Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/6/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich begrüße Sie alle herzlich. Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. ({0}) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über alle, die schon da sind. ({1}) Ich gebe Ihnen die beruhigende Mitteilung, dass die Verschiebung des Beginns der Sitzung unter allen Fraktionen einvernehmlich vereinbart worden ist, sodass ich jeden Augenblick auch mit der Vervollständigung um noch fehlende, wichtige politische Gruppierungen dieses Plenums rechne. ({2}) Wir beginnen wie immer mit einigen amtlichen Mitteilungen, von denen die erste die FDP-Fraktion betrifft und deswegen von mir noch einen kleinen Augenblick zurückgestellt wird. Dagegen sehe ich kein Problem, darauf hinzuweisen, dass die CDU/CSU-Fraktion vorschlägt, die Kollegin Rita Pawelski als neues stellvertretendes Mitglied in den Beirat der Bundesnetzagentur zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Damit ist die Kollegin Pawelski in den Beirat gewählt. ({3}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zu den Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität der Währungsunion und zu dem bevorstehenden Sondergipfel der Euro-Länder am 7. Mai 2010 in Brüssel ({4}) ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 29 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Anbau von gentechnisch veränderter Kartof- fel Amflora verhindern - Drucksachen 17/1028, 17/1547 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Elvira DrobinskiWeiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten - Drucksachen 17/1410, 17/1603 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuerschätzung für die Steuersenkungspläne der CDU/CSU-FDP-Koalition ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({7}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in das Kosovo - Drucksache 17/1569 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangenheit offenlegen - Drucksache 17/1556 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({9}) - Drucksache 17/1557 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz - Drucksache 17/1571 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Kopfpauschale - Für eine solidarische Krankenversicherung - Drucksachen 17/240, 17/1605 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rolf Koschorrek ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Anna Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine solidarische und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens - Drucksachen 17/258, 17/1606 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth ({15}), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ölkatastrophen vermeiden - Raubbau an Mensch und Natur ausschließen - Drucksache 17/1572 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 9, 13, 20, 27 und 29 a werden abgesetzt. ({17}) - Ich hoffe, es wird hinterher aus dem Protokoll hinreichend deutlich, dass sich die Begeisterungsrufe links vom Präsidium nicht auf die von mir angekündigte Absetzung der Tagesordnungspunkte beziehen, sondern auf die spontane Freude um die Vervollständigung der Reihen rechts vom Präsidium. ({18}) Dass es durch die von mir vorgetragenen beabsichtigten Absetzungen der Tagesordnungspunkte zu Änderungen in der Reihenfolge unserer Tagesordnung kommt, wird Sie nicht weiter überraschen: Der Tagesordnungspunkt 26 von Freitag wird bereits heute nach dem Tagesordnungspunkt 8 aufgerufen. Der Tagesordnungspunkt 15 wird auf morgen verschoben und folgt auf den TagesPräsident Dr. Norbert Lammert ordnungspunkt 25. Die Tagesordnungspunkte 17 und 19 rücken dementsprechend vor und werden nach den Tagesordnungspunkten 12 bzw. 14 aufgerufen. Ich darf noch auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam machen: Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({19}) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an den Auswärtigen Ausschuss ({20}) zur Mitberatung soll entfallen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, Volker Beck ({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sport in der Europäischen Union - Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen - Drucksache 17/1420 überwiesen: Sportausschuss ({22}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an den Finanzausschuss ({24}) zur Mitberatung soll entfallen. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation ({25}) - Drucksache 17/1295 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden sind. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b aufrufe, weise ich darauf hin, dass der Kollege Carl-Ludwig Thiele auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat und wir als neues Mitglied die Kollegin Dr. Christiane Ratjen-Damerau begrüßen können, die offenkundig noch nicht da ist, ({27}) was aber ihrer Mandatsübernahme nicht rechtswirksam im Wege steht. Die guten Wünsche kommen schon ein- mal auf diesem Wege ins Protokoll. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a und 4 b: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({28}) - Drucksache 17/1554 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({29}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Drucksache 17/1555 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({30}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen das Wort. ({31})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer Woche haben wir aus Nürnberg die neuen Arbeitsmarktzahlen bekommen. Das sind erfreuliche Zahlen. Die Arbeitslosigkeit ist deutlicher gesunken, als das im Monat April üblicherweise der Fall ist. Dies ist sicher eine Folge der Frühjahrsbelebung nach einem langen und harten Winter, aber auch ein Indiz dafür, dass wir langsam aus dem krisenbedingten Tief herauskommen. Bei aller Freude über die sinkenden Arbeitslosenzahlen und die Arbeitsmarktzahlen: Wenn man genau hinschaut, dann findet man fast ausschließlich bei denjenigen eine Bewegung zum Besseren, die ganz kurz in Arbeitslosigkeit sind. Im April sank die Arbeitslosigkeit im Rechtskreis SGB III, also bei denen, die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen, um 146 000, aber im Rechtskreis SGB II, also bei den Langzeitar3808 beitslosen, gerade einmal um 16 000. Dieses Muster, dass sich in der Krise keine deutliche Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit zeigte, in der Erholung aber auch keine deutliche Abnahme zeigt, ist ein Muster, das wir schon lange beobachten können, schlicht und einfach auch deshalb, weil die Hürden, um aus der Langzeitarbeitslosigkeit wieder herauszukommen, höher und die Probleme vielschichtiger sind. Dennoch gilt: Wann, wenn nicht jetzt, da die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder steigt und da durch den demografischen Wandel sichtbar wird, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und Fachkräfte gesucht werden, müssen wir hier etwas verändern? Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir mit aller Kraft an die Lösung dieser Probleme herangehen? Deshalb ist diese Jobcenter-Reform, die wir heute einbringen, die richtige Reform zum richtigen Zeitpunkt. ({0}) Ich möchte gerne vier Punkte darstellen, die mir bei dieser Reform wichtig sind: Es geht erstens um eine Grundhaltung. Wir wollen durch diese Jobcenter-Reform die Grundhaltung stärken und verstetigen, dass der Weg aus der Langzeitarbeitslosigkeit nur durch ein Aktivieren beschritten werden kann. Das heißt, die Kompetenzen und Potenziale, die die Menschen haben und die oft unter einer dicken Schicht von Unzulänglichkeiten oder objektiven Hürden verborgen sind, müssen aktiviert werden. Wir wollen nicht ein System haben, durch das verwahrt und verwaltet wird, sodass man zunehmend eine passive Haltung einnimmt, wie das früher bei der Sozialhilfe der Fall gewesen ist, sondern wir wollen mit dieser Jobcenter-Reform gerade noch einmal stärken und verstetigen, dass alle zusammenarbeiten, und zwar nicht nur die Langzeitarbeitslosen mit der Bundesagentur für Arbeit. Auch alle Leistungen der Kommunen, die sie gemäß ihren Kompetenzen erbringen, und die sozialintegrativen Leistungen müssen in einer Hand gebündelt zusammenkommen. Das geht zweitens - das ist gerade auch angesichts vielfältiger Kritik wichtig - nicht nach dem Lehrbuch des Föderalismus; denn in diesem Lehrbuch des Föderalismus steht: Eine Ebene soll für eine Leistung sichtbar zuständig sein. - Das kann man immer dann machen, wenn es um Techniken geht, zum Beispiel um das Auszahlen des Kindergeldes. Man muss dazu wissen, wie viele Kinder da sind und wie alt sie sind. Bei dieser Auszahlung einer Geldleistung geht es um Technik. Aber hier, meine Damen und Herren, geht es um etwas sehr viel Schwierigeres: Hier sind Menschen jahrelang ohne Arbeit, hier haben sich Schwierigkeiten angehäuft. Und diese Schwierigkeiten scheren sich keinen Deut darum, ob wir verschiedene föderale Ebenen haben oder nicht; sie sind da. Deshalb hilft eben auch nicht ein punktuelles Angebot, sondern es hilft nur, die Menschen Schritt für Schritt zu aktivieren und gebündelte Hilfe von verschiedenen Seiten für verschiedene Probleme anzubieten. Das ist ein Schritt, den wir mit dieser Jobcenter-Reform gemeinsam gehen wollen. ({1}) Man muss sich anschauen, wer die Menschen sind, die hinter diesen Zahlen der Langzeitarbeitslosigkeit stehen. Das kann zum Beispiel ein 48-jähriger Hilfsarbeiter sein. Dieser braucht etwas vollständig anderes als eine verheiratete Verkäuferin, als eine alleinerziehende Krankenschwester, als ein 22-Jähriger, der seine Lehre abgebrochen, dafür aber einen Berg Schulden angehäuft hat, oder als ein 58-jähriger Ingenieur, der nach einem persönlichen Fiasko mehrere Jahre lang arbeitslos gewesen ist. Allen ist gemeinsam, dass sie seit langer Zeit arbeitslos sind; aber um den Anschluss zu finden, brauchen sie ganz unterschiedliche präzise, fördernde Hilfen. Dafür brauchen wir drittens eine schlagkräftige Organisation. Wir wollen eine neue Qualität der Vermittlung, die es eben nicht dem Zufall überlässt, oder bestimmten Persönlichkeiten, die vor Ort da sind oder nicht, dass passende Konzepte zur Integration in den Arbeitsmarkt vorgelegt werden, ob es der Eingliederungszuschuss ist, die sozialpädagogische Begleitung, die Kinderbetreuung oder die Schuldnerberatung. Keiner der Langzeitarbeitslosen braucht alles; aber wenn die Langzeitarbeitslosen ins Jobcenter kommen, muss alles im Hintergrund zur Verfügung stehen, damit man punktuell im richtigen Moment die richtige Hilfe anbieten kann. Die Neuorganisation der Jobcenter lässt diesen Gestaltungsspielraum zu, sie sichert ihn verfassungsmäßig ab. In Zukunft kann jemand den Arbeitslosen nicht nur das anbieten, wofür er gerade zuständig ist, sondern die Hilfe, die sie brauchen. ({2}) Eine besonders wichtige Rolle in diesem Prozess spielen die Fallmanagerinnen und Fallmanager, die Vermittler. Sie wissen, wo es welche Hilfen gibt. Sie putzen bei den Unternehmen die Klinken. Sie wissen, auf welches mittelständische Unternehmen sie sich verlassen können, wenn es einen Jugendlichen gibt, der besondere Hilfe und Zuwendung braucht, um doch noch den Einstieg in die Lehre zu schaffen. Sie kennen die vielen verschiedenen - ein sperriges Wort - Arbeitsmarktinstrumente. Sie schaffen die Verlässlichkeit, weil sie das Gesicht, der Ansprechpartner sind für die Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen, aber auch für die Arbeitslosen, die Hilfe bei der Vermittlung eines Jobs suchen. Deshalb möchte ich an diesem Punkt eines besonders deutlich ansprechen: Im Augenblick befinden wir uns in der Situation, dass wir uns kurzfristig verhakt haben, und zwar bei dem Thema der 3 200 Stellen, die entfristet werden sollen. Kompetente Menschen sitzen bereits auf diesen Stellen, sie arbeiten in der Vermittlung. Das ist wichtig und richtig; wir brauchen diese Menschen. Es braucht Fachwissen, um diese Arbeit zu machen. Ich bin fest entschlossen, dass wir gemeinsam die Kraft aufbringen, sicherzustellen, dass eine so große Reform wie diese Jobcenter-Reform nicht daran scheitert, ob wir in diesem Punkt eine Lösung finden oder nicht. ({3}) Am Ende des Jahres stehen da rund 6,9 Millionen Menschen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam die Kraft aufbringen, das, was wir auf einen guten Weg gebracht haben, zu Ende zu bringen, dann sprengt das die Jobcenter am Ende des Jahres - sie zerfallen wieder in ihre Einzelteile -, ({4}) dann sind die 69 Optionskommunen von der Landkarte gewischt. Es ist eine Frage unseres gemeinsamen Gestaltungswillens und unserer Verantwortung für dieses Land mitten in der Krise, dass wir hier eine Lösung hinbekommen. ({5}) Auch der vierte Punkt ist mir wichtig: Die Reform schafft an einer Stelle, wo es in der Vergangenheit immer gehakt hat, etwas ganz Neues. Wir schaffen tatsächlich ein lernendes System, also kein System, in dem man erst nach Jahren Bilanz zieht und rückwärtsgewandt schaut, ob es funktioniert hat oder nicht, und sich vor Gericht streitet, ob das Geld sinnvoll eingesetzt worden ist oder nicht. Wir wollen stattdessen gemeinsam Ziele definieren: Wie viele Alleinerziehende, Jugendliche, Ältere, Facharbeiter in strukturstarken Regionen, die jetzt arbeitslos geworden sind für eine längere Zeit, sollen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden? Wir wollen laufend vergleichen und feinjustieren können: Was machen andere besser? Warum ist die eine Region erfolgreicher als die andere mit denselben Strukturen? Wer schafft es, Menschen schneller in Arbeit zu bringen? Dies ist unerlässlich, um im Jobcenter oder in der Optionskommune die eigene Arbeit zu spiegeln. Wir werden die Daten bundesweit einheitlich erheben, zeitnah erfassen und vergleichen können. Das tun wir nicht, weil wir aus Berlin bis in den hintersten Winkel eines Jobcenters oder einer Optionskommune hineinregieren und sie kontrollieren wollen. Nein, das können wir nicht, das wollen wir auch gar nicht. Aber wir wollen die Sachkenntnis und die Kreativität vor Ort so gestalten, dass man zügig, transparent und zeitnah sehen kann: Wer ist erfolgreich? Was wirkt? Wie wird das Geld eingesetzt? Wie wird den Menschen geholfen? Ich möchte vor allem, dass der Schleier des Nichtwissens, der Schleier der Intransparenz, der zum Teil bisher über dem System lag - man wusste nicht genau, warum die Unterschiede in der Arbeit so groß sind -, weggezogen wird. Ich möchte vor allem, dass die Diskussion über die beste Arbeit bei der Vermittlung dort geführt wird, wo sie hingehört, nämlich in die Kreistage, in die Kommunen, in die Unternehmen, in die Kammern und in die Gewerkschaften vor Ort. Letztendlich sind sie es, die gelobt werden, wenn etwas gelungen ist, oder die dafür geradestehen müssen, wenn es Defizite gibt. ({6}) Wir berichten jeden Monat in den Lokalzeitungen über die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in der jeweiligen Region. Ich wünsche mir, dass in Zukunft zum Beispiel vierteljährlich in den Lokalzeitungen über die Erfolge und die Entwicklung der Jobcenter bzw. der Optionskommunen berichtet wird und wir nachlesen können, wie Langzeitarbeitslose in einer Region mit ihren spezifischen Problemen wieder in Arbeit vermittelt worden sind. Das kann sich ändern. Das soll sich ändern. Ich bin sicher, dass dieser Wettbewerb um die besten Ideen motivieren wird. ({7}) Ich will noch einen Satz dazu sagen, dass die Reform angeblich teurer werden würde. Ich kann denjenigen, die Zahlenspielereien betreiben - ich habe mir genau angesehen, wie das entstanden ist -, nur zurufen: Sie blicken auf das zurück, was war. Ihr Denken ist statisch. Wir müssen handeln, weil wir die Veränderungen durch die Jobcenter-Reform brauchen; denn sonst müssten wir sie nicht machen. Sie sind unfähig, dynamisch zu denken, in die Zukunft zu blicken und zu sagen: Da wollen wir hin. Diese Veränderungen wollen wir. Deshalb sind die genannten Zahlen von gestern. Wir sprechen über eine Jobcenter-Reform, die unser Land auch in Zukunft bestimmen wird. Ich möchte trotz aller Hakeleien, die wir noch haben, denjenigen von Herzen danken, die parteiübergreifend eine Koalition der Vernunft geschlossen haben. Ich will mich bei all denjenigen bedanken, die das ermöglicht haben. Die Gesetze, die wir heute auf den Weg bringen, schaffen nicht nur Sicherheit für die Jobcenter und die Optionskommunen, sondern vor allem auch für die Langzeitarbeitslosen, die unsere Hilfe brauchen. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was brauchen langzeitarbeitslose Menschen in unserem Land? Das ist die Frage, die uns bewegen muss. Es ist die Verantwortung aller Parlamentarier, aber auch der Bundesregierung, sich gerade in der momentanen Phase der Entwicklung am Arbeitsmarkt zu überlegen, was getan werden kann und getan werden muss, um langzeitarbeitslosen Menschen effektiv zu helfen. Ich will niemandem absprechen, egal welcher Couleur, zu erkennen, dass das ein gemeinsames Ziel sein muss. Das Wichtigste ist - das fängt schon mit der Organisationsform der Arbeitsverwaltung an -, dass wir langzeitarbeitslose Menschen nicht nur mühsam verwalten, sondern ihnen Betreuung, Hilfe und vor allem eine Vermittlung aus einer Hand anbieten und dass nicht wieder Hubertus Heil ({0}) Pingpong zwischen den verschiedenen Bürokratien gespielt wird. Ich bin froh, dass die Chance besteht, das zu verhindern, was CDU, CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wir müssen trotz all der notwendigen Veränderungen dafür sorgen, dass die Jobcenter in Deutschland am 1. Januar 2011 nicht zerschlagen werden. Genau das war es aber, was CDU, CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen haben: ({1}) getrennte Aufgabenwahrnehmung und Zerschlagung der Jobcenter. Dass wir die Möglichkeit haben, das abzuwenden, ist eine große Chance. Dazu braucht es eine Koalition der Vernunft über die Regierungsmehrheit hinaus, weil es eine verfassungsgemäße Lösung, eine grundgesetzliche Absicherung geben muss. Wir als Sozialdemokraten in der Opposition haben deshalb die Hand gereicht und das Angebot gemacht, im Interesse langzeitarbeitsloser Menschen und auch derjenigen, die in der Arbeitsvermittlung einen harten Job erledigen, dafür zu sorgen, dass die Organisationsreform stattfinden kann, dass die Jobcenter in Zukunft besser arbeiten können und vor allen Dingen, dass sie nicht zerschlagen werden. Diese Lösung wäre schon früher möglich gewesen. Die Verunsicherung der letzten Jahre war unnötig. Das hat viele kommunale Träger und viele in der Arbeitsverwaltung der Bundesagentur für Arbeit, aber auch viele langzeitarbeitslose Menschen über Monate, wenn nicht sogar über Jahre verunsichert. Weil Herr Laumann damals am Zustandekommen eines Kompromisses beteiligt war - an den aktuellen Verhandlungen war er allerdings nicht beteiligt -, sei daran erinnert: Es gab zu Zeiten von Olaf Scholz, Ihres Amtsvorgängers, Frau von der Leyen, einen Kompromiss zwischen 16 Bundesländern, der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion, der damals in der Großen Koalition mutwillig von CDU/CSU und FDP zerschlagen wurde. ({2}) Deshalb war es nicht ganz einfach, zu sagen: Wir machen jetzt einen zweiten, dritten Versuch. Aber wir haben das aus Verantwortung getan. Es handelt sich um einen guten Kompromiss. Auch wir mussten in ein paar Punkten nachgeben. Aber das ist das Wesen parlamentarischer Kompromisse. Es wird nun dafür gesorgt, dass das Regelmodell, die Zusammenarbeit zwischen Bundesagentur für Arbeit und Kommunen bei der Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen aus einer Hand, besser umgesetzt werden kann und dass es mehr Stabilität gibt. Wir haben ein Gesamtpaket geschnürt, zu dem unter anderem gehört, dass es sich bei der Hilfe aus einer Hand nicht um eine leere Hand handeln darf. Mit der Entsperrung von 900 Millionen Euro, die Schwarz-Gelb im Haushaltsausschuss gesperrt hatte, können zumindest in diesem Jahr die Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgereicht werden. Frau von der Leyen, ich kann Ihnen nicht ersparen - weil Sie das nur in einem Nebensatz erwähnt haben -, darauf hinzuweisen, dass die Entfristung von 3 200 Stellen für Arbeitsvermittler Teil dieser Einigung ist. ({3}) Ihre Rede diente an dieser Stelle eher der Aufklärung der FDP-Fraktion. ({4}) Im Verhältnis zur Gesamtreform klingt die Zahl von 3 200 Jobvermittlern wenig. Wenn wir uns aber anschauen, was wir alles im Gesetzentwurf mit Leben erfüllen müssen, nämlich verbindliche Schlüssel für das Verhältnis von Jobvermittlern zu Langzeitarbeitslosen einzuführen - 1 : 75 bei den unter 25-Jährigen, 1 : 150 bei den über 25-Jährigen -, wenn all das, was Sie vorhaben, Frau von der Leyen, nicht heiße Luft sein soll - ich spreche Ihnen nicht ab, dass Sie es ernsthaft wollen -, wenn vor allen Dingen Alleinerziehende und Jugendliche besser betreut werden sollen und nicht in der Arbeitslosigkeit verwaltet werden sollen sowie Eingliederungsvereinbarungen getroffen werden sollen, um Menschen aus der Situation der Arbeitslosigkeit herauszuführen, dann muss man sagen: Es braucht mehr Jobvermittler, damit nicht nur Akten bewegt werden, sondern damit Menschen eine Chance bekommen. Das ist das, was die FDP nicht begriffen hat. Das sage ich hier ganz deutlich. ({5}) Ich kann diesem Parlament nicht ersparen, zu schildern, was in den letzten Wochen, nachdem wir einen Kompromiss, abgestimmt mit den Fraktionsvorsitzenden und der Ministerin, geschlossen hatten, passiert ist. Ja, nach viel Gezeter bei CDU/CSU- und FDP-Haushältern sind die 900 Millionen Euro vereinbarungsgemäß entsperrt worden; das ist auch gut so. Wir wissen, dass vor Ort auf ein solches Signal gewartet wurde. Aber nein, die Entfristung von 3 200 Stellen für Jobvermittler ist weder in der letzten noch in der vorletzten Sitzung geschehen. Nachdem es in der vorletzten Sitzung nicht passiert war, habe ich Frau von der Leyen einen Brief geschrieben und in freundlichem Ton daran erinnert, dass man sich an Vereinbarungen zu halten habe. Sie hat mich daraufhin angerufen - ich erkenne ihr Bemühen auch an - und hat mir versichert, dass das nun mit Herrn Schäuble geklärt und auch mit den Haushältern von CDU/ CSU und FDP abgestimmt sei. Daraufhin hat die Ministerin zum 5. Mai, zum gestrigen Tag, im Haushaltsausschuss die Entfristung von 3 200 Stellen wie vereinbart beantragt. Es war ein Amoklauf von FDP-Haushaltspolitikern, der die Ministerin gestern desavouiert hat. Sie haben das von der Tagesordnung gewischt. Wir wollen das Zustandekommen der Jobcenter-Reform. Aber ich warne die FDP, diesen Kompromiss, der die letzte Möglichkeit darstellt, die Zerschlagung der Jobcenter zum 1. Januar 2011 aufzuhalten, aufzuschnüren und zu gefährden. Sie verunsichern die Menschen vor Ort. Wir dürfen das nicht zulassen. Deshalb müssen Sie, bevor es die zweite und dritte Lesung in diesem Haus gibt, dafür sorgen, dass die 3 200 Stellen wie besprochen entfristet werden. Hubertus Heil ({6}) ({7}) Es waren stets die Sozialdemokraten und die Grünen in diesem Haus, die darauf hingewiesen haben, dass eine Zerschlagung der Jobcenter das Schlimmste ist, was man in dieser Phase tun kann. Die Organisationsreform allein reicht aber nicht aus, um auf dem Arbeitsmarkt besser zu werden. Hinzu kommen müssen - auch das ist eine Aufgabe in diesem Jahr - eine Veränderung im Bereich des Leistungsrechts, die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils sowie bessere Hilfen für Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene. Ferner ist es nach wie vor wichtig, die Arbeitsmarktpolitik nicht nur in warme Worte zu packen, Frau Ministerin. Vielmehr müssen gerade angesichts einer noch nicht durchgestandenen Wirtschaftskrise die entsprechenden Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik auch bereitgestellt werden. Viele bei Schwarz und Gelb machen sich große Illusionen, was die Möglichkeit betrifft, nach der nordrheinwestfälischen Landtagswahl, wenn Sie, Herr Laumann, nicht mehr im Amt sind, ({8}) die aktive Arbeitsmarktpolitik zum Steinbruch für Ihre verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik zu machen. Ich will Herrn Barthle zitieren, den haushaltspolitischen Sprecher der CDU - Frau von der Leyen, Sie haben das mitbekommen -, der angekündigt hat, dass Ihr Haus zur notwendigen Haushaltskonsolidierung im Jahr 2011 - strukturell 10 Milliarden Euro - ein Drittel bis die Hälfte beitragen soll. Wenn man sich Ihren Haushalt anschaut, stellt man fest, dass er sehr groß ist. Es ist naheliegend, sich den größten Haushalt anzuschauen. Aber wenn man genau hinschaut, fragt man: Wo soll denn da gekürzt werden? Beim Zuschuss für die Rentenversicherung doch wohl nicht. Bei der Unterstützung für Langzeitarbeitslose, was Leistungen betrifft, doch wohl auch nicht. Das können Sie nach dem Verfassungsgerichtsurteil auch gar nicht. Es bleibt der Titel für Eingliederungshilfen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wenn man ein Drittel oder die Hälfte von 10 Milliarden Euro nimmt, dann sind das 3 bzw. 5 Milliarden Euro. Ihr Haushaltstitel im Bereich der Eingliederungshilfen beträgt, glaube ich, 5 Milliarden Euro. Eine Kürzung in diesem Bereich wäre eine Katastrophe für die aktive Arbeitsmarktpolitik. Deshalb sage ich Ihnen: Wir wollen Hilfe und Betreuung von langzeitarbeitslosen Menschen aus einer Hand. Das darf aber keine leere Hand sein, sondern wir brauchen diese Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik, um gerade denen, die es schwer haben, effektiv helfen zu können. ({9}) Wir stehen zu diesem Kompromiss, und ich habe den Eindruck, die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU auch. Herr Kolb, ich habe sogar den Eindruck, dass auch die Arbeitsmarktpolitiker der FDP dazu stehen. Frau Homburger, ich freue mich, dass Sie jetzt anwesend sind, weil Sie Zeugin der Besprechung der Ministerin mit den Fraktionsvorsitzenden sind. Herr Kauder war auch dabei. Er hat daran erinnert, dass wir das Gesamtpaket umzusetzen haben, und dazu gehören eben auch die Punkte, die wir bezüglich der Jobvermittler miteinander vereinbart haben. Ich kann die FDP nur warnen: Nichtregierungsorganisationen sind im sozialen Bereich für unsere Zivilgesellschaft eine unerlässliche Größe. Viele Menschen, die sich in Nichtregierungsorganisationen, in NGOs, engagieren, leisten Wertvolles im sozialen Bereich, aber eine NGO namens FDP in der Regierung ist eine Zumutung, gerade im sozialen Bereich, in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. ({10}) An dieser Stelle sollten Sie sich regierungsfähig zeigen, sich vertragstreu verhalten und nicht zu Verunsicherung beitragen. Wir dürfen nicht zulassen, dass durch die Nervosität der FDP diese wichtige Reform, die im Interesse von langzeitarbeitslosen Menschen in Deutschland ist, erneut gefährdet wird oder dadurch sogar scheitert. Im Interesse der Stabilität vor Ort, aufgrund der Zeit, die uns bei der Umsetzung dieser Reform wegläuft, sage ich: Machen Sie Ihre Hausaufgaben, halten Sie sich an Vereinbarungen, und wir werden es schaffen, die Organisationsreform, die zumindest wir immer wollten, auch tatsächlich umzusetzen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Erich Kästner gab es mal Das doppelte Lottchen. In den letzten Wochen - Herr Heil, nach Ihrer Rede muss ich das so sagen - habe ich einen „doppelten Heil“ kennengelernt. ({0}) Herr Heil, in den Beratungen haben Sie sich sehr konstruktiv - das will ich hier ausdrücklich sagen -, sehr sachkompetent, auch sehr kompromissfähig gezeigt. Heute Morgen geben Sie hier aber den Scharfmacher. Ich verstehe überhaupt nicht - das muss ich für meine Fraktion sehr deutlich sagen -, dass Sie sich heute Morgen hier so gerieren. ({1}) Ich will das, was Sie hier gesagt haben, zurückweisen. Das war eine Schuldzuweisung an die Adresse der FDP. Im Haushaltsausschuss gab es gestern die Absetzung dieses Tagesordnungspunktes, übrigens nicht nur dieses, sondern mehrerer Tagesordnungspunkte. Dem Vernehmen nach hat das im Ausschuss keine große Rolle gespielt, Frau Hagedorn. Deswegen, Herr Heil, habe ich mit Verwunderung Ihre Wortmeldung in der Rheinischen Post gelesen: SPD droht mit Nein zu der Reform. Dazu will ich hier sehr klar sagen - Herr Heil, ich bitte Sie, mir zuzuhören, weil das für Sie offensichtlich ein ganz entscheidender Punkt ist -: Wir haben in der Verhandlungsgruppe eine Reform erarbeitet. Am Schluss haben wir sie mit drei verschiedenen Rahmenbedingungen garniert. Eine Rahmenbedingung war: Entsperrung von Haushaltsmitteln in Höhe von 900 Millionen Euro. Das ist erfolgt. Eine weitere Rahmenbedingung war: Entschließungsantrag zur Änderung des Art. 91 e Grundgesetz, durch den ohne Angabe einer Zahl im Grundgesetz klargestellt wird, wie viele Optionskommunen es geben darf, in welcher Größenordnung wir uns bewegen. Das wird kommen. Wir haben außerdem sehr klar gesagt: Wir wollen eine Verstetigung der Mittel. Darauf haben wir uns verständigt. Die Hand, von der Sie sprachen, ist nicht leer. Ich möchte, damit sich in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck festsetzt, die Zahlen nennen: In 2006 betrugen die aus dem Bundeshaushalt getätigten IstGesamtausgaben für die Betreuung Langzeitarbeitsloser, also Eingliederungsmaßnahmen und Verwaltung, 8,07 Milliarden Euro. In 2010 haben wir für diesen Bereich 11 Milliarden Euro zur Verfügung. Die Hand, von der Sie sprachen, ist nicht leer, sondern sie wurde in den letzten Jahren zunehmend gut gefüllt. Das, meine Damen und Herren, will ich sehr deutlich festhalten. ({2}) Herr Heil, ich muss Ihnen sagen: Es gab in der Verhandlungsgruppe keine explizite Verständigung auf die Entsperrung der genannten 3 200 Stellen. ({3}) - Es gab in der Verhandlungsgruppe keine Vereinbarung. Es gab nach allem, was ich weiß, auch in der Spitzenrunde keine solche Verständigung. ({4}) Deswegen mahne ich hier zur Ruhe. Ich bitte Sie, die Sache nicht zu hoch zu hängen. Erinnern Sie sich an Herbert Wehner: Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen. ({5}) Ich glaube nicht, dass Sie am Ende einem Ihrer SPDLandräte, den vielen Mitarbeitern in den Argen und vor allem den vielen betroffenen Langzeitarbeitslosen erklären können, warum Sie eine so bedeutende Reform wie die, um die es hier geht, an dieser Frage hätten scheitern lassen. ({6}) Das sollten Sie nicht tun. Sie sollten außerdem von Anfang an jeden Eindruck vermeiden, dass sich die SPD gegen diese Reform sperren könnte. ({7}) Ich will noch eine zweite Anmerkung machen. Aus Nürnberg erreicht uns heute die Nachricht, dass die Jobcenter-Reform 500 Millionen Euro mehr kosten wird. ({8}) Ich muss sagen: Eine solche Meldung finde ich ärgerlich und unverantwortlich zugleich. ({9}) Das sind meines Erachtens Rückzugsgefechte einiger Ideologen in Nürnberg, die sich nicht damit abfinden können, dass die ungeliebte Option jetzt entfristet und der Deckel deutlich angehoben wird. Hierzu muss man sagen: Zukunft ist nicht einfach verlängerte Gegenwart. Man kann das, was in der Vergangenheit gewesen ist, nicht einfach für die Zukunft hochrechnen. Durch die Optimierung der Arbeit der Jobcenter, aber auch der Optionskommunen wollen wir eine Effizienzsteigerung erreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Mittel besser genutzt werden, sodass wir im Ergebnis trotz besserer Betreuung und trotz besserer Angebote an die Langzeitarbeitslosen vielleicht - warum nicht? - mit geringeren Mitteln auskommen, ohne dass dies zulasten des Einzelnen geht. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Vor diesem Hintergrund ärgert mich diese Meldung sehr. Sie hat uns in letzter Minute erreicht und basiert auf einem Gutachten, das im Dezember 2008 in Auftrag gegeben wurde. Wer es damals in Auftrag gegeben hat und mit welcher Zielrichtung es damals vermutlich in Auftrag gegeben wurde, ist jedenfalls mir sehr klar. Ich will noch etwas sagen: Was die Performance, die Leistung und die Abwicklung, anbelangt, sehe ich die Argen, auch in ihrer bisherigen Form, und die Optionskommunen sehr wohl auf Augenhöhe. Ich glaube, dass es aufgrund der neuen Organisation, die wir schaffen wollen, und des transparenten Steuerungsmodells, mit dem sehr zeitnah nachgeregelt werden kann, dazu kommen wird, dass sich diese gleiche Augenhöhe erst recht einstellen wird und die Optionskommunen ihre Vorteile, nämlich die größere Nähe zum Arbeitsmarkt, die dort zweifelsohne gegeben ist, ausspielen können. Deswegen ärgert mich diese Nachricht, wie gesagt, sehr. Beides sollte uns aber nicht davon abhalten, den Blick auf die Ergebnisse dieser Reform zu richten. Ich hätte mir erhofft, dass in der heutigen Debatte deutlich wird, was wir mit dieser Reform erreicht haben - nach zwei Jahren Großer Koalition, in denen nichts passiert ist, ({10}) nach einem Regierungswechsel im Bund und nach einem harten Einspruch aus Hessen; ({11}) das will ich sehr deutlich sagen. ({12}) Das ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir dieses Thema heute überhaupt behandeln können. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, eigentlich ist Ihre Redezeit zu

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Umso mehr freue ich mich über eine Zwischenfrage, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

- aber Frau Hagedorn würde Ihnen gerne eine Frage stellen. Ich lasse das zu. Lassen Sie es auch zu?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sicher; klar.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, ich glaube, es wäre nicht verantwortbar, wenn Sie als Redner der FDP gleich das Mikrofon verlassen würden, ohne dem Hohen Haus eine klare Antwort auf die Frage gegeben zu haben, wie die FDP mit der Entsperrung der 3 200 Stellen umgehen will. ({0}) Sie waren diejenigen, die dieses Thema gestern im Haushaltsausschuss gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner von der Tagesordnung genommen haben. Sie können nur gemeinsam handeln; das wissen wir. Aber wir wissen auch, dass Sie die Initiatoren waren. Dem Haushaltsausschuss liegt ein Antrag der Bundesagentur für Arbeit auf Entsperrung vor, der vom Arbeits- und Sozialministerium befürwortet wird. Frau von der Leyen hat bereits in der letzten Sitzung des Haushaltsausschusses bestätigt, dass sie mit ihrem Haus die Entfristung der Stellen befürwortet. Auch vom Finanzminister haben wir die Bestätigung, dass er die Entfristung der Stellen befürwortet. Wir sparen nicht einen Cent, wenn diese Stellen nicht entfristet werden; denn die 3 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ja schon da. Im März erging ein Arbeitsgerichtsurteil, mit dem sich nach Aussage von Herrn Weise 500 befristet Beschäftigte in eine entfristete Beschäftigung einklagen mussten. Was da geschieht - knapp 10 000 Menschen haben noch befristete Arbeitsverträge -, ist nicht in Ordnung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zur Frage.

