann bis hin zum Abzug - weitere
Reduzierung vorzubereiten.
Es gibt aber auch Probleme. Noch ist das, was in der
gegenwärtigen Phase von KFOR als „deterrent presence“ bezeichnet wird - also die abschreckende Anwesenheit -, notwendig, also nicht verzichtbar, schon allein
deswegen, um jeden Rückschritt betreffend die Sicherheitslage auszuschließen, aber auch, um den dringlichen
Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, was
weitere Reformbemühungen im Kosovo angeht, Nachdruck zu verleihen. Solange die EU-Kommission, wie in
ihrem letzten Fortschrittsbericht vom 14. Oktober 2009
niedergelegt, Grund dazu hat, mangelnde Fortschritte bei
der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und beim Aufbau des Justizsystems im Kosovo zu beklagen, solange
dringend Erfolge im Kampf gegen Korruption, Drogenhandel, organisierte Kriminalität und sogar Kinderarbeit
angemahnt werden müssen, so lange kann es nicht zu einem Ende der überwachten Souveränität kommen.
Gerade gestern, am 19. Mai, hat die sehr angesehene
internationale Organisation zur Politberatung ICG, die
International Crisis Group, einen neuen Bericht zum
Thema „Rechtsstaatlichkeit im unabhängigen Kosovo“
veröffentlicht. Die ICG konstatiert Fortschritte, insbesondere im Bereich der Sicherheit von Minderheiten,
aber kommt sehr kritisch und eindrucksvoll auf die
Schwächen des kosovarischen Justizsystems zu sprechen. Ich möchte den Kernsatz aus diesem Gutachten
vorlesen: Im Zivilrecht ist es für Bürger wie Einheimische und internationale Firmen praktisch unmöglich,
ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. - Dann wird darauf
hingewiesen, dass das häufig dazu führt, dass Auseinandersetzungen nicht vor Gericht, sondern auf andere Art,
inklusive Gewaltanwendung, ausgetragen werden.
Solange diese Gefahr noch vorhanden ist, müssen wir im
Rahmen von KFOR mit reduzierten Kräften vor Ort vertreten bleiben.
Ich möchte mit zwei klaren Erwartungen abschließen,
die ich an die Bundesregierung richte. Die erste Erwartung hat etwas mit dem Reduzierungsprozess bei KFOR
zu tun. Wir müssen verhindern, dass bei diesem weiteren
Reduktionsprozess Unordnung entsteht. Ich denke
daran, dass die Franzosen angekündigt haben, dass sie
bei „Gate 2“, also bei der nächsten Reduzierungsstufe,
alle Truppen abziehen wollen. Wenn das zu einer Art
Wettlauf wird, wer am schnellsten wieder draußen ist,
kann das für den Kosovo gefährlich werden. Meine Herren Bundesminister, versuchen Sie, das zu verhindern;
denn das wäre katastrophal für das Land.
Zweitens - hier knüpfe ich gerne an die Schlussbemerkung von Ihnen, Herr Dr. Westerwelle, an -: Es ist
schon wichtig, sich immer bewusst zu sein, wie wichtig
für alles Konstruktive, was im Kosovo und im Westbalkan passiert, die verbindliche europäische Perspektive
ist. Es ist gut, dass Sie das hier erwähnt haben. Besser
wäre es gewesen, wenn schon im Koalitionsvertrag zum
Ausdruck gekommen wäre, dass das, was einst im
Juni 2003 im Europäischen Rat von Thessaloniki gesagt
worden ist, weiterhin verbindlich gilt. Ohne diese politische Perspektive der europäischen Integration wird es
keine Motivation für nachhaltigen Fortschritt in der
Region geben. Deswegen möchte ich das hier noch einmal sehr deutlich ansprechen. Wir sollten zusammen
eine solche Sicherheit geben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Kollege Erler, wir erinnern uns sicherlich
noch alle genau an Thessaloniki. Thessaloniki gilt in seinen Grundausrichtungen. Das ist natürlich - das haben
Sie angesprochen - an entsprechende Fortschritte, die
aus der Region zu kommen haben, gebunden. Es ist aber
wichtig, sich an diesen Bogen, an diesen Brückenschlag
zu erinnern, der im Jahre 2003 über viele Grenzen hinweg in großer Ernsthaftigkeit vollzogen wurde.
Für manche ist es der vergessene Einsatz. Ich finde,
nichts könnte falscher sein, als das in diese Richtung zu
drängen. In der öffentlichen Berichterstattung ist es um
den Kosovo tatsächlich vergleichsweise ruhig geworden.
Jetzt kann man sagen, das verdanken wir - das ist auch
so - natürlich dem Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten. Wir verdanken es auch zahlreichen diplomatischen Bemühungen, die auf den Weg gebracht wurden;
sie wurden im Einzelnen angesprochen. Wir verdanken
es aber auch dem Engagement vieler Vereinigungen zum
Beispiel - das darf ich einmal mit Blick zu Ihnen, Herr
Erler, sagen - aus unserem Land, der Südosteuropa-Gesellschaft, die sich hier sehr eingebracht und immer wieder versucht hat, die Dinge miteinander zu verknüpfen,
dort kritisch zu sein, wo man kritisch sein musste, aber
eben auch konstruktive Impulse zu geben.
Meine Damen und Herren, zur Stunde - wir diskutieren heute ja auch über die Zahlen - versehen etwa
1 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten in unserem Auftrag ihren Dienst bei KFOR, fern der Heimat und auch unter fordernden Bedingungen. Wir neigen derzeit dazu, im
Wesentlichen nur einen Einsatz und die entsprechenden
Herausforderungen zu benennen. Die Bedingungen für
unsere Soldatinnen und Soldaten sind auch im Kosovo
fordernd. Vor dem Hintergrund erinnere ich daran, dass
das einiges abfordert. Sie haben wesentlichen Anteil daran, dass das Kosovo heute ein unabhängiger demokratischer Staat ist. Was noch 2007 als Schreckgespenst an
die Wand gemalt wurde, hat sich zum Glück nicht bestätigt, bei aller Wachsamkeit, die wir weiterhin an den Tag
legen müssen. Das Jahr 2004 wurde erwähnt. Wir alle
waren erschrocken über das, was sich dort ereignet hat,
weil man auch damals glaubte, es sei um den Kosovo ruhig geworden - und das war es nicht.
Wir können jetzt mit Erleichterung und, glaube ich
- das müssen wir gar nicht verhehlen -, mit einem gewissen Stolz auf diese KFOR-Operation blicken, müssen
uns aber eben diese Wachsamkeit erhalten, eine Wachsamkeit, die an die nächsten und notwendigen Schritte
zu binden ist. Herr Kollege Westerwelle hat auf einige
Defizite hingewiesen; auch Sie haben auf einige Defizite
verwiesen, die aus dem Land selbst heraus noch zu beheben sind. Hier müssen wir die Unterstützung geben, die
wir geben können.
Sicherheitspolitisch ist die Lage weitgehend stabil.
Ich möchte noch eine andere Zahl nennen. Mittlerweile
sind wir im Kosovo von anfangs mehr als 50 000 Soldaten bei nunmehr unter 10 000 Soldaten. Schon das steht
für eine Erfolgsgeschichte. Man darf auch einmal benennen, dass Auslandseinsätze eine Erfolgsgeschichte sein
können. Unser deutscher Beitrag konnte von ursprünglich 6 400 Soldaten - das war im Jahre 2000 - auf ebenjene 1 500 Soldaten reduziert werden.
KFOR ist heute, bildlich gesprochen, nicht mehr die
„Feuerwehr“, die in der ersten Linie steht; wir haben uns
mittlerweile in die dritte Reihe begeben können. Die
erste Reihe bilden nun die kosovarischen Sicherheitskräfte selbst. Die Rechtsstaatsmission EULEX wurde
genannt. Auch sie hat sich als ein richtiges und sehr
schlüssiges Instrument erwiesen.
Wir haben, wenn man so will, mit KFOR die Rolle eines
Stabilitätsankers übernommen. Wir sind damit in der
dritten Reihe, haben aber alle Aufmerksamkeit. Die
dritte Reihe ist kein schwacher Platz. Das ermöglicht die
Absenkung der personellen Obergrenze von 3 500 auf
2 500 Soldaten, die wir nun vornehmen. Jetzt mag man
fragen: Wenn man dort 1 500 Soldaten hat, weshalb setzt
man die Obergrenze bei 2 500 an? Ich glaube, dass es
wichtig ist, für den Fall einer Lageverschlechterung
einen erforderlichen Spielraum zu haben. Eine Lageverschlechterung kann sich immer ergeben. Das ist in meinen Augen generell im Blick zu behalten, wenn wir über
Obergrenzen bei Auslandseinsätzen sprechen.
Die wesentliche Rolle von KFOR ist - das haben Sie,
Herr Erler und Herr Kollege Westerwelle, angesprochen -,
die abschreckende Präsenz, die „deterrent presence“, wie
es etwas martialisch umschrieben ist, zu bewahren. Sie
hat aber Sinn und ist als Stabilitätselement vorerst unverzichtbar. Sie bleibt auch unverzichtbare Voraussetzung
für den Ausbau staatlicher Strukturen, um den Defiziten
zu begegnen, für den Ausbau wirtschaftlich funktionsfähiger Strukturen - hier ist weiterhin die Achillessehne
des Kosovo; die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht so,
dass es einem Tränen der Euphorie in die Augen treibt und insbesondere für den kulturellen und interethnischen
Aussöhnungsprozess.
Hier kommt es - ja, das ist vollkommen richtig maßgeblich auf die Rolle Serbiens an. Wenn wir in den
Norden des Kosovo blicken, sehen wir, dass dort noch
Eskalationspotenzial besteht. Auch dies zeigt, dass wir
die personellen Spielräume brauchen, um dort gegebenenfalls eine Präsenz vorhalten zu können und einer
möglichen Eskalation entgegenzuwirken. Die zweigeteilte Stadt Mitrovica steht weiterhin paradigmatisch für
das hier noch vorhandene Eskalationspotenzial.
Zwischenfälle sind erfreulicherweise in letzter Zeit
ausgeblieben. Das kann diesen nächsten Schritt rechtfertigen. Aber ich will eines gern aufgreifen: Für uns alle
sollte gelten: together in, together out. Das ist sehr neudeutsch. - Da schüttelt es den Kollegen Westerwelle.
Die englische Aussprache von KFOR ist für ihn schon
zu viel, und dann auch das noch.
({0})
- Nein, um Gottes willen. Das werde ich mit Sicherheit
nicht tun. - In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu
sagen, dass einseitige, unilaterale Schritte nicht von Nutzen sind. Dieses Signal senden wir auch an unsere Partner im Rahmen von KFOR.
Ich glaube, insgesamt können und müssen wir von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Wir sollten das mit dem
Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten verbinden, die
diesen verdient haben. Dieser Einsatz ist nicht vergessen, unsere Soldaten sind nicht vergessen. Ich bitte um
die Unterstützung für die Verlängerung dieses Einsatzes.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat Paul Schäfer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kommandant der NATO-Truppen im Kosovo, General
Bentler, hat vor wenigen Wochen festgestellt, der militärische Auftrag sei erfüllt. Nein, das ist nicht ganz richtig;
er hat gesagt, er sei „weitgehend erfüllt“. Er hat weiter
gesagt - das möchte ich zitieren -:
Es gibt keine Bedrohung mehr von außen. … Alle
Herausforderungen, die im Kosovo noch zu meistern sind, haben nicht militärische Natur. Es geht
um soziale, politische, wirtschaftliche Fragen …
Das ist der O-Ton von General Bentler. Wenn das so ist,
dann ist es doch nur folgerichtig, sich auf die Lösung genau dieser Fragen zu konzentrieren, zum Beispiel auf die
nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.
Man muss die wirtschaftlichen Fragen angehen. Wenn
Paul Schäfer ({0})
das, was der zuständige NATO-Kommandant sagt, richtig ist, dann wäre es auch folgerichtig, die Truppen nicht
in Trippelschritten, sondern möglichst rasch abzuziehen.
Genau das ist die Aufgabe.
({1})
Die Bundesregierung bleibt in ihrem Antrag die Antwort auf die Frage, warum man die Bundeswehr im
Kosovo behalten sollte, schuldig. Noch einmal: Es gibt
keine militärische Bedrohung von außen; das sagt der
NATO-Kommandant. Dass man für die Ausbildung der
kosovarischen Sicherheitskräfte, die 2 500 Mann umfassen sollen, 10 000 Soldaten benötigt, das halte ich für
völlig abwegig. Wir werden daher der Verlängerung des
KFOR-Mandats nicht zustimmen.
({2})
Die Linke ist dafür, die Bundeswehr dort abzuziehen.
({3})
Ich weiß, dass man die Aussage, der militärische Auftrag sei weitgehend erfüllt, als Erfolg interpretieren
kann. Der Minister hat das gerade getan. Durch die
NATO-Brille mag das wohl so scheinen.
Ich will drei Einwände bringen:
Erstens. Die Sache steht politisch und rechtlich weiter
auf wackeligen Füßen.
Zweitens. Eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist nicht zu erkennen. Das Stichwort
vom Schlusslicht Kosovo ist gefallen.
Drittens. Die internationalen Verwerfungen, die dieser selbstmandatierte Militäreinsatz der NATO hervorgerufen hat, sind und bleiben erheblich.
Zum Ersten: Kosovo hat sich einseitig für unabhängig
erklärt. Die UNO-Resolution 1244, auf die sich die Militärpräsenz stützt, sieht eine solche Sezession nicht vor.
Deshalb hat die Stationierung der Bundeswehr dort unseres Erachtens keine ausreichende rechtliche Grundlage. Außerdem ist der internationale Status nach wie
vor ungeklärt. Nach wie vor weigert sich die Mehrzahl
der UNO-Mitgliedstaaten, die Sezession des Kosovo anzuerkennen. Sie lässt das beim Internationalen Gerichtshof prüfen.
Bezüglich der politischen Ansprüche, die die NATO
bei ihrer Militärintervention formuliert hat, die auch der
Grund für das Eingreifen waren, muss man fragen: Kann
man da von einem Erfolg reden? Ist die Mission, ein
multiethnisches Kosovo zu schaffen, nicht mit den
NATO-Luftangriffen zerstört worden? Jetzt sagt der
Kommandant, die Rückkehr von Kosovo-Serben müsse
wesentlich stärker gefördert werden. Bitte sehr, aber das
hören wir seit zehn Jahren. Das ist ein hilfloser Appell.
Auch das kennzeichnet die Realität dort.
Zum Zweiten: Das öffentliche Gemeinwesen des Kosovo hängt am Tropf internationaler Unterstützungsleistungen. Es sind erhebliche Transfersummen dorthin geflossen, aber es gibt keine funktionierenden
wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Strukturen. Die
Stichworte „Korruption“ und „organisierte Kriminalität“ sind genannt worden. Meines Erachtens hat sich
auch dort gezeigt, dass Quasi-Protektorate und Korruption siamesische Zwillinge sind und bleiben.
Zum Dritten: Was die internationalen Entwicklungen
betrifft, ist das Ganze eher abschreckend. Dieser Krieg
hat zur Schwächung der UNO und der OSZE geführt
und war der Auftakt zur Verschärfung anderer Autonomie- und Sezessionskonflikte über Europa hinaus. Ohne
den Sündenfall Kosovo würde es heute anders um Abchasien und Südossetien stehen, und die UNO hätte andere Handhabemöglichkeiten, um dort politische Lösungen zu finden.
({4})
Wer der Region also eine neue Perspektive eröffnen
will, der muss die militärische Intervention beenden, der
muss die Stärkung des internationalen Rechts im Blick
haben, sich also auf völkerrechtlich gesicherten Pfaden
bewegen und alles daransetzen, dass die Kräfte der Aussöhnung und der Vernunft in der Region gestärkt werden. Das geht nur durch eine viel intensivere Unterstützung zivilgesellschaftlicher Projekte. Die Alternative zu
einem militärisch eingefrorenen Konflikt ist ein zivil gelöster Konflikt. Genau das wollen wir. Dafür steht die
Linke.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Omid Nouripour ist der nächste Redner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch
vor wenigen Tagen hat sich der UN-Sicherheitsrat mit
dem Kosovo beschäftigt. In der Debatte war immer wieder zu hören, dass der Kosovo zwar stabil, aber potenziell fragil sei, und das, lieber Herr Kollege Schäfer, ist
der Grund, warum unser Engagement weiterhin gebraucht wird.
({0})
Es geht darum, das, was an Sicherheit und Frieden bisher
hergestellt worden ist, in dieser kritischen Situation nicht
aufs Spiel zu setzen. Das ist der Grund, warum wir der
Meinung sind, dass unser Einsatz dort fortgesetzt werden muss, zumindest zurzeit.
Womit Sie aber recht haben, ist die Feststellung, dass
das alles nicht funktioniert, wenn man die sozialen Probleme dort nicht angeht. Es gibt eine wunderbare Maßzahl - sie ist nicht in der Sache wunderbar, macht es aber
sehr anschaulich -: die Jugendarbeitslosigkeit; sie liegt
bei über 60 Prozent. Das ist ein Riesenproblem. Wir
wünschen uns von der Bundesregierung, dass sie in der
EU dafür eintritt, dass man sich gerade in den Bereichen
Bildung und Ausbildung mehr anstrengt, weil das der
einzige - zivile - Weg ist, wie man eine langfristige Lö4298
sung für den Kosovo, die Sie gerade gefordert haben, erreichen kann.
({1})
Der Kosovo ist ein unfertiger Staat. Die Probleme
sind bekannt: Der Aufbau der Administration, der Justizund Zollverwaltung etc., leidet unter Korruption und organisierter Kriminalität. Es gibt große Probleme in diesen Bereichen, die noch angegangen werden müssen.
Wir müssen auch selbstkritisch feststellen: Die Verschachtelung von UNMIK und EULEX ist nicht immer
hilfreich, sie ist nicht in allen Bereichen besonders gelungen. Manches muss verbessert werden. Das muss die
Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union zur
Sprache bringen.
Eine isolierte Lösung für den Kosovo wird es nicht
geben. Wir brauchen einen regionalen Ansatz, allen voran - das ist zu Recht gesagt worden - mit Serbien. Es ist
von zentraler Bedeutung, der serbischen Bevölkerung
klarzumachen, dass Serbien eine EU-Perspektive hat,
dass sie die Chance haben wird, die historische Teilung
Europas, die weitgehend überwunden ist, sich am Westbalkan aber noch zeigt, zu überwinden. Auch Serbien
muss eines Tages die Chance bekommen, in die Europäische Union zu kommen.
({2})
Dabei darf man Bosnien nicht vergessen; auch Bosnien
ist in diesem Zusammenhang alles andere als unwichtig.
Meine Damen und Herren, die KFOR-Mission und
unsere Soldatinnen und Soldaten genießen vor Ort großen Respekt. Das liegt daran, dass sie eine gute Arbeit
machen. Deshalb möchte ich den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion unseren herzlichen Dank aussprechen.
Die Truppenstärke von KFOR liegt jetzt unter 10 000
Soldaten. Deshalb ist es richtig, dass wir die Obergrenze
für das Mandat jetzt auf 2 500 Soldaten absenken. Die
Bundesregierung gibt uns so verdammt wenige Möglichkeiten, sie zu loben, dass ich unterstreichen will: Diese
Entscheidung ist richtig.
({3})
- Sie müssen mir zu Ende zuhören: Konterkariert wird
diese Entscheidung von einer falschen Entscheidung,
nämlich der Unterzeichnung des Rückübernahmeabkommens mit dem Kosovo. Es gibt Warnungen vom UNHCR,
von den Vereinten Nationen, von der OSZE, von den
Menschenrechtsorganisationen, von den Flüchtlingsorganisationen. Sie alle sagen: Zwangsrückführungen in
den Kosovo - insbesondere von Roma und Angehörigen
anderer ethnischer Minderheiten - sind schlicht unverantwortlich. Das muss an dieser Stelle gesagt werden.
({4})
Nicht nur, dass diese Personen keinerlei soziale Perspektive, keinerlei Chance auf rechtliche Gleichbehandlung
haben: Dadurch, dass diese Personen in dieses Land geschickt werden - noch einmal: in ein potenziell fragiles
Land -, setzen Sie die Stabilität des Landes aufs Spiel.
Mit dem Anspruch, die Arbeit unserer Soldatinnen und
Soldaten wirksam zu unterstützen, ist das nicht vereinbar.
Deshalb meine Bitte: Denken Sie darüber nach, die
Unterzeichnung dieses Abkommens, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, auszusetzen - Abschiebungen in den
Kosovo konterkarieren unser Engagement dort -, und
sorgen Sie für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal zu dem Beitrag meines Kollegen Nouripour: Herzlichen Dank für die gute Beschreibung der Situation im Kosovo. Ich glaube, dass die Einigkeit, die wir - bis auf die Linkspartei, die sich leider
auch an dieser Stelle wenig verantwortungsbewusst
zeigt - bei dieser Mission demonstrieren, die Kontinuität
des Einsatzes sehr gut widerspiegelt.
Kollege Nouripour hat es gesagt: Es sind große Fortschritte zu erkennen. Sie werfen rechtliche Fragestellungen auf. Damit will ich auf Ihren letzten Punkt eingehen:
Es ist natürlich so, dass wir in Deutschland bei Fragen,
die Flüchtlinge und Asyl betreffen, klare rechtliche Vorgaben mit nachprüfbaren Kriterien haben. Aufgrund der
Stabilität, die es im Kosovo - trotz aller Schwierigkeiten - gibt, können wir unsere rechtlichen Maßstäbe, was
Abschiebung angeht, guten Gewissens anwenden. Deshalb unterstütze ich das, was wir dort auf den Weg bringen. Wir hatten in den letzten Jahren so viel Erfolg, dass
wir unsere rechtlichen Kriterien weiterhin aufrechterhalten können; deshalb die konsequente Abschiebung,
wenn der Tatbestand nicht mehr erfüllt ist, weil sich die
Situation im Heimatland wesentlich verbessert hat, man
also keinen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung mehr
hat.
({0})
Der zentrale Punkt, bei dem wir wieder übereinstimmen, ist die Zukunft des Kosovo. Herr Schäfer, ich bin
nicht damit einverstanden, dass Sie das Argument eines
vermeintlich multiethnischen Kosovo - man kann sich ja
wirklich darüber streiten, inwiefern der Begriff „multiethnisch“ so anzuwenden ist - erst verschleiernd, dann
aber doch offensichtlich dafür nutzen, eine politische
Diskussion zu führen - Sie haben gesagt, wir hätten die
NATO-Brille auf -, die eigentlich in eine Zeit gehört, in
der es die Konfrontation zwischen der NATO und einem
anderen Machtbündnis gab.
Sie haben in Ihrer Argumentation von dem Vehikel
der angeblich multiethnischen Gesellschaft gesprochen.
Diese Stellungnahme zeugt von anderen politischen Interessen außerhalb Deutschlands und vor allem auch innerhalb der Region, was ich Ihnen nicht so einfach
durchgehen lassen will. Ich bin tatsächlich der Meinung,
dass wir Serbien und auch die Kosovaren selber immer
wieder auffordern müssen, einen gemeinsamen Weg in
Richtung Europa zu gehen. Dieser Weg kann nur gemeinsam begangen werden.
({1})
Deshalb ist jeder Versuch, die Struktur des Kosovo so
für seine Zwecke zu interpretieren, wie Sie das hier getan haben, aus meiner Sicht nicht zulässig.
Vor diesem Hintergrund und nach den Gesprächen,
die wir in den letzten Monaten geführt haben, bin ich der
Meinung, dass der Schwerpunkt unseres Engagements in
Zukunft natürlich auf der Unterstützung des zivilen Aufbaus liegen muss. Als uns der kosovarische Bildungsminister vor ein paar Monaten besucht hat, wurde uns in
all den Gesprächen, die wir mit ihm geführt haben, klargemacht, wie wichtig die Themen Bildung und Ausbildung und der Aufbau wirtschaftlicher Strukturen für das
Kosovo selbst sind. Das müssen wir weiterhin unterstützen. Der Rahmen, den wir dafür bieten, ist eben, dass wir
diese Mission auf Grundlage der Resolution der Vereinten Nationen weiterhin durchführen.
Selbstverständlich hätten wir es gerne, dass der Einsatz nach so langer Zeit so erfolgreich ist, dass ein militärisches Engagement nicht mehr notwendig ist. Ich
denke aber, dass durch die Herabsetzung der Obergrenze
und den durch beide Minister skizzierten Verlauf dieser
Mission deutlich wird, dass es sich um einen erfolgreichen Einsatz handelt.
Um die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen im zivilen Sektor deutlich machen zu können, brauchen wir natürlich weiterhin diese militärische Komponente, die im
Übrigen - das ist ja nicht isoliert von den Menschen vor
Ort oder isoliert in der Region zu sehen - auf breiteste
Akzeptanz dort stößt. Das darf man auch nicht außer
Acht lassen. Deshalb sollten wir die Verantwortlichen,
die es im Kosovo schwer genug haben, eine vernünftige
Zukunft zu gestalten, auch in dieser Debatte unterstützen, indem wir sagen: Unser Engagement gilt erstens
dem Aufbau der Zivilgesellschaft, und dies wird zweitens auch dadurch unterstrichen, dass wir uns unserer
militärischen Verantwortung stellen. - Es ist nämlich
richtig gesagt worden: Noch ist nicht alles von dem erreicht, was wir uns vorgenommen haben, sondern unser
Einsatz ist weiterhin notwendig.
Deshalb wünsche ich unseren Soldatinnen und Soldaten auch in diesem Einsatz weiterhin viel Erfolg mit hoffentlich, wie der Herr Bundesverteidigungsminister
deutlich gemacht hat, möglichst wenigen Zwischenfällen, sodass ihre Präsenz zwar notwendig ist, aber schon
vorauseilend eine Konsequenz hat, nämlich die, dass
durch die starke Militärpräsenz auch weiterhin gar keine
bzw. kaum einmal Zwischenfälle geschehen, sondern die
politische Stabilität obsiegt.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich Hans-Christian
Ströbele das Wort.
({0})
Herr Kollege Mißfelder, ich wehre mich wieder dagegen, dass Sie auch mich vereinnahmen, indem Sie sagen,
wir alle seien dieser Auffassung. Sie müssen vorsichtig
sein und sich immer erst bei mir erkundigen, ob Sie mich
da mit einbeziehen können.
({0})
Das war aber nicht der inhaltliche Grund meiner
Kurzintervention, sondern ich möchte zwei Bemerkungen der beiden Minister widersprechen.
Sie haben unisono - ich glaube, der Außenminister
zweimal - erklärt, das sei ein äußerst erfolgreicher Einsatz der Bundeswehr gewesen, und der Verteidigungsminister hat sogar von einer Erfolgsgeschichte dieses
Einsatzes gesprochen.
Die Älteren unter uns, vor allem Dienstältere im Parlament wie ich, erinnern sich, dass der Einsatz seinerzeit
am Ende der Bombardierung und des Krieges gegen Serbien beschlossen wurde und dass die Stationierung der
Truppen im Kosovo damals mit Zustimmung der serbischen Regierung, auch von Milosevic, erfolgte. Man
kann vielleicht von einer erzwungenen Zustimmung reden, aber immerhin ist die Stationierung mit Zustimmung Serbiens erfolgt.
Zu dem Auftrag der KFOR-Truppe, die in den Kosovo geschickt worden ist, gehörte eine ganze Reihe von
Aufgaben, von denen zwei ganz wesentlich waren: Sie
sollte erstens die multiethnische Entwicklung des Kosovo garantieren. Zweitens sollte sie garantieren, dass
der Kosovo nicht unabhängig wird. Lesen Sie es nach!
Das war damals eine der Bedingungen Serbiens für die
Zustimmung: dass der Kosovo nicht selbstständig wird,
sondern weiterhin ein autonomer Teil Serbiens bleiben
soll.
Diese beiden wichtigen und zentralen Punkte, die damals zur Zustimmung Serbiens geführt haben, sind nicht
eingehalten worden. Auch nach der Stationierung der
KFOR-Truppe im Kosovo sind Zehntausende Roma und
andere mit Gewalt vertrieben worden. Die Dörfer haben
gebrannt. Die Menschen sind mit körperlicher Gewalt
bedroht, verletzt oder vertrieben worden. Einzelne sind
auch getötet worden. Unterhalten Sie sich einmal mit
den Roma, die noch heute in den Nachbarländern in Lagern leben oder die nach Deutschland gekommen sind!
Das heißt, die multiethnische Entwicklung ist nicht
erreicht worden. Das andere Ziel, die Verhinderung der
Selbstständigkeit des Kosovo, ist ebenfalls nicht erreicht
worden. Der Verteidigungsminister feiert es sogar als
großen Erfolg, dass der Kosovo jetzt ein unabhängiger
Staat geworden ist. Das war aber nicht der Auftrag der
deutschen Soldaten, die damals dort hingeschickt worden sind.
Ich bitte darum, keine Geschichtsklitterung zu betreiben.
Herr Kollege Ströbele, eine Kurzintervention darf
drei Minuten nicht überschreiten, die jetzt schon mehr
als vorbei sind.
Ich belasse es bei diesen Richtigstellungen, dass Sie
mit Ihren Einschätzungen nicht richtig liegen, sondern
versuchen, die Geschichte zu verfälschen.
({0})
Möchte einer der Angesprochenen antworten? - Herr
Mißfelder, bitte schön.
Ich werde Sie in Zukunft, wenn ich die Grünen für
ihre verantwortungsbewusste Außenpolitik lobe, immer
davon ausnehmen,
({0})
weil Sie darauf bestanden und mich direkt angesprochen
haben. Das verspreche ich Ihnen als Erstes.
Zweitens, Herr Kollege Ströbele, möchte ich keine
historischen Vergleiche anstellen. Die Geschichtsbücher
zu diesem Thema sind größtenteils noch gar nicht geschrieben. Es sind aber Argumente genannt worden, die
von ganz anderen Personen ins Feld geführt worden
sind. Ihre Argumentation halte ich für falsch.
({1})
Tatsächlich war es Auftrag der deutschen Soldaten
und der internationalen Gemeinschaft, zur Stabilität beizutragen. Das ist auch gelungen. Sie haben von brennenden Dörfern gesprochen. Ich nehme Ihre Anregung ernst
und werde mich mit Vertretern der Roma treffen. Sie
können mir sicherlich sagen, mit wem ich am besten
sprechen sollte.
Ich bitte Sie aber, dass Sie sich vor Augen halten, wie
1998 die Situation im Kosovo war, und sich dann fragen,
ob das, was Sie heute dazu gesagt haben, dem Ernst der
damaligen Situation angemessen ist.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1683 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, Volker
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen Netzsperren in Europa verhindern
- Drucksache 17/1584 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Internetsperren in EU-Richtlinie aufnehmen
- Drucksache 17/1739 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht ({3}), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämpfen - Opferschutz stärken
- Drucksache 17/1746 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und wieder müssen wir hier über Internetsperren reden. Wir müssen dies tun, obwohl wir wissen,
dass Netzsperren ineffektiv, unverhältnismäßig und kontraproduktiv sind. Wir Grüne fordern seit langem wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. Umso enttäuschender ist das, was wir
jetzt an Vorschlägen von der EU-Kommission vorgelegt
bekommen. Es scheint so, als stünde der europäischen
Ebene und damit auch uns die hier längst abgeschlossene
Debatte über die Sinnlosigkeit von Internetsperren erneut bevor. Das ist höchst unerfreulich.
({0})
Dieses Parlament hat sich intensiv mit dem Ansatz
der Internetsperren beschäftigt. Nach langen Diskussionen sind wir fraktionsübergreifend zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein gänzlich untaugliches Mittel handelt.
({1})
Aus diesem Grund haben wir uns ebenfalls fraktionsübergreifend auf den Grundsatz „Löschen statt Sperren“
geeinigt.
({2})
Das war eine richtige Entscheidung.
({3})
Die jüngste Kriminalitätsstatistik weist im Bereich
der Darstellung von Kindesmissbrauch im Netz einen erfreulichen Rückgang der Straftaten um über 40 Prozent
auf. Dennoch bleibt viel zu tun. Wir wissen, es gibt viele
Ansatzpunkte, den Kampf noch schlagkräftiger und erfolgreicher zu führen: Noch immer mangelt es den Strafverfolgungsbehörden an qualifiziertem Personal. Es mangelt an einer angemessenen technischen Ausstattung. Es
mangelt an finanzieller Unterstützung von Beschwerdestellen wie Inhope. Außerdem brauchen wir dringend
bessere internationale Abkommen, selbst mit Ländern
wie den USA, mit denen die Zusammenarbeit nach wie
vor schwierig ist. In all diesen Bereichen können wir mit
geringem Aufwand eine Menge erreichen. Trotzdem tun
Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP,
nichts, um effektiv Abhilfe zu schaffen.
({4})
Zudem stellt sich die Frage, ob die EU mit ihren Vorschlägen nicht deutlich über ihre Kompetenzen hinausgeht. Sowohl der Wissenschaftliche Dienst als auch das
Europareferat des Bundestages haben ganz erhebliche
Zweifel an der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes
angemeldet. Was macht die vermeintliche Rechtsstaatspartei FDP, was machen CSU und CDU, die sich sonst
nie genug als Wahrer deutscher Gesetzgebungsinteressen gerieren können? Sie verhindern die Klärung dieser
wichtigen Frage, indem sie gestern im Rechtsausschuss
unseren Antrag gegen die Stimmen der gesamten Opposition von der Tagesordnung nehmen
({5})
und so die Einspruchsfrist vorsätzlich verstreichen lassen. Das ist ein absolutes Armutszeugnis, meine Damen
und Herren.
({6})
Während der Deutsche Bundestag nun also schwarzgelb-bedingt weiter über Netzsperren diskutieren muss,
läuft in unserer Gesellschaft eine breite Debatte über
Missbrauch, der in Schulen, Sportvereinen, aber vor allem auch in Familien stattfindet. Hier zu handeln ist das
Gebot der Stunde.
Bisher haben wir als Opposition in dem Glauben, dass
Sie endlich wirklich tätig werden, vieles hingenommen.
Wir haben hingenommen, dass Sie ein Gesetz, das ordnungsgemäß im Bundestag verabschiedet und vom Bundespräsidenten unterschrieben wurde, auf verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Weise nicht anwenden.
Anstatt nun endlich aus den Fehlern der Vergangenheit
zu lernen, fechten Sie über Europa Ihren koalitionsinternen Streit aus. Wir sind nicht länger gewillt, dieser kontraproduktiven Placebopolitik weiter zuzuschauen. Deswegen fordern wir: Legen Sie endlich den „Aktionsplan
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung“ neu auf und entwickeln Sie
eine Strategie, die sich nicht mit dem Aufstellen sinnloser Stoppschilder beschäftigt, sondern uns tatsächlich im
Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern
weiterbringt. Wenn es Ihnen mit dem schwarz-gelben
Koalitionsvertrag und Ihrer Erklärung gegenüber dem
Bundespräsidenten, warum Sie Teile des Zugangserschwerungsgesetzes nicht anwenden, auch nur ansatzweise ernst ist, bleibt Ihnen überhaupt keine andere
Wahl: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Ansgar Heveling ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gehört zum politischen Alltag, zu erleben, dass bestimmte Begriffe eine Art Pawlow’schen Reflex - namentlich bei der Opposition - auslösen. Unter Inkaufnahme erheblicher politischer Ermüdungstendenzen
wird dann die x-te Variation ein und desselben Themas
in die Debatte eingebracht. Bedauerlicherweise ist bei
aller Wiederholung oft - genauso wie jetzt - nicht festzustellen, dass die alte Weisheit „Repetitio est mater studiorum“ zutrifft. Unser aktueller, den Pawlow’schen Reflex auslösender politischer Begriff ist das Wort
„Netzsperren“. Sobald es in irgendeinem Kontext auftaucht, springt die Opposition auf und über jedes hingehaltene Stöckchen. Jetzt ist es wieder einmal so weit.
({0})
Weil in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Bekämpfung
des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie Kinderpornografie in Art. 21
ein Passus zur Sperrung des Zugangs von Webseiten, die
Kinderpornografie enthalten, formuliert wird, haben wir
es gleich mit einem bunten Strauß von Anträgen von
SPD, Grünen und Linken zu tun. Unterschiedlich wortreich und mit deutlich verschiedener Begründungstiefe
- von ein paar dürren Zeilen bei den Linken bis hin zu
einer anerkennenswert weitreichenden Auseinandersetzung mit dem Thema bei den Grünen ({1})
werden in gehölzartiger Verästelung riesige Argumentationskulissen aufgebaut.
({2})
Entkleidet man die Anträge dieses ganzen Drumherums
und führt sie auf ihren Kern zurück, dann stellt man fest,
dass es eigentlich nur um die hier bereits mehrfach geführte Auseinandersetzung geht, nämlich die Frage, ob
man für „Löschen statt sperren“ oder für „Löschen vor
sperren“ steht. Ersteres ist der gemeinsame Tenor der
Anträge der Opposition.
({3})
Unser hiesiges geltendes Gesetz zur Bekämpfung von
Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen geht in § 1
Abs. 2 den zweitgenannten Weg und konstituiert die
Möglichkeit des Sperrens einer Internetseite nur, „soweit
zulässige Maßnahmen, die auf die Löschung des Telemedienangebots abzielen, nicht oder nicht in angemessener Zeit erfolgversprechend sind“.
({4})
Die Debatte hierzu haben wir vor nicht allzu langer Zeit
an dieser Stelle bereits geführt. In diese Richtung bewegt
sich im Übrigen auch der Richtlinienentwurf, der den
Mitgliedstaaten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmen
zu treffen, „damit Webseiten, die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, aus dem Internet entfernt werden“. Mithin steht nicht allein das Sperren von Internetseiten im Mittelpunkt der vorgesehenen Richtlinie.
Vielmehr greift der Entwurf das Thema „Löschen von
Internetseiten“ ebenso auf und gibt den Mitgliedstaaten
auf, vorbehaltlich angemessener Schutzvorschriften
eben auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,
„damit der Zugang von Internet-Nutzern zu Webseiten,
die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, gesperrt wird“.
Die Forderungen der Opposition hierzu zielen nun
- genauso wie in der Vergangenheit - darauf ab, dem
Staat die Alternativität von Schutzmaßnahmen aus der
Hand zu schlagen.
({5})
Hier genauso wie schon bei den jüngsten Debatten über
das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie in
Kommunikationsnetzen stellt sich nach wie vor die
Frage, ob es klug ist, sich aller alternativer Handlungsmöglichkeiten zu berauben.
({6})
Auch mit den aktuellen Anträgen gelingt es der Opposition unserer Ansicht nach nicht, diese Frage substanziiert zu beantworten.
({7})
Unbestritten ist die Möglichkeit des Sperrens von Internetseiten nach dem erfolglosen Versuch des Löschens
nicht der Königsweg; das steht außer Frage. Aber es ist
eben eine Handlungsmöglichkeit. Solange kein anderer
tragfähiger Weg aufgezeigt wird, sind wir der Ansicht,
dass sich der Staat dieser Option nicht berauben darf.
({8})
Die heutigen Anträge der Opposition bleiben jedenfalls die Antwort auf eine tragfähige Alternative erneut
schuldig. Unseres Erachtens eröffnet eigentlich nur der
Antrag der Grünen die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dieser Frage. So ist die Aussage, es fehle
derzeit vor allem an einer mehrdimensional angelegten
Strategie zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch
von Kindern, fraglos richtig. Aber was ist die Schlussfolgerung daraus? Die Schlussfolgerung kann doch gerade
nicht sein, den Weg zur Mehrdimensionalität zu versperren, indem man mit dem Diktum „Löschen statt sperren“
Alternativstrategien ausschließt.
({9})
Die Schlussfolgerung kann doch nicht sein, bei einem
Medium, das sich bekanntermaßen nicht um Staatsgrenzen schert, was zweifellos auch einer seiner Vorzüge ist,
Möglichkeiten zu einem einheitlichen Vorgehen in Europa zu torpedieren.
({10})
Dies alles ließe sich dann hinnehmen, würden die Anträge wenigstens Anregungen für neue Wege für die geforderten mehrdimensionalen Strategien liefern.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Kennen Sie einen einzigen Fall - das betrifft auch Polizeibeamte -, bei dem es
nicht gelungen ist, eine relevante Seite aus dem Internet
zu löschen? Kennen Sie einen einzigen Fall, da Sie hier
für das Sperren plädieren?
Das Problem tritt in dem Moment auf, in dem die
Sperrung dem nationalen Zugriff entzogen ist, dann,
wenn eine Seite nicht über nationale Regelungen erfolgreich gelöscht werden kann.
({0})
- Russland, die Niederlande.
({1})
- Sprechen Sie jetzt mit mir oder mit den Kollegen?
Herr von Notz, Sie haben eine Frage gestellt. Es wäre
vielleicht angebracht, der Antwort des Kollegen zu lauschen.
Es gibt tatsächlich Aussagen des BKA, die ich aus
dem Stegreif nicht wiedergeben kann, aber sie sind uns
vorgetragen worden. Ich kann das gerne klären, und
dann können wir uns darüber austauschen. Das Bundeskriminalamt ist im Moment beauftragt, entsprechende
Informationen zu sammeln. Es gab dazu schon eine Zwischeninformation, die ich gerne besorgen werde. Dann
können wir uns darüber austauschen.
({0})
Zurück zum Thema. Ich sprach von Anregungen der
Opposition, die über reine inputorientierte Aussagen von
schlichter Allgemeingültigkeit wie eine personelle und
technische Stärkung der Strafverfolgungsbehörden oder
den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenarbeit hinausgehen. Keine Frage, da gehen wir mit Ihnen
d’accord; aber das sind Allgemeinplätze. Ist das der
mehrdimensionale Ansatz? Es klingt eher wie ein dünner
Aufguss. Auch personell und technisch gestärkte Strafverfolgungsbehörden bedürfen vor allem wirksamer und
schlagkräftiger Instrumente.
({1})
Summa summarum bleibt es dabei: Das Löschen von
Internetseiten ist fraglos der wünschenswerte Weg zur
Beseitigung kinderpornografischer Inhalte. Da er aber an
Grenzen stößt, bedarf es Alternativen.
({2})
Solange aber keine anderen wirksamen Möglichkeiten
aufgezeigt werden, darf man sich der Sperrmöglichkeit
aus unserer Sicht nicht endgültig begeben.
({3})
Die Opposition ihrerseits ist jedenfalls wieder einmal
den Beweis für neue Konzepte schuldig geblieben. Dann
aber ist und bleibt es unklug, andere Wege einfach per se
blockieren zu wollen.
Herzlichen Dank.
({4})
Burkhard Lischka hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Heveling, ich bin auf die Rede des Kollegen
Buschmann gespannt, weil ich nicht weiß, für wen Sie
hier gesprochen haben, als Sie „wir“ gesagt haben. Ich
weiß nicht, ob Sie für die Unionsfraktion oder auch für
die FDP-Fraktion gesprochen haben. An dem Beifall
habe ich gesehen, dass da doch Uneinigkeit besteht.
Der Anlass für unsere heutige Debatte ist allerdings
- das wissen Sie - ein EU-Richtlinienvorschlag, der
dazu dienen soll, den sexuellen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu bekämpfen. Die Fragen, die durch diesen Richtlinienvorschlag aufgeworfen
werden, gehen weit, so finde ich, über das Streitthema
Internetsperren hinaus. Es stellt sich die Frage, wie wir
Straftäter in diesem Bereich überführen können, wie wir
Kinderpornografie im Internet tatsächlich bekämpfen
können, wie wir den Missbrauch von Kindern verhindern können und wie wir die Prävention stärken können.
Zu den Zahlen. Sie wissen, 12 000 Fälle von Kindesmissbrauch und 6 700 Fälle von Kinderpornografie haben wir pro Jahr. Das sind zumindest die aktuellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA. Wir alle
gemeinsam wissen: Die Dunkelziffer ist extrem hoch.
Allein die Ermittlungsstelle Kinderpornografie in dem
Bundesland, aus dem ich komme, dem Bundesland
Sachsen-Anhalt, sichtet derzeit 365 Millionen Bilder
und Filme.
Jetzt liegt ein Richtlinienvorschlag der EU vor. Brüssel will die Rechtsharmonisierung, um konsequenter gegen Kinderpornografie im Internet und gegen sexuellen
Missbrauch von Kindern vorgehen zu können. Mit dem
Ziel stimmen wir als SPD-Fraktion überein, aber an
mehr als einer Stelle - nicht nur bei den Internetsperren
- sagen wir deutlich: Stopp, so dann nicht! - Ich will das
an drei Beispielen deutlich machen:
Das erste Thema ist schon angesprochen worden: die
Internetsperren. Da gilt für uns die Maxime: „Löschen
statt sperren.“
({0})
Wir wollen Kinderpornografie im Internet bekämpfen.
Sie wissen, dass Internetsperren teilweise ungenau sind
und technisch leicht umgangen werden können. Meine
Überzeugung ist, dass sie zumindest keinen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen Kinderpornografie leisten, dass im Gegenteil eine Infrastruktur aufgebaut wird,
die viele Bürgerinnen und Bürger unter dem Blickwinkel
der Freiheits- und Bürgerrechte zu Recht kritisch sehen.
Internetsperren sind deshalb aus unserer Sicht der falsche Weg.
({1})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Der
Richtlinienvorschlag, so wie er jetzt vorliegt, würde das
Ende des deutschen dreistufigen Jugendschutzes bedeuten. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen, die wir derzeit haben, würde künftig entfallen,
und das wäre aus unserer Sicht der falsche Weg; denn
der Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen
liegt die richtige Überlegung zugrunde, dass die Schutzwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschiedlich zu beurteilen ist. Es ist eben nicht das Gleiche, ob es
sich um ein 10-jähriges Kind oder um einen fast 18-jährigen Jugendlichen handelt. So wie der Richtlinienvorschlag jetzt konzipiert ist, würde beispielsweise auch der
verliebte 18-Jährige in ganz gefährliches Fahrwasser
manövriert werden. Nach dem Wortlaut des Vorschlags
macht sich nämlich ein 18-Jähriger strafbar, der bei seiner 17-jährigen Freundin über das Internet anklopft und
sich mit ihr zu Intimitäten verabredet, wenn es in der
Folgezeit zu diesen Intimitäten kommt. Das ist natürlich
Unsinn. Das geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.
({2})
Wir Sozialdemokraten wollen - genau wie die EU das Grooming, das heißt die Anbahnung sexuellen Missbrauchs über das Internet, unter Strafe stellen. Wir wollen
aber nicht Heranwachsende und Gleichaltrige bei ihren
ersten ganz normalen sexuellen Kontakten kriminalisieren.
({3})
Der dritte Punkt, den wir zu kritisieren haben: Der
Richtlinienvorschlag dient - so der Titel - der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Ich befürchte allerdings, dass dieser Titel doch sehr viel mehr verspricht, als an der einen
oder anderen Stelle gehalten werden kann, vor allen Dingen beim Opferschutz. Wir erleben in diesen Tagen und
Wochen, wie aus allen Winkeln der Republik neue Meldungen über Kindesmissbrauch an die Öffentlichkeit
dringen, Meldungen aus Internaten, Schulen, sozialen
Einrichtungen, Kirchen und Sportvereinen. Jahrzehntelang haben die Opfer geschwiegen. Für dieses Schweigen gibt es sicherlich sehr viele Gründe, auch sehr viele
individuelle Gründe, zum Beispiel Furcht, Scham, Hilflosigkeit oder Sprachlosigkeit. Aber eines ist auch offenbar geworden: Für viele gab es in der Vergangenheit
schlicht und einfach keine Anlaufstelle, an die sie sich
als Kinder und Jugendliche, als Opfer hätten wenden
können. Es wurde nicht gesprochen über solche Dinge;
so wird ein Priester in diesen Tagen in einer großen deutschen Tageszeitung zitiert. Nur, eine Gesellschaft, die
über das Thema „sexueller Missbrauch“ nicht spricht,
die es verdrängt, die es tabuisiert, wird den Kampf gegen
den sexuellen Missbrauch nicht gewinnen können.
({4})
Deshalb brauchen wir mehr Anlaufstellen und mehr
Vertrauenspersonen, an die sich unsere Kinder und Jugendlichen in ihrer Not wenden können. Wir brauchen
mehr Schulungsprogramme für Eltern, Lehrer, Erzieher
und Ärzte, damit sie sexuellen Missbrauch erkennen und
adäquat reagieren können.
({5})
Wir brauchen mehr entsprechende Lerninhalte und Gespräche in unseren Schulen und Kindergärten, damit
Kinder und Jugendliche in allen Situationen sexuellen
Missbrauchs, auch in der Familie, das selbsterhaltende
Nein lernen können.
Zur Prävention, die sich der Richtlinienvorschlag auf
die Fahnen geschrieben hat, gehört auch: Wir brauchen
mehr Therapieangebote für pädophile Täter. 220 000
Männer in Deutschland haben pädophile Neigungen; die
Anzahl der entsprechenden Therapieeinrichtungen hingegen können Sie an einer Hand abzählen. Das müssen
wir ändern, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
Wir können natürlich keine der Taten, die jetzt nach
Jahrzehnten öffentlich werden, im Nachhinein ungeschehen machen. Aber wir können etwas für unsere Kinder
und Kindeskinder tun. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern der Vergangenheit schuldig.
Noch einen Satz zu unserer gestrigen Rechtsausschusssitzung. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen,
über das Thema inhaltlich zu debattieren. Der Richtlinienvorschlag stand auf der Tagesordnung. Die Regierungsfraktionen haben ohne irgendeine erkennbare inhaltliche
Begründung das Thema von der Tagesordnung genommen und vertagt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Erstens
halte ich das für keinen guten Stil.
({6})
Zweitens sagt das möglicherweise viel über den internen
Zustand der Regierungsfraktionen aus. Politische Probleme löst man nicht dadurch, dass man sie vertagt.
({7})
Gerade dieses Thema hätte es verdient, gestern behandelt zu werden.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Themen, die das Hohe Haus einen, und
dazu gehört die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und der Verbreitung der entsprechenden
Missbrauchsdarstellungen, also dessen, was man gemeinhin Kinderpornografie nennt.
Der Missbrauch von Kindern gehört zu den schlimmsten Straftaten, und die Verbreitung der Aufzeichnung dieser Straftaten perpetuiert den Missbrauch. Deshalb müssen wir die Verbreitung der Missbrauchsdarstellungen
effektiv bekämpfen, auf allen Verbreitungskanälen, auch
im Internet.
({0})
Mit dem Stichwort „Internet“ sind wir beim politischen Kern der heutigen Debatte. Herr Kollege Lischka,
ich finde es gut, dass Sie hier auch andere Aspekte vorgetragen haben. Aber machen wir uns nichts vor: Das Internet ist heute der politische Knackpunkt.
({1})
Auch zwei der drei vorliegenden Anträge ranken sich
ausschließlich um dieses Thema.
Dazu ist Folgendes zu sagen: Ich teile ausdrücklich
die Bewertung, dass das Prinzip „Löschen statt sperren“
für die effektive Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen im Internet sorgt. Internetsperren überzeugen
mich nicht, weil sie leicht zu umgehen sind
({2})
und das Problem der Verbreitung mithin nicht lösen. Im
schlimmsten Fall könnten die für das Sperren erforderlichen Sperrlisten von den kranken Menschen sogar als
Wegweiser genutzt werden, um an die Inhalte, nach denen sie auf der Suche sind, zu gelangen.
({3})
Abgesehen davon freue ich mich über den Sinneswandel, der in diesem Haus stattgefunden hat. Das richtet sich einmal an die SPD. Noch am 18. Juni 2009 hat
Ihre Fraktion der Einführung von Netzsperren in das
deutsche Recht die parlamentarische Mehrheit verschafft, und immerhin ein Großteil der Grünen hat sich
bei der Frage enthalten.
({4})
Dass hier ein Fortschritt stattgefunden hat, finde ich sehr
gut. Heute wenden Sie sich gegen das Instrument, für
das Sie vor kurzem noch gestritten haben.
({5})
„Löschen statt sperren“ heißt bei Ihnen offenbar, das Gedächtnis zu löschen und sich besserer Einsicht nicht zu
versperren. Diesen Lernfortschritt kann ich nur begrüßen.
({6})
Aber bei aller Sympathie: Hinter Ihren Anträgen
steckt doch ein durchsichtiges politisches Manöver, das
mit der Sache selber nichts zu tun hat. Sie versuchen bewusst, den Eindruck zu erwecken, man müsse die Bundesregierung für die Frage der Netzsperren sensibilisieren oder auf den Pfad der Tugend zurückführen. Denn
alle drei Oppositionsfraktionen haben einen Antrag nach
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz gestellt. Ein entsprechender
Beschluss führt zu einer Verpflichtung der Bundesregierung, sich mit den Stellungnahmen, wie es in der Kommentarliteratur heißt - ich zitiere -,
({7})
auseinanderzusetzen und dies mit der gebotenen
Sorgfalt und Rücksichtnahme auf die in der jeweiligen „Stellungnahme“ zum Ausdruck gebrachten
Auffassungen des Bundestages.
Mittels dieser Anträge tun Sie so, als ob die Bundesregierung das Thema Netzsperren gerade nicht mit der
gebotenen Sorgfalt behandeln würde und in die falsche
Richtung unterwegs wäre.
({8})
Da liegen Sie schlichtweg falsch.
({9})
Die neue Bundesregierung unter Beteiligung der FDP
hat bislang keinen Zweifel an ihrer Auffassung gelassen,
({10})
was den Umgang mit Netzsperren angeht.
({11})
Nehmen Sie die verfassungsrechtliche Prüfung des
Zugangserschwerungsgesetzes durch den Bundespräsidenten. Hier hat die Bundesregierung dem Herrn Bundespräsidenten ihre abgestimmte Auffassung mitgeteilt.
Beteiligt waren das Bundesjustizministerium, das Bundesinnenministerium und das Bundeskanzleramt. In der
schriftlichen Stellungnahme, die bekannt geworden ist,
heißt es:
Die gegenwärtige Bundesregierung beabsichtigt
eine Gesetzesinitiative zur Löschung kinderpornographischer Inhalte im Internet. Bis zum Inkrafttreten dieser Regelung wird sich die Bundesregierung
auf der Grundlage des Zugangserschwerungsgesetzes ausschließlich und intensiv für die Löschung
derartiger Seiten einsetzen, Zugangssperren aber
nicht vornehmen.
Kurz gesagt: Die Bundesregierung folgt dem Prinzip
„Löschen statt sperren“.
({12})
Sogar im Zusammenhang mit der hier zur Debatte
stehenden Richtlinie ist die Bundesjustizministerin bereits aktiv geworden. In einem Brief an die zuständige
EU-Kommissarin Malmström heißt es, wie zu hören
war,
({13})
dass für kinderpornografische Inhalte der Grundsatz
„Löschen statt sperren“ gelten sollte und dass Netzsperren kein wirksames Mittel zur Bekämpfung dieser Inhalte sind.
({14})
Herr Kollege, ich unterbreche Ihren Redefluss nur ungern. Aber Herr Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wodurch sich Ihre Redezeit verlängern würde.
Bitte, Herr Kollege Ströbele.
Bitte schön.
({0})
Ich habe nur eine ganz kurze Frage.
({0})
Herr Kollege, für welche Bundesregierung sprechen
Sie?
({1})
Ich spreche für die Bundesregierung, die sich gegenüber dem Herrn Bundespräsidenten im Zusammenhang
mit der materiellen Prüfung des Gesetzes, dem die SPD
die parlamentarische Mehrheit verschafft hat, geäußert
hat - das war wohl klar -, also für die jetzige Bundesregierung.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Äußerungen vonseiten der Bundesregierung, die ich vorhin
erwähnt habe, machen deutlich, dass die Bundesregierung - in Deutschland herrscht Gewaltenteilung - ausreichend sensibilisiert und auf dem richtigen Weg ist.
({1})
Die FDP-Fraktion bestärkt die Bundesregierung auf ihrem Weg.
({2})
Wir stärken allen beteiligten Bundesministern den Rücken. Wir sehen keinen Grund, warum wir durch Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz den Eindruck erwecken sollten, als würde die Bundesregierung
hier eine andere Haltung einnehmen oder einen anderen
Weg einschlagen.
({3})
Der Weg der Bundesregierung ist richtig, und er heißt:
„Löschen statt sperren“.
({4})
Die Kollegin Halina Wawzyniak hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Buschmann, ich schließe mich der
Frage meines Freundes Hans-Christian Ströbele an:
({0})
Wer ist hier die Bundesregierung? Sie, Herr Buschmann,
sind offensichtlich gegen Netzsperren; das nehme ich Ihnen ab, und das finde ich löblich. Allerdings hörte sich
das, was der Kollege Heveling gerade ausgeführt hat, ein
bisschen anders an.
({1})
Insofern würde ich gerne wissen, ob Sie sich in diesem
Punkt einig sind oder nicht.
Ich habe heute im Bundesministerium der Justiz am
runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ teilgenommen. Dort beraten Sachverständige, die Bundesregierung und Abgeordnete aller Fraktionen, wie man
das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder
umfassend angehen kann und muss. Ich halte diese Art
der Debatte für ausgesprochen sinnvoll und hilfreich.
({2})
Deshalb werden wir weiter an diesem runden Tisch teilnehmen.
Hier geht es nun aber um Netzsperren. Dazu sage ich
Ihnen: Jedes staatliche Handeln muss sich an einem
rechtsstaatlichen Kriterienkatalog messen lassen. Sie
müssten das besser wissen.
({3})
Das heißt, staatliche Maßnahmen müssen in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande kommen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden, und
schließlich sind die möglichen - auch die ungewünschten - Folgen der Maßnahmen zu würdigen. Offensichtlich hat die gesamte Opposition - auch ich - erhebliche
Zweifel daran, dass die von der EU-Kommission gewünschten Maßnahmen diesen Maßstäben standhalten.
Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Sie haben gestern im Rechtsausschuss - darauf wurde bereits
hingewiesen - die Stellungnahme der Grünen, eine sogenannte Subsidiaritätsrüge, mit Ihrer Koalitionsmehrheit
einfach vom Tisch gewischt.
({4})
Damit sind die Fristen für die Einreichung einer solchen
Rüge nicht mehr einzuhalten. Mit ein bisschen Stil hätten Sie einfach dagegenstimmen können, anstatt mit diesem formalen Mittel eine Debatte zu verhindern.
({5})
Ich finde, das ist für Ihr Verständnis vom Umgang mit
der Opposition bezeichnend. Damit wird im Übrigen die
Option der Nutzung eines im Lissabon-Vertrag vorgesehenen demokratischen Instruments ausgehebelt.
Die Sperrung von Webseiten ist nicht dazu geeignet,
Kinderpornografie zu verhindern. Vielmehr schafft sie
durch die damit einhergehende Etablierung einer Sperrinfrastruktur enorme Gefahren für die Meinungsfreiheit.