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor diesem sachlichen Hintergrund und nicht nur vor dem Hintergrund von Protokollnotizen von Verabredungen muss die FDP eine Antwort darauf geben, wie sie die Reform der Jobcenter mit Leben erfüllen will. Ein Betreuungsverhältnis von 1:75 bzw. 1:150 war verabredet. Wenn Sie diesen gut eingearbeiteten 3 200 Mitarbeitern keine berufliche Perspektive geben, riskieren Sie, dass diese Mitarbeiter die BA verlassen und durch uneingearbeitete ersetzt werden müssen. Darum sind Sie diesem Parlament bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs eine Antwort schuldig, wie Sie sich hierzu in der nächsten Sitzung des Haushaltsausschusses verhalten werden. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn, auch dafür, dass ich noch ein bisschen länger am Rednerpult verweilen darf. Ich will Ihre Frage gerne beantworten: Zunächst einmal sollten wir Stellen, die mit Sachgrund befristet waren, und Stellen, die ohne Sachgrund befristet waren, auseinanderhalten. Wir reden über ursprünglich 10 000 Stellen, die rollierend sozusagen immer wieder befristet besetzt wurden. Von diesen 10 000 Stellen sind 6 800 entfristet worden; damit bleiben nur noch 3 200 Stellen. ({0}) Jeweils nach sachlichen Beratungen im Haushaltsausschuss ist in zwei Tranchen die Entsperrung vorgenommen worden. Die 3 200 Stellen, über die wir jetzt reden, sollten eigentlich erst 2011 an die Reihe kommen. Jetzt sollen sie schon im Haushalt 2010 berücksichtigt werden. ({1}) - Die sind schon im Haushalt, aber noch gesperrt. Deswegen, Frau Hagedorn, haben Sie sich die Antwort eigentlich selbst gegeben. ({2}) Mir ging es darum, festzustellen, dass in der Verhandlungsgruppe, Herr Heil - anders als Sie es dargestellt haben -, keine Zusage gemacht worden ist. ({3}) Ich gehe davon aus, dass man sich im Haushaltsausschuss wie bei den ersten beiden Tranchen zusammensetzt, sachlich erwägt und nach der Klärung offener Fragen - offensichtlich gibt es offene Fragen; ich habe mir das von der Kollegin Winterstein erläutern lassen; das hat also einen Hintergrund - sachlich entscheidet. Der Haushaltsausschuss ist in seiner Entscheidung, wie er das handhabt, vollkommen frei, Frau Hagedorn; das wissen Sie als Mitglied dieses Gremiums selbst am besten. Was gestern dargestellt worden ist - da seien Zusagen gegeben worden, und weil die nicht eingehalten würden, scheitere die Reform -, ist in dieser Form nicht haltbar, Herr Heil; das will ich sehr deutlich sagen. ({4}) - Das rechtfertigt keine Schuldzuweisung an die FDP. ({5}) Ihr Verhalten von gestern kommt mir vor wie das eines Kleinkindes, das sagt: Wenn du mir mein Spielzeug nicht gibst, dann greife ich auf die heiße Herdplatte! ({6}) - Sie sollten die heiße Herdplatte nicht anfassen! Diese Reform ist wichtig für unser Land und sollte nicht mit vorgeschobenen, fadenscheinigen Erwägungen in Gefahr gebracht werden. ({7}) Diese Reform ist wichtig, weil sie gut ist für die Menschen in diesem Land, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, aber auch weil sie dazu beiträgt, dass die Verwaltung der Langzeitarbeitslosigkeit effizienter wird, damit diejenigen, die keinen Arbeitsplatz haben, bessere Chancen bekommen, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Das ist uns wichtig, das ist die Leitlinie unserer Politik. Deswegen, Herr Heil, werden wir so handeln, wie ich es dargestellt habe. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Kipping von der Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Wenn man die Debatte verfolgt, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass in den Fragen, die wir heute behandeln, zwischen SPD und Schwarz-Gelb extreme politische Unterschiede bestehen. Aber ich finde, an dieser Stelle muss man daran erinnern, dass die Beratungsgrundlage ein Gesetzentwurf ist, den SPD, CDU/CSU und FDP gemeinsam eingebracht haben, und dass es diese Parteien waren, die gemeinsam den Geist von Hartz IV mitgetragen und sich davon noch nicht wirklich verabschiedet haben. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine Ausweitung der Optionskommunen vor, also jener Gemeinden, die die Betreuung der Langzeitarbeitslosen in Eigenregie übernommen haben. Diese Ausweitung ist zu kritisieren und wird von den Linken so nicht mitgetragen. Mir ist bewusst, dass in mancher Kommune die Auffassung herrscht, die Sache lieber vor Ort selber in die Hand zu nehmen, um nicht der Spitze der Bundesagentur in Nürnberg ausgeliefert zu sein. Angesichts der real existierenden Verhältnisse in der Bundesagentur ist eine solche Einstellung sogar nachvollziehbar. Diese Kritik bezieht sich ausdrücklich nicht auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ({1}) Die Linke kritisiert vielmehr, dass im Zuge der HartzGesetze die Bundesagentur allein auf einen betriebswirtschaftlichen Auftrag verpflichtet worden ist und dass dabei der sozialpolitische Auftrag und die innerbetriebliche Demokratie auf der Strecke geblieben sind. Deswegen sagen wir ganz deutlich - egal, wie wir heute entscheiden -: Die Bundesagentur kann nicht so weiteragieren wie bisher. ({2}) So verständlich der Ärger in mancher Kommune über die Bundesagentur ist, so wenig ist die Ausweitung der Optionskommunen die Lösung dieses Problems. Wir alle sollten uns vielmehr fragen: Droht nicht bei einer weiteren Kommunalisierung eine noch stärkere Kannibalisierung, das heißt ein Überbietungswettbewerb zwischen den Kommunen? Droht nicht am Ende sogar eine finanzielle Mehrbelastung für die Kommunen, weil sie innerhalb der Argen nur einen kleinen Teil der Verwaltungskosten tragen mussten? Ist es wirklich sachgerecht, dass wir im Fall der Optionskommunen zwar als Bund zahlen, aber weder die Fach- noch die Rechtsaufsicht haben, also im Klartext nichts zu sagen haben? Ich meine, Erwerbslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht auf die Kommunen abgewälzt werden darf. Sie können doch nicht ernsthaft wollen, dass in der Arbeitsmarktpolitik das Prinzip Flickenteppich herrscht. ({3}) Sie sprechen sich aber offensichtlich für die Etablierung des Modells Flickenteppich aus. Gegen dieses Modell gibt es Kritik aus ganz unterschiedlichen Richtungen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kipping, darf ich Sie kurz unterbrechen? Der Kollege Grund würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich freue mich immer über eine Verlängerung meiner Redezeit. Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Grund, bitte schön.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielleicht ist es nicht nur eine Verlängerung Ihrer Redezeit, sondern auch eine Klarstellung, Frau Kollegin. Sie sprechen sich für Ihre Fraktion und damit für die Linke gegen eine Ausweitung der Kommunalisierung aus, wie sie im Gesetzentwurf angelegt ist. Können Sie bestätigen, dass es Kreistage gibt, in denen sich die Fraktion Die Linke ausdrücklich dafür ausgesprochen hat, dass ihr Landkreis, der bisher einer Arbeitsgemeinschaft angehört hat, aus sehr nachvollziehbaren Gründen zur Optionskommune wird? Können Sie bestätigen, dass die Linke, die Sie hier vertreten, bei weitem nicht die Linke ist, die sich für die Kommunalisierung ausgesprochen hat?

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. Das gibt mir die Gelegenheit, näher auf den Punkt einzugehen, den ich gerade angesprochen hatte. Die Kommunalpolitiker vor Ort sind in der misslichen Situation, die Suppe auslöffeln zu müssen, die ihnen zum Beispiel im Zuge der Hartz-Gesetze eingebrockt worden ist ({0}) und die dazu geführt hat, dass wir mit einer Bundesagentur konfrontiert sind, die nur noch nach irgendwelchen betriebswirtschaftlichen Zahlen funktioniert und eine Arbeitsmarktpolitik macht, von der so manche Kommunalpolitiker glauben, dass sie das besser machen könnten. Dass man das vor Ort so sieht, finde ich zutiefst verständlich. ({1}) Aber wir als Bundespolitiker haben die Verantwortung, das, was wir wollen, auch konzeptionell umzusetzen. Wir als Bund hätten im Gegensatz zu den Kommunalpolitikern die Möglichkeit, der Bundesagentur endlich wieder einen sozialpolitischen Auftrag zu geben. Wir als Bund hätten die Möglichkeit, ein repressives Arbeitslosengeld II durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung zu ersetzen. Wenn wir das so durchgesetzt hätten, dann könnten die Kommunalpolitiker vor Ort möglicherweise anders entscheiden. ({2}) Es gibt aus ganz verschiedenen Richtungen Kritik an den Optionskommunen. Im Beschluss des DGB-Vorstandes beispielsweise heißt es: Der einheitliche Arbeitsmarkt darf nicht aus dem Blick geraten … Eine Ausweitung des Optionsmodells ist problematisch und würde die Strukturprobleme weiter verschärfen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosenund Sozialhilfeinitiativen lehnt ebenfalls die Kommunalisierung ab mit der Begründung, eine Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik verstärke die Rechtsunsicherheit der Betroffenen, was wiederum die Rechtsposition von Erwerbslosen verschlechtere. Auch der Bundesrechnungshof kritisiert: Mit der … Erweiterung des kommunalen Optionsmodells wird ein mögliches einheitliches System der Grundsicherung dauerhaft aufgegeben. Dies führt zu heterogenen Strukturen im Bereich der Grundsicherung und birgt das Risiko der Entstehung zweier Klassen erwerbsfähiger Hilfebedürftiger. Fassen wir zusammen: Erwerbslose, Gewerkschaften und der Bundesrechnungshof kritisieren die Optionskommunen. Deswegen mein Appell an Sie: Überlegen Sie sich noch einmal, ob wir nicht die Erweiterung der Optionskommunen aus dem Gesetzentwurf herausstreichen können. ({3}) Wir als Bund tragen nicht nur die Verantwortung für Strukturen, sondern wir tragen auch die Verantwortung für die Beratungsqualität und die Arbeitssituation des Personals. Beides muss deutlich verbessert werden; denn wenn zu wenig Personal auf zu viele Erwerbslose trifft, dann bedeutet das nicht nur für die Mitarbeiter eine Überarbeitung, sondern das bedeutet auch für die Erwerbslosen, dass die Beratungsqualität notwendigerweise schlechter wird. So führt der Personalmangel in so manchem Jobcenter zum Beispiel dazu, dass inzwischen viele auf die Bearbeitung ihres Widerspruchs zwölf Monate warten müssen. Nur zur Erinnerung: Im Gesetz steht, dass jeder einen Anspruch darauf hat, dass der Widerspruch nach drei Monaten bearbeitet ist. Aber die Mitarbeiter kommen gar nicht mehr hinterher. Jetzt verweist die SPD ganz gerne darauf, dass man sich im Gesetzentwurf zu Betreuungsschlüsseln äußert. Betreuungsschlüssel meint die Anzahl der Arbeitsuchenden, die von einem Fallmanager zu betreuen sind. Doch was im Gesetz steht, sind nur unverbindliche Orientierungszahlen. Das kritisiert auch der Hauptpersonalrat der Bundesagentur für Arbeit zu Recht. Ich finde, das muss sich ändern. Wir als Linke schlagen zur Verbesserung der Beratungsqualität vor: Wir brauchen eine bessere Personalausstattung, und wir brauchen vor allen Dingen verbindliche Betreuungsschlüssel. ({4}) Wir brauchen eine regelmäßige Weiterbildung der Beschäftigten. Die unabhängigen Beratungen müssen deutlich unterstützt werden. Unabhängige Beratung meint, dass Erwerbslose Erwerbslose beraten; denn eine gute Beratung bedeutet sowohl eine bestmögliche Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche als auch eine weitgehende Aufklärung über die Rechte. Es geht nicht darum, immer nur danach zu suchen, wo man Sanktionen ver3816 hängen kann. Insofern ist grundsätzlich zu sagen: Wenn wir wollen, dass es eine wirklich gute Beratung gibt - viele haben heute hier gesagt, dass es auch um die Inhalte geht -, dann muss sich einiges grundsätzlich ändern. Statt der 1-Euro-Jobs und des Arbeitszwangs brauchen wir öffentliche Beschäftigung in sinnvollen Tätigkeiten. ({5}) Statt des repressiven Arbeitslosengeldes II brauchen wir eine sanktionsfreie Mindestsicherung. ({6}) Jetzt habe ich eine gute Nachricht für Sie. Sie brauchen gar nicht Ihre kleinen Unterschiede untereinander zu betonen. Sie haben heute und hier die Möglichkeit, für einen grundlegend anderen Ansatz zu stimmen. Die Linke wird heute Abend einen Antrag zur Abstimmung stellen, in dem wir deutlich machen, was unsere Alternativen zu Hartz IV sind. Diesem Antrag können Sie zustimmen, und dann hätten wir eine deutlich bessere Situation bei den Jobcentern oder wie immer diese dann heißen werden. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kolb, ich kann Ihren Redebeitrag und insbesondere die Beantwortung der Frage von Frau Hagedorn wirklich nicht anders verstehen, als dass Sie bereit sind, diesen Kompromiss wieder aufzuschnüren. ({0}) Ganz offensichtlich sind Sie nicht vertragstreu. ({1}) Es ist für mich eine etwas schwierige Situation, jetzt Herrn Heil verteidigen zu müssen und mich schützend vor ihn zu stellen. ({2}) Aber mit meinem breiten Kreuz wird das schon gehen. Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und Herrn Heil vorwerfen, er würde den Kompromiss infrage stellen, dann verkehren Sie wirklich Ursache und Wirkung. ({3}) Ich will es deutlich sagen: Die Frage, ob Jobcenter und die Optionskommunen vernünftig mit Personal ausgestattet sind, ist keine Petitesse. Zu Recht hat die Ministerin darauf hingewiesen, dass die Qualität der Beratung der Arbeitslosen natürlich von der Organisationsstruktur abhängt, also davon, was überhaupt möglich ist; aber im Kern hängt sie doch davon ab, ob qualifiziertes Personal da ist, um die Arbeitslosen tatsächlich zu fördern und zu fordern. ({4}) Deswegen sagen auch wir: Die Entfristung muss her. Wir haben von Anfang an für eine Grundgesetzänderung gekämpft. Wir haben von Anfang an eine Hilfe aus einer Hand gefordert. Uns war immer vollkommen klar, dass eine vernünftige Personalausstattung her muss. Sonst ist das eine leere Hülle, die wir nicht akzeptieren können. ({5}) Frau Ministerin, ich habe mich sehr gefreut, mit wie viel Engagement Sie heute hier diesen Kompromiss verteidigt und für ihn gekämpft haben. Aber nehmen Sie es mir nicht übel: Ich finde ganz ehrlich, Sie haben sich relativ spät dazu entschieden, auch eine Mutter des Erfolgs der Grundgesetzänderung zu werden. ({6}) Ein bisschen befremdlich ist das für mich schon, wenn Sie sich jetzt als heilige Ursula der modernen Arbeitsverwaltung präsentieren, wo Sie doch bei Ihrem Amtsantritt - so viel zu der historischen Wirklichkeit diese Idee zum völligen Scheitern erklärt haben. ({7}) Im Januar haben Sie im Bundestag noch gesagt, jetzt sei Pragmatismus angesagt, und haben sich hinter Ihren Rechtspolitikern versteckt. Auf Sie konnten wir uns damals in dieser Frage nicht verlassen. Sie hätten keinen Finger für dieses Projekt gerührt, wenn es nicht die Palastrevolte von Roland Koch gegeben und er Sie dazu gezwungen hätte. ({8}) Ich muss sagen: Für mich wäre das auch ein bisschen ehrenrührig, von jemandem wie Herrn Koch, der die Arbeitslosen beschimpft und sie in Zwangsarbeit drängen will, ({9}) den Sie selber zurückgepfiffen haben, jetzt auf Kurs gebracht werden zu müssen. Das war sicherlich keine schöne Situation für Sie. ({10}) Hoffen wir, dass das zukünftig anders wird. ({11}) Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/ CSU- und FDP-Fraktion, stehen heute hier und tun so, als seien Sie die Väter dieses Kompromisses gewesen. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag genau das Gegenteil vereinbart. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag als Ziel die Zerschlagung der Jobcenter vereinbart, und jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, Sie seien die Helden und hätten die Lösung vorangebracht. Die Betroffenen sind die Gewinner, die schwarzgelbe Bundesregierung ist zum Glück die Verliererin. ({12}) Dass jetzt insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, an deren Widerstand die Pläne vor zwei Jahren schon einmal gescheitert sind, korrigiert worden ist, ist wirklich eine Genugtuung für viele, die dafür gekämpft haben, aber insbesondere für die Arbeitslosen. ({13}) Wir haben schon im April 2008 die Grundgesetzänderung gefordert. Ich kann mich noch gut daran erinnern: Da haben Sie uns für verrückt erklärt. Sie haben gesagt: Da sind sie wieder, die grünen Spinner. Ich kann nur sagen: Willkommen im Klub! Ich freue mich jedenfalls, dass wir heute über die Umsetzung genau unseres Vorschlags reden. Aber ich will auch kein Geheimnis daraus machen, dass wir uns mehr gewünscht hätten. Wir hätten uns gewünscht, dass die Kommunen tatsächlich Wahlfreiheit haben. Was spricht dagegen, wenn vor Ort darüber entschieden wird, ({14}) welche Organisation mit welcher Organisationsstruktur die Langzeitarbeitslosen fördert? Jetzt haben wir eine Begrenzung auf 110 Optionskommunen. Es gibt in der Sache nicht eine einzige Begründung dafür. Diese Zahl ist ausschließlich parteipolitischer Gesichtswahrung geschuldet. Die Beschränkung auf diese Zahl - das sieht man jetzt schon - wird weitere Konflikte hervorrufen. ({15}) Der Landkreistag hat bereits jetzt 100 Kommunen ausgemacht, die gern optieren wollen. Egal, wie objektiv Sie das Auswahlverfahren zu gestalten versuchen, die Konflikte sind vorprogrammiert. Es wird wieder Kommunen geben, die eine Zwangsehe mit der Bundesagentur für Arbeit eingehen müssen. Das sind keine guten Voraussetzungen dafür, Langzeitarbeitslose gut zu betreuen, meine Damen und Herren. ({16}) Ich finde übrigens auch, dass das Zweidrittelquorum für die Kreistage und für die Stadträte ein Fehler ist. Sie greifen damit tief in die kommunale Selbstverwaltung ein. Ich sage Ihnen, dieses Quorum wird am Ende auch ein Verhinderungsinstrument sein. ({17}) Ich weiß natürlich, lieber Herr Heil, dass dies alles auf dem Mist der SPD gewachsen ist. ({18}) Daran zeigt sich, dass Ihre Wandlung vom Saulus zum Paulus nicht ganz so geschmeidig verlaufen ist, wie Sie jetzt tun. Im Herzen sind Sie einfach Zentralisten. ({19}) Da beißt die Maus keinen Faden ab. In Wirklichkeit trauen Sie den Kommunen nicht über den Weg. ({20}) Ich will jetzt nicht im Detail auf die Entwürfe eingehen. Das werden wir bei der Anhörung und in den Ausschussberatungen machen. Aber ich will hier sehr deutlich sagen: Ich freue mich, dass in dem Gesetzentwurf der Gedanke angelegt ist, dass es in der Arbeitsmarktpolitik zukünftig dezentraler zugehen wird. Aber das ist nur der erste Schritt. Ich verspreche Ihnen, wir werden ein Augenmerk darauf richten, ob sich das tatsächlich erfüllt. Vorhin ist gesagt worden: Die Organisationsstruktur muss gefüllt werden, man darf nicht mit leeren Händen dastehen. Frau Ministerin, aber wenn ich mir Ihre Vermittlungsoffensive, zu der ich noch einen Satz sagen will, anschaue, dann kann ich nur sagen: In Wirklichkeit ist das kalter Kaffee und Propaganda. Sie versuchen, die geltende Gesetzeslage als Neuheit zu verkaufen. Damit sind Sie an der Stelle - ich finde, wirklich zu Recht - auf die Nase gefallen. Eine echte Verbesserung für die Arbeitsuchenden ist dabei nicht herausgekommen. Herr Heil hat schon darauf hingewiesen: Es droht noch Schlimmeres. Die Haushälter der CDU/CSU-Fraktion haben angekündigt, den Etat des Arbeitsministers als Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung zu nutzen. Ich kann Ihnen sagen: Wenn in den nächsten Jahren 3 bis 5 Millionen Euro in diesem Bereich eingespart werden, ({21}) dann nutzt die Organisationsstruktur den Arbeitslosen letztlich nicht viel. Ich komme zum Schluss. Die Süddeutsche Zeitung hat getitelt: „Dämpfer für Frau von der Leyen“, als klar wurde, dass sich doch eine Einigung auf die Grundgesetzänderung abzeichnet. Darunter heißt es, dass dies für die Arbeitsministerin vor allen Dingen eines bedeuten würde: Sie ist angeschlagen. - Wir Grüne hoffen im Interesse der Arbeitslosen, dass Sie sich von diesem Angeschlagensein schnell wieder erholen. Aber dafür brauchen Sie mehr Courage als Camouflage. Ich danke Ihnen. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, KarlJosef Laumann. ({0}) Karl-Josef Laumann, Minister ({1}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass im Bundestag die Rechtfertigung für die gesamte SGB-II-Gesetzgebung vor allen Dingen war, dass wir wollten, dass die Menschen, die in der Sozialhilfe sind, und dass die Menschen, die in der Arbeitslosenhilfe sind, Betreuung und Begleitung aus einer Hand erfahren. ({2}) Ich bin deswegen sehr froh, dass es nach dem vielen Hin und Her seit dem 20. Dezember 2007, als das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil die jetzige Form der Argen mit dem Grundgesetz als nicht vereinbar erklärt hat, jetzt so aussieht, als ob wir jetzt die rechtlichen Grundlagen in unserer Verfassung dafür schaffen könnten, in der Bundesrepublik Deutschland bei der Hilfestellung aus einer Hand zu bleiben. Ich bin im Übrigen der Meinung und habe das oft gesagt, dass die Legitimation des SGB II wegfällt, wenn wir diese Hilfe nicht mehr aus einer Hand geben können. ({3}) Zweiter Punkt. Wir haben allen Grund, auch einmal kritisch über die Organisation des SGB II zu reden. Wir haben nämlich zurzeit die Situation, dass in vielen Regionen unseres Landes jeder zweite Bescheid einer Arge oder einer Optionskommune einer Überprüfung durch das Sozialgericht oder das Verwaltungsgericht - das ist in den Ländern unterschiedlich geregelt - am Ende nicht standhält. Eine Behörde, die fast jeden zweiten Prozess verliert, hat ein erhebliches Problem, auch wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl in den Optionskommunen als auch in den Argen sicherlich sehr engagiert sind. Aber wenn man rechtssichere Bescheide will, dann hat das auch etwas mit dem Rechtsstaat zu tun, und wenn der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Schwächsten in unserer Gesellschaft so schwach dasteht, dass sich in diesem Klientel herumspricht: „Wenn du gegen die Behörde klagst, gewinnst du mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit“, dann ist das eine Katastrophe. ({4}) Deswegen gehört dazu, dass man ein Gesetz braucht, das klar strukturiert ist und administrierbar ist. Ich sehe, dass der Vorschlag, der hier heute gemacht wird, ein Weg in diese Richtung ist. Zweitens brauchen Sie eine fachlich versierte Verwaltung. Jetzt schauen Sie sich einmal an, wie die Verwaltung zusammengesetzt worden ist: Bei der Gründung des SGB II gab es erst einmal einen kommunalen Teil, der sich früher in der Sozialhilfe auskannte. Dann ist mit der Bundesagentur und den Arbeitsämtern der Teil des Bundes hinzugefügt worden. Außerdem ist relativ viel Personal von vielen Personalserviceagenturen rund um den öffentlichen Dienst in Deutschland aufgenommen worden. Wir haben Argen, bei denen es zwischenzeitlich mehrere Personalräte gab. Dieser Gesetzentwurf hat im Übrigen die einheitliche Personalführung in Argen nicht geregelt. Der damalige Vorschlag von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, der hier keine Mehrheit gefunden hat, hatte das geregelt. Jetzt werden auf jeden Fall zwei Personalkörper beibehalten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man ein versierteres Personal will, muss man zu mehr Stammpersonal kommen. ({5}) In den Argen und Arbeitsgemeinschaften mit getrennter Aufgabenwahrnehmung ist die Situation zurzeit so, dass 26 Prozent des Teils, der vom Bund gestellt wird, befristete Arbeitsverhältnisse haben. Wenn ein Privatunternehmen 26 Prozent befristete Arbeitsverhältnisse hätte, stünde es wahrscheinlich im Fokus der Kritik, zumindest des einen oder anderen Politikers in der Bundesrepublik Deutschland. ({6}) Selbst wenn jetzt die Entfristung durchgeführt wird, haben wir immer noch zwischen 16 und 18 Prozent befristete Arbeitsverhältnisse. Wenn man wirklich will, dass das Personal rechtssicher arbeiten kann, dann brauchen wir eine stärkere Entfristung, gemeinsame Schulungen und sehr viel anderes, um das hinzubekommen. ({7}) Jetzt kommt ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass in diesem Gesetzentwurf steht, dass man einen Betreuungsschlüssel bei den Jugendlichen von 1 : 75 und bei den Erwachsenen von 1 : 150 anstrebt. Ich persönlich bin nämlich nach vielen Jahren Arbeit in diesen Bereichen eindeutig zu dem Ergebnis gekommen, dass wir den Menschen, die unter das SGB II fallen, nur dann helfen können, wenn wir nicht nur eine Akte kennen, sondern wenn derjenige, der für die Zuteilung der Maßnahmen verantwortlich ist, auch den betreffenden Menschen kennt. Wenn ein Fallmanager 75 Jugendliche begleiten soll, dann erwarte ich schlicht und ergreifend, dass er nicht nur deren Namen kennt, sondern auch deren Vornamen. Bei 75 Leuten ist das machbar; jeder Lehrer muss sich mehr als 75 Namen merken. Das Zweite ist: Bei 150 will ich das auch. Denn wir haben in der Arbeitsmarktpolitik in Wahrheit doch folgendes Problem: Wir können heute nicht jedem Langzeitarbeitslosen eine Stelle anbieten. Wir haben in NordrheinWestfalen zurzeit 500 000 arbeitslose Menschen, die unMinister Karl-Josef Laumann ({8}) ter das SGB II fallen, die nach der Statistik arbeitsfähig sind. Es gibt in Nordrhein-Westfalen aber keine 500 000 Stellen, zu denen man sie schicken könnte. ({9}) Das ist ein Stück Wahrheit. Aber ich erlebe auf der anderen Seite als Sozialminister in einem so großen Land, dass manchmal Kinder aus SGB-II-Familien morgens in die Schule kommen und kein Butterbrot dabeihaben. Was nützt mir da eine Arge, die eine Akte verwaltet? Ich möchte gerne eine Arge haben, die die Leute nicht nur zu sich einbestellt, sondern auch wieder ein bisschen Geh-hin-Struktur schafft und bei einem Betreuungsschlüssel von 1 : 75 bzw. 1 : 150 zum Beispiel auch weiß, wo die Menschen wohnen, wie ihre Lebensverhältnisse sind und welche Probleme sie neben der Arbeitslosigkeit noch haben. ({10}) Weil sie nun einmal unterschiedlich sind, meine ich, dass man die arbeitslosen Menschen individuell betreuen muss, damit man ihnen überhaupt eine faire Chance zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, auch in der Zeit, in der wir ihnen eben noch keine Erwerbsarbeit anbieten können. Aber Arbeitsmarktpolitik ist spätestens dann gescheitert, wenn sie im nächsten Aufschwung nicht in der Lage ist, mit den Langzeitarbeitslosen das Arbeitskräftepotenzial zur Verfügung zu stellen, das ein solcher Aufschwung benötigt. ({11}) Da kann ich nur sagen: An dieser Stelle muss man jetzt vorbeugen; aber dies muss gleichzeitig in der Form geschehen, dass die Familienstrukturen stabilisiert werden, sodass die Kinder eine faire Chance haben, durch die Schule zu gehen, weil sie ein Elternhaus haben, das sie dabei begleitet. Auch in diesem Bereich bedürfen manche Leute der Begleitung und der Betreuung. Das müssen wir meines Erachtens über diesen Schlüssel ebenfalls in stärkerem Maße sicherstellen. ({12}) Wenn dies aber die dort Tätigen machen sollen, dann brauchen wir nicht nur klasse Verwaltungspersonal, sondern auch Personal, das in der Menschenführung, der Begleitung von Menschen und vielen anderen Fragen klasse ist. Das heißt, wir brauchen da Menschen, die eine hohe menschliche Kompetenz haben, wenn sich die ganze Sache am Ende rechnen und lohnen soll. Diese Menschen wachsen nun einmal nicht auf Bäumen; vielmehr muss man mit den in den Strukturen vorhandenen Menschen über einen bestimmten Prozess organisieren, dass sie diese Kompetenzen besitzen. Deswegen brauchen wir da dringend eine Verstetigung. Einen weiteren Gedanken will ich heute Morgen gern ansprechen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist nicht gleich. Selbst in einem Bundesland ist er nicht gleich. Die Struktur der Arbeitslosigkeit in einer Stadt wie Gelsenkirchen ist mit der Struktur der Arbeitslosigkeit etwa in meiner münsterländischen Heimat überhaupt nicht vergleichbar. Deswegen müssen wir im Münsterland eine andere Arbeitsmarktpolitik als in Gelsenkirchen betreiben. Das ist selbst innerhalb eines Bundeslandes so. In Köln gibt es sogar innerhalb der Stadt Unterschiede hinsichtlich der Arbeitslosigkeit. Die Struktur der Arbeitslosen unterscheidet sich selbst in den Stadtteilen von Köln, selbst innerhalb einer Stadt erheblich. All das spricht dafür, dass in der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit auf der einen Seite zentralistische Instrumente - egal, von wem verantwortet - am Ende teuer sind und immer scheitern werden. ({13}) Auf der anderen Seite - ich war ja nun auch 15 Jahre Mitglied des Bundestages - haben wir nun einmal in Bezug auf das SGB II entschieden, dass der Bund die gesamte finanzielle Verantwortung für den Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland hat. Dass ein Parlament da sagt, es kann nicht sein, dass die Kommunen das dann bestimmen und wir zahlen, das verstehe ich auf der anderen Seite auch. Deswegen muss man versuchen, die Aspekte der dezentralen Entscheidungen und einer Steuerung des Gesamthaushaltes irgendwie zusammenzubekommen. Damit haben wir uns in den vergangenen Jahren, weil das auch nicht einfach zu lösen war, in der Tat sehr schwergetan. Ich habe den Eindruck, dass mit diesem Gesetzentwurf - auch damit, wie man die Fragen der Aufsicht hinsichtlich der Trägerversammlung geregelt hat - auf jeden Fall etwas aus meiner Sicht sehr Vernünftiges auf den Tisch gelegt wurde, um diesen gordischen Knoten der politischen Finanzverantwortung des Bundes auf der einen Seite, aber einer Tausendfüßlerei in den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten auf der anderen Seite zu zerschlagen und beide Seiten verwaltungstechnisch wieder ein Stück weit zusammenzufügen, worüber ich mich freue. Ich freue mich darüber, dass dies damit eine Grundlage hat, mit der wir das vernünftig hinbekommen können; denn die Kommunen sitzen in diesen Trägerversammlungen, so wie ich sie verstehe, nicht am Katzentisch, sondern sollen sich mit ihrer gesamten Kompetenz und ihrer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse einbringen. Die Bundesagentur ist nicht der Pascha, der alles zu sagen hat. Daran werden sich noch einige Herren in Nürnberg gewöhnen müssen. Ich kenne sie lange; denen war ja manchmal egal, wer unter ihnen Arbeitsminister ist. Auch das ist nicht in Ordnung. Von daher halte ich es für völlig in Ordnung, dass die Bundesagentur sich hier auch einmal eingliedern muss. ({14}) - Die Agentur für Arbeit ist noch nie mein großer Freund gewesen. Ich war immer der Meinung, dass man Minister Karl-Josef Laumann ({15}) das nichtzentralistisch lösen kann und über Verordnungen Arbeitsmarktpolitik in den Ämtern nicht steuern kann. ({16}) Wenn wir sagen, wir haben hier den Fallmanager, dann muss man dem Fallmanager trauen. Er muss Kompetenzen haben ({17}) und darf nicht durch immer mehr Verordnungen eingeengt werden. Wir hatten Jahre, in denen jeden Tag Hunderte von Verordnungen von dieser Bundesagentur ausgingen. Deswegen, finde ich, bietet das, was Sie hier im Deutschen Bundestag zusammengebracht haben, jetzt eine große Chance. Der Bundesrat beurteilt das genauso. Dadurch haben wir die verfassungsrechtlichen Mehrheiten, um dieses durchzusetzen. Darüber freue ich mich. ({18}) Ich würde mir sehr wünschen, dass wir in der nächsten Zeit gemeinsam dafür sorgen, dass wir den Fallmanagern ausreichend Kompetenz geben. ({19}) Fragen wie zum Beispiel die, ob für Kinder Sachleistungen oder Geldleistungen benötigt werden, kann man entscheiden, wenn man die Familie kennt. Ich finde, es ist eine Entmündigung, jemandem, der sich für seine Kinder, auf Deutsch gesagt, aufreibt, vom Staat alles in Sachleistungen vorzuschreiben. Dafür bin ich nicht vor etwa 35 Jahren CDU-Mitglied geworden. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Laumann. Karl-Josef Laumann, Minister ({0}): Sofort, ich komme zum Schluss. - Auf der anderen Seite müssen wir darauf achten, dass die Leistungen bei den Kindern ankommen. Aber das kann man nur entscheiden, wenn der Fallmanager weiß, wie es in diesen Familien aussieht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich wollte Sie nicht zum Schluss auffordern, Herr Laumann. Karl-Josef Laumann, Minister ({0}): Sie können ganz sicher sein, dass Nordrhein-Westfalen diesen Weg mit Kompetenz begleiten wird. Schönen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eigentlich wollte noch jemand eine Zwischenfrage stellen; das geht nun nicht mehr. Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der SPD-Fraktion. Bitte schön. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von der Leyen, Sie haben in der letzten Sitzungswoche Folgendes gesagt: Es sei nicht eine Zeit des Zauderns und Zurückblickens, sondern es sei eine Zeit des Vorwärtsschauens. Das hört sich natürlich tatkräftig und bestimmt an; aber das Ganze beinhaltet zwei logische Fehler. Zum einen kann man gleichzeitig vorwärtsschauen und zaudern. Schwarz-Gelb hat dieses Kunststück über mindestens ein halbes Jahr in Perfektion betrieben. Wir hatten den Eindruck, dass die Regierung nach vorne schauen muss, weil sie diese Reform der Jobcenter umsetzen muss, und gleichzeitig zauderte sie, ist in eine Schockstarre verfallen und hat nichts getan. Zum anderen - das ist der zweite logische Fehler hängen Zaudern und Zurückblicken nicht zwangsläufig miteinander zusammen. Im Gegenteil: Man kann durchaus zurückblicken und dabei manches Erhellende und Erleuchtende erkennen. Denn Rückblick ermöglicht auch oft Überblick. Was sehen wir bei diesem Rückblick? Wir sehen einen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der sich verantwortungsvoll und in Abstimmung mit der Kanzlerin ans Werk gemacht hat. ({0}) Im Frühjahr 2009 hat es einen abgestimmten Kompromiss zwischen den Ministerpräsidenten dieses Landes und dem BMAS gegeben. Es war nicht nur ein Eckpunktepapier, sondern ein vollständiger Gesetzesentwurf. ({1}) Dann kam das enttäuschende Verhalten der Unionsfraktion. Tatsächlich ist gesagt worden, man mache dort nicht mit. Ein vermeintlich gewichtiges Argument wurde vorgetragen: Man könne doch nicht einfach das Grundgesetz ändern, wenn das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, die Jobcenter seien verfassungswidrig. Aber, meine Damen und Herren, wir haben das Grundgesetz schon aus weitaus nichtigerem Anlass in diesem Hause geändert. ({2}) Genau deswegen ist die erwähnte Rückschau erhellend. Denn wir sehen Folgendes: eine SPD, die sich um eine konstruktive Lösung bemüht, um die Arbeitsvermittlung in Deutschland auch künftig zuverlässig weiterführen zu können, und eine Unionsfraktion, die mitten in der Wirtschaftskrise nichts Besseres zu tun hat, als jeden Vorschlag rüde wegzugrätschen. Frau von der Leyen, Sie hatten anlässlich des endlich gefundenen Kompromisses - das haben Sie heute noch einmal getan - die Allianz der Vernünftigen gelobt. Doch Ihre Fraktion war über zwei Jahre hinweg leider nie Mitglied dieser Allianz. Ich sage Ihnen und Herrn Laumann: Bringen Sie die FDP auf die Reihe. Die FDP ist ein schwerer Belastungsfaktor für die Arbeitsmarktpolitik in diesem Lande. ({3}) Dass wir wahrscheinlich endlich eine Lösung haben, ist maßgeblich der SPD zu verdanken. ({4}) SPD rettet zaudernde Regierung - diese Schlagzeile hätte sie nach dem dreizehnstündigen Verhandlungsmarathon Ende März eigentlich verdient. Nun bleibt zu hoffen, dass Ihre Fraktion nicht in letzter Sekunde wieder einen Rückzieher macht. Wir nehmen das mit der Entfristung der 3 200 Stellen sehr ernst. Dennoch ist bislang insgesamt ein gutes Ergebnis erzielt worden. Die Arbeitsverwaltung ist nicht lahmgelegt. Frau von der Leyen, das hätten Sie mit Ihrem ursprünglichen Vorschlag bewirkt. Wir hätten ein bis eineinhalb Jahre der Stagnation in diesem Land gehabt. Wir haben sichergestellt, dass es die Betreuung aus einer Hand gibt, sodass Arbeitsuchende nicht von Pontius zu Pilatus laufen müssen. Die Optionskommunen können weitermachen, der Bund gibt aber nicht die Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik an Dritte ab, sondern nimmt diese weiterhin wahr. Zum Betreuungsschlüssel, Herr Kolb: Offensichtlich verstehen Sie Arbeitsmarktpolitik nicht. Wir machen keine Reformen l’art pour l’art. Eine Reform der Jobcenter ist kein Selbstzweck. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine vernünftige Betreuung für Menschen, für Arbeitsuchende ganz essenziell ist. Häufig, praktisch immer befinden sie sich in einer existenziellen Situation. Da einen Ansprechpartner zu haben, der Tipps gibt, der sich genügend Zeit nimmt, um zu recherchieren, wo die individuellen Stärken und die individuellen Schwächen liegen, ({5}) einen Ansprechpartner zu haben, der sich dafür Zeit nimmt, die Person sauber in ein Arbeitsmarktprogramm einzugruppieren und zu sagen, das ist das Beste für dich, ist sehr wichtig. Der momentane Betreuungsschlüssel ist bei weitem noch nicht ausreichend. ({6}) Olaf Scholz ist derjenige, der damit begonnen hat. Aber Olaf Scholz hat auch gesagt, dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben dürfen. Mittlerweile gibt es Untersuchungen zu diesem Thema. Es gibt Argen, die mit einem Betreuungsschlüssel von 1:70 gearbeitet haben. Das Ergebnis ist exzellent, weil man sich damit ausrechnen kann, wie viel Zeit für Arbeitsuchende in diesem Land bleibt. Wichtig ist auch, dass die SPD etwas ausgehandelt hat, was ein pures Chaos in der Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr vermieden hat, ({7}) nämlich die Entsperrung von 900 Millionen Euro an Arbeitsmarktmitteln. 300 000 bis 400 000 Arbeitsuchende hätte es in diesem Lande zusätzlich gegeben, wenn diese Arbeitsmarktmittel nicht entsperrt worden wären. ({8}) Liebe Frau von der Leyen, was Sie uns in der Arbeitsmarktpolitik präsentieren, ist schwierig. Man kann es damit umschreiben, dass es ein ständiges Hü und Hott bzw. Hott und Hü gibt. Zunächst werden Haushaltsmittel gesperrt, dann entsperrt. Im Bereich der Kurzarbeit werden die Regelungen erst verschlechtert und jetzt offensichtlich wieder verbessert. Bezüglich der Jobcenter haben Sie zunächst im Jahre 2009 eine Zustimmung angedeutet. Dann gab es eine Phase des neuen Nachdenkens über die getrennte Aufgabenträgerschaft. Und jetzt sind Sie wieder auf Linie. Bringen Sie Klarheit in Ihre Reihen! Bringen Sie Klarheit aufseiten der FDP! ({9}) Mit Ihren Reden haben Sie und Herr Laumann sich ja offensichtlich ganz flehentlich an die FDP gewandt. Setzen Sie sich endlich durch, damit wir Arbeitsmarktpolitik in diesem Lande im Sinne der Menschen betreiben! Im Interesse der Menschen wollen wir nicht, dass sich eine Reform nach der anderen, die Sie ankündigen, als bloßer Wahlkampfgag zur Steuerung eines Wahlergebnisses in Nordrhein-Westfalen herausstellt. Offensichtlich haben Sie bei der Leiharbeit wieder einen Rückzieher gemacht. Das wollen wir nicht, sondern wir denken an die Menschen in diesem Lande. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Pascal Kober von der FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kramme, gehen Sie einmal in sich und überlegen sich, warum die von Ihnen genannte Schlagzeile nie gedruckt worden ist. Vielleicht hängt es ja damit zusammen, dass sie der Wahrheit einfach nicht entsprochen hat. So schlicht ist manchmal die Realität. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen ersten Beratung zur Änderung des Grundgesetzes sowie des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende gelingt uns allen miteinander ein großer Schritt. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 20. Dezember 2007 ist einige Zeit ins Land gegangen. Doch mit den heutigen parlamentarischen Beratungen können wir sagen, dass die Angelegenheit ein gutes Ende nehmen wird. Das ist ein großer Erfolg der Politik. ({1}) Liebe Frau Kramme, vielleicht hängt es mit der Beteiligung der FDP in dieser Regierung zusammen, dass der heutige Tag zu einem Erfolg wird. ({2}) Ich möchte meine Redezeit nutzen, um auf einen besonderen Aspekt des Kompromisses einzugehen, der gerade uns als FDP besonders am Herzen liegt, und zwar auf den Erhalt und den Ausbau der Optionskommunen. Wir Liberale haben uns in der Vergangenheit stets für die Optionskommunen eingesetzt; denn wir sind der Überzeugung, dass die Betreuung und Vermittlung vor Ort zum Wohle der Arbeitsuchenden besondere Kompetenzen bietet. Für die meisten Langzeitarbeitslosen bietet eben der lokale Arbeitsmarkt die besten Chancen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Hier haben die Optionskommunen durch ihre spezifischen Kenntnisse des örtlichen Arbeitsmarktes große Sachkompetenz. Gleiches gilt für die Kompetenz der Kommunen im psychosozialen Bereich. Es gibt noch einen anderen Aspekt, der uns dazu führt, die Optionskommunen so nachhaltig zu unterstützen. Generell gilt: Wettbewerb ist häufig die effizienteste Methode, Qualität zu verbessern und zu sichern. Deshalb ist es richtig, dass wir auch dieses Element in der Arbeitsvermittlung erhalten und sogar ausbauen. Der Erhalt und der Ausbau der Optionskommunen garantieren den Wettbewerb um die Suche nach der besten Vermittlung und der besten Betreuung. Der Erhalt und die Ausweitung der Optionskommunen versprechen Kreativität und Vielfalt der Lösungsansätze in diesem schwierigen und zugleich so bedeutenden Aufgabenbereich. Niemand wird behaupten, dass wir das Patentrezept für die Vermittlung, Qualifizierung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen schon gefunden hätten. Aus diesen Gründen ist es für die FDP ein richtiger Schritt, dass das Modell der Optionskommunen jetzt entfristet und ihre Zahl ausgeweitet wird. Insbesondere bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, aber auch von der Linkspartei, gab es Vorbehalte gegen die Optionskommunen. Aber ich bin mir sicher, dass wir durch die nun größere Zahl an Optionskommunen und die längere Dauer ihres Bestehens die Vorbehalte gegen sie überzeugend werden abbauen können. ({3}) Vielfach wurde in den vergangenen Jahren die Qualität der Arbeit der Optionskommunen angezweifelt. Studien, die dies angeblich belegen sollten, waren jedoch auf fragwürdiger Datenbasis erhoben worden oder stark interessengeleitet erstellt worden. Deshalb ist es ein weiterer Erfolg der vorliegenden Verständigung, dass nun zentral die Qualität der Arbeit bewertet und dann transparent dargestellt wird. Ich bin mir sicher, dass dies die Zweifel beseitigen wird. ({4}) Heute ist mit der Beratung über die Gesetzentwürfe ein guter Tag für die Arbeitsuchenden in unserem Land, aber auch für die Beschäftigten der Bundesagentur und der kommunalen Seite im Bereich des SGB II. Wir geben den Beschäftigten Sicherheit und den Arbeitsuchenden die Gewissheit, dass sie weiterhin Hilfe aus einer Hand und unter optimierten Bedingungen erhalten werden. Das ist verantwortungsvolle Politik, die wir hier gemeinsam machen. ({5}) Was die Entfristung der 3 200 Stellen in der BA angeht, so kann ich Ihnen versichern, dass wir in gewohnt überzeugender Sachkompetenz eine Lösung finden werden. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Zimmermann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Pascal! Ist er denn da? ({0}) - Entschuldigung. Ich muss Sie aber in einem Punkt korrigieren, das ist leider nicht ganz so lustig. Ein Ende dieses Themas sehe ich erst, wenn alle Erwerbslosen in einen Job vermittelt sind, von dem sie und ihre Familien in Würde leben können. Erst dann können wir über ein Ende dieses Themas reden, lieber Herr Kollege. ({1}) Jetzt komme ich zur SPD. Wenn jetzt am Sonntag nicht Wahlen in Nordrhein-Westfalen wären, dann, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wären Sie doch heute nicht die großen Kämpfer für die Beschäftigten der Arbeitsgemeinschaften und der Bundesagentur für Arbeit. ({2}) Ich muss Ihnen sagen: Seit Einführung von Hartz IV gab es noch nie eine vernünftige Personalausstattung, auch nicht unter Ihrer Regierung. ({3}) - Ich weiß, wovon ich rede, Frau Kramme. Sagen wir es doch einmal ganz deutlich: Die sogenannte JobcenterReform, die wir heute beraten, ist das Ergebnis eines politischen Kuhhandels von Union und SPD. Dieser wird auf dem Rücken der Erwerbslosen, auf dem Rücken der Beschäftigten der Agentur für Arbeit und auf dem Rücken der Beschäftigten der Kommunen ausgetragen. Das ist unerträglich. ({4}) Sie haben es geschafft, größere Teile der Arbeitsvermittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertragen. Das eigentliche Problem bei dieser Reform ist aber, dass die Erwerbslosen mit ihren Interessen und ihren Problemen auf der Strecke geblieben sind; denn Bezieher von Arbeitslosengeld I oder Arbeitslosengeld II werden weiterhin getrennt verwaltet, und die Zweiklassengesellschaft der Erwerbslosen bleibt weiterhin bestehen und wird von Ihnen festzementiert. Es ist für die Linke unerträglich, wie Menschen durch Hartz IV tyrannisiert werden. Das machen wir hier nicht mit. ({5}) Es gibt ein weiteres großes Problem in Ihrem Gesetzentwurf: Die Arbeitsvermittlung wird immer mehr den Kommunen übertragen - künftig an bis zu einem Viertel aller Landkreise und kreisfreien Städte. So entsteht, wie meine Kollegin Katja Kipping schon gesagt hat, ein arbeitsmarktpolitischer Flickenteppich, den Sie nicht mehr im Griff haben werden. Das ist ein historischer Rückschritt. Kennen Sie überhaupt die Geschichte der bundeseinheitlichen Vermittlung und Verwaltung? Vor bald 100 Jahren wurde diese in Deutschland für Arbeitsuchende eingeführt. Das war ein Zugeständnis dafür, dass die Kommunen mit dieser Aufgabe überfordert waren. Nun machen Sie hier wieder eine Rolle rückwärts. Es ist traurig und eigentlich schon fast Normalität, dass die Kollegen der SPD wieder einmal eine Kröte schlucken - diesmal vom hessischen Ministerpräsidenten, Herrn Koch. ({6}) Es gibt ganz konkrete Belege dafür, dass es auch heute besser wäre, die Arbeitsvermittlung und -verwaltung bundeseinheitlich zu organisieren. Das belegen Überprüfungen der letzten Jahre. Danach vermitteln kommunale Träger deutlich öfter als Arbeitsgemeinschaften auf Arbeitsplätze, von deren Lohn die Menschen nicht leben können, oder auf befristete Arbeitsplätze, sodass sie nach einiger Zeit wieder in der Arbeitslosigkeit enden. Das ist schlimm für die Betroffenen, aber auch eine Belastung für die Gemeinschaft. Daraus ergeben sich Mindereinnahmen bei den Steuern und der Sozialversicherung oder Mehrausgaben bei den Sozialleistungen. Der Bundesrechnungshof, der heute schon mehrfach zitiert wurde, ist bestimmt kein Freund der Linken. Er kritisiert in seiner Stellungnahme: Das Modell der Bundesregierung gibt ein einheitliches System zur Grundsicherung für Arbeitsuchende dauerhaft auf und führt zu einem unnötigen Verwaltungsaufwand mit entsprechenden finanziellen Ausgaben. - Hierin, Frau Ministerin von der Leyen, muss ich dem Herrn Weise heute schon recht geben. Das alles sind stichhaltige Argumente gegen den sogenannten pragmatischen Kompromiss von Union und SPD, aber Sie machen mit dieser Mogelpackung wider besseres Wissen trotzdem weiter. Ich will noch etwas aus kommunaler Sicht sagen. Es gibt ganz handfeste Gründe dafür, dass nun einige Kommunen die Arbeitsvermittlung in Eigenregie übernehmen wollen. Manche erhoffen sich kurzfristig finanzielle Vorteile. Sie müssen nicht das gesamte Personal der Bundesagentur übernehmen, wodurch sie auch Personalkosten einsparen können. Manche sind mit dem gegenwärtig geringen Einfluss der Kommunen auf die Bundesagentur unzufrieden. Hierauf hat die Bundesregierung keine Antwort gegeben. Es ist aber noch schlimmer: Statt die Kommunen finanziell besser auszustatten, bluten Sie deren Haushalte weiter aus. Das ist unerträglich. ({7}) Die Linke bleibt dabei: Es ist falsch, die Arbeitsvermittlung und -verwaltung auf die Kommunen zu übertragen. Arbeitslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und darf nicht auf die Kommunen abgewälzt werden. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie gehen in ein Gesetzgebungsverfahren, das meines Erachtens als historisch zu bezeichnen ist. Es geht nämlich um eine Änderung des Grundgesetzes, um damit die optimale Verwaltung und vor allen Dingen die optimale Grundlage zu schaffen, um den Menschen zu helfen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Dieser Weg wurde bereits im Jahr 2005 beschritten, als die Argen gebildet wurden und befristet zugelassen wurde, dass Kommunen die Verantwortung für die Arbeitsvermittlung übernehmen. Ich glaube, dass die letzten fünf Jahre von guten Erfolgen gekennzeichnet sind, etwa beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land. Damit leisten wir den Menschen in unserem Land einen beson3824 deren Dienst. Deshalb ist es für uns entscheidend, weiterhin auf diesen Grundlagen aufbauen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Dezember 2007 festgestellt, dass die entsprechende Regelung mit unserem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Deshalb muss man darüber nachdenken, wie wir die Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zukünftig auf ein gutes verwaltungsrechtliches Fundament stellen. ({0}) Der heute eingebrachte Gesetzentwurf, der eine Konsensarbeit von CDU/CSU, FDP und SPD ist, wird dieser Aufgabe gerecht. ({1}) Wir sollten uns meines Erachtens zuerst darüber freuen, dass eine Einigung zwischen den Koalitionsfraktionen und der größten Oppositionsfraktion ermöglicht worden ist. Ich danke herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe. Die konstruktive Zusammenarbeit kam in der heutigen Debatte leider nicht zum Ausdruck. Stattdessen wurde vielfältig über Klein-Klein gestritten. Für dieses Klein-Klein lässt sich aber eine Lösung finden; wir werden dies tun. Ich möchte dem Vorwurf begegnen, dass die CDU/ CSU in der Großen Koalition eine Einigung torpediert habe. Beileibe nicht! ({2}) Die Umsetzung des vorgeschlagenen Modells eines Zentrums für Arbeit und Grundsicherung hätte einen gewaltigen bürokratischen Aufbau bedeutet und wäre der Zielstellung, schnelle und zielorientierte Hilfe zu leisten, nicht gerecht geworden. ({3}) Vor allen Dingen lag es an der Unbeweglichkeit der SPD, dass wir zu diesem Zeitpunkt keine Einigung zustande gebracht haben: ({4}) Bundesminister Scholz war nicht bereit, über eine Ausweitung der Zahl der Optionskommunen und ihre rechtliche Absicherung auch nur zu reden. Das Äußerste, zu dem die SPD damals bereit war, war eine weitere zeitliche Befristung für die 69 Optionskommunen. ({5}) Damit war die CDU/CSU nicht einverstanden; denn wir sind davon überzeugt, dass die Kommunalisierung eine große Chance für die arbeitslosen Menschen in unserem Land bedeutet. ({6}) Landesminister Karl-Josef Laumann hat es auf den Punkt gebracht: Eine zentrale Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik kann nicht von Erfolg gekrönt sein, weil die Verhältnisse in unserem Land so unterschiedlich sind. Das gilt nicht nur für einzelne Städte Nordrhein-Westfalens, sondern genauso für Bayern: In der Stadt München und im Landkreis Dingolfing-Landau sind aufgrund niedriger Arbeitslosenzahlen möglicherweise ganz andere Probleme zu bewältigen als in einem Brennpunkt mit einer gewaltig hohen Arbeitslosigkeit. Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, deshalb ist es entscheidend, dass die Kommunen eingebunden sind. Frau Kollegin Zimmermann, Sie haben gerade ausgeführt, die Vermittlung durch kommunale Träger sei „schlimm für die Betroffenen“. Dabei zeigt sich hier deutlich, dass Kommunalpolitiker bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, um so gute Erfolge für die Menschen zu erzielen, und zwar mit einer schnellen, sachorientierten Eingliederung in das Arbeitsleben. ({7}) Dies gilt es zu stärken. Der vorliegende Gesetzentwurf entspricht dieser Zielstellung: entweder in der Zusammenarbeit der Argen, wo in der Trägerversammlung jedes Jahr die Ziele gemeinsam mit den Kommunen diskutiert und dann festgesetzt werden, oder in der Optionskommune. Wir als CDU/CSU haben durch diesen Kompromiss erreicht, dass es eine Ausweitung der Optionskommunen gibt. Wir hätten uns mehr gewünscht - keine Frage -; aber wir stehen zu diesem Kompromiss. Der Gesetzentwurf, der heute ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden ist, ist eine gute Grundlage für die Bewältigung der Probleme in unserem Land. Ich möchte kurz zwei Punkte ansprechen. Erstens. Vor allem in juristischer Hinsicht ist kritisiert worden, dass es einer Zweidrittelmehrheit eines kommunalen Gremiums bedarf, um eine Optionskommune einzurichten. Ich glaube, dass das sachlich gerechtfertigt ist. Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass die Zielstellungen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit jedes Jahr neu überarbeitet werden müssen, darf der eingeschlagene Weg nicht ständig in einem kommunalpolitisch parteimotivierten Klein-Klein zerredet werden. Eine breite Unterstützung in einem Landkreisgremium ist von Vorteil. ({8}) Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Regelung, dass die Entscheidung für eine Optionskommune nur mit breiter Mehrheit der kommunalen Gremien getroffen werden kann. ({9}) Zweitens. Es wurde vielfältig über die Entfristung der 3 200 Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit gesprochen. Ich möchte betonen: Die Arbeit wird getan, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine befristete oder um eine unbefristete Stelle handelt. Wir wünschen uns, dass die Stellen entfristet werden. Ich bin überzeugt davon, dass knapp 5 000 befristete Stellen - derzeit sind es 8 000 befristete Stellen - genügen, um zu gewährleisten, dass der Personalkörper der BA flexibel auf neue Entwicklungen reagieren kann. Diese Frage werden wir in den kommenden Wochen klären, damit alle der Grundgesetzänderung und den daraus folgenden gesetzlichen Regelungen mit gutem Gewissen zustimmen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind eben Zeuge eines Versuchs der Geschichtsklitterung geworden. Herr Kollege Straubinger, zu behaupten, eine Einigung sei an der SPD gescheitert, ist ziemlicher Hohn. Wir und auch die Ländervertreter haben Ihnen Vorschläge unterbreitet. Es handelte sich um ein Modell, das zwischen den Ländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und dem Bundesarbeitsministerium erarbeitet wurde. Es lag auf dem Tisch. Sie haben es wider Erwarten in Ihrer Fraktion zum Kippen gebracht. Deswegen müssen wir uns heute wieder über dieses Thema unterhalten. ({0}) Wir diskutieren heute, weil es im Dezember 2007 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat. Ohne dieses Urteil würden wir gar nicht darüber reden, sondern die erfolgreiche Organisation in den Arbeitsgemeinschaften und in den Optionskommunen würde fortgesetzt. Ich muss kurz darauf eingehen, warum Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu Recht zusammengeführt worden sind. Diese Zusammenführung war schon lange ein Wunsch der Kommunen, weil sie festgestellt haben, dass mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den 70er-Jahren viele Menschen Sozialhilfe beziehen mussten. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit sei aber keine kommunale Aufgabe - so war damals die Argumentation -, sondern eine staatliche Aufgabe. In der Eichel-Kommission ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommunen recht haben. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden daraufhin zusammengeführt. Das war richtig. Wenn man ganz genau hinschaut, stellt man fest: Die Optionskommune ist eigentlich ein Widerspruch, weil es der Wunsch der Kommunen war, die entsprechende Aufgabe an den Bund abzugeben. Die Kommunen haben damit nicht ganz unrecht. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, haben uns die Optionskommune sozusagen durch die Hintertür aufgedrückt. Wir haben das auch akzeptiert. Politik besteht schließlich aus Kompromissen. Die Optionskommunen leisten erfolgreiche Arbeit; das ist in Ordnung. Ihrer Behauptung, Sie hätten vor einem Jahr dem Kompromiss nicht zugestimmt, weil wir eine ausreichende Zahl an zusätzlichen Optionskommunen nicht mitgetragen hätten, widersprechen Sie aber selber. Um das zu erkennen, müssen Sie nur in Ihren Koalitionsvertrag schauen: Dort ist von zusätzlichen Optionskommunen keine Rede. Dort steht lediglich etwas von einer getrennten Aufgabenwahrnehmung. Sie wollten das Optionsmodell entfristen. Nachdem Frau von der Leyen ihren Gesetzentwurf im Januar auf den Tisch gelegt hatte, haben Sie festgestellt, dass Ihr Vorhaben möglicherweise auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Sie haben sich von drei Ministern erklären lassen müssen, dass das alles verfassungsrechtlich ganz schwierig ist. So ganz ernst können Sie Ihren Vorschlag nicht gemeint haben; sonst hätten Sie in Ihren Koalitionsvertrag etwas völlig anderes hineingeschrieben. Frau Ministerin von der Leyen hat ihre Rede mit der Aussage begonnen, es sei die richtige Reform zum richtigen Zeitpunkt. Dem ersten Teil stimme ich zu. Es ist in der Tat eine richtige Reform. Wir hätten das Modell von vor einem Jahr noch besser gefunden. Aber die Welt besteht nun einmal aus Kompromissen. Wir können mit diesem Kompromiss leben. Der Zeitpunkt ist allerdings ziemlich spät. Gott sei Dank ist es noch nicht zu spät. Die Tatsache, dass es jetzt schon wieder von der gelben Seite Störfeuer im Hinblick auf die Entfristung bzw. die Nichtentfristung der 3 200 Stellen für Jobvermittler gibt, lässt nichts Gutes vermuten. Wir hätten das vor einem Jahr machen können. Aber damals sind alle auf Tauchstation gegangen. Herr Laumann - bleiben Sie noch einen Moment hier -, teilen Sie dem Kollegen Rüttgers Folgendes mit: Ich habe eigentlich erwartet, dass sich der Vorkämpfer für eine Generalrevision von Hartz IV, der Arbeiterführer aus Nordrhein-Westfalen, ({1}) an die Spitze der Bewegung setzt und für seine Vorstellungen kämpft, ({2}) nachdem der mit seiner Zustimmung ausgehandelte Kompromiss von seiner Fraktion gekippt worden ist. ({3}) Wir haben davon nichts gesehen. Er beschränkt sich auf Ankündigungen, und sonst kommt nichts. Der Kollege Kolb hat in einem Punkt völlig recht: Es bedurfte erst eines Briefes des hessischen Ministerpräsidenten. Dieser hat Ihnen allen, die Sie an der Verzögerungstaktik beteiligt waren, die Rote Karte gezeigt. Herr Koch hat Ihnen gesagt: Ohne Grundgesetzänderung geht das alles nicht. Allein darauf beruht das Umdenken auf der schwarz-gelben Seite. Herr Laumann, teilen Sie dem Kollegen Rüttgers mit, dass er sich dafür in Zukunft nicht mehr einzusetzen braucht. Das werden dann andere machen. ({4}) Herr Kollege Laumann, Sie haben zu Recht auf das viele Hin und Her verwiesen. Man könnte nun chronologisch aufschreiben, wer wann was vorgeschlagen hat und wer wann was abgelehnt hat. Es gab tatsächlich viel Hin und Her. Wir sind nun an dem Punkt, an dem wir gemeinsam sagen: Wir wollen eine Grundgesetzänderung. Das ist der einzig verlässliche Weg, damit in den Kommunen vor Ort, und zwar sowohl in den Arbeitsgemeinschaften als auch in den Optionskommunen, endlich Sicherheit herrscht. Das Problem mit der Nichtentfristung der 3 200 Stellen ist symptomatisch für das, was Sie vorhin gesagt haben, Herr Laumann. Sie haben ein Plädoyer für Hilfe aus einer Hand gehalten und bekommen von den Regierungsfraktionen Applaus. Das hat mich wirklich verwundert. Wie kann jemand, der die getrennte Aufgabenwahrnehmung in den Koalitionsvertrag hineinschreibt ({5}) und sich diesen absegnen und noch von Herrn Rüttgers unterschreiben lässt, sagen: „Wir wollen Hilfe aus einer Hand“, und dafür Applaus bekommen? Das hat offenbar etwas mit retrograder Amnesie zu tun. ({6}) Das ist aber nicht der erste Fall retrograder Amnesie, den wir bei Schwarz-Gelb erleben. Der vorliegende Kompromiss findet unsere Zustimmung; denn wir hoffen, dass danach endlich Ruhe einkehrt. Die 26 Prozent befristete Arbeitsverträge spiegeln sich in 20 Prozent Fluktuation bei den Arbeitsgemeinschaften wider. Das ist kein hinnehmbarer Zustand. Stellen Sie sich einen Betrieb vor, bei dem jährlich 20 Prozent des Personals fluktuieren! Ein solcher Betrieb kann nicht richtig arbeiten; er kann nicht richtig funktionieren. Deswegen muss dieser Punkt vor der zweiten und dritten Lesung geklärt sein. Sonst könnte es sein, dass wir heute die erste und zugleich die letzte Lesung hatten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Regierungsfraktionen, der SPD und der Ministerin ist hier zu Recht umfassend gedankt worden für die sehr gute Lösung, die wir heute beraten. Ich will auf einen Punkt eingehen, der am Ende der Rede des Kollegen von der SPD aufkam. Es wurde behauptet, die Lösung, die wir jetzt haben, sei nicht im Interesse der Regierungsfraktionen gewesen. Der Kollege Straubinger hat das eben für die Union ausgeführt. Für die FDP kann ich hier ganz klar sagen: Betreuung aus einer Hand, das war immer genau das, was wir, die FDP, wollten, weil es eine der Grundlagen liberaler Sozialpolitik ist. ({0}) - Frau Kramme, hören Sie doch erst einmal zu. - Deshalb ist es gut, dass wir jetzt sowohl die Fortschreibung des Modells der Argen als auch die Erhöhung der Zahl der Optionskommunen als auch - endlich - ein faires, einheitliches und transparentes System erreicht haben. Ich glaube, nur dadurch kann ein echter Systemwettbewerb ablaufen, der im Interesse der Menschen liegt. ({1}) Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Das passt sehr gut zu dem - Frau Kramme, Sie haben den Koalitionsvertrag angesprochen -, was wir sonst im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wir haben dort zum Beispiel festgehalten, dass wir darüber hinausgehend prüfen wollen, inwiefern wir Stellen, die Sozialleistungen auszahlen, zusammenlegen können. Im Koalitionsvertrag ist von einer Prüfung des Konzepts des liberalen Bürgergeldes die Rede. Wir wollen auch prüfen, wie wir die Kosten der Unterkunft pauschalieren können, um so die Würde und Eigenverantwortung der Menschen stärker zu wahren. Das zeigt sehr gut: Betreuung aus einer Hand, damit die Menschen nicht von Amt zu Amt rennen müssen, ist das, was diese Koalition will. Für die FDP kann ich sagen: Das ist der Weg, den wir als Liberale immer gewollt haben. Insofern ist das wirklich ein sehr guter Kompromiss. ({2}) Ich glaube, wir müssen unsere Überlegungen zu der Frage, wie wir eine möglichst individuelle Betreuung der Menschen aus einer Hand zustande bringen, ausdehnen, auch über den Bürgergeldprüfauftrag hinaus. Ich will auf das Beispiel einer Optionskommune hinweisen. Mein Kollege Pascal Kober hat eben schon ausgeführt, dass das grundsätzlich ein sehr sinnvolles Instrument ist. In der Optionskommune Osnabrück im Osnabrücker Land, die schon vor Jahren die sogenannte MaßArbeit begründet hat, gibt es ein Konzept, bei dem Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit in den Jobcentern zusätzlich angeboten werden, wodurch Familien, vor allem Problemfamilien, wirklich eine Betreuung aus einer Hand erhalten. Kinder und Jugendliche haben dadurch auf ihrem Weg ins Erwerbsleben, bis sie also erwachsen sind, immer einen Ansprechpartner. Ich glaube, das ist genau der Kurs, den wir fortsetzen müssen. ({3}) Johannes Vogel ({4}) Ich will noch etwas zu den Kritikpunkten sagen, die wir hier verschiedentlich gehört haben. Frau Kollegin Pothmer und Frau Kramme haben eben schon ausgeführt, das sei gar nicht im Interesse der Koalition gewesen. Ich glaube, wir konnten deutlich machen, dass das nicht der Fall ist. Freuen Sie sich doch, dass wir eine so schöne Lösung gefunden haben, die auch dem entspricht, was Sie wollten. ({5}) Da wir aus vielen Mündern, aus Ihrem, Frau Pothmer, und aus den Mündern der Kollegen von der SPD, gehört haben, die FDP wolle hier irgendetwas torpedieren, muss ich sagen: Ich habe - auch nach dem, was der Kollege Kolb hier ausgeführt hat - das Gefühl, dass Sie, möglicherweise bewusst vor dem kommenden Wochenende, die ganze Sache hochziehen, um einen Dissens zu konstruieren, den es gar nicht gibt. Da ist ein Punkt von den Haushältern nicht abgelehnt, sondern einfach nur abgesetzt worden, und zwar in einer Woche, in der sie nun wirklich genug andere Themen haben, Frau Kramme. ({6}) Ich habe großes Vertrauen in unsere Haushälter - ich habe gerade den Kollegen Heil im vertraulichen Gespräch mit unseren Haushältern gesehen -, dass sie dafür sorgen, dass es eine gute Lösung im Interesse der Menschen geben wird. Dieses Vertrauen könnten Sie eigentlich auch haben. ({7}) Insofern appelliere ich ganz ernsthaft an Sie: Ziehen Sie den Punkt nicht hoch. Hängen Sie es ein bisschen tiefer; denn sonst müssen Sie, Herr Heil, sich fragen lassen, ob Sie den Geist, der uns zu dieser wirklich guten Lösung, die im Interesse der Menschen ist, gebracht hat, aufgrund kurzfristiger parteipolitischer Profilierung missachten. Ich glaube, eine solche Missachtung haben die Menschen nicht verdient. Das haben wir nicht nötig. Halten Sie einfach einmal die Hufe still; dann werden wir alle eine gute Lösung bekommen. In diesem Jahr werden wir auch noch an die anderen Aufgaben herangehen. Ich sage ganz klar: Es geht hier nicht nur um Strukturen. Das ist nur der Anfang. Das ist sozusagen nur die Pflicht. Die Kür müssen wir durch eine bessere Betreuung und durch eine schnellere Vermittlung sowie durch andere Maßnahmen wie bessere Zuverdienstmechanismen und faire Regelsätze im Laufe dieses Jahres erbringen. Ich habe großes Vertrauen, dass wir als Koalition das schaffen werden. Sie können sich dabei konstruktiv einbringen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in dieser Debatte zwischendurch gefragt, worum es eigentlich geht. Ich bin davon ausgegangen, dass es um nicht weniger als 6,5 Millionen Menschen geht, für die wir den bestmöglichen Weg finden müssen und sollen, wie sie schnellstmöglich, problemlos und ohne viel Bürokratie zurück in die Arbeit kommen. ({0}) Ich habe nicht gedacht, Herr Scheelen - ich habe Sie in den Debatten in den letzten Jahren anders kennengelernt -, dass wir über den Wahlkampf in NRW reden. ({1}) Dazu könnten wir eine ganze Menge sagen, aber nicht an dieser Stelle. Ich fand es schade, dass Sie nicht auf die positiven Folgen eingegangen sind, die dieser Gesetzentwurf mit sich bringt. Ich möchte Sie, Herr Heil, und Ihre Fraktion ausdrücklich dafür loben, dass Sie dieses Angebot gemacht haben. Allerdings - Sie wissen, dass ich mein Lob sofort ein bisschen abschwächen muss - hätten auch Sie allein es nicht geschafft; ({2}) auch Sie haben sich bewegt. Wenn Sie, Frau Kramme, jetzt sagen, Sie hätten für die Rettung gesorgt, dann muss man auch diese Aussage etwas relativieren. Herr Heil weiß, dass auch er Kompromisse eingehen musste ({3}) und dass unsere Fraktion die drei Forderungen, die uns wichtig waren und die wir übrigens schon im letzten Jahr erhoben haben, umsetzen konnte. ({4}) An dieser Stelle sind Sie uns entgegengekommen. Ich muss sagen: Wenn es um die Menschen geht, ist es doch gut, wenn wir Kompromisse finden. ({5}) Es würde niemand verstehen, würden wir an dieser Stelle zerren und zanken. Es geht darum, den Menschen zu helfen, Verbesserungen auf den Weg zu bringen und bestmögliche Lösungen zu finden. ({6}) Dabei haben wir teilweise unterschiedliche Auffassungen, gar keine Frage. Da Frau Kramme sagte, es gehe mal hin und mal her, ({7}) stelle ich fest: Letzten Endes gehen wir natürlich den Weg, der für die Menschen am besten ist. Denken Sie nur einmal an die Anfänge Ihrer Regierungszeit. Damals gab es Ministerwechsel en masse. Das war schlimm. Daran will ich eigentlich gar nicht erinnern. ({8}) Uns geht es darum, Lösungen zu finden. Wir haben Lösungen gefunden. Es ist wichtig, den Menschen zu helfen, und zwar so, dass sie eine schnelle Hilfe und Hilfe aus einer Hand bekommen. Das war uns wichtig. ({9}) - Herr Heil, Sie wissen doch, wie es bei den Koalitionsverträgen, die wir miteinander geschlossen haben, war. Sie haben beim letzten Mal Dinge unterschreiben müssen, die Sie nicht wollten; wir übrigens auch. ({10}) So ist es bei einem Koalitionsvertrag. Herr Heil, das ist wie in einer Familie: Man muss Kompromisse eingehen. ({11}) Wir wollen Hilfen aus einer Hand; das ist uns wichtig. Wir wollen nicht, dass die Menschen hin- und herlaufen, ständig neue Formulare ausfüllen und immer wieder das Gleiche sagen müssen. Dass das nicht geschieht, haben wir hiermit vorbereitet; das wird nun auf den Weg gebracht. Das ist wichtig. Das ist ein Erfolg. Dafür haben wir uns als CDU/CSU-Fraktion eingesetzt, und das haben wir auch durchgesetzt. Wir wollen - hier sind wir unterschiedlicher Meinung -, dass die Kommunen beteiligt werden, das heißt, dass die Kommunen, die schon optiert haben, entfristet werden und dass weitere Kommunen die Möglichkeit bekommen, ihre Aufgaben selber wahrzunehmen. Hier gibt es sehr gute Erfahrungen, allerdings auch schlechte. Es ist wie bei den Argen: Es gibt gute, und es gibt weniger gute. Uns ist wichtig, die Möglichkeiten der Optionskommunen zu erweitern. Dies haben wir getan. Es ist auch ein Erfolg der CDU/CSU-Fraktion und ihrer Verhandlungsführer, dass diese Regelung Bestandteil des Gesetzentwurfes ist. ({12}) Auf die Kompetenzen und Erfahrungen der Kommunen wollen und werden wir nicht verzichten. Der dritte Punkt, der uns wichtig war, ist die Bundesaufsicht. Wir wollen eine einheitliche Bundesaufsicht. Derjenige, der bezahlt, muss auch die Möglichkeit haben, zu kontrollieren. Bei den Argen bzw. Jobcentern ist dies durch die BA gewährleistet. Was die Optionskommunen betrifft, haben wir diese Kompetenz auf die Länder übertragen. Aber auch hier hat der Bund die Möglichkeit, auf die Länder einzuwirken und zu kontrollieren, sodass unser Anliegen, dass es eine einheitliche Bundesaufsicht gibt, erfüllt wird. Frau Kipping, Sie sollten das eine oder andere Mal ({13}) auf Ihre Basis hören. Es war ja nicht das erste Mal, dass Sie von diesem Pult aus Forderungen erhoben haben, die an der Basis ganz anders gesehen werden, auch an Ihrer Basis. ({14}) Das sollte Sie ermutigen, auch einmal darüber nachzudenken, ob Ihre Kollegen in den Kommunalparlamenten vielleicht gar nicht so falsch liegen. Auch Sie sollten einmal die Meinungen und Forderungen Ihrer Kollegen unterstützen. Das wäre nicht verkehrt. Das sollten Sie tun. Das würde Sie an der einen oder anderen Stelle vielleicht in die Lage versetzen, politisch zu agieren, statt immer nur aus der Opposition Forderungen zu erheben, die von der Basis gar nicht unterstützt werden. ({15}) Ich möchte mich nicht ständig wiederholen. Ich glaube, es ist dennoch wichtig, noch einmal hervorzuheben - Kollege Straubinger hat das bereits deutlich gemacht -, warum wir dem Vorschlag von Minister Scholz beim letzten Mal nicht gefolgt sind. ({16}) - Aber in diesem Haus entscheiden die Mitglieder des Parlaments. In meiner Fraktion, Herr Heil, ist es so, dass wir diskutieren. ({17}) Wenn wir der Meinung sind, dass Ihre Vorschläge nicht unseren Anliegen entsprechen, dann machen wir das deutlich. ({18}) Der Vorschlag von Minister Scholz lief darauf hinaus, dass Sie eine neue Körperschaft öffentlichen Rechts einführen wollten, ({19}) was einen Riesenverwaltungsaufwand zur Folge hätte. Unsere Fraktion wollte das nicht. Wir wollten ebenso eine Ausweitung der Zahl der Optionskommunen. Da sind Sie uns - das muss man leider feststellen - nicht entgegengekommen. Diesmal waren Sie entgegenkommend und zuvorkommend; deswegen finden wir diesmal einen Kompromiss. Wenn man sich die Rückmeldung der beteiligten Verbände, überhaupt der beteiligten Personen ansieht, kann man feststellen, dass dieser Kompromiss ein sehr guter Kompromiss ist; denn die Zustimmung ist sehr groß. Nur ein großer Gewerkschaftsverband, der DGB, hat noch etwas zu kritisieren. Verdi unterstützt den Kompromiss. Es gibt also große Zustimmung. Was wir heute in erster Lesung auf den Weg bringen, ist, glaube ich, eine gute Möglichkeit, diejenigen Dinge zu verändern, die wir verändern wollen. Ich möchte zum Schluss auf einen Punkt eingehen, der meiner Fraktion und mir wichtig ist: Wir verändern auch den Betreuungsschlüssel. Bei den unter 25-Jährigen verbessern wir den Betreuungsschlüssel auf 1:75; bei den anderen liegt er bei 1:150. Zur Verbesserung der Betreuung gehört natürlich, dass das Personal den Aufgaben gewachsen ist. Wir brauchen keine neuen Mitarbeiter; wir haben gute Mitarbeiter, die eingearbeitet sind. Deswegen sollten wir versuchen, bis zur zweiten und dritten Lesung zu erreichen - das wird die Beratung bringen -, dass die Stellen entfristet werden. Das ist nämlich ein wichtiges Zeichen an diejenigen, die agieren, aber auch an die Menschen, die Beratung und Förderung brauchen. Daran werden wir arbeiten. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich denjenigen danken, die diesen Kompromiss in vielen Stunden ausgehandelt haben - Herrn Heil habe ich schon erwähnt -: Karl Schiewerling, Max Straubinger, Heinz Kolb, aber auch Staatssekretär Hoofe. Trotz allem, Herr Heil, müssten Sie auch anerkennen: Ohne die Ministerin, die so beherzt und tatkräftig in der Lage ist - ({20}) - Herr Heil, Sie wissen doch: Wenn Ihre Untergebenen in Ihrer Fraktion ({21}) - wenn Ihre Mitarbeiter, Ihre Kollegen - etwas erarbeiten, halten Sie doch immer das Zepter in der Hand, führen Sie doch die Feder. Wir haben eine Ministerin, die sehr beherzt und sehr kraftvoll an die Arbeit geht. Wir werden sie dabei unterstützen. Ich bin dankbar, Frau Ministerin, dass Sie das in die Hand nehmen, und bin sicher, Sie werden es zu einem guten Ende führen. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/1554 und 17/1555 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gleichklang von Bund und Ländern beim Kli- maschutz sicherstellen - Drucksache 17/1430 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Klimaschutzziele gesetzlich verankern - Drucksache 17/1475 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Bärbel Höhn von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um den Klimaschutz geht, spielt diese Bundesregierung ein doppeltes Spiel. ({0}) Das ist selten so deutlich geworden wie in dieser Woche: Auf dem Petersberg erklärt der Bundesumweltminister, nach dem Scheitern der Klimakonferenz von Kopenhagen müsse man jetzt auf konkrete Klimaschutzprojekte setzen. Zur gleichen Zeit stoppt diese Bundesregierung Tausende von konkreten Klimaschutzprojekten in Deutschland, und zwar indem sie die Förderung von Ökoheizungen, nämlich von Holzpelletanlagen, von Wärmepumpen, von Solaranlagen und von Mini-KWKAnlagen sperrt. Meine Damen und Herren, entsperren Sie die Mittel für diese Anlagen; denn das sind konkrete Klimaschutzprojekte. ({1}) Auf dem Petersberg beschwört der Bundesumweltminister die zentrale Rolle der erneuerbaren Energien für Klimaschutz und neue Jobs. Damit hat er recht. Aber gleichzeitig steht heute ein Gesetzentwurf zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Bundestag zur Abstimmung, der eine Absenkung der Förderung für die Fotovoltaik um 30 Prozent in 13 Monaten vorsieht. Das ist zu viel. Das gefährdet die Arbeitsplätze in diesem Bereich, und deshalb sagen wir: So geht es nicht. Diese Kürzung können Sie nicht vornehmen. ({2}) Auf dem Petersberg plädiert der Bundesumweltminister für neue Partnerschaften mit anderen Staaten, um die Energieeffizienz voranzubringen. Gleichzeitig haben wir gerade in diesem Monat einen traurigen Rekord zu verzeichnen. Denn die Umsetzung der EnergieeffizienzRichtlinie der EU ist schon zwei Jahre überfällig. Deshalb warten in Deutschland Unternehmer und Verbraucher auf genau diese Effizienzpartnerschaften des Bundesumweltministers. Hic Rhodus, hic salta! Hier muss etwas geschehen. Schöne Worte auf einer internationalen Konferenz reichen nicht. ({3}) Das ist ein doppeltes Spiel: Hier reden Sie so, und dort handeln Sie ganz anders. Auch das gehört zur Wahrheit: Auf der Petersberger Konferenz hat die Bundeskanzlerin Anfang der Woche mehr Mut beim Klimaschutz eingefordert. ({4}) Den Rest der Woche macht sie dann Wahlkampf für einen Ministerpräsidenten Rüttgers, der den Klimaschutz aus den Landesgesetzen streichen lässt. Das ist nicht in Ordnung; das widerspricht sich. ({5}) Rüttgers hatte die Wahl zwischen dem Kohlekraftwerk in Datteln und dem Klimaschutzrecht. Wofür hat er sich entschieden? - Gegen den Klimaschutz und für das Kohlekraftwerk, und die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat nichts getan, um ihn davon abzubringen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. Von China, Brasilien und den USA hat sie Mut beim Klimaschutz eingefordert, aber von ihrem eigenen Parteifreund Jürgen Rüttgers verlangt sie diesen Mut nicht. Das ist doppelzüngig. Das lassen wir nicht durchgehen. ({6}) Beim Kohlekraftwerk Datteln geht es um einen Klimakiller, der nach Fertigstellung das Klima mit enormen 6,5 Millionen Tonnen CO2 im Jahr belasten wird. Umweltschützer haben gegen den Bau geklagt und vor dem Oberverwaltungsgericht Münster recht bekommen, und zwar deshalb, weil die Richter festgestellt haben, dass dieser Bau dem in der Landesplanung verankerten Ziel des Klimaschutzes widerspricht. Deshalb ist das Kohlekraftwerk in Datteln mittlerweile der größte illegale Schwarzbau der Republik. ({7}) Das ist ein schlechtes Zeichen für CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen. ({8}) Wie hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen auf die Schelte der Richter reagiert? Sie hat einfach den sogenannten Klimaschutzparagrafen aus der Landesplanung gestrichen, um am Ende doch den Schwarzbau zu ermöglichen. Das ist eine Lex Eon, nicht mehr und nicht weniger. Eine klarere Absage hätte die Regierung Rüttgers/Pinkwart dem Klimaschutz nicht erteilen können. Das, was in Nordrhein-Westfalen gemacht worden ist, ist gegen den Klimaschutz. ({9}) Der CO2-Ausstoß in Nordrhein-Westfalen beträgt mittlerweile 16 Tonnen pro Person und Jahr. ({10}) Das ist mehr als in Saudi Arabien. Der CO2-Ausstoß in ganz Deutschland liegt bei 9,5 Tonnen. Interessant ist, dass diese Fixierung auf die Kohle einen weiteren, dramatisch negativen Effekt hat: Bei den erneuerbaren Energien wird zu wenig gemacht. In diesem Bereich hinkt Nordrhein-Westfalen bisher schon hinterher. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung beträgt in Nordrhein-Westfalen um die 6 Prozent. In der übrigen Bundesrepublik sind es fast 20 Prozent. Hier liegt der Anteil erneuerbarer Energie also mehr als dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfalen. Das hat mit dem Vorrang der Kohle und der Politik dieser schwarz-gelben Regierung zu tun. Sie sind vor fünf Jahren mit einem Wettlauf gegen die erneuerbaren Energien gestartet. Damals hat Bauminister Wittke gegen die Windkraft verkündet: „Das ist das Erste, was wir kaputtmachen werden.“ Sein Kollege Papke, Fraktionsvorsitzender der FDP ({11}) - ja -, hat gesagt, Windkraftanlagen in NordrheinWestfalen hätten keinerlei energiepolitischen Wert. Wenn wir in Nordrhein-Westfalen, Frau Flach, nicht endlich die entsprechenden Maßnahmen für den Klimaschutz und den Ausbau der erneuerbaren Energien treffen, dann werden wir unsere Klimaziele hier in Deutschland nicht erreichen. Das ist der Zusammenhang mit der Politik im Bund. ({12}) Was sollen eigentlich die Länder China, Indien und Südafrika denken, denen wir ihre geplanten Kohlekraftwerke vorwerfen, wenn die Bundesregierung eine Klimaschutzkonferenz in Nordrhein-Westfalen veranstaltet, das als Bundesland ein so schlechtes Beispiel gibt? Deshalb sage ich: Eine Politik wie die, die Rüttgers macht, zerrüttet die Glaubwürdigkeit der Klimadiplomatie Deutschlands, des Bundesumweltministers und der Kanzlerin. Wie sollen sie denn am Ende glaubhaft vertreten, dass sie für Klimaschutz sind, wenn sie gleichzeitig das durchgehen lassen, was Rüttgers in NordrheinWestfalen macht? Deshalb muss sich das ändern. ({13}) Die Wahrheit ist: Wir haben in Nordrhein-Westfalen fünf Jahre für den Ausbau erneuerbarer Energien und für Maßnahmen für den Klimaschutz verloren. Deshalb müssen wir Rüttgers stoppen. Die Bundesregierung muss dieses Tun von Rüttgers stoppen. Wir werden unser Bestes dafür tun, dass der Klimaschutz in NordrheinWestfalen wieder an Fahrt gewinnt. Dafür werden wir am Sonntag sorgen. Wir werden Rüttgers die Quittung geben, die er verdient hat. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zur heutigen Beratung anstehenden Anträge lassen eigentlich vermuten, dass wir uns im Kern mit einem Klimaschutzgesetz auseinanderzusetzen haben. Dem ist jedoch nicht so, wie Sie gerade erlebt haben; denn der Entwurf der Grünen zu einem Klimaschutzgesetz steht heute nicht auf der Tagesordnung, dafür aber sozusagen ein Ergänzungsantrag mit dem Titel „Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen“, der nichts anderes zum Ziel hat, als dem Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen eine Plattform im Deutschen Bundestag zu verschaffen. ({0}) Das Ziel dieses Antrags ist nichts anderes, als die Arbeit der schwarz-gelben Landesregierung in NordrheinWestfalen im Bereich Klima- und Energiepolitik schlechtzureden. ({1}) Meine Damen und Herren von den Grünen, ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie jedes Mittel nutzen wollen, um in NRW noch ein paar Stimmen dazuzugewinnen. Ich verstehe allerdings nicht, dass Sie sich so wenig dafür anstrengen. Die Wähler werden nicht auf diesen oberflächlichen und fachlich falschen Antragsklamauk hereinfallen. Besonders deutlich wird das Schnellstrickmuster des Antrags da, wo Anregungen für die deutsche Position auf der Klimakonferenz in Bonn gegeben werden sollen. Wie wir wissen, war die Konferenz bereits am vergangenen Wochenende. ({2}) Selbst bei diesem Detail läuft der Antrag wegen augenscheinlicher Qualitätsmängel ins Leere. ({3}) Meine Damen und Herren von den Grünen, die Bürger in NRW wissen sehr genau, was Schwarz-Gelb in NRW geleistet hat. ({4}) Die Bürger wissen sehr genau, dass sie sich auf die Bundesregierung und insbesondere die Bundeskanzlerin auch in der Klimapolitik verlassen können. ({5}) Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Klimaphrasen werden Ihnen im Wahlkampf nicht helfen. Klimaschutz ist und bleibt Zentrum unserer Politik - im Bund genauso wie in NRW. ({6}) Dafür stehen Angela Merkel und Jürgen Rüttgers, und zwar in einem engen Schulterschluss. ({7}) Der von Ihnen geforderte Gleichklang ist längst vorhanden. Er ist die Voraussetzung für die Erfolge, ({8}) die wir im Klimaschutz bereits erreicht haben. Das ist deutlich mehr, als rot-grüne Regierungen, egal ob im Bund oder in den Ländern, Frau Höhn, aus ihren Regierungszeiten vorzuweisen haben. Die ständigen Forderungen aus dem grünen Lager nach neuen Klimazielen zeigen, dass es dort noch immer nicht gelingt, die klaffende Lücke zwischen ideologischem Anspruchsdenken und tatsächlich Machbarem zu überbrücken. ({9}) Fakt ist: Es gab einmal das nationale Klimaschutzziel, die CO2-Emissionen - das steht im Antrag der Linken ({10}) um 25 Prozent bis 2005 zu reduzieren. Dieses Ziel wurde von den Grünen zunächst als zu wenig ambitioniert kritisiert und anschließend vom grünen Umweltminister Trittin wegen Unerreichbarkeit klammheimlich unter den Tisch fallen gelassen. ({11}) Fakt ist: Trotz miserabler Konjunktur ist es in den sieben Jahren grüner Politik nicht gelungen, die CO2-Emissionen in Deutschland nennenswert weiter zu senken oder zu stabilisieren. ({12}) Sie besetzen das Thema Klimaschutz immer mit hehren Worten. Wir setzen Klimaschutz mit konkreten Maßnahmen in der Praxis um. ({13}) Meine Damen und Herren, gern gehe ich als Abgeordnete aus NRW auf das landespolitische Kernthema des Antrags ein, ({14}) nämlich die Kritik an den Änderungen des Landesentwicklungsprogramms und des Landesentwicklungsplans. Zunächst einmal finde ich es schon ziemlich unverfroren, die Änderungen am Landesentwicklungsplan zu kritisieren und gleichzeitig einen stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung in NRW zu fordern. ({15}) Meine Damen und Herren von den Grünen, haben Sie sich überhaupt einmal mit dem Landesentwicklungsplan befasst? ({16}) Genau diese zwei Aspekte, nämlich der stärkere Ausbau der Erneuerbaren und der Kraft-Wärme-Kopplung, sind wesentliche Inhalte des neuen Landesentwicklungsplans. ({17}) Mit den Änderungen wird für die räumliche Umsetzung der Energie- und Klimaschutzstrategie des Landes gesorgt. Es wird der räumliche Rahmen für den Ausbau erneuerbarer Energien und für die Kraft-Wärme-Kopplung gesetzt. Diesen Zielen und Maßnahmen sollten Sie eigentlich zustimmen, statt sie zu kritisieren. Natürlich geht es bei den Änderungen am Landesentwicklungsplan auch um die Kraftwerkserneuerung, und zwar deshalb, weil insbesondere ein Industrieland wie Nordrhein-Westfalen auf einen umweltverträglichen, sicheren und bezahlbaren Energiemix angewiesen ist. Eine Voraussetzung dafür sind Kraftwerke. Beim Ausbau eines solchen Energiemixes zeigt sich ökologische, wirtschaftliche und soziale Verantwortung von Politik. Gerade bei den Forderungen in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen, zeigt sich, dass Ihre Politik zumindest auf zwei Augen blind ist. ({18}) Soziale Verantwortung für vertretbare Energiepreise? Fehlanzeige. Verantwortung für den Wirtschaftsstandort und für Arbeitsplätze? - Fehlanzeige. Mit Ihrer Politik des ökologischen Tunnelblicks sind Sie im Bund gescheitert. Sie werden auch in NRW scheitern. ({19}) Der Gleichklang der Energiepolitik von Bund und NRW ist gesichert. Er besteht nicht nur in der Kompatibilität der Ziele, sondern gerade darin, dass sich unsere gemeinsame Energiepolitik nicht auf das Klimaziel allein beschränkt. Unsere gemeinsame Energiepolitik schafft nachhaltige Versorgungssicherheit, ({20}) und sie sichert langfristig günstige Energiepreise. ({21}) Dazu brauchen wir einen breiten Energiemix, und dazu brauchen wir bis auf Weiteres auch moderne, hocheffiziente Kohlekraftwerke. Jeder weiß, dass selbst dann, wenn wir unser sehr anspruchsvolles Ziel, im Jahr 2020 30 Prozent unseres Stroms aus Erneuerbaren zu erzeugen, erreichen, immer noch 70 Prozent des verbleibenden Strombedarfs aus anderen Quellen kommen müssen. Wer heute die Kohleverstromung in hochmodernen Kraftwerken blockiert, der handelt umwelt-, wirtschaftsund sozialpolitisch unverantwortlich. ({22}) Meine Damen und Herren, ja, mit den Änderungen am Landesentwicklungsplan werden auch die Grundlagen für die Kraftwerkserneuerung in NRW gelegt. Gerade das ist für einen erfolgreichen Klimaschutz notwendig; denn das CO2-Reduktionspotenzial des Kraftwerkserneuerungsprogramms ist enorm. Das Kraftwerkserneuerungsprogramm NRW hat ein Minderungspotenzial bis 2020 von 30 Millionen Tonnen. Das sind mehr als 10 Prozent des Gesamtausstoßes in NRW. Das sind die Ziele, die mit der Änderung des Landesentwicklungsplans gesetzt werden. Zum Erreichen dieser Ziele brauchen wir genau solche Kraftwerke wie das, was in Datteln entstehen wird; ({23}) denn Datteln ist Teil des Kraftwerkserneuerungsprogramms. Hier werden drei alte Blöcke mit einem Wirkungsgrad von rund 30 Prozent abgeschaltet und durch das neue hochmoderne Kraftwerk mit einem Wirkungsgrad von über 45 Prozent ersetzt. Datteln wird zudem durch Abwärmenutzung einen noch höheren Nutzungsgrad haben. Allein bei diesem Kraftwerk besteht ein Schadstoffreduktionspotenzial von 20 Prozent. Die Nutzung dieser modernen Kraftwerke ermöglicht es uns, die alten ineffizienten und CO2-intensiven Kraftwerke vom Netz zu nehmen. Damit ist Datteln ein wichtiger Baustein nicht nur für die energetische Basis des Industrielandes NordrheinWestfalen, ({24}) sondern auch für das Erreichen des Klimaschutzziels von NRW, nämlich den CO2-Ausstoß bis 2020 um 33 Prozent zu senken. ({25}) Dies ist ein sehr ambitioniertes Ziel für ein Industrieland; dieses ist aber wiederum ein wichtiger Baustein für das Erreichen unseres nationalen Klimaziels. ({26}) Damit Klimaschutz nicht nur auf dem Papier steht, Frau Höhn, brauchen wir zur Umsetzung die erforderlichen Instrumente und Pläne. Genau deshalb ist der Landesentwicklungsplan geändert worden. Genau deshalb wurden darin auch die Grundlagen für das Kraftwerk Datteln geschaffen: für eine konsistente und verlässliche Klima- und Energiepolitik in NRW als Element für das Erreichen unseres nationalen Klimaziels. Ich sage als nordrhein-westfälische Abgeordnete ganz selbstbewusst: Was für Nordrhein-Westfalen umweltpolitisch und wirtschaftlich gut ist, ist auch für den Bund gut. ({27}) Und Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen sind gut. Wie nicht anders zu erwarten, ist im Antrag der Grünen auch wieder die Forderung nach einem Klimaschutzgesetz enthalten. ({28}) Auch die SPD hat sich inzwischen dieser Forderung angeschlossen. ({29}) - Wenn es andersherum ist, ist es auch egal. - Meine Damen und Herren, wollen Sie wirklich die endlosen, unsäglichen und noch dazu völlig überflüssigen Debatten um ein Klimaschutzgesetz, wie wir es gerade unter RotRot in Berlin erleben, auf der Ebene des Bundes führen? Wollen Sie Debatten zu einem Gesetz, das am Ende genauso inhaltsleer ist wie das, was gerade in Berlin im inzwischen dritten Entwurf verhandelt wird? ({30}) Oder bleiben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, bei dem in Meseberg mit dem Integrierten Energieund Klimaprogramm vereinbarten Vorgehen, einem Vorgehen mit weniger Absichtserklärungen, dafür aber mit konkreten Maßnahmen, bei denen wir sehr genau vorgegeben haben, in welchem Umfang jede dieser Maßnahmen zur CO2-Minderung beizutragen hat? Wir brauchen kein Klimaschutzgesetz. ({31}) Wir werden das in Meseberg beschlossene Energie- und Klimaprogramm weiter planmäßig und zügig umsetzen. ({32}) Wir werden eine Evaluierung und gegebenenfalls auch eine Nachjustierung der Meseberg-Beschlüsse vornehmen, womit sichergestellt wird, dass wir unsere ambitionierten Klimaziele erreichen. Meine Damen und Herren, das energie- und klimapolitische Programm dieser Regierung ist Garant dafür, dass Deutschland seine Klimaziele erreichen wird und auch in Zukunft beim Klimaschutz internationaler Schrittmacher bleibt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({33})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von der SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dött, es tut mir ganz schrecklich leid: Sie haben nicht verstanden, was Kern eines Klimaschutzgesetzes ist. ({0}) Das hat mit einzelnen Maßnahmen gar nichts zu tun, sondern es handelt sich um eine Zielbeschreibung, und es geht um die Frage, wie man das Erreichen dieser Ziele überprüft. Bis jetzt gibt es dazu kein vernünftiges Instrumentarium in Deutschland. Deswegen brauchen wir ein Klimaschutzgesetz analog zu dem, was beispielsweise in Großbritannien gilt. ({1}) Wir stimmen heute über einen Antrag der Grünen ab, dem wir als Sozialdemokraten im Prinzip zustimmen können. Wir werden uns dennoch enthalten, weil er ablehnende Passagen zum Thema Kohle enthält. ({2}) - Ja! - Denn man muss schon die Frage beantworten, wie man den Übergang gestalten will. Wir wollen gemeinsam heraus aus der Atomenergie. Dafür braucht man aber Übergangstechnologien. Das ist aus unserer Sicht die Kohle. Ich will aber gleich hinzufügen: Natürlich kann man darüber streiten, ob neugebaute Kraftwerke letztendlich zu Museen für das untergegangene fossile Zeitalter werden. Aber darum geht es im Kern nicht. Es geht vielmehr darum, ob zusätzlich zu den Kraftwerken, die schon im Bau sind, zukünftig noch weitere Kraftwerke gebaut werden. Ich gehe zurzeit davon aus, dass es aufgrund des Emissionshandels und anderer Rahmenbedingungen zukünftig keinen Neubau weiterer Kraftwerke in Deutschland gibt. Das ist meine Erwartung. Jawohl, diese Debatte hier ist Teil einer Wahlkampfauseinandersetzung, Frau Dött; das finde ich aber auch gar nicht schlimm. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Menschen wissen, worum es in diesem Land eigentlich geht, und es ist notwendig, dass man die Menschen aufklärt, damit sie nicht dem auf den Leim gehen, was manche in der Bundesregierung an schönen Worten von sich geben. Herr Röttgen zum Beispiel hält hier schöne Reden, hat aber am Ende keine Substanz zu bieten. So ist ja die Aufteilung in dieser Bundesregierung und in Ihrer Koalition: Herr Röttgen macht den Philosophen und Schönredner, und Ihre Fraktion und der Finanzminister sagen dann, wo es langgeht. Exemplarisch dafür steht Ihr Kollege Herr Fuchs. Ich glaube, er ist im Moment gar nicht da. Wo ist er? Er wird gleich oder vielleicht beim EEG sicher noch seinen Auftritt haben. Herr Fuchs hat im Februar gesprochen von Subventionsgräbern, womit er die Solarenergie meinte, und von Vogelschredderanlagen, womit er die Windenergie meinte. Das ist anscheinend die Sichtweise Ihrer Regierungsfraktion. Ich weiß nicht, ob Herr Fuchs gut geschlafen hat oder ob er Albträume hatte nach dem, was der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung - nicht des Parlaments, sondern der Bundesregierung - gestern auf den Tisch gelegt hat; man kann es heute überall nachlesen. Ich glaube, Sie sollten Herrn Fuchs die Rede wegnehmen, die er hier gleich möglicherweise halten will. ({3}) Die Bundesregierung legt im Herbst - nach einem Jahr Regierungsverantwortung - ein Energiekonzept vor und veranstaltet in der Zwischenzeit nette Konferenzen auf dem Petersberg. Frau Dött, es gibt in diesem Jahr zwei Konferenzen in Bonn. ({4}) - Ja, gut; dann dürfen Sie den Grünen aber nicht unterstellen, dass sie falsche Dinge in ihren Antrag schreiben. Was in dem Antrag steht, ist genau richtig. Es gab gerade den Petersberger Klimadialog, und es wird die vereinbarte Zwischenkonferenz in Bonn geben. Die Intention dieser Petersberger Konferenz finde ich im Übrigen richtig. Aber es bringt alles nichts, wenn Sie gleichzeitig den Ruf Deutschlands in der internationalen Klimapolitik ruinieren und die nationale Klimaschutzpolitik kaputt machen. Das ganze Elend der Debatte wird deutlich am heutigen Tag. Wir haben heute nicht nur die Debatte zum Klimaschutz, sondern auch die Debatte zum ErneuerbareEnergien-Gesetz und die Debatte zur Atomenergie, bei der Sie keine Brücke bauen, wie man heute in der Zeitung lesen konnte, sondern eine Krücke für RWE und Co. Sie betreiben gnadenlosen Lobbyismus bar jeder Logik, die nur einen positiven Effekt hat, nämlich das Konto von Herrn Großmann und anderen in diesem Land zu füllen. ({5}) Ich lese Ihnen einmal ein Zitat vor, und Sie dürfen raten, wer mir das geschrieben hat: Wir sind in Sorge um unsere Unternehmen und die damit verbundenen Arbeitsplätze. In den letzten Jahren haben wir im Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Politik und der Festlegung auf eine Klimaschutzpolitik unsere Kapazitäten ausgebaut. Diese Verlässlichkeit ist jetzt in Gefahr. Wer war es? Das ist ein Brief der Innung für Sanitär- und Heizungstechnik Castrop-Rauxel/Herne/Wanne-Eickel; das betrifft die Wahlkreise von Gerd Bollmann und mir. Im Übrigen waren die Sozialdemokraten die Einzigen, die auf diesen Brief reagiert haben, wie mir gesagt wurde. Das sind doch vermeintlich diejenigen, für die Sie Politik machen wollen! Das sind diejenigen, die im Bereich von Mittelstand und Handwerk unterwegs sind und denen Sie gerade die wirtschaftliche Basis entziehen, indem Sie es fertigbringen, gleichzeitig die Mittel des Marktanreizprogramms zu sperren und mit dem EEG die Solarbranche in diesem Land zu demontieren. Diese Innung vertritt fast 50 Unternehmen in unseren beiden Wahlkreisen, und diese Unternehmen sind in großer Sorge ob Ihrer Politik, ob der Politik von SchwarzGrün in diesem Land. - Entschuldigung, von SchwarzGelb! ({6}) Ich hoffe, das war kein Vorgriff auf das, was am Sonntag bei der Wahl herauskommt. ({7}) Ich jedenfalls habe andere Ziele. Die Politik von Schwarz-Gelb gefährdet alleine im Kreis Recklinghausen Hunderte von Arbeitsplätzen. Sie sperren 115 Millionen Euro für die Zukunftsbranche, die 100 000 Arbeitsplätze in diesem Land schafft. Gleichzeitig geben Sie den Hoteliers Subventionen in Höhe von 1 Milliarde Euro im Jahr. Wer ist für diesen Abgesang auf eine zukunftsfähige Klima-, Arbeitsmarktund Innovationspolitik in diesem Land verantwortlich? Das ist die Politik von Schwarz-Gelb im Bund und auch in Düsseldorf. Sie treffen die Menschen und die Unternehmen im Ruhrgebiet im Übrigen gleich mehrfach: Sie ruinieren die Zukunft der heimischen Steinkohle - das betrifft allein 30 000 Arbeitsplätze im Ruhrgebiet -, Sie sparen die Kommunen kaputt, machen sie handlungsunfähig und auch unfähig, Aufträge zu vergeben, und jetzt kommt noch Ihre Abbaupolitik im Bereich der Solarenergie und des Marktanreizprogramms hinzu, wodurch Sie weitere Hunderttausende Arbeitsplätze gefährden. Daran ist nichts zukunftsfähig. Ihnen fehlt die Vision. Ihnen fehlt eine Idee davon, wohin es eigentlich gehen soll in diesem Land. Wenn man keine Idee hat, wohin es gehen soll, dann verfängt man sich in Kurzfristlobbyismus, und was Sie damit anrichten, kann man in der Tat - darüber weiß ich einiges, denn daher komme ich - komprimiert in Nordrhein-Westfalen sehen. Eines muss man Ihnen allerdings lassen: Sie sind eine Koalition des perfekten Timings. Mit großer Zielgenauigkeit laufen Sie wirklich in jeden Kuhfladen, den das internationale Parkett der Klimapolitik bereithält: ob es Herr Niebel ist, der kurz vor Kopenhagen die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit mit den Klimaschutzgeldern verrechnet, ({8}) ob es jetzt eine Sperrung von 115 Millionen Euro im Bereich des Marktanreizprogramms parallel zum Petersberger Klimadialog ist oder eben die Politik NordrheinWestfalens parallel zur Klimakonferenz in Kopenhagen. Nordrhein-Westfalen steht dafür, Gesetze gegen die erneuerbaren Energien erlassen zu haben, zum Beispiel im Bereich der Windenergie. Nordrhein-Westfalen steht dafür, dass es im Bereich des Emissionshandels durch besondere Regelungen für die Braunkohle handlungsunfähig gemacht werden sollte, und Nordrhein-Westfalen steht dafür, dass es eine schlampige und arrogante Planung von Eon, aber eben auch der Bezirksregierung gibt. Deswegen haben wir die Probleme in Datteln. Das ist das Problem dieser Landesregierung. ({9}) Jetzt wird ein untauglicher Versuch gestartet, das Ganze dadurch zu reparieren, dass der gesamte Klimaschutz und die gesamte Vorrangstellung für erneuerbare Energien aus dem Landesentwicklungsprogramm gestrichen werden. Deswegen brauchen wir am Sonntag bei der Landtagswahl eine andere Mehrheit, eine rot-grüne Mehrheit, eine Mehrheit, die für erneuerbare Energien eintritt und die im Übrigen auch über den Bundesrat dagegen kämpft, dass die Atomkraftwerke hier in Deutschland länger laufen, und zwar bis zum Jahre 2050. Das geht nur mit Rot-Grün, und deswegen ist die Wahl am Sonntag so wichtig. ({10}) Lassen Sie mich noch einige Sätze zur internationalen Situation sagen. Auch jetzt konnte man wieder lesen: Herr Röttgen läuft herum - ich fasse es gar nicht mehr und sagt, er sei auch dafür, dass wir in der Europäischen Union die Zielvorgaben von 20 auf 30 Prozent verschärfen. Aber immer dann, wenn es konkret wird, wenn die Bundesregierung Farbe bekennen soll, dann ist die Bundesregierung dagegen. Das ist die Politik von Herrn Röttgen, etwas anzukündigen, wobei aber am Ende nichts umgesetzt wird. Damit verspielen Sie Vertrauen. Sie laufen in Petersberg herum und wollen bei Entwicklungsländern Vertrauen schaffen, reden mit denen, aber schaffen es gleichzeitig in den Haushaltsberatungen nicht, das ihnen in Kopenhagen versprochene neue und zusätzliche Geld für den internationalen Klimaschutz, 420 Millionen Euro pro Jahr, zur Verfügung zu stellen. Sie haben am Ende nur 70 Millionen Euro neues Geld, und zwar auf Druck der Opposition, zur Verfügung gestellt. Da, wo ich herkomme, nennt man das eine glatte Lüge: Wenn man 420 Millionen verspricht und am Ende nur 70 Millionen auf den Tisch legt, ist das eine Lüge, und das ist das Gegenteil von vertrauensbildenden Maßnahmen auf internationaler Ebene, wie wir sie jetzt brauchen. ({11}) Abschließend: Sie sind international nicht ambitioniert und halten Ihre Versprechen nicht; das ist so. National minimieren und ruinieren Sie die Klimaschutzpolitik in diesem Land. Sie rasieren die Solarbranche und das Handwerk, lobhudeln aber die Atomwirtschaft. In Nordrhein-Westfalen streichen Sie den Klimaschutz und die erneuerbaren Energien aus der Landesplanung. Mit Schwarz-Gelb ist keine zukunftsfähige Klimaschutzpolitik möglich, nicht hier im Bund und nicht im Land. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Bundesumweltminister nach einem guten halben Jahr bereits nackt im Wind steht und Sie ihn in den nächsten Monaten weiter verhungern lassen werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von der FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, das, was wir jetzt erleben, ist das billigste Wahlkampftheater, das ich hier seit langem erlebt habe. Wenn der Kollege Schwabe sagt, um seine Ziele zu erreichen, müsste man jetzt in NRW RotGrün wählen, ist das doch nichts anderes als Volksverdummung. Sie wissen: Ihre Mehrheit heißt Rot-RotGrün, und da sind die schlimmsten Kommunisten der Linken dabei. ({0}) Die früheren DKP-Kader sind ja noch demokratisch im Gegensatz zu dem, was dort auf der Liste der Linken steht. Das ist die Wahrheit, um die es hier auch geht, meine Damen und Herren. ({1}) Wenn Sie behaupten, wir wollten Herrn Großmann von RWE die Taschen vollmachen, dann stelle ich die Gegenfrage: Wer sind denn in den letzten Jahren die Genossen der Bosse gewesen? Das waren die Sozialdemokraten, die übrigens den Aufsichtsrat von RWE dominieren. ({2}) Wir brauchen also keine Nachhilfe im Klimaschutz. Die FDP engagiert sich für den Klimaschutz. Der Außenminister hat in Petersberg klarer als jemals ein Außenminister zuvor die Brücke zwischen Klimaschutz und Sicherheitspolitik geschlagen. Das 2-Grad-Ziel - der Vizekanzler hat es noch einmal unterstrichen - und die internationalen Klimaschutzmaßnahmen sind die Leitlinie dieser Bundesregierung. Da wird nichts verrechnet. In den letzten Haushalt haben wir 70 Millionen Euro mehr für Klimaschutz in Entwicklungsländern eingestellt. Das ist die Wahrheit, lieber Kollege Schwabe. ({3}) Sie greifen hier vor und sprechen über die Solarstromförderung; das ist einer der nächsten Tagesordnungspunkte. Es wundert mich natürlich nicht, ({4}) dass die Grünen da keinen Kürzungsbedarf sehen. Das ist ja auch nicht notwendig, wenn man eine Wählerschaft hat, die hauptsächlich aus Besserverdienenden besteht. ({5}) Sie haben die am besten verdienende Wählerschaft aller Parteien. Diese muss sich auch keine Gedanken über die Stromrechnung machen. ({6}) Sie wollen Traumrenditen für Anleger und für Hausbesitzer garantieren, was dann auf Kosten der Familien mit vielen Kindern ausgebadet wird. ({7}) Da machen wir nicht mit, Frau Höhn. ({8}) Frau Höhn, wir wollen die Solarenergie ausbauen. ({9}) Wir wollen mehr Fotovoltaik. Deshalb erweitern wir auf Grundlage des Gesetzentwurfes, den wir heute Nachmittag verabschieden werden, den Ausbaukorridor für Fotovoltaik um mehr als die Hälfte im Vergleich zu dem, was der SPD-Umweltminister Gabriel vorgesehen hatte. ({10}) Aber wir wollen nur so viel dafür zahlen, wie die Anlagen auch kosten. Zweistellige Renditen sind nicht okay. Wenn die Modulpreise in wenigen Jahren dramatisch sinken, die Förderung aber nicht so stark, dann muss man nachsteuern. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern schuldig. ({11}) Deshalb sagen wir: Das ist ein fairer Ausgleich bei der Solarstromförderung. Wir werden die Wettbewerbsfähigkeit der Solartechnik erhalten und gleichzeitig die Verbraucher entlasten. ({12}) Die Bundesregierung hat am Montag zusätzlich ein Innovationsprogramm über 100 Millionen Euro für die Solarbranche auf den Weg gebracht. Das Programm nützt - anders als das EEG - nicht auch den chinesiMichael Kauch schen, sondern nur den deutschen Anbietern. Das ist eine Stärkung unseres Standortes. ({13}) Beim Marktanreizprogramm haben wir ein Problem. Aber ich möchte darauf hinweisen - da wundert mich, wie die SPD hier auftritt -, dass es der SPD-Umweltminister Gabriel - er ist jetzt ihr Vorsitzender - war, der das Programm an die Emissionshandelserlöse gekoppelt hat ({14}) mit dem bewussten Risiko, dass diese Erlöse auch einmal niedriger sein können. ({15}) Jetzt sind die Erlöse offensichtlich niedriger. Wir als FDP wollen die Sperre der Mittel für das Marktanreizprogramm aufheben, ({16}) aber wir wollen auch, dass es seriös finanziert wird. Wir, die Umweltpolitiker der FDP, haben einen Finanzierungsvorschlag gemacht, der von unseren Haushältern akzeptiert wird. Das Gleiche erwarten wir jetzt vom Bundesumweltministerium; das müsste jetzt seine Hausaufgaben machen. ({17}) Man kann nicht nur sagen, dass man mehr Geld braucht, sondern man muss auch sagen, wo es herkommen soll. ({18}) Mich wundert auch, dass es bei der SPD Beifall für die Aussage von Frau Höhn gab, dass wir mit der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie der EU zwei Jahre überfällig sind. Damit hat sie recht. Aber wer hat es verbockt? Herr Gabriel. Er hat es nicht auf die Reihe bekommen. ({19}) Wir räumen jetzt Ihren Müll auf und werden die notwendigen Schritte machen. ({20}) Die Opposition sollte aufhören, hier zu argumentieren, wir seien nicht genug für Klimaschutz. Wir sind vielleicht nicht für Ihre ordnungsrechtlich dirigistische Art von Klimaschutz, aber wir machen Klimaschutz, und zwar anders und besser. Denn wir machen ihn mit wirtschaftlichem Verstand. ({21}) Wir wollen für jeden Euro so viel Klimaschutz wie möglich. Deshalb machen wir Klimaschutz mit dem Kopf und nicht mit dem Bauch, auch wenn es vielleicht nicht so populär klingt wie bei Ihnen, Frau Höhn. ({22}) Ich komme zu dem, was hier zu den Kohlekraftwerken gesagt wurde. Das, was Sie hier abliefern, ist ja ein Antrag zu Datteln und nicht zur Schaffung eines Klimaschutzgesetzes. ({23}) Die FDP will langfristig Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien, aber wir werden das nicht von heute auf morgen schaffen. Denn das, was Frau Dött gesagt hat, ist richtig: Wir sind ein Industrieland. Daher brauchen wir eine preisgünstige und verlässliche Versorgung. Trotz aller Freude, die ich an den Erneuerbaren habe, muss ich feststellen, dass wir es heute mit Wind und Sonne alleine nicht schaffen. Wenn man jetzt die Kohlekraftwerke verbieten will - das wollen Sie ja erst für den Neubau und, wie wir aus einem anderen Antrag von Ihnen wissen, ab 2015 de facto auch für den Bestand -, dann ist das nichts anderes als ein Anschlag - ({24}) - Natürlich! Ein Wirkungsgrad von 58 Prozent, den Sie fordern, kommt doch einem Verbot gleich. Sagen Sie doch den Leuten, was Sie wollen, ({25}) und führen Sie sie nicht hinter die Fichte! Es ist doch unredlich, was Sie hier betreiben! ({26}) Meine Damen und Herren, wer den Neubau und den Bestand von Kohlekraftwerken so angreift, wie es die Grünen tun, der will den Industriestandort NordrheinWestfalen niedermachen ({27}) und der wird bewirken, dass die Kohlekraftwerke, die wir heute haben, am Netz bleiben. Dann sind Sie dafür verantwortlich, dass wir in diesem Land mit den Dreckschleudern weitermachen und nicht mit modernen Kraftwerken, wie es die Landesregierung von NordrheinWestfalen will. ({28}) Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will mit ihrem Kraftwerkserneuerungsprogramm die CO2Emissionen drastisch senken. Wenn Sie das nicht wollen, dann sind Sie keine Klimaschutzpartei, sondern eine Partei, die aus ideologischen Gründen versucht, ihre Interessen für einen kurzfristigen Erfolg bei der Wahl durchzusetzen. Wenn die Grünen am Sonntag in die Regierung kommen - Herr Schwabe ist sich ja offensichtlich nicht so sicher, mit wem -, dann muss man sich darüber im Klaren sein, ({29}) dass die Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen so umgestaltet wird, dass es die von Ihnen genannten Klimakiller länger geben wird. Es wird nicht zu einem Abschalten kommen - das werden Sie nicht durchbekommen -, aber Sie werden den Neubau verhindern, und dann bleibt mehr CO2 aus den Kohlekraftwerken. ({30}) Das ist Ihr Plan. Das wird bei einer grünen Regierung rauskommen. ({31}) Ihre Argumente sind schwach. Die Kohlekraftwerke verstopfen nicht das Netz. Wir stehen für den unbegrenzten Einspeisevorrang für erneuerbare Energien. Kohlekraftwerke konkurrieren dann nicht mit Erneuerbaren, sondern mit der Kernkraft. Dann wird der Markt entscheiden, welche Technologien neben den erneuerbaren Energien noch im Markt bleiben. ({32}) Liebe Frau Höhn, auch Ihre Aussage zu den Quoten von Erneuerbaren in dem einen oder anderen Bundesland ist Quatsch; ({33}) denn: Es gibt Bundesländer, wo der Wind weht, zum Beispiel an der Küste. Es gibt Bundesländer, wo der Raps wächst, zum Beispiel in Niedersachsen. ({34}) Und es gibt Bundesländer, wo die Sonne mehr scheint, zum Beispiel in Bayern. Es ist völliger Quatsch, die Bundesländer miteinander zu vergleichen, denn sie haben unterschiedliche Voraussetzungen. ({35}) Auch die Mitgliedstaaten in Europa haben unterschiedliche Vorgaben für die Erneuerbaren, weil die natürlichen Voraussetzungen unterschiedlich sind. ({36}) Der Innovationsminister von Nordrhein-Westfalen ist einer der großen Förderer der erneuerbaren Energien. ({37}) Wir als schwarz-gelbe Landesregierung haben es mit der Forschungsanstalt in Jülich geschafft, bei den Solarturmkraftwerken vorne zu sein. Wir bringen die Technologie aus Nordrhein-Westfalen in die afrikanische Wüste, um das Desertec-Projekt zu realisieren. Das ist an dieser Stelle unser Beitrag als schwarz-gelbe Regierung für Nordrhein-Westfalen. ({38}) Da können Sie noch so viel zetern, wie Sie wollen. ({39}) Nordrhein-Westfalen war gerade im Innovationsbereich noch nie so stark wie zur jetzigen schwarz-gelben Regierungszeit in Nordrhein-Westfalen. ({40}) Meine Damen und Herren, abschließend noch einige Worte zum Antrag der Linken: Wir als FDP werden ein Klimaschutzgesetz im Zusammenhang mit der Überprüfung der Meseberger Beschlüsse sehr ernsthaft prüfen. ({41}) Wir machen aber kein Placebo-Gesetz. Ihr Antrag strotzt doch vor Vorschlägen, wie man Klimaschutz möglichst teuer macht: kein CDM, keine Anrechnung von Waldprojekten und das Ganze mit möglichst wenig Emissionshandel. Sie wollen Ideologie und nicht möglichst viel Klimaschutz für jeden Euro. ({42})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu Großbritannien sind in Deutschland die nationalen Klimaschutzziele eben nicht gesetzlich verankert, sondern werden von den Regierungen nur verkündet. Darum fordern wir die Bundesregierung in unserem Antrag auf, ein Klimaschutzgesetz vorzulegen. Angesichts der Reden der Koalition merke ich, wie notwendig das ist. ({0}) Wir halten ein solches Gesetz für überfällig, denn in Deutschland besteht momentan das Problem, dass die Klimaschutzziele von der Regierung ohne Mitwirkung des Parlaments geändert werden können. Zudem bleiben Abweichungen folgenlos, wie das Beispiel der weit verfehlten Selbstverpflichtung - darum sind Selbstverpflichtungen so schädlich - in Deutschland zeigt, den CO2-Ausstoß bis 2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent zu mindern. Beim Langfristziel sollten wir uns einig sein; denn darüber herrschte in diesem Hause schon seit langem Konsens. Mindestens 90 Prozent der Treibhausgase sollten bis 2050 gegenüber 1990 eingespart werden. Das ist auch notwendig, um den Klimawandel in beherrschbare Bahnen zu lenken. Bei den Zielen bis 2020 halten wir allerdings nicht nur eine Minderung um 40 Prozent für erforderlich, sondern eine Halbierung. ({1}) Der Grund: Die Treibhausgasemissionen Deutschlands lagen laut Umweltbundesamt im Jahr 2009 infolge der Wirtschaftskrise um 8,4 Prozent unter denen von 2008. Der Rückgang gegenüber 1990 wird vom Umweltbundesamt mit 29 Prozent angegeben. Aus Sicht des Klimaschutzes erleichtert es uns diese Entwicklung, die nationalen Ziele auf ein ambitioniertes Niveau anzuheben, ein Ziel, welches den klimapolitischen Forderungen an die Bundesrepublik und ihrer stets betonten Vorreiterrolle gerecht wird. Das sind unseres Erachtens 50 Prozent. Sie sind zu schaffen. ({2}) Weil wir gerade bei den Zielen sind: Ich freue mich, dass der Umweltminister am Wochenende auf dem Petersberg für ein bedingungsloses 30-Prozent-Ziel der Europäischen Union geworben hat. Aber ich habe leider das Gefühl, dies findet in der Bundesregierung keinen Konsens. Wenn es ernst wird, hat Deutschland im Rat immer für die 20-Prozent-Position gestimmt. Auf 30 Prozent soll schließlich erst nach einem internationalen Klimaabkommen aufgestockt werden. Das liegt leider noch in weiter Ferne. Dabei wäre die Minderung von 30 Prozent nicht nur zu schaffen, sondern auch kaum teurer, als es das Erreichen der 20-Prozent-Zielmarke vor der Wirtschaftskrise war. Das sagt die EU-Kommission und spricht von „relativ niedrigen Zusatzkosten“. Kein Wunder, denn die Emissionen sind in ganz Europa krisenbedingt rückläufig. Dass Deutschland auch aus eigener Kraft den Umbau des Energiesystems schaffen kann, zeigte das Expertengremium der Bundesregierung am Mittwoch dieser Woche auf. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen macht klar: Der Umbau zu einer Vollversorgung mit regenerativen Energien ist machbar und könnte bis 2050 in jeder Stunde zuverlässig grünen Strom liefern. ({3}) Er ist mit rund 7 Cent je Kilowattstunde Gestehungskosten auch bezahlbar, Herr Kauch. Sie sagen immer, dass grüner Strom sehr viel kostet. Zweifeln Sie doch nicht an den Aussagen Ihres Gremiums. Zudem bescheinigen die eigenen Experten der Bundesregierung Politikversagen; denn diese macht genau das Gegenteil von dem, was notwendig wäre, um zügig zu einer Vollversorgung mit regenerativen Energien zu kommen. Was sagen die Experten jetzt? Keine Laufzeitverlängerung von AKW! Keine neuen Kohlemeiler mit CCS! CCS ist die Verpressung von CO2 unter dem Boden; das sage ich für diejenigen, die diesen Ausdruck noch nicht kennen. All das wird für den Weg in die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien überhaupt nicht gebraucht, so sagt das Gremium, nicht irgendjemand. Das ist der Kern des Gutachtens. Das ist seit langem der Standpunkt auch meiner Fraktion, der Linken. ({4}) Die Sachverständigen sagen weiter, das alles sei nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, denn die Sauriertechnologien sind mit einem vorrangig auf Wind und Sonne ausgerichteten Energiesystem inkompatibel. Natürlich: Die erneuerbaren Energien brauchen noch lange konventionelle Kraftwerke neben sich, aber aufgrund ihrer naturgemäß schwankenden Einspeisung brauchen sie ein flexibles Kraftwerkssystem neben sich, ein System mit Anlagen, die schnell hoch- und heruntergefahren werden können. Technisch und ökonomisch kommen dafür allenfalls Gaskraftwerke infrage, aber niemals Grundlastkraftwerke wie Kohle- und Atommeiler. ({5}) Durch die teure Technologie zur Abscheidung und unterirdischen Verklappung von Kohlendioxid würde das überkommene Energiesystem nicht nur verfestigt, sie wäre in jedem neuen Kohlekraftwerk, in dem sie eingesetzt würde, auch ökonomisch eine Fehlinvestition. ({6}) Die Kraftwerke müssten - etwa bei starkem Wind oft still stehen. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Das sagen Wissenschaftler, und das müssen Sie von der CSU auch einmal akzeptieren, auch wenn Sie eine andere Meinung haben. ({7}) Die Bundesregierung sollte die Warnungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen - das ist im Übrigen Ihrer und nicht der von den Linken - ernst nehmen. ({8}) Mit ihrer Fixierung auf Laufzeitverlängerung, Kohle und CCS bahnt sie Rahmenbedingungen an, die zu einer kostspieligen Unterauslastung konventioneller Kapazitäten führen. Dadurch wird der Übergang zu Vollversorgung mit regenerativen Energien aber verteuert. Mit dieser Politik wird wieder einmal Volksvermögen verschleudert. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hat die Bundesregierung ja drei Gutachten zum Energiekonzept in Auftrag gegeben, und wir sind auf die Ergebnisse gespannt. Obwohl - das ist die Frage -: Sind wir das wirklich? - Wir wissen ja, dass bei einem solchen Gutachten in der Regel das hinten herauskommt, was man vorne hineingesteckt hat. Was wurde denn da hineingesteckt? - Laut einem Papier des Bundeswirtschaftsministeriums ist es eben nicht das Ziel, zu untersuchen, welche konventionellen Energien wir abnehmend eigentlich noch brauchen, um das rasante Wachstum im Bereich der erneuerbaren Energien zu begleiten. Nein, es ist genau umgekehrt: Längere AKW-Laufzeiten von 4, 12, 20 und 28 Jahren wurden fix gesetzt. Die Zukunftsenergien wurden dagegen lediglich als variable Restgröße definiert, die sich als Ergebnis der Laufzeitverlängerung dann halt so ergibt. Wenn das eine unabhängige Expertise sein soll, dann gute Nacht! ({10}) Noch ein Wort zur internationalen Dimension des Klimaschutzes und damit auch zurück zum Klimaschutzgesetz: Die Linke fordert in einem solchen Gesetz auch Eckpunkte für langfristige Finanztransfers in Entwicklungsländer für Klimaschutz und Anpassung. Dies und Technologietransfers waren ja auch auf dem Petersberg ein Schwerpunktthema. Allerdings hat Herr Röttgen die Gelder, die bereits in anderen Zusammenhängen zugesagt wurden, hier schon wieder neu verpackt. Das lief in den Haushaltsberatungen kürzlich ja ähnlich. Schließlich will die Bundesregierung von den in Kopenhagen zugesagten 420 Millionen Euro jährlich jene 70 Millionen Euro anrechnen lassen, die sie schon auf der CBD-Konferenz 2008 für den internationalen Waldschutz versprochen hatte. Wir fordern, dass die Entwicklungsländer durch mehr deutsche Finanzhilfen unterstützt werden, und zwar bei der Umsetzung der Strategien zu einer emissionsarmen Entwicklung und zur Anpassung an den Klimawandel. Geld ist da! Unterstützen Sie nicht nur die Banken, sondern gehen Sie dort ein Stück zurück. Holen Sie die Soldaten aus Afghanistan, dann haben wir endlich auch Geld für den Klimaschutz. ({11}) Wir wollen frisches Geld und keine recycelten Versprechen. - So weit zu unserem Antrag. Der Antrag der Grünen zum Klimaschutz in Bund und Ländern, der heute zur Debatte steht, gehört natürlich zum Wahlkampf. Ich finde das auch richtig; wir verstehen das Anliegen. Der Rückstand beim Klimaschutz ist in Nordrhein-Westfalen ja tatsächlich enorm. Beim Anteil am Ökostrom liegt das Land mit 6 Prozent dramatisch unter dem Bundesdurchschnitt von 16 Prozent. In meinem Heimatland Bayern ist das ja ähnlich. Im Osten und im Norden sind die Länder, die die Lasten beim Ausbau erneuerbarer Energien schleppen bzw., besser gesagt, die Chance ergreifen; denn hier und leider eben nicht an Ruhr und Rhein entstehen zukunftsfähige Arbeitsplätze im Energiebereich. Wir wollen dort aber diese Arbeitsplätze haben. ({12}) Die Lex Eon, die Herr Rüttgers beschließen ließ, ist ein Skandal, und zwar nicht nur klimapolitisch, weil damit ein fossiles Kraftwerk in Datteln durchgeboxt werden soll, das nach der alten Gesetzgebung gar nicht mehr möglich gewesen wäre. So hat das Oberverwaltungsgericht Münster einen Baustopp für das Kohlekraftwerk verhängt. Es ist auch aus demokratischer Sicht unverschämt, wenn eine fortschrittliche Umweltgesetzgebung genau dann kassiert wird, wenn es ernst wird, und das nur, um einen Großkonzern zu befriedigen. Ich habe schon verstanden, warum Herr Kauch vorhin so wütend war. ({13}) Natürlich will die Linke eine konsequente Politik für Nordrhein-Westfalen: Wir wollen die Macht der Konzerne brechen. Es ist einfach lachhaft, wenn Sie sich hinstellen und so tun, als ginge es Ihnen um die Armen, die nicht noch mehr Geld für Energie bezahlen können. Was ist denn mit Hartz IV? Was macht denn Ihre Partei da? Wo entstehen denn zusätzliche Kosten für Energie? Wo schöpfen Sie denn die Windfall-Profite ab? Was ist mit den Zertifikaten, die zwar nach wie vor den großen Konzernen geschenkt, aber dennoch bei den Stromkosten eingepreist werden? ({14}) Sie sind eben nicht bereit, hier Maßnahmen zu ergreifen. Man sollte den Wählerinnen und Wählern im Hinblick auf die Konzerne sagen: Wenn ein abgeschriebenes AKW einen Tag länger läuft, bringt das dem Konzern 1 Million Euro Profit. Ich denke, wir brauchen diese Gelder für regenerative Energien, für den sozialökologischen Umbau. Das ist dringend notwendig. In diesem Sinne: Danke. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gebhart. ({0})

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kein Zufall, dass drei Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen auf Antrag der Grünen hier im Bundestag eine Debatte zu einem eigentlich landespolitischen Thema stattfindet. Das ist leicht durchschaubar. ({0}) Es ist der Versuch, hier Landtagswahlkampf zu betreiben. Um der Sache einen bundespolitischen Bezug zu geben, verbinden Sie das Ganze mit der Forderung nach einem nationalen Klimaschutzgesetz. Ich will gern auf diesen Punkt eingehen. Die Forderung nach einem Klimaschutzgesetz - das gebe ich ernsthaft zu - klingt zunächst gut; aber ich frage mich - dazu schweigt Ihr Antrag -, was der Inhalt dieses Gesetzes sein soll und worin sein Mehrwert bestehen soll. ({1}) Ich bin der Meinung: Wenn man das hier vorbringt, müsste man dazu ein paar Sätze sagen. ({2}) Es ist nicht so, dass wir im Bereich des Klimaschutzes untätig wären. Im Gegenteil: Diese Koalition steht für ambitionierten Klimaschutz in diesem Land. Wir wollen die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent reduzieren. Deutschland ist Vorreiter in Sachen Klimaschutzpolitik. Dabei soll es bleiben. ({3}) Dabei haben wir ein klares Leitbild: Wir wollen eine nachhaltige Politik betreiben, die über den Tag hinausgeht. Wir wollen Umwelt, Wirtschaft und soziale Aspekte in Einklang bringen. ({4}) Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen. Zugleich birgt sie eine große Chance für die nächsten Jahre in diesem Land; denn ich bin absolut davon überzeugt: Je effizienter wir künftig mit knappen Ressourcen umgehen, je besser wir es schaffen, uns immer wieder als Spitzenreiter bei sauberen, umweltfreundlichen Technologien zu behaupten, ({5}) desto besser sichern und schaffen wir die Arbeitsplätze von morgen. ({6}) Deutschland ist auf dem Weg. ({7}) Mit integrierten Energie- und Klimaprogrammen wurden wichtige Punkte in Angriff genommen. Viele Maßnahmen greifen. Nicht nur der Staat ist aktiv; viele Unternehmen, viele einzelne Bürgerinnen und Bürger in diesem Land leisten enorm viel. Wir bleiben nicht stehen; wir gehen weiter. ({8}) Die Maßnahmen des Energieprogramms werden überprüft. Im Herbst dieses Jahres wird hier ein Energiekonzept vorgelegt. Auch hier gilt: Unser Leitbild - das, was unsere Politik trägt - ist das Prinzip der Nachhaltigkeit. ({9}) Wir wollen eine Energieversorgung, die auf der einen Seite sicher und verlässlich ist - das ist wichtig -, die auf der anderen Seite aber auch unter ökologischen Gesichtspunkten vernünftig gestaltet wird. Es ist wichtig, dass die Preise für die Verbraucher und für die Industrie am Ende bezahlbar bleiben. Das Ganze muss sich auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in einem vernünftigen Rahmen bewegen. ({10}) Lassen Sie mich vier Punkte ansprechen, die in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig sind. Erstens. Es wird in diesem Hause wahrscheinlich einen breiten Konsens darüber geben, dass wir zunächst verstärkt auf Energieeffizienz setzen; denn die Potenziale sind groß. ({11}) Zweitens. Wir setzen vor allem auf Forschung und Entwicklung. Ich nenne als Beispiel die Speichertechnologien, die immer wichtiger werden, wenn wir den Bereich der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen, und das wollen wir. Forschung und Entwicklung sind der Schlüssel zur Lösung der Probleme. Deswegen diskutieren wir die Themen Umwelt und Klimaschutz nicht rückwärts gewandt, sondern nach vorne gerichtet. Wir begreifen das als eine Chance für die Modernisierung unseres Landes. ({12}) Mein dritter Punkt hängt eng mit den ersten beiden zusammen. Wir wollen die Entwicklung im Bereich der erneuerbaren Energien massiv voranbringen. Wir wollen den Anteil der erneuerbaren Energien Schritt für Schritt ausbauen, und ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Dazu gehört auch der Ausbau der Solarenergie. Es ist absolut kein Widerspruch, wenn wir die Solarstromvergütung anpassen. Der Punkt ist schlicht und ergreifend der, dass die Preise für Solaranlagen deutlich gesunken sind, was gut ist. Deswegen passen wir die Vergütung an. Das ist richtig; denn jeder einzelne Verbraucher zahlt die Vergütung über die Stromrechnung mit. Nicht zu handeln wäre völlig unverantwortlich. ({13}) Viertens. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, wenn wir die Kernkraftwerke abschalten und sie durch Energieimporte oder durch zusätzliche Kohlekraftwerke ersetzen. Die SPD will das aber. Ihr Parteivorsitzender hat das immer wieder gesagt. Wir würden aber, wenn wir diesen Schritt gingen, die Klimaschutzziele nicht erreichen. Deswegen hat für uns die Kernkraft eine Brückenfunktion hin zu den erneuerbaren Energien. ({14}) Wir wollen die Kernkraft durch erneuerbare Energien ersetzen. Das macht Sinn. Klar ist auch: Sicherheit hat immer absolute Priorität. Wenn wir es schaffen, die aus der Laufzeitverlängerung resultierenden Zusatzerlöse zu nutzen, ({15}) um sie in die Erforschung erneuerbarer Energien zu stecken, dann können wir den Weg hin zu den erneuerbaren Energien am Ende noch schneller gehen. Ich glaube, das macht Sinn. Es ist insgesamt ein vernünftiger Weg. ({16}) Ich bringe es auf den Punkt: Der von Ihnen eingebrachte Antrag, der Anlass der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag ist, ist reines Wahlkampfgetöse kurz vor der NRW-Wahl. Mehr ist es nicht. Meine Antwort darauf ist: Diese Koalition steht für eine nachhaltige Politik, auch für eine nachhaltige Energiepolitik, die verantwortbar ist. ({17}) Das ist unser Grundsatz. Daran werden wir in den nächsten Jahren festhalten. Danke schön. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulrich Kelber hat das Wort für die Fraktion der SPD. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Töpfer, Merkel, Trittin, Gabriel - vier deutsche Umweltminister in Folge haben sowohl national als auch international etwas beim Klimaschutz bewegt, und manchmal durchaus auch gegen Widerstände aus dem eigenen Kabinett. Nach 190 Tagen, also nach etwas mehr als einem halben Jahr, ist es gerechtfertigt, eine Zwischenbilanz der Tätigkeiten des aktuellen Bundesumweltministers zu ziehen: Dafür, dass es international schwieriger geworden ist, Fortschritte im Klimaschutz zu erreichen, trägt der Bundesumweltminister nicht die Verantwortung. Aber dafür, dass Deutschland beim Klimaschutz zurückfällt, dass wir von einem international geschätzten Partner nördlicher und südlicher Staaten zum unglaubwürdigen und unzuverlässigen Kantonisten geworden sind, trägt er, der auf den Konferenzen verhandelt hat, alleine die Verantwortung. ({0}) Kopenhagen war das Debüt von Norbert Röttgen. Er hat in der Woche zuvor hier im Bundestag zugelassen, dass Deutschland zum ersten Mal in der Zeit, in der wir über Klimaschutz debattieren, die Position eingenommen hat, dass die Mittel für den Klimaschutz mit den zugesagten Mitteln für die Armutsbekämpfung zu verrechnen sind. Es war doch kein Zufall, dass die Länder des Südens diesen Zusagebruch der Kanzlerin bemerkt haben, die noch wenige Monate zuvor etwas anderes versprochen hatte. Deutschland hat zum ersten Mal in der Zeit von Klimakonferenzen die Negativauszeichnung Fossil of the Day bekommen. Ich habe mich an diesem Tag geschämt. Ich hoffe, dass das nie wieder vorkommt. ({1}) Dann kam die Kopenhagen-Konferenz mit all ihren nicht zufriedenstellenden Ergebnissen. Deutschland hat auf der Kopenhagen-Konferenz die Zusage gegeben, jährlich zusätzlich 420 Millionen Euro für den Klimaschutz vor allem in Projekten mit den Entwicklungsländern bereitzustellen. Der Haushaltsentwurf, den die schwarz-gelbe Regierung wenige Wochen später in den Bundestag eingebracht hat, sah zunächst null Euro vor, also nicht 420 Millionen Euro, sondern null. Es ging nur um Umetikettierungen von Programmen. Auf Druck der Opposition wurden dann im Haushaltsausschuss wenigstens 70 Millionen Euro eingestellt, also ein Sechstel der zugesagten Summe. Mit dieser Hypothek wird Deutschland in die Konferenz in Bonn Ende dieses Monats gehen, Frau Dött. Das ist die eigentliche Konferenz; Sie haben die Wahlkampfkonferenz „Klimadialog“ damit verwechselt. Die Länder des Südens wissen nun: Die erste Zusage wurde gebrochen. Dann gab es in Kopenhagen eine neue Zusage. Diese wurde wenige Wochen später wieder gebrochen. - So werden wir kein Partner sein. Sie leugnen das bisher im Bundestag. Zum Glück ist der Bundesumweltminister ehrlicher als die Fraktion. Er hat in einem Interview gesagt: Jawohl, in den 1,2 Milliarden Euro sind die 500 Millionen Euro, die wir auf der Biodiversitätskonferenz zugesagt haben, schon eingerechnet. - Das heißt, er gibt zu, dass diese Mittel nicht zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Dann gab es den Klimadialog auf dem Petersberg. Das habe ich zuerst gut gefunden; denn das ist die gemeinsame Heimat von Norbert Röttgen und mir. Ich fand auch das dort vorgeschlagene Prinzip gut. Es hat unsere Unterstützung gehabt. Auch hier hatten Ort und Zeitpunkt natürlich überhaupt nichts mit dem Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen zu tun. Das war sicherlich reiner Zufall, genauso wie heute, wo über Themen aus NRW gesprochen wird. Aber wie kann man so wahnsinnig sein, Umweltminister aus 45 Ländern unter dem Motto „Jetzt handeln statt nur verhandeln“ einzuladen und gleichzeitig an den drei Konferenztagen wichtige Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland - zum Teil rückwirkend - zu stoppen? Das heißt, Menschen, die sich bei Miniblockheizkraftwerken und Pelletheizungen auf zugesagte Zuschüsse verlassen haben, erfahren nachträglich, dass nun nicht mehr gefördert wird. Dieser Vertrauensverlust, der bei den Investitionen ausgelöst wird, wird noch viele Monate und Jahre nachwirken. Zu Recht hat das Handwerk Schwarz-Gelb den Kopf gewaschen. Allein hier sind mehrere Zehntausende Arbeitsplätze bedroht. Wenn Sie Mitte des Sommers das Wärmedämmungsprogramm auslaufen lassen, sind weiUlrich Kelber tere Arbeitsplätze gefährdet. Auf der Website des Umweltministeriums steht, dass das Wärmedämmungsprogramm 290 000 Arbeitsplätze sichert. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn das Wärmedämmungsprogramm gestoppt wird, Herr Kauch, dann sind 290 000 Arbeitsplätze gefährdet. So viel zu Ihrer Propaganda. Man muss einfach nur nachrechnen. ({2}) Die Meldungen über das umweltpolitische Verhalten Deutschlands mögen durch die Debatte über Griechenland verdeckt worden sein. Aber Sie können sicher sein: Die Unterhändler der anderen Staaten bekommen ganz genau mit, was wir machen. Wenn wir fordernd auftreten und von ihnen verlangen, zu handeln, dann wird man uns die Rechnung präsentieren und darauf verweisen, dass das umweltpolitische Engagement der Deutschen abnimmt. Herr Gebhart hat gerade gesagt, Deutschland werde die Energieeffizienz steigern. Auch hier werden wir genau beobachtet. Das Technologieführerland Deutschland einigt sich unter Schwarz-Gelb darauf, bei der Energieeffizienz nicht mehr zu machen, als der Minimalkonsens auf europäischer Ebene vorsieht, nämlich eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Das heißt, das Technologieführerland Deutschland mit seinen Spitzentechnologien will bei der Energieeffizienz nur so viel machen, wie sich das ärmste Beitrittsland in der Europäischen Union leisten möchte. Mehr machen Sie nicht. Wie wollen wir damit die Technologieführerschaft auf Märkten behalten, in die unsere Konkurrenten aus Korea, China, Japan, Brasilien und den USA Geld stecken und auf denen sie Umweltpolitik vor Ort machen? In Europa verhandeln bis heute die Beamten der Bundesregierung dagegen, ambitionierte Energieeffizienzziele in die neuen europäischen Verträge aufzunehmen. Deutschland ist doch der Bremser. Sprechen Sie einmal mit den Delegationen aus anderen Ländern. Die wundern sich darüber, dass die Deutschen, die ihnen früher immer gesagt haben: „Wir müssen uns hohe Ziele setzen, damit wir auch wirtschaftlich weiterkommen“, jetzt auf einmal dagegen sind und sagen: Wir wollen nichts Derartiges in die Verträge aufnehmen. - Wir gelten bereits als unzuverlässig. Es ist wichtig, dass der Umweltminister beim Klimaschutz allmählich in die Spur kommt; ansonsten ist er den Schuhen seiner vier Vorgängerinnen und Vorgänger nicht gewachsen. In einem der Anträge ist die Forderung nach einem Klimaschutzgesetz enthalten. Deutschland hat in der Tat lange das Schritttempo vorgegeben. Derzeit leben wir aber von den früher ergriffenen Maßnahmen. Wir brauchen wieder mehr Tempo. Wir brauchen mehr Verlässlichkeit. Wir brauchen mehr Planungssicherheit. Vor allem aber brauchen wir verbindliche Zielmarken und klar definierte Zwischenziele auf dem Weg dorthin. Deshalb ist die Sozialdemokratie für ein nationales Klimaschutzgesetz mit klaren Eckpunkten: minus 40 Prozent Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020, minus 80 bis minus 95 Prozent bis 2050. Das nationale Klimaschutzgesetz soll Regierung und Parlament zwingen, diese Ziele immer wieder zu überprüfen und nachzusteuern, wenn man nicht auf dem richtigen Weg ist. Wir brauchen einen Anreiz für Forschung und Innovationen. Wir haben, anders als Linke und Grüne, heute keinen Antrag zu einem Klimaschutzgesetz eingebracht, weil wir uns für einen mühsameren, aus meiner Sicht aber zielführenderen Weg entschieden haben. Bärbel Höhn, wir haben bereits vor einigen Wochen mit breiter Beteiligung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Verbänden und Unternehmen eine Initiative gestartet. Wir haben einen Fragenkatalog zu einem nationalen Klimaschutzgesetz verschickt und einen superguten Rücklauf - hochinteressant. In der nächsten Sitzungswoche haben wir eine große Anhörung, bei der wir die Anregungen aufnehmen werden. Danach kommen wir auf Basis dieser breiten Beteiligung mit einem gesellschaftlich breit unterstützten Vorschlag hier ins Plenum. Schwarz-Gelb wird sich wundern, wen man alles auf der Liste der Unterstützerinnen und Unterstützer eines nationalen Klimaschutzgesetzes wiederfinden wird. Das sind nicht nur die üblichen Verdächtigen, die bei Ihnen in eine Schublade gehören. Das sind auch Partner, die Sie als Ihre Klientel ansehen. Leider nicht ganz so öffentlich wird das Umweltministerium das unterstützen. Ich finde es schon interessant, dass Sie, Frau Dött, als umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion sagen: „Mit uns gibt es kein nationales Klimaschutzgesetz“, während Herr Kauch als Sprecher der FDP sagt: „Wir werden prüfen“ und im Umweltministerium - Frau Reiche, als Parlamentarische Staatssekretärin können Sie das wahrscheinlich bestätigen - bereits die Eckpunkte eines nationalen Klimaschutzgesetzes geprüft werden. Herr Kauch, ich glaube, Sie müssen mit Ihrem Koalitionspartner und Ihrem Minister reden. Aber bitte ein bisschen ruhiger als vorhin in Ihrer Rede; jeder Psychologe hätte sie als Angstrede interpretiert. ({3}) Es wundert mich allerdings nicht, dass Sie hier NRWWahlkampf machen: 15 Prozent noch bei der Bundestagswahl; heute käme die FDP nach einer Umfrage auf nur noch 6 Prozent. Das ist schon eine Größenordnung, die einem Angst machen kann; das gebe ich zu. ({4}) Natürlich ist NRW ein Punkt, der heute ansteht, und zwar wegen der Tatsache, dass das größte Bundesland der Bundesrepublik Deutschland - als Bonner Abgeordneter komme auch ich aus Nordrhein-Westfalen -, während die Kopenhagen-Konferenz lief, auf einmal den Klimaschutz aus der Landesgesetzgebung gestrichen hat. Glauben Sie, das hat in Kopenhagen keiner mitbekommen? Nordrhein-Westfalen war unter sozialdemokratischen Regierungen Energieland Nummer eins, und zwar nicht nur in Sachen Stromproduktion, sondern auch in Sachen Technologie. Unter Johannes Rau hat Nordrhein-Westfalen mit dem REN-Programm als erstes Bundesland auf erneuerbare Energien gesetzt, das Wuppertal-Institut und die Landesenergieagentur gegründet und mit Unterstützung des Landes gegen die Strompreis3844 aufsicht die kostengerechte Vergütung in Aachen und Bonn eingeführt; das war der kommunale Vorläufer des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Jetzt haben wir fünf Jahre Schwarz-Gelb. Jetzt steht NRW auf Platz zwölf bei den erneuerbaren Energien; wir waren noch vor wenigen Jahren auf Platz eins. Wir haben keinen starken Heimatmarkt mehr, weil wir die neuen Windanlagen nicht aufstellen dürfen, weil Sie Höhenbeschränkungen eingeführt haben. Was glauben Sie: Wie lange halten wir unsere starke Zulieferindustrie in Nordrhein-Westfalen, wenn es keinen Heimatmarkt mehr gibt? Die werden ihre neuen Fabriken doch nicht da bauen, wo man ihnen verbietet, ihre Produkte einzusetzen, sondern sie werden dahin gehen, wo sie mit offenen Armen empfangen werden. ({5}) Die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, die Sie anstreben, wird Nordrhein-Westfalen doppelt und dreifach schaden. Wir haben zwar keine Atomkraftwerke; aber in Nordrhein-Westfalen wird nicht mehr investiert, und da auch anderswo nicht investiert wird, werden die nordrhein-westfälischen Technologien nicht abgefragt werden. Wenn Sie mir das nicht glauben, bitte ich Sie, wenigstens den folgenden drei Männern zu glauben: Der Erste ist Herr Dr. Böge, ehemaliger Präsident des Bundeskartellamts. Gestern hat er auf einem Parlamentarischen Abend vor der Laufzeitverlängerung aus Sicht Nordrhein-Westfalens und der Stadtwerke gewarnt. Der Zweite ist Herr Mundt, der aktuelle Präsident des Bundeskartellamts. Auch er warnt vor einer Laufzeitverlängerung. Dann haben wir noch Herrn Dr. Heitzer, der bis Oktober Präsident des Bundeskartellamts war; jetzt ist er beamteter Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Er warnt ebenfalls vor einer Laufzeitverlängerung. - Wenn Sie der Opposition nicht glauben, wenn Sie der Wissenschaft nicht glauben, wenn Sie den Stadtwerken nicht glauben und wenn Sie den Vertretern des Bereichs der erneuerbaren Energien nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens Ihrem eigenen Staatssekretär, dass Ihre Politik in eine Sackgasse führt. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Jürgen Trittin hat gestern nach der Regierungserklärung sehr viel Kritik geübt. Einer seiner Hauptkritikpunkte war, der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen sei hier in Berlin offenbar wichtiger als die Sache selbst. Mit Blick auf die heutige Debatte und den Antrag der Grünen kann man nur sagen: Er hat offenbar seine eigenen Absichten auf andere projiziert. Ihnen geht es ausschließlich um das Kraftwerk Datteln 4; Ihr ganzer Antrag ist darauf zugeschnitten. Das ist allerdings eine landesplanungsrechtliche Frage. Was Sie hier betreiben, ist der Missbrauch der bundespolitischen Bühne für den Wahlkampf in NordrheinWestfalen. ({0}) Dazu kann man nur einen Satz sagen - er gehört eigentlich in Ihr Parteiprogramm -: Mit dem Finger erst auf andere zeigen und es selber dann noch bunter treiben. So machen Sie Politik. ({1}) In der Sache trifft keine der Begründungen, die wir in Ihrem Antrag lesen können, zu. Das gilt insbesondere für das klimapolitische Argument. Denn die christlich-liberale Landesregierung in Nordrhein-Westfalen betreibt aktiven Klimaschutz. ({2}) Datteln 4 ist Teil eines landesweiten Kraftwerkserneuerungsprogramms. ({3}) Das Ziel dieses Programms lautet wie folgt: Bis 2020 soll der CO2-Ausstoß um 33 Prozent gesenkt werden. ({4}) Alte Kraftwerke mit hohen Emissionen und niedrigem Wirkungsgrad sollen vom Netz, und moderne Kraftwerke mit hohem Wirkungsgrad und niedrigen Emissionen sollen ans Netz. ({5}) Die alten Dreckschleudern sollen weg. Mit der Politik, die Sie vorschlagen, erweisen Sie dem Klimaschutz einen Bärendienst, wenn Sie diese Hightechtechnologie verhindern. ({6}) Im Übrigen schaden Sie auch meiner Heimat: nicht nur Nordrhein-Westfalen, sondern auch der EmscherLippe-Region, wo das Kraftwerk Datteln 4 steht. Wir brauchen für den Strukturwandel Hightechprojekte, ({7}) wir brauchen solche Leuchtturmprojekte, und wir brauchen bezahlbare Energie. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber dagegen wehren Sie sich. ({8}) Was Sie machen, konnte man im Spiegel von dieser Woche nachlesen. Im Spiegel, der nicht gerade eine liberale Postille ist, war zu lesen: Die Grünen haben Datteln intern zu einer strategischen Frage erkoren. … Wenn sie ein so großes Kraftwerk kurz vor der Fertigstellung erledigen können, so ihr Kalkül, würden Investoren in Deutschland vom Bau ähnlicher Kraftwerke abgeschreckt. ({9}) Darum geht es Ihnen: Sie wollen Investoren gezielt verschrecken. Das ist die Absicht hinter Ihrem Antrag. Das schadet uns. ({10}) Auch Ihr rechtliches Argument verfängt nicht. Sie behaupten, es sei ungewöhnlich, das Planungsrecht anzupassen, wenn es einem politisch gewünschten Projekt entgegensteht. Dass das nicht stimmt, wissen Sie. Planungsrecht ist nämlich iterativ angelegt, also auf Anpassung. ({11}) Ich nenne Ihnen gerne ein Beispiel, das Sie wahrscheinlich nachvollziehen können. In Nordrhein-Westfalen, aber auch im Bund haben wir schon hundert-, ja tausendfach Bebauungspläne angepasst, ({12}) wenn sie zum Beispiel einer politisch gewollten Klimaschutzsiedlung, einem politisch gewollten Solarkraftwerk oder einem politisch gewollten Windkraftwerk entgegenstehen. Jedes Mal haben wir Bebauungspläne angepasst. ({13}) Ich habe auf der ganzen Welt nicht einen Grünen gesehen, der in diesen Fällen aufgestanden ist und gesagt hat: Dagegen habe ich rechtsstaatliche Bedenken. - Das, was Sie hier machen, ist scheinheilig. ({14}) Kurzum: Ihr Antrag ist ein Wahlkampfpamphlet ohne jede fachliche Überzeugungskraft. ({15}) Er ist eine Kampfansage an die Interessen NordrheinWestfalens und der Emscher-Lippe-Region. ({16}) Zum parlamentarischen Schicksal dieses Pamphlets empfehle ich Ihnen frei nach Goethe: Alles, was derart entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen ergreift Oliver Krischer das Wort.