In Dänemark sind die geheimen Sperrlisten öffentlich
geworden. Ergebnis: 90 Prozent der gesperrten Seiten
waren ohne kinderpornografischen Inhalt.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Grosse-Brömer von der CDU/CSU-Fraktion zulassen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Wawzyniak, ist es vielleicht so,
dass sich die Zahl der Zugriffe auf diese Seiten in Skandinavien, teilweise auch in Italien, durch das Sperren um
40 Prozent und mehr reduziert hat?
({0})
Können Sie mir, wenn das so ist, zustimmen, dass man
dann beim Sperren von kinderpornografischen Seiten
nicht von einem völlig ineffektiven Mittel reden kann,
sondern allenfalls davon, dass es keinen hundertprozentigen Erfolg hat? Aus dieser Tatsache resultiert, dass zumindest eine Fraktion im Deutschen Bundestag sagt:
Eine Senkung der Zugriffszahlen um 40 Prozent ist es
uns wert, nicht vollständig auf dieses effiziente Mittel zu
verzichten.
({1})
Herr Grosse-Brömer, ich weiß nicht, wer hier von einem „völlig ineffektiven Mittel“ gesprochen hat. Das Zitat stammt sicherlich nicht aus meiner Rede; ich habe
das nicht gesagt. Sie können das im Protokoll nachlesen.
Im Übrigen handelt es sich nicht um eine Frage der Effizienz, sondern der Angemessenheit. Das Mittel der Sperrung ist angesichts der Folgen nicht angemessen.
({0})
Das Beispiel Dänemark zeigt, dass unsere Vermutung, dass die Freiheit des Internets insgesamt eingeschränkt werden soll, nicht völlig aus der Luft gegriffen
ist. Es liegt der Verdacht nahe, dass nunmehr europaweit
eine Sperrinfrastruktur geschaffen werden soll, die dem
freiheitlichen Gedanken eines weltweiten, offenen Internets total widerspricht. Ich sage Ihnen schon heute, dass
es nicht lange dauern wird, bis Lobbyisten der Musikund Unterhaltungsindustrie ihre Begehrlichkeiten im
Hinblick auf die Nutzung dieser Sperrinfrastruktur
durchsetzen werden.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich unsere Gesellschaft durch das Internet verändert hat. Wir sollten aber
nicht der Versuchung erliegen, das Internet zu verteufeln
und der digitalen Gesellschaft und der Netzgemeinschaft
wegen eines Problems, das eigentlich kein Problem des
Internets ist, künstlich Schranken aufzuerlegen. Wir sollten uns davor hüten, das Internet zu überwachen und zu
zensieren. Wir sollten die Freiheit des Internets nicht
durch blinden Aktionismus kaputtmachen. Wir sollten,
so wie es Frau Leutheusser-Schnarrenberger in der Stuttgarter Zeitung vom 3. Mai schrieb, die „Freiheit des Internets bewahren“. - Jetzt könnten Sie von der FDP einmal klatschen; schließlich ist das Ihre Ministerin.
({1})
Bewahren Sie also die Freiheit des Internets! Bewahren Sie die Freiheit Europas! Missbrauchen Sie Europa
nicht als Hintertür bei der Einführung von Internetsperren!
({2})
Patrick Sensburg hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich verstehe die Heiterkeit der Oppositionsfraktionen nicht angesichts dessen, dass es um einen Inhalt
geht, der sich mit der Richtlinie zur Bekämpfung des
sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung
von Kindern sowie der Kinderpornografie, also mit den
abscheulichsten Verbrechen an Kindern, beschäftigt.
({0})
Da Sie wissen, was da passiert - zwei bis drei Jahre alte
Kinder werden sexuell missbraucht, bis zum Tode -, verstehe ich die Heiterkeit auf der Oppositionsbank nicht.
({1})
Nach Angaben der Kommission werden pro Tag 200
neue kinderpornografische Bilder oder Videos ins Netz
gestellt. Es geht um den Schutz unserer Kinder, und wir
müssen lernen, dass wir das nicht zulassen, was wir auch
im normalen Leben nicht zulassen: DVDs und CDs in
dieser Art würden wir nie erlauben, sondern sie konfiszieren, und das muss auch für das Internet gelten.
({2})
Ich dachte eigentlich, dass wir uns einig wären - Herr
von Notz, hören Sie einmal ganz kurz zu -, wenn es um
den Inhalt und das Ziel der Richtlinie geht. Aber bei
Bündnis 90/Die Grünen und auch bei der SPD scheint
schon der Inhalt nicht mehr akzeptabel zu sein. Wenn ich
dann unter dem Aspekt der strafrechtlichen Konsequenz
({3})
- ich zitiere es gerade -, unter dem Aspekt des Schutzes
der Kinder vor solchen Verbrechen lese, das natürliche
Bedürfnis von Jugendlichen nach Sexualität müsse respektiert werden - das steht in Ihrem Antrag ({4})
- das steht in Ihrem Antrag zum heutigen Tag unter
Randnummer 6 im letzten Satz; ich lege Ihnen dies
gleich vor; ich habe es dabei -, dann frage ich mich: Was
hat das mit dem Schutz von Jugendlichen vor diesen
Verbrechen zu tun?
Herr von Notz, noch zur Erklärung - Sie mögen ja
vielleicht zu dem, was Sie eben gesagt haben, dazulernen; Herr Lischka, das betrifft leider auch Sie -:
({5})
Wenn Sie sich Art. 8 der Richtlinie ansehen, dann erkennen Sie, dass es in der Richtlinie für genau die Fälle, die
Sie eben zitiert haben, Ausnahmetatbestände gibt.
({6})
Entweder Sie müssen die Richtlinie noch einmal richtig
lesen, oder ich verstehe Ihren Antrag nicht. Er scheint
rein populistisch gemeint zu sein.
({7})
Kommen wir zur Subsidiarität. Im Kern greifen Sie
das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung,
die sich gerade aus Art. 21 des Richtlinienvorschlags ergibt, an. Es ist wohl klar, dass sich die Richtlinie in den
Art. 3 bis 5 mit dem Strafrecht beschäftigt und es auch in
Art. 7 um Beihilfe und Anstiftung geht. Nach Art. 82 und
83 Abs. 1 AEUV kann die EU „Mindestvorschriften …
im Bereich besonders schwerer Kriminalität“ regeln. Erklären Sie mir einmal, meine Damen und Herren von der
Opposition, warum Kinderpornografie keine besonders
schwere Kriminalität ist und warum die EU hierfür nicht
zuständig sein soll.
({8})
Der Europäische Gerichtshof hat schon mehrfach entschieden, zuletzt 2002 und 2009 in den Entscheidungen
zu British American Tobacco, dass die Schwerpunkttheorie in diesem Fall gilt. Lassen Sie mich also deutlich
feststellen, dass der hier diskutierte Art. 21 des Richtlinienvorschlags Teil eines strafrechtlichen Gesamtkonzepts gegen Kinderpornografie ist und somit an dieser
Stelle kein Bruch des Subsidiaritätsprinzips vorliegt.
({9})
Auch der Bundesrat Österreichs ist am 4. Mai zu dem
Ergebnis gekommen, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht
verletzt ist. Italien hat in der Abgeordnetenkammer am
18. Mai zugestimmt und Schweden im Rechtsausschuss
des Reichstags am 6. Mai. Eine Stellungnahme nach
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz ist daher hier nicht angesagt.
({10})
Statt bei einem solchen Thema Geschlossenheit im gesamten Plenum zu zeigen und hier nicht in formales
Streiten zu verfallen, machen Sie genau das. Das ist
Populismus.
({11})
Übrigens ist es auch keine Beschränkung der Meinungsfreiheit, wenn wir sagen: Als Ultima Ratio sperren
wir Seiten. Oder wollen Sie mir sagen, dass das Einstellen von so abscheulichen Dingen unter die Meinungsfreiheit des Art. 5 Grundgesetz fällt?
({12})
Es ist auch keine Beschränkung der Informationsfreiheit.
Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich
im Internet über gequälte Kinder zu informieren? Hier
ist auch kein Recht der informationellen Selbstbestimmung verletzt.
({13})
Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich
über diese Dinge zu informieren? Es sind doch gerade
die Kinder, die in ihrem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung verletzt sind.
({14})
Herr von Notz, Sie waren es, die uns in der Diskussion im Februar in Bezug auf dieses Thema Populismus
vorgeworfen haben. Sind die Argumente, die Sie eben
vorgebracht haben, nicht sehr viel mehr von Populismus
gekennzeichnet?
({15})
Wenn Sie dann sagen, es gebe hier eine Zensur, halte
ich dem entgegen: Zensur meint Vorzensur. Das ist das,
was wir unter Zensur verstehen. Dazu muss ich ganz
ehrlich sagen: Vorzensur bezieht sich auf Werke geistiger Art. Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Kinderpornografie im Internet geistige Werke sind, bei denen wir Vorzensur betreiben. Das ist wirklich großer
Quatsch.
({16})
Gemeinsam mit der FDP werden wir weitere Alternativen suchen. Dazu gehört zum Beispiel das gezielte Filtern von Filmen und Bildern. So können wir genau die
inkriminierten Inhalte herausfiltern. Rechtlich ist dies
zum Teil möglich.
Letztlich sage ich auch, dass der Richtlinienvorschlag
in Art. 21 Abs. 2 das Löschen vor Sperren beinhaltet.
Das steht doch in der Richtlinie. Deswegen weiß ich gar
nicht, welches Problem Sie damit haben. Die Regierungskoalition hat den richtigen Weg eingeschlagen.
({17})
Es geht aber auch darum, dass effektives Löschen nicht
immer notwendig ist. Herr von Notz, in Amerika wird
eine Vielzahl der Internetseiten nicht gelöscht und bleibt
monatelang freigeschaltet. Nur die IP-Adresse wird geändert. Ihre Anträge sind daher inhaltlich und formalrechtlich falsch und deswegen auch abzulehnen.
Danke schön.
({18})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Konstantin von Notz das Wort.
Herzlichen Dank. - Herr Kollege Sensburg, das war
unterirdisches Niveau.
({0})
Diese Debatte erfordert eine gewisse Differenzierung,
damit man sich nicht gegenseitig die Förderung sexuellen Missbrauchs vorwirft. Diese Differenzierung lassen
Sie hier wirklich unter den Tisch fallen und argumentieren auf unterstem Niveau. Wir wollen hier aber eine differenzierte Debatte führen. Wenn Sie den Kern nicht erkennen, dann erläutert Ihr Koalitionspartner Ihnen
diesen sicher gern.
Es geht darum, dass die Internetsperren höchst ineffizient sind. Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind alle
nicht überprüft worden und sind daher nicht fest.
({1})
- Nein, das sind sie nicht. - Sie selbst sprechen sich im
Koalitionsvertrag gegen Internetsperren aus, weil Sie an
der Wirksamkeit zweifeln.
({2})
- Ja, ich rede auch mit Ihnen. Sie schreien hier ja herum.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich effektiv gegen
Kindesmissbrauch und die Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet vorgehen wollen, dann müssen Sie
andere Maßnahmen ergreifen, die sehr viel leichter umzusetzen sind. Sie sollten aber nicht versuchen, Sperrinstrumente zu installieren, die der Sache letztlich nicht
dienen.
({3})
Hören Sie den Expertinnen und Experten zu! Viele Leute
werden Ihnen sagen, dass das der richtige Weg ist. Ihre
unterirdische Art, hier zu diskutieren, ist es jedenfalls
nicht.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Sensburg zur Erwiderung. Bitte schön.
Herr Kollege von Notz, Ihrer Bewertung schließe ich
mich nicht an; das werden Sie verstehen. Ich werde sie
auch nicht kommentieren. Uns ist klar, dass sowohl das
Löschen als auch das Sperren möglich ist. Dass das
Sperren von Seiten, die man nicht löschen kann, zumindest als Option möglich sein sollte, ist eigentlich auch jedem klar. Das ist inzwischen sogar der Internet Community klar.
({0})
Dort sagt man nämlich auch: Das Sperren von Internetseiten hat Erfolg.
Sie müssen sich noch einmal anhören, was Herr
Grosse-Brömer eben gesagt hat: Es gibt eine Vielzahl
von Ländern, in denen das Sperren wunderbar funktioniert. Genau das machen wir als Ultima Ratio. Wenn Sie
im Koalitionsvertrag einmal nachlesen, wie es funktioniert, dann sind Sie schlauer
({1})
und dann brauchen Sie auch nicht solche Kommentare
abzugeben.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1584, 17/1739 und 17/1746 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ in
das Dauerrecht überführen
- Drucksache 17/1573 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({1}), Arnold Vaatz, Volkmar Vogel
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern
- Drucksache 17/1574 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Der Kollege Gero Storjohann hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute zwei Anträge der christlichliberalen Koalition zum Führerscheinrecht, die von Ihnen in den Ausschüssen hoffentlich wohlwollend behandelt werden und Ihre Zustimmung erfahren. Mein Kollege Thomas Jarzombek wird zum Bereich Anpassung
des Führerscheinwesens im Einzelnen sprechen. Ich befasse mich in erster Linie mit dem Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“.
Im Jahre 2004 hat Niedersachsen ohne rechtliche
Grundlage einen Modellversuch auf den Weg gebracht.
Wir im Verkehrsausschuss waren schon lange dafür, hatten aber nie eine Mehrheit. Mittlerweile haben sich andere
Bundesländer diesem Weg peu à peu angeschlossen. Alle
machen beim Projekt „Begleitetes Fahren mit 17“ mit.
Das finden wir toll. Wir als christlich-liberale Koalition
vertreten die Auffassung, dass sich begleitetes Fahren
mit 17 bewährt hat. Die Ergebnisse des Modellversuchs
sind ausschließlich positiv.
({0})
Das Projekt verläuft nicht nur positiv, es ist auch bei
den Fahranfängern und ihren Eltern gleichermaßen populär. Es steigert die Verkehrssicherheit auf unseren
Straßen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mit
dem vorliegenden Antrag, das Modellprojekt mit
Wirkung zum 1. Januar 2011 in das Dauerrecht zu überführen. Hierzu bitten wir die Bundesregierung um entsprechende Vorschläge zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der Verordnung über die Zulassung
von Personen zum Straßenverkehr.
Wie war das 2005? Damals lehnte die rot-grüne Bundesregierung einen Gesetzesvorschlag der CDU/CSUFraktion zum begleiteten Fahren mit 17 ab. Mit diesem
Vorschlag forderten wir damals, frühzeitig bundeseinheitliche Vorgaben für den beginnenden Modellversuch
aufzuzeigen. Aber aus parteipolitischen Gründen, die
wir durchaus nachvollziehen können, wurde der Vorschlag der Unionsfraktion von Rot-Grün abgelehnt.
({1})
- Auch von Sören Bartol. - Etwas später brachte die
Bundesregierung einen eigenen Antrag gleichen Inhalts
ein. Wir haben diesem rot-grünen Antrag damals zugestimmt, weil wir uns als Urheber dieser Idee verstanden
haben.
Der Weg zu diesem finalen Antrag, den wir heute beraten, war lang, aber wer neue Wege beschreiten will
und innovative Ideen hat, muss manchmal dicke Bretter
bohren. Deshalb wollen wir uns heute für das Dauerrecht
aussprechen. Wir freuen uns besonders, dass alle Zweifler und Kritiker, die es lange Zeit gegeben hat, mittlerweile überzeugt sind.
Teilnehmer des Modellversuchs haben die Möglichkeit, bereits mit sechzehneinhalb Jahren Fahrunterricht
in einer Fahrschule zu nehmen. Ab einem Alter von
17 Jahren können sie den Pkw-Führerschein erwerben.
Bis zur Volljährigkeit darf man zwar ans Steuer, aber nur
gemeinsam mit einer registrierten Begleitperson.
Diese Begleitperson muss mindestens 30 Jahre alt
sein und mindestens fünf Jahre im Besitz eines PkwFührerscheins sein. Hierdurch ist gewährleistet, dass es
sich um eine Person mit ausreichender Verkehrserfahrung handelt. Auswertungen des Modellversuchs haben
ergeben, dass es sich meistens um die Eltern der Fahranfänger handelt. Das ist wiederum ein Wermutstropfen,
weil das deutlich macht, dass nie mehr als 30 Prozent der
Zielgruppe dieses Projekt in Anspruch nehmen werden.
Das liegt an der Entwicklung unserer Gesellschaft.
Seit 2004 haben bereits 380 000 junge Frauen und
Männer am „BF 17“ teilgenommen. 2008 nahmen bereits 25 Prozent aller Fahranfänger der Führerscheinklassen B und BE am begleiteten Fahren teil. Derzeit gehört es fest zum Alltag der Familien in Deutschland. Die
Frage, wann heute ein heranwachsendes Kind mit dem
Machen des Führerscheins anfängt, stellt sich automatisch im Alter von 17. Was als kontroverses verkehrspolitisches Projekt begann, ist zur Lebenswirklichkeit in
Deutschland geworden.
In der Fahrschule lernen Jugendliche die theoretischen und praktischen Grundfertigkeiten zum Führen eines Kraftfahrzeugs. Doch Routine und Erfahrung im
Umgang auch mit schwierigen Verkehrssituationen können sich nur langfristig entwickeln. Die wenigen Monate, die man Fahrstunden nimmt, sind dafür in der Regel nicht ausreichend.
Das Unfallrisiko junger Fahrer ist deutlich überdurchschnittlich: Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist die
gefährdetste aller Altersgruppen im Straßenverkehr. Obwohl sie nur 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen, beträgt ihr Anteil an den Verunglückten und Getöteten im Straßenverkehr 20 Prozent. Ein Grund hierfür
- das haben wir festgestellt - ist die mangelnde Fahrpraxis. Das begleitete Fahren setzt hier an und schafft
Abhilfe.
Neben die professionelle Fahrschulausbildung wird
ergänzend ein eigenständiges Vorbereitungselement gesetzt. Die Jugendlichen haben länger Zeit, das Fahren
unter Aufsicht zu üben. Wir haben uns damals zum Ziel
gesetzt, dass man mindestens 500 Kilometer begleitet
fahren sollte, damit es sinnvoll ist. Man sollte nicht einfach den Führerschein mit 17 Jahren erwerben, dann
nicht mehr üben und nicht begleitet fahren, aber mit
18 Jahren dann plötzlich selbstständig fahren. Die
Untersuchungen haben ergeben, dass durchschnittlich
2 400 Kilometer in Begleitung zurückgelegt werden.
Auch das unterstreicht die Sinnhaftigkeit und die Richtigkeit unserer damaligen Entscheidung.
Die Fahranfänger berichten, dass sie sich sicherer
fühlen. Darüber hinaus beruhigt es sie, dass sie für den
Ernstfall einen erfahrenen Autofahrer neben sich sitzen
haben. Auch die Eltern sind eine Sorge los. Wir haben
also nicht nur ein gesteigertes subjektives Sicherheitsempfinden, sondern die Zahlen der BASt belegen auch
objektiv eine Erhöhung der Verkehrssicherheit.
Gegenüber den Fahranfängern, die ihre Fahrerlaubnis
auf herkömmliche Weise erwarben, zeigten sich die Teilnehmer am begleiteten Fahren verkehrssicherer. Sie begingen im ersten Jahr des selbstständigen Fahrens rund
20 Prozent weniger Verkehrsverstöße und waren in
22 Prozent weniger Unfälle verwickelt.
Zu Beginn des Modellversuchs gab es kritische Stimmen, die hinterfragten, ob 17-Jährige verantwortungsvoll genug seien, um bereits einen Führerschein zu besitzen. Die Bedenken haben sich nicht bewahrheitet.
Deshalb sind wir froh, in diese Problematik eingestiegen
zu sein und eine Lösung aufgezeigt zu haben. Daher
bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags.
({2})
Die Kollegin Kirsten Lühmann spricht für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Das Abwerfen eines Pkws aus zehn Metern
Höhe soll einen Aufprall mit 50 km/h auf ein stehendes
Hindernis simulieren. - Die Deutsche Verkehrswacht
setzt beim Thema Verkehrssicherheit auf spektakuläre
Mittel, um junge Fahrerinnen und Fahrer für die Gefahren des Straßenverkehrs zu sensibilisieren. „Hast du die
Größe? Fahr mit Verantwortung!“ fordert der Deutsche
Verkehrssicherheitsrat. Auch die bundesdeutsche Antiraserkampagne „Runter vom Gas!“ will auf die dramatischen Folgen zu schnellen Fahrens aufmerksam machen.
Zahlreiche Maßnahmen in den letzten Jahren haben
dafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer geworden
sind: 2007 hat die Große Koalition ein Alkoholverbot für
Fahranfänger eingeführt. Im selben Jahr hat der frühere
Verkehrsminister Tiefensee die Nachrüstung von Lkw
mit besseren Spiegeln vorgeschrieben, um den toten
Winkel zu vermindern. Bußgelder für gefährliche Verkehrsdelikte wurden erhöht, und die anfangs erwähnten
Verkehrssicherheitskampagnen wurden in Zusammenarbeit mit dem Verkehrsministerium weiter modernisiert
und besser auf die Zielgruppen ausgerichtet.
Der Erfolg dieser Maßnahmen kann sich sehen lassen: Noch nie gab es auf Deutschlands Straßen so wenig
Verkehrstote wie heute. Von mehr als 21 300 im Jahr
1970 ist die Zahl auf 4 500 im Jahr gesunken. 2009 hat
sich diese positive Entwicklung fortgesetzt. 4 050 Verkehrstote sind ein neuer Tiefstand. Bei den jungen Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern zwischen 18 und
24 Jahren ist die Zahl der Getöteten ebenfalls gesunken,
und zwar seit 1991 um 63 Prozent von 2 750 auf 1 010.
Aber - das wurde bereits von meinem Vorredner gesagt - in keiner anderen Altersgruppe war und ist das Risiko, im Straßenverkehr zu verunglücken, derart hoch.
Junge Fahrerinnen und Fahrer haben immer noch ein
dreifach höheres Unfallrisiko als alle anderen Altersgruppen. Statistisch gesehen - ich habe es einmal andersherum aufgezäumt - verunglückt alle sechs Minuten
ein 18- bis 24-Jähriger, alle acht Stunden stirbt ein junger Mensch dieser Altersgruppe an den Folgen eines
Verkehrsunfalls. Gründe für das hohe Unfallrisiko junger Fahrerinnen und Fahrer sind der Wunsch, sich zu beweisen, Lebenseinstellungen und mangelnde Erfahrung,
insbesondere bei der Risikoabschätzung, die sich zu einem gefährlichen Mix vermengen.
Es wird wahrscheinlich nie gelingen, die Risikoquote
von jugendlichen Fahranfängern auf die von älteren und
erfahrenen Autofahrern zu reduzieren. Trotzdem zeigen
internationale Studien und die positiven Entwicklungen
der Unfallzahlen in den letzten Jahren: Das unverhältnismäßig hohe Risiko der Fahranfänger muss nicht als unvermeidlich hingenommen werden. Die zentrale Forderung der Unfallforschung lautet deshalb zu Recht: Die
Erteilung der Fahrerlaubnis darf nicht das Ende des
Lernprozesses sein, sondern es muss - im Gegenteil der Anfang eines praxisorientierten Lernens werden.
Ein jugendlicher Fahranfänger muss Erfahrungen sammeln. Der Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ bestätigt diese Forderungen der Unfallforschung. Er zeigt
einen Weg, wie junge Fahrerinnen und Fahrer bereits vor
ihren ersten selbstständigen Autofahrten Fahrpraxis erwerben können. Sicher haben einige von uns die gleichen Erfahrungen gemacht, die ich zurzeit mache.
Unsere jüngste Tochter macht seit einem halben Jahr begleitet ihre ersten Fahrerfahrungen. Sie ist von drei
Töchtern die einzige, die dieses Angebot wahrgenommen hat. Damit liegen wir leicht unter dem Schnitt. Nach
den mir vorliegenden Zahlen nehmen 50 Prozent das
Angebot wahr. Herr Storjohann, ich habe da andere Zahlen als Sie. Nach der von Ihnen genannten Zahl würden
wir im Durchschnitt liegen; wir können uns aussuchen,
welche Zahlen wir nehmen. Sowohl bei unserer Tochter
als auch bei ihren Bekannten, die ebenfalls ihre Fahrerlaubnis mit 17 Jahren machten, sind die Akzeptanz
und die Einsicht in die Vorteile des begleiteten Fahrens
erstaunlich hoch.
Auch die uns vorliegenden Ergebnisse der Evaluation
zum begleiteten Fahren sind ermutigend; die Zahlen
wurden von meinem Vorredner genannt. Wir Sozialdemokraten haben bereits früh auf diese Erkenntnis geKirsten Lühmann
setzt. Herr Storjohann, es scheint ein Kind mit mehreren
Vätern oder Müttern zu sein. Jedenfalls hat der damalige
Verkehrsminister der rot-grünen Bundesregierung, Kurt
Bodewig, im Mai 2002 bei der Bundesanstalt für Straßenwesen eine Projektgruppe eingerichtet. Sie hatte den
Auftrag, ein Modell zu erarbeiten, durch das jugendlichen Fahranfängern der Start in das selbstständige
Fahren erleichtert werden sollte. Auf dem 41. Verkehrsgerichtstag im Januar 2003 wurden die Ergebnisse vorgestellt und gefordert, die rechtlichen Voraussetzungen
zu schaffen, damit interessierte Bundesländer loslegen
können.
Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition legt
richtig dar: „Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Erfolgsmodell. Es muss in das Dauerrecht überführt werden.
Aber mit diesen uns vorliegenden Befunden sind die
Fragen zur Wirksamkeit des begleiteten Fahrens mit 17
noch nicht abschließend geklärt. Der Evaluationszeitraum ist einfach zu kurz. Die statistischen Zahlen sind
ermutigende Trends. Ob sich die Zahlen verstetigen,
bleibt abzuwarten. Wir fordern deshalb, die Beobachtung der Folgen weiterzuführen, um zu prüfen, ob eine
längerfristige Wirksamkeit des begleiteten Fahrens in
dem Maße, wie wir es jetzt sehen, gegeben ist.
Ihr Antrag hat noch einen weiteren Schönheitsfehler:
„Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Ausbildungsweg, der
von Jahr zu Jahr von immer mehr Jugendlichen genutzt
wird, aber eben nur von der Hälfte derjenigen, die dies in
Anspruch nehmen können. Wie wollen Sie die Jugendlichen erreichen, die sich nicht daran beteiligen wollen
oder können, weil sie zum Beispiel niemanden als Beifahrer benennen können? Das sind wahrscheinlich genau
die jungen Fahrenden mit dem überproportionalen Unfallrisiko. Gerade sie hätten es nötig, unter Aufsicht
Fahrpraxis vermittelt zu bekommen. Wir fordern Sie auf,
Impulse und Ideen zu diesem Thema vorzulegen.
Ich möchte, dass verkehrsauffällige junge Fahrer und
Fahrerinnen dazu verpflichtet werden, an speziellen
Fahrsicherheitstrainings teilzunehmen. Dazu gehören
zum Beispiel Fahrübungen, die den Teilnehmenden zeigen, welche Risiken das Fahren bei herabgesetztem
Reibwert, zum Beispiel bei starkem Regen oder Schneefall, mit sich bringt. Die zurzeit üblichen Fahrproben bei
Nachschulungen von Heranwachsenden mit Fahrerlaubnis auf Probe stellen doch eher Placebos dar und eignen
sich kaum für Erfahrungsgewinn oder eine dauerhafte
Bewusstseinsänderung.
In dem zweiten uns vorliegenden Antrag fordern Sie,
den Erwerb von Zweiradführerscheinen zu erleichtern.
Es geht dabei um die Umsetzung der Dritten EG-Führerschein-Richtlinie. Die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradfahrerlaubnissen unter bestimmten Bedingungen bewerten
wir positiv. Personen, die im motorisierten Straßenverkehr Erfahrungen vorweisen können, unbürokratischer
den Erwerb von weiteren Fahrerlaubnisklassen zu ermöglichen, ist sinnvoll und birgt keine zusätzlichen Gefahren im Straßenverkehr.
Diese EU-Richtlinie führt unter anderem eine neue
Fahrerlaubnisklasse AM für das Führen zweiräderiger
Kleinkrafträder ein. Das entspricht dem Mopedführerschein, der frühestens mit 16 Jahren erworben werden
kann. Die Richtlinie ermöglicht das Herabsetzen der Altersgrenze auf 14 Jahre, verpflichtet uns aber nicht dazu.
Sie fordern die Herabsetzung auf 15 Jahre. Mit dieser
Forderung haben wir Probleme. Sie mögen mir jetzt vorwerfen, durch meine langjährige Tätigkeit als Polizeibeamtin sei ich in diesem Punkt einseitig geprägt. Sie haben recht. Ich habe zu viele tödlich verunfallte junge
Zweiradfahrer gesehen und ihren Eltern die schreckliche
Nachricht überbracht. Aber meine Erfahrungen sind leider nicht einseitig, sondern decken sich mit den Einschätzungen von Fachleuten. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Deutsche Verkehrswacht gehen
davon aus, dass die Unfallzahlen steigen werden, wenn
das Mindestalter herabgesetzt wird. Jugendliche in diesem Alter haben bereits ein erhöhtes Unfallrisiko.
Der Mofaführerschein, der in vielen Bundesländern
ein fester und wichtiger Bestandteil der schulischen Verkehrserziehung ist, erfüllt unserer Ansicht nach völlig
den Zweck, Jugendliche behutsam an das motorisierte
Fahren heranzuführen. Das Mofa ist ausreichend, um
auch im ländlichen Raum Mobilität für Jugendliche bis
zu einem Alter von 16 Jahren sicherzustellen. In Österreich, wo die Altersgrenze bereits herabgesetzt wurde,
haben sich die Mopedunfälle bei 15-Jährigen in einem
Zeitraum von zehn Jahren vervierzehnfacht. Solche Risiken sind nicht hinzunehmen. Wir sollten im Ausschuss
insbesondere über diesen Punkt noch einmal eingehend
diskutieren, auch im Sinne der Verkehrssicherheit und
der jungen Menschen.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Oliver Luksic hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten mit diesen beiden Anträgen heute über
wichtige Verbesserungen des Straßenverkehrsrechts. Ich
freue mich, dass es der Koalition gelungen ist, gleich
mehrere sinnvolle und richtige Punkte in die Anträge
aufzunehmen. Wir wollen und werden mit diesen Maßnahmen zwei Dinge erreichen: erstens mehr Sicherheit,
sowohl für die Fahrerinnen und Fahrer selbst als auch für
die anderen Verkehrsteilnehmer, und zweitens mehr Mobilität, insbesondere für junge Verkehrsteilnehmer in
ländlichen Gebieten. Wir wollen mit unserer Initiative
junge Menschen mobiler machen.
({0})
Lassen Sie mich zunächst auf unseren Antrag zum begleiteten Fahren mit 17 eingehen. Als Saarländer habe
ich schon immer ein wenig neidisch über die Grenze
nach Frankreich geschaut, wo das schon lange erlaubt
ist. Seit 1983 gibt es dort conduite accompagnée. Es hat
sich dort genauso bewährt, wie wir das auch für
Deutschland vorhergesagt haben. Es hat sich als sinnvoll
erwiesen, die langjährige Forderung der Liberalen nach
einer Einführung in Deutschland umzusetzen. Auf Länderebene ist dies bereits umfassend geschehen.
Wenn man sich die Evaluationsergebnisse der BASt,
der Bundesanstalt für Straßenwesen, zu diesem Modellversuch der Länder anschaut, dann muss man sagen,
dass die Fakten positiv sind. Allein die hohe Anzahl der
Teilnehmer - 380 000 seit 2004, jedes Jahr steigend zeigt, dass die Bereitschaft der Jugendlichen zur frühen
Ausbildung hoch ist. Wichtiger aber ist, dass es 22 Prozent weniger Unfälle und 20 Prozent weniger Verkehrsverstöße im Vergleich zu den Jugendlichen gibt, die ihren Führerschein ohne die begleitete Phase erwerben.
Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich. Sie machen
deutlich: Die Verkehrssicherheit wird dadurch deutlich
erhöht, dass die jugendlichen Fahrer früher und in Begleitung an den Verkehr herangeführt werden.
({1})
Besonders erfreulich ist - das zeigt die Evaluation -,
dass die positiven Effekte auf das Fahrvermögen der
Fahranfänger nicht nur kurzfristig sind, sondern dauerhaft wirken.
({2})
All diese Punkte zeigen uns, dass der Modellversuch
erfolgreich war und ist und ins Dauerrecht überführt
werden sollte. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen
der Opposition nur auffordern, dem Antrag zuzustimmen. Ich glaube, die Fakten sprechen für sich. Wir
machen mit diesem Antrag einen wichtigen Schritt zur
Stärkung der Fahrausbildung. Natürlich gibt es darüber
hinausgehend noch Verbesserungsmöglichkeiten. Es
stimmt natürlich, dass mehr Jugendliche daran teilnehmen müssen. Man kann zumindest darüber nachdenken,
wie in Österreich eine zweite Stufe einzuführen, wenn
der Führerschein dadurch nicht teurer wird.
Neben dem begleiteten Fahren widmen wir uns heute
im Rahmen der Umsetzung der Dritten EG-Führerschein-Richtlinie auch Neuregelungen bei den Zweiradführerscheinen. Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung diese Richtlinie frühzeitig in deutsches Recht
umsetzt.
Die beiden Hauptziele dieser Neuregelung sind: Erhalt und Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr
sowie Entbürokratisierung und Erleichterung beim Erwerb von Zweiradführerscheinen. Für uns ist klar:
Erfahrene Fahrer dürfen beim Aufstieg innerhalb der
einzelnen Motorradklassen nicht mit Fahranfängern
gleichgestellt werden.
({3})
Beim Aufstieg in den neuen Klassen - von A1 nach
A2 und von A2 nach A - kann man wohl davon ausgehen, dass nach zwei Jahren nur noch eine Einweisung
und eine praktische Prüfung erforderlich sind; die theoretischen Kenntnisse sind dann offensichtlich vorhanden.
Auch für Inhaber des alten Führerscheins der Klasse 3
- diese Klasse enthält die Genehmigung für das Führen
von Krafträdern bis 125 Kubikzentimeter Hubraum, also
der neuen Klasse A1 - macht die Koalition etwas Sinnvolles: Es wäre ungerecht, diese Verkehrsteilnehmer
beim Aufstieg in die Klasse A2 zu benachteiligen. Daher
sind eine praktische Prüfung und eine Überprüfung der
für die Klasse A2 spezifischen Kenntnisse ausreichend.
Bei der Führerscheinklasse AM, der neuen Mopedklasse, wollen wir die Möglichkeit, die uns die EURichtlinie gibt, nutzen und wie zahlreiche andere europäische Länder, beispielsweise Österreich und Frankreich, vom Mindestalter, das in der Richtlinie vorgeschlagen wird, abweichen. Was den Vergleich von
Zahlen angeht, muss man sagen: Wenn die Jugendlichen
vorher noch nicht fahren durften, ist es klar, dass die
Vergleichszahlen gestiegen sind, Frau Lühmann. Die
Mobilität junger Menschen, gerade in Flächenländern,
wird - das ist einer der Hauptaspekte - deutlich gestärkt.
Das wollen wir als Koalition.
({4})
Auch unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit ist die
Absenkung des Mindestalters um ein Jahr nicht so problematisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
({5})
Der Erwerb des neuen Mopedführerscheins setzt nämlich eine solide Ausbildung voraus. Ein gut ausgebildeter 15-Jähriger auf einem Zweirad der Klasse AM stellt
im Vergleich zu einem 15-Jährigen auf einem Mofa
- diese dürfen sich derzeit mit weniger Ausbildung auf
der Straße bewegen - keine Bedrohung der Verkehrssicherheit dar. Im Gegenteil: Verantwortungsvolles Verhalten im Straßenverkehr kann durch die Absenkung des
Mindestalters auf 15 Jahre bereits ein Jahr früher erlernt
und gefestigt werden. Das ist gut für die Verkehrssicherheit. Wer sich anschaut, welche Faktoren bei Unfällen
15- bis 18-Jähriger mit Zweirädern eine Rolle spielen
- unangemessene Geschwindigkeit, Fehler bei der Vorfahrt und beim Wenden und Abbiegen -, sieht, dass das
alles Punkte sind, an denen durch eine bessere Ausbildung gearbeitet werden kann.
Wenn unsere Argumente Sie nicht überzeugen, will
ich darauf hinweisen, dass der Verkehrsminister von
Mecklenburg-Vorpommern, SPD, das, was wir vorschlagen - Mopedführerschein AM mit 15 -, ebenfalls befürwortet. So falsch kann das, was wir vorschlagen, also
nicht sein.
({6})
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass wir mit
dem begleiteten Fahren mit 17 und mit den Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradführerscheinen die Sicherheit auf der Straße stärken und die Mobilität insbesondere junger Menschen verbessern. Das sind die
Leitlinien unserer Arbeit zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr, jetzt und in der Zukunft.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Thomas Lutze hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass wir heute trotz der Banken- und Euro-Krise einmal über vermeintlich irdische
Themen reden können.
Es geht im Grundsatz darum, inwieweit Jugendliche
unter 18 Jahren die volle Verantwortung für ihr Handeln
im Straßenverkehr übernehmen können. Uns Erwachsenen erscheint diese Frage auf den ersten Blick vielleicht
nebensächlich. Junge Menschen sind jedoch in großer
Erwartung, ein Fahrzeug selbst steuern zu können. Viele
zählen die Wochen und Tage, bis sie endlich - von links
im Übrigen - einsteigen können. Mir ging es vor rund
zwanzig Jahren nicht anders.
({0})
Zu den Anträgen. Sie beantragen unter anderem, dass
das Fahren mit 17 in Begleitung eines Erwachsenen bundesweit umgesetzt wird. Als Linke stimmen wir dem
ohne Vorbehalt zu. Alle Pilotprojekte - auch die in dem
Bundesland, aus dem der Kollege von der FDP und ich
kommen - haben gezeigt, dass die öffentlich geäußerten
Vorbehalte der Vergangenheit offensichtlich gegenstandslos sind. Selbst die Versicherungskonzerne - die ja
bei der Versicherung junger Fahrzeugführerinnen und
Fahrzeugführer besonders sensibel, genauer gesagt:
teuer, sind - geben mittlerweile Beitragsnachlässe, wenn
ein Jugendlicher an diesem Programm teilgenommen
hat.
Im Antrag mit dem Titel „Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern“ sind auch die Punkte 1 und 3 unstrittig. Wer mehrere Jahre Fahrpraxis hat, sollte einen
erleichterten Zugang zu einer höherliegenden Führerscheinklasse erhalten. Die Anforderungen an die theoretischen Kenntnisse sind beim Erwerb eines Führerscheins für einen Motorroller oder ein Motorrad nicht
viel anders. Die Praxis ist, das ist richtig dargestellt, sehr
verschieden.
Bei der Herabsetzung der Altersgrenze für die Nutzung von Zweirädern sind wir nicht so optimistisch wie
die Antragstellerinnen und Antragsteller. Mehrere einflussreiche Organisationen sagen, dass das Unfallrisiko
bzw. die Unfallgefahr und damit die Gefahr von schweren Verletzungen in der genannten Altersgruppe besonders hoch sind. Allen ist bekannt, dass selbst ein kleiner
Unfall mit einem Zweirad ganz andere körperliche Folgen haben kann als ein vergleichbarer Unfall mit einem
Pkw. Zweiräder haben bekanntlich keine Knautschzone,
dafür ist aber - das betrifft jetzt genau junge Leute - der
Spaßfaktor deutlich höher als bei einem Pkw.
Ein wichtiger Faktor ist hier die sogenannte Risikobereitschaft. Ob ein 14- oder 15-Jähriger das Risiko immer
richtig einschätzen kann, bezweifelt nicht nur die Linke.
Wir plädieren dafür, dies im Ausschuss noch einmal unaufgeregt zu debattieren.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen
Dingen von der Union, wenn Sie hier und heute Ihre Anträge auf Herabsetzung der Altersgrenzen ernst meinen,
wovon ich einmal ausgehe, dann geben Sie doch vielleicht auch an anderer Stelle, zum Beispiel bei der Herabsetzung des Wahlalters, Ihren Widerstand auf.
({1})
Wer es als 16- oder 15-Jähriger schafft, eine nicht ganz
einfache Fahrprüfung zu bestehen, der kann auch die
Politik von CDU und Linken verantwortungsbewusst
unterscheiden.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Ich hätte meine Rede jetzt fast damit eröffnen
können, dass wir selten so undogmatisch diskutiert haben wie heute und dass es einen fraktionsübergreifenden
Konsens und keine Ideologie mehr gibt. Durch den
Schlusssatz des Kollegen Lutze wird dann aber doch gezeigt, dass es immer noch einen Drive gibt, irgendetwas
Politisches für eine bestimmte Richtung herauszuholen.
Ich glaube, über die heute zu behandelnden Themen
kann man wirklich sachlich diskutieren, und das haben
auch alle Rednerinnen und Redner getan.
Ich denke, dass es eine große Übereinkunft darüber
gibt, dass sich dieser fünfjährige Modellversuch „Begleitetes Fahren ab 17“ gelohnt hat. Ich fand es auch
richtig, dass wir ihn unternommen haben und dass man
das in allen Bundesländern ausprobiert hat. Die Ergebnisse sind sehr positiv. Die Unfallzahlen - das haben alle
in ihren Reden belegt - sind deutlich zurückgegangen.
Das ist für mich und für uns die Hauptbegründung, um
zu sagen: Das ist ein gutes Modell; lasst uns das jetzt in
einem Gesetz umsetzen. - Ich glaube, dafür gibt es auch
eine breite Unterstützung.
({0})
Das ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, dass
man jungen Menschen tatsächlich mehr Verantwortung
übertragen und mehr Mobilität ermöglichen kann und
trotzdem nichts an Sicherheit verliert, sondern im Gegenteil: Diese Methode ist sicherer als die Methode, dass
man mit 18 Jahren den Führerschein machen und dann
einfach unbegleitet losfahren kann.
An dieser Stelle will ich kritisch anmerken: Wir sollten uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die
drastisch hohen Unfallzahlen - sie sind überdurchschnittlich hoch - bei den 18- bis 25-jährigen Fahranfängern reduzieren können. Besonders auffällig ist, dass es überwiegend junge Männer sind und dass überwiegend zu
schnell gefahren wird. Verantwortlich dafür ist also die
Kraftmeierei, in jungen Jahren zu glauben, man könne
beim Fahren fliegen. Das geht dann meistens schief, weil
man dann zwar tatsächlich fliegt, aber gegen den Baum.
Ich glaube, diese Herausforderung müssen wir annehmen.
In dem zweiten Antrag, den wir behandeln, geht es
um die Erleichterung beim Erwerb eines Führerscheins
für Zweiräder. Ich glaube, auch das ist bürokratisch sehr
viel einfacher und zu rechtfertigen; das ist eine gute Regelung. Auch diese werden wir unterstützen.
Beim vierten Punkt in diesem Antrag geht es um die
Erleichterung beim Erwerb eines Mopedführerscheins
durch das Herabsetzen des Alters auf 15 Jahre. Das ist
aus unserer Sicht problematisch.
Hier möchte ich gerne auch noch einmal an Sie alle
appellieren. Sie haben hinsichtlich des begleiteten Fahrens darauf hingewiesen, dass es einen Sicherheitsgewinn gebracht hat, und Sie haben Statistiken bemüht,
also haben Sie sie sich auch angeguckt. Bei einem Blick
in die Statistiken ist es unübersehbar, dass die 10- bis
15-Jährigen und die 15- bis 25-Jährigen Hochrisikogruppen im Verkehrswesen sind. Selbst diejenigen, die noch
kein Moped oder Mofa haben, verunfallen relativ häufig
im Straßenverkehr durch zu schnelles Fahren mit dem
Rad. Es ist ein Problem, dass sich diese jungen Menschen ihrer Verantwortung noch nicht bewusst sind
({1})
und sich schwertun, die Geschwindigkeit und die Folgen
im Straßenverkehr einzuschätzen. Damit tun sie sich extrem schwer.
Deswegen glauben wir, dass es nicht zu verantworten
ist, in diesem Wissen das Mindestalter zu senken, zumal
die Europäische Union ein Mindestalter von 16 Jahren
als Regelfall ansieht; Ausnahmen sind möglich.
Ich darf Sie, liebe Koalitionäre, daran erinnern, dass
Sie sonst immer das EU-Recht eins zu eins umsetzen
wollen. Jetzt, wo Sie die Möglichkeit dazu hätten, wollen Sie es lockern. Ich glaube, dass das eher als Zuschlag
an die Branche zu verstehen ist. Sie haben die verschiedenen Forderungen in Ihrem Antrag begründet. Erstaunlicherweise haben Sie aber genau diesen Punkt nicht begründet. Sie hätten ihn auch nicht begründen können.
Denn der einzige Grund dafür ist, dass sich die Lobby
der zweiradproduzierenden Industrie mehr Kundschaft
wünscht.
({2})
Ich finde, das ist das schwächste Argument.
Sicherheit geht vor. Lassen Sie uns darüber noch einmal im Ausschuss verhandeln. In den anderen Punkten
können wir uns selbstverständlich einigen, und vielleicht
ist das auch in diesem Punkt möglich.
Danke schön.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
sehr erfreut, zusammenfassend festzustellen, dass fast
alle unsere Vorschläge in diesem Hause einen breiten
Konsens finden. Der einzige Punkt, in dem es offensichtlich unterschiedliche Einschätzungen gibt, ist das Mindestalter für den Erwerb der Fahrerlaubnis der
Klasse AM, das wir von 16 auf 15 Jahre senken wollen.
Das hier skizzierte Problem ergibt sich nicht unbedingt erst durch motorisierten Verkehr. Mein Fundstück
für heute ist ein Zitat, das von dem Schriftsteller Mark
Twain überliefert ist, der in seiner Jugend unter anderem
auf einem großen Mississippi-Dampfer als Schiffsjunge
gearbeitet und dort ausgiebig das Fluchen gelernt hat.
Jahre später, als Mark Twain bereits verheiratet war, kamen Fahrräder auf. Der Dichter befasste sich sofort mit
diesen neuartigen Vehikeln, kehrte aber von seiner ersten
Ausfahrt reichlich mitgenommen zurück. Seiner Frau erklärte er sofort, er wisse jetzt erst richtig, was Fluchen
heiße. „Aber du hast mir doch versprochen, nicht mehr
zu fluchen“, warf ihm seine Frau vor. „Ich habe ja auch
gar nicht geflucht“, erwiderte Mark Twain, „das taten die
Leute, die ich über den Haufen gefahren habe“.
({0})
Insofern braucht es - das hat der Ausschussvorsitzende
gut skizziert - dafür zuweilen gar keine Motorisierung.
Wir wollen dennoch gerade in den ländlichen Räumen mehr Mobilität für Jugendliche, auch für 15-Jährige. Es gibt einige gute Argumente, die dafürsprechen.
Mit dem Mofaführerschein ab 15 sind wir in Deutschland relativ konservativ. Andere Länder nutzen die EURichtlinien anders aus. Italien und Spanien zum Beispiel, die schon eher als heißblütig angesehen werden
können, erlauben das Mopedfahren bereits ab 14 Jahren.
Die BASt hat festgestellt, dass gerade im Bereich der
Mopeds auch unsere Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit getragen haben. Die Zahl der Verkehrstoten in
diesem Bereich ist um 10 Prozent zurückgegangen.
Die Zahlen, die wir aus Österreich hören, finde ich,
ehrlich gesagt, wenig nachvollziehbar. Wie kann sich die
Zahl der Verkehrsunfälle vervierzehnfachen, wenn das
Fahren ab 15 vorher gar nicht erlaubt war und man deshalb eigentlich von null ausgehen muss? Das ist mit meiThomas Jarzombek
nem mathematischen Verständnis nur bedingt kompatibel.
({1})
Ein weiterer Punkt ist die Frage nach dem heutigen
Status quo bei den 15-Jährigen; denn sie dürfen schon
motorisiert fahren, nämlich mit einem 25 km/h schnellen
Mofa. Winfried Hermann fährt neuerdings auch ein
25 km/h schnelles Pedelec ohne irgendwelche Auflagen,
ohne Einweisung und Prüfung.
({2})
Ich habe gehört, dass bei manchen Jugendlichen der
Wunsch aufkommt, diese Geräte, wie es neudeutsch
heißt, zu pimpen, also die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Dem setzen wir an dieser Stelle eine deutlich bessere
Ausbildung entgegen: einen richtigen Führerschein mit
allem Drum und Dran.
Dies bringt mich zu dem nächsten Punkt: Als hier vor
einigen Jahren über die Frage diskutiert wurde, wie es
mit der Sicherheit des begleiteten Autofahrens ab 17 sei,
gab es von der BASt ebenfalls große Bedenken, was die
Verkehrssicherheit anbetrifft. Sie sehen, dass diese Befürchtungen sich überhaupt nicht erfüllt haben. Im Gegenteil, wir alle haben heute festgestellt, dass dies eine
große Erfolgsgeschichte für uns ist. Am Ende ist sich
auch die Landschaft in den Verbänden nicht einig. Genauso viele, wie dagegen sind, sind auch dafür. Nicht zuletzt haben wir gestern noch mit dem ADAC gesprochen, der uns gesagt hat: Wir erkennen zumindest keinen
Fortschritt in der Sicherheit, weshalb wir nicht dafür
sind; aber ob es unbedingt schlechter wird, wissen wir
halt auch nicht.
Mein letzter Punkt: Ganz unabhängig von diesem
Thema können wir gemeinsam noch eine ganze Menge
machen, was die Fahrsicherheit gerade im Bereich der
Mopeds und der Jugendlichen betrifft. Ein Thema
könnte zum Beispiel sein, hier mehr ABS zu etablieren
und, was eben auch die Kollegin von den Sozialdemokraten angesprochen hat, noch mehr Motivation für
Fahrsicherheitstrainings zu finden, was für die jungen
Leute sicherlich eine wirklich hilfreiche Sache ist, die
wir fördern müssen.
Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie an so vielen Stellen
zustimmen. Ich hoffe, dass Sie sich eine Zustimmung
zur Klasse AM noch überlegen; denn Sie wollen mit Sicherheit nicht, dass man hinterher sagt, dass unsere Jugendlichen flotter unterwegs sind als die Opposition.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1573 und 17/1574 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Angelika Graf ({0}),
Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein
Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren
- Drucksache 17/1049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Albert
Einstein hat einmal gesagt:
Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf
um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei
dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist.
Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Untergang der Gesellschaft bedeuten.
Diese Aufforderung gilt bis heute, und sie wird auch in
Zukunft gelten. Besonders in Zeiten der Globalisierung
sind arbeitende Menschen auf international gültige Regeln angewiesen, und sie brauchen verbindliche, ja, garantierte Rechte, die sie auch nach Ausschöpfung des nationalen Beschwerdewegs erstreiten können, nicht nur in
anderen Ländern, sondern sicherlich auch bei uns in
Deutschland.
({0})
WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschrieben
sind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte. Ich sage: Das ist gut so in einer Welt,
die, wie wir zurzeit erleben, von einem starken Finanzkapitalismus getrieben ist. Dort müssen sich die Menschen auch wiederfinden.
({1})
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat
nun, exakt 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren angenommen. Ein prominenter Termin, meine Damen und Herren, für ein nicht weniger prominentes Anliegen; denn
erst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozialpakt,
werden die sogenannten WSK-Rechte den bürgerlichen
und politischen Rechten gleichgesetzt.
Erst wenn der Zugang zu entsprechenden individuellen Beschwerdemechanismen sichergestellt ist, erfüllt
sich der allgemein anerkannte Grundsatz der Unteilbarkeit und der Interdependenz aller Menschenrechte.
({2})
Das Zusatzprotokoll tritt dann in Kraft, wenn es zehn
Staaten ratifiziert haben. 31 haben es bislang unterzeichnet, darunter zehn aus Europa. Bedauerlicherweise zählt
Deutschland nicht dazu. Dabei hat Deutschland das Zustandekommen des UN-Sozialpakts konstruktiv begleitet
und auch bei den internationalen Verhandlungen über
das Fakultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet.
Umso erstaunlicher ist das jetzige Zögern.
({3})
Die aktive Rolle Deutschlands zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es bisher alle Kernabkommen des UN-Menschenrechtsschutzes anerkannt hat, alle Fakultativprotokolle zum UN-Sozialpakt - mit Ausnahme des erwähnten
Zusatzprotokolls - unterzeichnet hat und sich weltweit
im Bereich der WSK-Rechte engagiert.
Auch im Vorfeld der bereits unterzeichneten Abkommen und Zusatzprotokolle gab es viele Diskussionen und
- genauso wie in anderen Ländern - immer wieder Bedenken. Vor allen Dingen wird vor einer drohenden Beschwerdeflut gewarnt. Wenn wir uns ansehen, wie es in
der Vergangenheit war, können wir überprüfen, ob es tatsächlich eine Beschwerdeflut gegeben hat. Ich meine,
dass bei ganzen 22 Individualbeschwerdeverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren von einer Beschwerdeflut oder einer überbordenden
Zahl an Beschwerden weiß Gott keine Rede sein kann.
Wenn man die Analyse fortsetzt, stellt man fest, dass davon 17 Verfahren abgewiesen, zwei Verfahren abgebrochen wurden und es sich bei einem Verfahren um eine
nicht festgestellte Rechtsverletzung handelt. Am Ende
bleibt eine einzige tatsächlich bewiesene Rechtsverletzung aufgrund einer Individualbeschwerde übrig. Wer
angesichts dessen behauptet, es gebe eine Beschwerdeflut oder es werde mit dem Ausland Politik gegen das Inland gemacht, irrt sich. Die Zahlen geben das insgesamt
nicht her.
({4})
Man kann das aber auch beispielhaft an dem UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sehen. Hier hat Deutschland das Zusatzprotokoll über ein Individualbeschwerdeverfahren
ratifiziert. Aber viel entscheidender ist: Bereits hier sind
die WSK-Rechte in Form von sozialen Rechten enthalten. Zur befürchteten Beschwerdeflut darf man feststellen: Es gab eine einzige Beschwerde, und diese wurde
dann als unzulässig abgewiesen. Vor dem Hintergrund
dieser Erfahrung kann von einer Beschwerdeflut weiß
Gott keine Rede sein.
Die Gegner einer Ratifizierung führen immer wieder
an, die WSK-Rechte seien teilweise so unbestimmt formuliert, dass internationale Kontrollinstanzen daraus falsche Schlussfolgerungen bei einem Abgleich zum Beispiel mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht ziehen
könnten. Zudem wird befürchtet, dass Organisationen
diese Beschwerdeverfahren oft nutzen, um eigene Ziele
zu verfolgen und zu befördern, die nicht im Einklang mit
dem Beschwerdeverfahren und den WSK-Rechten stehen. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir uns mit einigen Konfliktfeldern zu befassen haben. So wird zum
Beispiel in der Diskussion das WSK-Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung als eine Gefahr für das
Streikverbot für Beamte in Deutschland gesehen. Nicht
alle, aber viele sehen dieses Streikverbot als Anachronismus. Auch ich persönlich finde, dass es sich hier um einen Anachronismus in Europa und damit eher um ein innenpolitisches Thema handelt.
({5})
Oder es wird angeführt, dass das WSK-Recht auf ungehinderten Zugang zu Bildung im Widerspruch zur
Einführung von Studiengebühren in einigen Bundesländern stehen könnte. Ich will an dieser Stelle sehr deutlich
sagen: Ich sehe das genauso wie eine Reihe von Bundesländern, die dafür zuständig sind. Hessen und das Saarland haben die Studiengebühren abgeschafft, sodass ein
solches Verfahren erst gar nicht nötig werden wird.
({6})
Angesichts der Tatsache, dass dieses individuelle Beschwerdeverfahren erst möglich wird, wenn der gesamte
Rechtsweg in Deutschland ausgeschöpft ist, was bei uns
auch den Gang zum Bundesverfassungsgericht, in das
wir alle ein sehr hohes Vertrauen haben - das gilt auch
für die Anerkennung weltweiter Rechte -, einschließt,
kann man sagen, dass die Unterzeichnung dieses Abkommens nicht dazu führen würde, dass wir insgesamt
mehr Beschwerdeverfahren bekämen und dass sich die
Bundesrepublik Deutschland blamieren könnte. Ich weiß
allerdings auch, dass wir die innenpolitische Diskussion
darüber führen müssen.
Warum riskieren wir eigentlich in dieser Frage den
internationalen Ruf Deutschlands, gerade wenn es überwiegend um die Rechte der Leistungsträger der Gesellschaft geht, nämlich um die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Gesellschaft?
({7})
Haben nicht die Erfahrungen mit den bereits bestehenden Individualbeschwerdemechanismen deutlich gezeigt, dass Deutschland wegen seines Rechtssystems
und seines im internationalen Vergleich durchaus guten
Sozialsystems keine Sorge vor einer Klageflut haben
muss? Aus meiner Sicht ergeben sich aus der Ratifizierung des Zusatzprotokolls keinerlei neue Verpflichtungen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat.
Deshalb würde ich gerne denen, die zweifeln und zögern, mit Erlaubnis der Frau Präsidentin ein Zitat vortragen.
Herr Kollege, bitte das Zitat als Schlusswort, weil Sie
die Redezeit schon überschritten haben.
Ich möchte einen Konservativen zitieren, der alles
Notwendige zu dem gesagt hat, wohin auch wir mit unserem Antrag kommen müssen:
Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen
durchzuführen, als beständig nach vollkommenen
Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben
wird.
Diesen Rat hat uns niemand anderer als Charles de
Gaulle gegeben. Diesem Rat folgen wir mit unserem Antrag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen
heute über ein Thema, das jeden Zuschauer und jede Zuschauerin, jeden Zuhörer und jede Zuhörerin interessiert.
Es ist ein wichtiges Thema. Nur, ich bin nicht ganz sicher, ob auch nach den Ausführungen von Herrn
Meßmer zum Beispiel unsere Gäste auf der Zuschauertribüne wirklich verstehen, worum es überhaupt geht.
Vielleicht darf ich versuchen, den Sachverhalt aus meiner Sicht kurz darzustellen.
Wir behandeln die Frage, inwieweit es künftig jedem
Deutschen möglich ist, vor internationalen Gerichten
persönlich zu klagen, sein eigenes Recht dann international einzufordern, wenn insbesondere soziale und kulturelle Rechte vom deutschen Staat nicht anerkannt oder
eingeschränkt werden und vor deutschen Gerichten nicht
durchsetzbar sind. Diese neue Klageoption wird dann
möglich sein, wenn alle deutschen und europäischen Gerichte das eigene Anliegen abgelehnt haben. Jeder hat
dann eine weitere Option, die eigenen Rechte durchzusetzen. Damit diese Erweiterung gelingen kann, muss
Deutschland ein sogenanntes Fakultativprotokoll zu dem
internationalen UN-Sozialpakt unterzeichnen. Darum
geht es. Die SPD fordert eine rasche Unterzeichnung.
Ich möchte Ihnen erklären, warum diese Zeichnung,
wenn sie übereilt erfolgt, kontraproduktiv ist. Mit Zustimmung der Präsidentin darf ich dazu aus einem Brief
zitieren. Dieser Brief wurde am 3. September 2009 von
den ehemaligen SPD-Bundesministern für Arbeit und
Soziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Olaf Scholz und Heidemarie WieczorekZeul, geschrieben. Der Brief der Minister ist eine Antwort auf ein Schreiben der Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Dr. Monika Lüke. Darin
wird Folgendes festgestellt: „Wir bitten Sie daher um
Verständnis, dass die Bundesregierung ihre Prüfung
noch nicht in einem Zeitraum abschließen kann, der ihr
eine Zeichnung des Fakultativprotokolls noch im September erlauben würde. Das schließt aber eine Zeichnung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus.“ ({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbesondere lieber Herr Strässer, dieser Zeitpunkt ist noch nicht
gekommen. Die Dauer der Prüfung ist nicht absehbar, da
sich die Ressortabstimmung zwischen den einzelnen beteiligten Ressorts komplexer gestaltet, als angenommen
wurde. Ich erachte es als absolut nachvollziehbar, dass
sich die Bundesregierung die nötige Zeit nimmt, damit
alle juristischen Bedenken ausgeräumt werden können.
Alle beteiligten Vertreter der Bundesregierung - das ist
auch schon gesagt worden - streben einen zügigen Abschluss der Beratungen an.
Die deutsche Regierung handelt bedacht und mit angemessenem Sachverstand. Daher sollten wir eher die
Frage stellen, warum Sie auf einmal eine sofortige Prüfung fordern. Der Sinn dieser Antragstellung erschließt
sich mir nicht. Warum also plötzlich dieser Antrag?
Die SPD sollte in den elf Jahren ihrer Regierungsverantwortung gelernt haben, dass Prüfungen unserer
Ministerien sorgfältig und lückenlos sein müssen. Haben
Sie von der SPD in den sechs Monaten Opposition vergessen, wie nachhaltig ministeriale Arbeit funktioniert?
({1})
Haben Sie vergessen, wie Ihre Position, die Position Ihrer Minister, die ich gerade zitiert habe, noch vor sechs
Monaten war? Natürlich haben Sie es vergessen; sonst
würden Sie heute nicht diese Forderung nach einer raschen Ratifizierung stellen.
Wieder einmal zeigt sich, dass die SPD, gerade was
Gesetze betrifft, versucht, alles sehr schnell und ungeprüft durchzudrücken. Die Arbeitsweise, mit der heißen
Nadel zu stricken, ist mittlerweile ziemlich legendär.
Wir haben erfahren müssen, dass das Verfassungsgericht
in Karlsruhe Gesetze kassiert hat, die von der rot-grünen
Koalition gekommen sind, weil sie rechtlich nicht haltbar waren.
({2})
Diese Nachlässigkeit - gelinde gesagt - machen wir
nicht mit. Dazu bringen Sie uns nicht. Das Thema, über
das wir heute diskutieren, ist zu wichtig, als dass wir
atemlos der Forderung nach einer raschen Ratifizierung
hinterherlaufen sollten.
({3})
Der gleichen Ansicht war die letzte Bundesregierung
und ist auch die jetzige Bundesregierung. Aus diesem
Grund werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, sondern
ihn ablehnen.
Die Ablehnung des Antrags heißt aber nicht, dass wir
den Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte, der sogenannten WSK-Rechte, und ihre juristische Durchsetzbarkeit verneinen; ganz im Gegenteil:
Die Koalition ist für starke Rechte der Bürger in der UNWeltgemeinschaft. Es ist richtig, dass die UN die WSKRechte nicht mehr als Stiefkinder des internationalen
Menschenrechtsschutzes behandeln. Der UN-Sozialpakt
hat die WSK-Rechte zu Recht gestärkt, waren sie doch
dem Vorurteil ausgesetzt, im Gegensatz zu den bürgerlichen und den politischen Rechten keine richtigen, keine
einklagbaren Menschenrechte zu sein. Die Bundesregierung vertritt ohne Zweifel mit Nachdruck die WSKRechte, indem sie die Einklagbarkeit dieser Rechte und
damit auch den Inhalt des heute diskutierten Fakultativprotokolls als grundsätzlich richtig erachtet.
Im Übrigen war es die letzte Bundesregierung unter
Beteiligung der CDU/CSU, die die Verhandlungen in
New York kraftvoll, aktiv - das wurde ja schon gesagt und konstruktiv vorangetrieben hat. Gerade aus diesem
Grunde können Sie uns mit Ihrem Antrag heute nicht indirekt unterstellen, dass wir die Ratifizierung des Fakultativprotokolls verhindern oder verzögern wollen. Wir
sind genau der gegenteiligen Auffassung. Die Koalition
will die WSK-Rechte zukünftig stärker in der Konzeption der Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik
verankern. Der Prozess, der mit dem Meilenstein der
Wiener Menschenrechtskonvention von 1993 begann, ist
noch nicht beendet. Auch an dieser Stelle müssen die
WSK-Rechte immer wieder betont und angemahnt werden.
Ich möchte daran erinnern, dass die Diskussion um
die WSK-Rechte in den vergangenen Jahren gleich
durch mehrere Entwicklungen an neuem Schwung gewonnen hat. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem
Zusammenhang der Mechanismus, den alle Menschenrechtskonventionen auf UN-Ebene zu eigen haben. Dieser Mechanismus besagt, dass die Einhaltung der von
den Staaten in dem betreffenden Vertrag übernommenen
völkerrechtlichen Verpflichtungen immer wieder überprüft werden muss. Wie andere UN-Menschenrechtspakte auch, verpflichtet der Sozialpakt die Staaten,
regelmäßig über Maßnahmen zu berichten, die sie zur
Verwirklichung dieser Rechte ergriffen haben. Zu diesen
Maßnahmen gehört, dass der Staat einen Aktionsplan erstellt, der Angaben darüber enthält, wie er die volle Verwirklichung der WSK-Rechte erreichen will. Diese Berichte werden dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte, dem Sozialausschuss, vorgelegt. Gerade dieser Sozialausschuss hat Deutschland
in der Wahrung der WSK-Rechte immer gute Noten gegeben.
Die bisherigen Möglichkeiten der Klage vor den verschiedenen deutschen und europäischen Gerichten erscheinen mir daher durchaus ausreichend. Sollten zusätzliche Möglichkeiten der Klage vor internationalen
Gerichten eine weitere Verbesserung bringen, werden
wir von der CDU/CSU-Fraktion uns nicht dagegen sperren. Die genaue Prüfung dieser Option ist aber unabdingbar. Aus diesem Grunde muss die Bundesregierung
genau untersuchen, wie eine weitere Einklagemöglichkeit den Gesamtinteressen des deutschen Staates wirklich dient.
Selbst der von der SPD ins Feld geführte Experte Professor Dr. Riedel, der mehrfach bei Expertensitzungen
der beratenden Ministerien einbezogen wurde, merkt an,
dass die Zahl der zu erwartenden Justizfälle - auch Sie
haben es gesagt, Herr Meßmer - auf der Grundlage des
Fakultativprotokolls verschwindend gering sein wird.
Folglich treibt uns bei dem derzeitigen Prüfverfahren der
Bundesregierung nicht eine möglicherweise eintretende
oder vorhandene mögliche Annahme einer massenhaften
sozialen Ungerechtigkeit gegenüber den deutschen Bürgern.
Zudem möchte ich auch dem Argument von Herrn
Meßmer widersprechen, dass die Ratifizierung keine
neuen Verpflichtungen für den deutschen Staat ergebe.
Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, wenn Ihnen alle Experten eine weitreichende Prüfung vorschlagen?
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die
Frage der Überlappung von UN-Menschenrechtsmechanismen aufwerfen. Es ist die Verpflichtung der Bundesregierung, hier mögliche Gesetzesfallen zu ermitteln und
in die Gesamtbewertung einzuarbeiten. Schon deswegen
wäre eine rasche Ratifizierung kontraproduktiv.
Selbst wenn man auf dem Standpunkt steht, dass die
WSK-Beschwerdeverfahren nicht von einer generellen
Reform des UN-Rechtssystems abhängig gemacht werden sollten, ist die derzeit laufende Prüfung nicht zu vernachlässigen.
Des Weiteren ist von der Bundesregierung zu prüfen,
ob die Justiziabilität dieser Rechte insgesamt mit dem
Argument infrage gestellt werden kann, dass es sich bei
den im Sozialpakt verankerten Rechten eben nicht um
von einzelnen Personen einklagbare Rechte, sondern nur
um allgemeine Zielformulierungen von nur geringer Bestimmtheit mit dem Ziel einer sukzessiven Umsetzung in
den einzelnen Staaten handelt.
Mit einer ungeprüften Ratifizierung läuft man zusätzlich Gefahr, dass die Gerichtsentscheidungen des Sozialpaktes in Deutschland als nicht rechtsbindend anerkannt
werden könnten. Charakter und Vollzug der Strafen im
Rahmen der nationalen Strafrechte müssen beachtet werden. Sie können doch nicht ernsthaft nur Empfehlungen
in Bezug auf einen Einzelfall als Ergebnis der Verfahren
wollen.
Schließlich sind Bedenken berechtigt, dass ein Individualbeschwerdeverfahren weitaus mehr Arbeitsaufwand
für das jeweilige Kontrollorgan bedeutet und folglich
zeitnahe Entscheidungen kaum möglich sind. Auch Befürchtungen hinsichtlich eines gewissen Qualitätsverlustes der gesamten Kontrolltätigkeit des Fachausschusses
sind nicht von der Hand zu weisen. In diesem Zusammenhang ist auch das Stichwort „Überlastung“ zu nennen. Ein gutes Beispiel ist der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte, der sich wegen Überlastung reformieren will.
Abschließend sei gesagt, dass der internationale Menschenrechtsschutz in den vergangenen Jahrzehnten bereits erfreuliche Fortschritte gemacht hat, insbesondere
was Rechtsetzung und Überprüfungsmechanismen betrifft. Die größten Defizite sind naturgemäß bei der
Durchsetzung bzw. bei der Verwirklichung des Schutzes
zu finden.
Diesen Bereich in enger Verbindung mit dem Monitoring weiter auszubauen und zu verbessern, muss das Anliegen der Staatengemeinschaft und der Zivilgesellschaft
sein. Die Individualbeschwerde kann einen wesentlichen
Beitrag zur Institutionalisierung bzw. Verrechtlichung
der Menschenrechte leisten. Daher sollte sie nach eingehender Prüfung durch die Bundesregierung Teil eines jeden Menschenrechtsabkommens sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin
Werner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Linke unterstützt das Anliegen
des vorliegenden Antrags. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir die Rechte von Betroffenen stärken wollen, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte verletzt werden. Der vorliegende Antrag
verweist insbesondere auf das Recht auf angemessene
Unterbringung, das Recht auf Nahrung und das Recht
auf Wasser. Die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls ist
für uns unstrittig und unverzichtbar.
Aber in ihrem Antrag lobt die SPD ihre Regierungsbilanz in der internationalen Menschenrechtspolitik. Die
Linke meint, zur nachträglichen Beschönigung von RotGrün und Schwarz-Rot besteht nicht der geringste Anlass. Auch in dieser Frage entdeckt die SPD erst reichlich spät und in der Opposition plötzlich Handlungsbedarf in Bereichen, die sie in ihrer eigenen Regierungszeit
vernachlässigt hat.
Ausgerechnet unter Rot-Grün wurden die finanziellen
Zusagen in der Entwicklungszusammenarbeit nicht einmal zur Hälfte erfüllt. Frau Wieczorek-Zeul hat als Bundesministerin das zugesagte Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu
stellen, weit verfehlt. Ich frage: Stellt sich die SPD so
etwa die aktive und konstruktive Rolle vor, von der sie in
ihrem Antrag spricht?
({0})
Allerdings sieht es auch unter der jetzigen schwarzgelben Bundesregierung kaum besser aus.
({1})
Vor der Wahl wollte Herr Niebel von der FDP das Bundesministerium, das er nun als Minister führt, sogar abschaffen. Das lässt Schlimmes befürchten. Das Protokoll
liegt schon seit Dezember 2008 vor, und die Bundesregierung hat nicht zu den Erstunterzeichnern gehört. Von
einer Vorbildfunktion bei den Menschenrechten kann somit keine Rede sein. Dies gilt leider für die frühere und
die jetzige Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, es lässt sich eine deutliche
Kontinuität bei der Vernachlässigung der Menschenrechtspolitik feststellen. Das gilt insbesondere im eigenen Land. Seit Hartz IV sind 2,5 Millionen Kinder von
Armut betroffen. Von Sassnitz bis München müssen immer mehr arme und wohnungslose Menschen Suppenküchen aufsuchen, um wenigstens eine warme Mahlzeit am
Tag zu bekommen. Immer mehr Menschen müssen zu
den Tafeln gehen, um sich mit Grundnahrungsmitteln
wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen. Die Linke
sagt: Alle Menschen haben das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard.
({2})
Dem werden wir nicht einmal im eigenen Land gerecht
und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
auch nicht. Dies muss sich endlich ändern.
({3})
Die Linke unterstützt ein Individualbeschwerdeverfahren zum UN-Sozialpakt. Aber im Unterschied zur
SPD sehen wir keinen Grund zum Lob der Regierung.
Weder unter Rot-Grün noch unter Schwarz-Gelb wurde
den Menschenrechten der erforderliche Stellenwert eingeräumt.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat
das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren am 10. Dezember 2008 angenommen, 60 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Im UN-Sozialpakt
geht es um den Schutz elementarer Rechte. Es geht zum
Beispiel um das Recht auf Ernährung, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit. Das sind elementare Rechte, zu denen sich die
christlich-liberale Koalition bekennt und für deren Förderung und Umsetzung sie sich weltweit einsetzt.
({0})
Die wertegeleitete Außenpolitik und Entwicklungshilfepolitik dieser christlich-liberalen Koalition hat sich
aber nicht nur zum Ziel gesetzt, für diese wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit einzutre4322
ten. Sie hat sich auch zum Ziel gesetzt, die Schaffung der
Voraussetzungen für die Gewährung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit zu befördern. Zu diesen Voraussetzungen gehören zum Beispiel
die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen und vor allem
die Armutsbekämpfung. Erinnern möchte ich in diesem
Zusammenhang an den Einsatz unserer beiden Bundesminister Guido Westerwelle und Dirk Niebel für die internationale Anerkennung eines Menschenrechtes auf
Wasser und Sanitärversorgung.
({1})
Mit dem Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über
ein Individualbeschwerdeverfahren wurde ein Kommunikationsverfahren als Rechtsmittel beschlossen. Der
UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte ist damit nicht mehr nur für das Berichtsprüfungsverfahren, sondern auch für internationale Beschwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren vor Ort
zuständig. Bisher gab es als Mittel zur Überprüfung der
Einhaltung der sogenannten WSK-Rechte innerhalb der
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur die Staatenberichte, in denen Rechenschaft über die Menschenrechtssituation abgelegt und Verbesserungsmaßnahmen
vorgeschlagen werden mussten.
Tritt nun das Zusatzprotokoll in Kraft, können Einzelpersonen im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens bzw. Gruppen vor einem internationalen Gremium
Beschwerde gegen ihren Staat einlegen. Voraussetzung
für die Einklagbarkeit der WSK-Rechte ist dabei freilich
die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, in
Ihrem vorliegenden Antrag fordern Sie die Bundesregierung nun auf, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt
über ein Individualbeschwerdeverfahren zu zeichnen und
zu ratifizieren. Sie begründen dies unter anderem damit,
dass durch die Ratifizierung des Zusatzprotokolls - abgesehen von den ohnehin vorhandenen Verpflichtungen zur
Einhaltung des UN-Sozialpaktes - keine zusätzlichen
Verpflichtungen auf Deutschland zukommen.
Nun ist aber generell zu bedenken, dass durch die Einführung des Individualbeschwerdeverfahrens - darauf sind
Sie, Herr Meßmer, selbst eingegangen - der Arbeitsaufwand beim jeweiligen Kontrollorgan dramatisch ansteigen
könnte, was schnelle und effektive Entscheidungswege
erschweren würde. Ein bedauerliches Negativbeispiel für
eine solche Entwicklung sehen Sie beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Funktionsfähigkeit aufgrund der explosionsartigen Zunahme der Zahl
der Streitfälle in den letzten Jahren praktisch gelähmt
wurde. Gegen ein Individualbeschwerdeverfahren spräche auch, dass es ausreichend Rechtswege auf regionaler,
nationaler, aber auch auf internationaler Ebene gibt, auf
die man zum Schutz seiner wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte zurückgreifen könnte.
Zudem ist der Nutzen des Individualbeschwerdeverfahrens beschränkt, da die Entscheidungen über die Beschwerden keine rechtsverbindlichen Urteile sind, sondern Empfehlungen in Bezug auf den Einzelfall, woraus
sich dann allgemeine Zielformulierungen ergeben, die
die Staaten Schritt für Schritt umsetzen sollen.
All die Punkte, die ich aufgeführt habe, bedeuten nun
aber nicht, dass Individualbeschwerdeverfahren keinen
Sinn machen. Man muss in diesem Zusammenhang freilich positiv anmerken, dass die mangelnde Rechtsbindung und Durchsetzbarkeit ein Defizit ist, das wir im gesamten Völkerrecht finden, sodass man das Verfahren
der Individualbeschwerde in Fachkreisen trotz der mangelnden Rechtsbindung als ein wichtiges Instrument des
internationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesrepublik
hat die Verhandlungen zur Verabschiedung des Zusatzprotokolls aktiv und konstruktiv begleitet. Um die Fragen zu klären, die sich im Hinblick auf eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls von deutscher Seite ergeben,
findet zurzeit auf Ressortebene ein Überprüfungsverfahren statt; gegebenenfalls werden diese Fragen noch in
diesem Monat sogar auf Staatssekretärsebene besprochen. Ich denke, wir sollten im Sinne einer vernünftigen
und effizienten Arbeit dieses Parlaments und der Regierung die Ergebnisse dieses Überprüfungsverfahrens abwarten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tom
Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir unterstützen das Anliegen des SPD-Antrages. Wir brauchen ein Individualbeschwerdeverfahren
zum UN-Sozialpakt. Menschenrechtsverletzungen sind
immer Einzelfälle. Jedes Menschenrechtsabkommen
muss deswegen individuelle Beschwerden ermöglichen,
und zwar auf allen Ebenen. Die Menschenrechte und
dieses Abkommen sind zum Schutz jedes einzelnen
Menschen da; sie umfassen individuelle Rechte. Folglich muss jeder einzelne Mensch die Möglichkeit haben,
eine Verletzung seiner Rechte vor Gericht zu bringen
und öffentlich zu machen, und zwar auf allen Ebenen,
auch auf internationaler Ebene.
Durch die Individualbeschwerde können Menschen,
deren Rechte verletzt wurden, nicht nur ihr Recht bekommen, sondern auch die öffentliche, staatliche Anerkennung, dass sie dieses Recht haben. Damit wird, soweit das eben geht, die Würde dieser Menschen
wiederhergestellt. Es gibt deshalb keinen Grund, dass es
zwar beim Zivilpakt die Möglichkeit zur individuellen
Beschwerde auf internationaler Ebene gibt, beim Sozialpakt aber nicht.
({0})
1973 hat Deutschland den Sozialpakt ratifiziert. Die
WSK-Rechte gelten also seit fast 40 Jahren. Seit anderthalb Jahren wäre es auch Deutschland möglich, das IndiTom Koenigs
vidualbeschwerdeverfahren zuzulassen. Die Prüfung
hätte also auch zum Ende kommen können. 31 Staaten
haben es bisher ratifiziert, Deutschland aber nicht.
Gerade im Bereich der WSK-Rechte sind Individualbeschwerdeverfahren sinnvoll; denn die Kritiker der
WSK-Rechte sagen ja immer, diese Rechte seien zu abstrakt. Der Sprecher der CDU/CSU hat sich sogar zu der
Äußerung verstiegen, man müsse prüfen, ob dies nicht
nur allgemeine Ziele und nicht knallharte Rechte seien.
Individualbeschwerden machen aber deutlich, wie diese
kollektiven Rechte auf die einzelnen Lebensgeschichten
und Schicksale der Menschen einwirken. Dadurch werden Menschenrechte greifbar. Individuelle Beschwerdeverfahren zeigen anschaulich, dass WSK-Rechte ganz
konkrete Ansprüche bedeuten.
Bislang gab es nur den Staatenbericht zum UN-Sozialpakt, in dem überprüft wurde, ob die Staaten den Sozialpakt einhalten. In ihm bleiben aber die Menschenrechte des Einzelnen relativ allgemein und relativ diffus,
meist in Statistiken versteckt. Durch das Individualbeschwerdeverfahren werden Menschenrechte auch für
Nichtexperten, auch für die Opfer, greifbar und verständlich. Einzelfälle sind anschaulich. Die Opfer werden sichtbar, ihre Geschichten werden öffentlich und
nachvollziehbar. Rechtsträger müssen ihre Rechte einfordern können, und dies durch alle Instanzen. Das ist
ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.
({1})
Außenpolitisch engagiert sich Deutschland bereits
über viele Regierungen hin für die WSK-Rechte. Wir haben jetzt auch gehört, dass offensichtlich die gegenwärtige Regierung dies wieder will. Dann frage ich: Wie
lange wollen Sie denn noch prüfen? So lange wie bei der
ILO-Resolution?
({2})
In Ihrem Koalitionsvertrag steht wenigstens, Menschenrechtspolitik sei eine zentrale Konstante. Fangen Sie
bitte damit an, machen Sie es gleich und prüfen Sie nicht
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1049 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a bis e auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeswaldgesetzes
- Drucksache 17/1220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldbericht der Bundesregierung 2009
- Drucksache 16/13350 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige
und künftige Generationen
- Drucksache 17/1050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({3}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen
- Drucksache 17/1586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Bundeswaldgesetz ändern - Naturnahe Waldbewirtschaftung fördern
- Drucksache 17/1743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Lan4324
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
desentwicklung aus dem Land Niedersachsen das Wort,
unserer ehemaligen Kollegin Astrid Grotelüschen.
({6})
Astrid Grotelüschen, Ministerin ({7}):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Nur wenige Gesetze haben langfristig Bestand.
Das Bundeswaldgesetz, das wir in der nächsten halben
Stunde diskutieren werden, wurde im Jahr 1975 verkündet und gehört sicherlich zu denjenigen Gesetzen, die
diese Langfristigkeit widerspiegeln. Das liegt daran,
dass sein Ziel, nämlich die Erhaltung des Waldes und die
Förderung der Forstwirtschaft, damals wie heute von
großer Bedeutung war bzw. ist.
Geänderte gesellschaftliche Ansprüche an unseren
Wald und an dessen Bewirtschaftung erfordern jedoch in
bestimmten Abständen eine gewisse Prüfung oder gegebenenfalls Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens.
Deshalb möchte ich Ihnen im Folgenden darstellen, warum die Änderungen, die wir in der nächsten halben
Stunde diskutieren, sehr notwendig sind.
So bedarf es, auf die Praxis bezogen, seitens der forstlichen Zusammenschlüsse einer weiteren Größenentwicklung, damit diese als Marktpartner gegenüber der
Holzindustrie, die sich ja in den letzten Jahren sehr stark
konzentriert hat, als Gegengewicht wieder eine gewisse
Augenhöhe bekommen. Das kann nur durch den Zusammenschluss bestehender Forstbetriebsgemeinschaften zu
forstwirtschaftlichen Vereinigungen geschehen.
Die Waldbesitzer in Deutschland haben gemäß dem
Bundeswaldgesetz die Möglichkeit, sich zur Überwindung von Strukturmängeln in privatrechtlichen Zusammenschlüssen zu organisieren. Diese forstwirtschaftlichen Zusammenschlüsse garantieren eine optimale
Sicherstellung und Beratung bzw. Betreuung der zahlreichen Besitzer kleinstrukturierter Waldflächen. In Niedersachsen hat die überwiegende Zahl der Besitzer von
Kleinprivatwald - die durchschnittliche Größe liegt bei
12,8 Hektar - diese Chance bereits genutzt. Rund
70 Prozent der Besitzer von Nichtstaatswald haben sich
bereits in ungefähr 108 Forstgemeinschaften organisiert.
Die nach bisherigem Recht vorhandene starke Beschränkung der Aufgaben von forstwirtschaftlichen Vereinigungen führt dazu, dass sie nicht mehr den heutigen
Erfordernissen des Holzmarktes und vor allen Dingen
auch nicht mehr denen an eine professionelle Struktur einer solchen Organisation entsprechen.
({8})
Auf Bundesebene wird daher schon seit längerem über
eine Änderung des Abschnitts zu forstwirtschaftlichen
Zusammenschlüssen im Bundeswaldgesetz diskutiert.
Dies ist bisher, wie ich finde, ohne die dringend notwendigen Erfolge geschehen.
({9})
Die Zusammenschlüsse haben daher in zulässiger
Weise, aber mit großem Aufwand, andere, aber eher
komplizierte rechtliche Konstruktionen entwickelt. Deshalb muss es unser Hauptziel sein, diesen forstwirtschaftlichen Vereinigungen umgehend die Möglichkeit
zu geben, im Sinne einer integrierten Entwicklung für
den ländlichen Raum als Dienstleister erfolgreich und
vor allen Dingen innovativ tätig zu werden.
({10})
Die Vermarktung des Holzes stellt die Haupteinnahmequelle für die Waldbesitzenden dar. Dies bedeutet,
dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen den Verkauf des Holzes für die Mitglieder nicht nur koordinieren sollen, sondern das Holz auch selber vermarkten dürfen. Zudem würde den Zusammenschlüssen in allen
Bundesländern die angestrebte Änderung des Bundeswaldgesetzes außerordentlich dabei helfen, sich zukünftig in einfacher Weise marktangepasst entwickeln zu
können.
Der vorliegende Entwurf nutzt außerdem die Chance,
in zwei weiteren Punkten Rechtsklarheit zu schaffen.
Der nachwachsende Rohstoff Holz wird sowohl bei Kurzumtriebsplantagen als auch bei Agroforstsystemen auf
landwirtschaftlichen Flächen produziert. Diese genannten Kulturformen gleichen eher einer landwirtschaftlichen Nutzung und sind mit einer ordnungsgemäßen und
nachhaltigen Bewirtschaftung im Sinne des § 11 des
Bundeswaldgesetzes nicht vereinbar.
Mit der Herausnahme der bisherigen Definition des
Waldes können wir in Zukunft Diskussionen über Zuordnungen vermeiden; das Bundeswaldgesetz stellt nämlich bei der Zuordnung zum Wald zurzeit ausschließlich
auf das äußere Erscheinungsbild ab. Damit es keine
Missverständnisse gibt, möchte ich aber ergänzend darauf hinweisen, dass historische Wirtschaftsformen wie
der Niederwald oder der Mittelwald aufgrund ihres
Wuchsverhaltens und ihrer Struktur natürlich weiterhin
Wald bleiben.
Die zweite Klarstellung ist mit dem vorgesehenen Zusatz zur Frage der Haftung beim Betreten des Waldes
vorgesehen. Das Bundeswaldgesetz gestattet jedermann, den Wald auch außerhalb der Wege zu betreten.
Dabei hat sich - das wissen wir alle - das Erholungsverhalten der Besucher sehr stark verändert. Die Ausschilderung von Wanderwegen lenkt insgesamt natürlich
mehr Besucher in den Wald. Zudem führen neue Erholungsformen - auch das wissen wir; ich will nur
Mountainbiking als Beispiel nennen - zu veränderten
Gefährdungssituationen im Wald. Gleichzeitig werden
Waldbesitzer durch Vorschriften aus unterschiedlichen
Rechtsbereichen - hier sei nur das Natur- und das Artenschutzrecht genannt - gezwungen, gefährliche Situationen, die zum Beispiel durch Totholz entstehen können,
zu dulden. Es besteht andererseits jedoch für den Waldbesitzer nicht das Recht, der Verkehrssicherungspflicht
über ein dauerhaftes Sperren nachzukommen.
Die Änderung in unserem Entwurf stellt daher klar,
dass der Waldbesitzer für waldtypische Gefahren, wie es
zum Beispiel das Totholz darstellt, nicht haftet. Damit
Ministerin Astrid Grotelüschen ({11})
wird die geltende Rechtsprechung in das Gesetz übernommen. Das ist also schon gelebte Praxis.
Ich hoffe, dass ich Ihnen anhand dieser wenigen Beispiele - ich habe nur sechs Minuten Redezeit und die
Uhr läuft gegen mich - darstellen konnte, warum wir
eine Anpassung des Waldgesetzes einfordern. Ich bitte
daher den Bundestag, den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf weiter zu beraten, und ich hoffe, dass Sie
ihn als Gesetz verabschieden.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({12})
Frau Ministerin, Sie haben schon bald nach Ihrer
Wahl in den Deutschen Bundestag Ihre neue jetzige Aufgabe als Ministerin in Niedersachsen übernommen. Dies
war nun Ihre erste Rede in diesem Haus, nicht nur in der
Funktion als Ministerin.
({0})
Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit!
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Crone für die
SPD-Fraktion.
({2})
Guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Wir unternehmen heute den dritten Anlauf, das
Bundeswaldgesetz zu novellieren.
({0})
Aller guten Dinge sind drei. Viele Fragen sind unter den
Fraktionen völlig unstrittig.
({1})
Auch forstwirtschaftliche und Naturschutzakteure geben
grünes Licht.
In Kürze: Modernisierungsbedarf - das wurde eben
schon gesagt - besteht in der Abgrenzung der Begriffe
„Agroforstsysteme“ und „Kurzumtriebsplantagen“ vom
Begriff „Wald“. KUPs werden vor allem als Option für
die steigende Holznachfrage und unter gewissen Anforderungen als Alternative mit positiven Wirkungen für
biologische Vielfalt und Böden verstanden.
Zukünftig wollen wir die Besitzer kleiner Wälder
stärken. Sie können ihr Holz zu fairen Bedingungen nutzen und auf den Markt bringen. Dafür erweitern wir den
Aufgabenkatalog der forstwirtschaftlichen Vereinigungen.
Diskussionsbedarf besteht momentan noch bei der
Verkehrssicherungspflicht. Ich bin aber zuversichtlich,
dass eine Lösung im berechtigten Interesse der Waldbesitzer gefunden wird. Aber dieser Punkt führt uns leider
schon hinaus aus der schönen, seltenen Einigkeit. Sobald
Belange des Naturschutzes angesprochen werden, endet
die Kooperation.
({2})
Cornelia Behm, Christel Happach-Kasan, Georg
Schirmbeck - er ist heute nicht da - und Kirsten
Tackmann - Sie, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, kümmern sich schon seit vielen Jahren verdienstvoll um den Wald.
({3})
Inwieweit einige von Ihnen zum Scheitern der ersten
beiden Anläufe einer Novellierung beigetragen haben,
dazu will ich keine Mutmaßungen anstellen.
({4})
Als neue wald- und forstpolitische Sprecherin der
SPD-Bundestagsfraktion will ich drei Punkte ansprechen.
Erstens. Wem der Wald am Herzen liegt, der sollte bereit sein, Gesetze, die zum Teil seit 1975 nicht mehr angefasst wurden, zu ändern.
Zweitens. Meine politischen Forderungen für unseren
Wald sind realistisch, aber auch maximal.
({5})
Drittens. Ich sehe trotz Konfliktpotenzial, dass die Gemeinsamkeiten größer sind als die Gegensätze.
({6})
Wir müssen unser Waldgesetz jetzt an die geänderten
Zeiten anpassen. Die nächsten 20, 30 Jahre sind für den
Klimawandel entscheidend. Der Wald muss mit immer
extremeren Wetterlagen klarkommen. Die Abgase aus
Verkehr und Landwirtschaft setzen ihn noch immer unter
Stress. Laut Waldbericht verbleiben die Schäden auf hohem Niveau. Es mangelt an alten Wäldern, an Alt- und
Totholz. Beim Artenrückgang ist keine Trendwende zu
verzeichnen. Ich erinnere hier an unsere international
wie national eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz
der biologischen Vielfalt.
Das alles lässt nur einen Schluss zu: Wir brauchen
Mindeststandards im Naturschutz für die gesamte Waldfläche.
({7})
Wir wissen inzwischen so viel über ökologische und
ökonomische Zusammenhänge im Wald und in der
Forstwirtschaft. Dieses Wissen muss sich in einem modernen Bundeswaldgesetz wiederfinden.
Darum will die SPD-Bundestagsfraktion die „gute
fachliche Praxis“ im Bundeswaldgesetz verankern. Immer höre ich ein verstärktes Raunen allein bei der Nennung dieser drei Worte. Deshalb sage ich es einmal so:
Wir müssen unsere Wälder in die Lage versetzen, aus
sich heraus zu funktionieren. Die Nutzung des Waldes
stresst ihn. Das ist letzten Endes nicht zu vermeiden. Unsere Pflicht ist es aber, den Stress für das Ökosystem auf
ein Minimum zu beschränken.
({8})
Der SPD ist klar: Der Wald muss wirtschaftlich genutzt
werden. Doch wir wollen, dass das naturnah geschieht.
Viele Forstbetriebe, auch bei mir im Sauerland, tun das
in vorbildlicher Weise. Ich kann aber nicht alle Formen
der Waldbewirtschaftung gleichsam loben. Es gibt Waldbesitzer, die sehr verantwortungsvoll vorgehen, und andere, die das nicht tun.
Wenn wir die „gute fachliche Praxis“ im Gesetz verankern, hauen wir den schwarzen Schafen der Branche
empfindlich auf die Finger. Denn die bereichern sich
doch auf Kosten der naturnahen Waldwirtschaft. Mit der
Aufnahme in das Bundeswaldgesetz binden wir alle
Forstbetriebe an ein Mindestniveau des Naturschutzes.
Damit schaffen wir auch wettbewerbsrechtlich einen
einheitlichen Rahmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich
glaube auch nicht, dass die „gute fachliche Praxis“ im
Bundeswaldgesetz alle Probleme löst. Aber ohne sie
wird es auch nicht gehen. Sie ist ein wichtiges Instrument der Naturschutzpolitik im Wald. Warum geht nicht
beim Wald, was doch bei der Landwirtschaft geht? Da
ist es verankert.
Klar brauchen wir naturnahe Waldwirtschaft, braucht
es Vertragsnaturschutz, Beratungen, Zertifizierungen
und in Zukunft vermehrt wohl auch ein Honorierungssystem von Natur- und Klimaschutzleistungen. Der Mix
aus den Instrumenten macht es.
Sicher kennen Sie die umfangreiche wissenschaftliche Arbeit zu den Bausteinen einer Naturschutzpolitik
im Wald des BfN. Die kommt zu dem Schluss: Mit den
Kriterien der „guten fachlichen Praxis“ sind keine gravierenden ökonomischen Auswirkungen zu befürchten.
Auch die forstliche Förderung bliebe weitgehend unbeeinträchtigt.
Wir schlagen ja auch eine Regelungsverteilung zwischen Bund und Ländern vor. Da bleibt viel Spielraum
für die Präzisierung bei den Ländern.
Ein Naturschutz, der keine gesellschaftspolitische
Akzeptanz hat, wird langfristig scheitern. Eine Bewirtschaftung, die unsere Wälder und ihre Lebensformen
empfindlich stört oder sogar zerstört, hat schon heute
keine gesellschaftspolitische Akzeptanz mehr.
Daher meine Bitte an Sie: Setzen wir uns noch einmal
an einen Tisch und beraten wir über die gesetzliche Verankerung der GfP. Hier können wir alle gemeinsam einen guten Aufschlag schon vor dem Internationalen Jahr
der Wälder 2011 machen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Kollegin Crone, eine solche
Charmeoffensive der SPD-Fraktion habe ich in diesem
Hause relativ selten erlebt. Ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre netten Worte. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Die beiden Beiträge haben deutlich gemacht: Wir alle
sind uns über die Notwendigkeit, das Bundeswaldgesetz
zu ändern, einig. Die Anträge der Oppositionsfraktionen
spiegeln dies durchaus wider, auch wenn wir nicht in allen Punkten so weit gehen wollen, wie die SPD-Kollegin
es hier dargestellt hat. Man muss allerdings feststellen:
Obwohl wir uns alle einig sind, dass das Waldgesetz geändert werden muss, hat es die Große Koalition nicht auf
den Weg gebracht. Mit der gegenseitigen Blockierung
haben damals die Koalitionspartner dem Land geschadet.
({1})
Ich hoffe, lieber Kollege Bleser, dass wir das jetzt schaffen und ein ordentliches Waldgesetz auf den Weg bringen werden.
({2})
- Vielen Dank für den Beifall von allen Seiten.
({3})
Es ist ausgeführt worden: Im Bestreben, die Biodiversität im Wald zu erhöhen, sind die Totholzanteile im
Wald schrittweise erhöht worden. Das bedeutet, dass
mehr Insektenarten ein Heim finden. Totholz stärkt die
Biodiversität, aber gleichzeitig wird das Gefährdungsrisiko für Waldbesucher erhöht. Tote Bäume sind eben
nicht so stabil wie lebende. Wir haben das Recht auf
freies Betreten der Wälder. Waldbesitzer dürfen ihre
Wälder nicht absperren. Deswegen wollen wir - das ist
hier von verschiedenen Seiten dargestellt worden -, dass
Waldbesitzer nicht für waldtypische Gefahren haften.
Verschiedene Gerichtsurteile zeigen uns, dass wir mit
dieser Formulierung eine ganze Reihe von Konflikten
vermeiden können. Ich denke mir auch, dass wir allein
durch die Diskussion über waldtypische Gefahren dazu
beitragen, dass sich Waldbesucher bewusst werden, dass
es diese waldtypischen Gefahren gibt, und sich entsprechend verhalten. Ein Waldweg ist eben kein glattes Parkett. Man kann dort stolpern.
({4})
Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.
Das Cluster „Forst und Holz“ trägt entscheidend zur
wirtschaftlichen Stärkung der ländlichen Räume bei.
1,2 Millionen Beschäftigte, 170 Milliarden Euro Umsatz, das hat schon eine ganz erhebliche Bedeutung. Vor
fünf Jahren wurden 60 Prozent des nachwachsenden
Holzes genutzt. Inzwischen sind es 90 Prozent. Es ist attraktiver geworden, Holz einzuschlagen. Die verstärkte
energetische Nutzung hat dazu einen Beitrag geleistet.
Es ist aber auch deutlich, dass wir keine Übernutzung
unserer Wälder haben; das ist gut.
({5})
Wir wollen, dass das so bleibt. Deswegen gibt es in
verschiedenen Regionen Deutschlands - wir haben hier
im Bundestag in der letzten Legislaturperiode darüber
diskutiert - Projekte in Kurzumtriebsplantagen, Holz für
die energetische und stoffliche Nutzung zu produzieren.
Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Produktionen von
Biomasse wird nur erreicht, wenn wir für solche Projekte - es gibt sie in Schleswig-Holstein genauso wie in
Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg endlich Rechtssicherheit schaffen. Der Wissenschaftliche Beirat des Agrarministeriums hat schon 2007 auf die
Vorzüge von Kurzumtriebsplantagen hingewiesen.
Florian Schöne vom NABU hat bei einer Anhörung der
FDP-Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass in Energieholzplantagen die pflanzliche und tierische Biodiversität vergleichsweise gut und deutlich besser als in Dauerkulturen von Mais ist. Es ist selten so, dass Ökologie
und Ökonomie derartig Hand in Hand gehen. Deswegen
wollen wir diese gesetzliche Änderung.
({6})
Ich freue mich sehr, dass das Bundesforschungsministerium in der Ausschreibung „Nachhaltiges Landmanagement“ auch einem Projekt den Zuschlag gegeben hat, in
dem wissenschaftliche Fragestellungen der Produktion
und Bereitstellung von Dendromasse untersucht werden
sollen, sprich: Kurzumtriebsplantagen.
In verschiedenen Regionen Deutschlands erfolgen auf
bestimmten Flächen land- und forstwirtschaftliche Nutzung parallel. Das soll möglich bleiben; das ist unser fester Wille. Ein Offenhalten der Landschaft kann aber nur
über die Bewirtschaftung der Flächen erreicht werden.
Ohne Pflege und Bewirtschaftung von Wiesen, Bachtälern, Almweiden, ja sogar von ehemaligen Wattflächen
- Beispiel: das Katinger Watt in Schleswig-Holstein wächst dort Wald; denn die potenzielle Vegetation in
Deutschland ist Wald. Wenn dort Wald wächst, dann ist
es nach der Definition unseres Bundeswaldgesetzes
Wald.
({7})
- Sehr geehrter Herr Kollege, ich bitte Sie herzlich, eine
Zwischenfrage zu stellen, damit wir darüber diskutieren
können, mir aber nicht in die Redezeit hineinzufunken.
Das finde ich nicht in Ordnung.
({8})
Herr Präsident, würden Sie bitte?
Herr Kollege Müller, wollen Sie Ihrer Auftragsfrage
nachkommen? - Bitte.
({0})
Sehr geschätzte Frau Kollegin, welche Bedeutung
messen Sie in diesem Zusammenhang der deutschen
Alm- und Alpwirtschaft bei?
Werter Herr Kollege, ich bedanke mich für diese
Frage und möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Sie
nicht herausgefordert habe, aber Ihr Begehren in Ihren
Augen ablesen konnte. So gut funktioniert die Zusammenarbeit.
({0})
Ich glaube, dass die Almwirtschaften im Alpengebiet
genauso wie andere Bergwirtschaften in anderen Mittelgebietsregionen in Deutschland eine herausragende Bedeutung haben. Ich bin sehr mit Ihnen einer Meinung,
dass wir Flächen mit landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Nutzung vom Waldbegriff ausnehmen sollten. Wenn aber infolge der natürlichen Entwicklung - das
passiert auch in Deutschland - auf einer solchen Fläche,
auf der die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr erfolgt, ein Wald wächst, wenn sie mit Waldbäumen bestockt ist, dann ist diese Fläche Wald und kann damit
keine Direktzahlungen im Sinne der Landwirtschaft
mehr erzielen.
({1})
- Herr Kollege, ich bedanke mich für diese freundliche
Frage.
Der dritte Änderungsbedarf - auch das ist hier schon
dargestellt worden - besteht bei den forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen, die wir stärken wollen. Bei
der Bewirtschaftung der sehr vielen kleinen Privatwälder
sind sie von entscheidender Bedeutung.
Wir haben drei Anträge der Opposition vorliegen. Der
Antrag der SPD hat eine sehr pragmatische Handschrift.
Herzlichen Dank dafür. Der Antrag der Grünen, liebe
Kollegin Cornelia Behm, ist ein bisschen kleinteilig geraten.
({2})
Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass wir für alle
10 Hektar Wald eine eigene Verordnung brauchen, damit
wir allen Ansprüchen gerecht werden können. Ich finde
es ein bisschen schade, dass sich die Grünen nicht mit
dem Waldbericht der Bundesregierung beschäftigt haben
und die Erkenntnisse, die dort sehr deutlich und anschaulich niedergelegt wurden, nicht in ihrem Antrag
verwertet haben. Das wäre meines Erachtens wichtig gewesen, damit wir eine fachlich gute Diskussion hierzu
bekommen. Die Definition der guten fachlichen Praxis
im Bundesgesetz erübrigt sich nach meiner Auffassung.
Der Waldbericht zeigt auf, dass Waldbesitzer mit ihrem
Eigentum weitgehend verantwortlich umgehen.
Wir sollten uns auf die gesetzlichen Regelungen beschränken, die wirklich erforderlich sind. Mir macht die
weiterhin hohe Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle im
Wald - bis zu 20 pro Jahr - sehr viel mehr Sorge als fehlende Paragrafen.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute und konstruktive Diskussion.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Tackmann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist es absolut unstrittig, dass wir dringend eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes brauchen. Die Opposition ist an dem
Thema immer drangeblieben. Deswegen bin ich froh,
dass jetzt der Bundesrat die Initiative ergriffen hat. Mit
der Koalition wäre das wahrscheinlich nichts geworden.
In drei Punkten sind sich alle fünf Fraktionen in diesem Haus einig: Erstens soll die Agroforstwirtschaft aus
dem Begriff „Wald“ herausgenommen werden. Zweitens
wollen wir die Verkehrssicherungspflicht der Rechtsprechung anpassen. Und drittens wollen wir den Kleinprivatwaldbesitzerinnen und -besitzern etwas unter die
Arme greifen.
Zum Thema Agroforst: Flächen zum Energieholzanbau und Ackerflächen mit einem kombinierten Anbau
von Bäumen und Kulturpflanzen sollen im Sinne des
Bundeswaldgesetzes kein Wald mehr sein, damit man
das Holz auch kurzfristig nutzen kann. Damit wird
gleichzeitig die seit über 200 Jahren bestehende Trennung zwischen Forstwirtschaft und Landwirtschaft etwas aufgeweicht. Hierbei geht es zum einen um seit
Jahrhunderten bekannte Mischnutzungen wie Streuobstwiesen oder sogenannte Hudewälder, also die Kombination zwischen Wald und Weidehaltung. Zum anderen
geht es aber auch um relativ neue Ideen wie den Energieholzanbau auf Kurzumtriebsplantagen oder die Pflanzung von Baumreihen in Getreidefeldern. Allerdings
müssen wir bei dieser Türöffnung aus unserer Sicht auch
das Risiko im Blick behalten. Kurzumtriebsplantagen
dürfen nicht zu großflächigen Monokulturen werden.
Der sogenannten Vermaisung der Landwirtschaft darf
nicht die sogenannte Verpappelung folgen.
({0})
Wir wollen allerdings auch keine Beschränkung der
Agroforstsysteme auf den Pflanzenbau - darum ging es
gerade in der Debatte -, wie es jetzt befürchtet wird.
Forst- und Tierhaltungssysteme auf einer Fläche müssen
eingeschlossen werden, damit die Neuregelungen auch
für Almbeweidung und Hudewälder gelten.
Zur Verkehrssicherungspflicht: Niemand will die
Waldeigentümer aus ihren Pflichten entlassen, die Linke
schon gar nicht. Art. 14 des Grundgesetzes gilt: Eigentum verpflichtet und muss zum Gemeinwohl verwendet
werden.
Aber natürlich hat der Wald nicht nur ökologische
und forstliche Funktionen. Er ist auch Erholungsraum.
Seine öffentliche Zugänglichkeit ist für uns unverzichtbar, und zwar unabhängig von der Eigentumsform. Das
gilt gerade in der Nähe von Städten. Ein erholsamer
Waldspaziergang ist für die Forstwirtschaft ja der pure
Lobbyismus. Ich möchte aber natürlich niemandem zumuten, durch herabstürzende Äste oder umstürzende
Bäume verletzt zu werden. Solche Risiken gibt es im
Wald, wenn wir ihn nicht parkähnlich aufräumen wollen.
Daher ist es aus unserer Sicht sinnvoll, abseits von stark
genutzten Waldwegen auf die Pflicht zur Fällung von
kranken oder toten Bäumen zu verzichten. Dabei geht es
eigentlich nur um die Anpassung der Regelungen an die
gängige Rechtsprechung.
Zum Kleinprivatwald: Die Unterstützung der Kleinprivatwaldbesitzer ist aus unserer Sicht längst überfällig
und dringend erforderlich; denn sie liegt in unser aller
Interesse, weil es hier auch um die Mobilisierung von
Holzreserven geht, die dringend gebraucht werden und
den Nutzungsdruck vom restlichen Wald etwas wegnehmen.
Diese drei Änderungen reichen uns als Linken nicht
aus. Darum fordern wir in unserem Antrag, die sogenannte ordnungsgemäße Forstwirtschaft so zu formulieren, dass naturnahe Wälder erreicht werden. Dazu
gehören aus unserer Sicht ganz klar: die Wahl standortgerechter, einheimischer Baumarten; kahlschlagfreies
Wirtschaften; die Gestaltung der Waldränder als Biotopübergang von Wald zu Acker und Wiese; die Reduzierung der Bodenbearbeitung und -verdichtung; die Vermeidung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln; angepasste Wilddichten, die eine natürliche Verjüngung des
Waldes ermöglichen; der Verzicht auf gentechnisch verändertes Pflanz- und Saatgut. Nicht zu vergessen: Zu einer fachgerechten Waldbewirtschaftung gehört qualifiziertes Personal in bedarfsgerechter Anzahl. Ich freue
mich sehr auf die Diskussion im Ausschuss.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Bundeswaldgesetz ist 35 Jahre alt geworden. Wenn ich meine Kollegen anschaue, muss ich
sagen: Mit 35 ist man noch jung. Aber ein Gesetz, das
sich mit Ökosystemen befasst, ist mit 35 Jahren angesichts der stark veränderten Umweltbedingungen schon
in die Jahre gekommen. Dass Novellierungsbedarf
besteht, darüber gibt es, glaube ich, keinen Streit.
({0})
Deswegen hat ja auch die Koalition in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: „Das Bundeswaldgesetz wird novelliert.“ Gekommen ist aber nichts.
Jetzt hat der Bundesrat dem Druck aus der Gesellschaft, vor allen Dingen aus der Holzbranche, nachgegeben und eine Novelle vorgelegt, aber nur eine Mikronovelle. Sie sind wirklich beim kleinsten gemeinsamen
Nenner stehen geblieben. Sie haben sich der Verkehrssicherungspflicht angenommen, Sie haben sich der
Kurzumtriebsplantagen und sogar der Agroforstsysteme
angenommen, und Sie wollen die Vermarktung durch
forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse verbessern. Das
alles ist unstrittig.
Ich will zu zwei von diesen Punkten etwas sagen. Bei
der Verkehrssicherungspflicht wollen Sie - so steht es in
der Begründung - im Grunde genommen nur die gültige
Rechtsprechung gesetzlich festlegen. Das entspricht in
keiner Weise den Erwartungen: Es entspricht weder den
Erwartungen der Waldbesitzer noch denen der Forstleute
noch denen der Naturschützer.
({1})
Nötig wäre eine Lockerung der Verkehrssicherungspflicht durch eine räumlich differenzierte Betrachtung:
An den Hauptverkehrswegen muss tatsächlich Sicherheit
herrschen. Im Waldesinnern ist es jedoch zumutbar, dass
man mit waldtypischen Gefahren rechnet und entsprechend umsichtig ist.
Zu den Kurzumtriebsplantagen. Im Koalitionsvertrag
kommen nur Kurzumtriebsplantagen vor und keine
Agroforstsysteme. Das finde ich ziemlich schwach; denn
es ist leider nicht so, wie meine Kollegin Christel
Happach-Kasan sagt, dass Kurzumtriebsplantagen eine
hohe Biodiversität aufweisen. Kurzumtriebsplantagen
sind Monokulturen von Forstpflanzen auf dem Acker
und nichts anderes.
Wenn der NABU spricht, dann spricht er von wahrhaften Agroforstsystemen. Diese Agroforstsysteme sind
nicht nur in der Lage, die Ertragsfähigkeit von Agrarflächen zu erhöhen, sondern auch die Biodiversität. Daran
sollte man insbesondere im UN-Jahr der Biodiversität
denken und entsprechende Regelungen treffen.
({2})
Es ist mein Anliegen, dass man nicht nur, wie es unser
Staatssekretär will, bestehende Agroforstsysteme wie
Streuobstwiesen und Almweiden schützt, sondern dass
man sich in diesem Hause verstärkt darum bemüht, dass
neue Agroforstsysteme angelegt werden.
Ich komme jetzt zu den wesentlichen Defiziten - ich
habe ja von einer Mikronovelle gesprochen -: Sie haben
sich nicht dazu hinreißen lassen, Standards zu setzen für
klimaplastische Wälder, die die Leistungen für den Naturhaushalt auf Dauer sicherstellen.
Wir haben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode
einen Antrag vorgelegt, und wir haben Ihnen auch dieses
Mal wieder einen Antrag vorgelegt, in dem die notwendigen Mindestanforderungen stehen, um die Ziele, die wir
alle haben - darüber haben wir ja oft genug gesprochen;
sie sind unstrittig -, zu erreichen, nämlich naturnahe,
vitale Wälder, Biodiversität der Waldökosysteme, Erhöhung der CO2-Speicherung, Versorgung mit dem nachwachsenden Rohstoff Holz und auch Schutz vor Übernutzung.
({3})
Dafür gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens; nur: Die Koalition sperrt sich.
({4})
Sie sagt: Es gibt keinen Regelungsbedarf, die Waldbesitzer handeln eigenverantwortlich, und die machen schon
alles schön im Sinne der Nachhaltigkeit. - Sie wissen es
aber doch selbst: Die Wirklichkeit sieht anders aus.
({5})
Herr Präsident, lassen Sie mich noch ein paar Sätze
sagen. - Gerade auch in den ostdeutschen Bundesländern sehe ich zunehmend, dass es eine neue Klasse der
Waldbesitzer gibt, die einzig und allein gewinnorientiert
ist.
({6})
Meine Damen und Herren von der Koalition, damit, diesen Interessen nachzugeben, erweisen Sie dem Wald,
dem Klimaschutz, der Biodiversität und damit auch der
Zukunft der ländlichen Regionen einen Bärendienst.
({7})
Wir bleiben dran, wir wollen eine Makronovelle, und
dafür werde ich mich auch weiterhin einsetzen.
({8})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Wald hat für unser Land eine
überragende Bedeutung. Deshalb kommt auch der Novellierung des Waldgesetzes eine überragende Bedeutung zu.
Da 31 Prozent unseres Landes mit Wäldern bedeckt
sind, prägen sie nicht nur das Landschaftsbild in vielfältiger Weise, sondern sie bilden auch die grüne Lunge für
unsere Bürger.
({0})
Als CO2-Speicher sind unsere Wälder aktive Klimaschützer und für uns Menschen unverzichtbar, weil sie
einen wichtigen Beitrag für die Trinkwasserversorgung
und den Immissionsschutz leisten. Sie dienen als Lebensraum für Pflanzen und Tiere zur Bewahrung der
Schöpfung und zum Erhalt der Artenvielfalt. Für uns
Menschen sind sie ein wichtiger Raum für Ruhe und
Erholung.
Neben all den wichtigen, unersetzbaren ökologischen
Funktionen gewinnt auch die ökonomische Seite unserer
Wälder mehr und mehr an Bedeutung. Sie sind einerseits
ein unverzichtbarer Rohstofflieferant als Grundlage für
eine leistungsfähige Holzindustrie, die gerade im ländlichen Raum für Wertschöpfung und Arbeitsplätze sorgt,
und bieten andererseits die Grundlage für nachwachsende Rohstoffe im Bereich der alternativen Energien.
({1})
Die Koalition will die vielfältigen Funktionen des Waldes erhalten und zum Wohle von Mensch und Umwelt
noch weiter ausbauen.
Zu den wichtigsten Gesetzesänderungen in aller
Kürze, weil wir uns in dem Bereich ja relativ einig sind:
Erstens. Kurzumtriebsplantagen und Agroforstsysteme sind vom Waldbegriff des Bundeswaldgesetzes
auszunehmen, weil es sich bei der Art der Bewirtschaftung um eine ackerbauliche Nutzung handelt, die aber
genauso auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist.
Holz ist mit Abstand der wichtigste Energieträger im
Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschland, und
deshalb ist genügend Energieholz eine wichtige Voraussetzung, um die erneuerbaren Energien in Deutschland
auszubauen und unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele zu
erreichen.
({2})
Ein zweites Anliegen des Gesetzentwurfes ist, die
Waldbesitzer bei der Verkehrssicherungspflicht zu entlasten. Von den Waldbesitzern wird einerseits aus Naturschutzgründen verlangt, vermehrt Totholz und umgefallene Bäume im Wald zu belassen, wodurch sich
andererseits mehr Gefahrensituationen für die - glücklicherweise zahlreicher werdenden - Naherholungssuchenden ergeben können. Da der Wald für alle zugänglich ist und dies auch bleiben soll und muss, dürfen die
Waldbesitzer nicht zur Haftung für waldtypische Gefahren herangezogen werden.
Als Drittes ist im Gesetzentwurf vorgesehen, die
Aufgaben der forstwirtschaftlichen Vereinigungen zu
erweitern. Um den Waldeigentümern zukünftig den
Holzverkauf zu erleichtern, will der Gesetzentwurf erreichen, dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen das
Holz ihrer Mitglieder auch vermarkten dürfen. Dies
stärkt die Waldbesitzer auf einem Holzmarkt, der mehr
und mehr durch Konzentrationsprozesse auf der Abnehmerseite gekennzeichnet ist, wie die Kollegin HappachKasan bereits ausgeführt hat.
Alles in allem geht der Gesetzentwurf des Bundesrates in die richtige Richtung. Die CDU/CSU will diesen
Gesetzentwurf unterstützen, weil er wichtige Vorgaben
unserer Koalitionsvereinbarung aufgreift.
Ich danke dem Land Niedersachsen, heute durch die
ehemalige Kollegin Frau Ministerin Astrid Grotelüschen
vertreten, dass dieser Gesetzentwurf über den Bundesrat
in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde.
({3})
In unseren Beratungen im Bundestag, zu denen auch
eine Anhörung am 7. Juni gehört, sollte nun überlegt
werden, ob noch Ergänzungen am Gesetzentwurf erforderlich sind. Diverse Gedanken dazu haben wir bereits
eingebracht.
Was nach unserer Auffassung nicht explizit im Bundeswaldgesetz festgeschrieben werden sollte, ist die gute
fachliche Praxis in der Waldwirtschaft, liebe Kolleginnen von der Opposition. Denn der Waldbericht 2009
macht unter anderem deutlich, dass die Waldstrukturen
in Deutschland sehr vielfältig sind. Deshalb tritt die
Union dafür ein, die gute fachliche Praxis wie seither
von den Ländern durch Vorgaben für eine ordnungsgemäße Forstwirtschaft regeln zu lassen. Die nachhaltige Wirtschaftsweise ist ohnehin bereits festgeschrieben.
Eine Neustrukturierung würde zu einem hohen Kontrollaufwand und damit zu noch mehr Bürokratie für alle
Beteiligten führen. Aus meiner Sicht sollten wir vielmehr darauf achten, dass in der Forstverwaltung und in
der Forstwirtschaft auch in Zukunft genügend gut ausgebildete Fachkräfte eingesetzt werden.
({4})
Die Bundesregierung hat erfreulicherweise angekündigt, im Herbst dieses Jahres die Waldstrategie 2020
vorzulegen. Auch deshalb lehnen wir weitergehende Anträge der Opposition zum jetzigen Zeitpunkt ab.
Die nicht leichte Aufgabe für die Zukunft besteht darin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklang
zu bringen und den Wald auf die Klimaveränderungen
vorzubereiten. Lassen Sie uns mit der Novellierung des
Waldgesetzes die richtigen Rahmenbedingungen dafür
schaffen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1220, 16/13350, 17/1050, 17/1586
und 17/1743 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz
und Renaturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern - Hochwassergefahren mindern, Klima schützen
- Drucksache 17/1748 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Undine Kurth ({1}), Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auenschutzprogramm vorlegen
- Drucksache 17/1760 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kollegen Ingbert Liebing, Josef
Göppel, CDU/CSU, Oliver Kaczmarek, SPD, Horst
Meierhofer, FDP, Sabine Stüber, Die Linke, Nicole
Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1748 und 17/1760 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über Endenergieeffizienz
und Energiedienstleistungen
- Drucksache 17/1719 -
1) Anlage 2
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wollen wir die
Reden zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Re-
den der Kollegen Thomas Bareiß und Dr. Georg
Nüßlein, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD, und
Klaus Breil, FDP, sowie der Kolleginnen Dorothée
Menzner, Die Linke, und Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die
Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1719 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlegen
- Drucksache 17/1578 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen
- Drucksache 17/1762 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
2) Anlage 3
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Drucksache 17/1761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke
das Wort.
({7})
Politische Entscheidungen … müssen sich an den
Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der
Menschen mit Behinderungen messen lassen.
Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag, Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Aber was haben Sie denn bisher politisch entschieden? Sie haben die Kriegseinsätze verlängert. Das
erhöht höchstens die Zahl der behinderten Menschen,
hilft ihnen aber nicht. Sie haben den Haushalt 2010 verabschiedet und darin nicht einmal der Bundeszentrale für
politische Bildung den Auftrag erteilt, wenigstens über
das Vorhandensein der UNO-Konvention, geschweige
denn über ihre Inhalte, aufzuklären. Außerdem haben
Sie sehr viel Geld für Banken ausgegeben.
Dies wiederum lässt bei Menschen mit Behinderungen große Befürchtungen erwachsen, dass Teilhabesicherung und Nachteilsausgleich oder eine Veränderung
der Eingliederungshilfe auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben werden. Das alles sind Dinge, die Menschen
mit Behinderungen wirklich helfen würden.
({0})
Aber Sie haben es bisher nicht für nötig erachtet, irgendeine Debatte zu führen oder gar irgendeine Entscheidung für Menschen mit Behinderungen und die
Weiterentwicklung der Behindertenpolitik zu treffen.
Deshalb bietet die Linke Ihnen heute die Möglichkeit,
erstmalig in dieser Legislaturperiode über dieses Thema
zu reden. Das Thema lautet: Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Bei Ihnen nur Zögern und Zaudern!
Unsere Initiative, unser Antrag, diese Debatte heute
zu führen, will nichts anderes als eine Beschleunigung
und Verbesserung der Arbeit an der Umsetzungskonzeption für die UNO-Konvention.
({1})
Wir
- ich zitiere wiederum Ihren Koalitionsvertrag treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben
ein.
Ja, wo denn bitte? Wo treten Sie denn dafür ein? Bis jetzt
haben Sie dafür noch gar nichts getan.
Unser Ziel ist,
- wiederum Zitat Koalitionsvertrag die Rahmenbedingungen für Menschen mit und
ohne Behinderungen positiv zu gestalten.
Ja, dann tun Sie es doch bitte, und lassen Sie Ihr Zögern
und Zaudern!
({2})
Ich sage Ihnen einmal, was Sie schon hätten tun können: Sie hätten Barrierefreiheit als Kriterium für öffentliche Ausschreibungen verpflichtend einführen können.
Das haben Sie nicht gemacht, genau wie Ihre Vorgängerregierung, die das nicht einmal bei den Konjunkturprogrammen getan hat. Sie hätten eine Optimierung des
Persönlichen Budgets vornehmen können. Sie hätten die
Elternassistenz einführen können. Sie hätten - das habe
ich vorhin schon einmal gesagt - die Bundeszentrale für
politische Bildung damit beauftragen können, eine entsprechende Kampagne einzuleiten. Dies hätte nicht einmal Geld gekostet. Sie hätten, liebe Damen und Herren
von der Regierung, in jeder Ihrer Reden erwähnen können, dass es in unserem Land Menschen mit Behinderung gibt, die das Recht haben, von Ihnen wahrgenommen zu werden, und teilhaben wollen. Das hätte
überhaupt nichts gekostet, hätte aber gezeigt, dass Sie
wissen, dass Sie eine Verpflichtung haben, für diese
10 Prozent der Bevölkerung etwas zu tun.
({3})
Das haben Sie unterlassen. Wir registrieren Zögern und
Zaudern.
Nun setzen Sie endlich eine Arbeitsgruppe ein, die einen Aktionsplan erarbeiten soll. Aber über die Ergebnisse soll erst im März nächsten Jahres im Kabinett beraten werden, anderthalb Jahre nach der Bundestagswahl,
zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention als Bundesgesetz. Übrigens findet die Beteiligung der Betroffenen an der Erarbeitung dieses Aktionsplans auf der
Spielwiese statt. Der Beauftragte der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen darf mit den Verbänden und deren Vertreterinnen und Vertretern so tun,
als ob irgendeine Beteiligung stattfände. Die eigentliche
Arbeitsgruppe ist im Arbeitsministerium angesiedelt.
Das ist alles andere als die Umsetzung des Mottos
„Nicht ohne uns über uns!“.
({4})
Die Konvention böte gute Chancen, ein Nutzen-füralle-Konzept zu etablieren. Lassen Sie es uns gemeinsam tun! Überwinden wir gemeinsam das Zögern und
Zaudern rasch und gut!
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Rechte der Menschen mit Behinderung sind
seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention vor gut einem Jahr in Deutschland eben nicht nur
allgemeine Bürgerrechte, sondern ein Umsetzungsauftrag, der alle angeht; darin sind wir uns einig. Wir wissen
und erkennen an, dass Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ein
Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte sind.
Diese gilt es zu schützen, zu respektieren und durchzusetzen, und das auf nahezu jedem Politikfeld. Trotzdem
kennt jeder von uns gelebte Beispiele, wo gerade das
nicht geschieht. Deshalb setzt die UN-Konvention in der
Tat einen Akzent zur allgemeinen öffentlichen und allgegenwärtigen Diskussion über den Wert unseres mitmenschlichen Zusammenlebens und die Verantwortung
füreinander.
Viele politische Entscheidungen berühren die Belange von Menschen mit Behinderung. Es handelt sich
tatsächlich um ein Querschnittsthema. Ich verweise ausdrücklich auf viele gesetzliche Regelungen in unserem
Land, die in all den Jahren gemeinsam erstritten und erkämpft, aber auch umgesetzt wurden. Mir ist es ein besonderes Bedürfnis, daran zu erinnern, welche großartigen ideellen und materiellen Hilfen vor allem Familien,
Betroffene und Einrichtungen in den neuen Bundesländern in den vergangenen 20 Jahren in der Betreuung von
behinderten Menschen erfahren haben. Viele wissen,
welche Zustände zuvor herrschten. Wir danken, dass es
heute wesentlich besser ist.
({0})
Nicht alles ist aber perfekt; auch darin sind wir uns einig. Wir wissen, dass wir immer wieder mit Umsetzungsproblemen zu kämpfen haben. Uns beschweren
Schnittstellensituationen, in denen sich die Betroffenen
ob der Diskussion, wer eigentlich zuständig ist oder wer
nicht, im Regen stehen gelassen fühlen. Deshalb hat die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein objektives Interesse
daran, unseren Regelmechanismus an den Zielen der
UN-Behindertenrechtskonvention auszurichten.
({1})
Wir werden nicht alles auf einmal machen. Es müssen
Prioritäten gesetzt werden, und darüber findet eine immer stärkere öffentliche Diskussion statt. Nach wie vor
sehen wir große Handlungsfelder. Ich möchte drei nennen: die Barrierefreiheit, die Bildung und den Arbeitsmarkt.
Zum ersten Feld, der Barrierefreiheit. Das ist ein weites Feld, und deshalb ist die Barrierefreiheit zentral in
dieser Konvention. Eine konsequent barrierefreie Umwelt ist elementar für die umfassende gesellschaftliche
Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ob im öffentlichen Nahverkehr, in öffentlichen Gebäuden, in Arztpraxen, in Privatwohnungen, in Restaurants, in Hotels
oder in der Tele- und Internetkommunikation, am Arbeitsplatz, im Theater oder im Supermarkt - hier erlebt
der betroffene Mensch seine wahre Teilhabe. Hier entscheidet sich unter anderem, ob er glücklich oder eben
auch unglücklich ist. Es muss für Menschen mit Behinderung selbstverständlich sein, sich überall, vom Kino
bis zum Internetportal, unbehindert bewegen zu können.
Je mehr das jeder von uns allen verinnerlicht, desto
selbstverständlicher wird das in unserer Gesellschaft
werden. Wer dabei ist, braucht nicht mehr integriert zu
werden. Ohne Barrierefreiheit keine Inklusion und umgekehrt.
Der zweite Schwerpunkt ist die Bildung. Wir wissen:
Die Grundlagen für die berufliche Zukunft werden mit
der Schulbildung gelegt. Gerade wenn es um die Ausbildung von Kindern mit Behinderung geht, haben wir in
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein Umdenken nötig. Wir sind mit der Ratifizierung der UNKonvention aufgefordert, für diese Kinder gleich gute
Startbedingungen zu schaffen. Das bisherige zweigleisige Konzept von Förder- und Regelschulen gehört der
Vergangenheit an.
({2})
Die Konvention macht klare Vorgaben, wie die Schule in
Zukunft aussehen wird. Eine inklusive Bildung von Anfang an, also vom Kindergarten bis zur Universität, lautet das Ziel. Auch hier gilt: Wer von klein auf nie ausgeschlossen war, der muss auch später als Jugendlicher und
Erwachsener nicht integriert werden. Aber noch einmal:
Wir werden nicht alles auf einmal umsetzen, wir werden
Schritt für Schritt an dieser Verwirklichung arbeiten.
({3})
Alle, Bund und Länder gleichermaßen, haben den Vorgaben der Konvention zugestimmt. Daher gibt es jetzt
keine Ausflüchte mehr. So konsequent will ich das hier
formulieren. Das Ziel muss mit vereinten Bundes- und
Länderkräften gemeinsam umgesetzt werden. Der Aufbau eines inklusiven Schulsystems lässt sich nicht allein
mit pädagogisch ausgefeilten Konzepten oder angepassten Schulgesetzen stemmen. Ganz wesentlich ist, dass
sich in den Köpfen aller Beteiligten ein Wandel vollzieht. Dieser neue Ansatz, diese notwendige Reform
wird mit Sicherheit zunächst bei vielen auf Skepsis oder
auch Vorurteile stoßen, was wir hier und da schon erleben können. Aber wir brauchen Eltern, Lehrer, Schüler,
die Medien, die Kommunalpolitiker, ja, eigentlich alle,
um dieses schöne Ziel zu erreichen.
({4})
Unsere politische Aufgabe ist es, sie für die immensen
Vorteile der inklusiven Bildung zu gewinnen, zu sensibilisieren.
({5})
Wer die Vielfalt der Menschen bereits im Kindergarten
und in der Schule erfährt, für den wird das gemeinsame
Miteinander am Arbeitsplatz oder in der Freizeit ganz
selbstverständlich werden. Das ist ein großer Gewinn,
ein Schritt hin zu einer toleranten Gesellschaft, in der
niemand aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen
wird. So wollen wir unser Zukunftshaus bauen.
({6})
Als dritte Säule hat die Beschäftigung eine Schlüsselfunktion. Das ist eine Komponente, um die wir alle ringen müssen. Nicht nur in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise haben es Menschen mit Behinderung
besonders schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Das ist kein Geheimnis. Doch unabhängig davon
unterlag die gesamte Berufswelt in den vergangenen
Jahrzehnten einem starken Wandel, dem sich alle Arbeitnehmer ausgesetzt sehen. Unsere heutige auf Wissen basierende Dienstleistungsgesellschaft erwartet als Kernkompetenzen Bildung und lebenslanges Lernen. Sie sind
die Voraussetzung für alle Menschen geworden. In der
Vergangenheit hat die Bundesregierung viele Instrumente entwickelt - das wird wohl niemand hier bestreiten können -, um auf die besonderen Bedürfnisse von
Menschen mit Behinderung einzugehen und diese in
eine reguläre Beschäftigung zu integrieren.
Doch leider zeigt die aktuelle Arbeitslosenstatistik
auch, dass wir offensichtlich nicht effizient genug
gewirkt haben. Hier gilt es, den Hebel anzusetzen. Was
funktioniert, ist weiter zu fördern. Doch darüber hinaus
sind neue Möglichkeiten auszuhandeln und umzusetzen.
Fest steht: Wir sind aktuell noch weit von einer inklusiven Arbeitswelt entfernt. Hier gilt es, in den Köpfen
der Arbeitgeber bestehende Barrieren abzubauen. Menschen mit Behinderung sind leistungsfähige Arbeitnehmer. Sie sind zum Teil auch selber Arbeitgeber, also
Unternehmer. Das sollten wir in der Diskussion auch
öffentlich stärker hervorheben, und wir sollten ihre Leistungen auch würdigen.
({7})
Wichtige Voraussetzungen sind natürlich immer die
äußeren Bedingungen. Sie müssen den Bedürfnissen
angepasst sein. Einschränkungen gehen nicht auf ein
individuelles Defizit zurück - so will ich es einmal formulieren -, sondern das Defizit ergibt sich aus den bestehenden Hürden, die den Menschen in der konkreten
Situation im Wege stehen. Diese einzudämmen und zu
beseitigen, ist die konkrete Aufgabe. Damit tut sich mancher Arbeitgeber schwer. Wir möchten noch einmal
daran erinnern, dass Arbeitgeber materielle Unterstützung erhalten können. Viele nutzen diese Möglichkeit
auch. Leider aber ist es immer noch weit verbreitet, diese
Mühe mit der Zahlung der Behindertenabgabe zu umgehen. Auch das müssen wir stärker öffentlich thematisieren. Wir müssen das Problem gemeinsam lösen.
Sie merken, meine Damen und Herren: Die Anforderungen sind hoch. Die Vorgaben der UN-Konvention
sind komplex und deshalb nicht von heute auf morgen
umsetzbar. Aber wir müssen unsere Anstrengungen
intensivieren. Darin sind wir uns einig. Das ist der einzige gemeinsame Nenner, den ich in den drei jetzt zur
Debatte stehenden Anträgen finde.
Die Bundesregierung arbeitet aktuell an dem dafür
notwendigen nationalen Aktionsplan. Sie tut es intensiv
unter Beteiligung der Betroffenen und aller Verbände
und Interessenvertretungen. Sie arbeitet mit Hochdruck,
aber auch - das füge ich hinzu - mit Ruhe; denn mit dem
nationalen Aktionsplan werden die fundamentalen Weichen für die Umsetzung gestellt. Alle Aspekte, die für
Menschen mit Behinderung wichtig sind, werden zur
Kenntnis genommen und einbezogen. Das ist der
Anspruch, dem sich unsere Bundesregierung im Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt. Dazu trifft sie
sich mit den Interessenvertretern von Menschen mit Behinderung. Sie werden als Experten in eigener Sache in
die konzeptionelle Vorbereitung eingebunden; das kann
wohl niemand bestreiten; das ist Fakt.
({8})
Das kostet Zeit, die wir uns, wie ich finde, aber auch
gönnen sollten.
An diesem Vorgehen wird deutlich: Das Prinzip der
Inklusion ist der Leitgedanke bereits in der Planungsphase; das geht nicht auf die Schnelle. Menschen mit
Behinderung können ihre Kritik, aber auch ihre Erfahrung von Anfang an mit einbringen und damit den Umsetzungsprozess konstruktiv beeinflussen und, wenn es
gut geht, sogar beschleunigen.
Was bereits bei den Verhandlungen im Entstehungsprozess der Konvention als Leitlinie galt, wird auch weiterhin gelten. „Nicht über uns ohne uns!“ lautet der Leitsatz.
({9})
Die Bundesregierung ist auf einem sehr guten Weg.
Wir werden diesen Prozess als Parlament auch weiterhin
gut begleiten. Wir wissen, das wird auch unser Parlament erreichen. Lieber Kollege Dr. Seifert, ich kann
Ihnen jetzt nicht ersparen, zu sagen: Ich wundere mich
sehr darüber, dass Sie in Ihrem Antrag den
30. November als Zielpunkt formulieren. Sie wissen
doch, dass alle Behindertenverbände und alle Interessenvertreter dem vorgesehenen Zeitplan zugestimmt haben.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, viele Dinge, die
noch nicht richtig umgesetzt sind, gemeinsam zu gestalten und auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Michalk, schade, dass Sie bzw. Ihre Fraktion keinen Antrag bzw. Gesetzentwurf vorgelegt haben. So haben wir nur Ihre schönen Worte.
({0})
Die Linken und Bündnis 90/Die Grünen haben Anträge vorgelegt. Sie fordern die Bundesregierung auf, die
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen umzusetzen. Wir begrüßen diese Initiative.
({1})
Die Umsetzung der UN-Konvention ist auch für uns
überaus wichtig.
Es ist gut, dass wir heute, trotz der späten Stunde, unsere Reden halten, statt sie, Herr Seifert, wie leider
schon oft bei diesem Thema zu Protokoll zu geben und
auf diese Weise in Ordnern verschwinden zu lassen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung. Wir hätten uns jedoch konkretere Forderungen gewünscht.
({3})
Auch lassen Sie die komplizierten föderalen Verflechtungen weitgehend unberücksichtigt. Gleiches gilt für
die Arbeit in den Ländern. Hier geht der Antrag überhaupt nicht auf das ein, was dort bereits angestoßen
wurde.
Inhaltliche Schwierigkeiten sehe ich unter folgenden
sieben Gesichtspunkten.
Erstens. Der Antrag verwendet den Begriff der Inklusion und fordert, dass dieser, wie Sie es ausdrücken, „erschlossen“ wird. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der
Meinung, dass man eher die Definition von Inklusion
stärker herausheben sollte. Der Begriff muss nicht neu
erschlossen, sondern klarer definiert werden.
({4})
Wir bedauern sehr, dass für die deutsche Übersetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention auf Betreiben der
von CDU und CSU regierten Bundesländer darauf
bestanden wurde, Inklusion mit „Einbeziehung“ und
„Integration“ zu übersetzen. Diese Übersetzung ist irreführend. Während Inklusion von einer unmittelbaren Zugehörigkeit von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft ausgeht, sieht die deutsche Übersetzung dies
aus der Außenperspektive, und zwar aus der Sicht der
Menschen ohne Behinderung. Einbeziehung bedeutet,
jemanden hereinholen; Inklusion dagegen bedeutet eine
unmittelbare gesellschaftliche Zugehörigkeit. Das ist es,
was wir wollen.
({5})
Insofern braucht man den Begriff nicht neu zu erschließen, wie Sie es sagen, sondern man muss ihn klar definiert anwenden. Das muss Teil des Aktionsplans sein.
Zweitens. Die Bemerkungen zur Teilhabesicherung
im Antrag werfen eine grundlegende Frage auf. Es liest
sich hier so, als ob eine Trennung zwischen dem Persönlichen Budget einerseits und dem Ausbau der Versorgungsinfrastruktur andererseits vorgenommen werden
soll. Das eine darf das andere aber nicht ausschließen. Es
gibt Bedarfe, die sicherlich besser durch eine vorzuhaltende Infrastruktur bedient werden sollten. Dazu zählen
zum Beispiel die Integrationsfachdienste, Dienste in öffentlichen Einrichtungen oder medizinische Dienste.
Bedarfe, die sich anhand der Nachfrage aus Persönlichen
Budgets ergeben, kommen hinzu. Der heute vorliegende
Antrag stellt diese Kombination zwar in Aussicht, allerdings aus unserer Sicht viel zu unbestimmt. Ich rate Ihnen, Herr Seifert: Werden Sie konkreter;
({6})
sonst - da bin ich mir sicher - überfordern Sie diese
Bundesregierung mit selbstständigem Denken.
({7})
Drittens. Auch was den Punkt der beruflichen Teilhabe anbelangt, bleibt der Antrag leider unkonkret. Der
Aktionsplan muss dringend mit einer Reform der Eingliederungshilfe verknüpft werden. Wir brauchen hier
aber konkrete Aussagen zum Beispiel zur Zukunft der
Werkstätten und der Integrationsämter, zur beruflichen
Rehabilitation und auch zur Rolle der Kostenträger.
Viertens. Was der Antrag zum selbstbestimmten Wohnen sagt, ist vollkommen richtig. Allerdings sind wir
hier schon weiter.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Das möchte ich jetzt nicht, Herr Seifert.
({0})
- Wir haben dazu noch andere Gelegenheiten. Unsere
Berichterstatterin, Frau Silvia Schmidt, kann das direkt
mit Ihnen klären, wenn Ihnen das recht ist.
Was im Antrag zum selbstbestimmten Wohnen steht,
ist richtig. Allerdings sind wir hier schon weiter. Ich zitiere aus dem Eckpunktepapier der Bund-Länder-Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz:
Die notwendige Unterstützung des Menschen mit
Behinderungen orientiert sich nicht mehr an einer
bestimmten Wohnform.
Weiter heißt es:
Die bisherigen Regelungen zur Zumutbarkeit sind
nicht mehr erforderlich. Das Wunsch- und Wahlrecht wird weiterhin gewährleistet.
Fünftens: zur Statistik. Die von der Konvention geforderten Daten müssen selbstverständlich auch in den Behindertenbericht der Bundesregierung einfließen. Wir
fordern, den Bericht und seine Rechtsgrundlage auch dahin gehend zu überprüfen.
Sechstens. Was den Punkt „Armut und Behinderungen“ im Antrag betrifft, begrüßen wir die Stoßrichtung
ausdrücklich. Aber auch hier muss viel deutlicher hervorgehoben werden, dass keine Sonderbehandlung, sondern Inklusion angestrebt wird.
({1})
Es geht um Teilhabe und Leben inmitten der Gesellschaft. Die sozialen Gründe, warum Menschen mit Behinderung von Armut bedroht sind, müssen aufgezeigt
werden. Hier von spezifischen Bedarfen zu sprechen, ist
aus unserer Sicht inhaltlich zu dünn und nicht zielführend.
Siebtens. Schlussendlich hegen wir große Bedenken,
ob ein Ultimatum zum 30. November 2010 sinnvoll ist;
da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Michalk, zu. Selbstverständlich wollen wir die Situation von Menschen mit
Behinderung verbessern, und selbstverständlich wollen
auch wir die schnelle Umsetzung der UN-Konvention.
Ein Hauruckverfahren zulasten der Betroffenen lehnen
wir jedoch ab.
({2})
Meine Damen und Herren, auch die Anträge des
Bündnisses 90/Die Grünen gehen in die richtige Richtung. Aber auch hier vermissen wir den einen oder anderen wichtigen Aspekt, zum Beispiel die Reform der
Eingliederungshilfe nach den Vorgaben der UN-Konvention. Wir müssen wirksam verhindern, dass am Ende
des Persönlichen Budgets nicht doch wieder eine stationäre Unterbringung praktiziert wird, obwohl andere
Wünsche bestehen.
({3})
Im Hinblick auf den entsprechenden Antrag der Grünen befürchte ich in diesem Zusammenhang einen Deutungsspielraum, der von der Bundesregierung ausgenutzt
werden kann. Der hessische Ministerpräsident hat
bereits anklingen lassen, dass alle Leistungen, auch oder
vielleicht besonders solche im sozialen Bereich, auf den
Prüfstand gestellt werden sollen. Umso wichtiger ist es,
Diskussionen über mögliche Leistungskürzungen von
Anfang an zu verhindern.
({4})
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine starke Inklusion, einen starken politischen Durchsetzungswillen
und natürlich auch die nötige Durchsetzungskraft. Die
heute vorliegenden Anträge, in denen wichtige Fragen
gestellt werden, bieten einen guten Aufschlag. Die SPDFraktion wird einen eigenen Antrag vorlegen, in dem wir
alle bemängelten Aspekte aufgreifen und dem wir hier in
diesem Hause gemeinsam zustimmen können.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dazugehören von Anfang an und ohne Wenn und Aber, das
ist es, was Menschen mit Behinderung möchten. Unser
Ziel muss es sein, ein selbstverständliches Miteinander
von behinderten und nicht behinderten Menschen zu
erreichen; das ist unsere Aufgabe. Lieber Herr Seifert,
ich hätte mich sehr darüber gefreut, wenn Sie in Ihrem
Redebeitrag darauf eingegangen wären und konkrete
Vorschläge dazu eingebracht hätten.
({0})
Die UN-Behindertenrechtskonvention markiert einen
Meilenstein auf dem Weg zu einer selbstbestimmten
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Zauberwort
- es ist heute Abend schon häufiger genannt worden heißt Inklusion. Damit ist gemeint, dass sich die Gesellschaft und nicht der Einzelne auf die Rahmenbedingungen der Menschen mit Behinderung einzustellen hat.
({1})
Wir verstehen Behinderung nämlich nicht als Schwäche,
sondern sie ist Teil menschlicher Normalität, und Behinderte gehören nicht an den Rand der Gesellschaft, sondern sie sind wichtiger Teil von uns.
({2})
Die Konvention hat aber nicht nur eine neue Denkrichtung vorgegeben, sondern ein Umdenken eingeleitet;
ein Bewusstseinswandel ist im Gang. Dabei müssen wir
sehr behutsam sein, also nicht blind dafür sein, inwiefern
Inklusion vor Ort schon gelebt wird. Wir würden viele
Menschen vor den Kopf stoßen, wenn wir jetzt so täten,
als müssten wir von Bundesseite jetzt erst alles in Gang
setzen und anstoßen. Diesen Eindruck erwecken aber die
uns vorgelegten Anträge. Darin ist nur die Rede davon,
gesetzliche Fristen zu verschärfen, Sanktionen einzuführen usw.
({3})
Natürlich müssen wir handeln. Deutschland hat den
Willen dazu unter Beweis gestellt; denn die Behindertenrechtskonvention wurde 2009 ratifiziert.
({4})
Wir sollten aber darauf schauen, was die Betroffenen
wollen, die eine oder sogar mehrere Behinderungen haben: Was sind ihre Wünsche und Möglichkeiten? Deswegen haben wir in der Koalition gesagt: Wir wollen einen Aktionsplan aufsetzen. Wir haben hier einen Anstoß
gegeben und bewusst eine sehr offene Formulierung gewählt, weil wir hier keine Vorgaben machen wollen.
({5})
Vielmehr wollen wir in der Diskussion mit allen zusammen ein Konzept entwickeln, wie wir das Leben miteinander verbessern können. Das ist unser Ansatz.
({6})
Es gibt bereits viele wichtige und gute Ansätze. Ich
möchte zwei Stichpunkte nennen: die unterstützte Beschäftigung und das Persönliche Budget. Es geht darum,
diese positiven Beispiele weiterzuentwickeln. Wir können in der Praxis schon viele gute Modelle beobachten,
zum Beispiel die integrativen Kindertagesstätten,
({7})
die in meinen Augen eine Erfolgsgeschichte sind.
({8})
- Natürlich können es noch mehr werden; das möchte
ich gar nicht in Abrede stellen. Aber ich möchte die integrativen Kindertagesstätten zumindest nennen.
Daneben gibt es Integrationsfirmen. Ich habe mir in
meinem Wahlkreis verschiedene Integrationsfirmen angesehen. Dort wird die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben schon unmittelbar gelebt.
Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiges Anliegen. Vor allen Dingen die kleinen Betriebe und die Mittelständler nehmen ganz bewusst Menschen mit Behinderungen in ihren Betrieben auf, weil sie feststellen, dass
diese sehr gute Arbeit leisten können. Es profitieren also
alle davon.
Ein anderer Bereich ist heute schon angesprochen
worden, auch wenn er nicht unmittelbar in die Zuständigkeit des Bundes fällt: der Bildungsbereich. Der Bildungsbereich hat eine wichtige Funktion; denn der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung hat
natürlich eine große Bedeutsamkeit. Es geht uns Liberalen darum, den Bildungsbereich weiter zu öffnen, damit
mehr behinderte Kinder Regelschulen besuchen können.
Ich sage hier aber ausdrücklich: Ich möchte nicht die
Möglichkeiten der Förderschulen in Abrede stellen. Es
geht doch darum, jedem Kind das seinen Fähigkeiten
entsprechende Bildungsangebot zu unterbreiten.
({9})
Gerade im Bildungsbereich geht es auch darum, die
Kommunen einzubeziehen. Wir können nicht einfach
fordern, Schulen weiter auszubauen, ohne zu sagen, wie
wir das finanzieren wollen. Das ist ein wichtiger Punkt.
({10})
Es geht darum, die Kommunen bei dieser wichtigen
Frage an die Hand zu nehmen.
Wir Liberale wollen diesen Aktionsplan, weil er für
die Umsetzung der Konvention so wichtig ist. Deswegen
haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung dafür starkgemacht. Es geht aber nicht darum, jetzt einen Wettlauf
zu starten: Wer ist schneller?
({11})
Es geht vielmehr darum, mit Bedacht zu schauen, alle
einzubeziehen und tatsächlich zu besseren Konzepten zu
gelangen.
({12})
Mit der Umsetzung der UN-Konvention gehen wir
eine große Aufgabe an. Viele Politikfelder müssen einbezogen werden; aber davor scheuen wir uns nicht. Wir
werden hier Konzepte vorlegen; wir sind schon an der
Arbeit. Lassen Sie uns nicht nur darauf schauen, welche
Defizite vorhanden sind! Lassen Sie uns vielmehr die
guten Beispiele zum Vorbild nehmen! Auf diese Sichtweise kommt es an. Wenn wir das beachten, werden wir
hier zum Erfolg kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte verfolgt und die Redner
und Rednerinnen der Regierungskoalition gehört hat, so
fällt doch zweierlei auf: erstens die Widersprüchlichkeit
zwischen den Absichten und Zielen, die Sie verkünden,
und dem tatsächlichen Handeln der Regierungskoalition,
und zweitens die Unverbindlichkeit, die letztlich in Ihren
Aussagen steckt.
({0})
Ganz offensichtlich gibt es Widersprüche oder Unklarheiten, inwieweit Sie mit der Umsetzung der Ziele
der UN-Konvention überhaupt Ernst machen wollen.
({1})
Wenn Frau Molitor sagt, dass man nicht unbedingt in einen Wettlauf eintreten müsse, und ganz allgemein von
der Verbesserung der Bedingungen spricht, dann vermisse ich das klare Bekenntnis, dass es selbstverständlich auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt.
({2})
Ziele, die Sie in Richtung Bildung und Arbeit formuliert
haben, lassen sich ohne gesetzgeberische Änderungen
nicht umsetzen.
({3})
Wie erklären Sie sich dann aber, dass zum Beispiel
Staatssekretär Brauksiepe im Arbeits- und Sozialausschuss am 3. März, als wir dieses Thema schon
behandelten, eindeutig erklärte, es gebe keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, jedenfalls sehe die Bundesregierung ihn nicht? Klären Sie das einmal auf!
({4})
Der zweite Punkt sind diese sehr allgemeinen Aussagen. Ich fürchte, das setzt sich in dem Aktionsplan der
Bundesregierung fort. Warum klammern Sie beispielsweise den großen Bereich der Eingliederungshilfe für
Menschen mit Behinderungen, vom finanziellen Volumen und von den betroffenen Lebensbereichen her der
bedeutendste Bereich, aus dem Aktionsplan aus?
({5})
Das müssen Sie wirklich einmal erklären. Sie haben hervorragende Vorlagen zum Beispiel durch das Eckpunktepapier der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, die
sich sehr gut mit den Zielen der UN-Konvention verbinden ließen. Ich kann Ihnen auch sagen, was Sie ganz
konkret streichen könnten, nämlich den Mehrkostenvorbehalt, wenn es um das Wunsch- und Wahlrecht geht,
unabhängige Assistenz bei der Wahrnehmung des Persönlichen Budgets und viele andere Punkte mehr, die wir
bereits seit Jahren in unsere Anträge zur Reform der Eingliederungshilfe schreiben.
({6})
Vor einem weiteren Thema drückt sich die Bundesregierung. Frau Michalk, ich habe es jetzt mit Freuden gehört, als Sie sagten, wir müssten die Mehrgliedrigkeit im
Bildungssystem überwinden und brauchten als Ziel den
gemeinsamen Unterricht. Aber auf acht mündliche Fragen der Grünen-Fraktion hat die Bundesregierung die
Verantwortung für den Bildungsbereich in Gänze von
sich gewiesen;
({7})
sie hat ihre gesamtstaatliche Verantwortung verleugnet.
Dabei wäre das wichtig. Art. 8 der UN-Konvention erlegt der Bundesregierung die Pflicht auf, wirksame
Kampagnen zur Bewusstseinsbildung einzuleiten, gerade im Bildungssystem. Das ist der Schlüssel für die
von Ihnen beschworenen Veränderungen in den Köpfen.
({8})
Was es bedeuten kann, wenn aus diesem Parlament
und von dieser Regierung keine klaren Bekenntnisse zu
den Zielen und Rechten der UN-Konvention kommen,
({9})
zeigt sich in der bayerischen Provinz. Es liegt nämlich
ein gemeinsames Schreiben des Bayerischen Städtetags,
des Bayerischen Gemeindetages und des Bayerischen
Landkreistages vor, das mit Einsparmöglichkeiten im sozialen Bereich aufwartet. Das müssen Sie sich einmal
angucken. Darin wird offensiv das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen infrage gestellt;
es soll eingeschränkt werden. In stationären Einrichtungen sollen Einbettzimmer eher zur Ausnahme werden,
und Menschen mit Behinderungen und deren Verwandte
sollen an den Kosten der Eingliederungshilfe weitaus
stärker beteiligt werden. Das sind kleinteilige und wirklich mit ganz kleiner Münze vorgenommene Sparvorschläge, die an der Notwendigkeit einer systemischen
Veränderung des Systems der Leistungserbringung weit
vorbeigehen.
({10})
Dabei wäre mehr Wirtschaftlichkeit mit mehr Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderungen absolut zu
verbinden. Wir sehen, dass hier von den bayerischen
Kirchturmpolitikern, die in diesen Verbänden sitzen, fast
schon der Versuch vorsätzlicher Menschenrechtsverletzungen unternommen wird.
({11})
Ich fordere Sie als Bundesregierung auf - wir werden
auch unseren Teil beitragen -, nach den Kriterien der
UN-Menschenrechtskonvention jetzt ein gutes Stück voranzukommen und hier nicht mehr zuzuwarten.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1578, 17/1762 und 17/1761 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 17/1684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wir werden die Reden dazu zu Protokoll nehmen. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel und Max Straubinger, CDU/CSU,
Anette Kramme, SPD, Johannes Vogel, FDP, Katja
Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen.
Seit der Konstituierung des Deutschen Bundestages
im Herbst des vergangenen Jahres hat die Bundesregierung auf dem Feld der Arbeits- und Sozialpolitik bereits
deutliche Erfolge erwirken können. Die laufenden Gesetzgebungsvorhaben und nicht zuletzt die jüngsten statistischen Daten des Arbeitsmarktes verdeutlichen das
nachhaltige Engagement der christlich-liberalen Koalition. Mit der Verlängerung der bewährten Sonderregelung der Kurzarbeit und der Jobcenterreform kann die
soziale Sicherung der Menschen auch in wirtschaftlich
herausfordernder Zeit gewährleistet werden. Insbesondere der Rückgang der Zahl der Erwerbslosen im Monat
April um 162 000 verdeutlicht den Erfolg der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Instrumente der Bundesregierung.
Auch in dem heute vorliegenden Antrag geht es um einen weiteren und bedeutsamen Schritt, um unsere sozialen Sicherungssysteme den wirtschaftlichen Strukturen
anzupassen und entscheidend zu verbessern. Der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze soll die
Sozialgesetzgebung durch vereinzelte Modifikationen
den gegebenen Herausforderungen anpassen. Damit
wird eine Rechtsgrundlage geschaffen, um den Sozialstaat weiter zu festigen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Sicherungssysteme zu stärken.
So sieht der Entwurf vor, den Deutschen Gewerkschaftsbund in das elektronische Entgeltnachweisverfahren ELENA einzubeziehen. Der DGB soll als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen unmittelbar in das
Verfahren zur Festlegung der technischen Vorschriften
für die Datensätze integriert werden. Das von der
Bundesregierung vorgesehene Anhörungsrecht zur Genehmigung der gemeinsamen Grundsätze im ELENAVerfahren soll dabei auf gleiche Weise auf die Gewerkschaften erstreckt werden, wie es bisher für die Beteiligung der Arbeitgeberverbände geregelt ist. Entsprechend der Vertretung der Arbeitgeber durch die
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
sieht die Regierung daher die Beteiligung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes vor. Die Intention des elektronischen Entgeltnachweisverfahrens, Kosten einzusparen
und Bürokratie abzubauen, wird so weiter nachhaltig
verfolgt. Wirtschaftlichkeit und Effektivität gehen hier
Hand in Hand.
Weitere entscheidende Bausteine des vorliegenden
Gesetzentwurfes tangieren die gesetzliche Unfallversicherung. So sollen die Unfallversicherungsträger zukünftig verpflichtet sein, eine Regelung zur Verletztengeldberechnung bei nicht kontinuierlicher
Arbeitsverrichtung in ihre Satzungen zu integrieren.
Eine derartige Ermächtigung war bisher optional, dementsprechend haben nicht alle Unfallversicherungsträger davon auch Gebrauch gemacht. Auch die Berücksichtigung von Arbeitseinkommen aus selbstständiger
Tätigkeit wird als obligatorisch verankert. So wird gesetzlich festgeschrieben, dass das Verletztengeld auch in
atypischen Fällen bei selbstständig Tätigen seine Funktion als Entgeltersatz erfüllt. Als Beispiel diene hier der
Fall, in welchem die selbstständige Tätigkeit erst im
Laufe des Bemessungszeitraums aufgenommen wurde.
Auch hier wird deutlich, dass wir die soziale Sicherheit
der Menschen und deren Vertrauen in den Sozialstaat
weiter nachhaltig stärken werden.
Ein zentraler Bestandteil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich dagegen mit dem System der gesetzlichen
Unfallversicherung. Im Oktober 2008 wurde mit dem
Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz eine ebenso
notwendige wie effektive Änderung der bestehenden
Strukturen der Versicherungsträger beschlossen. Ziel
des UVMG war unter anderem die Straffung der Organisation durch eine Reduzierung der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf freiwilliger Basis. Die Umsetzung
der Zielvorgabe, die Träger bis zum 31. Dezember des
vergangenen Jahres auf 9 zu reduzieren, wurde allerdings nicht vollständig erreicht. Die Trägerzahl durch
freiwillige Fusionen hat sich bis zum Ablauf der Frist
auf 13 reduziert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage
zu verabschieden, um die Straffung der Organisation des
Systems erfolgreich abzuschließen. Dazu soll der Gesetzgeber ermächtigt werden, die noch notwendigen Fusionen herbeizuführen.
Dabei gilt es deutlich zu betonen, dass der Grundsatz
des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung - Vorrang für die Selbstverwaltung sich grundsätzlich bewährt hat. Daher sollen die Einzelheiten der Fusionen, entsprechend der bereits dem
UVMG zugrunde liegenden Zurückhaltung des Gesetzgebers, auch weiterhin von der Selbstverwaltung entschieden werden. Auch die bestehenden Regelungen des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch bezüglich freiwilliger
Fusionen von gewerblichen Berufsgenossenschaften
werden weiterhin gelten. Der vorliegende Gesetzentwurf
der Bundesregierung bestimmt neben den Fusionspartnern lediglich die Fristen für das weitere Verfahren. So
wird ein zeitnaher Abschluss der Neuorganisation des
Systems der gesetzlichen Unfallversicherung gewährleistet.
Auch die im vorliegenden Entwurf vorgesehene Frist
für die Fusionen bis zum 1. Januar 2011 ist überaus angemessen. Die Verhandlungen zwischen der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten und der
Fleischerei-Berufsgenossenschaft konnten zwar bisher
nicht innerhalb der gesetzten Frist erfolgreich abgeschlossen werden. Andere Berufsgenossenschaften haben vergleichbar schwierige Verhandlungen aber positiv
gestaltet und letztendlich fusioniert. Rufe nach eine Verlängerung der Frist sind unbegründet und zudem nicht
zielführend. Die Fusionshindernisse sind nicht im zeitlichen Bereich zu suchen. Vielmehr erscheint es notwendig, mit einer zeitlich angemessenen Grenze den Fusionsdruck auf die Beteiligten aufrecht zu erhalten.
Abschließend betrachtet eröffnet der vorliegende
Entwurf nicht nur die Möglichkeit, das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz erfolgreich abzuschließen.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze wird die Sozialgesetzgebung den gegebenen und zukünftigen Herausforderungen anpassen und so die Wirtschaftlichkeit und die
Effektivität des Sozialsystems nachhaltig steigern. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger und deren
Vertrauen in den Sozialstaat.
Es ist unsere Aufgabe, mit einer verantwortungsvollen und nachhaltigen Arbeits- und Sozialpolitik die
Grundlage für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu
schaffen. Dieser Verantwortung kommen wir, auch mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf, jetzt und in Zukunft
nach.
Der heute eingebrachte Gesetzentwurf sieht die Verlängerung einzelner befristeter arbeitsmarktpolitischer
Instrumente vor. Verlängert werden die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer, der Eingliederungszuschuss für Ältere, die Maßnahmen zur Weiterbildung
älterer beschäftigter Arbeitnehmer und die Regelung zur
erweiterten Berufsorientierung. Durch die Verlängerung
wird es ermöglicht, die Wirkung über einen längeren
Zeitraum besser beurteilen zu können; das schafft den
für eine Evaluation erforderlichen zeitlichen Spielraum.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sollen bis zum
Jahr 2011 überprüft werden.
Da noch nicht alle Berufsgenossenschaften den gefassten Beschluss des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 zur Reduzierung der Anzahl der Berufsgenossenschaften umgesetzt haben, soll diesem mit dem heutigen Gesetzentwurf Nachdruck verliehen werden. Deshalb sieht der
Gesetzentwurf eine Fristsetzung zur Fusion zum 1. Januar 2011 vor. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn
die betroffenen Berufsgenossenschaften die Fusionsgespräche noch einmal mit großem Nachdruck betreiben
würden und versuchten, ihre Bedenken in Gesprächen
mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und
ihren jeweiligen Fusionspartnern auszuräumen. Im Hinblick auf eine nachhaltige, kostengünstige Verwaltung
müssen die gesteckten Ziele der Organisationsreform
der gesetzlichen Unfallversicherung und des Beschlusses des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 baldmöglichst erreicht werden.
Der Bundesrat kritisiert in seiner Stellungnahme die
Herausnahme der im Referentenentwurf zum vorliegenden Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehenen Streichung der Einrichtung der Weiterleitungsstellen. Dieser
Kritik schließe ich mich an. Diese mit dem Gesetz zur
Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar 2011 eingeführte Regelung,
nach der Arbeitgeber auf Antrag die Meldungen zur
Sozialversicherung, Beitragsnachweise und sämtliche
Zahlungen ab dem 1. Januar 2011 an eine sogenannte
Weiterleitungsstelle ihrer Wahl einreichen können, führt
zu Doppelstrukturen. Sie schafft umfangreiche und kostenaufwendige Schnittstellen, ohne den Arbeitgebern
nennenswerte Vorteile zu verschaffen.
Die Weiterleitungsstellen sollen die Meldungen zur
Sozialversicherung, die Beiträge zur Sozialversicherung
und die Beitragsnachweise vom Arbeitgeber entgegennehmen und an die zuständigen Einzugsstellen, also die
Krankenkassen, weiterleiten. Arbeitgeber, die weiterhin
wie bisher direkt mit der oder den Krankenkassen abrechnen wollen, können allerdings auch das bisherige
Verfahren einfach fortsetzen. Dies ist eine unbefriedigende Lösung, die verbessert werden sollte, was bisher
aber nicht geschehen ist. Sie bewirkt nach Auffassung
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA, keine signifikanten Einsparmöglichkeiten
oder qualitativen Verbesserungen der Prozesse des Beitragseinzuges.
Für den Arbeitgeber würde sich lediglich der Zahlungsmodus auf einen Überweisungsvorgang reduzieren, was im Zeitalter des Onlinebanking keine spürbare
Ersparnis mit sich brächte. Die Einrichtung der zentralen Weiterleitungsstellen brächte aber Kosten mit sich,
die letztlich aus von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu
tragenden Beitragseinnahmen zu finanzieren sind.
Zudem ist zu befürchten, dass zahlungsunwillige und
nicht zahlungsfähige Arbeitgeber die Nichtabführung
von Sozialversicherungsbeiträgen verschleiern können,
indem sie unterschiedliche Angaben gegenüber den
Krankenkassen bzw. den zentralen Weiterleitungsstellen
machen.
Bei einem Ausfall würden nicht nur Einnahmen aus
Krankenversicherungsbeiträgen verloren gehen, betroffen wäre vielmehr der Gesamtsozialversicherungsbeitrag, also die Beitragseinnahmen aus der Kranken-,
Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung.
Der Normenkontrollrat wies in seiner Stellungnahme
vom 18. März 2010 darauf hin, dass durch die AutomaZu Protokoll gegebene Reden
tisierung der Datenerfassung und Datenübermittlung
ein wesentlicher Grund für die Weiterleitungsstellen in
ihrer derzeit vorgesehenen Form entfallen ist. Es stellt
sich daher die berechtigte Frage, ob die zu erwartenden
geringen Einsparungen bei den Unternehmen die Kosten der Krankenkassen zum Einrichten und Betreiben
der Weiterleitungsstellen rechtfertigen.
Das Thema Beitragseinzug ist grundsätzlicher Natur.
Ich plädiere daher dafür, den Beitragseinzug weiter bei
den Krankenkassen zu belassen und die vorgesehenen
Beitragsweiterleitungsstellen in dieser Form nicht einzurichten.
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch werden verschiedene Vorschläge und Anregungen zu einzelnen sozialpolitischen
Regelungen aufgegriffen sowie die veränderte Rechtsprechung berücksichtigt. Jenseits der hier formulierten
technischen Änderungen und der Umsetzung neuer
Rechtsprechung enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung allerdings auch Regelungen, die sehr wohl
von politischer Bedeutung sind.
An erster Stelle ist hier die Formulierung eines neuen
§ 225 SGB VII zu nennen, mit dem die Neuorganisation
der gewerblichen Berufsgenossenschaften umgesetzt
werden soll.
Mit dem von der damaligen Großen Koalition beschlossenen Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Unfallversicherung, UVMG, vom 30. Oktober 2008 war
gerade auch die Neuorganisation der Unfallversicherungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung vorgesehen. Die 26 gewerblichen Berufsgenossenschaften sollten bis zum 1. Januar 2010 zu 9 Trägern
fusionieren. Hierdurch sollte - so die damalige Gesetzesbegründung - „die Bildung ausgewogener und nachhaltig leistungsfähiger Träger“ sowie „eine Erhöhung
der Effizienz der Verwaltungen und Einsparungen bei
den Verwaltungskosten“ erreicht werden. Dieser freiwillige Fusionsprozess ist - mit allen Schwierigkeiten, die
so etwas mit sich bringt - weitgehend erfolgreich verlaufen. Dieser Prozess ist damit ein Beleg für die funktionierende Selbstverwaltung. Allerdings wurde die Zahl
von 9 Trägern nicht ganz erreicht; gegenwärtig existieren noch 13 Träger. Es ist daher sachgerecht, dass
nunmehr - wie bereits im UVMG für diesen Fall angekündigt - eine gesetzliche Vorgabe erfolgt, welche Berufsgenossenschaften bis zum 1. Januar 2011 zu gemeinsamen Trägern fusionieren sollen. Die vorgeschlagene
Regelung wird dabei nicht nur von den übrigen Unfallversicherungsträgern erwartet, sondern sie wird auch
von den Sozialpartnern unterstützt. Auch die SPD-Bundestagsfraktion trägt diese Regelung mit.
Allerdings verstehe ich natürlich, dass gerade die
kleineren Berufsgenossenschaften ganz grundsätzlich
befürchten, im Rahmen eines großen Trägers ihre branchenspezifischen Belange nicht ausreichend vertreten zu
können. Dies gilt insbesondere für die branchenbezogene Prävention, die die Kernaufgabe der Unfallversicherung darstellt. Hier bin ich für Vorschläge offen, wie
diesen Bedenken im Gesetzgebungsverfahren noch besser Rechnung getragen werden kann. Den Vorschlag des
Bundesrates, den dieser in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf vom 7. Mai 2010 unterbreitet hat, nämlich eine Verlängerung der Frist um neun Monate, finde
ich dabei nicht sinnvoll: Wenn der bisherige Appell, freiwillig zu fusionieren, nicht gefruchtet hat, so wird auch
die Verschiebung des Stichtages, bis zu dem die beteiligten Berufsgenossenschaften eine Fusion erreichen sollen, nicht fruchten. Sinnvoller scheint mir ein Vorschlag
zu sein, den Bedenken im Rahmen der neuen Selbstverwaltung Rechnung zu tragen, indem Transparenz und
Mitwirkung im Rahmen der Vertreterversammlung verbessert werden: Hier könnte überlegt werden, bei Fusionen von mehr als vier Trägern größere Vertreterversammlungen zuzulassen, als dies durch die jetzige
Maximalgröße von 60 Mitgliedern ermöglicht wird. Bereits in der allgemeinen Begründung zum UVMG war
diese Begrenzung bei Trägern, die aus Fusionen hervorgehen, als nicht notwendig formuliert worden; allerdings fehlte eine gesetzliche Normierung. Sinnvollerweise sollte man diese Regelung nicht als Dauerlösung
eröffnen, sondern für einen Übergangszeitraum ermöglichen: Hier wäre zum Beispiel an den Ablauf der nächsten auf die Fusion folgenden Sozialwahlperiode zu denken, also an den Zeitraum bis 2017. Mit einer derartigen
Lösung würde sowohl den Interessen der bereits fusionierten Berufsgenossenschaften als auch der jetzt noch
vor der Fusion stehenden Berufsgenossenschaften gedient.
Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, die
den Datenschutz berühren, sind teilweise kritisch zu bewerten. Für die SPD-Bundestagsfraktion gilt der
Grundsatz, dass personenbezogene Arbeitnehmerdaten
nur für die benötigten Zwecke verwendet werden und
dass im Hinblick auf den Grundsatz der Datensparsamkeit nur anlassbezogene Daten ermittelt werden dürfen.
Es ist daher zu begrüßen, dass künftig bei der
Schwarzarbeitsbekämpfung hierzu die verschiedenen
Dienststellen intensiv zusammenarbeiten und Daten
austauschen können. Allerdings erscheint es nicht verhältnismäßig, einen automatisierten Zugriff auf die bei
der Datenstelle der Rentenversicherungsträger gespeicherten Sozialdaten zuzulassen und dazu als Begründung bereits einen „gewissen Anfangsverdacht“ für eine
Steuerstraftat genügen zu lassen. Zumindest muss sichergestellt sein, dass nur dann auf die Daten zugegriffen wird, wenn zum einen ein dringender Verdacht auf
Scheinselbstständigkeit, Kettenbetrug im Baugewerbe,
Scheinrechnungen oder auf unrichtige Angaben hinsichtlich des Umfanges der Beschäftigung von Arbeitnehmern besteht und zum anderen ohne die Daten ein
Beweis nicht möglich ist.
Letztendlich möchte ich noch einen Punkt ansprechen, bei dem die Bundesregierung vom Referentenentwurf bis zum Gesetzentwurf offensichtlich der Mut verlassen hat; ich spreche vom Verzicht auf die Streichung
der sogenannten Weiterleitungsstellen. Die Möglichkeit,
dass Arbeitgeber ab dem 1. Januar 2011 für alle Beschäftigten die Meldungen zur Sozialversicherung, die
Beitragsnachweise und sämtliche Zahlungen an eine
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiterleitungsstelle ihrer Wahl richten, ist im Rahmen
des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Wunsch der CDU/
CSU geschaffen worden. Die SPD-Bundestagsfraktion
unterstützte zwar das Ziel, Arbeitgeber vom Verwaltungsaufwand zu entlasten; doch war sie skeptisch, ob
dies mit den Weiterleitungsstellen tatsächlich erreicht
wird. Sie fürchtete, dass - im Gegenteil - ein Verwaltungsmehraufwand erzeugt wird, da die Umlagesätze für
die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, U1, und bei Mutterschaft, U2, bei den einzelnen Krankenkassen differieren, sodass allein schon deshalb auch in Zukunft arbeitnehmerbezogene Stammdaten geführt werden müssen.
Mittlerweile ist auch die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände zu der Auffassung gekommen, dass die Einrichtung von Weiterleitungsstellen
keine signifikanten Einsparmöglichkeiten oder qualitative Verbesserungen beim Beitragseinzug mit sich bringen würde. Da neben den Krankenkassen auch die Rentenversicherung und die Unfallversicherung sowie der
DGB die Einrichtung von Weiterleitungsstellen für überflüssig erachten, fordert die SPD-Bundestagsfraktion
die Bundesregierung auf, dem Votum des Bundesrates zu
folgen, und die ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehene Streichung vorzunehmen.
Heute beraten wir ein umfangreiches Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Wir haben in vielerlei Hinsicht Änderungsbedarf, dem wir nun umfassend nachkommen werden. Um niemanden zu langweilen, werde
ich nicht näher auf die vielen redaktionellen Anpassungen eingehen, die im SGB-IV-Änderungsgesetz enthalten
sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass hier im
Hause Dissens über Interpunktionsfragen herrscht. Das
unterstelle ich jetzt einfach einmal.
Stellvertretend lassen sich einige Punkte aus dem Paket herausgreifen, an denen sich zeigen lässt, dass
manchmal auch mit kleinen Änderungen sinnvolle Wirkungen erzielt werden können. Nehmen wir etwa die
Einfügung in den § 28 b SGB IV. Das damit geschaffene
Anhörungsrecht für den Deutschen Gewerkschaftsbund
halte ich für eine zweckmäßige Ergänzung. Die bisherige Regelung, die bei der Meldepflicht im Rahmen der
Sozialversicherung die Beteiligung diverser Akteure
vorsieht, normiert bisher auch explizit die teilnehmende
Rolle der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Da erscheint es nur angemessen, die Arbeitnehmerseite nicht außen vor zu lassen. Dies gilt
umso mehr angesichts der umfangreichen Datenerfassung im Zusammenhang mit ELENA. Ich bin mir sicher,
dass der DGB ein guter Anwalt des Arbeitnehmerdatenschutzes sein wird.
Ferner ist die Neuorganisation der gewerblichen Berufsgenossenschaften ein wichtiger Punkt. Die gesetzlichen Unfallversicherungen sind ein relativ altes System.
Ihre Anfänge gehen schließlich bis ins 19. Jahrhundert
zurück. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaupten, dass sich seither ein grundsätzlicher Wandel der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat.
Dieser Wandel hat sich aber nicht in der Organisation
der Berufsgenossenschaften niedergeschlagen; vielmehr
wurden alte Strukturen beibehalten. Dies hat schließlich
auch zu einer starken Beitragsspreizung geführt, außerdem zu einer bisweilen überproportionalen Steigerung
der Beitragssätze bei einzelnen Berufsgenossenschaften.
Völlig zu Recht - das sage ich gerne an die Adresse der
Opposition - hat deswegen noch die schwarz-rote Bundesregierung der vergangenen Legislaturperiode darauf
hingewiesen, dass manche „strukturschwachen Branchen die Beitragssatzsteigerungen nicht mehr alleine
tragen können“.
Abgesehen von der Beitragssatzproblematik ist
schließlich eine zu stark aufgegliederte Trägerlandschaft nicht mehr aktuell und allgemein nicht wünschenswert. Ein zeitgemäßes Sozialversicherungssystem
sollte mindestens auch verwaltungstechnischen Effizienzgesichtspunkten genügen. Durch eine Bündelung
der Kräfte und Straffung der Organisationsstrukturen
lässt sich dies gewährleisten. Insofern begrüßt die FDPFraktion die im Gesetzentwurf vorgesehene Fusionsverpflichtung der Berufsgenossenschaften Nahrungsmittel
und Gaststätten und Fleischerei einerseits sowie der Berufsgenossenschaften Metall Nord Süd, Maschinenbau
und Metall, Hütten und Walzwerke als auch Holz andererseits. Im Übrigen werden wir hier nur hinsichtlich
der Rahmenbedingungen gesetzgeberisch tätig; die konkrete Ausgestaltung überlassen wir den Akteuren selbst.
Als Liberalen freut mich auch besonders, dass wir mit
dem neuen § 83 a SGB IV eine Informationspflicht bei
der unrechtmäßigen Kenntniserlangung von Sozialdaten
einrichten werden. Somit verbessern wir den Datenschutz merklich, was gerade in einem so sensiblen Bereich wie demjenigen der Sozialversicherung von größter Bedeutung ist. Hier werden nicht nur empfindliche
personenbezogene Daten erhoben und übermittelt, sondern schlechterdings auch eine große Menge an Daten.
So notwendig dies alles ist, so notwendig ist es auch, an
dieser Stelle für einen lückenlosen Datenschutz zu sorgen. Gut, dass wir dem hiermit gerecht werden. Damit
erreichen wir ein einheitliches Schutzniveau.
Abschließend möchte ich bemerken, dass auch die
Änderung des Alterssicherungsgesetzes der Landwirte
wichtige liberale Anliegen berücksichtigt. Denn wir vereinfachen eine Informationspflicht und machen so den
betroffenen Bürgerinnen und Bürgern einfach das Leben
leichter. Durch die widerlegbare Fingierung der Fortgeltung des Befreiungsantrags von der Versicherungspflicht bei einer Wiederaufnahme der einschlägigen
sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit reduzieren wir
den Aufwand erheblich, den die jeweiligen Personen
sonst betreiben müssen. Häufig genug wird aus Unkenntnis kein neuer Befreiungsantrag gestellt, sodass
Beitragsrückstände entstehen. Dies wird bald ein Ende
haben, was ich ausdrücklich begrüße.
Ich denke, das Gesetz zeigt, dass auch bei weniger
spektakulären Vorgängen sauber, solide und sorgfältig
gearbeitet wird. Die Bundesregierung steht im Großen
wie im Kleinen für eine solche Vorgehensweise. Ich
Zu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
werbe um breite Zustimmung und danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
Der uns vorliegende Gesetzentwurf soll das Vierte
Buch Sozialgesetzbuch sowie weitere Gesetze an sehr
vielen Stellen aus recht unterschiedlichen Gründen ändern. Laut Aussage der Bundesregierung ergibt sich dieser umfangreiche Änderungsbedarf nicht zuletzt aus
einer Vielzahl von Anregungen, unter anderem des Bundesrechnungshofes, des Petitionsausschusses, der Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie der Sozialversicherungsträger und nicht zuletzt auch als Konsequenz
aus der Rechtsprechung. Weiterhin seien noch viele redaktionelle Änderungen erforderlich.
Mit dem Gesetzentwurf wird eine Reihe von Zielen
verfolgt; die wichtigsten möchte ich hier gern noch einmal benennen: die Schaffung eines Anhörungsrechtes
für die Gewerkschaften zum ELENA-Datensatz, eine
Fristsetzung für die Fusion einzelner Berufsgenossenschaften, die Umsetzung eines Vorschlags des Petitionsausschusses zur Berücksichtigung von Arbeitseinkommen beim Verletztengeld und die Vereinfachung des
Verfahrens bei Entscheidungen über die Prozesskostenhilfe.
Uns liegt zu diesem Gesetzentwurf auch eine Stellungnahme des Bundesrates vor. In dieser werden einige
der geplanten Änderungen kritisiert, beispielsweise dass
die vorgesehene Beschränkung des Anhörungsrechts bei
ELENA ausschließlich auf den Deutschen Gewerkschaftsbund beschränkt werden soll. Die Bundesländer
fordern stattdessen ein solches Recht für alle Gewerkschaften. Weiterhin hält die Länderkammer die vorgesehenen Fristen für die Fusion einiger Berufsgenossenschaften für „zu knapp bemessen“. Darüber hinaus regt
der Bundesrat einige Klarstellungen und Prüfungen an.
In ihrer Gegenäußerung lehnt die Bundesregierung die
Vorschläge des Bundesrates jedoch weitgehend ab.
Aus Perspektive der Linken ist der Gesetzentwurf unproblematisch. Bei den Vorgaben zu den Fristen zur Fusion einiger Berufsgenossenschaften sehen wir keinen
dringlichen Veränderungsbedarf. Zur Forderung nach
einer Ausweitung des Anhörungsrechts bei ELENA
- wenn Sie mir diese Bemerkung an dieser Stelle gestatten -: ELENA an sich sehen wir als Linke nach wie
vor mehr als kritisch; denn während die bei ELENA
schon heute ersichtlichen Risiken in erster Linie im
Bereich des Datenschutzes riesig sind, zeigen sich die
vermeintlichen Vorteile ziemlich mickrig. Die Frage der
Gewerkschaften sollte auf alle Fälle im Zuge der anstehenden weiteren parlamentarischen Beratung noch einmal erörtert werden.
Auf einen Punkt möchte ich noch näher eingehen: Sicher haben auch Sie von verschiedenen Krankenkassen
Schreiben erhalten, in denen darauf hingewiesen wurde,
dass im Referentenentwurf vorgesehen war, die durch
das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegte Einführung von
sogenannten Weiterleitungsstellen wieder zu streichen.
Um es noch einmal zu erläutern: Für Sozialversicherungsbeiträge waren ab 2011 zentrale Weiterleitungsstellen geplant. Die Vorstellung „einer Beitragseinzugsstelle“ für alle SV-Beiträge stand bei dieser Regelung
Pate - ganz gleich, bei welchen Kassen die Arbeitnehmer versichert sind. Der Vorteil für die Arbeitgeber läge
auf der Hand. Arbeitgeber hätten nur noch mit einer
Stelle zu tun. Es würde keine Rolle mehr spielen, bei welchem Versicherungsträger die Arbeitnehmer krankenversichert sind. Die Kassen kritisieren diese zusätzliche
Stelle als „kostenintensive Doppelstruktur“; auch die
Arbeitgeberverbände sähen aufgrund der modernen Datentechnik keinen Vorteil mehr, was nun insgesamt die
Einrichtung von Weiterleitungsstellen überflüssig oder
gar kontraproduktiv macht.
Dieses Vorhaben wurde verständlicherweise von den
Krankenkassen begrüßt: Nun taucht es allerdings im
vorliegenden Gesetzentwurf nicht wieder auf. Hierzu
wären im weiteren parlamentarischen Verfahren im Ausschuss die Hintergründe und Begründungen zu klären.
Wir haben uns in den letzten Wochen viel mit den internationalen Finanzmärkten und mit der durch Spekulation entstandenen Unsicherheit beschäftigt. Das war
gut und notwendig. Die EU hat damit begonnen, den
Zockern an den Finanzmärkten die Rote Karte zu zeigen.
Wir müssen denen, die keine echten Werte schaffen, sondern eher als Scharlatane unterwegs sind, sehr deutlich
machen, dass sie nicht auf die Solidarität unserer Gesellschaft zählen dürfen.
Ganz anders sieht es mit den vielen Millionen hart arbeitenden Menschen in Deutschland aus. Sie zahlen regelmäßig Beiträge in unsere Sozialversicherungen und
haben ein gutes Recht darauf, dass die Politik diese Systeme auch gesetzgeberisch immer auf dem neuesten
Stand hält. So können Unsicherheiten in der Rechtsanwendung vermieden und Kosten der Bürokratie gesenkt
werden. Auch die eine oder andere Anpassung redaktioneller Natur aufgrund von Anmerkungen, zum Beispiel
aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ist notwendig.
Die Fusionen bestimmter Berufsgenossenschaften auf
freiwilliger Basis sind in den letzten Jahren erfolgreich
gewesen. Das spart Verwaltungskosten, und dieser Weg
muss fortgesetzt werden. Wir dürfen allerdings dort, wo
auf freiwilliger Basis keine Verbesserungen erfolgt sind,
auch nicht davor zurückschrecken, gegebenenfalls auf
gesetzgeberischem Wege für Fusionen zu sorgen; denn
es geht um den effektiven Einsatz von Sozialversicherungsbeiträgen. Das ändert nichts daran, dass der Vorrang der Selbstverwaltung sich in der gesetzlichen
Unfallversicherung bewährt hat. Der Gesetzentwurf bestimmt neben den zu fusionierenden Berufsgenossenschaften nur eine Frist, bis zu der die Fusion zu erfolgen
hat. Ein großes Maß an Eigenverantwortung und Selbstverwaltung ist also gesichert.
Nicht nur der Datenschutz allgemein, sondern auch
und gerade der Sozialdatenschutz sollte uns allen ein
besonderes Anliegen sein; denn derjenige, dessen Daten
hier verarbeitet werden, kann nicht darüber bestimmen,
Zu Protokoll gegebene Reden
ob seine Daten erfasst werden. Als in den Sozialversicherungssystemen versicherter Arbeitnehmer muss er
hinnehmen, dass Daten erhoben und erfasst werden.
Umso wichtiger ist es, sicherzustellen, dass alle mit den
Daten in Kontakt kommenden Institutionen regelmäßig
überprüft werden. Es muss sichergestellt sein, dass alle
organisatorischen und technischen Maßnahmen getroffen worden sind, die einen Missbrauch oder eine unnötige Weitergabe von Daten verhindern. Hierzu gehört
auch eine angemessene Bußgeldbewährung bei einem
Verstoß gegen die Informationspflicht bei unrechtmäßiger Erlangung der Kenntnis von Sozialdaten.
Unser sozialpartnerschaftliches Modell der sozialen
Sicherung ist international ein Exportschlager. Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick nicht sexy. Aber es ist
sicher, krisen- und zukunftsfest. Die gesetzliche Unfallversicherung, die wir hier in kleinen Details verbessern,
wird zum Beispiel in China gerade in großen Schritten
eingeführt. Hunderttausende Menschen kommen dort
pro Jahr in eine gesetzliche Unfallversicherung nach
deutschem Vorbild. Auf diesem Erfolg dürfen wir uns
nicht ausruhen; aber darauf kann man Stolz sein. Solidität wird auf Dauer über windige Geschäftemacher siegen, die Menschen damit ködern, dass mit null Einsatz
15 Prozent Rendite zu erwirtschaften sind. Lassen sie
uns Deutschland zur sozialen und ökologischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts machen, die es nicht nötig hat, sich im Kasinokapitalismus zu verzocken.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1684 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen
- Drucksache 17/1763 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegin-
nen und Kollegen Ingbert Liebing und Josef Göppel,
CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Angelika Brunkhorst,
FDP, Sabine Stüber, Die Linke, und Dr. Valerie Wilms,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 4
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1763 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Deutsches Historisches Museum“
- Drucksache 17/1400 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1})
- Drucksache 17/1751 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl ({2})
Reiner Deutschmann
Claudia Roth ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Thomas Strobl von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zugegeben, es hat etwas länger gedauert;
aber heute ist es so weit.
({0})
Nach intensiven und kontroversen Beratungen innerhalb
dieses Hohen Hauses, aber auch außerhalb des Parlaments können wir die Gesetzesnovelle zum Deutschen
Historischen Museum heute zum Abschluss bringen.
Zentral geht es um folgende Frage: Wie kann die geplante Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“,
die dem Gedenken einer der schrecklichen Entwicklungen im Kontext der nationalsozialistischen Expansion
und Vernichtungspolitik und ihren Folgen gewidmet ist,
am sinnvollsten organisiert werden, um den Anspruch
von Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu erfüllen? Die dem Bundestag nun vorliegende Novelle hat,
wie ich finde, auf diese Frage eine sehr gute Antwort gefunden und verdient deshalb, mit großer Mehrheit angenommen zu werden.
({1})
Es gilt, auch und gerade mit Blick auf den eigentlichen
Kerngedanken des Gesetzes, nämlich die Versöhnung,
zu handeln. Zur Versöhnung kommt es durch ErinneThomas Strobl ({2})
rung, vor allem aber durch objektive Aufarbeitung des
Vergangenen.
Ich möchte es noch einmal in Erinnerung rufen: Nicht
beabsichtigt sind qualitative, inhaltliche Änderungen zur
ersten Fassung des Gesetzes aus dem Jahre 2008. Bei der
im Mittelpunkt der Novelle stehenden unselbstständigen
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll es um
rein organisatorische Änderungen gehen. Beispielsweise
wird der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder vergrößert. Auch dem wissenschaftlichen Beraterkreis sollen
mehr Personen angehören, und zwar bis zu 15 Personen
anstatt der bisher maximal neun Personen. Dadurch soll
eine Verbreiterung des wissenschaftlichen Spektrums erreicht werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf eine internationale Besetzung.
In diesem Zusammenhang sind zuletzt immer wieder
Vorwürfe erhoben worden, durch diese Verbreiterung
würde dem Bund der Vertriebenen ein zu großer Einfluss
eingeräumt und es sei eine Majorisierung des Stiftungsrates durch die Vertriebenenorganisation zu befürchten.
Dies ist nachgerade absurd.
({3})
Ich will gerne kurz Nachhilfe in Sachen Mathematik erteilen, die man insbesondere bei der Linken nötig zu haben scheint. Majorisierung, also Dominanz im Sinne einer Mehrheitsherrschaft, läge in einem Gremium von
21 Personen bekanntlich erst ab einer Anzahl von mindestens zwölf Mitgliedern vor. Das ist das Doppelte des
Anteils, den das Stiftungsgesetz für Vertreter des Vertriebenenbundes vorsieht. Sechs Mitglieder darf der Bund
der Vertriebenen stellen, was - wie immer man es auch
drehen und wenden und welch obskure Rechenkunststückchen man auch anstellen mag - bei 21 Mitgliedern
ganz bestimmt keine Mehrheit darstellt, sondern weniger
als ein Drittel, also eine deutliche Minderheit.
Richtig ist lediglich, dass der Bund der Vertriebenen,
wie übrigens andere Organisationen auch, zahlenmäßig
stärker im Stiftungsrat vertreten sein wird. Das ist aber
doch nur recht und billig; denn wer, wenn nicht die Vertriebenen selbst, hat allen moralischen Anspruch auf angemessene Berücksichtigung in einer Stiftung, die der
Aufarbeitung der Tragödie Vertreibung dienen soll!
({4})
In den Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ gehören deshalb notwendigerweise, ja zuvörderst
die Vertriebenen selbst. Ansonsten machte die Veranstaltung keinen Sinn, sie wäre eine Farce.
Dem stimmt übrigens - wofür ich sehr dankbar bin prinzipiell der Vizepräsident dieses Hohen Hauses, der
Kollege Wolfgang Thierse, zu. In einem vor wenigen Tagen erschienenen Zeitungsbeitrag hebt der SPD-Kollege
die Rolle hervor, die die Vertriebenen in der Geschichte
unserer Republik gespielt haben. Er beschreibt und
rühmt zu Recht die von den Heimatvertriebenen und
Entrechteten geleistete Hilfe beim Wiederaufbau nach
1945. Er betont das rastlose Engagement dieser Millionen Bundesbürger zugunsten der Versöhnung und der
Völkerverständigung und bezeichnet es als mustergültig,
was von dieser Gruppe in gesamtstaatlichem Interesse
erreicht wurde.
({5})
Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Die Vertriebenen
sind ganz wesentlich mit dafür verantwortlich, dass aus
der nun über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Es
gilt, diese bemerkenswerte Leistung hervorzuheben. Es
soll deshalb betont werden, wie beeindruckend es ist,
dass eine Gruppe von Bundesbürgern mit besonderer
Leiderfahrung sich zu keinem Zeitpunkt ins Schneckenhaus der Selbstbemitleidung zurückgezogen hat, sondern
seit Jahrzehnten politisch konstruktiv und offen am Bau
des gemeinsamen Hauses Europa, das unser Schicksal
und unsere Zukunft gleichermaßen ist, mitarbeitet.
({6})
Dass nun diese Gruppe und der von Frau Kollegin
Steinbach so engagiert geführte Verband vor dem geschilderten Hintergrund alles Recht der Welt haben, die
eigene Stimme zu erheben, wenn es darum geht, die Erinnerung an das erfahrene Unrecht und Leid wachzuhalten, ist für mich klar und die logische Konsequenz aus
dem zuvor Gesagten. Das, denke ich, haben die Heimatvertriebenen verdient. Ich finde, das schulden wir ihnen
über alle Parteigrenzen hinweg.
({7})
Die im Geiste der Versöhnung gehaltene Stiftung, die
durch die Novelle übrigens auch eine höhere demokratische Legitimation bekommt, weil die Mitglieder vom
Bundestag und nicht länger von der Bundesregierung berufen werden, kann nun ihre verantwortungsvolle Arbeit
aufnehmen.
({8}))
Dass sie das rasch tun kann, ist zu wünschen; denn unsere gesamte Gesellschaft in Deutschland und darüber
hinaus wird von der Stiftungsarbeit profitieren.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
wiederhole, was ich schon mehrfach gesagt habe: Die
SPD-Fraktion steht grundsätzlich hinter dem Stiftungsprojekt „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“.
({0})
In der Koalitionsvereinbarung von 2005 hatten wir
mit der CDU/CSU das Sichtbare Zeichen verankert und
2008 die Konzeption und den Gesetzentwurf für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ auf den Weg gebracht und verabschiedet. An allem habe ich maßgeblich
mitgewirkt.
Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages von
2008 ist die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in ein
neues Stadium übergegangen. Das Parlament hat sie zu
seiner Sache gemacht. Sie ist nicht mehr Eigentum der
professionellen Vertriebenen des BdV und ist deren ideeller und moralischer Verwaltung und vor allem jedwedem Alleinanspruch entzogen. Bei allen Verdiensten der
Vertriebenen in der Geschichte der Bundesrepublik ist
dies ein neuer Schritt; das ist ganz wichtig. Der Deutsche
Bundestag hat die Erinnerung an diesen Teil deutscher
und europäischer Geschichte zur Angelegenheit der gesamten Republik, der gesamten Gesellschaft gemacht.
Deshalb darf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht der verlängerte Arm der Vertriebenen sein.
Dem widerspricht die jetzt vorgesehene Verdoppelung
der Sitze des BdV im Stiftungsrat.
({1})
Ziel der Stiftung ist einerseits, an die Opfer von Flucht
und Vertreibung zu erinnern, und andererseits - das war für
die Sozialdemokraten immer der maßgebliche Aspekt -,
durch historische Wahrheit zur Versöhnung beizutragen.
({2})
Diesem Anliegen hat der quälende Streit um die Beteiligung Erika Steinbachs im Stiftungsrat geschadet, wie an
den Rücktritten des polnischen Historikers Tomasz
Szarota, der tschechischen Wissenschaftlerin Kristina
Kaiserova und von Helga Hirsch als Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats deutlich geworden ist.
({3})
Die Ausweitung des Einflusses des Bundes der Vertriebenen durch die Erhöhung der Mitgliederzahl im
Stiftungsrat trägt nicht dazu bei, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen.
({4})
Das Gegenteil ist der Fall. Statt Vertrauen in das Projekt zu schaffen, was ich mir wünsche, gibt die Gesetzesnovellierung eher Anlass zu Misstrauen. Natürlich können wir als Abgeordnete schwerlich etwas dagegen
haben, dass künftig der Deutsche Bundestag über die
Besetzung des Stiftungsrates entscheidet. Selbstverständlich nicht! Aber durch die Blockabstimmung aller
Mitglieder des Stiftungsrates bleibt - ganz nüchtern betrachtet - der Einfluss des Deutschen Bundestages auf
die Besetzung doch eher gering. Es ist auch schwerlich
etwas dagegen einzuwenden, dass die Anzahl der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates erhöht wird.
Aber diese Änderung und die Erhöhung der Anzahl der
Stiftungsratsmitglieder sind doch lediglich kosmetische
Änderungen, die verbergen sollen, dass der Einfluss des
BdV ausgeweitet werden soll. Deswegen haben doch
Frau Steinbach und der BdV das so begrüßt: weil sie
mehr Einfluss als Erfolg sehen. Das soll nun ein bisschen kaschiert werden.
Die vorliegende Gesetzesänderung ist eben das Ergebnis eines erfolgreichen Erpressungsversuchs des BdV.
Daran führt kein Weg vorbei.
({5})
Den zwischen BdV und Bundesregierung erzielten
Kompromiss hatten wir bereits im Februar deutlich kritisiert. Deshalb werden wir dem jetzt in Gesetzestext gegossenen Ergebnis nicht zustimmen.
Der ganze Vorgang ist - das kann ich Ihnen nicht ersparen - für die Regierungskoalition durchaus peinlich.
Deshalb ist nachvollziehbar, dass die CDU/CSU-Fraktion den Gesetzentwurf ursprünglich ohne Debatte stillschweigend durchwinken wollte. Dabei hätte, liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Änderung des Stiftungsgesetzes auch Chancen für einen Neuanfang der Stiftung
bedeuten können; das hat meine Kollegin Angelica
Schwall-Düren in der Ersten Lesung ausführlich dargelegt. Deswegen nenne ich nur einige Stichworte: Warum
ist nur der BdV im Stiftungsrat vertreten und nicht auch
andere Vereine oder Projekte, die seit Jahren erfolgreiche Versöhnungsarbeit leisten? Es gibt viel mehr als den
BdV. Warum sind nicht ausländische Vertreter im Stiftungsrat, sondern nur im wissenschaftlichen Beirat, warum nicht auch ein Vertreter der muslimischen Gemeinschaft?
({6})
Diese sinnvollen Änderungen waren nicht möglich, weil
die Bundesregierung neuerlich mit dem BdV hätte verhandeln müssen. Das zeigt einmal mehr die ganze Peinlichkeit des Streits.
Der Streit hat es nicht leichter gemacht, das Projekt
zum Erfolg zu führen. Dieses Projekt kann nur gelingen
- und ich wünsche mir das Gelingen des Projektes -,
wenn es nicht ein nationales, sondern ein nachbarschaftlich europäisches Projekt wird.
({7})
Dabei geht es nicht darum, wie in vielen Zuschriften immer wieder behauptet und vom BdV befeuert, dass polnische oder tschechische Wissenschaftler den Deutschen
ihr Geschichtsbild diktieren wollten. Zur historischen
Wahrheit gehört nicht nur die Sichtweise der professionellen Vertriebenen, sondern auch die Perspektive unserer europäischen Nachbarn.
({8})
- Sie wissen genau, wen ich meine.
({9})
Wie kann das Projekt jetzt noch gelingen? Ausgewiesene Experten mit internationalem Ruf müssen ermuntert werden, im wissenschaftlichen Beirat mitzuarbeiten.
Dabei kann an die erfolgreiche Arbeit internationaler
Expertengremien angeknüpft werden. Seit Jahren arbeiten deutsche, polnische und tschechische Wissenschaftler in Historikerkommissionen gemeinsam an dem
Thema. Bisher wurde es versäumt, diese Arbeit für die
Stiftung ausreichend nutzbar zu machen.
Wir brauchen endlich einen diskussionswürdigen Entwurf für die Ausstellungskonzeption. Seit der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes im Herbst 2008 gibt es
keine bemerkbaren Fortschritte. Zahlreiche Fragen sind
nach wie vor ungeklärt. Was soll in der Ausstellung dargestellt werden? Welches Wissen soll sie vermitteln?
Wie soll sich diese Ausstellung von anderen Ausstellungen zu dem Thema unterscheiden? Welche Vertreibungsgeschichten sollen dargestellt werden? Diese Fragen
sollten gemeinsam mit anderen, mit internationalen renommierten Historikern diskutiert werden.
({10})
Wir Sozialdemokraten werden alles uns Mögliche und
Erlaubte dafür tun, dass das uns wichtige Anliegen, der
Opfer von Flucht und Vertreibung im Geiste der Versöhnung zu gedenken, umgesetzt wird.
In Deutschland brauchen Erinnerungs- und Gedenkprojekte einen langen Atem. Das zeigen das Holocaustmahnmal und die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. Der Streit und die Debatten darüber
haben jeweils viele Jahre gedauert. Das hat aber nicht
geschadet, im Gegenteil. Die Diskussion auch über dieses Projekt muss offen und gemeinsam mit unseren
Nachbarn geführt werden. Die deutsche Geschichte gehört nun einmal nicht nur uns Deutschen. Sie ist eine europäische Angelegenheit. Das ist auch in Ordnung so.
({11})
Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Herzlich begrüße ich - das sei mir erlaubt - meine Eltern an diesem
späten Abend.
({0})
Meine Damen und Herren, man kann nicht behaupten,
dass dieses Thema heimlich an der Öffentlichkeit vorbeigegangen ist. Vorbeigegangen aber sind aufgrund der personellen Diskussionen und aller anderen Debatten, die
geführt worden sind, der ernsthafte Hintergrund und die
Notwendigkeit dieser Gesetzesänderung. Wie notwendig
die Rückkehr zur Versachlichung der Diskussion ist, erkennt man leider auch an den Begrifflichkeiten, die hier
zum Teil gebraucht werden. Herr Thierse - wir arbeiten in
anderen Gremien sehr gut zusammen -, ich finde es nicht
richtig, wenn Sie der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag allen Ernstes bei einer derart sensiblen
Debatte und in diesem historischen Kontext vorwerfen,
erpressbar zu sein.
({1})
Es ist nicht richtig, hier das Wort Erpressung zu verwenden.
({2})
Ich habe mir einmal angeschaut, was das Wort Erpressung - Sie haben das heute auch in einer Pressemitteilung verwendet - eigentlich bedeutet. Ein wesentliches Merkmal der Erpressung ist, dass der Erpresser in
verwerflicher und eigensinniger Gesinnung einen Vorteil
für sich selbst einseitig und zum Schaden des Erpressten
erstrebt.
({3})
Das heißt, er profitiert von etwas. - Schauen wir uns einmal an, wer hier profitiert. Die Kirchen profitieren. Der
Zentralrat der Juden profitiert. Der BdV profitiert, und
der Deutsche Bundestag profitiert. Sind das alles Erpresser?
({4})
Der wissenschaftliche Beraterkreis wird spürbar vergrößert. Der größte Profiteur ist der Stiftungszweck
selbst, weil die Meinungsbildung im Stiftungsrat auf ein
breiteres gesamtgesellschaftliches Fundament gestellt
wird.
({5})
Die wissenschaftliche Fundiertheit wird wesentlich besser gewährleistet. Die Besetzung des Stiftungsrates ist
jetzt demokratischer gestaltet, weil der Bundestag die
Mitglieder wählt. Die Tatsache, dass er eine Gesamtliste
wählt, ist keine Ausnahme, sondern bei solchen Entscheidungen die Regel.
({6})
Patrick Kurth ({7})
Von daher bitte ich Sie, Herr Thierse, und vielleicht
auch nachfolgende Rednerinnen und Redner: Gehen Sie
in solch sensiblen Debatten bitte sorgsam mit Begriffen
wie „Erpressung“ um. Sie diskreditieren sonst das gute
und umsichtige Ergebnis und von vornherein die Arbeit
der Stiftung im In- und Ausland.
({8})
Ich bitte Sie, zur sachlichen Debatte zurückzukehren.
Wir reden über „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Das
ist der Name der Stiftung. Der FDP geht es dabei um
zwei gleichberechtigte Absichten, um zwei gleichberechtigte Interessen. Erstens geht es uns um Vergangenheitsbetrachtung und Erinnerung, ja. Zweitens geht es
uns darum, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, und
um die Zukunftsausrichtung aktueller Politik. Wir betreiben die Aufarbeitung im Rahmen dieser Stiftung - das
ist auch bei ähnlichen Projekten unser Anspruch - nicht
nur wegen der notwendigen Vergangenheitsbewältigung
oder wegen des erforderlichen Erinnerns, sondern wir
betreiben diese Aufarbeitung auch, um auf die Zukunft
gerichtet urteilsfähig zu bleiben. Urteilsfähigkeit heißt in
diesem Zusammenhang, aus den historischen Ereignissen Konsequenzen für unser zukünftiges Handeln und
für unsere Beurteilungskraft zu ziehen.
Zur Vergangenheitsbetrachtung: Wir wissen - das ist
unbestritten - um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass
das Deutsche Reich einen furchtbaren Krieg mit einem
bis dahin unbekannten Ausmaß an Verbrechen über Europa gebracht hat. Aber wir wissen auch um die Schrecken der Vertreibung und die schrecklichen Folgen, die
diese Flucht mit sich brachte. In der gesamten Diskussion - auch bei der Stiftung - darf es nicht darum gehen,
Krieg und Kriegsfolgen gegeneinander aufzurechnen.
Die Verbrechen der Deutschen werden nicht kleiner
durch Verbrechen an Deutschen, und die Verbrechen der
Deutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen.
Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen.
({9})
Leid und Schuld sind immer individuell. Aber - auch
das muss gesagt werden - der Holocaust und die Taten
der Naziherrschaft haben einen herausragenden Stellenwert und müssen diesen herausragenden Stellenwert
immer besitzen.
Zur Zukunftsausrichtung: Um es klar zu sagen: Wenn
man die Behandlung des Themas Vertreibung ausschließlich tatsächlich Vertriebenen überlässt, ist das
Thema in gar nicht allzu ferner Zeit aus dem gesellschaftlichen Verständnis heraus.
({10})
Das geht natürlich nicht. Das Thema muss wach bleiben,
weil Vertreibung auch heute noch ein vorhandenes und
bestehendes Problem ist. Nicht nur die Vertreibung der
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg soll thematisiert
werden, sondern auch das Schicksal von Vertriebenen
anderer Nationen. Dies ist bis heute aktuell und hält bis
heute an.
Die Stiftungsorgane müssen jetzt so schnell wie möglich ihre Arbeit aufnehmen. Die Stiftung muss jetzt
anfangen, zielgerichtet inhaltliche Arbeit zu leisten. Der
bis jetzt bestehende Schwebezustand, der die Stiftung
auch in der internationalen Wahrnehmung schwächt,
muss so schnell wie möglich beendet werden. Ich bitte
Sie deshalb alle um Ihre Zustimmung zu dieser gelungenen Novelle.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
total leeren Tribünen - mit Ausnahme der Eltern des
Kollegen Kurth, die dankenswerterweise da sind - diskutieren wir jetzt als letzten Tagesordnungspunkt über
eines der großen Themen der Erinnerungskultur. Ich
finde, die Art, wie wir darüber diskutieren, ist dem nicht
angemessen. Statt eine groß angelegte Debatte mit der
Öffentlichkeit zu führen, treibt die Regierungskoalition
ihren Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchs Parlament.
({0})
Der Grund: So soll ein Skandal versteckt werden.
({1})
- Doch: Der Skandal der Erpressung der Bundesregierung durch den Bund der Vertriebenen.
({2})
Alle Hauptpunkte des neuen Gesetzes gehen auf Forderungen des Bundes der Vertriebenen zurück, der sich
als Interessenvertretung damit eine Bundesstiftung zur
Beute macht.
({3})
Die sechs Vertreter des Bundes der Vertriebenen - ich
bleibe dabei; ich kann rechnen - dominieren als größte
Einzelgruppe den Stiftungsrat, während zum Beispiel
der Bundestag nur vier Vertreter in den Stiftungsrat entsenden darf.
({4})
Während im geltenden Gesetz ein zweistufiges Berufungsverfahren festgelegt war - die Organisationen benennen, aber das Kabinett entscheidet über die Benennungen und beruft -, darf der Bundestag jetzt nur über
ein fertiges Personalpaket mit 21 feststehenden Benennungen entscheiden. Zitat:
Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der
nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann.
„Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt“, das
nenne ich ein völlig undemokratisches Verfahren.
({5})
Während es von den Koalitionsfraktionen auch noch als
besonderes Beispiel für Transparenz und als Stärkung
der Rolle des Parlaments verkauft wird, nenne ich es
eine Missachtung des Parlaments.
({6})
Ich frage mich, welche Abgeordnete und welcher Abgeordnete mit ein bisschen Selbstrespekt so etwas mit sich
machen lässt.
Was ist aus dem prestigereichen Vorhaben mit dem
Motto „Sichtbares Zeichen“ von 2005 geworden? Ein
Geschacher über die Personalie Steinbach. Eine Beschädigung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ein Gründungsdirektor, der behauptet, dass in der Geschichte der
Bundesrepublik - wohlgemerkt: der Bundesrepublik das Schicksal der Vertriebenen nicht angemessen behandelt worden sei. Eine Institution, die von internationalen
Wissenschaftlern verlassen wurde. Insgesamt ein Schadensfall für die Erinnerungspolitik.
Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist
wahrlich auf einem schlechten Weg. Die parlamentarische Zustimmung hat dramatisch abgenommen. Während das vorige Gesetz vom Dezember 2008 mit der
Zustimmung der Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP bei Enthaltung der Grünen verabschiedet wurde
und nur die Linksfraktion es ablehnte, ist das heute ganz
anders.
({7})
Sie haben immer gesagt, es gehe Ihnen um große
Zustimmung des Parlaments. Sie wissen ganz genau,
dass Sie diese große Zustimmung des Parlaments nicht
haben: Alle drei Oppositionsparteien lehnen heute die
Gesetzesänderungen ab.
({8})
Das sind über 46 Prozent, fast die Hälfte der Abgeordneten.
({9})
Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist jetzt
ein reines CDU/CSU-FDP-Projekt. Das mag die Koalitionsfraktionen nicht stören; doch nach dem heutigen
Abend können sie nicht mehr behaupten, dass diese
Institution der Erinnerungskultur von einer großen
Mehrheit des Bundestages gewollt sei. Das ist eigentlich
das Einzige, was heute gut ist, und einiger Trost an diesem Abend.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Gesetzesnovelle zur Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist reine Camouflage;
({0})
denn hier werden Tatsachen beschönigt und nicht beim
Namen genannt. Es geht doch nicht wirklich darum, „der
Komplexität der Aufgabenstellung“ der Stiftung „besser
Rechnung zu tragen“, wie es in dem Entwurf hochtrabend heißt. Es geht einzig und allein darum, einen Streit
innerhalb der Koalition durch einen faulen Kompromiss
beiseitezuschieben. Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie
das eingestehen.
({1})
Kanzlerin Merkel ließ den Konflikt um die Ansprüche von Frau Steinbach und ihres Bundes der Vertriebenen monatelang treiben, ohne politisch zu entscheiden.
Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich weg und riskierte damit eine Verschlechterung
der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist Ausdruck der
Schwäche und der Handlungsunfähigkeit der Regierung
Merkel/Westerwelle. Er wird dem Stiftungszweck nicht
gerecht.
({2})
Wenn es wirklich um die Sache ginge, dann wäre jetzt
ein Neustart des Projektes nötig gewesen, durch den das
ursprüngliche Anliegen der Stiftung wieder in den Vordergrund gerückt worden wäre, nämlich die Versöhnung
und die Darstellung der europäischen Dimension von
Flucht und Vertreibung.
({3})
Ich frage mich: Warum muss die Zahl der Vertreter
des Bundes der Vertriebenen im Stiftungsrat von drei auf
sechs verdoppelt werden, während andere Gruppen gar
nicht vertreten sind, Gruppen, die in besonderem Maße
Opfer von Vertreibung waren, wie zum Beispiel Roma
und Sinti?
({4})
Wer im 20. Jahrhundert über Flucht und Vertreibung redet, der kommt auch an Muslimen als Opfer nicht mehr
vorbei.
Um das Einknicken vor den Ansprüchen von Frau
Steinbach zu kaschieren, musste die Koalition eine noch
stärkere Vergrößerung des Stiftungsrates von 13 auf jetzt
vorgeschlagene 21 Mitglieder vornehmen. Doch die
Erfahrung zeigt, dass sich mit einer solchen Ausweitung
die Handlungsfähigkeit eines Gremiums nicht verbessert, sondern dass die Abläufe noch komplizierter werden.
({5})
Dass statt zwei nunmehr vier Mitglieder des Deutschen Bundestages dem Stiftungsrat angehören sollen,
ist nur auf den ersten Blick positiv zu bewerten. Offen
bleibt ja, welche Fraktionen einbezogen werden sollen.
({6})
Stark kritikbedürftig ist auch das Wahlverfahren; Frau
Jochimsen hat es gesagt.
({7})
Es ist nicht demokratisch, sondern folgt dem Prinzip
„Friss, Vogel, oder stirb“, wenn dem Deutschen Bundestag ein Listenvorschlag unterbreitet wird, der nur unverändert angenommen oder abgelehnt werden kann. Ein
selbstbewusstes Parlament kann eine derartige Regelung
nicht zulassen.
({8})
Es gibt Anlass zu großer Sorge, dass sich die ausländischen Vertreter aus dem wissenschaftlichen Beirat der
Stiftung zurückgezogen haben;
({9})
denn ohne eine angemessene Beteiligung von renommierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nachbarländern verliert die Stiftung ihre Glaubwürdigkeit
und kann sie nicht funktionieren.
Die Stiftung braucht, wie gesagt, keine Camouflage
für einen faulen Kompromiss, sondern einen ernsthaften
und grundlegenden Neustart, mit dem der pro-europäische Versöhnungsgedanke gestärkt wird.
({10})
In der vorgelegten Form lehnt die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen die Novelle ab.
Vielen Dank.
({11})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigen
Beschlussfassung über den vorliegenden Gesetzentwurf
wird endlich das Kapitel einer langwierigen und alles
andere als einfachen Diskussion darüber abgeschlossen,
wie der Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ besetzt werden soll. Der heute vorliegende
Gesetzentwurf ist ein guter und ausgewogener Kompromiss, der meines Erachtens von allen Beteiligten getragen werden kann, die an den Verhandlungen beteiligt
waren.
({0})
Ich bin insbesondere froh darüber, dass mit der heutigen Beschlussfassung endlich auch die Zeit der Irritationen und der Verunsicherungen darüber zu Ende geht,
wie es mit dem Ausstellungs-, Dokumentations- und Begegnungszentrum im Deutschlandhaus am Anhalter
Bahnhof hier in Berlin weitergehen soll. Damit werden
Gott sei Dank aber auch all diejenigen in Deutschland
und andernorts Lügen gestraft, die dachten, man müsse
der Stiftung und dem Begegnungszentrum nur genügend
Klötze zwischen die Beine werfen, dann würden diese
schon scheitern. Das Zentrum gegen Vertreibung wird
entstehen, und es wird unter einer stärkeren Beteiligung
derjenigen entstehen, die am stärksten und am intensivsten mit dem Thema verbunden sind, nämlich der Vertriebenen und deren Nachkommen.
Herr Kollege Thierse, ich muss schon sagen: Ich persönlich finde es unsäglich, dass Sie hier von „professionellen Vertriebenen“ gesprochen haben.
({1})
Sie werden damit dem Leid und dem Schicksal von
15 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden oder flüchten mussten, in keiner
Weise gerecht.
({2})
Ich finde dies umso unerträglicher - das sage ich an
dieser Stelle auch ganz deutlich -, da ich weiß, dass Sie
in Breslau geboren wurden. Man muss einfach darauf
hinweisen, dass nicht derjenige vertrieben wurde, der
persönlich Schuld auf sich geladen hatte, sondern ob
man vertrieben wurde oder nicht, hing einzig und allein
von dem Umstand ab, ob man in dem - in Anführungszeichen - falschen Wohnort lebte oder nicht.
Stephan Mayer ({3})
({4})
Es gilt, auch das an dieser Stelle zu sagen. Hier von
„professionellen Vertriebenen“ zu sprechen, halte ich für
herabwürdigend. Ich kann nur mein Unverständnis und
Kopfschütteln zum Ausdruck bringen. Ich finde es erbärmlich.
({5})
Ebenso unerträglich und unverschämt finde ich, dass
Sie das Wort Erpressung in den Mund nehmen. Erpressung ist ein Straftatbestand. Mit was hätte denn der BdV,
der Bund der Vertriebenen, erpressen sollen? Er hatte
doch gar kein Erpressungspotenzial.
({6})
Das sagen Sie, Herr Thierse, als jemand, der vor kurzem
selber straffällig geworden ist. Das halte ich für eine
Brüskierung.
({7})
Die SPD und auch die anderen Oppositionsfraktionen
haben heute deutlich gezeigt, welch Geistes Kind sie
sind.
({8})
Dies finde ich umso bedauerlicher, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, als es Peter Glotz
war, ein hochanerkannter und hochprofilierter Politiker
aus Ihren Reihen, der zusammen mit Erika Steinbach im
Jahr 2000 die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“
gegründet hat.
({9})
Gerade deshalb hätte ich persönlich es für außerordentlich nachvollziehbar und gut verständlich gehalten, wenn die Dame, auf deren Initiative das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin entsteht, im Stiftungsrat
hätte mitarbeiten dürfen. Das war leider nicht möglich.
({10})
Aber es war keine Erpressung, sondern ein Akt des
Aufeinanderzugehens, dass der BdV und insbesondere
seine Präsidentin die Hand ausgestreckt und damit erst
die Grundlage für den jetzt gefundenen Kompromiss geschaffen haben.
({11})
Frau Steinbach, eine hochanerkannte, profilierte und insbesondere - das möchte ich an dieser Stelle betonen - integre Kollegin, hat die Hand ausgestreckt.
({12})
Dennoch ist es richtig, dass mit diesem Kompromiss
eine deutlich verstärkte Vertretung der Vertriebenen der
22 Landsmannschaften des BdV im Stiftungsrat möglich
ist. Das möchte ich an dieser Stelle sagen, weil hier die
Frage aufgeworfen wird, warum nicht die anderen Vertriebenenorganisationen, sondern der BdV zum Zuge
kommt.
Der BdV ist nun einmal der Dachverband der Heimatvertriebenen in Deutschland.
({13})
Man kann darüber streiten, wie viele Mitglieder er hat.
Ich sage aber offen: Egal, ob es 2 Millionen oder
1,5 Millionen sind, der BdV ist und bleibt die Dachorganisation von 22 Landsmannschaften der Heimatvertriebenen in Deutschland und hat deshalb aus meiner Sicht
das Recht, im Stiftungsrat entsprechend vertreten zu
sein.
({14})
Um was ging es Ihnen in dieser Diskussion? Ihnen
ging es doch nur darum, den BdV zu diskreditieren.
({15})
Ihnen ging es doch nur darum, die Präsidentin des BdV
in ein Licht des Revanchismus und des Reaktionären zu
rücken.
({16})
Dies ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen. Wir sind
mit diesem Gesetzentwurf einen deutlichen Schritt weitergekommen.
Ich persönlich halte es auch für außerordentlich begrüßenswert, dass die Bedeutung der Stiftung auch dadurch gehoben wird, dass dieses Hohe Haus in Zukunft
darüber befinden wird, wer im Stiftungsrat mitarbeiten
wird.
({17})
Das steigert die Bedeutung der Stiftung erheblich.
Zuallerletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass
die Erweiterung des wissenschaftlichen Beirats von
9 auf 15 Personen zu begrüßen ist. Damit wird eine profundere und auch breitere Einbeziehung von Wissenschaftlern möglich.
Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn sich
insbesondere auch Historiker aus Tschechien und Polen
bereiterklären würden, vorurteilsfrei und aufgeschlossen mitzuarbeiten, nach dem Grundsatz, dass nur echte
Aufklärung und Wahrheit die Grundlage für wahre Verständigung und Versöhnung sein können. Dazu soll die
Stiftung dienen.
Stephan Mayer ({18})
({19})
In diesem Sinne kann ich nur der Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass wir in Zukunft wieder zur Ruhe und
Sachlichkeit zurückkehren, damit diese wichtige Stiftung ihrer Arbeit nachgehen kann und das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin möglichst zügig und gewissenhaft weiterentwickelt werden kann.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Herr Kollege Mayer, ich rüge Ihren Vorwurf gegenüber dem Kollegen Thierse, er sei straffällig. Er ist nicht
straffällig, und er ist auch nicht verurteilt. Das ist kein
parlamentarischer Sprachgebrauch im direkten Umgang
miteinander.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1751, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP auf Drucksache 17/1400 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian
Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung des Verfahrens nach der
Grundstücksverkehrsordnung
- Drucksache 17/1426 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Interfraktionell wird wiederum vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/
CSU, Burkhard Lischka, SPD, Marco Buschmann, FDP,
Heidrun Bluhm, Die Linke, Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 5
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1426 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren
- Drucksache 17/1413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann
und Ulrich Lange, CDU/CSU, Ottmar Schreiner, SPD,
Sebastian Blumenthal, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke,
und Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir debattieren heute einmal mehr einen Antrag aus
der Villa Kunterbunt. Dort lebte ein kleines Mädchen
namens Pippi Langstrumpf nach dem Motto „Ich mach’
mir meine Welt, widde, widde, wie sie mir gefällt“. Pippi
lebte in einem Land der Fantasie, der Illusion, abseits
der Realität - wie die Fraktion der Linken. Dies zeigt
der vorliegende Antrag. Denn sein Hauptmerkmal ist die
Ignoranz der Sach- und Rechtslage.
Die Fraktion der Linken widmet sich nunmehr den
Unternehmen, die nicht in inländischen Rechtsformen
wie der GmbH oder der AG, sondern in einer ausländischen Rechtsform wie der britischen „Limited“ oder der
niederländischen „B.V.“ firmieren. Eine wachsende
Zahl von großen Unternehmen, die in Deutschland ansässig seien, werde laut Darstellung der Linken diese
ausländischen Rechtsformen nutzen, um das deutsche
Mitbestimmungsrecht zu unterlaufen. Deshalb müsse
unsere nationale Unternehmensbestimmung nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz - für Unternehmen mit 500 bis
2 000 Beschäftigten - und dem Mitbestimmungsgesetz
- für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigten gesetzlich auf diese ausländischen Rechtsformen ausgeweitet werden.
Die einzige Aussage, die im Antrag der Linken der
Realität entspricht, ist die Zahl 37. Ja, es ist richtig, dass
in Deutschland 37 Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in einer ausländischen Rechtsform betrieben
werden. Aber das war es dann auch schon. Denn dem
stehen folgende Zahlen gegenüber: In Deutschland unterliegen etwa 700 Unternehmen dem Mitbestimmungsgesetz, hälftige Beteiligung der Arbeitnehmervertreter
im Aufsichtsrat, und weitere 1 500 Unternehmen dem
Drittelbeteiligungsgesetz, Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die Zahl von 37 ausländischen
Gesellschaften ist dagegen verschwindend gering. Dies
entspricht 1,68 Prozent der großen Unternehmen. Es
gibt also keine Flut von Unternehmen, die in ausländische Rechtsformen stürzen. Das von den Linken beschriebene Phänomen einer allgemeinen Tendenz der
Mitbestimmungsumgehung ist also lediglich ein Produkt
ihrer Fantasie. Die verschwindend geringe Zahl macht
deutlich, dass bei den großen Gesellschaften eine Mitbestimmungsumgehung nicht im Vordergrund steht. Schon
die Sachlage wird also falsch beschrieben.
Leider setzt sich das bei der Darstellung der Rechtslage fort. Vor der Aufsetzung des Antrages hätte den Linken eine Befassung mit dem Europarecht gutgetan. Denn
dann hätte man gewusst, dass eine Ausweitung der deutschen Mitbestimmung auf ausländische Gesellschaftsformen mit dem Europarecht nicht vereinbar ist. Die
herrschende Meinung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur sieht in einer solchen einen Verstoß gegen den
europäischen Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Grundsatzentscheidungen zur Niederlassungsfreiheit wiederholt
Folgendes festgestellt: Gesellschaften, die nach dem
Recht eines anderen EU- oder EWR-Mitgliedsstaats
wirksam gegründet worden sind, sind auch in Deutschland in ihrer ausländischen Rechtsform anzuerkennen,
und zwar selbst dann, wenn sie überwiegend oder gar
ausschließlich in Deutschland tätig sind, siehe nur
Rechtssachen Centros, Überseering, Inspire Art, Sevic
und Cartesio.
Eine englische Private Limited Company, Limited,
und eine niederländische Besloten Vennootschap, B. V.,
sind also als solche zu behandeln, ohne dass es darauf
ankommt, wo die Gesellschaft geschäftlich aktiv ist.
Denn es gilt die sogenannte Gründungstheorie. Danach
sind die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse eines Unternehmens nach dem Recht zu beurteilen, nach dem es
gegründet wurde. Was die Reichweite des ausländischen
Gesellschaftsrechts angeht: Das Gesellschaftsstatut umfasst dabei alle Aspekte der gesellschaftsrechtlichen
Verfassung des Unternehmens. Dazu gehört nach herrschender Auffassung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur, zum Beispiel Ulmer/Habersack/Henssler,
Spahlinger/Wegen, Junker, auch die Unternehmensmitbestimmung. Eine in Deutschland operierende Gesellschaft aus dem Ausland unterliegt daher nur dann
unseren nationalen Regelungen zur Unternehmensmitbestimmung, wenn das berufene ausländische Gesellschaftsrecht dies vorsieht. Einer Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung auf ausländische Rechtsformen
von EU- oder EWR-Mitgliedstaaten scheitert deshalb an
den rechtlichen Hürden, die der Europäische Gerichtshof zum Schutz der Niederlassungsfreiheit errichtet hat;
siehe nur Junker, Henssler, Riegger, Horn, Veit/Wichert,
Müller-Bonanni. Uns als nationalem Gesetzgeber ist es
also europarechtlich verwehrt, den Geltungsbefehl der
deutschen Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung auf
Auslandsgesellschaften zu erstrecken.
Die Linken ignorieren mit Ihrem Antrag die Sachund Rechtslage. Entsprechend ihres Vorbildes Pippi
Langstrumpf machen Sie sich die Welt eben so, wie diese
ihnen gefällt. So darf aber kein Gesetzgeber arbeiten.
Drei mal drei ergibt eben nicht sechs. Deshalb werden
wir ihren Antrag ablehnen.
Mit ihrem Antrag fordert Die Linke gesetzliche
Bestimmungen dafür zu schaffen, dass die deutschen
Vorschriften für das Mitbestimmungsrecht auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform, die in
Deutschland ihren Verwaltungssitz haben, gelten.
Wie ist die derzeitige Rechtslage? Unterliegt eine in
Deutschland tätige Gesellschaft einem ausländischen
Gesellschaftsstatut, ist das ausländische Mitbestimmungsrecht anzuwenden, wenn es im Gründungsstaat
der Gesellschaft überhaupt Mitbestimmungsregelungen
gibt.
Wenn man den Antrag liest, möchte man meinen, in
Deutschland habe die große Mitbestimmungsflucht begonnen. Die von den Linken wie so häufig ignorierte Realität zeigt ein ganz anderes Bild.
Die Fraktion Die Linke zitiert die Hans-Böckler-Stiftung. Deren empirische Arbeit habe ergeben, dass sich
die Anzahl ausländischer Kapitalgesellschaften mit inländischem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung
und mitbestimmungsrelevanter Größe zwischen Januar
2006 und November 2009 um zehn auf insgesamt 16 Unternehmen erhöht hat. Im gleichen Zeitraum hat sich die
Anzahl deutscher Personengesellschaften mit ausländischem Komplementär in mitbestimmungsrelevanter
Größe ebenfalls um zehn auf insgesamt 21 erhöht. Beide
Fallgestaltungen zusammen ergeben den von der Fraktion Die Linke genannten Anstieg von 17 auf 37 Unternehmen.
Nach einer Studie der Universität Jena zum Drittelbeteiligungsgesetz fallen unter dieses Gesetz circa
1 500 Unternehmen, vom Mitbestimmungsgesetz werden
circa 700 Unternehmen erfasst. Wer ernsthaft die genannten Zahlen miteinander vergleicht, sieht sofort: Es
ist kein wirkliches Problem in unserer Gesellschaft. Bei
diesem Zahlenverhältnis kann nicht von einem drängenden Problem gesprochen werden.
Selbst die von der Linksfraktion zitierte HansBöckler-Stiftung räumt freimütig ein, dass, wie schon die
Biedenkopf-Kommission richtigerweise erkannt hat, angesichts von 700 quasi paritätisch mitbestimmten und
von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen die Untersuchungsergebnisse nicht auf eine verbreitete Flucht
schließen lassen, die die deutsche gesetzliche Mitbestimmung infrage stellen könnte. Aber diese Schlussfolgerung verschweigt die Fraktion Die Linke, was von dieser
populistischen Partei eigentlich auch nicht anders zu erwarten ist.
Tatsächlicher gesetzlicher Handlungsbedarf besteht
immer dann, wenn Unternehmen eine vermeintliche gesetzgeberische Lücke dazu ausnutzen, um sich unerwünschte Vorteile zu verschaffen. Dies ist aber aufgrund
der Untersuchungsergebnisse nicht erkennbar. In den
genannten 37 Firmen wurde eine andere Rechtsform
nicht gewählt, um das deutsche Mitbestimmungsrecht zu
umgehen. Ausländische Investoren haben mit ihrem SysZu Protokoll gegebene Reden
tem Erfahrung und fügen sie in unser System ein. Es ist
grundsätzlich zu begrüßen, dass es zu Wahlmöglichkeiten und einem Wettbewerb der Gesellschaftsrechtssysteme innerhalb Europas gekommen ist. Eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit unter - das wurde
bereits oben angesprochen - Missbrauchsgesichtspunkten ist meines Erachtens nicht zu rechtfertigen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der Vorschlag der EU-Kommission zur Errichtung der Europäischen Privatgesellschaft, EPG, den Zugang kleiner und
mittelständischer Unternehmen zum europäischen Binnenmarkt erleichtern soll.
Bereits mit ihrer Anfrage vom 24. März 2009
- Drucksache 16/12526 - hat die Linksfraktion eine angebliche Mitbestimmungsflucht thematisiert. Geben Sie
doch auf und kommen Sie auf den Boden unserer Arbeitswelt zurück. Ihr populistischer Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden, da kein aktueller
Handlungsbedarf besteht. Am besten ziehen Sie ihn einfach zurück.
Deutschland ist das einzige Land in der EU, in dem
die Reallöhne im Durchschnitt nicht gestiegen sind, sondern seit bald zwei Jahrzehnten stagnieren. Das bedeutet: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden in
Deutschland am wachsenden Wohlstand real nicht mehr
beteiligt. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der historisch niedrigen Lohnquote und der steigenden Armut
trotz Arbeit sehr gut wider. Ursächlich hierfür ist das
Shareholder-Value-Prinzip, das einzig und allein das Eigentümerinteresse nach raschen und hohen Profiten in
den Mittelpunkt des unternehmerischen Wirtschaftens
stellt. Um dieses Ziel zu erreichen, verlieren Instrumente
der Mitbestimmung zunehmend an Einfluss. Immer mehr
Beschäftigte müssen auf Mitbestimmungsrechte verzichten. Durch Mitbestimmung soll die alleinige Orientierung der Unternehmen an der Profitmaximierung aber
gerade verhindert werden.
In Deutschland sorgen das Drittelbeteiligungsgesetz,
das Mitbestimmungsgesetz und das Montanmitbestimmungsgesetz für eine demokratische Teilhabe der Belegschaft und ihrer Vertreter an unternehmerischen Entscheidungen: in Kapitalgesellschaften mit mehr als 500
Beschäftigten stellen die Arbeitnehmer ein Drittel der
Sitze im Aufsichtsrat, in Kapitalgesellschaften mit mehr
als 2 000 Beschäftigten ist der Aufsichtsrat paritätisch
besetzt. Allerdings hat der Vorsitzende des Aufsichtsrates, der immer der Anteilseignerseite angehört, eine
Doppelstimme. In der Montanindustrie, die aus historischen Gründen eine Sonderstellung innehat, wird der
Aufsichtsrat paritätisch besetzt. Vor und in der Wirtschafts- und Finanzkrise haben Belegschaftsvertretungen immer wieder Alternativkonzepte zu Standortverlagerungen oder Massenentlassungen eingebracht. Sie
haben für die langfristigen Interessen ihres Unternehmens gekämpft. Ohne dieses Engagement hätte uns die
Krise viel stärker getroffen.
Nun gilt es, die Unternehmensmitbestimmung an die
veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Aufgrund einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH zur
völligen Niederlassungsfreiheit können in Deutschland
ansässige Unternehmen mit einer ausländischen Rechtsform geführt werden. In der Folge versuchen eine steigende Zahl von Unternehmen, die deutsche Mitbestimmung hierdurch zu umgehen. Das bedeutet mittlerweile:
Während 2006 nur 17 in Deutschland ansässige Firmen
mit mindestens 500 Beschäftigten sich über eine ausländische Rechtsform wie zum Beispiel eine britische
Limited, eine niederländische B.V. oder eine US-amerikanische Incorporated der deutschen Mitbestimmung
entziehen konnten, waren es laut dem Boeckler-Impuls
5/2010 der Hans-Böckler-Stiftung im November 2009
bereits 37. Weder Mitbestimmungsgesetz noch Drittelbeteiligungsgetz greifen in diesem Umfeld. Für die Beschäftigten heißt das: keine demokratische Teilhabe am
Unternehmen und damit keine Mitbestimmungsrechte.
Es ist aber auch eine ungerechte Behandlung gegenüber
allen anderen Unternehmen mit deutscher Rechtsform,
die ihrer Belegschaft Mitbestimmungsrechte einräumen.
Die Mitbestimmung in Unternehmen ist ein wesentlicher Eckpfeiler unserer sozialen und demokratischen
Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung hat sich bewährt.
Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund eines sozial verantwortbaren Wirtschaftens stehen - Stakeholder müssen Vorrang haben, Nachhaltigkeit muss vor
Kurzfristigkeit stehen. Mitbestimmungskritiker sagen,
die unternehmerische Mitbestimmung sei nicht mehr
zeitgemäß, sei Störfaktor und Standortnachteil in Europa. Die Kritiker irren. Es handelt sich nicht um einen
„Irrtum der Geschichte“. Mitbestimmung ist zeitgemäßer denn je. Das ist die Lehre aus der jüngsten Wirtschaftskrise. Mitbestimmung ist ein Standortvorteil: Sie
erhöht Motivation und Produktivität der Mitarbeiter und
trägt wesentlich zum nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen bei. Volkswirtschaften profitieren
von der Unternehmensmitbestimmung. Unternehmen
mit ausgedehnter Mitbestimmung weisen eine gerechtere Einkommensverteilung auf, besitzen eine gute wirtschaftliche Attraktivität, verfügen über eine starke Weltmarktposition, und der soziale Frieden ist weitestgehend
sichergestellt. Unternehmensmitbestimmung ermöglicht
zuvörderst die Kontrolle wirtschaftlicher Macht.
Selbstverständlich sollen Unternehmen wettbewerbsfähig und profitabel bleiben. Unternehmensmitbestimmung widerspricht dem nicht: Analysen zum Beispiel
von Dr. Sigurt Vitols aus dem Jahr 2006 zeigen, dass die
Mitbestimmung keine negativen Auswirkungen auf die
Eigenkapitalrendite und Börsenbewertung von Unternehmen hat. Die Volkswagen AG lebt das vor: Eine exzellente Marktposition ist bei Volkswagen nicht trotz,
sondern wegen einer starken Mitbestimmung und damit
einer rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erreicht
worden. In der „Financial Times“ von heute ist zu lesen,
dass die Volkswagen AG sich auf einem massiven Expansionskurs befinde. Neben der paritätischen Mitbestimmung schreibt das VW-Gesetz im Falle von Standortverlagerung und Errichtung von Produktionsstätten
eine Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat vor. Die EUKommission hat in dieser Regelung - Art. 4, Abs. 2 VWZu Protokoll gegebene Reden
Gesetz - keine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit
gesehen.
Um Standortverlagerungen zu erschweren und die
Unternehmensmitbestimmung zu stärken, sollten wir
auch über eine diesbezügliche Erweiterung der Mitbestimmungsrechte auf alle Kapitalgesellschaften diskutieren. Jedes dritte Großunternehmen und sogar jedes
zweite Kleinunternehmen kehrt nach einiger Zeit nach
Deutschland zurück. Vieles wäre den Unternehmen und
der Belegschaft erspart geblieben, hätte ein Mitspracherecht der Arbeitnehmerseite existiert.
Die Europäische Rechtsprechung billigt den nationalen Gesetzgebern auch einen Spielraum für den Schutz
von Arbeitnehmerinteressen zu. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Spielraum für die Arbeitnehmerinnen und
die Arbeitnehmer nutzen. Die SPD hat bereits im Juni
2007 in ihrem Bericht zur Zukunft der Mitbestimmung in
Deutschland und Europa und im Beschluss des SPDPräsidiums vom 15. März 2010 eine Anpassung der Unternehmensmitbestimmung an die Europäisierung und
Internationalisierung der Unternehmen gefordert.
Meine Partei und ich wollen die deutsche Mitbestimmung gesetzlich auf Auslandsgesellschaften und Unternehmen mit europäischer Rechtsform mit inländischem
Verwaltungssitz ausdehnen, einen gesetzlichen Mindestkatalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte im Aufsichtsrat einführen, die paritätische Mitbestimmung
schon auf Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten ausweiten. Das wäre auch ein wirksamer Schutz gegen die schlimmsten Auswirkungen des Finanzmarktkapitalismus.
Lassen wir nicht zu, dass der soziale Frieden durch
die Umgehung der Unternehmensmitbestimmung gefährdet wird. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften
stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Darum
lassen Sie uns gemeinsam für mehr Mitbestimmung und
demokratische Teilhabe in Deutschland und in Europa
arbeiten.
In dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die
Linke, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die deutschen Vorschriften über die unternehmerische Mitbestimmung - namentlich die des Drittelbeteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform
gelten, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben.
Um diese Forderung zu bewerten, sollten wir uns zunächst mit den im Antrag und in der Begründung formulierten Behauptungen beschäftigen. So wird behauptet:
Neue Untersuchungen zeigen allerdings, dass die
Umgehung der deutschen Mitbestimmungsgesetze
und die Gefahr einer „Flucht aus der Mitbestimmung“ zunehmen. … Wie eine aktuelle Studie von Juristen der Hans-Böckler-Stiftung ergab, ist die Umgehung deutscher Mitbestimmungsregelungen mit
Hilfe ausländischer Rechtsformen mittlerweile zu einem drängenden Problem geworden: Die Zahl der in
Deutschland ansässigen Unternehmen, die in
Deutschland mindestens 500 Beschäftigte und eine
rein ausländische Rechtsform oder eine Kombination
mit ausländischer Rechtsform haben ({0}), ist seit 2006 von 17 auf 37 gestiegen.
Bei der erwähnten Quelle handelt es sich um die Studie „Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit ausländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen“
aus dem Jahr 2010.
Die erwähnte Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist im
Antrag der Fraktion Die Linke nicht im Wortlaut wiedergegeben worden - aus gutem Grund. Denn die Bewertung der Studie fällt - im Gegensatz zur eben wiedergegebenen Behauptung - sehr differenziert aus. So heißt es
in der Studie im Wortlaut:
Die vorliegende Untersuchung beweist einerseits,
dass weiterhin das von Mitbestimmungskritikern
zuweilen verbreitete Bild einer Sturmflut von Auslandsgesellschaften, die unter Vermeidung der Mitbestimmung in Deutschland tätig werden, nicht mit
der Realität übereinstimmt. Andererseits ist festzustellen, dass die Zahl der mitbestimmungsrelevanten Fälle seit Abschluss der Biedenkopfkommission
deutlich zugenommen hat ({1}). Dies
stützt die Forderung, durch eine Erstreckung der
Mitbestimmungsgesetze auf Auslandsgesellschaften Rechtssicherheit herzustellen.
Es wird also zunächst festgestellt, dass - anders als die
Linke in ihrem Antrag zu suggerieren versucht - keine
Rede davon sein kann, dass die Gefahr einer „Flucht aus
der Mitbestimmung“ droht. Vielmehr wird von der
Hans-Böckler-Stiftung sogar klargestellt - Zitat -:
Angesichts von 694 ({2})paritätisch mitbestimmten und von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen lassen diese Zahlen nicht auf eine verbreitete
Flucht, die die deutsche gesetzliche Mitbestimmung
in Frage stellen könnte, schließen.
Wenn wir uns im Ausschuss dieses Themas annehmen, gilt es also, sehr sorgfältig zu prüfen, ob und inwiefern uns - entgegen der Einschätzung der HansBöckler-Stiftung - eine „verbreitete Flucht“ aus der
Mitbestimmung bevorsteht und ob ein Reformbedarf bei
der Unternehmensmitbestimmung gegeben ist.
Das Problem ist erkannt: Deutsche Unternehmen unterlaufen die Mitbestimmung, indem sie von der deutschen in eine ausländische Rechtsform wechseln. Eine
Regierungskommission empfahl schon 2006 zur Unternehmensmitbestimmung, falls nötig, „Maßnahmen zur
Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Mitbestimmung zu treffen“. Wenn diese Lücke von Unternehmen genutzt wird, dann muss der Gesetzgeber tätig werden.
Nun ist es soweit: Es gibt einen Anstieg von 17 auf
37 Unternehmen, die diese Lücke in den letzten drei
Jahren ausnutzten. Bekannte Namen wie H & M,
McDonald’s Deutschland, Air Berlin, Kühne + Nagel
und die Modekette Esprit sind dabei. Bei mehreren FälZu Protokoll gegebene Reden
len lässt sich eine gezielte Antimitbestimmungsstrategie
nachweisen:
Hätten H & M, Esprit und Kühne + Nagel die
Rechtsform nicht gewechselt, wäre die Mitbestimmung
von Beschäftigten im Aufsichtsrat durch die gestiegene
Beschäftigtenzahl fällig gewesen. Sie werden sagen: Von
17 auf 37, das ist immer noch nicht viel. Aber wie groß
soll der Schaden werden, bevor gehandelt wird? Etwas
rückgängig machen ist schwerer als sofort zu handeln.
Das erleben wir ja gerade bei dem Thema Leiharbeit.
Oder steht jemandem vielleicht der Sinn nach einer
schleichenden Aushöhlung der Unternehmensmitbestimmung? Betriebsräte und die Arbeitnehmervertreterinnen
und -vertreter in Aufsichtsräten sind für Beschäftigte ein
wichtiger Bestandteil der Demokratie in der Arbeitswelt. Sie darf auf keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden!
In Unternehmen mit über 500 Beschäftigten besteht
eine Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat. In Unternehmen
mit über 2 000 Beschäftigten stellen Arbeitnehmervertreter die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. Die Mehrheit bleibt trotzdem immer bei den Anteilseignern, da
der Vorsitzende doppelt zählt - und den wählen nur die
Anteilseigner. Der Aufsichtsrat kontrolliert und berät
den Vorstand, prüft den Jahresbericht und entscheidet
bei zustimmungspflichtigen Geschäften. Ganz wichtig:
Der Aufsichtsrat wählt den Vorstand. So haben Beschäftigteninteressen auch in der Unternehmensführung ein
Gewicht. Diese Mitbestimmung wird nun bewusst umgangen, indem Unternehmen von einer deutschen zu einer ausländischen Rechtsform wechseln. Es wäre sträflich, sollte das so weitergehen: Mitbestimmung hat sich
in Deutschland bewährt!
Ganz praktisch sprechen fünf Gründe für die Annahme unseres Antrags:
Erstens. In der Krise hat sich gezeigt: Arbeitnehmermitbestimmung hilft, kurzfristige Unternehmensstrategien zu verhindern und stärkt eine gute Unternehmensführung.
Zweitens. Die Lücke im Gesetz wird geschlossen, und
die Benachteiligung von Beschäftigten in Unternehmen
mit ausländischer Rechtsform hat ein Ende.
Drittens. Mitbestimmung über Aufsichtsräte und Betriebsräte verbessert nachweislich die Produktivität des
Unternehmens.
Viertens. Der Anteil von Frauen in Aufsichtsräten ist
fast ausschließlich durch die Arbeitnehmerseite gewachsen: Auch hier leistet die AN-Mitbestimmung eine wichtige Aufgabe.
Fünftens. Die Anwendung der deutschen Unternehmensmitbestimmung auf Unternehmen ausländischer
Rechtsformen ist EU-konform; das ist durch ein Gutachten bestätigt worden.
Wenn man sich all diese Argumente vor Augen führt,
sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass es besser ist,
über die Ausweitung von Mitbestimmung zu diskutieren
statt nur über deren Verteidigung. Es ist an der Zeit,
dass die Bundesregierung Gesetze macht, durch die die
Probleme der Menschen aufgegriffen werden, und zwar
um ihre Lebensumstände zu verbessern und nicht zu verschlechtern. Wir sind so freundlich und weisen kontinuierlich auf Missstände hin: Nun seien auch Sie, die Bundesregierung, so mutig, etwas zu tun. Schließen Sie, die
Bundesregierung, die Mitbestimmungslücke und machen Sie sich nicht mitschuldig an der Aushöhlung der
Unternehmensmitbestimmung in Deutschland.
Für die Linke ist klar: Es ist an der Zeit, die Mitbestimmung in Deutschland, in Europa und weltweit zu
stärken.
Auch wir beobachten mit Sorge, dass die Errungenschaften der deutschen Unternehmensmitbestimmung
durch Unternehmen mit ausländischen Rechtsformen,
beispielsweise die britische Limited oder die holländische B. V., untergraben wird. Dazu gehören auch deutsche Scheinauslandsgesellschaften, die ausländische
Rechtsformen mit dem Ziel nutzen, die deutsche Unternehmensmitbestimmung zu umgehen.
Diese Unternehmen können aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit als ausländische Kapitalgesellschaften in
ihrer ursprünglichen Rechtsform in Deutschland, unter
Anwendung eines ausländischen Gesellschaftsstatuts,
tätig werden und so die Mitbestimmung umgehen.
Diese Tatsache wurde bereits 2006 in der Regierungskommission zur Modernisierung der deutschen
Unternehmensmitbestimmung diskutiert. Aufgrund der
wenigen Fälle wurde damals auf eine Empfehlung an
den Gesetzgeber, die Bestimmungen zur Unternehmensmitbestimmung auf alle Unternehmen - auch auf die
ausländischen Rechtsformen - auszudehnen, verzichtet.
Nach wie vor ist die Umgehung der Unternehmensmitbestimmung kein Massenphänomen. Dennoch ist die
Zahl dieser Unternehmen mittlerweile deutlich -, von
17 Unternehmen in 2006 auf heute 37 Unternehmen -,
gestiegen. Deswegen muss die Bundesregierung handeln
und, wie in dem Antrag der Fraktion Die Linke gefordert, die Unternehmensmitbestimmung lückenlos auf
alle Unternehmensformen ausdehnen. Das gilt für alle
Formen der Unternehmensmitbestimmung nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz und dem Mitbestimmungsgesetz.
Diese Umgehung der deutschen Mitbestimmungsrechte ist nicht gerecht; denn die Beschäftigten werden
anders behandelt und haben weniger Partizipationsrechte.
Die Unternehmensmitbestimmung ist eine historische
Errungenschaft, die wesentlicher Bestandteil unserer
Demokratie ist. Damit müssen wir behutsam umgehen,
und wir müssen alles dafür tun, dass diese Errungenschaft bewahrt wird. Sie stiftet soziale Wertschätzung
und gesellschaftlichen Zusammenhalt und könnte ein
Mittel sein, die großen Unternehmen wieder stärker auf
das Gemeinwohl zu verpflichten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben hier eine rechtliche Lücke, und jedes Unternehmen, das diese Lücke nutzt, macht dieses Problem
größer. Deswegen fordern wir die Regierung auf, mit einer gesetzlichen Regelung nicht länger zu warten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten
- Drucksache 17/1581 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss,
CDU/CSU, Karin Roth, SPD, Helga Daub, FDP, Niema
Movassat, Die Linke, Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die
Grünen.
Zunächst einmal: Wir alle sind froh darüber, dass die
Bundesrepublik Deutschland nach neun Jahren Abstinenz wieder im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation vertreten ist. Und wir sind uns, glaube ich, auch
alle darüber einig, dass wir mit Dr. Ewold Seeba einen
hochqualifizierten und höchst engagierten Vertreter in
diesen Exekutivrat entsandt haben. Seine Arbeit und die
Arbeit seines Teams werden wir als Parlamentsabgeordnete mit allen Kräften unterstützen.
Deutschland ist drittgrößter Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation, und das auch in Zeiten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftkrise. Uns ist daran gelegen, dass jeder einzelne Euro, den unsere steuerzahlende
Bevölkerung in die WHO investiert, ein gut angelegter
Euro ist; Geld, mit dem wir die weltweite Gesundheit
stärken. Es geht um die Gesundheit der Menschen weltweit, wohlgemerkt, nicht allein um die Gesundheit der
Industriezweige, die auf diesem Gebiet ihr Geld verdienen, oder um die Gesundheit derjenigen, die sich Medikamente und ärztliche Versorgung finanziell leisten können.
Wir wollen eine starke und leistungsfähige WHO,
auch darin sind wir uns, denke ich, einig in diesem
Hause. Wir wollen eine Weltgesundheitsorganisation,
die ihre ehrgeizigen Ziele erreichen kann: den „bestmöglichen Gesundheitszustand aller Völker“, wie es
ihre Verfassung formuliert. Diesem Auftrag stellt sich
auch die Bundesregierung während ihrer dreijährigen
Mitgliedschaft im Exekutivrat.
Nun haben die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen viel Mühe und Fleiß darauf verwendet, die
ihrer Meinung nach vorrangigen Aufgabenbereiche
darzustellen. Das Ganze steht dann auch noch unter der
Überschrift: „Die Ziele der Bundesregierung in der
Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten.“
Sie haben in Ihrem Antrag selbst erfreulich oft festgestellt, dass der Arbeitsansatz der Bundesregierung
grundsätzlich begrüßenswert ist. Auf dieser Basis lässt
sich ja schon einmal gut arbeiten. Warum dann allerdings die Ziele der Bundesregierung neu ausgerichtet
werden müssen, bleibt mir doch schleierhaft.
Im Grunde sind wir uns doch darüber einig, dass die
Schwerpunkte Stärkung von Gesundheitssystemen und
Pandemievorsorge unbestritten in den Zielkatalog gehören. Sie hätten gern den Bereich der Medikamentenversorgung dezidiert auf die Agenda gehoben. Ich hatte,
ehrlich gesagt, nie den Eindruck, als sei dieses Aufgabenfeld von der Agenda abgesetzt gewesen. Im Gegenteil: Der kostengünstige Zugang zu wichtigen Arzneimitteln für die Transformations- und Entwicklungsländer
steht seit Jahren ganz oben auf unserer Aufgabenliste.
Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel
ist seit Jahren dabei, Wege zu eröffnen, dass die ärmeren
Länder der Welt Zugang zu kostengünstigen Medikamenten erhalten, und dies nicht nur für die gängigen
Krankheiten, sondern auch und gerade bei den „vergessenen Krankheiten“, bei denen die Hersteller zunächst
einmal wenig lukrative Vermarktungschancen sehen.
Allerdings, das habe ich auch schon bei der Beratung
Ihres Antrags zum Thema Generika gesagt, im Mittelpunkt muss die Frage der Qualität der Arzneimittel stehen. Der weltweite Gesundheitsmarkt ist, Patent hin
oder her, eine lukrative Einnahmequelle und der Tummelplatz etlicher rücksichtsloser bis krimineller Geschäftemacher. Hier reicht die plakative Forderung
„Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika sichern“ nicht aus.
Dieses Thema muss der Deutsche Bundestag auch
nicht als neues Ziel für die Arbeit in der WHO definieren. Da sind dicke Bretter zu bohren.Da ist die WHO seit
Jahren dran, und dabei wird sich der Vertreter der Bundesregierung im Exekutivrat auch nicht in die zweite
Reihe stellen, und wir alle tun gut daran, ihn dabei zu
unterstützen.
Mit dem Arbeitsschwerpunkt „Pandemievorsorge“
scheinen sich die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen etwas schwer zu tun. Aber auch da steht zunächst einmal kein Dissens im Raum: Das Thema selbst
wird als wichtig anerkannt. Unterschiede gibt es, was
die Rolle der WHO im aktuellen Pandemiegeschehen
rund um die Schweinegrippe angeht.
Die Sichtweise der Antragsteller scheint eindeutig:
Die WHO hat sich in die Fänge der Pharmaindustrie
begeben, viel zu früh den Pandemiefall ausgerufen, eine
überflüssige Produktion von Impfstoff veranlasst und
Sabine Weiss ({0})
darüber hinaus die Versorgung der ärmeren Länder gar
nicht mehr im Blick gehabt. Die Glaubwürdigkeit der
WHO habe darunter gelitten und nun solle die Bundesregierung dafür sorgen, dass dies wieder ins Lot kommt. Dies ist eine politische Sichtweise, die durchaus nicht
von allen geteilt werden muss. Dr. Seeba ist da ganz
anderer Auffassung, ich zitiere:
Die WHO spielt in der globalen Gesundheitsdebatte eine zentrale, zum Teil normsetzende Rolle.
Hervorzuheben sind die Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005, die sich aktuell im Zusammenhang mit der Influenza A/H1N1, der so genannten Schweinegrippe, bewährt haben …
Auch die Generaldirektorin der WHO stellte bei der
Eröffnung der 62. Weltgesundheitsversammlung in Genf
die Rolle der WHO bei der Pandemievorsorge am Beispiel der Schweinegrippe deutlich und positiv heraus.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, von einer Glaubwürdigkeitskrise der WHO beim
Thema Pandemie sprechen, so mag das Ihre politische
Auffassung sein. Sie muss dennoch nicht von allen
geteilt werden. Vor allem ist sie jedenfalls kein Grund,
hier eine Neuausrichtung der Ziele der Bundesregierung
vorzunehmen. Die Pandemievorsorge ist erklärtes Ziel
der WHO, und die Bundesregierung als Mitglied im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation steht voll und
ganz hinter diesem Ziel.
Im Übrigen ist Ihre Argumentation zur Rolle der
WHO nicht ganz ohne Widersprüche. Auf der einen Seite
fordern Sie eine internationale Führungsrolle der Weltgesundheitsorganisation. So steht es in Ihrem Antrag für
den Bereich der Stärkung der Gesundheitssysteme.
Gleichzeitig attestieren Sie der WHO einen „dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust“ beim Thema Pandemievorsorge. Das ist in meinen Augen keine glückliche
Methode, für eine weltweite Akzeptanz der WHO zu sorgen. Wenn ich einen Partner stärken will, darf ich ihm
nicht im gleichen Atemzug einen „dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust“ bescheinigen.
Wir haben durch unsere Mitgliedschaft im Exekutivrat die Chance, die Rolle der WHO mitzubestimmen,
ihre Arbeit und Effektivität kritisch zu hinterfragen und
gleichzeitig an den Stellschrauben zu drehen, die am
Ende zu weltweiter Stärkung und Anerkennung führen.
Da braucht es aber keine Neuausrichtung der Ziele, so
wie es der vorliegende Antrag Glauben macht.
Sie beschreiben im wesentlichen Punkte, die hier im
Deutschen Bundestag und im Alltagsgeschäft von Bundesregierung und WHO-Vertretung unstrittig und selbstverständlich sind. Da brauchen wir keine Neuausrichtung, und darüber müssen wir uns hier und heute nicht
erneut verständigen.Da, wo Ihr Antrag zuspitzt, im
Bereich Pandemievorsorge, im Bereich Generika-Versorgung und beim Thema der sektoralen Budgethilfe,
kommen Sie zu politischen Schlussfolgerungen, die wir
im Einzelnen nicht unbedingt teilen. Von daher wird die
CDU/CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir sollten
unsere Zeit und Anstrengung weniger darauf verwenden,
gemeinsame Zielsetzungen immer wieder neu einzufordern, sondern diese tatsächlich auch zu erreichen.
Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat in den
vergangenen Jahren in hervorragender Weise dazu beigetragen, die Weltgesundheit in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken. Vieles, was in den
Industrieländern selbstverständlich ist, fehlt in den Entwicklungsländern mit verheerenden Auswirkungen. Die
WHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen
muss sich aus meiner Sicht für die Realisierung der Millenniumsziele im Bereich Gesundheit, zum Beispiel der
Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit, der
Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und
den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, in besonderem Maße einsetzen. Die Verantwortung für eine Verbesserung der Weltgesundheit kann von den 193 Mitgliedstaaten nur sehr unterschiedlich wahrgenommen
werden, weil den Entwicklungsländer die finanziellen
Mittel fehlen, die Bevölkerung beispielsweise mit ausreichend kostengünstigen Medikamenten zu versorgen oder
ein funktionierendes Gesundheitssystem bereitzustellen.
Trotzdem, so scheint es jetzt zu sein, haben laut der
Generaldirektorin der WHO, Frau Dr. Margaret Chan,
die Entwicklungsländer und die Geberstaaten erkannt,
dass schlechte Gesundheitsdienste zu weitreichenden
volkswirtschaftlichen Verlusten führen. Diese „revolutionäre“ Erkenntnis muss dazu führen, dass die Investitionen in die Gesundheitssysteme ebenso wie in die
Gesundheitsvorsorge eine hohe Priorität in der Entwicklungszusammenarbeit erhalten.
Es ist schon beschämend, dass das Millenniumsziel,
die Müttersterblichkeit entscheidend zu reduzieren, bis
zum Jahr 2010 kaum erfolgreich umgesetzt wurde. Immer noch sterben jährlich rund 530 000 Mütter, weil sie
nicht ausreichend während Schwangerschaft und Geburt versorgt wurden. Es ist Frau Dr. Chan zuzustimmen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Die Frage ist nur, welche Rolle kann hierbei die WHO
spielen?
Inwieweit hat zum Beispiel die WHO darauf gedrungen, in allen von ihr verfolgten Programmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf die Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen einer Genderstrategie
zu achten? Es ist doch bekannt, dass gerade Frauen in
den Entwicklungsländern die tragende Rolle für eine
nachhaltige Entwicklung zukommt und sie gleichzeitig
am stärksten von den Problemen in der Gesundheitsversorgung und der mangelnden Prävention betroffen sind.
Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt auch
von der ausreichenden Verfügbarkeit medizinischen
Personals ab. Deshalb muss die WHO darauf drängen,
dass ihr Verhaltenskodex für die Rekrutierung medizinischen Personals international eingehalten wird. Die
Bundesregierung ist aufgefordert, dies auch auf nationaler Ebene einzuhalten.
Beim Thema HIV/Aids sind durchaus Erfolge zu verzeichnen; das ist auch bitter nötig, denn in den letzten
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
20 Jahren gab es einen Anstieg der HIV-Infizierten von
7,5 Millionen Betroffenen auf über 33 Millionen im Jahr
2008. Täglich infizieren sich 7 400 Menschen neu. Täglich sterben 5 500 Menschen an HIV/Aids, dabei tragen
die Frauen die Hauptlast dieser Epidemie. In Subsahara-Afrika sind 60 Prozent der Infizierten weiblich.
Diese weltweite Epidemie, die jedoch vor allem das südliche Afrika trifft, ist eine Herausforderung für alle, insbesondere für die betroffenen Länder, die Geberstaaten,
die Wissenschaft, die Pharmaindustrie und die Hilfsorganisationen.
Die WHO hat eine globale Verantwortung für den
Aufbau der Gesundheitssysteme. Dabei geht es um eine
bessere Betreuung der Patienten und einen effizienteren
Einsatz der Medikamente, um eine höhere Wirksamkeit
zu erreichen. Die Verbesserung der Verfügbarkeit der
Medikamente und vor allem der Wirksamkeit durch
nachhaltige Therapiebegleitung auf der einen Seite ist
für die Menschen in den Entwicklungsländern existenziell. Dazu gehört auch die Bezahlbarkeit der Medikamente, indem beispielsweise der Zugang zu und die Produktion von Generika nicht behindert, sondern gefördert
werden. Auf der anderen Seite geht es auch um die Entwicklung von Medikamenten zur Prävention und damit
um die Verhinderung von Epidemien. Ein leuchtendes
Beispiel der Präventivmedizin ist die Ausrottung der
Pocken schon vor 30 Jahren. Jetzt geht es darum, die
drei großen Krankheiten mehr als bisher ins Visier zu
nehmen.
Ein wichtiges Feld zur Entwicklung von Medikamenten für die vernachlässigten Krankheiten ist die Unterstützung globaler Forschungsnetzwerke im Rahmen von
Produktentwicklungspartnerschaften, PDPs. Hierzu bedarf es einer mit den Akteuren abgestimmten Vorgehensweise, um Doppelstrukturen zu vermeiden. In Zukunft
muss geklärt werden, wie die Zusammenarbeit zwischen
WHO, dem Global Fund, GAVI und anderen multilateralen Initiativen abgestimmt werden kann.
Die WHO müsste eine führende, koordinierende Rolle
bei der Festlegung der Forschungsinitiativen auch für
die vernachlässigten Krankheiten übernehmen und dabei gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten und der EU
entsprechende Forschungsprogramme initiieren.
Die WHO mit ihrer globalen Expertise seit über
60 Jahren muss im Rahmen der globalen Gesundheitspolitik eine aktive Rolle spielen. Dazu muss sie von den
Mitgliedstaaten finanziell in die Lage versetzt werden.
Eine Unterstützung der multilateralen Organisationen
steht dabei nicht im Widerspruch zu einer effizienten
deutschen Entwicklungspolitik.
Wenn die WHO zusätzlich auf freiwillige Beiträge der
Mitgliedstaaten angewiesen ist, um ihre Arbeit zu leisten, so stellt sich die Frage, ob nicht ein anderer Finanzierungsmechanismus notwendig ist, um ein nachhaltiges Wirken zu gewährleisten. Im Rahmen der Diskussion
über die Reformen innerhalb der WHO sollte die Bundesregierung ihr bisheriges Engagement bestätigen und
prüfen, ob nicht zusätzliche freiwillige Beiträge zur Verbesserung der notwendigen Koordinierungsaufgaben
erforderlich sind.
Es ist keine Frage, der Weltgesundheitsorganisation
kommt in der jetzigen Phase der Globalisierung eine bedeutendere Rolle als bisher zu. Vieles muss multilateral
geregelt werden, ohne die nationale Verantwortung außer Acht zu lassen. Die neuen globalen Netzwerke, die
im Rahmen von Stiftungen und anderen Nichtregierungsorganisationen zusätzliche sinnvolle Arbeit
leisten, sollten stärker als bisher auch in kooperative
Strukturen der WHO aufgenommen werden. Das Zusammenwirken aller in der globalen Gesundheitspolitik Verantwortlichen kann somit zu einer größeren Dynamik
und auch zu mehr Effizienz führen.
Vorab möchte ich den Kollegen und Kolleginnen von
Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass ich mich sehr freue,
dass sie in ihrem Antrag so viel Lob für die Arbeit der
Bundesregierung finden.
Und ich bin sicher, dass ihre Erwartungen auch erfüllt werden, wenn es um die Rolle Deutschlands im Exekutivrat der WHO geht. Als drittgrößter Geber zum regulären Haushalt der Weltgesundheitsorganisation hat
Deutschland eine starke Stimme, die die Bundesregierung dafür nutzen muss und nutzen wird, essenzielle Beiträge zur Verbesserung der Weltgesundheit zu leisten.
Gesundheit ist die Voraussetzung für Entwicklung.
Gesundheit ist im Koalitionsvertrag zu Recht als einer
der Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit
genannt worden. Die Einsetzung des Unterausschusses
„Gesundheit in den Entwicklungsländern“ ist nur ein
Zeichen des Willens, diesen Bereich zum Erfolg zu führen. Das heißt, der Deutsche Bundestag erkennt die Bedeutung des Themas an und will sich den drängenden
Fragen zur Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern nachdrücklich widmen. Die Fortschritte bei der
Erreichung der Gesundheits-Milleniums-Ziele sind noch
nicht zufriedenstellend, das wissen wir natürlich - über
Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg.
Auch stimmen wir als FDP in vielen Bereichen den
Schwerpunktsetzungen der Vorgängerregierungen in
diesem Bereich zu, sei es die Stärkung der Gesundheitssysteme oder die bessere Koordinierung der vielen globalen Initiativen. Es ist wichtig, dass dies weitergeführt
wird.
Wo wir aber Handlungsbedarf sehen, ist in der Umsetzung der gesteckten Ziele und in gewisser Weise auch
in Bezug auf die Maßnahmen. Finanzierung von Gesundheit ist für uns ein produktives Investment, das dem
Dreiklang von Armutsbekämpfung, Menschenrechten
und Wirtschaftswachstum zugutekommt. Nur gesunde
Menschen sind in der Lage, sich selbst zu helfen.
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass dort, wo
Regierungen noch nicht einmal in der Lage sind, eine
Basisgesundheitsversorgung zu gewährleisten, viele private und gemeinnützige Projekte mit der Bereitstellung
von Absicherungen gegen Gesundheitsrisiken einen
wichtigen Beitrag leisten. Damit ist die Zusammenarbeit
mit Nichtregierungsorganisationen und dem Privatsektor in Deutschland und in den Partnerländern zentral
Zu Protokoll gegebene Reden
für den Erfolg unserer Politik. Die Rolle der WHO als
Koordinator darf hier nicht unter-, aber auch nicht
überschätzt werden. Bereits jetzt ist die WHO intensiv in
Initiativen zur Gesundheitssystemstärkung involviert.
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die als Beispiel - und es ist ein gutes Beispiel genannte Plattform der GAVI Alliance, des GFATM und
der Weltbank seit einigen Monaten nicht mehr „Joint
Platform For Health Systems Strengthening“ heißt, sondern „Health System Funding Platform“.
So einig wir uns in den Grundsätzen der Stärkung der
Gesundheitssysteme und der internationalen Zusammenarbeit auch sind - die Frage der Finanzierungsmöglichkeiten bewerten wir als Liberale anders. Gut
50 Prozent unserer Gesundheitsmittel werden über multilaterale Kanäle geleitet. Selbstverständlich bleibt
Deutschland aktiver Mitspieler und Partner auf globaler
Ebene. Aber: Multilaterale Ansätze sind nicht automatisch effizienter als bilaterale. Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich die Initiative des BMZ, dass bei jeder
einzelnen Organisation detailliert geprüft werden soll:
Wie effizient arbeitet sie? Welche Möglichkeiten des inhaltlichen Einflusses bieten sich? Und vor allem: Wie
transparent gestaltet sich die Kontrolle der verwendeten
Mittel?
Effizienz und Transparenz: Das sind auch die
Gründe, warum wir die Budgethilfe, auch die sektorale
Budgethilfe, wesentlich differenzierter betrachten als
die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Der Forderung ihres Antrags, zur Gesundheitssystemstärkung
das Instrument der sektoralen Budgethilfe verstärkt heranzuziehen, können wir daher keinesfalls zustimmen.
In der Frage, wie die Rahmenbedingungen für die
Verfügbarkeit von essenziellen Medikamenten verbessert werden können, liegen wir erfreulicherweise über
Koalitions- und Fraktionsgrenzen hinweg sehr nah beieinander. So stimmen wir in der Einschätzung überein,
dass die WHO ihre Kooperation mit der World Trade
Organisation, WTO, und der World Intellectual Property
Organisation, WIPO, verstärken möge. Ich würde die
Aufzählung gerne noch um die United Nations Conference on Trade and Development, UNCTAD, ergänzen.
Aus unserer Zusammenarbeit im AWZ kennen wir
bereits unsere abweichenden Meinungen bezüglich Handelsabkommen und -einschränkungen bei Medikamenten, insbesondere Generika. Auch wir begrüßen natürlich den möglichst umfassenden Zugang zu
Medikamenten, insbesondere für die ärmsten Länder.
Allerdings darf man hier auch den Schutz der Bevölkerung dieser Länder nicht außer Acht lassen. Kontrollen
gewährleisten auch Schutz vor minderwertigen Medikamenten oder gar Fälschungen. Im Hinblick auf Schwellenländer sollte versucht werden, eine Balance zwischen
gesundheits- und handelspolitischen Zielen zu erreichen.
Unsere inhaltlichen Differenzen beschränken sich
also auf einige wenige Punkte. Auch wenn wir dem Antrag aus den genannten Gründen nicht zustimmen können, bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam in den
zuständigen Ausschüssen zielführende Akzente setzen
und politische Rahmenbedingungen schaffen können,
um die Stärkung von Gesundheitssystemen weiter voranzubringen und dem deutschen Sitz im Exekutivrat der
WHO auch und gerade von entwicklungspolitischer
Seite gestaltendes Gewicht geben können.
Die Gesundheitslage ist für die meisten Menschen auf
der Welt auch im 21. Jahrhundert katastrophal: Knapp
13 Millionen Menschen sterben jährlich an Krankheiten, die eigentlich behandelbar wären. Jährlich sterben
2 Millionen Menschen an Malaria, weil ihnen der nötige
Zugang zu den unbezahlbaren und patentierten Arzneimitteln fehlt. Auf der anderen Seite verdienen Firmen
Milliarden an Blockbustern für Wohlstandsleiden wie
Haarausfall, Schlaf- oder Erektionsstörungen. Laut
WHO ist knapp ein Drittel der Weltbevölkerung vom Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln abgeschnitten.
Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan,
musste die sogenannte internationale Gemeinschaft erst
vor wenigen Wochen erneut dazu aufrufen, sich unverzüglich für die Umsetzung der UN-Entwicklungsziele
einzusetzen. Vier der acht im Jahr 2000 anvisierten
Ziele befassen sich mit Gesundheitsfragen.
Die bisherige Bilanz ist ein erbärmliches Zeugnis für
die mangelnde Solidarität der Industriestaaten. Europa,
die USA und Japan verbrauchen alleine 83 Prozent der
weltweiten Arzneimittel. Immer noch hat die Sicherung
der eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor Menschenleben. In den Bereichen Verbesserung der Müttergesundheit wurden gerade einmal 9 Prozent, bei der
Verringerung der Kindersterblichkeit 32 Prozent der
Millenniumsmarken erreicht. Zur tatsächlichen Umsetzung der Millenniumsziele wären schon vor Jahren eine
Abkehr vom neoliberalen Dogma und eine Hinwendung
zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung unabdingbar
gewesen. Nur so hätten Entwicklungsländer eigene
funktionierende Gesundheitssysteme aufbauen können.
Der vorliegende Antrag der Grünen trägt den Titel
„Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten“. Darin steht nichts Falsches, aber leider auch nichts, wodurch die vorhandenen Probleme grundsätzlich gelöst werden könnten.
Wenn wir nicht endlich bereit sind, mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen und die richtige Politik auch
gegen die Interessen der Pharmaindustrie durchzusetzen, wird sich die Situation nicht verbessern. Institute
mit dem Forschungsschwerpunkt „vernachlässigte
Krankheiten“, zum Beispiel das Max-Planck-Institut für
Infektionsbiologie, brauchen endlich mehr öffentliche
Finanzmittel. Die Linke hat ihre Vorstellungen zu diesem
Thema bereits in der letzten Legislaturperiode in dem
Bundestagsantrag „Öffentlich finanzierte Pharmainnovationen zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen“
detailliert dargestellt.
Die Bundesregierung muss sich auf europäischer
Ebene endlich dafür einsetzen, dass im Sinne der Beschlüsse der WHO keine weitere Verschärfung des weltZu Protokoll gegebene Reden
weiten Schutzes von Verwertung- und Eigentumsrechten
an pharmazeutischen Innovationen stattfindet. Dies betrifft TRIPS-plus-Bestimmungen ebenso wie die ACTAVerhandlungen. Die EU und mit ihr Deutschland betreiben verhängnisvollerweise derzeit jedoch eine entgegengesetzte Strategie. Das kurz vor dem Abschluss stehende Freihandelsabkommen der EU mit Indien
gefährdet die weltweite Versorgung von Aids-Kranken
mit bezahlbaren antiretroviralen Medikamenten massiv.
„Ärzte ohne Grenzen“ bezieht derzeit 80 Prozent der zur
Behandlung von HIV-Kranken benötigten Präparate
vom indischen Generikamarkt. Sollten die Patentlaufzeiten verlängert und eine Datenexklusivität, wie von der
EU geplant, umgesetzt werden, hätte dies unmittelbare
Folgen für die Überlebenschancen Hunderttausender
Menschen. Dies sind nur zwei von zahlreichen Beispielen, die die grundsätzliche Stoßrichtung der von der EU
derzeit mit mehreren Ländern angestrebten Freihandelsabkommen verdeutlichen.
Mit großem politischen Druck drängt die Europäische Union zum Abschluss von Abkommen, die soziale,
ökologische und menschenrechtliche Auswirkungen auf
die Menschen in den betroffenen Ländern ausblendet.
Die Linke lehnt diese Freihandelsabkommen grundsätzlich ab. Nur solidarische Wirtschaftsbeziehungen, die
den Bedürfnissen der Menschen Vorrang einräumen vor
den Interessen internationaler Konzerne, werden die
Gesundheitslage in den Ländern des Südens nachhaltig
verbessern.
Die globale Gesundheit verbessern, das ist der Auftrag der Weltgesundheitsorganisation. Deutschland ist
drittgrößter Geber zum regulären Haushalt und noch bis
2011 Mitglied des Exekutivrates, der die WHO-Versammlung vorbereitet. Damit haben wir einen besonderen Einfluss und eine herausragende moralische
Verpflichtung, wichtige Weichenstellungen zur Verbesserung der globalen Gesundheit voranzutreiben.
Die Bundesregierung verkennt die Realität, wenn sie
die Gesundheit in Entwicklungsländern einseitig durch
das Engagement vor Ort nachhaltig verbessern will und
dabei weitere Faktoren wie Patentrecht, Medikamentenhandel, Forschung und Entwicklung stiefmütterlich behandelt. Wir müssen uns vor Ort engagieren, Wirkung
wird dies aber nur zeigen, wenn die internationalen
Rahmenbedingungen stimmen, auf die die Bundesregierung direkt über die EU und vor allem in der WHO Einfluss nehmen muss. Diese Einflussnahme ist bisher leider nicht zu erkennen. Zwei Beispiele:
Forschung und Entwicklung finden noch immer größtenteils in Westeuropa und Nordamerika statt; doch leider profitieren Entwicklungsländer kaum davon. Seit
vielen Jahrzehnten hat es keine ausreichenden politischen Vorgaben gegeben. Im Gegenteil: Die EU generiert sich mehr als Interessenvertreter der europäischen
Pharmaindustrie. Zwischen 1974 und 2004 kamen 1 556
neue Medikamentenwirkstoffe auf den Markt. Acht Medikamente entfallen auf Malaria, Tuberkulose und alle
anderen - völlig vernachlässigten - Tropenkrankheiten.
Auf der anderen Seite werden jedes Jahr Potenzmittel im
Wert von circa 4 Milliarden Dollar verkauft. Der Markt
der Lifestyle-Medikamente wächst unaufhaltsam.
Das Problem besteht seit Jahrzehnten. Die Kanzlerin
hat es im Juni 2009 immerhin geschafft, die Zuständigkeit für diese Forschung in ihrem Kabinett zu klären; sie
liegt nun beim Forschungsministerium. Viel passiert ist
in der Förderung der Forschung zu vernachlässigten
Krankheiten trotzdem nicht, und in der Schwerpunktsetzung der Bundesregierung für die WHO taucht der
Punkt überhaupt nicht auf.
Ebenso wenig sind Generikaproduktion und -handel
Teil der Agenda der Bundesregierung in der WHO. Die
Gesundheitssituation in den Entwicklungsländern verlangt solidarisches, globales Handeln. Die Menschen
dort sind auf günstige Generika angewiesen! Momentan
nutzen 92 Prozent derjenigen, die in Entwicklungsländern gegen HIV behandelt werden, Generika, die meisten davon aus Indien.
Mit den TRIPS-Verhandlungen und im Rahmen der
Doha-Erklärung von 2001 wird zu Recht international
anerkannt, dass die öffentliche Gesundheit weltweit
über dem Recht auf Patentschutz und Profit steht. Trotzdem versucht die EU mit starker Unterstützung der Bundesregierung derzeit ein Freihandelsabkommen mit
Indien abzuschließen, das einen strikten Patentschutz
beinhaltet. Völlig inakzeptabel ist, dass dieses angestrebte TRIPS-Plus-Abkommen noch schärfere Bedingungen enthalten soll als international üblich. Damit
würde die Generikaproduktion massiv behindert. Für
viele Menschen in den Entwicklungsländern würde dies
einem Todesurteil gleichkommen.
Das gleiche Muster findet sich auch in Verhandlungen zu Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischen
Staaten. Die Bundesregierung macht sich international
unglaubwürdig. Es ist elementar, hier ein international
kohärentes Vorgehen zu entwickeln, welches die Medikamentenversorgung in Entwicklungsländern gewährleistet. Dies müsste Schwerpunkt der deutschen Bemühungen in der WHO sein. Leider verzichtet die
Bundesregierung darauf.
Der Fokus der Bundesregierung, die Gesundheitssysteme in Entwicklungsländern zu stärken, ist grundsätzlich zu begrüßen. Der internationale Schwung, der
derzeit in diese Debatte kommt, muss genutzt und vorangetrieben werden. Gute, letztlich multilaterale Ansätze
kommen zum Beispiel vom Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, von GAVI,
DNDi und der Weltbank. Die WHO muss hier eine Führungsrolle übernehmen, die Initiativen bündeln und zusammenführen.
Ein wesentlicher Aspekt dieser Ansätze ist die Gemeinnützigkeit. Leider wird auch im Bereich „Gesundheitssysteme und soziale Sicherung“ immer deutlicher,
dass die Regierungskoalition die Bedeutung der Gemeinnützigkeit nicht verstanden hat. Die deutsche Versicherungswirtschaft, unterstützt durch die Bundesregierung und gefördert durch das BMZ, greift in den
inzwischen schwer umkämpften internationalen MikroZu Protokoll gegebene Reden
versicherungsmarkt ein. Gleichzeitig unterstützt die
Bundesregierung massiv den Fonds „Leapfrog“, der
stolz auf seiner Homepage verkündet, er generiere
„strong returns for investors“! Die schwarz-gelbe
Koalition muss sich entscheiden, ob sie sich für die „Returns“ der deutschen Versicherungswirtschaft einsetzen
will oder ob sie zum Aufbau eines tragfähigen Versicherungswesens in den Entwicklungsländern beitragen will.
Momentan bestehen diesbezüglich erhebliche Zweifel.
Die Systematik ist klar: Sobald deutsche und europäische Interessen auf dem Spiel stehen, taucht die Bundesregierung entwicklungspolitisch ab, ignoriert Fragen
der globalen Gesundheit und verschreibt sich vorwiegend der Wirtschaftsförderung. Selbst wo ein durchaus
begrüßenswerter Schwerpunkt gesetzt wird, in diesem
Fall bei der Gesundheitssystemförderung, kann es sich
die Bundesregierung offensichtlich nicht verkneifen, auf
die Schaffung von Exportmärkten für deutsche Firmen
zu setzen. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, wenn von deutscher Entwicklungszusammenarbeit
auch deutsche Firmen profitieren. Entwicklungspolitik
kann aber kein Mittel zur Förderung deutscher Großkonzerne sein.
Neben dem Schwerpunkt Gesundheitssystemstärkung
möchte die schwarz-gelbe Koalition die Pandemievorsorge ins Visier nehmen. Die WHO hat im Zuge der sogenannten Schweinegrippepandemie massiv an Glaubwürdigkeit verloren - bei uns in Deutschland, aber vor
allem international in Entwicklungs- und Schwellenländern. Warum wurde die Definition der Pandemiestufe 6
geändert? Welche Rolle spielten große Pharmakonzerne
in diesem Prozess? Zum Beispiel sind einige Mitglieder
der „Strategic Advisory Group of Experts“, SAGE, die
die WHO zur Impf- und Immunisierungspolitik berät,
nachweislich finanziell von Pharmaunternehmen abhängig. Mittlerweile steht das Pandemiemanagement
der WHO weltweit in scharfer Kritik.
Im Januar hat es im Europarat eine sehr aufschlussreiche Anhörung zu diesem Thema gegeben, die die
Zweifel am Vorgehen der WHO vergrößert hat. Einer
Einladung zu einer zweiten Anhörung des Europarates
Ende März ist die WHO überhaupt nicht mehr gefolgt.
Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern regt
sich zusehends Widerstand gegen das Vorgehen der
WHO. Wir können von Glück reden, dass die sogenannte
Schweinegrippe ein Fehlalarm war. Bei einer wirklichen
Gefahr wäre es schlecht um die Versorgung der Menschen in Entwicklungsländern bestellt gewesen. Mexiko
musste sich Impfdosen von Kanada leihen. Indonesien
stellte bereits 2007 während der so genannten Vogelgrippe die Zusammenarbeit mit der WHO ein, da die
Impfstoffversorgung für Entwicklungsländer katastrophal war.
Es liegt nun an der schwarz-gelben Koalition zu handeln und die Initiative zu ergreifen. An Ansatzpunkten
mangelt es nicht: Die WHO muss die Kooperation mit
WTO und WIPO verstärken. Dabei muss sie mit Unterstützung der Bundesregierung das Thema globale Gesundheit vehement auf die Tagesordnung bringen. Wir
erleben derzeit in vielen bi- und multilateralen Verhandlungen starke Angriffe auf TRIPS-Flexibilitäten zur
Sicherung der öffentlichen Gesundheit. Die WHO muss
hier ein ernstzunehmender Gegenspieler werden.
Die Forschung zu vernachlässigten Krankheiten wird
in der WHO diskutiert; hier gibt es viele gute Ansätze. In
der Praxis gehen die Entwicklungen jedoch nur langsam
voran und werden häufig von der Zivilgesellschaft getrieben. Hier bedarf es eines klaren Bekenntnisses der
Bundesregierung und einer schnellen Umsetzung von
Programmen in Deutschland und international über die
WHO.
Die Gesundheitssystemstärkung muss sowohl in der
WHO als auch bilateral vorangetrieben werden. Wo immer es die Governance-Kriterien zulassen, muss durch
sektorale Budgethilfe ein langfristig selbsttragendes
System in Eigenregie der Partnerländer unterstützt werden.
Die Vorgänge im Zusammenhang mit der H1N1-Pandemie müssen aufgeklärt werden, und es müssen Konzepte entwickelt werden, wie in Zukunft eine objektive
Beurteilung der Lage und eine globale Versorgung aller
Menschen erreicht werden können. Die WHO hat hierzu
bereits eine Kommission eingesetzt. Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass diese nicht zur Farce wird,
dass umfassend aufgeklärt wird und dass konkrete Vorschläge ausgearbeitet werden.
Deutschland ist nach neun Jahren Pause seit 2009
wieder im Exekutivrat der WHO vertreten, und wir haben Einfluss auf die zukünftige Ausrichtung der WHO.
Es wird Zeit, dass wir das kleinkarierte egozentrische
Denken hinter uns lassen und das vorantreiben, was Ziel
der WHO ist: die globale Gesundheit!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1581 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen
- Drucksache 17/1742 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul,
CDU/CSU, Ute Vogt und Hans-Joachim Hacker, SPD,
Judith Skudelny, FDP, Katrin Kunert, Die Linke,
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Der Sport leistet für die Aktivierung und den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbare
Beiträge, die es zu fördern gilt. Darüber besteht Einigkeit, und genau so haben es die Koalitionspartner der
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion im Koalitionsvertrag
festgeschrieben.
In dem Antrag der Linksfraktion, der hier heute beraten wird, ist zu lesen, dass zur Erfüllung dieser Förderungsaufgabe ein hinreichender Zugang zu Sportangeboten bestehen muss. Weiter sei die Bundesregierung
aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung in der
Pflicht, Rahmenbedingungen für die Entfaltung des
Breitensports zu schaffen. Und, dass zu diesem Zweck
eine ausreichende Zahl an wohnortnahen und gut zu erreichenden Sportanlagen vorgehalten oder geschaffen
werden müsse.
Auch in diesem Punkt besteht Einigkeit. Der Sport,
hier insbesondere der Schul-, Universitäts- und Breitensport, ist für eine motorische Entwicklung vor allem von
Kindern und Jugendlichen, aber ebenso für die Gesundheit aller anderen Bevölkerungsgruppen unerlässlich.
Rechtlich verbindliche Regelungen dafür zu schaffen,
dass der Sport von allen Teilen der Gesellschaft ausgeübt werden kann, ist daher eine wichtige Aufgabe der
Politik.
Diese wichtige Aufgabe hat die damalige christlichliberale Bundesregierung bereits im Jahre 1991 erkannt.
Sie hat sich dieser Verantwortung gestellt und mit der
18. BImSchV, der sogenannten Sportanlagenlärmschutzverordnung, genau diese rechtlich verbindlichen Regelungen geschaffen. Diese Verordnung, die eine Konkretisierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes darstellt,
bewirkt nämlich genau das, was der hier diskutierte Antrag nach Aussage der Linksfraktion zum Ziel hat:
Sportanlagen werden, als Bereicherung des sozialen
und kulturellen Lebens, durch diese Verordnung mit den
ihnen gebührenden Privilegien versehen und eben nicht
genauso behandelt, wie etwa eine störende Industrieanlage.
Dass diese Privilegierung greift und rechtlich Bestand hat, zeigt sich auch mit Blick auf die Rechtsprechung zu diesem Thema. Anders, als es uns die Linksfraktion hier weismachen will, gibt es nämlich nicht
etwa Hunderte Verfahren, bei denen im Konflikt zwischen Sportbelangen und Anwohnerinteressen dem Breiten- oder Spitzensport eine Absage erteilt worden wäre.
Ich sage es noch konkreter: Die Recherche in den Rechtsprechungsdatenbanken belegt, dass schon die Zahl der
Fälle, in denen ein Gerichtsverfahren überhaupt nur eröffnet wurde, seit der Einführung der 18. BImSchV drastisch zurückgegangen ist. Die Zahl der Entscheidungen
zulasten des Weiterbetriebes einer Sportanlage in diesen
Verfahren tendiert sogar gegen null.
Die Linksfraktion scheint nun der Auffassung zu sein,
die Privilegierung ginge nicht weit genug. Nur so ist zu
verstehen, dass in ihrem Antrag gefordert wird,
Sportlärm solle gar nicht erst als Lärm im Sinne des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes qualifiziert werden.
Das heißt im Klartext, dass Gerichtsverfahren der Anwohner gegen Sportanlagen grundsätzlich erfolglos wären. Eine solche Regelung wäre verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich - schließlich würde durch sie den
Anwohnern der grundgesetzlich garantierte effektive
Rechtsschutz abgeschnitten.
Gerade im Fall von Lärmemissionen verbietet sich
zudem eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbeeinträchtigung. Die Störungsintensität hängt vielmehr
entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der
Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher
zwingend notwendig, in jedem einzelnen Fall zu bewerten, wie intensiv die Belastung der Umgebung tatsächlich ist.
Unter diesen Aspekten frage ich mich, wie die Forderung nach bedingungsloser Privilegierung der Sportanlagen mit der im selben Antrag von der Linksfraktion gestellten Forderung nach einem angemessenen Ausgleich
der Belange der Sporttreibenden und der Anwohner in
Einklang zu bringen sein soll. Ein solcher Ansatz ist völlig ungeeignet, wenn nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden soll.
Vielmehr ist durch die Sportanlagenlärmschutzverordnung, die im JURIS-Ausdruck auf elf Seiten Text ausschließlich und umfassend dieses Thema behandelt, ein
Rechtsregime gegeben, dass den Besonderheiten dieser
Konstellation, der Privilegierungsnotwendigkeit von
Sportanlagen einerseits und dem ebenso erforderlichen
Anwohnerschutz andererseits, angemessen Rechnung
trägt.
Das Gleiche gilt auch für die Änderungen, die die
Linksfraktion im Bereich des Bauplanungsrechts vorschlägt, nämlich jede Sportanlagen bedingungslos in jedem Wohngebiet zuzulassen.
Die Einrichtung von reinen Wohngebieten und Kleinsiedlungsgebieten durch den Gesetzgeber dient dem berechtigten Interesse der Anwohner, vor Beeinträchtigungen durch andere bauliche Nutzungen geschützt zu sein.
Gleichwohl ist das Interesse der Bewohner dieser Gebiete an ortsnah eingerichteten Sportanlagen im Gesetz
durch eine Zulassungsmöglichkeit für diese Anlagen berücksichtigt. Dass die Zulassung von Sportanlagen an
bestimmte Kriterien geknüpft ist und einer besonderen
Prüfung im Einzelfall bedarf, ist wiederum nur dem angemessenen Ausgleich zwischen Anwohnerinteressen
und dem Interesse der Sporttreibenden geschuldet. Eine
pauschale, bedingungslose Zulassung aller Arten von
Sportanlagen, wie sie hier gefordert wird, ist daher in
solchen Wohngebieten fehl am Platze.
Der Gedanke, der dem hier diskutierten Antrag zugrunde liegt, nämlich den Breitensport für alle Altersgruppen und insbesondere für Kinder und Jugendliche
zu ermöglichen, ist allerdings richtig und auch als Aufgabe der Koalition bestimmt worden.
Durch die hier vorgeschlagene Umsetzung würden
aber völlig unnötig die präzisen Regelungen des bereits
bestehenden Rechtsregimes beseitigt und durch generalisierte Regelungen ersetzt, die eine Berücksichtigung
der ebenfalls berechtigten Anwohnerinteressen nicht
mehr ermöglichen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine solche bewusste Verschlechterung des Regelungszustandes, durch die obendrein keine direkte Verbesserung für die Sportförderung erreicht wird, kann
und wird durch die CDU/CSU-Fraktion nicht unterstützt
werden.
Diese Initiative für eine immissions- und baurechtliche Privilegierung von Sportanlagen wäre nicht notwendig, wenn die Bundesregierung ihrer Arbeit nachkommen und die Beschlüsse des Parlaments umsetzen
würde. Denn am 2. Juli letzten Jahres hat das Parlament
im Rahmen eines Antrags, Drucksache 16/13578, unter
anderem Folgendes beschlossen:
Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, …
die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den
Bundesländern so zu verändern, dass Sport- und
Spielplätze nicht mehr so stark in ihrer Nutzung
eingeschränkt und somit dringend benötigte Bewegungsräume eingeengt werden. Hierzu sind mögliche kurzfristige Vorschläge zu unterbreiten …
Nur war es aufgrund der Bundestagswahl jedenfalls
dem sozialdemokratischen Teil der damaligen Regierung leider nicht mehr möglich, dieses Votum umzusetzen. Aber ich wüsste nicht, was den christdemokratischen Teil, der damals wie heute regiert, daran hindert,
diesen Beschlüssen Taten folgen zu lassen.
Es besteht großer Handlungsbedarf! Es sind nicht
nur Sportplätze, denen das Aus droht. Auch die Zahl der
Bolzplätze wird immer kleiner, weil Anwohner gegen
diese klagen - und sich dabei auf das Bundes-Immissionsschutzgesetz berufen. Auch in meinem Wahlkreis
Stuttgart sind bereits Sport- und Bolzplätze von Schließung bedroht oder nur noch unter großen Einschränkungen nutzbar. Für Jugendliche gerade in größeren
Städten ist dies eine fatale Entwicklung. Auf den Bolzplätzen findet Integration statt, bewegen sich Jugendliche, statt fernzusehen, und dort können sie Zeit sinnvoll
miteinander verbringen. Man kann sich Kampagnen für
mehr Bewegung, gesunde Ernährung und bewusstere
Lebensweisen komplett sparen, wenn gleichzeitig die
Freiräume und Spielflächen immer weniger werden.
Wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, werden
immer mehr Plätze schließen müssen. Diese dann wieder in Betrieb zu nehmen, dürfte sicher um einiges
schwieriger werden, als bestehende Anlagen zu erhalten.
Der vorliegende Antrag schweigt jedoch über alles,
was über Sportplätze hinausgeht, und greift damit zu
kurz. Richtig ist, dass viele Vereine darauf angewiesen
sind, dass wir den gesetzlichen Rahmen ändern, weil
sonst vielerorts der Breitensport nicht mehr stattfinden
kann. Aber der SPD geht es nicht allein um den organisierten Sport. Wir möchten auch denjenigen Jugendlichen eine Chance geben, die nicht in Vereinen, sondern
eben auf Bolzplätzen ihre Freizeit verbringen. Ich will
offen sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob die im Antrag
vorgeschlagene Lösung in Form einer Einzelauflistung
von Ausnahmen in § 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz
der zielführende Ansatz ist, der unsere Probleme lösen
kann. Aber wir wissen, dass wir schnell eine gesetzliche
Neuregelung brauchen.
Die Bundesregierung hat bereits den Auftrag, uns Lösungsansätze vorzuschlagen. Ich fordere sie daher auf,
die notwendigen Vorschläge nicht nur in Bezug auf
Sportstätten schnell vorzulegen, sondern gleich den vorliegenden SPD-Antrag zur Privilegierung von Kinderlärm und die Verbesserung der Nutzung von Bolzplätzen
dabei einzubeziehen. Das Thema verdient eine ausführliche Debatte, und es erfordert ein zügiges Handeln der
Bundesregierung.
Sport gehört zum Leben, Sport gehört in unser Leben.
Als wichtiger Teil gesellschaftlicher Aktivitäten gehören
damit kleinere und größere Sportplätze oder Sporthallen
in unsere Mitte. Das führt immer wieder zu Konflikten;
denn es bleibt nicht aus, dass die Sportlerinnen und
Sportler angefeuert werden, dass es auch Geräusche
gibt, wenn der Ball in ein Tor fliegt oder gegen eine
Wand prallt. Wir wollen aber, dass Sport in unseren
Städten und Gemeinden „um die Ecke“ getrieben werden kann, dass man nicht weit raus in unbewohnte Gegenden fahren muss, um Fußball oder Tennis zu spielen.
Wir können die Konflikte um Lärm nicht wegdiskutieren.
Wir brauchen dazu Rücksichtnahme und Toleranz Rücksicht auf Anwohnerinnen und Anwohner, Toleranz
für Sportlerinnen und Sportler.
Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach mit
dem Thema Sport und Lärm beschäftigt. Ich möchte nur
an einen Antrag erinnern. Im vergangenen Jahr
beschloss der Bundestag den Antrag „Sport fördert
Integration“. Mit diesem Beschluss der damaligen Koalitionsfraktionen wurde die Bundesregierung aufgefordert, kurzfristig Vorschläge zu unterbreiten, die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den Bundesländern
so zu verändern, dass Sport- und Spielplätze nicht mehr
so stark in ihrer Nutzung eingeschränkt werden. Das ist
auch Ziel des Antrags der Linken. Aufgrund des Bundestagsbeschlusses bedürfte es dieses Antrags überhaupt
nicht, denn der Bundestag hat sich schon unmissverständlich geäußert.
Ich habe die Bundesregierung vor wenigen Wochen
dazu befragt, wie sie mit diesem Beschluss des Bundestages in diesem Punkt bisher umgegangen ist. Leider
kam als Antwort nur, dass die Bundesregierung hier weiter prüft, welche Änderungen im Lärmschutzrecht vorgenommen werden müssen. Ich wünschte mir, dass es
hier etwas schneller ginge. Die Startphase für die
schwarz-gelbe Bundesregierung ist wahrlich vorbei.
Wir haben bei der Problematik des Kinderlärms von
Kindertageseinrichtungen - ich verweise auf den SPDAntrag dazu - Ähnliches diskutiert und warten auch hier
darauf, dass die Bundesregierung reagiert. Der Antrag
der Linken muss in den Fachausschüssen debattiert werden. Wir sind uns sicher in der Intention des Antrages einig, dafür haben wir bereits den benannten Beschluss
gefasst. Ob das Bundesimmissionsrecht in dieser Form
geändert werden muss oder ob nach der vorgeschlagenen Änderung noch Fragen offen bleiben oder ob sie zu
Zu Protokoll gegebene Reden
weit geht - Stichwort: große Fußballstadien -, das sollten wir eingehend fachlich diskutieren.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag Änderungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes und der
Baunutzungsverordnung. Die Änderungen sollen zum einen bewirken, dass Lärm aus Sportanlagen nicht mehr
als störender Lärm qualifiziert wird. Zum anderen fordert der Antrag eine Erhöhung der festgelegten Lärmgrenzwerte auch in reinen Wohngebieten und - durch
Änderung der Baunutzungsverordnung - eine grundsätzliche Zulässigkeit von Sportanlagen in Wohngebieten.
Die FDP ist gegen eine generelle Privilegierung von
Sportanlagen. Wenn es sich um Bolzplätze handelt, also
kleinere Spielplätze ohne technische Infrastruktur wie
Umkleiden, Duschen usw., und diese mitten in Wohngebieten gelegen sind, ist die Situation anders zu beurteilen. Hier ist es sinnvoll, diese zumindest für Kinder bis
14 Jahren in reinen Wohngebieten zu privilegieren.
Denn nur durch die Ansiedlung solcher Freizeiträume in
unmittelbarer Nähe zur schützenden Umgebung, beispielsweise dem Elternhaus, ist gewährleistet, dass Kinder diese Bolzplätze wirklich nutzen. Sportanlagen dagegen sind bereits ausreichend geschützt.
Die 18. Bundesimmissionsschutzverordnung - Sportanlagen-Lärmschutzverordnung - regelt die Emissionswerte für Sportanlagen. Diese sind unterschiedlich hoch
ausgestaltet für Gewerbegebiete, Mischgebiete, reine
Wohngebiete etc. Da Sportanlagen im Regelfall eher außerhalb von Wohngebieten angesiedelt sind, sind die unterschiedlichen Lärmgrenzwerte für unterschiedliche
Siedlungsräume eine praktikable Lösung.
Das im Antrag genannte Beispiel der Anlage in Berlin-Kreuzberg ist dagegen ein Sonderfall und taugt nicht
dazu, den Antrag zu begründen. Auf dem vom Berliner
Senat finanziell unterstützten Gelände wird seit den
60er-Jahren Fußball gespielt. Kinder- und Jugendmannschaften des Fußballclubs S. C. Berliner Amateure
trainieren wochentags zwischen 16.00 und 21.00 Uhr.
Im Wege gerichtlicher Verfügungen hatten Anwohner in
der Vergangenheit allerdings erstritten, dass keine Trillerpfeifen mehr genutzt werden dürfen. Außerdem muss
das Flutlicht wochentags ab 21.00 Uhr abgeschaltet
werden. Und sonntags darf nur bis 15.00 Uhr trainiert
werden. Die getroffenen Einschränkungen für die Trainingszeiten sind meiner Meinung nach gerechtfertigt.
Unter 16-Jährige haben, in Anlehnung an das Jugendschutzgesetz, bis 22.00 Uhr zu Hause zu sein. Insofern
fügt sich eine bis maximal 21.00 Uhr andauernde Trainingszeit zuzüglich Umkleiden und Heimfahrt in eine
übliche Praxis ein.
Neben diesem nicht allgemein gültigen Beispiel der
Berliner Sportanlage versucht die Linke in ihrem Antrag, arm gegen reich auszuspielen. Der Verweis auf die
vermeintlich klagewütigen Eigentümer von Luxuswohnungen ist aber keine Begründung für die Forderungen.
Lärmschutz ist für die FDP kein Problem von wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Auch sozial schwache
Menschen können von Lärm krank werden. Selbst ein
dahinterstehender Einwand, ärmere Menschen würden
mangels finanzieller Mittel nicht so häufig vor Gericht
ziehen, trägt nicht: Durch die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe können auch diese gerichtlich gegen den
Lärmverursacher vorgehen. Auf diesem Weg können
auch finanzschwächere Menschen ihre berechtigten Interessen durchsetzen!
Fakt ist: Der demografische Wandel zwingt uns zu
angemessener Interessenabwägung, ohne die eine
Gruppe über die andere zu stellen. Denn die Zahl der
Rechtsstreitigkeiten nimmt nicht etwa aufgrund mangelhafter Gesetze zu. Sie nimmt zu aufgrund einer geringeren Toleranz von Mensch zu Mensch. Die Anzahl älterer
Mitbürger in der Gesellschaft wächst. Wir wissen alle,
dass ältere Menschen ruhebedürftiger sind. Die subjektive Schwelle, ab wann Lärm als störend empfunden
wird, liegt demzufolge bei mehr Menschen niedriger als
noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten.
Ich finde es im Sinne eines guten Miteinanders grundfalsch, pauschal zugunsten einer Gruppe zu entscheiden.
Das aber will der vorliegende Antrag. Er will Sportanlagen regelmäßig privilegieren. Die Lösung darf aber
nicht heißen: Privilegierung des einen und Ausschluss
des anderen. Die Lösung muss vielmehr „Denken im
Vorfeld“ heißen - zum Beispiel durch intelligente Flächenplanung.
Was der vorliegende Antrag hier verschweigt: Durch
eine Ausschöpfung der bereits zur Verfügung stehenden
politischen Instrumente - hier maßgeblich ein intelligentes Bauplanungsrecht - hätte die Situation in der
Berliner Körtestraße entscheidend entschärft werden
können. Denn ein Bebauungsplanverfahren hätte die Zukunft des Sportplatzes sichern können. Dieser wurde
aber von Linken und Grünen im Bezirk abgelehnt. Das
richtige Agieren auf kommunaler Ebene hätte den Antrag also vielleicht überflüssig gemacht.
Die Linke befasst sich in diesem Plenum nicht zum
ersten Mal mit der gesellschaftlichen Bedeutung des
Sports. Im Fokus steht heute der Breitensport, der nach
wie vor von unschätzbar großer Bedeutung für unsere
Gesellschaft ist. Die rund 90 000 Turn- und Sportvereine mit ihren etwa 27 Millionen Mitgliedern fördern bereits im frühen Kindesalter soziale Kompetenzen und die
Fähigkeit des respektvollen Umgangs von Menschen unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft. Die
Stärke des Breitensports liegt gerade darin, dass die für
ein friedliches und solidarisches Miteinander in der Gesellschaft erforderlichen Fähigkeiten quasi spielend
erlernt werden. Örtliche Sportvereine sowohl im ländlichen Raum als auch in den Städten haben die Fähigkeiten, die Einwohnerinnen und Einwohner eines Dorfes
oder eines Stadtviertels auf vielfältige Weise zusammenzubringen. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Begegnungen im Rahmen sportlicher Wettkämpfe, sondern
auch im Rahmen von Vereinsfesten und Veranstaltungen.
Auch wenn wir in Bezug auf die eben genannten positiven Impulse des Sports von einer großen Zustimmung
Zu Protokoll gegebene Reden
in diesem Hause ausgehen können, müssen wir leider
zunehmend zur Kenntnis nehmen, dass es für Sportlerinnen, Sportler und Sportvereine in der Praxis immer
schwieriger wird, ihre Aktivitäten in einem angemessenen Rahmen auszuüben. Wir stellen fest, dass die Akzeptanz für den Breitensport und die damit verbundene
sportliche Betätigung zumindest in Teilen der Gesellschaft abnimmt. Ähnlich wie bei den Klagen gegen den
sogenannten Kinderlärm kommt es im Bereich von
Sportanlagen in zunehmendem Maße zu gerichtlichen
Auseinandersetzungen zwischen Betreibern und Nutzerinnen und Nutzern der Anlagen auf der einen und den
Anwohnerinnen und Anwohnern auf der anderen Seite.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Fraktion Die Linke möchte die Anwohnerinnen und Anwohner von Sportanlagen keinesfalls ihrer legitimen Rechte
berauben, sich gegen eine übermäßige Lärmbelästigung
zu wehren. Selbstverständlich sind Sportanlagen stets
auch nach immissionsrechtlichen Gesichtspunkten zu
beurteilen. Auch wenn man sportlichen Aktivitäten einen
noch so hohen gesellschaftlichen Wert beimisst, ist klar,
dass sich die von Sportanlagen ausgehenden Immissionen störend auf die Anwohnerinnen und Anwohner auswirken können. Die Aufgabe des Gesetzgebers und der
Gerichte besteht mithin darin, dafür zu sorgen, dass die
Belange der Anwohnerinnen und Anwohner und der
Nutzerinnen und Nutzer von Sportanlagen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden.
Nun häufen sich jedoch Fälle, in denen die Klagen
von Anwohnerinnen und Anwohnern dazu führen, dass
Sportplätze, die zum Teil seit Jahrzehnten in Betrieb
sind, Auflagen erteilt bekommen, die den sportlichen Betrieb nahezu unmöglich machen. So verbietet zum Beispiel ein Gericht den Betreibern eines seit Jahrzehnten
bestehenden Fußballplatzes den Spielbetrieb am Sonntagnachmittag, weil eine Nachbarin zuvor geklagt hatte.
Jeder, der sich im Vereinsfußball auskennt, weiß, wie
wichtig der Sonntag als Spieltag ist.
Der Deutsche Olympische Sportbund vertritt die Auffassung, dass breitensportliche Betätigung dort möglich
sein soll, wo die Menschen leben. Dem stimmen wir zu,
da eine Verlagerung von Sportanlagen in weniger bewohnte Randgebiete oder Industriegebiete in vielen Fällen dazu führt, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen letztlich von deren Nutzung ausgeschlossen werden
und der Breitensport so sein Potenzial nicht voll
ausspielen kann. Im Deutschen Bundestag ist eine Verständigung darüber notwendig, in welchem Ausmaß
Lärmimmissionen von Sportanlagen in bewohnten Gebieten zumutbar sind.
Wir sind der Meinung, dass die legitimen Ruhebedürfnisse von Anwohnerinnen und Anwohnern rechtlich
geschützt werden können, ohne dass die Belange der
Sporttreibenden komplett zurückgestellt werden müssen.
Wir fordern, dass die von Sportanlagen ausgehenden
Lärmimmissionen in der Regel nicht mehr als schädliche Umwelteinwirkung angesehen werden. Außerdem
zeigen praktische Erfahrungen, dass bereits eine minimale Erhöhung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte
in der Sportanlagenlärmschutzverordnung dazu führen
würde, dass der Spielbetrieb auf Sportplätzen, etwa in
Form des sonntäglichen Fußballspiels, nicht mehr so
ohne Weiteres verboten werden kann. Ich bitte daher um
Zustimmung zu unserem Antrag.
Die Linke verweist in ihrem Antrag auf die große gesellschaftliche Bedeutung des Breitensports und darauf,
dass alle gesellschaftlichen Gruppen hinreichend Zugang zu Angeboten des Breitensports haben sollen. Die
Linke sieht den Bund in der Pflicht, die Rahmenbedingungen für eine angemessene Entwicklung des Breitensports zu optimieren.
Richtig ist: Die Sportvereine können ihrer Aufgabe
nur dann nachkommen, wenn genügend Sportanlagen
im Wohnumfeld zur Verfügung stehen. Immissionen
durch Aktivitäten in Sportanlagen möchte die Linke
rechtlich nicht mit den Immissionen durch Gewerbeoder Verkehrslärm gleichgesetzt wissen, da es sich bei
Ersterem um eine Ausdrucksform und Begleiterscheinungen sozialen Verhaltens handelt. Sportanlagen sollten deswegen nicht in erster Linie als regelungsbedürftige Störungen, sondern als Bereicherung des sozialen
und kulturellen Lebens angesehen werden. Konkret fordert die Linke in ihrem Antrag von der Bundesregierung
einen Gesetzesentwurf, der sportliche Anlagen immissions- und baurechtlich privilegiert.
Dies soll durch eine Reihe von Maßnahmen geschehen: Ergänzung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,
§ 3 Abs. 1 - von Sportanlagen ausgehender Lärm stellt
in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung im
Sinne dieses Gesetzes dar -; Angleichung der Immissionsrichtwerte für reine Wohngebiete an die für allgemeine Wohngebiete und Kleinsiedlungsgebiete in der
Sportanlagenlärmschutzverordnung; Aufhebung der
festgelegten Ruhezeiten für Sonn- und Feiertage; Ergänzung der 18. Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes - Übergangsfristen zur Einhaltung der Immissionsrichtwerte sollen durch die zuständige Behörde bis 2020 bzw. in Ausnahmefällen bis
2022 gewährt werden können -; Änderung der Baunutzungsverordnung: Anlagen, die sportlichen Zwecken
dienen, sollen in der Regel zulässig kategorisiert werden, nicht nur in Ausnahmefällen.
Jetzt ist die Frage zu stellen: Ist eine Neuregelung der
Lärmschutzvorschriften an dieser Stelle notwendig oder
kontraproduktiv? Schließlich plant die Linke mit der
Einfügung in den Definitionsteil des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, § 3, eine grundsätzliche Neujustierung. Aber ist es richtig, dass in der Praxis immer und
überall der Lärm von Sportanlagen keine schädlichen
oder belastenden Folgen für die Umgebung hat? Hier
differenziert die Linke überhaupt nicht zwischen wohnortnahen Bolzplätzen, auf denen die Kinder und Jugendlichen aus der Umgebung spielen, und kommerziell
genutzten Sportstätten, auf denen sich mitunter Zehntausende Zuschauer unter Flutlicht und erheblichem Lärm
aufhalten.
Mit den Vorschlägen will die Linke mit Blick auf die
Anlage unterschiedslos Lärmschutzstandards aufweiZu Protokoll gegebene Reden
chen. Dies scheint uns überhaupt nicht der geeignete
Weg. Sinn und Zweck der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes war schließlich, einen Kompromiss zwischen Sporttreibenden,
Sportveranstaltern und Anwohnern zu finden. Man kann
aus unserer Sicht durchaus die Frage stellen, ob die Regelungen auch für kleine, nicht kommerziell genutzte
Sportanlagen in Wohngebieten angemessen sind oder ob
es hier Neuregelungen braucht.
Selbstverständlich gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Lärm, der durch Industrieanlagen oder
Verkehr entsteht, und Lärm, den Kinder und Jugendliche
auf öffentlichen Sportplätzen verursachen. Deswegen
müssen beide Lärmbeeinträchtigungen auch unterschiedlich behandelt werden. Sporttreibende Menschen
sollen in unserer Gesellschaft nicht als Ärgernis wahrgenommen werden. Wir sollten vielmehr froh sein, wenn
sich Menschen sportlich betätigen und nicht nur zu
Hause vor dem Fernseher, der Spielkonsole oder dem
Computer sitzen, vor allem Kinder.
Für uns Grüne hat der Breitensport eine sehr hohe
gesellschaftliche Bedeutung! In unserem Sportprogramm haben wir ausgeführt, dass die Rahmenbedingungen für den Breitensport verbessert werden müssen.
Denn Spiel und Sport machen nicht nur Spaß, sondern
sind menschliche Grundbedürfnisse. Regelmäßige
sportliche Betätigung fördert außerdem Gesundheit, Lebensfreude, soziales Miteinander und Lernvermögen.
Dies sollte die Gesellschaft auch anerkennen, selbst
wenn es für die eine oder den anderen, der in der Nachbarschaft von Sportanlagen wohnt, nicht immer auf
Wohlwollen stößt. Das gilt auch für spielende Kinder im
Garten oder auf der Straße. Wir wollen nicht weniger
Menschen auf den Straßen, Plätzen und eben auch in
Sportanlagen sehen, die sich körperlich betätigen, sondern mehr davon.
Leider wurde auch in der Stadtplanung bisher viel zu
wenig Rücksicht darauf genommen, Möglichkeiten für
körperliche Betätigungen zu schaffen. Dennoch: Wenn
Anlagen in dicht bewohnten Gegenden liegen und hochfrequentiert sind, müssen die Sporttreibenden und ihre
Zuschauer auf dafür vorgesehenen Anlagen Rücksicht
nehmen, auf die Bedürfnisse von Anwohnern in dicht bewohnten Gegenden. Eine rechtliche Lösung des Problems ist nicht so einfach, wie es sich die Linke, nach ihrem Antrag zu urteilen, macht. Die Problematik bedarf
der Anhörung von Fachleuten und einer eingehenden
Beratung in den Ausschüssen.
Mit uns ist eine derart pauschale Absenkung von
Lärmschutzstandards nicht zu machen; ich sage dies mit
Bedacht auch als Sportpolitiker. Überdies finde ich es
schon erstaunlich, dass der Linken etwa beim Fluglärm
kein Grenzwert scharf genug ist. Aber wo es nebenbei
auch um eine fortbestehende Privilegierung der Sportstätten in den neuen Ländern geht - die schon Übergangsfristen von 10 Jahren für Lärmschutzmaßnahmen
erhielten -, ist der Linken der Schutz der Bevölkerung
vor Lärm doch sehr wenig wert. Die Politik muss eine
Regelung finden, die Spiel und Sport im Wohngebiet ermöglicht und zugleich auch Anwohnerinteressen berücksichtigt. Lauten kommerziellen Spektakelsport allerdings sollten wir keineswegs privilegieren zulasten
der Anwohner.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1742 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte abschaffen
- Drucksache 17/1203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler,
CDU/CSU, Heinz Paula, SPD, Dr. Edmund Peter
Geisen, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke, Cornelia
Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
In den letzten zehn Jahren haben sich die Politik, die
Verbände und die Praktiker mehrmals intensiv und ergebnisoffen mit der sogenannten Hofabgabeklausel beschäftigt. Als Ergebnis dieser Diskussion, die sämtliche
Argumente für und wider eine Abgabeverpflichtung berücksichtigt hat, steht die Erkenntnis, dass die Hofabgabeklausel grundsätzlich erhalten werden sollte. Grundlage ist das Gesetz über die Alterssicherung der
Landwirte. Hier ist klar festgelegt, dass Voraussetzung
für den Bezug einer Rentenleistung grundsätzlich die
Abgabe des Unternehmens ist.
Diese Abgabeklausel ist nach wie vor ein notwendiges
strukturpolitisches Instrument. Sie erhält und verbessert
die Flächengrundlage für die wirtschaftenden Betriebe.
Sie sorgt dafür, dass gut ausgebildete, motivierte Betriebsleiter ans Ruder kommen, weil der rechtzeitige Generationswechsel gefördert wird. Diese Klausel wirkt
schließlich der Zersplitterung von Bewirtschaftungsflächen sowie einer Überalterung der aktiven landwirtschaftlichen Unternehmerinnen und Unternehmer entgegen. Es ist auch ein Erfolg deutscher Politik, dass unsere
aktiven Landwirte im Durchschnitt europaweit die
jüngsten sind.
Der Bund gibt jährlich rund 3,8 Milliarden Euro für
die landwirtschaftlichen Sozialsysteme aus. Diese Eigenständigkeit der Systeme wollen wir erhalten. Dafür
sind auch „Gegenleistungen“ wie die Hofabgabeklausel
notwendig. Eine derart einschneidende Regelung findet
sich - darauf weisen die Antragsteller zu Recht hin - im
Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Daher ist es richtig, dass die Beiträge zur Alterssicherung
der Landwirte gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung eine bessere Rentabilität aufweisen. Auch wenn
unterstellt wird, dass nur der 10-prozentige Vorteil gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung bei Abschaffung der Hofabgabeklausel gestrichen wird, würde
dies am Ende 10 Prozent niedrigere Renten bedeuten.
Das darf nicht das Ziel sein!
Sie unterstellen uns weiter, dass eine Abschaffung der
Hofabgabeklausel die Beiträge zu den landwirtschaftlichen Altersrenten vervielfachen würde. Das ist eine
Phantomdiskussion. Sie hat mit der Realität nichts zu
tun, und sie ist sachlich schlichtweg falsch.
Ich kann auch eine Diskriminierung jüngerer Ehegatten nicht erkennen. Die Möglichkeit, das Unternehmen
an einen jüngeren Ehegatten abzugeben, wurde erst vor
wenigen Jahren ausgeweitet. Das deckt zwar nicht alle
Fälle ab; aber eine Abgabe unter Ehegatten kann jetzt bis
zu einem maximalen Altersunterschied von zehn Jahren,
das heißt ab dem 55. Lebensjahr des nicht rentenberechtigten Ehegatten, bewirkt werden. Dies ändert allerdings
nichts an der Tatsache, dass die Unternehmensabgabe
grundsätzlich an die nachfolgende Generation stattfinden soll. Genau diesem Gedanken trägt die gerade erwähnte Erleichterung bei der „Ehegattenabgabe“ Rechnung.
Für den Fall, dass Hofnachfolger aufgrund ihres Alters noch nicht dazu in der Lage sind, das landwirtschaftliche Unternehmen als Betriebsleiter zu übernehmen, besteht die Möglichkeit, dass der übernehmende
Elternteil, also meist die Mutter, den landwirtschaftlichen Betrieb fortführt, bis die Nachfolge in die nächste
Generation geregelt werden kann. Diesen Aspekt lassen
die Antragsteller völlig außer Acht. Also auch hier haben wir schon Verbesserungen für die Praxis erreicht.
Hofabgabe hin oder her: Probleme, die sich zum Beispiel bei der gewerblichen Tierhaltung, bei Schwierigkeiten der Verpachtung von Steillagenweinbauflächen
oder der Nichtgewährung der Bäuerinnenrente bei fehlender Hofabgabe durch den Ehegatten ergeben, sind zu
lösen.
Eine generelle Abschaffung der Hofabgabeklausel
lehnen wir ab, auch wenn uns bewusst ist, dass die Hofabgabe dann besonders schwerfällt, wenn es keinen
Nachfolger gibt und der Renteneintritt damit automatisch zur Einstellung der Betriebstätigkeit führt. Dennoch hat die intensive Diskussion unter den aktiven
Landwirten gezeigt, dass sich die überwältigende Mehrheit ohne Vorbehalt für eine Beibehaltung der Hofabgabeklausel ausspricht. CDU und CSU haben es sich immer zum Grundsatz gemacht, auf die Praktiker zu hören.
Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Eine Petition eines Landwirte-Ehepaares aus Nordrhein-Westfalen beschäftigt seit einiger Zeit meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss: Ein
Ehepaar, das in naher Zukunft das Rentenalter erreicht,
wehrt sich aus unterschiedlichen Gründen gegen die
Hofabgabe als Voraussetzung dafür, ihre Rente aus der
Alterssicherung der Landwirte zu erhalten.
Auch eine Übertragung an einen gemeinnützigen Hof
ist ihnen nicht möglich, solange sie im Vorstand des als
Verein eingetragenen Hofes bleiben. Dies ist gesetzlich
so vorgeschrieben. Behalten sie bei Eintritt in das Rentenalter ihren Hof oder bleiben sie in einer führenden
Position des gemeinnützigen Vereins, müssen sie auf ihre
Alterssicherung aus der AdL verzichten.
Das Ehepaar sieht sich gegenüber anderen Rentnern
- auch im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz - benachteiligt. Sie empfinden diese Regelung als
in hohem Maße ungerecht. Sie fordern, dass das Gesetz
zur Alterssicherung für Landwirte, ALG, geändert wird.
5 Prozent der in Deutschland wirtschaftenden Landwirte - so sagen es die Zahlen - sehen diese Regelung
als Beschneidung ihrer Grundrechte an und fühlen sich
gegenüber anderen Berufsgruppen benachteiligt. Zumeist aus sehr individuellen Gründen.
Einige klagten vor dem Bundesverfassungsgericht.
Alle hohen Gerichte haben bisher die sogenannte Hofabgabeklausel als verfassungsgemäß bestätigt. Eine Benachteiligung gegenüber anderen Berufsgruppen sei
nicht gegeben.
Sie von den Grünen fordern in dem uns vorliegenden
Antrag die Abschaffung der Hofabgabeklausel. Sie bezeichnen sie als - ich zitiere - „nicht mehr zeitgemäß
und in höchstem Maße ungerecht.“ Als Begründung führen Sie den demografischen Wandel an. Die Hofabgabeklausel beschleunige das Höfesterben und den Strukturwandel. Sie bezeichnen es als zutiefst ungerecht, wenn
die Landwirte ihre Beiträge vierzig Jahre lang zahlen,
ihnen die Rente aber am Ende verwehrt wird, wenn sie
ihren Hof nicht abgeben. Sie bezeichnen es als skandalös, dass ein Landwirt seine Rente verliert, wenn er seinen Hof an einen zehn Jahre jüngeren Ehegatten überschreibt. Sie führen an, dass das bessere BeitragsLeistungs-Verhältnis der AdL gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung keine Verweigerung der Rentenzahlungen bei Beibehaltung des Hofes rechtfertigt.
Sie übersehen jedoch dabei, dass jeder Landwirt seinen Hof und 1,5 Hektar Land behalten darf, dass Rentenempfänger anderer Berufsgruppen zwar 400 Euro
dazuverdienen, nicht jedoch ein Unternehmen weiterführen dürfen. Sie übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung der Hofabgabe mehrfach als
mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat. Und Sie
übersehen eines: Die Hofabgabe war bisher immer politisch gewollt, und zwar parteiübergreifend.
1957 wurde die Notwendigkeit einer Alterssicherung
für selbstständige Landwirte anerkannt. Als Voraussetzung für den Erhalt der Alterssicherung gilt seitdem die
Abgabe des Hofes bzw. des landwirtschaftlichen Unternehmens. Auch nach der Reform des Agrarsozialgesetzes
1995 wurde das Instrument der Hofabgabe beibehalten.
In § 11 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Alterssicherung
für Landwirte, ALG, ist festgelegt, dass Landwirte Anspruch auf Altersrente haben, wenn sie das Unternehmen
der Landwirtschaft abgegeben haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Pflicht zur Abgabe des Hofes wurde hauptsächlich aus agrarstrukturellen Gründen eingeführt. Marktorientierung und erhöhte Produktivität auf größeren
Flächen waren das Ziel. Das war sinnvoll. Und es war
erfolgreich. Es war beabsichtigt, der jüngeren Generation rechtzeitig die Chance zu geben, den Hof der Eltern
- oder in einigen Fällen auch von Fremden - zu übernehmen. Und damit auch rechtzeitig die Verantwortung
für den Hof.
Deutschland ist das Land mit den jüngsten Landwirten in Europa. Die jüngere Generation ist mutiger, innovativer und kreativer. Sie gehen oft neue Wege und suchen Marktnischen, scheuen weniger Veränderungen als
die ältere Generation. Sie erhalten die Wettbewerbsfähigkeit und verbessern damit auch die Einkommenssituation der landwirtschaftlichen Betriebe.
Heutzutage ist es allerdings so, dass viele Kinder andere Wege gehen. Die Zahl der Übergaben eines Hofes
an die eigenen Kinder sinkt stetig. Die alternative Übernahme geschieht häufig durch fremde, expansionswillige Landwirte, durch Nebenerwerbslandwirte und größere Agrarbetriebe, die auch Flächen aufkaufen, die
nicht unmittelbar in der Nähe ihrer Unternehmen liegen.
Daher wollen die Landwirte häufig ihre, in vielen Fällen
eher kleinen Höfe, Unternehmen und Genossenschaftsanteile behalten und so lange weiterwirtschaften, wie es
eben geht. Der Hof und die Landwirtschaft ist seit vielen
Jahren ihr Lebensmittelpunkt, den sie nicht mit Beginn
des Rentenalters verlassen wollen.
Die Betriebsabgabe wird in vielen Fällen umgangen.
Das stellen die Kollegen und Kolleginnen der Grünen in
ihrem Antrag fest. In wie vielen genau, wissen sie und
wissen wir nicht. Meine Fraktion tendiert dazu, sich dieser Realität zu stellen. Wir können nicht die Augen vor
der Tatsache verschließen, dass die Hofabgabeklausel
für viele Landwirte anscheinend eine erhebliche Einschränkung ihres späteren Lebens bedeutet.
Neben der rechtzeitigen Übergabe der landwirtschaftlichen Unternehmen an die jüngere Generation verfolgte
die Hofabgabe noch ein anderes Ziel: Die Verpachtung,
der Verkauf beziehungsweise die Auflösung pachtfrei
werdender Flächen sollte die Hofkonzentration fördern.
Es war beabsichtigt, aus vielen kleineren einige größere
Höfe zu schaffen. Diese konnten besser und wettbewerbsfähiger wirtschaften. Die rechtzeitige Hofabgabe
sollte die Flächen leichter für andere zugängig machen.
Somit sollte der Strukturwandel in der Landwirtschaft
unterstützt werden. Diese Ziele entsprachen der damaligen Ausrichtung unserer Agrarpolitik und waren durchaus sinnvoll.
Heute sehen wir vieles in einem anderen Licht. Agrarpolitik ist nicht mehr nur Agrar- und Wirtschaftspolitik.
Sie ist zugleich Umweltpolitik, Tierschutzpolitik, Verbraucherpolitik, Tourismuspolitik. Sie ist multifunktional. Nicht mehr die Größe eines landwirtschaftlichen
Unternehmens ist ausschlaggebend, sondern die Art und
Weise der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung. Spätestens in der zurzeit laufenden Diskussion um die Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik
bekommen Merkmale wie Erhaltung der Artenvielfalt,
Sicherung der Bodenfunktion und der Wasserhaushalte,
Tierschutz und Klimaschutz einen weitaus höheren Stellenwert. Dies sollten wir beachten, wenn wir über eine
mögliche Abschaffung der Hofabgabeklausel diskutieren.
Die Alterssicherung der Landwirte ist seit jeher als
Teilsicherung konzipiert. Sie ist bewusst so gestaltet,
dass sie als zusätzliche Geldleistung zum betrieblichen
Anteil wirkt. Sie wird ausdrücklich als staatlich geförderte Geldleistung definiert. Die Höhe der Alterssicherung für Landwirte beträgt 475 Euro. Der Ehegatte erhält 224 Euro. Diese Leistungen sind unabhängig von
der Unternehmensgröße. Zusätzliche Rentenleistungen
erhalten die Landwirte unter anderem durch die private
Altersvorsorge.
Die Hofabgabeklausel war immer eng an die hohen
Bundeszuschüsse gebunden. Keine andere Berufsgruppe
in Deutschland erhält derart hohe Zuschüsse wie die
Landwirte. 70 Prozent der AdL werden durch Steuermittel finanziert.
Die Hofabgabe wurde auch als Ausgleich für die hohen Zuzahlungen definiert. Durch dieses Instrument
werden die hohen Bundeszuschüsse quasi legitimiert.
Bisher ist die Hofabgabe politisch gewollt. Es liegt an
uns, diese Klausel abzuschaffen oder zu ändern. Auf das
Sozialversicherungssystem als Ganzes wird die Abschaffung keine Auswirkungen haben.
In vielen Punkten stimme ich den Kolleginnen und
Kollegen der Grünen zu. Aber ich sehe auch: Die Hofabgabe hat sich über Jahre bewährt und war auch an ihren Zielen gemessen sehr erfolgreich. Ich sehe auch,
95 Prozent der Landwirte und landwirtschaftlichen Unternehmen haben keine Probleme mit der Abgabe.
Das ist also kein Thema, was man in einem Schnellschuss einfach so abhandelt. Das Für und das Wider
wollen sorgsam abgewogen sein: Was sagen die Betroffenen zu diesem Thema? Was sagt der Bauernverband?
Was sagt die AbL? Was sagen diejenigen, für die Pflicht
zur Hofübergabe kein Problem darstellt? Gibt es Möglichkeiten, nur Teile dieser Klausel zu ändern, eine Härtefallregelung einzuführen, damit beispielsweise das zu
Anfang erwähnte Ehepaar seinen Hof behalten kann,
obwohl die für die Tiere notwendige Fläche einen halben Hektar zu groß ist? Welche Möglichkeiten gibt es,
Problemen solcher Art zu begegnen?
Wir suchen das Gespräch mit den Betroffenen. Wir
wollen die Meinungen und Sichtweisen der anderen Beteiligten hören. Erst dann werden wir entscheiden, was
möglich und nötig ist. Meine Fraktion wird sich daher
- trotz einiger Übereinstimmungen - bei der Abstimmung zu diesem Antrag enthalten.
Mit der Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte verfolgte der Gesetzgeber 1957 ein agrarstrukturpolitisches Ziel: Die Junglandwirte sollten die Chance erhalten, ihr Wissen und
Können und damit häufig den Mut zur Modernisierung
Zu Protokoll gegebene Reden
in die landwirtschaftlichen Betriebe einzubringen. Das
Ziel war erfolgreich: Die Hofabgabe hat entscheidend
dazu beigetragen, dass die deutschen Landwirte im
Durchschnitt jünger sind als Ihre Kollegen in den anderen EU-Staaten.
Nun ist das Gesetz zur Alterssicherung der Landwirte
schon ein halbes Jahrhundert in Kraft - und die Landwirtschaft hat einen tiefgreifenden Strukturwandel hinter sich: Von den knapp 1,5 Millionen Betrieben Mitte
der 50er-Jahre waren 2008 noch rund 380 000 übrig.
Während ein Landwirt 1950 zehn Menschen mit Nahrungsmitteln versorgte, ernährt er 2006 schon 127 Menschen. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen haben
sich mehr als verdoppelt, viele Haupterwerbsbetriebe
sind zu Nebenerwerbsbetrieben geworden. Und inzwischen kommen auf 100 aktive Beitragszahler in der
landwirtschaftlichen Rentenkasse rund 250 Rentenempfänger.
Diesem Strukturwandel in der Landwirtschaft will
und muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So
übernimmt der Bund, ähnlich wie im Bergbau, mit der
1995 eingefügten Defizitdeckung inzwischen rund
70 Prozent der Kosten der Alterssicherung der Landwirte. Bei den Bergleuten liegt das Verhältnis Beiträge
zu Bundesmittel sogar bei eins zu sechs.
Aber führt der Strukturwandel wirklich dazu, dass die
Hofabgabe zutiefst ungerecht ist, sogar das Höfesterben
beschleunigt und deshalb abgeschafft werden muss, wie
Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag verlangen?
Ich habe während meiner Zeit im Petitionsausschuss
mehrere Petitionen erhalten, die diese These stützen: Da
war zum Beispiel der Fall eines Landwirtes, der den Hof
nicht an seine Frau abgeben konnte, weil diese wesentlich jünger war als er. Oder der des Landwirtes, der seinen gepachteten Betrieb aufgrund der wirtschaftlichen
Situation weder zu einem angemessenen Preis verpachten noch ihn stilllegen konnte, da seine zu erwartende
Rente unter Sozialhilfeniveau lag.
Auch habe ich viele Gespräche geführt mit Landwirten, die vehement für eine Abschaffung plädieren - vor
allem, weil die angestrebte Förderung des Generationenwechsels mangels Interesse gar nicht oder nur zum
Schein zustande komme und weil in Eigentumsrechte
eingegriffen werde. Spricht man hingegen mit Vertretern
des Deutschen Bauernverbandes, so kommt man zu dem
Schluss, dass dies alles doch eher Einzelfälle sind und
die breite Mehrheit mit der aktuellen Regelung zufrieden
ist.
Mein Fazit: Ja, ich halte die Hofabgabeverpflichtung
für reformbedürftig und fordere die Bundesregierung
auf, zu prüfen, inwieweit der strukturelle Wandel in der
Landwirtschaft Anpassungen notwendig macht. Ich halte
jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts davon, die
Hofabgabeklausel komplett abzuschaffen. Hier erwarte
ich auch mit Spannung, ob und wie möglicherweise die
Gerichte entscheiden.
Das eindeutige Votum der Landjugend ist für mich
ausschlaggebend: Wir müssen den Junglandwirten die
Chance lassen, den Hof zu übernehmen - um ihnen ihre
Zukunft nicht zu verbauen und um modernes Know-how
und Management in die Betriebe zu bringen. Es gilt, gemeinsam mit dem Berufsstand eine befriedigende Lösung für alle zu finden. Dafür setze ich mich ein.
Im Antrag 17/1203 fordert die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, die Hofabgabeklausel für den Bezug der
Altersrente für Landwirtinnen und Landwirte zu streichen. Als Argument wird angeführt, dass es zutiefst ungerecht und nicht mehr zeitgemäß sei, diese Regelung
beizubehalten. Bezieher von Renten aus der normalen
gesetzlichen Rentenversicherung müssten auch nicht,
wenn sie das Alter für den Bezug der Rente erreicht hätten, nachweisen, dass sie ihre Beschäftigung aufgegeben
hätten. Das ist zwar formal richtig; trotzdem ist das
Prinzip der Rentenversicherung so, dass Beschäftigte,
die in den Ruhestand gehen, ihre bisherige Stelle aufgeben und dann sozial über die Rentenversicherung versorgt werden, und nicht so, dass Menschen nach Eintritt
in die Rente normal weiterarbeiten.
Agrarpolitisch wird die Verpflichtung zur Hofabgabe
damit begründet, dass der Betrieb von Landwirten, die
Rente beziehen wollen, freigegeben wird für einen Nachfolger. Vergessen darf man dabei nicht, dass das gesamte
System der landwirtschaftlichen Alterssicherung staatlich hoch subventioniert ist. Die Betriebe müssen deshalb nur geringe Beiträge zur Rentenversicherung zahlen und erhalten selbst bei den Beiträgen noch
Zuschüsse, wenn sie bestimmte Einkommensgrenzen unterschreiten. Außerdem dürfen auch Landwirte, die in
Rente gehen und ihren Betrieb abgeben, weiterarbeiten.
Sie bekommen ihre Rente und dürfen zuverdienen, also
genau so wie Beschäftigte, die in den Ruhestand gehen.
Nur ihren Betrieb müssen sie weitervererben oder verpachten.
Die Debatte um die Aufgabe der Hofabgabeklausel in
der Rentenversicherung, konzentriert sich gerade auf
die Regionen in Deutschland, in denen die Strukturen
nach wie vor ungünstig sind und die Landwirtschaft
heute kein angemessenes Einkommen garantieren kann.
Würde man jetzt landwirtschaftlichen Betriebsleitern
eine Rente aus der landwirtschaftlichen Alterssicherung
zahlen, die allein vom Alter der Person abhängt, entspräche dies auch noch einer Art Quersubventionierung
der landwirtschaftlichen Erzeugung. Dies könnte dazu
führen, dass Landwirte länger als wirtschaftlich sinnvoll
ihren Betrieb fortführen. In Anbetracht der Überalterung landwirtschaftlicher Betriebe würde diese einen
Generationenwechsel noch erschweren. Aber gerade um
den Generationenwechsel geht es in dieser Regelung.
Die Landjugend in Deutschland fordert daher, auf jeden
Fall die Hofabgabeklausel beizubehalten. Die Linke
sieht daher den Antrag der Grünen mit Skepsis.
Ein Aspekt der bisherigen Regelung erscheint aber
auch aus unserer Sicht völlig unsinnig, nämlich die
Nichtgewährung einer Rente an Landwirte, wenn sie ihren Betrieb an zehn Jahre jüngere Ehegatten übertragen. Es ist diskriminierend und nicht nachvollziehbar,
Zu Protokoll gegebene Reden
warum ältere Ehegatten einen Betrieb weiterführen dürfen, jüngere aber nicht. Diese Regelung ist auch für die
Linke völlig unhaltbar, vor allem, da sie in erster Linie
Frauen diskriminieren dürfte, die häufiger in diese Situation geraten als Männer.
Seit der letzten Legislaturperiode beschäftige ich
mich als Abgeordnete mit der Frage der Hofabgabeklausel. Dabei wurde ich mit ziemlich absurden Fällen
konfrontiert. So wuchs meine Überzeugung, dass die Abgabe des eigenen Hofes als Voraussetzung dafür, dass
Landwirte eine Altersrente bekommen, zutiefst ungerecht und schon längst nicht mehr zeitgemäß ist.
Als besonders skandalös und diskriminierend empfinde ich es, dass Landwirten die Rente verweigert wird,
wenn sie ihren Hof an mehr als zehn Jahre jüngere Ehegatten abgeben. Dafür gibt es keinen vernünftigen
Grund; denn man sollte annehmen, dass es für Ehegatten, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben,
selbstverständlich ist, die Erwerbstätigkeit fortzusetzen.
Es ist doch absurd, wenn in einer solchen Situation der
eigene Hof abgegeben werden muss. Das gilt umso mehr
für Ehegatten, die mehr als zehn Jahre vor Erreichen der
Regelaltersgrenze stehen. Diese Regelung führt das vorgebliche Ziel der Hofabgabeklausel, für eine jüngere Altersstruktur bei den Landwirten zu sorgen, völlig ad absurdum.
Besonders von den Absurditäten der Hofabgabeklausel betroffen sind auch diejenigen Landwirte, die gemäß
EALG begünstigtes Land von der BVVG gekauft haben.
Diese Landwirte dürfen das Land aus durchaus guten
Gründen 15 Jahre lang - bis vor wenigen Jahren waren
es 20 Jahre - nicht veräußern; andernfalls wird der
Kauf rückabgewickelt. Wenn diese Landwirte nun die
Regelaltersgrenze erreichen, dürfen sie das Land also
nicht verkaufen, sondern allenfalls verpachten. Warum
aber soll ein Altenteiler gezwungen sein, seinen Hof zu
verpachten statt zu verkaufen, wenn er schon mit der Erwerbstätigkeit aufhört?
Wenn man sich mit Landwirten unterhält, dann hört
man, dass in der Praxis oft Scheinpachtverträge geschlossen werden, um der Hofabgabeklausel Genüge zu
tun. Das heißt, die Hofabgabeklausel entspricht nicht
der sozialen Realität auf dem Lande und wird den Bedürfnissen der Landwirte überhaupt nicht gerecht. Es ist
ganz offensichtlich, dass viele Landwirte ihren Hof entweder nicht abgeben wollen oder können - sei es, weil
ihnen der Hofnachfolger fehlt, sei es, weil sie die Arbeit
auf dem Hof weiterhin brauchen, um finanziell über die
Runden zu kommen, sei es, weil ihnen sonst der Lebensinhalt fehlt. Kann es richtig sein, diese Landwirte in
diese rechtliche Dunkelgrauzone zu drängen?
Noch etwas zu der Behauptung, ohne Hofabgabeklausel würden die Bundeszuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte in Höhe von 2,3 Milliarden Euro
komplett gestrichen und demzufolge würden die Beiträge um ein Mehrfaches steigen. Hat jemals jemand
von Ihnen den Landwirten diese Kürzung angedroht?
Gibt es hier im Hause wirklich eine Fraktion, die den
Landwirten 2,3 Milliarden Euro an Zuschüssen für die
landwirtschaftlichen Alterskassen streichen will, nur
weil durch die Abschaffung der Hofabgabeklausel ein
paar Millionen Euro an Renten zusätzlich ausgezahlt
werden müssen? Das kann ich mir bei allen Meinungsunterschieden zwischen uns beim besten Willen nicht
vorstellen. Trotzdem will zumindest der Bauernverband
die Landwirte glauben machen, dass die Koalition genau das tun werde. Ich denke, das sollten Sie nicht auf
sich sitzen lassen und umgehend richtigstellen.
Richtig ist, dass die Alterskassenbeiträge der Landwirte um ein paar Euro steigen müssten. Das aber ist gerechtfertigt. Denn bisher ist es der kleine Teil der Landwirte, die ihren Rentenanspruch vollständig verlieren,
die allen Landwirten die Senkung der Rentenbeiträge
um diese paar Euro finanzieren. Zukünftig darf es jedoch nicht mehr so sein, dass eine kleine Gruppe von
Landwirten diese geringfügige Senkung der Beiträge für
alle Landwirte zahlt. Solidarität muss hier wieder vom
Kopf auf die Füße gestellt werden.
Unter den Landwirten wächst der Widerstand gegen
die Hofabgabeklausel, das lässt sich aus den Rückmeldungen, die ich bekomme, deutlich ablesen. Das zeigt
sich nicht zuletzt an den laufenden Klagen aus Westfalen. Wir Bündnisgrüne wollen jedoch nicht warten, bis
diese Klagen juristisch entschieden sind. Denn eigentlich wäre es besser, das Thema politisch zu entscheiden.
Mit unserem Antrag wollen wir Sie daher auf unsere
Seite ziehen und erreichen, dass die Bundesregierung in
dieser Frage endlich umsteuert und die überkommene
Hofabgabeklausel abschafft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermöglichen
- Drucksache 17/1577 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel und
Stephan Mayer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wolff, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke, Memet Kilic,
Bündnis 90/Die Grünen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist integrationsfeindlich, er ist frauenfeindlich und er geht von falschen
rechtlichen Voraussetzungen aus. Deshalb lehnen wir
ihn ab. Aus jeder Zeile dieses unverantwortlichen Antrags ist Realitätsverweigerung herauszulesen. Sie haben aus den Fehlern der Multi-Kulti-Politik nichts gelernt. Linke Ideologen haben daran geglaubt, und tun
das offenbar vereinzelt immer noch, dass sich die Ausländer in unserem Land nach einiger Zeit automatisch
integrieren würden und deshalb auf eine sachgerechte
Steuerung der Zuwanderung verzichtet werden könne.
Erst der von der CDU/CSU 2005 herbeigeführte Kurswechsel, mit dem wir zu einer konsequenten Integrationspolitik gekommen sind unter dem Motto „Fördern
und Fordern“, hat zu einer deutlichen Verbesserung der
Sprachkompetenz unserer ausländischen Mitbürger und
damit auch zu einem deutlich besseren Miteinander von
Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft geführt. Das
will die Linke mit ihrem Antrag torpedieren. Sie wollen
Parallelgesellschaften zementieren, weil sie glauben,
daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie wollen eine andere Republik. Wir wollen das nicht.
Der Antrag ist integrationsfeindlich, weil er auf ein
Instrument der Zuwanderungspolitik verzichten will, mit
dem es gelungen ist, auch ausländischen Familien, die
bisher um alle unsere Integrationsangebote einen großen Bogen gemacht haben, die klare Botschaft zu vermitteln: Ohne Deutsch geht es nicht! Es ist doch eine
alte Erfahrung in der Integrationsarbeit, dass gerade
schlecht integrierte Familien diejenigen sind, bei denen
es auch nach einem teilweise jahrzehntelangen Aufenthalt leider noch üblich ist, dass sich junge Frauen und
Männer nicht aus ihrem persönlichen Wohnumfeld oder
Freundeskreis Ehepartner suchen, sondern dies in der
alten Heimat ihrer Eltern tun. Die nachziehenden Ehegatten kommen in aller Regel in eine Familie, in der kein
Deutsch gesprochen wird und in der dann vor allem die
Kinder ohne jegliche Deutschkenntnisse aufwachsen.
Damit haben sie von Anfang an keine guten schulischen
und beruflichen Perspektiven. Mit dem verpflichtenden
Nachweis einfacher Deutschkenntnisse erwerben die
nachziehenden Ehegatten schon vor ihrem Aufenthalt in
unserem Land erste Sprachkenntnisse. In den Kursen,
zum Beispiel der Goethe-Institute, lernen sie darüber hinaus etwas über Sitten und Gebräuche in Deutschland,
erlangen wichtige Kenntnisse über Fragen des alltäglichen Lebens und erfahren auch etwas über unseren
Staatsaufbau und unsere Gesetze. Den nachziehenden
Ehegatten ist Deutschland also nicht so fremd, und sie
erfahren, wie wichtig es ist, durch den Erwerb von
Deutschkenntnissen besser in unserem Land leben zu
können. Es gibt keinen Grund, auf diese wichtige Vorbereitung auf ein Leben in Deutschland zu verzichten. Und
wir bringen auf diesem Weg deutsche Sprachkenntnisse
auch in Familien, die bisher zu abgeschottet in unserem
Land gelebt haben.
Der Antrag ist auch frauenfeindlich. Wir wissen
durch die Ausländerbehörden, Selbsthilfegruppen und
unsere Visastellen im Ausland, dass es nach wie vor in
einem erheblichen Umfang Zwangsehen gibt. Die Linke
verweigert mit ihrem Antrag den zuziehenden Ehefrauen
das Recht, sich gegen Zwangsehen überhaupt zur Wehr
setzen zu können. Das muss doch nun wirklich jedermann einsichtig sein: Was helfen denn die schönsten
Beratungsangebote und Krisentelefone, wenn die betroffenen Frauen schon allein mangels ausreichender
Sprachkenntnisse noch nicht einmal in der Lage sind,
überhaupt die Polizei um Hilfe zu rufen, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Außerdem wird in den vorbereitenden Sprachkursen durch die geschulten Mitarbeiter natürlich sehr genau hingesehen, ob man vielleicht Fälle
von Zwangsehen erkennen und noch vor der Übersiedlung nach Deutschland Hilfe holen und Beratungsangebote machen kann. Wir stärken die betroffenen Frauen,
sich gegen Gewalt und Zwang zur Wehr zu setzen. Die
Linke will aus ideologischer Verblendung die zwangsverheirateten Frauen ihrem Schicksal überlassen. Ich
sage es nochmal: Das ist in schlimmer Weise frauenfeindlich und mit uns nicht zu machen. Die Zahlen über
die Entwicklung des Ehegattennachzugs sprechen eine
deutliche Sprache und werden von der Linken bewusst
fehlinterpretiert. Nach einem Einbruch beim Familiennachzug unmittelbar nach der Einführung des Sprachnachweises sind die Zahlen jetzt wieder deutlich höher.
Das ist logisch, weil viele nachziehende Ehegatten erst
einmal die Sprachkenntnisse erwerben mussten. Wenn
sich jetzt gerade bei Frauen aus den Ländern, in denen
klassischerweise Zwangsehen vorkommen, die Zahlen
noch auf einem niedrigeren Niveau bewegen, kann das
vernünftigerweise nur so interpretiert werden, dass es
sich dabei eben um Frauen handelt, die früher noch als
Zwangsverheiratete nach Deutschland verbracht
worden wären. Es sagt Ihnen jeder informierte Sozialarbeiter oder ehrenamtliche Integrationslotse oder die
Stadtteilmütter in Neukölln, dass es für manche fundamentalistisch geprägte Familie eben nicht mehr attraktiv ist, eine junge Frau zwangsweise zu verheiraten,
wenn sie Deutsch kann und damit in der Lage ist, sich
selbst zu helfen und zu wehren. Die von Ihnen kritisierten Zahlen sind also gerade ein Beleg dafür, dass unser
Konzept aufgegangen ist.
Die Linke bewertet auch die Rechtslage völlig falsch.
In einem bemerkenswert deutlichen Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht die neuen Spracherfordernisse
für in jeder Hinsicht rechtmäßig erklärt. Es hat damit
übrigens auch einigen in den Reihen unseres früheren
Koalitionspartners widersprochen, die, wie etwa der
Abgeordnete Edathy, in infamer Weise unserer damals
eigentlich gemeinsam beschlossenen Regelung die Verfassungsmäßigkeit abgesprochen haben. Die Regelung,
so die Bundesverwaltungsrichter, dient der Integration
und verhindert Zwangsehen. Es handele sich deshalb um
einen rechtmäßigen Ausgleich des privaten Interesses an
einem ehelichen und familiären Zusammenleben im
Bundesgebiet mit gegenläufigen öffentlichen Interessen.
Die Richter haben es auch als zulässig angesehen, dass
auf eine allgemeine Härtefallregelung verzichtet wurde,
aus der zutreffenden Überlegung heraus, dass damit die
Zu Protokoll gegebene Reden
ganze Vorschrift leerlaufen würde. In dem konkreten
Fall, der vom Bundesverwaltungsgericht entschieden
wurde, handelte es sich sogar um eine Analphabetin.
Die Richter haben gleichwohl einen Zeitraum von einem
Jahr, in dem man unschwer die einfachen Deutschkenntnisse erwerben kann, als zumutbar betrachtet.
Anders als die Linke es behauptet, ist nach dem Urteil
des Gerichts die Regelung auch mit dem Europarecht
vereinbar, weil die Richtlinie über die Familienzusammenführung die EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt, den Nachzug der Betroffenen von der Erfüllung von Integrationsanforderungen abhängig zu
machen. Insofern ist ein anderslautendes Urteil des
EuGH bezogen auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu EU-Bürgern, das sich einseitig an
der Freizügigkeit orientiert, auch völlig unverständlich.
Die Richter in Straßburg will ich von hier aus nachdrücklich auffordern, ihre Rechtsprechung zu korrigieren. Sie ist integrationsfeindlich.
Die Bundesverwaltungsrichter haben es gleichwohl
auch als zulässig erachtet, dass der Gesetzgeber für eine
Reihe von Drittstaaten wie etwa die USA oder Japan
Ausnahmeregelungen erlassen hat. Ich will dazu ergänzen, dass es integrationspolitisch natürlich einen großen
Unterschied macht, ob ein Ehegatte auf Dauer in
Deutschland lebt oder seinem Partner nur für eine vorübergehende berufliche Tätigkeit in Deutschland nachfolgt. Es ist sicher auch ein Unterschied, ob ein Ehegatte
fließend Englisch oder Französisch oder eben Türkisch,
Kurdisch oder Arabisch spricht.
CDU/CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die praktische Umsetzung der Regelung
über den Spracherwerb zu überprüfen. Dabei geht es
etwa um eine organisatorische Vereinfachung der Erbringung des Nachweises über den Spracherwerb. Die
Goethe-Institute haben hier eine gewisse Monopolstellung, die nicht notwendig ist. Gleichzeitig muss es dabei
bleiben, dass auch in unseren Visastellen in Zusammenhang mit der Anhörung des nachzugswilligen Familienmitglieds eine Prüfung der Sprachkompetenz stattfinden
kann. Die Evaluation des verpflichtenden Sprachnachweises wird zügig abgeschlossen. Insbesondere aber
auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass das Instrument als solches rechtlich zulässig,
und integrations- sowie frauenpolitisch dringend erwünscht ist.
Angesichts dessen, dass nunmehr auch das Bundesverwaltungsgericht am 30. März 2010 die Regelungen
zum deutschen Aufenthaltsrecht als verfassungs- und
europarechtskonform bestätigt hat - vgl. Urteil des
BVerwG v. 30.03.2010 - 1 C 8.09V - sind die rechtlichen
Ausführungen der Linken zur angeblichen Verfassungsund Europarechtswidrigkeit in ihrem Antrag schlicht
falsch und nicht haltbar.
Aber auch bereits vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts haben alle Verwaltungsgerichte, die mit
der Überprüfung von abgewiesenen Anträgen auf Ehegattennachzug wegen fehlender Deutschkenntnisse beschäftigt waren, die bestehende Rechtslage für verfassungsgemäß und europarechtskonform gehalten - vgl.
VG Ansbach, Urteil vom 20. Oktober 2009; VG Berlin,
Urteil vom 11. März 2009; VG Freiburg, Urteil vom
20. November 2009. Die Regelungen des Gesetzes über
den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration
von Ausländern im Bundesgebiet stünden insbesondere
im Einklang mit den Vorgaben der EU-Richtlinie 2003/
86/EG zur Familienzusammenführung vom 22. September 2003.
Schließlich ermächtigt gerade Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie die Mitgliedstaaten, von Drittstaatsangehörigen zu
verlangen, dass sie vor dem Nachzug Integrationsmaßnahmen durchgeführt haben. Den Nachweis über die
erfolgten Integrationsmaßnahmen müssen die Antragsteller auch gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie
bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht erst
nach erfolgter Einreise vorlegen. Dass dies auch nicht
wegen Unzumutbarkeit gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, wurde ebenfalls durch die
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte bereits festgestellt und nunmehr durch das Bundesverwaltungsgericht
in der zuvor bereits zitierten Entscheidung auch obergerichtlich bestätigt.
Ein Anspruch auf Ehegattennachzug besteht daher
nach deutschem Recht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AufenthG nur, wenn sich der Ehegatte zumindest auf
einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.
Dieser Nachweis kann auch durch die erfolgreiche Ablegung eines Sprachtests im Ausland erbracht werden.
Hierbei handelt es sich schlicht um eine wünschenswerte und erforderliche Voraussetzung für die
Integration der nachziehenden Ehegatten. Schließlich
ist die Basis jeglicher Integration das Erlernen der
Sprache. Sie ist Voraussetzung für die freie Entfaltung
der eigenen Persönlichkeit und die Eingliederung in die
Gesellschaft. Ich sehe daher auch keinen Anlass für eine
Änderung des bestehenden Rechts.
Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zutreffend festgestellt hat, ist das Spracherfordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch mit
dem besonderen Schutz zu vereinbaren, den Ehe und
Familie nach dem Grundgesetz genießen. Art. 6 GG
gewährt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zu einem hier lebenden Familienangehörigen, sondern verpflichtet zu einem schonenden Ausgleich des
privaten Interesses an einem ehelichen und familiären
Zusammenleben im Bundesgebiet mit gegenläufigen
öffentlichen Interessen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 12. Mai
1987 - Az. 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 klargestellt. Es verstoße insbesondere auch nicht gegen
das Schutz- und Förderungsgebot von Art. 6 Abs. 1 und
Abs. 2 Satz 1 GG, wenn den Betroffenen zugemutet
würde, in das jeweilige Heimatland überzusiedeln, sofern sie zeitlich unbegrenzt die Lebensgemeinschaft mit
ihren Ehegatten sogleich herstellen wollten. Dieser Auffassung wird die derzeit geltende Regelung, die ein
Zusammenleben im Bundesgebiet im Übrigen regelmäZu Protokoll gegebene Reden
Stephan Mayer ({0})
ßig nur für einen überschaubaren Zeitraum verhindert,
gerecht.
Die Vorschrift ist im Übrigen auch nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie keine allgemeine Ausnahmeregelung für Härtefälle enthält. Falls die deutschen
Sprachkenntnisse aus nicht zu vertretenden Gründen innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht erworben
werden können und keine zumutbare Möglichkeit besteht, die Lebensgemeinschaft im Ausland herzustellen,
kann der verfassungsrechtlich gebotene Interessenausgleich einfachgesetzlich auf andere Weise, etwa durch
die Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Spracherwerbs - § 16 Abs. 5
AufenthG - herbeigeführt werden.
Abschließend möchte ich noch etwas zu den von der
Linken aufgeführten Zahlen zu angeblich gescheiterten
Sprachtests von zuzugswilligen Ehegatten ausführen.
Die bisherigen Erkenntnisse aus einer noch nicht vollständig abgeschlossenen Evaluierung der geltenden
Rechtslage legen im Gegensatz zu den Schilderungen im
Antrag der Linken das Ergebnis nahe, dass zuzugswilligen Ehegatten in den Herkunftstaaten auch tatsächlich
ausreichende und zumutbare Möglichkeiten zum Erwerb
einfacher deutscher Sprachkenntnisse und zum Ablegen
der Sprachprüfung zur Verfügung stehen. Die Zahl der
zum Ehegattennachzug erteilten Visa sank zwar unmittelbar nach Einführung des Sprachnachweiserfordernisses. Im langjährigen Vergleich konnte allerdings
auch bereits vor der Einführung des Spracherfordernisses ein Rückgang bei Erteilung der Visa zum Ehegattennachzug festgestellt werden. In den letzten Monaten ist
zudem die Zahl der Visa wieder angestiegen. Dies
belegt, dass Schwankungen in diesem Bereich nicht unüblich sind.
Es liegen somit weder die in dem Antrag geschilderten rechtlichen noch die tatsächlichen Voraussetzungen
für ein Einschreiten des Bundestages vor.
Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Kolleginnen und Kollegen von der Linken das im August 2007 im
Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgesetzes eingeführte Erfordernis des Spracherwerbs für Ehegatten vor der Einreise nach Deutschland abschaffen.
Ich brauche nicht daran erinnert zu werden, dass diese
Regelung unter der Großen Koalition eingeführt worden
ist, also auch von uns mitgetragen wurde. Ebenso richtig
ist jedoch, dass ganz viele von uns - ich gehöre auch
dazu - die Einführung des Spracherwerbs für falsch gehalten haben. Das zeigen insgesamt fünf Erklärungen
von SPD-Bundestagsabgeordneten nach § 31 Geschäftsordnung und nicht zuletzt 21 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz.
Diese Zerrissenheit in der eigenen Fraktion hat zum
Beispiel der Kollege Sebastian Edathy in seiner Rede
vom 14. Juni 2007 zum Ausdruck gebracht, indem er
klar sagte, dass man dem Richtlinienumsetzungsgesetz
zustimmen wird, obwohl es so schwerwiegende Mängel
aufweist wie die Einführung ebendieses Spracherwerberfordernisses. Auch ich habe dem Gesetzentwurf
zwar zugestimmt, aber in einer gesonderten Erklärung
deutlich gemacht, mit wie viel Bauchschmerzen und mit
wie vielen Zugeständnissen. Schon in dieser Erklärung
habe ich die Einführung des Spracherwerberfordernisses als eindeutig negativ und als eine Verschlechterung
beim Familiennachzug beschrieben. Dass viele von uns
dem Gesetzentwurf dennoch zugestimmt haben, liegt
einzig und allein darin, dass die Kompromisse, insbesondere die Verschärfungen im Familienzusammenzug,
der „Preis“ für die erstmalige Einführung einer gesetzlichen Altfallregelung waren.
Diese Altfallregelung hat dazu beigetragen, dass für
einen Teil der bis dahin bei uns nur mit einer Duldung
lebenden Menschen der Teufelskreis nach dem Motto
„Hast du keine Arbeit, bekommst du keine Aufenthaltserlaubnis; hast du keine Aufenthaltserlaubnis, bekommst du keine Arbeit“ durchbrochen werden konnte.
Hier ging es um Menschen, die bereits seit zum Teil sehr
langer Zeit bei uns gelebt haben. Maßgeblich um ihnen
eine Perspektive zu geben, habe ich damals dem Gesetz
zugestimmt.
Die Einführung des Spacherwerberfordernisses sollte
neben der Verbesserung der Integrationschancen für
nachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mittel zur Bekämpfung von Zwangsehen sein. Bis heute
kenne ich keine einzige Studie oder irgendwelches Zahlenmaterial, welches belegen würde, dass die Anzahl der
Zwangsehen nach Einführung der Neuregelungen im
Ehegattennachzug zurückgegangen wäre. Eine Regelung, deren Wirksamkeit nicht plausibel ist, ist jedoch
überflüssig und im Grunde schon deswegen abzuschaffen.
Zudem ist es für mich und viele von uns nach wie vor
schwierig, zu akzeptieren, dass die Regelung eben nicht
alle nachziehenden Ehegatten betrifft, sondern nur Anwendung findet auf bestimmte Gruppen und Ethnien. Ich
selbst habe diese Regelung sogar immer für verfassungsrechtlich höchst problematisch gehalten und es an
dieser Stelle auch gesagt. Nach wie vor bin ich davon
überzeugt, dass sich beispielsweise zwangsverheiratete
Frauen viel besser aus einer Zwangsehe befreien können, wenn sie bereits in Deutschland sind, als wenn sie
im Herkunftsland aufgehalten werden.
Allerdings gibt es, was die rechtliche Bewertung
des Spracherwerberfordernisses anbelangt, seit dem
30. März 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes. In einer Entscheidung kommt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Beherrschen
von einfachen Deutschkenntnissen als Voraussetzung
für den Ehegattennachzug sowohl mit Art. 6 Grundgesetz als auch mit der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie im Einklang steht. Die Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichtes muss man nicht teilen;
ich jedenfalls sehe sie sehr kritisch. Zudem sind schon
Fälle vorgekommen, in denen das Bundesverfassungsgericht gegen das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat.
Aber man wird jetzt nicht mehr ohne Weiteres sagen
können - schon gar nicht, ohne sich mit den Argumenten
unseres obersten Verwaltungsgerichts auseinanderzuZu Protokoll gegebene Reden
setzen -, dass die Neuregelung des Familiennachzugs
pauschal gegen das Grundrecht auf Schutz der Ehe und
Familie, Art. 6 Grundgesetz, und die Familienzusammenführungsrichtlinie verstößt. Genau das macht die
Fraktion Die Linke aber pauschal in weiten Teilen der
Begründung ihres Gesetzentwurfes, ohne sich auch nur
ein einziges Mal mit den Argumenten des Bundesverwaltungsgerichtes auseinanderzusetzen. Das ist, mit Verlaub, nicht gerade gründlich erarbeitet.
Ich habe zudem den Eindruck, dass bei dem in dem
Antrag genannten Zahlenmaterial nicht viel sorgfältiger
gearbeitet wurde. Vor ziemlich genau einem Jahr, im
Mai 2009, haben wir in der SPD-Querschnittsarbeitsgruppe „Migration und Integration“ das Thema „Integration von Migrantinnen“ behandelt. In einem Themenblock ging es um die Frage der Wirksamkeit der
neuen Regelungen zum Ehegattennachzug. In diesem
Zusammenhang berichteten Staatsministerin Professor
Dr. Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und
Integration, und Dr. Griesbeck, Vizepräsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass die Zahlen der erteilten Visa zum Familienzusammenzug 2008,
also kurz nach Einführung der Regelung, zurückgegangen seien, sich aber bereits 2009 wieder auf dem Niveau
von 2007 befänden. Das mir vorliegende Zahlenmaterial, das ich in Vorbereitung mit meiner Stellungnahme
zum vorliegenden Antrag beim BAMF eingeholt habe,
bestätigt diese Aussage.
Zudem berichtete Frau Kollegin Professor
Dr. Böhmer in der vorerwähnten Sitzung unserer Querschnittsarbeitsgruppe, dass sie auf einer Reise in die
Türkei erfahren habe, die türkische Regierung stehe dem
Ehegattennachzugsanforderungen nach wie vor kritisch
gegenüber, allerdings vornehmlich deshalb, weil es sich
um eine gesetzliche Regelung handelt und nicht, weil sie
nicht vom Inhalt der Regelung überzeugt sei. Schon aus
den dargestellten handwerklichen Mängeln, die der Antrag der Fraktion Die Linke aufweist - das heißt wegen
der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichtes und wegen des unsauber
aufgeführten Zahlenmaterials -, wobei es sich nicht um
Kleinigkeiten handelt, über die großzügig hinweggesehen werden könnte, empfehle ich, den Antrag abzulehnen.
Zudem erzwingt das Zahlenmaterial kein sofortiges
und umgehendes Handeln. Andere Regelungen, zum Beispiel die Schaffung eines wirksamen, dauerhaften und
fortlaufenden Bleiberechts, sind aus meiner Sicht im
Moment dringender.
Ich will auch heute nicht verheimlichen, dass die Ehegattennachzugsregelungen innerhalb der SPD-Fraktion
nach wie vor umstritten sind. Anlässlich der Debatte
zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz habe ich gesagt: „Für mich ist das Richtlinienumsetzungsgesetz ein
schmerzhafter Kompromiss. Einige von uns sagen: Wir
wollen einen Spracherwerb im Herkunftsland. Andere,
auch in unseren Reihen, sagen: Das halten wir für verfassungswidrig und kritikwürdig.“
Auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gehöre ich immer noch zu der zweiten Gruppe. Aus
meiner Sicht wäre es zumindest politisch das Richtige,
die Erschwernisse im Ehegattennachzug wieder abzuschaffen. Wenn sich das Zahlenmaterial diesbezüglich
ändert, werden wir über einen eigenen Gesetzesentwurf
beraten.
Seit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre
2007 durch die Koalition aus Union und SPD wird von
Personen, die ein Visum zum Zwecke des Ehegattennachzuges nach Deutschland beantragen, die Fähigkeit
zur Verständigung in deutscher Sprache „auf einfache
Art“ verlangt. In der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben hat sich hinsichtlich des Erwerbs und des Nachweises der erforderlichen Sprachkenntnisse eine Praxis herausgebildet, die die Antragsteller vor zusätzliche, in
Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt. Dazu gehörte
hinsichtlich des Nachweises von Sprachkenntnissen der
ausschließliche Verweis auf Kurse und Prüfungen der
Goethe-Institute. Zudem waren die deutschen Auslandsvertretungen angewiesen, nur in Ausnahmefällen auch
andere Sprachzertifikate als das Sprachzertifikat „Start
Deutsch 1“ des Goethe-Instituts anzuerkennen.
Die FDP hatte diese Regelung auch deshalb kritisiert: Weder existieren in allen Ländern Goethe-Institute, noch ist es zumutbar, dass Antragsteller bis zu
dreimonatige Sprachkurse in Hunderten von Kilometern
Entfernung von ihrem Wohnort oder sogar in Nachbarländern absolvieren müssen und somit weder ihrer
Erwerbstätigkeit nachgehen können noch über eine
ständige Unterkunft verfügen. Eine regelmäßige
Sprachkursteilnahme unter solchen Umständen kann
unzumutbar sein. Eine einmalige Teilnahme an einer
Sprachstandserhebung kann dagegen durchaus auch bei
einem gewissen Aufwand zumutbar sein, weil dadurch
die Einreiseerlaubnis für Deutschland im Rahmen des
Ehegattennachzugs erworben wird. Deshalb muss es
möglich sein, einen entsprechenden Sprachnachweis
auch ohne Kursteilnahme zu erbringen, wenn die
Sprachkenntnisse auf anderem Wege erworben wurden.
Wichtig ist, dass die sprachliche Qualifikation verlässlich erhoben wurde.
Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierung
nichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keine
Sprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familienangehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgern
keine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlung
führt im Ergebnis zu Ehen erster und zweiter Klasse. Anstatt beim Nachweis der Deutschkenntnisse auf die
Staatsangehörigkeit desjenigen abzuheben, der seinen
Ehegatten in die Bundesrepublik nachholen möchte, haben wir 2007 vorgeschlagen, im Sinne der Gleichbehandlung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung
des EuGH auf die Staatsangehörigkeit des nachziehenden Ehegatten abzuheben. Ebenso fehlt eine allgemeine
Härtefallregelung.
In der Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, dass der
grundsätzliche Ansatz, den Beginn des Spracherwerbs
für Ehegatten schon vor Zuzug hierher beginnen zu lasZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
sen, sinnvoll ist. Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Sie sind aber selbst auch klar gefordert. Die
deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will,
wie sie auch mit dem vorliegenden Antrag beweist, etwas anderes: Sie will die Abschaffung der Nachzugsregelung. Damit will sie, wie immer in ihren Anträgen zur
Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in
Deutschland erschweren und die deutsche Gesellschaft
desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt
und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Die
FDP hat hingegen mit der Union vereinbart, dass die
Probleme, die durch die Nachzugsregelung 2007 entstanden sind, behoben werden sollen. Wir wollen die
Möglichkeiten verbessern, im Ausland Deutsch zu lernen, und wir wollen den Sprachnachweis organisatorisch vereinfachen. Dabei soll vor allem das Monopol
des Goethe-Instituts gelockert werden.
Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stets
gemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Der Schutz
der Familie, auf den Art. 6 GG den Staat verpflichtet,
entbindet die zu schützenden Familien nicht von der
Pflicht, auf zumutbare Weise Verantwortung für unsere
Zivilgesellschaft zu übernehmen. Art. 6 GG ist von den
Vätern und Müttern des GG nie als Freibrief für unkontrollierte und bedingungslose Zuwanderung nach
Deutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von der
Rechtssprechung auch nicht so interpretiert. Familiennachzug sollte zudem vor allem bedeuten, dass bei Zuwanderung bestehende Familien bei Integrationsbereitschaft eine Zuzugsmöglichkeit erhalten
sollen. Die Kultivierung von desintegrierten Parallelgesellschaften durch systematische und von Großfamilienclans organisierte Verheiratung von Zuwanderern oder
Zuwandererkindern mit Partnern aus dem Herkunftsland ist nicht gewollt und mit dem Grundanliegen von
Art. 6 GG nicht vereinbar.
Die Linken verwenden jeden beliebigen Vorgang aus
der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen
für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende
Ausländerfeindlichkeit nehmen die Linken dafür billigend in Kauf. Wir Liberalen haben mit der Union dagegen eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten
Kriterien vereinbart. Wir wollen eine neue Kultur des
Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet, für die, die nicht nur „territorial“
nach Deutschland kommen, sondern auch in seiner
Sprache und Kultur sowie seiner Gesellschaft mit ihren
Grundwerten ankommen wollen, und diejenigen anerkennt, die das geschafft haben.
Wir beraten vorliegend einen Antrag meiner Fraktion, weil die seit Ende August 2007 geltende Neuregelung, wonach im Rahmen des Ehegattennachzugs bereits
vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen sind, zu einer erheblichen Einschränkung des Ehegattennachzugs geführt hat. 2008 lag die Zahl der zum
Ehegattennachzug erteilten Visa um 22 Prozent unter
dem Wert von 2006. Direkt nach Inkrafttreten der Neuregelung gab es einen drastischen Einbruch der Visumzahlen um weltweit 40 Prozent, bezogen auf die Türkei
gar um 67,5 Prozent.
Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung
die Betroffenen dafür verantwortlich macht. Nicht anders ist die Bemerkung der Bundesregierung in ihrer
Antwort auf meine Kleine Anfrage mit der Drucksachennummer 17/1112 zu verstehen. Laut Bundesregierung
haben sich diejenigen, die die Deutschprüfung im Ausland nicht bestanden haben, oftmals einfach nicht ausreichend auf die Prüfung vorbereitet. Das ist eine Unverschämtheit! Es ist der gezielte Versuch, über die
eingeführten diskriminierenden Regelungen zum Ehegattennachzug hinwegzutäuschen und die bestehenden
Probleme auf die Betroffenen abzuwälzen.
Ließen sich die geforderten Sprachkenntnisse leicht
und schnell erwerben, hätte die Zahl der erteilten Visa
im ersten Quartal 2008, das heißt vier bis sieben Monate
nach Inkrafttreten der Regelung, in etwa wieder dem
Wert von vor der Gesetzesänderung entsprechen müssen; tatsächlich aber lag sie immer noch um mehr als
30 Prozent darunter. Nur 64 Prozent aller Prüfungsteilnehmenden weltweit bestanden im Jahr 2009 den
Deutschtest, der Voraussetzung für den Ehegattennachzug ist. Nicht erfasst wird dabei, wie viele Versuche die
Betroffenen unternehmen mussten, um den Sprachtest zu
bestehen. Vermutlich schafft nur etwa die Hälfte aller
nachzugswilligen Ehegatten die Hürde des Sprachtests
im ersten Anlauf.
Problematisch ist auch, dass die Erfolgsaussichten,
den Sprachkurs zu bestehen, dann größer sind, wenn
Kurse am Goethe-Institut absolviert wurden. Doch viele
Betroffene haben keinen Zugang zu einem Sprachkurs
eines Goethe-Instituts im Ausland. Viele können sich
diesen auch schlicht nicht leisten. Denn um Sprachkurse
besuchen zu können, müssen die Betroffenen oftmals in
weiter entfernte Städte reisen, sie müssen sich dort eine
Unterkunft nehmen und können in der Zeit des Spracherwerbs nicht erwerbstätig sein. Besonders prekär ist
die Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika. Für
die Bundesregierung aber ist all dies zumutbar. Vermutlich hält es die Bundesregierung auch für zumutbar, unter Brücken schlafen zu müssen, wenn das Geld für
Übernachtungsmöglichkeiten nicht ausreicht.
All das ist wenig überraschend, denn das Ziel der
Neuregelung ist die soziale Selektion beim Ehegattennachzug und der Ausschluss sogenannter bildungsferner
und sozial ausgegrenzter Menschen. Diese Selektionswirkung wurde von der Bundesregierung sogar mehr
oder weniger eingeräumt. So hält sie finanzielle Belastungen in Höhe mehrerer Tausend Euro aufgrund von
sich hinziehenden Visumverfahren ausdrücklich für zumutbar; sehen Sie dazu die Bundestagsdrucksache 16/10732,
Fragen 11 und 15. Die vorgegebenen Ziele einer angeblichen Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder einer Förderung der Integration können nach Auffassung
aller fachkundigen Verbände mit Sprachtests im Ausland
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
gar nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Der Druck auf
Zwangsverheiratete im Ausland dürfte sich häufig sogar
noch vergrößern, und die Integration in Deutschland
wird durch die Hürde des Spracherwerbs im Ausland
ganz klar behindert und verzögert.
Die Bundesregierung täuscht aber nicht nur die Öffentlichkeit, indem sie den Betroffenen die Verantwortung für ihre Situation zuschiebt. Sie täuscht die Öffentlichkeit überdies in dem Sinne, dass sie eine nach
Angaben der Bundesregierung bereits im Jahr 2009 fertiggestellte Evaluierung der Auswirkungen der Neuregelung der Sprachnachweise beim Ehegattennachzug
nicht veröffentlicht. Dabei handelt es sich nicht einmal
um eine unabhängige Evaluierung, sondern um eine interne Bewertung. Doch vermutlich passen der Bundesregierung die Fakten nicht ins politische Konzept und lassen sich kaum beschönigen. Denn selbst im Rahmen
einer vom Ministerium veranlassten Evaluierung dürfte
die Notwendigkeit zumindest einer Härtefallregelung für
Ausnahmefälle offenkundig geworden sein. Eine solche
Härtefallregelung als Minimallösung, wie von der FDP
noch vor kurzem im Parlament gefordert wurde, wird
aber von der CDU/CSU abgelehnt.
Die Linke hat die Neuregelung von Beginn an als eine
verfassungswidrige Einschränkung des Familiennachzugs und als eine Selektion nach Nützlichkeitskriterien
abgelehnt. Verfassungs- und europarechtliche Bedenken
wurden auch von zahlreichen Sachverständigen im Rahmen der Anhörung zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz im Innenausschuss des Bundestages 2007 vorgetragen. Die Verwirklichung eines Grundrechts darf nicht
vom Geldbeutel der Betroffenen oder ihrer Fähigkeit
zum Fremdsprachenerwerb abhängig gemacht werden.
Völlig unverständlich ist, warum das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zum Ehegattennachzug vom 30. März 2010 die europarechtlichen Fragen nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung
und Entscheidung vorgelegt hat. Nicht nachvollziehbar
ist auch, dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis über die inhaltlichen Argumente und mühsam dokumentierten Einzelfälle hinwegsetzt, die die Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit der Neuregelung
belegen. Stattdessen wurde offenbar unkritisch die durch
nichts zu belegende Behauptung der Großen Koalition
einer angeblich beabsichtigten Verhinderung von
Zwangsverheiratungen und Erleichterung der Integration übernommen. Tatsächlich ist die Regelung familienfeindlich, diskriminierend und sozial selektierend. Für
die Betroffenen ist sie mit einer Zwangstrennung auf unbestimmte Zeit, erheblichen Kosten und psychischen Belastungen verbunden.
Die Linke ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass
die Regelung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt und mit Art. 6 des Grundgesetzes unvereinbar ist. Damit stehen wir nicht alleine. Der Deutsche
Gewerkschaftsbund bewertete in einer Stellungnahme
die Neuregelung als nicht zu akzeptierende soziale Selektion. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte in seiner Bilanz vom 27. August 2009 „Ein Jahr
nach der Reform des Zuwanderungsgesetzes“ die AbSevim Dağdelen
schaffung der Nachweispflicht von einfachen Sprachkenntnissen als Voraussetzung für den Ehegattennachzug. Es handele sich um eine soziale Selektion, die mit
dem grundgesetzlich geschützten Recht auf Ehe und Familie nicht vereinbar sei. Selbst der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und ehemalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters, CDU, forderte in einem Brief vom
9. Oktober 2008 an den damaligen Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble aufgrund der Erfahrungen des DRK
mit der Neuregelung eine Ausnahme- bzw. Härtefallregelung bis hin zur Rückgängigmachung der Gesetzesverschärfung.
In ihrem Antrag fordert die Linke eine sofortige Rücknahme der diskriminierenden Beschränkungen des Ehegattennachzugs. Das Parlament sollte im Interesse der
Menschen nicht darauf warten, dass uns der Europäische Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht
diesen Job abnimmt. Aus all diesen sowie weiteren
Gründen und Erfahrungen haben wir unseren Antrag
eingebracht. Es muss Schluss sein mit der für alle offensichtlichen Diskriminierung. Deshalb bitten wir um Unterstützung des Antrags.
Seit der Einführung des Spracherfordernisses beim
Ehegattennachzug im Jahr 2007 kommt es bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu Verzögerungen, die sogar Jahre ausmachen können. In dieser Zeit müssen die
Ehegatten getrennt voneinander leben und Härten verschiedenster Art ertragen. Der Spracherwerb im Ausland ist oft kaum möglich, da es zum Beispiel in ländlichen Regionen an Schulungsmöglichkeiten fehlt. In der
Regel werden von den Auslandsvertretungen zum Nachweis der Deutschkenntnisse nur Zertifikate des GoetheInstitutes anerkannt. Jedoch existieren Goethe-Institute
nicht in allen Regionen, nicht einmal in allen Ländern.
Zudem sind die Sprachkurse allzu oft mit hohen Kosten
verbunden, die für viele Menschen eine erhebliche Belastung bedeuten. Kurse beim Goethe-Institut sind
teuer; oft übersteigen die Kosten ein durchschnittliches
Monatsgehalt in den Herkunftsländern.
Die Pflicht, Deutsch im Herkunftsland unter schwierigen Bedingungen zu lernen, trifft sozial schwache Personen besonders heftig. Auch für Personen ohne oder
mit nur wenig Erfahrung mit Bildungseinrichtungen
stellt das Spracherfordernis eine erhebliche Hürde dar.
So kann die Regelung etwa für Analphabeten zu einem
dauerhaften Einreisehindernis führen. Das Spracherfordernis verfehlt die Ziele, die es erreichen soll. Es wirkt
Zwangsehen nicht entgegen und trägt zur Integration
der nachziehenden Ehegatten nicht bei. Somit kann es
die Eingriffe in Art. 6 Grundgesetz nicht rechtfertigen.
Die Einführung des Sprachnachweises wurde von der
Großen Koalition damit begründet, dass Sprachkurse
Zwangsverheiratungen verhindern. Belege dafür gibt es
nicht. Sprachkurse können zwar die individuelle Handlungsfähigkeit und damit die persönliche Autonomie
steigern; wie Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler jedoch zeigen, gelingt das nur dann,
wenn sie kontextbezogen stattfinden und mit OrientieZu Protokoll gegebene Reden
rungen im Gesellschafts- und Unterstützungssystem des
Zielstaates verbunden sind. Derartiges „Empowerment“ durch Sprachkurse ist daher erst im Zielland,
etwa im Rahmen der Integrationskurse, nicht aber durch
Fernlehrkurse vor der Einreise zu gewährleisten. Das
Spracherfordernis ist also nicht geeignet, Zwangsverheiratungen entgegenzuwirken.
Die Einschränkung des Grundrechts auf Ehe- und Familienleben ist zudem unverhältnismäßig. Denn sie betrifft eine große Zahl von Einwanderinnen und Einwanderer, während Zwangsehen nur in wenigen Ländern und
hier jeweils nur bei kleinen Bevölkerungsgruppen geschlossen werden. Auch nach Aussagen der Bundesregierung spielen Zwangsverheiratungen beim Ehegattennachzug überhaupt nur in Ausnahmefällen eine Rolle.
Der Eingriff in das Recht auf familiäres Zusammenleben in Deutschland ist auch durch das Ziel der Integration nicht gerechtfertigt. Denn es gibt mildere Mittel,
durch die der intendierte Zweck besser erreicht wird.
Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochen
werden. Nur dann ist gewährleistet, dass das in den Kursen erworbene Wissen praktisch umgesetzt und eingeübt
wird, nicht zuletzt mithilfe der hier lebenden Familienangehörigen und Freunde und unterstützt durch die
Sprachanwendung im Alltag. Kurz: Der Spracherwerb
im Inland ist viel leichter, schneller, kostengünstiger und
weitaus weniger belastend für die Betroffenen als im
Ausland.
In Bezug auf den Ehegattennachzug zu Deutschen
stellt die Regelung zudem eine „Inländerdiskriminierung“ dar. Denn der Nachzug zu Deutschen wird anders
behandelt als der Nachzug zu Unionsbürgerinnen und
Unionsbürgern. Während Ehegatten deutscher Staatsangehöriger vor der Einreise Sprachkenntnisse nachweisen müssen, sind Ehegatten von Unionsbürgerinnen
und Unionsbürgern von dieser Verpflichtung befreit.
Letztere können sich auf die vorteilhafteren Regelungen
des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts berufen. Mangels sachlicher Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung steht die Regelung nicht im Einklang
mit Art. 3 Grundgesetz.
Das Spracherfordernis gilt auch nicht für alle Ehegatten von Ausländerinnen und Ausländern. So müssen
beispielsweise Ehegatten von Staatsangehörigen aus
Ländern, mit denen Deutschland enge wirtschaftliche
Beziehungen pflegt, Sprachkenntnisse nicht nachweisen.
Ausgenommen von der Nachweispflicht sind auch Ehegatten von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern
sowie die Ehegatten von Hochqualifizierten, Selbstständigen und Forscherinnen und Forschern. Diese Bevorzugung bestimmter Drittstaatsangehöriger ist im Hinblick auf den vorgeblichen Zweck des Sprachnachweises
sachfremd.
Wir betrachten die Regelungen zum Spracherwerb
beim Familiennachzug als menschenunwürdig, verfassungswidrig und überflüssig. Daher haben wir uns in
unserem Gesetzentwurf mit der Drucksachennummer 17/1626 für ihre Abschaffung ausgesprochen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag
der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Bürgerinitiative
KOM({0}) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Europäische Bürgerinitiative - Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU
- Drucksache 17/1781 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Petitionsausschuss
Ausweislich der Tagesordnung werden die Reden zu
Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Karl
Holmeier, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Dr. Stefan
Ruppert, FDP, Dr. Dieter Dehm, Die Linke, Manuel
Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.
Zu den vielen positiven Neuigkeiten, die der Vertrag
von Lissabon in die europäische politische Realität gebracht hat, gehört die Europäische Bürgerinitiative
nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Insofern ist es gut, im Lichte
des Verordnungsvorschlags des Europäischen Parlaments und des Rates im Deutschen Bundestag eine Debatte hierüber zu führen, auch wenn - und dies schicke
ich voraus - im uns heute vorliegenden Antrag wenig zu
finden ist, was unsere Zustimmung finden kann. An vielen Punkten ist der Vorschlag der Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments und des Rates zielführender. Ich will dies schlaglichtartig aufzeigen:
Erstens. Der Verordnungsvorschlag gibt als Richtschnur für das Mindestalter der Antragsteller das Wahlalter in den Mitgliedstaaten an. Wir halten dies für zielführend. Der Vorschlag des Antrags der Grünen geht
von einem Mindestalter von 16 Jahren aus; dies korrespondiert nicht mit den Bestimmungen des deutschen
Wahlgesetzes.
Zweitens. Bündnis 90/Die Grünen fordern ein einklagbares Recht auf obligatorische Befassung der Kommission mit einer formal erfolgreich eingereichten Initiative.
Das liegt nicht in der Intention der Vertragsautoren von
Lissabon. Ein solches Recht, die Europäische Kommission habe sich mit eingereichten Vorlagen zu befassen,
hat im Übrigen nicht einmal der Deutsche Bundestag.
Drittens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, den Antragstellern müsse eine informelle Vorabberatung durch
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission zur
Verfügung gestellt werden. Mit Verlaub: Das ist etwas zu
viel des Guten und käme der Praxis gleich, dass der Petitionsausschuss beim Deutschen Bundestag die Petenten selbst vorab berät.
Viertens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass die
1 Million benötigter Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten stammen solle. Der Verordnungsvorschlag geht von einem Drittel aus. Wenn
man weiß, dass die grüne Position in der von der Kommission durchgeführten Anhörung insbesondere von Organisationen vertreten wurde, wird die Absicht etwas
deutlicher. Hier soll offensichtlich befreundeten Organisationen der Zugang erleichtert werden; Klientelpolitik
im klassischen Sinne. Diese Auffassung teilen wir nicht.
Man kann trefflich darüber streiten, ob eine Zulässigkeit vorab durch die Kommission oder ex ante geprüft
werden sollte. Im Interesse möglicher Initianten sollte es
liegen, dass der Fall vermieden wird, dass mit verhältnismäßig großem Aufwand eine Initiative gestartet und
durchgeführt wird, von der sich nachher herausstellt, sie
war überhaupt nicht zulässig. Die Hoffnung, alleine
durch diesen Prozess werde schon eine europäische öffentliche Debatte ausgelöst, scheint mir dagegen eher
virtueller Natur zu sein.
Letzte Bemerkung: Die Europäische Bürgerinitiative
soll die repräsentative Demokratie und damit das Parlament ergänzen und nicht ersetzen; sie soll auch nicht in
Teilen Aufgaben der Legislative übernehmen. Insofern
können wir den vorgelegten Antrag nicht mittragen.
Demokratie hat Konjunktur - und das inmitten einer
Wirtschafts- und Finanzkrise. Nachdem durch den Vertrag von Lissabon bereits die Mitwirkungsmöglichkeiten
des Europäischen Parlamentes und die Einbindung der
nationalen Parlamente in den europäischen Gesetzgebungsprozess verbessert wurden, setzen wir nun auf europäischer Ebene ein weiteres Zeichen zur Stärkung der
Demokratie.
Wir geben den Startschuss für ein echtes europäisches Volksbegehren - die Europäische Bürgerinitiative.
Den Grundstein dafür haben wir bereits im Vertrag von
Lissabon gelegt, und derzeit diskutieren wir mit der Europäischen Kommission und unseren europäischen
Partnern die Einzelheiten für das konkrete Verfahren zur
Ausgestaltung der Bürgerinitiative.
Doch lassen Sie mich vielleicht zunächst kurz erläutern, worum es bei dieser Europäischen Bürgerinitiative
eigentlich genau geht und was sie bedeutet. In ihrem Zusammenhang wird viel von der sogenannten partizipatorischen Demokratie gesprochen, im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie, die wir hier als Abgeordnete
im Deutschen Bundestag praktizieren. Da es sich jedoch
bei der Europäischen Bürgerinitiative um ein Instrument
handelt, das direkt für die Bürgerinnen und Bürger geschaffen wurde, sollten wir uns vielleicht bei der Erläuterung dieses Instruments etwas verständlicher ausdrücken.
Die Europäische Bürgerinitiative ist, wie eingangs
bereits kurz erwähnt, eine Art Volks- oder Bürgerbegehren auf europäischer Ebene. Sie erlaubt den Unionsbürgern erstmals in der Geschichte der EU, europäische
Rechtsvorschriften direkt anzuregen - mit der Sammlung von mindestens einer Million Unterschriften zu einem ganz konkreten Thema. Die Bürger können mit diesen Unterschriften die Kommission auffordern, konkrete
Gesetzesvorschläge auf europäischer Ebene vorzulegen.
Dies gilt selbstverständlich nur im Rahmen der Kompetenzen, die die EU hat. Das sogenannte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip bleiben also gewahrt.
In Deutschland ist uns das von Länder- und Kommunalebene bereits bekannt. Im Bund gibt es so etwas
nicht, dafür aber nun in Europa. Das ist ein Meilenstein
für die Demokratie. Wir sind damit in Europa also sogar
ein Stück weiter als in Deutschland.
Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist es, einen
spürbaren Akzent zu setzen, um die EU bürgernäher zu
machen. Wir von der CDU/CSU haben immer klargemacht, dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allem
auch ein bürgernahes Europa wollen. Das haben wir in
unseren Wahlprogrammen und auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitiative setzen wir dies nun um. Die Menschen in der EU
können sich mit dieser Initiative selbst Gehör verschaffen und erhalten die Möglichkeit, selbst ein Wort mitzureden. Die Europäische Bürgerinitiative hat damit einen
immensen symbolischen Wert und ist ein Beleg dafür,
dass es der EU ernst damit ist, sich um die Belange ihrer
Bürgerinnen und Bürger zu kümmern.
Außerdem soll die Bürgerinitiative grenzüberschreitende europaweite Debatten fördern, weniger auf nationale Themen und nationale Interessen begrenzt, sondern
verstärkt auf gesamteuropäische Themen. Damit leisten
wir einen bedeutenden Beitrag zur Förderung der europäischen Identität.
Ziel bei der Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative muss es sein, dass die Bürgerinnen und Bürger
dieses Instrument aktiv nutzen. Es darf nicht nur ein
populistisches Vehikel für Oppositionsparteien oder
auch für Mitgliedstaaten sein, deren Vorstellungen zu
bestimmten Themen nicht mehrheitsfähig sind. In diesen
Tagen beschleicht mich jedoch der Eindruck, dass diese
Initiative für die Bürger genau hierzu missbraucht wird.
Ich bin der Letzte, der hohe bürokratische Hürden für
die Bürgerinitiative fordert. Ich sehe mich eher als
Kämpfer für Bürokratieabbau an allen Fronten. Position von CDU und CSU war es auch von Anfang an, die
Europäische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompliziert und praktikabel auszugestalten. Aber es muss natürlich auch hinreichend sichergestellt sein, dass dieses
Instrument tatsächlich ein Instrument der Bürgerinnen
und Bürger wird und eben nicht als populistisches Mittel
missbraucht werden kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Genauso muss sichergestellt sein, dass es keinen
Missbrauch durch fingierte Unterschriften gibt. Das ist
nicht einfach, denn die Nachprüfung von einer Million
Unterschriften in ganz Europa ist verständlicherweise
eine echte Herausforderung. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir das in den aktuellen Verhandlungen in den
Griff bekommen.
Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzulegen, denke ich, ist es sinnvoll, sich hier am Wahlrecht für
das Europäische Parlament zu orientieren. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein demokratisches Instrument
auf europäischer Ebene und wir sollten hier in Europa
keine unterschiedlichen Altersgrenzen einführen.
Insgesamt sind wir mit dem, was zurzeit von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde, auf einem sehr
guten Weg. Dem aktuellen Verordnungsvorschlag stehen
keine wesentlichen Bedenken entgegen. Ich halte daher
auch eine besondere Intervention des Deutschen Bundestages nicht für erforderlich. Dies gilt insbesondere
auch im Hinblick auf den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, den ich vor dem Hintergrund
meiner Ausführungen ablehne.
Angesichts der bedeutenden gesamteuropäischen Herausforderungen, vor denen wir in diesen Tagen stehen,
ist diese Europäische Bürgerinitiative ein Signal für uns
alle, für unseren europäischen Gemeinsinn, die gemeinsame Solidarität in Europa und die gemeinsame Identität.
Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den
Schlaf gebracht. - Man muss nicht erst Heinrich Heines
berühmtes Zitat in abgewandelter Form bemühen, um
das beherrschende Thema dieser Tage in den Blick zu
nehmen: Wird das vereinte Europa die dramatische
Krise überstehen? Oder endet eine wohl einmalige Erfolgsgeschichte europäischer Integration, weil wir vor
einem ungezügelten Raubtierkapitalismus und einer
wachsenden Entsolidarisierung als Staaten- und Bürgerunion kapitulieren?
Trotz aller berechtigten Sorge: Von Schwarzmalerei
halte ich nichts. Anlass zu Optimismus ist sicher auch
das neue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative.
Mit dem Vertrag von Lissabon und der Bürgerinitiative
wagen wir mehr Demokratie. Gerade jetzt ist nicht ein
Weniger, sondern ein Mehr an Bürgerbeteiligung in Europa entscheidend. Bürgerinnen und Bürger haben eine
Chance verdient, sich stärker in den Entscheidungsprozess der EU einzubringen. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten haben uns schon im Verfassungskonvent für eine Europäische Bürgerinitiative stark gemacht, und das mit Erfolg! Heute debattieren wir über
die konkrete Umsetzung. Endlich liegt ein Verordnungsentwurf der EU-Kommission auf dem Tisch.
Die SPD will die Bürgerinnen und Bürger zur Teilhabe in der EU ermuntern. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein wichtiger Baustein direkter Demokratie.
Die Europäische Bürgerinitiative ist stets als ein Glanzstück des Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages von
Lissabon bewertet worden. Jetzt muss das Projekt möglichst unbürokratisch und bürgerfreundlich ausgestaltet
werden, damit es wirken und von der Bevölkerung auch
angenommen werden kann. Meine Fraktion hat sich
bereits mit einer ausführlichen Stellungnahme am öffentlichen Konsultationsprozess der Europäischen Kommission zur Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative beteiligt. Denn bis auf die Mindestanzahl von
1 Million Unterschriften aus einer bestimmten Anzahl
von Mitgliedstaaten schreibt der Vertrag von Lissabon
nicht viel zur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiative vor. Deshalb sind viele der Forderungen, die
die Grünen-Fraktion in ihrem Antrag nennt, durchaus
unterstützenswert.
Das Quorum für die Anzahl der Unterstützer pro Mitgliedsland hat die Kommission selbst herabgesetzt. Das
ist schon einer unserer ersten Erfolge. Der ursprüngliche Prozentsatz von 0,2 Prozent der Bevölkerung hätte
beispielsweise für Deutschland bedeutet, dass sich ungefähr 160 000 Bürgerinnen und Bürger hätten beteiligen müssen. Wenn ich mich recht entsinne, fand selbst
die Petition an den Deutschen Bundestag zu den umstrittenen Internetsperren nicht einmal 140 000 Unterzeichner. Das zeigt: Eine Mindestanzahl von 160 000 war
einfach zu hoch angelegt. Das haben im Konsultationsverfahren nicht nur wir bemängelt, sondern auch eine
Vielzahl weiterer Akteure - auch aus anderen Mitgliedstaaten. Der aktuelle Vorschlag fußt zwar auf einer komplizierten Berechnungsgrundlage; aber die erforderliche Unterstützerzahl wurde für Deutschland damit auf
72 000 vermindert. Das ist gut so.
Der nun vorliegende Vorschlag der Kommission legt
jedoch in vielen Bereichen die Messlatte weiterhin zu
hoch an. Der Rat und das Parlament sind nun in der
Pflicht, im weiteren Verfahren, die zu hohen Hürden im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger herabzusetzen.
Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die Bundesregierung in den Verhandlungen verhalten wird.
Ich möchte einige weitere Punkte benennen, die zu
korrigieren sind, damit dieses Instrument für die Organisatorinnen und Organisatoren von Bürgerinitiativen
vereinfacht wird. Nur dann wird es den EU-Bürgerinnen
und -Bürgern möglich sein, sich über die Grenzen der
Mitgliedstaaten hinaus zu vernetzen, gemeinsame Anliegen zu verfolgen und mitzugestalten. Eine Schicksalsgemeinschaft muss auch immer Gestaltungsgemeinschaft
sein.
Erstens sollte die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten,
die im aktuellen Vorschlag bei neun liegt, auf ein Viertel,
also derzeit sieben Mitgliedstaaten, herabgesetzt werden. Mit Unterstützern aus sieben Mitgliedstaaten ist ein
europäisches Interesse ausreichend gewährleistet. Wir
unterstützen damit den Vorschlag des Europäischen
Parlaments.
Zweitens spricht sich meine Fraktion für eine Verlängerung des Zeitraums von 12 auf 18 Monate aus. Die
Vernetzung der Organisatorinnen und Organisatoren
aus mehreren EU-Mitgliedstaaten bedeutet einen sehr
hohen Aufwand. Dem muss mit einem angemessenen
Zu Protokoll gegebene Reden
Michael Roth ({0})
Zeitraum Rechnung getragen werden. Wenn die nötige
Anzahl von Unterstützern von 1 Million vor Ablauf dieser Zeit erreicht wird, beginnt die Arbeit der Kommission eben früher.
Drittens ist die im vorliegenden Entwurf vorgeschriebene Angabe der Personalausweisnummer fraglich.
Diese Vorgabe kennt auch das deutsche Petitionsrecht
nicht. Aus welchem Grund sollte diese Erschwernis für
eine Bürgerinitiative auf europäischer Ebene gelten, die
schlussendlich keine Pflicht, sondern lediglich eine Aufforderung zum Handeln des europäischen Gesetzgebers
beinhaltet?
Unsere Position werden wir als SPD-Fraktion in einem eigenen Antrag im Deutschen Bundestag detailliert
darstellen, und wir werden die Bundesregierung auffordern, sich für weitere Vereinfachungen im Sinne der
Bürgerfreundlichkeit einzusetzen. Die Abwehrhaltung
der Kolleginnen und Kollegen der CDU gegen direktdemokratische Elemente vermag ich nicht nachzuvollziehen. Zeigen Sie jetzt, ob Ihnen das Projekt einer EU der
Bürgerinnen und Bürger ebenso wichtig ist wie uns. Demokratie und Europa werden von oben nicht funktionieren, sondern nur von unten.
Nur wenn das gelingt, werden wir die Akzeptanz der
EU bei den Bürgerinnen und Bürgern steigern. Noch
scheint diese vielen Menschen als bürokratisch-technokratisches Ungetüm. Brüssel ist vielen fern. Das verhindert die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins, das wir auch zur Bewältigung von Krisen
dringend benötigen. Die Europäische Bürgerinitiative
vermag Debatten auf europäischer Ebene anzustoßen.
Wir brauchen diese europaweiten Debatten auch, um
mehr Menschen an die Wahlurnen bei den Wahlen zum
Europäischen Parlament zu bewegen. Das Europäische
Parlament als einziges demokratisch legitimiertes Organ der EU verdient das Interesse und die Anerkennung
der Wählerinnen und Wähler.
Die Menschen in der EU verstehen nicht, warum sie
die Kosten der Krise, die schamlose Banker und Spekulanten verursacht haben, allein schultern sollen. Erfreulich, dass diese Einsicht jetzt doch, wenn auch verspätet
und im Schneckentempo, bei der schwarz-gelben Koalition durchdringt.
Wenn die Europäische Bürgerinitiative jetzt schon genutzt werden könnte, hätte ich keinen Zweifel am erfolgreichen Ausgang einer Initiative zur Zügelung der Finanzmärkte. Es hätte den konservativen und liberalen
Kräften in der EU längst den Wind aus den Segeln genommen und sie endlich zu mutigen Schritten zur weitreichenden Finanzmarktregulierung gezwungen. Der
Beschluss der Sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs vom 17. Mai 2010 war nur der
erste Schritt einer europaweiten Mobilisierung für das
gemeinsame Anliegen, die Märkte wieder dem Primat
der Politik unterzuordnen. Es ist wünschenswert, dass
sich Rat und Europäisches Parlament schnell auf genannte Korrekturen verständigen und die Verordnung
zur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiative
schnell in Kraft treten kann. Wir haben schon genug Zeit
vertan.
In der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“
formuliert ein Journalist zutreffend: „Auch Tiefpunkte
haben einen Höhepunkt“. Der Tiefpunkt, den wir in der
Wirtschaft und auf den Finanzmärkten gerade erleben,
kann zu einem Höhepunkt des Interesses für Europa
werden. Selten hat Europapolitik so viel Aufmerksamkeit
wie dieser Tage erhalten. Diese Chance gilt es zu nutzen.
Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger am
Geschehen in Gesellschaft und Staat. Selbst ein repräsentatives System, wie es in Deutschland und der Europäischen Union zu finden ist, kann immer noch um Elemente der direkten Demokratie, das heißt durch stärkere
und unmittelbare Einbeziehung des Bürgerwillens, bereichert werden. Das ist ein wichtiger Grundsatz liberaler Politik. Mit der Europäischen Bürgerinitiative, die
zuerst im Verfassungsvertrag der EU Erwähnung fand
und dann erfreulicherweise in den Vertrag von Lissabon
übernommen wurde, wird erstmals ein bedeutsames direktdemokratisches Instrument auf der europäischen
Ebene geschaffen. Es soll den Bürgern eine unmittelbare
Teilnahme am europäischen Gesetzgebungsverfahren
ermöglichen.
Aus demokratietheoretischer Sicht kann die Europäische Bürgerinitiative eine Lücke im politischen System
der EU in Bezug auf Bürgerpartizipation und Kontrolle
der europäischen Politik füllen. Diese ist vor allem
durch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU im Zuge der vergangenen
Vertragsrevisionen entstanden. So sind mit der Schaffung der Europäischen Bürgerinitiative eine Vielzahl
von Chancen für das politische System der Europäischen Union verbunden: zum ersten eine direkte Mitwirkung der Bürger am Gesetzgebungsverfahren und damit
auch eine mögliche Erweiterung des Wissens und des
Verständnisses für europäische Politik, zum zweiten eine
Stärkung von Pluralismus in der EU, da auch Minderheiten stärker Berücksichtigung finden werden. Letztlich
kann die Europäische Bürgerinitiative auch einen Beitrag zur Herausbildung von transnationalen Diskursen
leisten. Es erscheint jedoch ein wenig illusorisch, von
dem Instrument den Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit zu erwarten, wie es im Antrag der Grünen anklingt; denn die Bürgerinitiative wird wohl vor allem
von Minderheiten genutzt werden. Nichtsdestotrotz ist
die Schaffung des neuen direktdemokratischen Elements
auf europäischer Ebene ein bedeutsamer Schritt.
Welche Praxis sich hinsichtlich der Europäischen
Bürgerinitiative in den kommenden Jahren einspielen
wird, hängt in hohem Maße von der konkreten Ausgestaltung der Verordnung ab. Hier muss es aber eine sinnvolle Balance zwischen Effektivität und Nutzerfreundlichkeit des neuen Instruments einerseits und Schutz vor
Missbrauch der Europäischen Bürgerinitiative andererseits geben. Gerade dieses Gleichgewicht lassen die im
Antrag der Grünen gestellten Forderungen doch etwas
vermissen.
Ich möchte jedoch zuerst die Kernelemente des Antrags benennen, die bei uns Liberalen ausdrücklich auf
Zu Protokoll gegebene Reden
Zustimmung stoßen. Zum einen ist die geforderte Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützungsbekundungen kommen müssen, mit sieben, was
einem Viertel entspricht, zu begrüßen. Auch das von der
EU-Kommission vorgeschlagene degressiv proportionale System zur Bestimmung der Mindestanzahl der
Bürger pro Land, die für eine erfolgreiche Bürgerinitiative notwendig sind, befürworten wir. Darüber hinaus
kann aus unserer Sicht die Forderung unterstützt werden, dass eine Zulässigkeitsprüfung durch die Kommission bereits zum Zeitpunkt der Registrierung und nicht
erst, wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, nach
der Sammlung von 300 000 Unterstützungen erfolgt.
Der Antrag der Grünen bleibt aber hinter dem Anspruch zurück, das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative gegenüber Missbrauch zu schützen. Zwar
wird im Antrag beispielsweise thematisiert, die Bürgerinitiative vor der Instrumentalisierung und Durchsetzung rein nationaler Interessen zu bewahren; konkrete
Vorschläge dazu kommen bei ihnen jedoch nicht zur
Sprache. Vielmehr ist erkennbar, dass sie mit ihren sehr
freizügigen und weitreichenden Forderungen die Hürden zu niedrig ansetzen und deshalb die Effektivität der
Europäischen Bürgerinitiative gefährden. In diesem Zusammenhang ist etwa der Zeitraum für die Sammlung
von Unterschriften zu nennen, der mit zwölf Monaten zu
lang ist. Auch das von ihnen geforderte einheitliche
Mindestalter von 16 Jahren zur Teilnahme an der Initiative ist unverhältnismäßig. Obwohl sie die von uns favorisierte Kopplung der Teilnahme an die Altersgrenze für
die Wahlen zum Europäischen Parlament als „rückschrittlich“ bezeichnen, müssen sie dennoch anerkennen, dass sich eine klare Mehrheit im Anhörungsverfahren für diese Regelung ausgesprochen hat.
Abschließend sei auf die in ihrem Antrag sehr weitreichend skizzierten Widerspruchs- und Einklagungsrechte
verwiesen, die nicht unproblematisch sind. Im Grünbuch
der Kommission wie auch im ersten Verordnungsvorschlag wurden solche Forderungen gar nicht thematisiert. Auch im Konsultationsverfahren spielten sie lediglich am Rande eine Rolle. So kann ich abschließend nur
zu dem Urteil kommen, dass ihrem Antrag trotz einiger
positiv hervorzuhebender Punkte in der Summe die notwendige Balance fehlt, um eine solide Grundlage für
eine effektive und missbrauchssichere Ausgestaltung der
Europäischen Bürgerinitiative zu liefern.
Die Lektüre des Antrags Ihrer Fraktion hat mich ratlos zurückgelassen: Ich frage mich, ob wir von denselben vertraglichen Grundlagen ausgehen. Gleich im
Feststellungsteil nehmen Sie positiv Bezug auf Art. 11
Abs. 4 des Lissabon-Vertrags, mit dem die Europäische
Bürgerinitiative, EBI, eingeführt und in ihren Grundzügen umrissen wird. In dem Zusammenhang stellen Sie
fest - ich zitiere -: „Die EBI verkörpert ein neues Element partizipatorischer Demokratie. Der Einfluss möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger auf die politische
Willensbildung wird die demokratische Arbeitsweise der
EU bereichern. Das neue Instrument bietet der EU eine
einzigartige Chance, näher an die Bürgerinnen und Bürger zu rücken …“ Ich frage mich, an welcher Stelle Sie
in Art. 11 Abs. 4 des Lissabon-Vertrags eine „einzigartige Chance“ für mehr Bürgerbeteiligung und wo Sie
Ansatzpunkte für eine demokratischere EU entdecken
konnten. Mir ist dies nicht gelungen.
Der Wortlaut des entsprechenden Artikels liest sich
wie folgt - ich zitiere aus dem Vertragstext -: „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger … können die Initiative
ergreifen und die Europäische Kommission auffordern,
im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu
Themen unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener
Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen.“ Nach meiner Lesart
dieser Passage eröffnet sie keine Chancen für eine direkte Beteiligung der EU-Bürgerinnen und -Bürger an
der politischen Gestaltung, ganz im Gegenteil. Im Text
wird sogar jede effektive Beteiligung ausgeschlossen.
Lassen Sie mich diese Einschätzung, mit der ich im Übrigen keineswegs allein stehe, sondern die von meiner
Fraktion sowie von zahlreichen Bürgerrechtsorganisationen wie zum Beispiel von „Mehr Demokratie e. V.“
geteilt wird, begründen:
Erstens. Nach Vertragslage kann eine EBI die EUKommission lediglich dazu auffordern, Vorschläge für
Rechtsakte - also „EU-Gesetzesvorschläge“ - zur Umsetzung der EU-Verträge zu entwickeln. Damit ist ausgeschlossen, dass Vertragsänderungen oder Ergänzungen
des Lissabon-Vertragswerkes eingefordert werden können. Beispielsweise ließe sich die Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag, wie dies
unter anderem von meiner Fraktion, aber auch von Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen verlangt wird, nicht über eine Bürgerinitiative verwirklichen, da dies eine Primärrechtsänderung darstellt.
Damit bleibt die EBI ein zahnloses Instrument, das den
Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an den wichtigsten europapolitischen Fragen von vornherein verweigert.
Zweitens. Dies zeigt sich auch daran, dass sich die
Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen nur
an die EU-Kommission und nicht an das EU-Parlament
oder den Rat wenden können.
Drittens. Last, but not least enthält der Vertragstext
keinerlei Formulierungen, die die Kommission inhaltlich und politisch an die von einer Bürgerinitiative erhobenen Forderungen binden. Es ist somit theoretisch
möglich, dass die Kommission ein Bürgerinnen- oder
Bürgeranliegen zwar aufgreift, daraus aber einen Vorschlag einer EU-Verordnung mit komplett anderer politischer Stoßrichtung entwickelt.
Der Lissabon-Vertrag hat die EU nicht demokratischer gemacht, sondern er hat bestehende Demokratiedefizite festgeschrieben. Das gilt, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, auch ganz konkret für die direktdemokratischen Elemente. Art. 11 Abs. 4 EUV stutzt
die angeblich mit „Lissabon“ angestrebten erweiterten
Mitbestimmungsrechte auf den Status unverbindlicher
Massenpetitionen zurück. Eine undemokratische EU,
die eine wirkliche, direkte Beteiligung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger am politischen Prozess verhinZu Protokoll gegebene Reden
dert, schadet der europäischen Idee. Anstatt politische
und soziale Integration zu ermöglichen, fördert sie Desintegration und den Rückfall in Nationalismen. Davor
hat die Linke immer gewarnt, und auch darum haben
wir gegen den Lissabon-Vertrag geklagt.
Die EBI in ihrem jetzigen Zuschnitt trägt dieser Gefahr keine Rechnung. Dabei haben Erfahrungen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten gezeigt, dass die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger schnell frustriert
werden, wenn einerseits die organisatorischen und formalen Voraussetzungen einer direkten Beteiligung zu
hoch angesetzt und andererseits die Bürgerinitiativen
keine politisch bindende Wirkung für die Regierenden
haben und somit ignoriert werden können, wenn das
Volk nicht nach der Pfeife der Mächtigen tanzen will.
Wer direktdemokratische Einflussmöglichkeiten großartig ankündigt und zugleich die Bedingungen dafür so zuschneidet, dass wirkliche Mitsprache per definitionem
ausgeschlossen wird, riskiert wachsende Politikverdrossenheit und die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von
jeder demokratischen Mitgestaltung - ob fahrlässig
oder bewusst, lasse ich hier einmal dahingestellt.
Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative vom 6. April
diesen Jahres - KOM ({0}) 119 - an das Europäische
Parlament und an den Rat, auf die sich der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen bezieht, und in dem die genauen
Verfahren und Bedingungen für die EBI festgelegt werden, riskiert genau dies. Er ist unter Demokratiegesichtspunkten in höchstem Maße ungenügend. Erwartungsgemäß werden von der Kommission die oben
angesprochenen elementaren Mängel des Vertragstextes
mit keiner Silbe angesprochen; es werden keine vertraglichen Änderungen oder Korrekturen angeregt, die eine
wirkliche Demokratisierung der EU gewährleisten würden.
Darüber hinaus setzt die EU-Kommission die Formalkriterien für Bürgerinitiativen unverhältnismäßig
hoch an: Dies betrifft beispielsweise die Mindestbedingungen des Quorums, die neben der Festlegung der
Mindestzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer auf
insgesamt 1 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger
auch vorschreibt, dass die Initiative eine festgelegte
Mindestzahl von Unterstützerinnen und Unterstützern in
mindestens 30 Prozent der Mitgliedstaaten findet. In Anbetracht der Tatsache, dass die EBI derzeit nur auffordernden und keinen verbindlichen Charakter hat, ist
dies nur als Schikane zu bewerten, die sich besonders
gegen Graswurzelbewegungen mit begrenzten finanziellen und organisatorischen Mitteln richtet. Auch die Vorschriften zur Unterschriftensammlung, die neben dem
Namen, der Adresse und des Geburtsdatums der Unterstützerin oder des Unterstützers auch die Angabe zur
Ausweis- und Sozialversicherungsnummer verlangen,
erschweren die Sammlung von Unterstützungsbekundungen erheblich und unnötig. Einige dieser und weiterer Hürden, die die Kommission der direkten Bürgerbeteiligung entgegenstellt, werden zwar im Antrag der
Grünen angesprochen; allerdings vermisse ich dort die
nötige Vehemenz.
Bezeichnend ist, dass im Grünen-Antrag das faktische Vetorecht, das sich die EU-Kommission in ihrem
Vorschlag selbst einräumt, nicht als das bezeichnet wird,
was es ist: Es ist nach meiner Auffassung ein Skandal,
dass sich die Kommission in Art. 4 ihres Vorschlags
selbst das Recht nimmt, eine Bürgerinitiative durch
Nichtregistrierung bereits im Vorfeld zu verhindern. Die
Kriterien sind jedoch derart vage formuliert, dass sie
leicht politisch missbraucht werden können. Die Möglichkeit, „unangemessene“ Initiativen zu verhindern, eröffnet der Kommission Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen gegen politisch unliebsame Initiativen.
Dass der Kommissionsvorschlag weder hier noch bei
der Zulässigkeitsprüfung, Art. 8, Einspruchsrechte der
Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen vorsieht, spricht Bände.
Mit ihrem Vorschlag zur EBI wirft die EU-Kommission die bekannten Nebelkerzen. Es ist schade, dass Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
sich erneut davon blenden lassen. Damit eine demokratische EU und eine direkte Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung an europapolitischen Prozessen Realität werden können, bedarf es weit mehr als der - zweifellos
richtigen, letztlich aber kosmetischen - Korrekturen am
Kommissionsvorschlag, die Sie hier und heute einfordern. Wir von der Linken bleiben dabei: Der LissabonVertrag muss grundlegend korrigiert und die EU muss
durch effektive und bindende Instrumente der Bürgerbeteiligung wirklich demokratisiert werden.
Wir alle wissen, Europa steht vor wegweisenden Entscheidungen. Mit der Zustimmung zu den GriechenlandHilfen in der vergangenen Sitzungswoche und der Einführung eines europäischen Rettungsschirms sind die
Hausaufgaben noch lange nicht gemacht. Wir müssen
die Probleme bei den Wurzeln packen und die Ursachen
für die Krise bekämpfen. Die Finanzmärkte müssen umfassend reguliert, die Regeln für die Euro-Zone grundlegend reformiert werden. Die europäische Gestaltung der
Wirtschaftspolitiken und die Nachhaltigkeit öffentlicher
Haushalte werden noch Monate Platz eins der europäischen Agenda einnehmen. Bei der Tragweite, die diese
Entscheidungen haben und haben werden, sollte uns allen eines besonders am Herzen liegen: die Interessen
der Bürgerinnen und Bürger Europas. Sie müssen mitgenommen werden auf dem Weg zu mehr europäischer Integration, ihre Stimmen müssen Gehör finden bei der
künftigen Ausgestaltung der EU. Die Bürgerinnen und
Bürger müssen mitentscheiden, in welchem Europa sie
leben möchten.
Mit dem Vertrag von Lissabon, genauer gesagt, mit
der darin verankerten Bürgerinitiative bekommen die
EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues Instrument der
Partizipation. Künftig werden eine Million Bürgerinnen
und Bürger die Kommission auffordern können, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Rechtsetzungsvorschläge zur Umsetzung der EU-Verträge vorzulegen.
Wir Bündnisgrünen sehen in dieser neuen Bestimmung
die einmalige Chance, die EU noch näher an ihre Bürgerinnen und Bürger zu rücken. Wir haben uns bereits im
Zu Protokoll gegebene Reden
Februar an der Konsultation beteiligt und der Kommission mitgeteilt, wie wir uns die Ausgestaltung der Bürgerinitiative konkret vorstellen. Aus den Koalitionsfraktionen habe ich bisher zu dem Thema allerdings herzlich
wenig gehört.
Ich freue mich, wenn künftig vermehrt grenzüberschreitende Debatten zu europäischen Fragen stattfinden und der Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit
spürbar wird. Ich weiß, dass diese Ziele nicht einfach zu
erreichen sind. Umso wichtiger ist es, dass auch die
Bürgerinnen und Bürger das neue Instrument der Bürgerinitiative als Chance sehen und nicht bereits im Vorfeld durch zu hohe Hürden und undurchsichtige Regeln
von ihrem Engagement abgehalten werden. Das Verfahren für die Organisation und Durchführung einer Initiative muss daher transparent, verbindlich, nutzerfreundlich und unbürokratisch ausgestaltet werden. Für uns
Grüne bedeutet das konkret:
Ein Anliegen von mindestens einer Million Bürgerinnen und Bürger darf nicht sang- und klanglos in einer
Schublade der Kommission verschwinden. Angemeldete
Initiativen müssen beispielsweise in ein Online-Register
aufgenommen und Ergebnisse von Zulässigkeitsprüfungen öffentlich gemacht werden. Außerdem sollten Organisatorinnen und Organisatoren ein Widerspruchsrecht
gegen das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung und ein
Recht auf öffentliche Anhörung erhalten.
Ein hohes Maß an Transparenz muss gewährleistet
werden. Wir finden, dass alle Finanzierungsquellen einer geplanten Initiative offengelegt werden müssen.
Mit der Bürgerinitiative bekommt die EU auch endlich die Möglichkeit, junge Menschen verstärkt an europäischen Prozessen und Debatten zu beteiligen. Gerade
junge Menschen müssen ermutigt werden, sich aktiv am
demokratischen Leben zu beteiligen und ihre Anliegen
über nationale Grenzen hinaus zu formulieren. Die von
der Kommission vorgeschlagene Kopplung des Mindestbeteiligungsalters an die Altersgrenze für Wahlen zum
Europäischen Parlament wäre vor diesem Hintergrund
extrem rückwärtsgewandt. Wir Grüne fordern, dass sich
alle EU-Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren beteiligen dürfen.
Außerdem ist es uns wichtig, dass eine freie Unterschriftensammlung möglich ist. Insbesondere muss ein
zentral bei der Kommission oder einer geeigneten dritten Stelle angesiedeltes System zur Onlinemitzeichnung
geschaffen werden. Das von der Kommission vorgeschlagene System, von den Organisatorinnen und Organisatoren für jede Bürgerinitiative ein eigenes OnlineSammelsystem einrichten zu lassen, wäre nicht nur
extrem aufwendig, sondern für alle Beteiligten eine Zumutung. Es bedarf niedriger Hürden und unkomplizierter Regeln. Nur so werden sich auch Privatpersonen sowie kleinere und weniger gut vernetzte Organisationen
ermutigt fühlen, eigene Initiativen zu starten.
Gleichzeitig muss aber auch gewährleistet werden,
dass die Europäische Bürgerinitiative nicht als Deckmantel für nationale Interessen dient. Meine Fraktion
spricht sich dafür aus, dass die Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten kommen müssen und das Quorum für die Mindestzahl an Unterstützungsbekundungen pro Mitgliedstaat je nach Größe des
Landes zwischen 0,05 Prozent und 0,2 Prozent der Bevölkerung gestaffelt wird.
Last, not least ist es unerlässlich, innerhalb des gesamten Verfahrens den Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzustellen.
Eigentlich dachte ich, dass sich zumindest bei dem
Thema Bürgerbeteiligung alle einig sind. Doch da hatte
ich die Rechnung ohne die Bundesregierung gemacht.
Aus Kommissionskreisen erfuhr ich, dass die Bundesregierung nun auch noch bei der Bürgerinitiative auf der
Bremse steht. In den Ratsverhandlungen drängt sie derzeit darauf, dass das Inkrafttreten der Umsetzungsverordnung um Monate hinausgezögert wird. Angeblich
gibt es bei einigen Punkten noch Prüfungsbedarf. Ich
finde, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf
angemessene Beteiligung, und das so schnell wie möglich. Die Bundesregierung scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass es um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die EU geht. Sie sollte endlich ihre
Verzögerungsspielchen sein lassen und sich im Rat für
zügige Verhandlungen einsetzen. Wir brauchen jetzt ein
Europa der Bürgerinnen und Bürger.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1781 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Mai 2010, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.