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als ein Drittel aller CO2-Emissionen Deutschlands stammt aus NRW. Das allein macht deutlich: Ohne das Mittun von NRW ist jede nationale Klimaschutzstrategie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb ist dieses Thema völlig zu Recht heute hier Gegenstand der Debatte. ({0}) Aus NRW kommen nicht nur die meisten Emissionen. Die Emissionen NRWs sind in den letzten Jahren - im Gegensatz zum Bundesdurchschnitt - auch noch gestiegen, und sie werden weiter steigen, wenn die Kohlevorrangpolitik der schwarz-gelben Koalition in dieser Weise weitergeht. Dass in NRW neue Kohlekraftwerke gebaut werden, ist ja nur ein Teil der Wahrheit. Zur Wahrheit gehört auch - Sie verschweigen das -: Die Energiekonzerne legen ihre alten Anlagen nicht still. Das zeigt das Beispiel Datteln. Eon erhöht die Kapazität auf 300 Prozent; das können Sie nachlesen im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster. Das ist ein Skandal, und das lässt jede aktive Klimaschutzpolitik von vornherein scheitern. ({1}) Die andere Seite der Medaille ist: NRW - Frau Höhn hat es gesagt - gehört beim Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Energien zu den Schlusslichtern. In NRW werden nur 6 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt, und selbst da ist die Müllverbrennung eingerechnet. ({2}) Es ist unglaublich, dass ein industrielles Kernland wie NRW beim Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Energien dermaßen hinterherhängt. Für eine Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung hätte Nordrhein-Westfalen wegen seiner hohen Industrie- und Bevölkerungsdichte hervorragende Voraussetzungen. Doch auch bei der Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung ist NRW unterdurchschnittlich weit. Deshalb müssen wir eine andere Politik in diesem Land machen. Der Bund muss aktiv werden, er muss helfen, er muss mitsteuern, damit dieses industrielle Kernland nach vorne kommt. ({3}) Wir haben eben gehört, was die aktuelle Politik der Landesregierung ist: Man will weiter Vorrang für die Kohle. - Die Kollegen von der Bundesebene - Herr Kauch hat das deutlich gemacht - wollen das weiter unterstützen. Wie passt das zusammen: Sonnenenergie in der Wüste und Windenergie auf dem Meer gewinnen wollen, aber in Nordrhein-Westfalen den Strom aus Kohle erzeugen? Diese Politik ist falsch und wird im Endeffekt dazu führen, dass Nordrhein-Westfalen deindustrialisiert wird. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist doch ein Irrsinn, dass rund um den größten Ballungsraum Europas ein Kranz aus neuen Kohlekraftwerken gebaut wird, die immer noch mehr als 50 Prozent der Energie in Form von Wärme nutzlos in die Umgebung entweichen lassen, während Millionen schlecht isolierter Wohnungen im Ruhrgebiet teuer mit aus Russland importiertem Erdgas geheizt werden. Die Zukunft besteht nicht darin, wie RWE und Eon es tun, Kraftwerksblöcke mit einer Leistung von 1 000 Megawatt auf die grüne Wiese zu setzen. Die Zukunftsvision, die die Industrie in Nordrhein-Westfalen, ja in ganz Deutschland voranbringt, besteht in der dezentralen Nutzung erneuerbarer Energien in kleinen Blockheizkraftwerken in Verbindung mit Kraft-WärmeKopplung. Ich danke Ihnen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Franz Obermeier spricht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlkampfhilfe für die anstehende Wahl in NordrheinWestfalen hat in Berlin nichts verloren. Der Petersberg ist ein geeigneterer Ort, über das Thema Klimaschutz zu diskutieren. Ich möchte nach meinem Vorredner zur Versachlichung der Debatte beitragen. Die Klimapolitik ist nämlich in der Tat ein interessantes und wichtiges Thema. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Klimapolitik einen sehr hohen Stellenwert. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass wir einen „Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wenn ich durch die Lande reise, kann ich feststellen, dass an allen Ecken und Enden unseres schönen Landes gebaut wird, um Energie einzusparen und das Klima zu schützen: Auf den Dächern der Gebäude werden Fotovoltaikanlagen errichtet, und die Unternehmen machen sich massiv Gedanken darüber, wie sie in ihren Industrieanlagen Energie einsparen können. Man kann zwar sagen, dass das aus ökonomischen Gründen geschieht; aber das ist mir in dem Fall egal. Jedenfalls passiert überall etwas. Das, was große Unternehmen wie BMW und Audi in den zurückliegenden Jahren in Bezug auf die Reduzierung der Verbrauchswerte ihrer Pkws getan haben und noch immer tun, kann sich, meine ich, durchaus sehen lassen. ({0}) Wir liegen in diesem Hause, was die Zielsetzung betrifft, nicht allzu weit auseinander. Das ist meine Einschätzung der Diskussion der zurückliegenden Jahre. Wenn es allerdings um die Frage der Instrumente geht, teilen sich unsere Standpunkte, weil die Diskussion zu diesem Thema in weiten Teilen dieses Hauses ideologisch geführt wird. ({1}) Ich möchte jetzt nicht über die Kernenergie reden, sondern über die konkrete Frage, ob sich die Grünen in Deutschland eine sichere Stromversorgung zu bezahlbaren Preisen ohne Kohleumwandlungssysteme vorstellen können. ({2}) Wir reden sehr viel über nachwachsende Rohstoffe, erneuerbare Energien und über die Frage, wann wir unser Energieversorgungssystem so umstellen können, dass wir möglichst viel, wenn nicht sogar bis zu 100 Prozent des Energiebedarfs, aus nachwachsenden Rohstoffen bestreiten können. Wir reden viel zu wenig über die Systeme, die wir brauchen, um mit den erneuerbaren Energien eine sichere Versorgung unseres Landes gewährleisten zu können. ({3}) Wir machen uns viel zu wenig Gedanken über die Frage nach den Folgen, wenn die Stromwirtschaft zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien beruht. ({4}) Ich weiß nicht mehr, wer das Sachverständigengutachten angesprochen hat. Ich will Ihnen ohne jede Polemik sagen, Frau Höhn: Aus dem Sachverständigengutachten geht hervor, dass die Stromversorgung schon heute zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien möglich wäre. Das will ich nicht bestreiten, auch wenn ich es nicht nachgerechnet habe. Dann bräuchten wir aber ungefähr das Vier- bis Fünffache dessen, was wir heute an entsprechenden Erzeugungsanlagen haben. ({5}) Das sind die Fakten, mit denen man sich auseinandersetzen muss. ({6}) Ich will noch etwas zur Kohle sagen, das Ihnen auch nicht gefallen wird. Wenn die Landesregierung und die Stromwirtschaft in Nordrhein-Westfalen zu dem Ergebnis kommen, dass ein neues Kohlekraftwerk gebaut werden soll, dann bitte ich, zu bedenken, dass man heute moderne Kohlekraftwerke technisch so konzipieren kann, dass ein Wirkungsgrad von 50 Prozent erreicht wird. ({7}) Ich komme aus einer Kommune, in der es ein 25 Jahre altes Kohlekraftwerk gibt. In diesem Kohlekraftwerk wird, wenn die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen voll genutzt werden können, ebenfalls ein Wirkungsgrad von 50 Prozent erreicht. Deswegen sage ich: Um eine sichere Versorgung unseres Landes gewährleisten zu können, brauchen wir auf absehbare Zeit in der Grundlast sowohl die Kernkraft als auch die Kohlekraft. ({8}) Ich will noch etwas zu den ökonomischen Einlassungen von Frau Bulling-Schröter sagen. Es ist interessant, dass Sie Kohlekraftwerke als Fehlinvestition bezeichnen. Das Kohlekraftwerk vor meiner Haustür wurde gerade von einem großen Investor gekauft, und Eon will in Datteln ein Kohlekraftwerk bauen. Glauben Sie allen Ernstes, dass Ihre Sicherheitsbedenken hinsichtlich der Finanzierung einer derartigen Anlage besser sind als die Überlegungen derjenigen, die echtes Geld in die Hand nehmen und dort investieren? Ich würde eher den Kaufleuten der Stromindustrie glauben. ({9}) Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Fotovoltaik, um die es im Erneuerbaren-Energien-Gesetz geht, über dessen Änderung wir heute auch noch diskutieren werden. ({10}) - Wir richten gar nichts hin. - Das, was jetzt in der Fotovoltaikbranche abläuft - das wissen auch Sie -, ist das größte Umverteilungsprogramm von unten nach oben, das wir derzeit haben. ({11}) - Das kann er sehen, wie er will. - Ich sage Ihnen: Das ist das größte Umverteilungsprogramm, das wir haben; denn zahlen muss die Allgemeinheit, und die großen Hersteller profitieren bis hin zu EUROSOLAR und denjenigen, die sich Fondsanteile kaufen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Bulling-Schröter zulassen?

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Kollege Obermeier. - Sie sprechen die Gewinne, die man abschöpfen muss, an. Da sind wir uns offensichtlich einig. Ich meine aber, man sollte in allen Bereichen Gewinne abschöpfen, und spreche damit die großen Konzerne und die Zertifikate an. 90 Prozent der CO2-Zertifikate erhalten die großen Energiekonzerne kostenlos. Diese preisen sie trotzdem mit dem Marktpreis ein. Das heißt: Die Konzerne tun so, als ob sie die Zertifikate bezahlen müssten; es bezahlen sie aber diejenigen, die den Strom abnehmen. Jetzt gibt es eine ganze Reihe von Berechnungen vom Öko-Institut und von anderen Instituten. Sie können sich das Institut aussuchen, das Ihnen politisch am nächsten steht. Alle sprechen von Sonderprofiten in Milliardenhöhe. Wir haben in der Vergangenheit des Öfteren darüber diskutiert. Meine Frage lautet: Wenn Sie die angeblich großen Profite in der Solarindustrie abschöpfen wollen, warum schöpfen Sie dann nicht auch die großen Profite der großen Energiekonzerne ab? Diese Profite sind wesentlich höher und gehen in die Milliarden. Wir brauchen doch das Geld und diskutieren permanent über Schuldenaufnahme. Wir wollen mehr regenerative Energien. Dieses Geld könnten wir in das Marktanreizprogramm stecken. Dann brauchte man das nicht zu streichen. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bulling-Schröter, ich will Sie auf zwei Dinge hinweisen. Bei der Reduzierung der Einspeisevergütung im Bereich der Fotovoltaik handelt es sich nicht um ein Abschöpfen, sondern um die Reduzierung eines gesetzlich festgelegten Betrags. Das nennt man nicht Abschöpfen. ({0}) Das nennt man eine Anpassung zur Markteinführung einer ganz bestimmten Technologie. Zu den CO2-Zertifikaten: Man müsste dazusagen, dass es sich hierbei um Erlöse handelt, die über Wettbewerb und Markt entstehen. Ich gebe zu, dass dieser Wettbewerb und der Markt hier nicht so richtig funktionieren; aber im Kern sind das zwei grundlegend unterschiedliche Verhältnisse. Was den CO2-Zertifikatehandel betrifft, so nehme ich an, dass sich in den kommenden Jahren die Dinge verändern werden. ({1}) - Bis 2015 wird sich einiges verändern. Das wird ganz sicher so sein. - Bis dahin, so nehme ich an, werden wir auf europäischer Ebene einen gängigen Markt mit Zertifikaten haben. Ich wünsche mir von jeder Bundesregierung, dass wir auch den weltweiten Handel mit CO2-Zertifikaten in Gang bringen und dass wir ihn von der Beschränkung ausnehmen. Ich möchte, dass wir international besser mit CO2-Zertifikaten handeln können. Um auf Datteln zurückzukommen: Wenn wir ein Kohlekraftwerk bekommen, das emittiert, wird das Angebot an CO2-Zertifikaten am Markt größer werden. Die Folge ist, dass wir dann vermutlich bessere Preise bekommen. Das sind die Zusammenhänge, die zur Beantwortung Ihrer Frage erwähnt werden müssen. ({2}) Mir ist nicht bange. Deutschland ist auf einem guten Weg in Richtung CO2-Emissionsreduzierung. Dafür werden wir auch in dieser Bundesregierung und in den sie tragenden Fraktionen arbeiten. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Andreas Jung spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen, die Koalition hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Herbst ein Gesamtkonzept im Bereich der Energiepolitik vorzulegen, das die Belange von Umwelt- und Klimaschutz, von Wirtschaftlichkeit und von Versorgungssicherheit gleichermaßen einbezieht und unter einen Hut bringt. Sie wissen auch, dass wir dabei um die eine oder andere Sachfrage ringen und Diskussionen führen. Ich glaube, das gehört in der Politik dazu. Wir merken aber vor allem, dass all diese Diskussionen von einem ernsthaften Ringen um den richtigen Weg, von ernsthaftem Bemühen um gute Lösungen geprägt sind. Damit unterscheiden wir uns von dem, was Sie heute mit Ihrem Antrag zur Diskussion stellen. Wenn man diesen Antrag liest, wird einem sehr schnell klar: Es geht Ihnen hier um einen einzigen Punkt, um den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen. ({0}) Sie stellen als Aufhänger in den Mittelpunkt dieses Antrags eine Änderung von § 26 des Landesentwicklungsgesetzes von Nordrhein-Westfalen. Die Diskussion über diese Vorschrift ist sicherlich spannend, sie ist ganz bestimmt auch interessant. Aber diese Diskussion gehört mit absoluter Sicherheit nicht in den Deutschen Bundestag, sondern in den Landtag von Nordrhein-Westfalen. ({1}) Das entlarvt die Absicht: Es geht Ihnen um Wahlkampf. Ich bitte Sie aber: Wenn Sie Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen machen wollen, dann gehen Sie auf die Marktplätze, oder gehen Sie in die Stadthallen. Am besten Sie bewerben sich um ein Landtagsmandat. Aber beschäftigen Sie nicht den Bundestag mit Themen, für die er nicht zuständig ist! ({2}) Würden wir nämlich diesen Antrag beschließen, wäre das nichts anderes als ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip, das wir gegenüber Europa hochhalten, auf das auch wir als Deutscher Bundestag Wert legen, nämlich dass uns niemand anderes in unsere ureigenen Angelegenheiten hineinredet. ({3}) Dies sollten wir auch aus Respekt vor der gewählten Volksvertretung in Nordrhein-Westfalen nicht machen. Deshalb: Über landespolitische Themen diskutieren Sie in Nordrhein-Westfalen, wir beschäftigen uns mit den Bundesangelegenheiten. ({4}) - Über Klimaschutz, Frau Höhn, müssen wir hier reden. ({5}) Deshalb sage ich: Wahlkampf nein, aber Wettbewerb, Wettstreit um den besseren Weg ja. Andreas Jung ({6}) ({7}) Frau Höhn, Sie haben vorher gesagt, Sie messen uns nicht an unseren Reden, sondern Sie messen uns an unserem Handeln. ({8}) Das akzeptieren wir. Das ist der richtige Maßstab. Ich bitte Sie, dann aber auch zu akzeptieren, dass wir auch Sie, die Grünen, Rot-Grün, nicht daran messen, wie Sie heute reden, sondern zuallererst daran, wie Sie gehandelt haben, als Sie im Bundestag die Mehrheit hatten, als Sie die rot-grüne Bundesregierung gestellt haben. ({9}) Da möchte ich einige Punkte von dem aufgreifen, was Sie gesagt haben, was in dieser Debatte gesagt wurde. Erster Punkt: Energieeffizienz. Wir sind in diesem Haus in allen Debatten einig gewesen, dass mit das Beste für Energieeffizienz und für Energiesparen das Gebäudesanierungsprogramm ist. Wenn man sich anschaut, was damals Rot-Grün gemacht hat, dann stellt man fest: Dieses Programm gab es damals auch schon, es war aber eher ein Progrämmchen. Erst nach Rot-Grün ist es gelungen, dieses Programm nicht nur zu verdoppeln, sondern es in der Großen Koalition mehr als zu verdreifachen und im Übrigen mit Mitteln aus dem Konjunkturprogramm weiter aufzustocken. Jetzt ist es in der christlich-liberalen Koalition in einer schwierigen haushaltspolitischen Lage gelungen, an dem finanziellen Umfang festzuhalten und die klare Botschaft zu geben: Wir stehen mit diesem Programm weiter für Energieeffizienz, für Klimaschutz und auch für eine Politik für das Handwerk vor Ort. ({10}) Zweiter Punkt: Marktanreizprogramm. Auch ich und viele Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion setzen sich dafür ein, dass dieses Marktanreizprogramm entsperrt wird, dass die Mittel für Ökoheizungen freigegeben werden. ({11}) - Ja, das wollen wir. Aber auch da ist der Rückblick interessant. Ich erinnere mich gut, nachdem ich im Jahr 2005 in den Bundestag gekommen war, dass sich im Jahr 2006 auf all unseren Schreibtischen die Briefe von Bürgern, von Gemeinden gestapelt haben, die geschrieben haben: Wir wollen von diesem Marktanreizprogramm profitieren. Es ist aber jetzt, zur Hälfte des Jahres, schon aufgebraucht. Ihr müsst dieses Programm aufstocken. - Damals gab es ein zähes Ringen. Aber es ist uns schließlich gelungen, die Mittel für dieses Programm tatsächlich aufzustocken. ({12}) - Frau Höhn, wir kämpfen jetzt dafür, dass an dieser Aufstockung festgehalten werden kann und dass wir nicht auf das Niveau zurückfallen, das es zur Zeit von Rot-Grün gegeben hat. Darum geht es jetzt. ({13}) Ich bin unserer Berichterstatterin, der Kollegin Flachsbarth, dankbar, dass sie die Zahlen noch einmal herausgearbeitet hat. Wir haben in diesem Jahr schon jetzt 125 Millionen Euro für Ökoheizungen aus dem Marktanreizprogramm ausgegeben. Im gesamten Jahr 2005, dem Abschiedsjahr von Rot-Grün, waren es nur 121 Millionen Euro. Deshalb sage ich: Wir kämpfen für die Entsperrung, damit wir nicht auf das Niveau zurückfallen, das wir zu rot-grünen Zeiten hatten. ({14}) Lieber Herr Kelber, Sie und auch die Kollegen von der Fraktion der Grünen haben das Thema Kohle angesprochen. Die Frage ist interessant, wie es damals gelingen konnte, die Mittel für das Marktanreizprogramm aufzustocken. Es ist gelungen durch die Einführung der Versteigerung von Zertifikaten im Bereich des Emissionshandels für Kohlekraftwerke. Die rot-grüne Regierung, speziell die Minister Trittin und Clement, haben die Zertifikate für die Kraftwerke umsonst verteilt. ({15}) Obwohl man für 10 Prozent der Zertifikate eine Auktionierung hätte durchführen können, haben sie mehr Zertifikate verteilt, als es dem gesamten CO2-Ausstoß entsprochen hat. Der SPD- und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist es in der Großen Koalition gelungen - im Übrigen gegen den Vorschlag des heutigen SPD-Vorsitzenden und damaligen Umweltministers, der weiterhin die Zertifikate umsonst verteilen wollte -, ({16}) in die Versteigerung einzusteigen. Die Erlöse aus dieser Versteigerung wurden verwendet, um die Mittel für das Marktanreizprogramm aufzustocken.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Jung, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn zulassen?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Jung, Sie haben eben den damaligen Minister Trittin kritisiert, weil er 100 Prozent der Zertifikate umsonst an die Unternehmen abgegeben hat. Können Sie bitte bestätigen, dass zum damaligen Zeitpunkt die EU gar nicht die Möglichkeit eröffnet hat, etwas anderes zu machen, als diese Zertifikate umsonst an die Unternehmen abzugeben?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höhn, ich will es gerne noch einmal nachprüfen. Nach meiner Erinnerung war es so, dass von Beginn an die Möglichkeit bestanden hat, 10 Prozent dieser Zertifikate zu versteigern. ({0}) - Bitte? ({1}) - Also 5 Prozent. - Aber es gab von Anfang an die Möglichkeit, Zertifikate zu versteigern. Rot-Grün hat sich damals dagegen entschieden. Die Zertifikate wurden vielmehr nach dem Grandfathering-Prinzip zugeteilt: Jeder bekommt so viele Zertifikate, wie er CO2 ausstößt. Mit anderen Worten: Derjenige, der noch nie etwas für Energieeffizienz getan hatte, wurde privilegiert, und derjenige, der investiert hatte, wurde benachteiligt. Auch das haben wir im Rahmen der Diskussion zum NAP II ändern können. Im Vergleich zu Rot-Grün gab es auch an dieser Stelle einen Fortschritt im Bereich des Klimaschutzes. Die Bedingungen für den Betrieb von Kohlekraftwerken wurden verschärft, was für einen größeren Druck in Sachen Klimaschutz gesorgt hat. Ich darf noch einmal zurückkommen auf den Einwand der Frau Kollegin Bulling-Schröter: Ja, im Emissionshandel - Frau Höhn hat auch schon darauf hingewiesen sind wir von den Richtlinien der Europäischen Union abhängig. Diese ließen es zu, 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Von dieser Möglichkeit haben wir beim NAP II Gebrauch gemacht. Die Bundeskanzlerin hat aber danach auf der Konferenz in Brüssel in der Europäischen Union durchgesetzt, dass in Zukunft 100 Prozent dieser Zertifikate versteigert werden können. Es ist also schon Beschlusslage, dass auf der Ebene der Europäischen Union 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden können und damit der CO2-Ausstoß belastet wird. Dies ist ein Schritt in Richtung mehr Klimaschutz. Zuletzt will ich noch auf die Frage der Glaubwürdigkeit der deutschen Klimaschutzpolitik eingehen. Die Ziele sind schon angesprochen worden. Dabei wurde die Frage aufgeworfen: Hält Deutschland an seinen ehrgeizigen Klimazielen fest? Da ist - ich rede jetzt nur über die Fakten, über das, was wir hier gemeinsam in verschiedenen Legislaturperioden im Deutschen Bundestag beschlossen haben - ein ständiger Fortschritt zu erkennen. Zum ersten Mal hat sich der Bundestag in dieser Legislaturperiode mit der christlich-liberalen Mehrheit dazu bekannt, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020 gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren, ohne das, wie es zuvor immer der Fall war, davon abhängig zu machen, dass ein internationales Klimaabkommen geschlossen wird und dass sich die EU in diesem Rahmen zur Reduktion von 30 Prozent verpflichtet. Mit dieser Festlegung unterstreichen wir, dass wir an unserer Vorreiterrolle festhalten. Meine Redezeit geht zu Ende. Ich möchte nur noch sagen, dass es um die Reduktionsziele geht, aber auch um die Finanzierung, um die wir ringen und für die wir kämpfen. Als ich am Sonntagabend die Gelegenheit hatte, auf dem Petersberg Gespräche mit vielen Partnern zu führen, war mein Eindruck, dass die deutsche Vorreiterrolle mitnichten angezweifelt wird; vielmehr wird in uns nach wie vor ein glaubwürdiger Partner mit einer ehrgeizigen Klimapolitik gesehen. Herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulrich Kelber hat das Wort zu einer Kurzintervention.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Jung, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, auch Ihren Redestil. Heute haben Sie aber etwas für Sie Ungewohntes gemacht: Sie haben keinen reinen Fachvortrag gehalten, und Sie haben auch nicht nur die unterschiedlichen Positionen, die man haben kann, vorgetragen, sondern Sie haben an zwei Stellen versucht, die Leute hinter die Fichte zu führen. ({0}) Auf diese muss man einmal kurz eingehen. Ich finde es ja gut, dass Sie das, was Sie mit uns gemeinsam in der Zeit der Großen Koalition erreicht haben, loben. Sie und ich wissen, wie viele Nächte es teilweise gebraucht hat, um Herrn Kauder bzw. Herrn Röttgen als Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer zu überzeugen. Es ist gut, dass er sich in gewisser Weise vom Saulus zum Paulus gewandelt hat, als er die Pforte zum Umweltministerium durchschritten hat. Aber wenn Sie sagen, unter Rot-Grün sei in Sachen Emissionshandel weniger gemacht worden als unter RotSchwarz, dann muss ich an Folgendes erinnern: Als wir 2003 zum ersten Mal den Emissionshandel beschlossen haben, hat die CDU/CSU dagegen gestimmt, weil wir aus der Sicht der CDU/CSU zu wenig CO2-Rechte für die Unternehmen und zu wenig Sonderrechte für hochemittierende Unternehmen bereitgestellt haben. Das gehört schon dazu, wenn man darüber spricht: Sie haben etwas verbessert, was Sie vorher abgelehnt haben, weil es Ihnen zu scharf war. Der zweite Punkt. Die Idee der 100-Prozent-Auktionierung ist in der Tat damals aus den Fraktionen hervorgegangen. Sie wurde dann von Frau Reiche und mir für die Fraktionen verhandelt. Aber ich muss Sie noch einmal daran erinnern, wie das in Brüssel gelaufen ist: Aus Brüssel kam nämlich auf einmal die Meldung, die Kanzlerin wolle Polen und Italien anbieten, die Vollversteigerung der Emissionszertifikate aufzugeben, wie das übrigens Teile Ihrer Fraktion und die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen per Landtagsbeschluss als Position vertreten haben. Es war dann der ebenfalls anwesende Außenminister Steinmeier, der widersprochen hat und auf Einhaltung der Bundestagsbeschlüsse bestanden hat. Das gehört schon dazu. Sie sollten sich nicht für etwas loben, was Sie am Anfang gar nicht wollten und was Sie sich erst vom Koalitionspartner haben abringen lassen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Jung, Sie haben Gelegenheit, zu antworten.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, Sie haben zwei Bemerkungen gemacht. Mit der ersten Bemerkung haben Sie nicht das infrage gestellt, was ich gesagt habe, nämlich dass der Emissionshandelsplan im Jahr 2007 besser gewesen ist als der von Rot-Grün. Sie haben bestätigt, dass es Fortschritte gegeben hat. Nur in Bezug auf das Abstimmungsverhalten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahr 2003, das Sie angesprochen haben, muss ich Ihnen zugestehen, dass Sie daran möglicherweise eine frischere Erinnerung haben als ich, der ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Bundestag war. Entscheidend ist aber der Vergleich der Zeit unter Rot-Grün und der Zeit danach, den ich angestellt habe. Da ist eine kontinuierliche Verbesserung zu mehr Klimaschutz festzustellen. Der zweite Punkt. Ich bin, genau wie Sie, in Brüssel nicht dabei gewesen. Aber klar ist, dass unsere Bundesregierung unter Führung der Bundeskanzlerin und selbstverständlich unter Mitwirkung des Bundesaußenministers dort unsere Position vertreten hat, die Position der Regierung, die Unterstützung erfahren hatte durch einen Antrag des Bundestages. Entscheidend ist, was am Ende hinten rauskommt. Das hat die Kanzlerin dort vertreten, und das ist ein gemeinsamer Erfolg dieser Regierung gewesen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1430 mit dem Titel „Gleichklang von Bund und Ländern beim Klimaschutz sicherstellen“. Wer stimmt für diesen An- trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen haben da- gegen gestimmt, SPD und Linke sich enthalten. Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 17/1475 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung ste- hen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis i auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr - Drucksache 17/1293 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 3. Dezember 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Födera- tiven Republik Brasilien über Soziale Sicher- heit - Drucksache 17/1296 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und des Fahrpersonalgesetzes - Drucksache 17/1395 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Tourismus d) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2009 - Vorlage der Haushaltsrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2009 - - Drucksache 17/1500 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({2}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Von der Konfrontation zur Kooperation Deutsch-russische Beziehungen verbessern - Drucksache 17/1559 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Krebserregende Stoffe in Kinderspielzeugen durch Sofortmaßnahmen ausschließen - Drucksache 17/1563 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Dr. Barbara Höll, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einstellung der Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika um ein neues SWIFT-Abkommen und Verzicht auf ein europäisches Abkommen über ein Programm zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus - Drucksache 17/1560 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Finanzausschuss h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des GKV-Spitzenverbandes über die Erfahrungen mit den durch das GKV-WSG bewirkten Rechtsänderungen in § 13 Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 16/12639 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fünfter Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland über Maßnahmen zur Durchführung des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ({7}) - Drucksache 16/14138 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nunmehr zu den Tagesordnungspunkten 29 b bis l sowie den Zusatzpunkten 2 a und 2 b. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 29 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({9}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr ({10}) Umsetzung der Initiative für kleine und mittlere Unternehmen in Europa ({11}) ({12}) ({13}) - Drucksachen 17/790 Nr. 8, 17/1610 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth Dr. Eva Högl Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 29 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 71 zu Petitionen - Drucksache 17/1436 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 72 zu Petitionen - Drucksache 17/1437 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 73 zu Petitionen - Drucksache 17/1438 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der SPD angenommen. Die Fraktion Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 29 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 74 zu Petitionen - Drucksache 17/1439 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 75 zu Petitionen - Drucksache 17/1440 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Gegenstimmen durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen; alle anderen Fraktionen haben dafür gestimmt. Tagesordnungspunkt 29 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 76 zu Petitionen - Drucksache 17/1441 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt, alle anderen Fraktionen dafür. Tagesordnungspunkt 29 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 77 zu Petitionen - Drucksache 17/1442 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen hat die Fraktion der SPD gestimmt, alle anderen Fraktionen dafür. Tagesordnungspunkt 29 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 78 zu Petitionen - Drucksache 17/1443 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke gestimmt, alle übrigen Fraktionen dafür. Tagesordnungspunkt 29 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 79 zu Petitionen - Drucksache 17/1444 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 29 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 80 zu Petitionen - Drucksache 17/1445 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Wir kommen zu Zusatzpunkt 2 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({24}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anbau von gentechnisch veränderter Kartoffel Amflora verhindern - Drucksachen 17/1028, 17/1547 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1547, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1028 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die Fraktion der SPD hat sich enthalten. Zusatzpunkt 2 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({25}) zu dem Antrag der Abgeordneten Elvira DrobinskiWeiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten - Drucksachen 17/1410, 17/1603 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1603, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1410 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt, die Oppositionsfraktionen dagegen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Konsequenzen aus dem Ergebnis der Steuerschätzung für die Steuersenkungspläne der CDU/CSU-FDP-Koalition Für die SPD hat das Wort der Kollege Joachim Poß. ({26})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem heutigen Tag gibt es keine Ausflüchte mehr. Jetzt muss die Regierungskoalition endlich die Karten auf den Tisch legen. ({0}) Die Bürgerinnen und Bürger und wir hier im Parlament haben ein Anrecht darauf, ({1}) von der amtierenden Regierung über so zentrale und so wichtige politische Fragen wie die von Ihnen immer wieder angekündigte Steuerreform informiert zu werden. Das gilt natürlich auch für die Strategie der Regierung zur Haushaltskonsolidierung. Über Monate hinweg haben Sie alle hier, die Bundesregierung mit Kanzlerin Merkel an der Spitze, Herr Schäuble, aber jede Auskunft in der Sache verweigert. Die Bürgerinnen und Bürger haben mit der Regierung von Schwarz-Gelb die Katze im Sack gekauft. Das ist die Quintessenz des politischen Vorgangs der letzten Monate. ({2}) Die Bundeskanzlerin und ihre Koalition hatten bisher nur ein Ziel: Die Wahrheit soll erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen ans Licht. Nur deshalb haben Sie in den letzten Monaten immer wieder erklärt, erst müsse die Steuerschätzung abgewartet werden, als erwarteten Sie heute noch irgendwelche Überraschungen. Aber es hat heute keine Überraschung gegeben. Die öffentlichen Kassen bleiben leer, und zwar leider nicht nur in diesem, sondern auch in den folgenden Jahren. Es gibt mit dem heutigen Tag keine neue Lage. Dass wir kein Geld haben für weitreichende Steuersenkungen, haben wir alle, Sie und wir, bereits vor einem Jahr gewusst. ({3}) Aber die FDP und Teile der Union haben so getan, als hätte es die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise nicht gegeben. Sie haben sich der Realität von Anfang an nicht gestellt. Sie haben sich Ihre eigene Welt geschaffen und werden jetzt Opfer dieser Illusion, die Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern geschürt haben, leider bei der Bundestagswahl mit Erfolg, weil sie Ihnen teilweise geglaubt haben, dass es einen Spielraum für Steuersenkungen gibt; tatsächlich gibt es diesen aber nicht. Erst vor wenigen Tagen hat die FDP auf ihrem Bundesparteitag ein Steuersenkungskonzept in Höhe von 16 Milliarden Euro beschlossen. Natürlich war Herrn Westerwelle, Herrn Pinkwart und allen anderen bestens bekannt, dass die heutige Steuerschätzung keine Steuersenkungsspielräume erbringen wird. Aber wen von Ihnen interessiert das schon? Das ist nur die Realität, die man sich am besten weit vom Leibe hält. Sie setzen immer noch darauf, die Menschen mit Ihren Steuersenkungsfantasien locken zu können. Aber der nächste Sonntag wird Ihnen zeigen, ({4}) dass das nicht mehr funktionieren wird, meine Damen und Herren von der Koalition. Das, was Sie am 27. September letzten Jahres noch geschafft haben, wird bei den Menschen in meiner Heimat Nordrhein-Westfalen nicht mehr funktionieren. Viele von denen, die Sie am 27. September noch gewählt haben, werden Sie verlassen, und zwar wegen Ihrer Politik in Nordrhein-Westfalen und vor allem wegen Ihrer unverantwortlichen Politikinszenierung in Berlin. Sie sind endgültig an den Realitäten, an der Praxis gescheitert. Und Sie von der FDP sind überhaupt nicht regierungstauglich, wie alle feststellen konnten. ({5}) Sie schauspielern Regierung. Mehr ist das nicht. Ich meine in dem Fall nicht die CDU/CSU, die hat ja das Regieren ab 2005 bei uns gelernt. ({6}) Es gibt nur zwei Möglichkeiten, irgendwelche Steuersenkungen zu finanzieren, nämlich durch die Ausplünderung der Sozialsysteme und das Ruinieren der Kommunen. Das ist die Wahrheit. ({7}) Nur wenn Sie diese beiden Dinge anpacken, haben Sie Spielräume für Steuersenkungen. Nun stellt sich die Frage: Ist das Ihre Strategie für die nächsten Jahre? Ist das die Politik von Frau Merkel und Herrn Schäuble? Diese Fragen müssen umgehend beantwortet werden. Bis jetzt sind Sie jede Antwort darauf schuldig geblieben. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung hat der Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort. ({0})

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis der Schätzrunde von Ländern, Instituten und Bundesregierung ist eindeutig: Bund, Länder und Gemeinden werden in den kommenden Jahren sehr enge finanzielle Handlungsspielräume haben. Die Folgen der Krise werden sich dabei noch über Jahre auf die öffentlichen Haushalte auswirken. Für dieses Jahr ergibt die jetzige Steuerschätzung keine wesentliche Änderung gegenüber der letzten Steuerschätzung vom November. Hier wirken sich die von der Bundesregierung vorgenommenen Steuerentlastungen einerseits und die verbesserte Konjunkturlage andererseits aus, sodass es unter dem Strich zu einer leichten Verminderung des Steueraufkommens kommt und nicht zu der im Vergleich zur letzten Schätzung befürchteten Verminderung. Aber in den Jahren ab 2011 werden die Einnahmen auf allen staatlichen Ebenen im Vergleich zur letzten Mittelfriststeuerschätzung vom Mai 2009 deutlich geringer ausfallen. ({0}) Das liegt auch daran, dass vor einem Jahr das volle Ausmaß der Krise noch nicht erfasst werden konnte. Und Sie erinnern sich sicherlich daran: Die Bundeskanzlerin hat in der Haushaltsdebatte gesagt, dass wir uns werden anstrengen müssen, um im Jahr 2013, was das Niveau der Volkswirtschaft und der Einnahmen aller staatlichen Ebenen angeht, wieder dort anzukommen, wo wir vor der Krise waren. Auch das macht die heutige Steuerschätzung deutlich: Sie prognostiziert für das Jahr 2013 ein gesamtstaatliches Steueraufkommen von 561 Milliarden Euro. Das hatten wir zuletzt im Jahre 2008, also vor dem Einbruch der Krise. Eines ist uns in diesen Tagen sehr deutlich geworden, nämlich dass vor allem die aktuellen Entwicklungen in Europa die existenzielle Bedeutung solider Staatsfinanzen in den Mittelpunkt aller politischen Betrachtungen rücken. ({1}) Nur auf der Basis einer Solidität der Finanzpolitik ist der Erfolg des Euro auf Dauer zu sichern. Deutschland wird als Stabilitätsanker und als glaubwürdiges Vorbild in der EU heute und in Zukunft gebraucht. Die Steuerschätzung ändert nichts daran, dass auch Deutschland 2010 die als Obergrenze konzipierte 3-Prozent-Marke für das Staatsdefizit mit 5,5 Prozent weit überschreiten wird. Umso wichtiger ist es, dass wir die vom Stabilitätsund Wachstumspakt geforderten 3 Prozent bis zum Jahr 2013 wieder erreichen. ({2}) Werte Kolleginnen und Kollegen, für den Bundeshaushalt bedeutet das Ergebnis der heutigen Steuerschätzung, ({3}) dass wir in den nächsten Jahren außerordentlich ehrgeizig sein müssen. In den Jahren 2011 bis 2013 haben wir gegenüber dem geltenden Finanzplan aus dem Sommer 2009 Mindereinnahmen in Milliardenhöhe zu verkraften. Die Konsequenzen aus der heutigen Steuerschätzung werden wir im Rahmen unseres haushaltspolitischen Gesamtkonzeptes ({4}) für den Haushalt 2011 und den Finanzplan bis 2014 genau bewerten. ({5}) Dabei leiten uns natürlich die Vorgaben der Schuldenbremse des Grundgesetzes. Die neue Schuldenregel gilt erstmals für die nun anstehende Aufstellung des Haushaltes 2011 und den Finanzplan bis 2014. Bis zum Jahr 2016 müssen wir die strukturelle Neuverschuldung im Bundeshaushalt auf unter 35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zurückführen. Hierfür sind entschiedene Konsolidierungsschritte erforderlich. In absoluten Zahlen heißt das: Der Bund muss seine strukturelle Neuverschuldung bis 2016 jährlich um 10 Milliarden Euro abbauen. Es gibt keine verantwortbare Alternative zu einer solchen Politik. Wir müssen raus aus dem Schuldenwachstum, das dazu geführt hat, dass bereits heute bei historisch niedrigen Zinsen 37 Milliarden Euro im Bundeshaushalt allein für Zinsen ausgegeben werden müssen. Wenn wir unsere Handlungsfähigkeit auch in Zukunft sichern wollen, müssen wir diese Entwicklung stoppen. Dazu ist diese Koalition entschlossen. ({6}) Gerade vor diesem Hintergrund haben wir im Koalitionsvertrag eine goldene Regel für die Finanzpolitik festgehalten: vor allem ein dezidiertes Bekenntnis zur Schuldenbremse sowie zu den Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben einen expliziten Finanzierungsvorbehalt für alle Ausgaben und Haushaltsbelastungen festgeschrieben. ({7}) Aber auch nach der Steuerschätzung bleibt es bei dem verabredeten Zeitplan und der Grundausrichtung. Wir haben jetzt eine solide Grundlage für die Verhandlungen über den Bundeshaushalt 2011 und den mittelfristigen Finanzplan. Die Beratungen mit den Ressorts werden bis zum Sommer abgeschlossen sein. Alle Aufgaben- und Ausgabenbereiche sind kritisch zu hinterfragen. Zusätzliche Maßnahmen müssen solide gegenfinanziert werden. Wir sind zuversichtlich, dass es dieser Koalition gelingen wird, 2011 und in den Folgejahren die notwendigen Konsolidierungsschritte zu machen. Wir werden es schaffen, vor allem durch Aufgabenkritik und Ausgabendisziplin, ({8}) die Vorgaben der Schuldenbremse konsequent und glaubwürdig umzusetzen. ({9}) Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir uns die nötigen Spielräume erarbeiten, um die Bürger weiter zu entlasten. ({10}) Das Erarbeiten dieser Spielräume ist übrigens nicht nur eine Aufgabe des Bundesfinanzministers. Alle Ressorts sind gefordert, dabei mitzuhelfen. Das heißt, dass zusätzlichen Ausgaben, wie zu Beginn der Haushaltsaufstellung in Milliardenhöhe gefordert, im Haushalt in keiner Weise entsprochen werden kann. Wir haben mit der Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen am 1. Januar 2010 begonnen. ({11}) Diesen Weg für mehr Wachstum und Beschäftigung werden wir konsequent weitergehen. In der Koalition herrscht klares Einvernehmen darüber, dass wir 2011 noch keine Senkung der Einkommensteuer vornehmen werden. ({12}) Unsere gemeinsame Priorität für 2011 liegt darin, einen ersten Schritt zur Steuervereinfachung zu gehen. ({13}) Bundesfinanzminister Schäuble hat gerade vor der Presse deutlich gemacht, dass wir unterscheiden müssen: Es gibt Steuervereinfachungen, die kostenneutral sind; wir müssen und werden aber auch über Steuervereinfachungen diskutieren, die am Schluss eben nicht zum Nulltarif zu haben sind. Wenn wir schon über Steuervereinfachungen reden, dann muss uns dabei deutlich sein, dass vor allem die Komplexität unseres Steuersystems für viele Bürger als Belastung empfunden wird. Vereinfachungen würden bei Bürgern und Unternehmen einen beträchtlichen Entlastungseffekt erzeugen. Wir wollen, dass es leichter wird, Steuererklärungen auszufüllen. Daran arbeiten wir. Wir wollen eine spürbare Vereinfachung für viele Bürger erreichen. Darauf wollen wir uns zunächst einmal konzentrieren. Aber ich sage auch sehr deutlich: Die Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen bleibt auf der Tagesordnung. Wir wollen in dieser Wahlperiode nach der schon begonnenen Entlastung der Familien, des Mittelstands und der Familienbetriebe eine weitere Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen umsetzen, so wie wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben. ({14}) Wir werden darüber beraten, in welcher Form wir dies in dieser Wahlperiode umsetzen. Daneben haben wir uns ganz groß auf die Agenda geschrieben, die kommunalen Gemeindefinanzen, aber auch die Ausgabensituation unserer Kommunen durch eine Regierungskommission mit schnellen Ergebnissen auf den Prüfstand zu stellen. ({15}) Das hat keine Koalition und keine Regierung vorher so energisch angepackt wie die christlich-liberale Koalition. ({16}) Sie haben über dieses Thema immer nur geredet, wir haben es auf die Agenda gesetzt. Deshalb wird gerade auch auf der Zukunftsfähigkeit der Kommunalfinanzen ein ganz wichtiges Augenmerk bei den weiteren Maßnahmen dieser Regierung für eine wachstumsorientierte Steuerpolitik und eine notwendige Konsolidierung liegen. Herzlichen Dank. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stunde der Wahrheit ist gekommen: ({0}) Die Steuerschätzung liegt auf dem Tisch und die Koalition ist sehr überrascht. Es ist nun doch wesentlich weniger Geld im Staatssäckel als geplant. Mit 38,9 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen bei Bund, Ländern und Kommunen bis 2013 müssen wir jetzt rechnen, und ein Großteil der Ausfälle - das möchte ich klar unterstreichen - ist durch die von Ihnen zu verantwortende Steuerpolitik verursacht. Das und nicht einfach nur die Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Realität. ({1}) Eines ist klar: Wenn alles so weiter geht wie bisher, dann gibt es keine finanziellen Handlungsspielräume. Nun können Sie noch drei Tage lang versuchen, zu überlegen, wie Sie damit umgehen wollen. Sie kündigen hier Konsolidierungen an, aber nichts Konkretes. Spätestens am Wahltag in NRW, am Sonntag, wird die FDP die Quittung für ihre Fantasien über die möglichen Steuersenkungen bekommen. ({2}) Für die wesentliche Klientel der FDP ist aber schon einiges abgefallen: Mehrwertsteuersenkung für das Hotelgewerbe, Gewerbesteuerbefreiung für Leasingunternehmen, für die Finanzdienstleistungen. Diese haben ihr Schäflein schon im Trockenen. ({3}) Für die Mehrheit der Bevölkerung wird diese Steuerschätzung gravierende Auswirkungen haben; wir sehen das in Griechenland. Was die Großen in Griechenland verzockt haben, sollen nun die Kleinen ausbaden: Rentenkürzungen, teilweise Aussetzung des Mindestlohns. Wir hätten schon gerne einmal Antworten aus dem Bundesfinanzministerium - und zwar vor der Wahl und nicht nach der Wahl in NRW - auf die Frage, was Ihnen alles vorschwebt. ({4}) Die Linke sagt: Wir brauchen weder Steuer- noch Lohndumping, sondern ein gerechteres Steuersystem, wodurch oben be- und unten entlastet wird; denn die falsch ausgerichtete massive Steuersenkungspolitik der gesamten letzten zehn Jahre ist nach einer Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK, auch maßgeblich mitverantwortlich für die schlechte finanzielle Lage, in der wir uns befinden. Zum Beispiel das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Durch Steuersenkungen wurde Wachstum versprochen. Entstanden sind Einnahmeverluste. Allein bis 2013 wird dieses Gesetz über 8 Milliarden Euro jährlich an Mindereinnahmen hervorrufen. ({5}) Letztendlich haben Ihre Steuererleichterungen eben nicht zu Investitionen und Wachstum, sondern zu einem Anstieg der Verschuldung von Bund, Ländern und Kommunen geführt. Das ist einfach ein Skandal. Ich muss Ihnen sagen: Das, was Sie hier immer zu begründen versuchen, ist ökonomisch falsch; ({6}) denn die massiven Steuerentlastungen sowie Lohn- und Sozialdumping sind mitverantwortlich für die wachsende Armut und die wachsende Reichtumskonzentration in der Bundesrepublik. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Nach dem ARDDeutschland-Trend sind 58 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass Steuersenkungen ab 2011 nicht notwendig sind. Sie befinden sich damit auch in Übereinstimmung mit der Position des Sachverständigenrates, der Steuersenkungen als unverantwortlich ablehnt. Sie von der Koalition halten aber daran fest. Steuersenkungsideologie, das ist das Wahre. Sie träumen weiter davon, dass Wirtschaftswachstum durch Steuersenkungen entsteht. Dafür gibt es aber weder eine überzeugende theoretische Begründung noch praktische Beweise, die das bestätigen würden. Das ist nicht nur meine Behauptung: Die Bundesregierung hat das letztendlich in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD bestätigt. Sie sagt, dass es nicht einmal ein verlässliches Modell gibt, um abzuschätzen, welche Auswirkung Steuerrechtsänderungen auf Wachstum und Steuereinnahmen haben. Da frage ich mich wirklich: Wie kommen Sie denn zu Ihren Annahmen? ({7}) Halten Sie den Finger in die Luft, oder haben Sie irgendwo ein Orakel, das Sie befragen? Dann lassen Sie uns doch an Ihrem Wissen teilhaben. ({8}) Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, über Steuersenkungen zu schwadronieren. Wir brauchen zur Stabilisierung der öffentlichen Einnahmen eine sozial gerechtere Politik, die unten gibt und oben nimmt. Deshalb fordert die Linke eine gerechtere Einkommensbesteuerung, eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent, eine Rücknahme der steuerlichen Entlastungen für Unternehmen, eine Besteuerung von Kapitalerträgen nach dem persönlichen Steuersatz sowie einen gesetzlichen Mindestlohn. ({9}) Im Übrigen erhöht der Mindestlohn letztendlich die Einnahmen der Sozialkassen und stabilisiert diese. Es muss eine Sofortmaßnahme zur Entlastung der klammen Kommunen beschlossen werden, die allein bis 2013 Steuermindereinnahmen in Höhe von 11,9 Milliarden Euro zu verkraften haben werden. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, die Zahlungen der Kommunen an den Bund im Rahmen der Gewerbesteuerumlage zu streichen. Das würde die Kommunen um jährlich rund 1,2 Milliarden Euro entlasten. ({10}) Steuern sind die Grundlage dafür, dass der Staat handeln kann, dass er für Bürgerinnen und Bürger Schulen, Universitäten, Schwimmbäder, Kindergärten sowie Kultur- und Sporteinrichtungen vorhalten kann. Die Linke sagt: Soziale Gerechtigkeit kann nur hergestellt werden, wenn Steuern in gerechter Form erhoben werden. Das heißt, starke Schultern müssen mehr tragen als schwache. Ich danke Ihnen. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP spricht der Kollege Dr. Volker Wissing. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Besten Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Sie von der Opposition uns hier vormachen, ist schon einigermaßen absurd. ({0}) Sie erklären, man könne eine Steuerreform in Deutschland erst angehen, wenn der Staat die Spielräume dazu hat - als ob der Staat erst einmal Geld übrig haben müsste, das er nicht braucht, bevor er etwas reformieren kann. Das ist schon ein ziemlich abwegiger Blick auf die Dinge. ({1}) Wir reden jetzt über eine Steuerschätzung, nicht mehr und nicht weniger. Diese Steuerschätzung zeigt Tendenzen auf. Die früheren Finanzminister können sicherlich ein Lied davon singen, wie oft Steuerschätzungen korrigiert werden müssen. Wir nehmen diese Steuerschätzung aber ernst und machen sie zum Gegenstand unserer Beratungen zur Umsetzung des Koalitionsvertrages; Staatssekretär Koschyk hat Ihnen das eben erklärt. Im Übrigen haben wir Ihnen in der letzten Aktuellen Stunde zu einem ziemlich ähnlichen Thema schon einmal erklärt - ich glaube, wir werden noch einige von Ihnen beantragte Aktuelle Stunden zu dem Thema haben; dann erklären wir es Ihnen noch einmal -, was im Koalitionsvertrag steht, der in dieser Legislaturperiode von der Koalition umgesetzt wird, weil das notwendig ist: ({2}) Wir haben kein Einnahmeproblem, sondern ein Ausgabenproblem. ({3}) Der Bundeshaushalt ist zu aufgebläht. Deswegen müssen wir an die Ausgaben herangehen. Wir stehen in der Haushaltspolitik mit dem Rücken zur Wand. Das kann man nicht lösen, indem man die Einnahmen erhöht. Stattdessen braucht man eine bessere Haushaltspolitik. Sie werden das unter dieser Koalition erleben. ({4}) Sie reden immer von Mindereinnahmen. Tatsächlich ist es so: Gemäß dieser Steuerschätzung wird das Steueraufkommen in den nächsten Jahren weniger stark steigen als prognostiziert; aber es steigt: ({5}) im Jahre 2011 gibt es plus 0,9 Prozent, im Jahre 2012 plus 4,8 Prozent, im Jahre 2013 plus 4,0 Prozent, im Jahr 2014 plus 3,6 Prozent. Davon können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland nur träumen. ({6}) Insofern sagen wir: Die Einnahmen können sich sehen lassen; es sind immerhin über 510 Milliarden Euro in diesem Jahr. Lasst uns deshalb schauen, wie wir die erforderliche Haushaltskonsolidierung synchron mit einer Steuerstrukturreform zur Entlastung der unteren und mittleren Einkommen gestalten können, damit das Land nicht in eine soziale Schieflage kommt! ({7}) Ich halte die steuerliche Entlastung der unteren und mittleren Einkommen für eine Frage der Gerechtigkeit in diesem Land. Wir reden über ein Entlastungsvolumen in Höhe von 16 Milliarden Euro, das in dieser Legislaturperiode noch zur Verfügung steht. Das entspricht lediglich 3 Prozent der Einnahmen. ({8}) Wir wollen das auch nicht sofort umsetzen, sondern wir wollen das zum Jahr 2012 in Kraft setzen. Sie behaupten, Steuersenkungen seien nicht möglich. Sie behaupten auch, Steuerentlastungen würden unser Land in eine Krise stürzen. Deswegen möchte ich Ihnen erklären, was wir im Jahr 2010 erreicht haben. Zum 1. Januar 2010 haben wir den ersten Schritt hin zu einer Steuerentlastung umgesetzt. ({9}) Wir haben die Bürger um 8 Milliarden Euro entlastet. ({10}) Sie haben gesagt: Damit fährt der Staat an die Wand. Nichts ist mehr finanzierbar. Es werden riesige Löcher in den Haushalt gerissen. ({11}) Was ist das Ergebnis der Steuerschätzung? Die Mindereinnahmen durch Steuersenkungen wurden durch Mehreinnahmen ausgeglichen. Das haben wir Ihnen vorher gesagt. Sie lagen falsch. Wir lagen richtig. Deswegen werden wir diese richtige Finanzpolitik fortsetzen. Sie ist der richtige Weg. ({12}) Sie behaupten immer wieder, das würde sich nicht gegenfinanzieren lassen, das würde keine Wachstumsimpulse auslösen. Dazu sage ich: Lesen Sie die Steuerschätzung. Das Gegenteil von dem, was Sie prognostiziert haben, ist der Fall. ({13}) Sie bekommen langsam ein Problem. ({14}) - Herr Heil, lachen Sie nicht. - Stellen Sie sich vor Ihre Wähler und erklären Sie ihnen Folgendes: In Ihrem Wahlprogramm, das Sie Ende 2009 verabschiedet haben, ({15}) steht, dass Sie untere und mittlere Einkommen entlasten werden. ({16}) Jetzt befinden sich die Steuereinnahmen auf dem Niveau von 2009, als Sie Ihr Wahlprogramm verabschiedet haben. Jetzt verweigern Sie genau das, was Sie den Wählerinnen und Wählern vorher versprochen haben. Sie bekommen langsam ein Problem, Herr Heil: Sie begehen nämlich schon wieder Steuerwahlbetrug. ({17}) Damals haben Sie versprochen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Dann haben Sie sie um 3 Prozent nach oben getrieben. Jetzt verweigern Sie den Menschen die Entlastung, die Sie ihnen zugesagt haben. ({18}) Ich sage Ihnen: Eine Aktuelle Stunde nach der anderen zum Thema Steuerpolitik wird ein Rohrkrepierer für die Sozialdemokraten. ({19}) Deswegen freuen wir uns. Beantragen Sie die nächste Aktuelle Stunde. Das ist eine gute Sache. Wir werden Ihnen immer wieder vorhalten, dass Sie Wahlbetrug begehen, wenn Sie unsere Politik nicht unterstützen; denn sie ist in Wahrheit sozial gerecht. Sie führt zu einem gerechten Ausgleich. ({20}) Wer nicht dafür sorgt, dass die Haushaltskonsolidierung, die in großen Schritten notwendig ist, mit steuerlicher Entlastung und einer Hinwendung zu einem faireren Steuertarif synchron geht, der bringt unser Land in eine soziale Schieflage. ({21}) Das wird jedenfalls diese Koalition nicht zulassen. ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Alexander Bonde spricht für das Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren die ganze Woche darüber, welche Auswirkungen Schulden haben und welche Auswirkungen es hat, wenn Politik wie in Griechenland nicht in der Lage ist, Haushalte auf Dauer nachhaltig und tragfähig zu gestalten. Es ist schon interessant, diese Debatte zu führen, weil sie vonseiten der FDP-Fraktion mit einem völlig anderen Duktus geführt wird. Sie haben versucht, eine Steuerschätzung, die eine schallende Ohrfeige für Ihre gesamten ökonomischen Grundannahmen darstellt, als Bestätigung dafür heranzuziehen, dass es Möglichkeiten für Steuersenkungen gibt. Herr Wissing, Ihr Auftritt ist vielleicht lustig, aber wenn man die Konsequenzen betrachtet, dann vergeht den Menschen das Lachen. Sie haben behauptet, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz habe Wachstum beschleunigt und sich gegenfinanziert. ({0}) Ich bitte Sie: Lesen Sie die Studie des Sachverständigenrates, die gerade belegt hat, dass Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das eine Entlastung von über 8 Milliarden Euro vorsieht, eine Wachstumswirkung von 0,05 bis 0,07 Prozent hat. ({1}) Das heißt, wir reden über einen Promillebereich. Sie erzählen uns, es sei ein gutes Geschäftsmodell, wenn man 8,5 Milliarden Euro in etwas investiert und eine gute Milliarde Euro ausgezahlt bekommt. Mit Verlaub: Sie können nicht rechnen, Herr Wissing. Das ist Ihr Problem. ({2}) Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Wir haben in diesem Land eine Neuverschuldung in Höhe von 80 Milliarden Euro, Ihre ganzen Schattenhaushalte noch nicht eingerechnet. Vor der Anerkennung dieser Tatsache drücken Sie sich. Sie fragen sich nicht: Was machen wir eigentlich, um aus dieser Situation herauszukommen? Nun sagen Sie: Wir haben 2013 höhere Einnahmen als heute. Diese sind dann so hoch wie im Jahr 2008. - Das hat uns der Finanzminister im Fernsehen freundlich vorgerechnet. Wenn der Finanzplan, den Sie im Rahmen der Bereinigungssitzung eingebracht haben, stimmt, dann sind auch die Ausgaben im Jahr 2013 um 30 Milliarden Euro höher als 2008. ({3}) Hinzu kommt, dass die Neuverschuldung in Höhe von 80 Milliarden Euro gesenkt werden muss. Wo stehen Sie dann mit dem, was Sie verkündet haben? Was bedeutet das für den Bundeshaushalt? ({4}) Alle Ihre Minister sind heute freundlicherweise zu Hause geblieben. Diese könnten einmal ausrechnen, welche finanziellen Auswirkungen die im Finanzplan eingeplanten Sonderausgaben und die Wunschlisten haben, die Sie Herrn Schäuble geschickt haben. Sie müssen laut den Vorgaben der Schuldenbremse 10 Milliarden Euro im Jahr einsparen. Hinzu kommen das, was Sie vorgeschlagen haben, und die Einsparnotwendigkeiten aus der Steuerschätzung, die sich im Vergleich zum Finanzplan noch einmal auf 10 Milliarden Euro im Jahr belaufen. ({5}) Ich frage Sie: Liefert Herr Brüderle oder Herr Rösler diese Milliarden? Ich will das jetzt von Ihnen wissen. ({6}) Sie drücken sich konsequent vor der Beantwortung der Frage, woher diese Milliarden kommen sollen. Sie können noch nicht einmal darlegen, wo die 10 Milliarden Euro gemäß den Vorgaben der Schuldenbremse eingespart werden sollen, ohne mit Tricks zu arbeiten. Sie alle ventilieren längst die griechische Lösung für das Jahr 2011. Sie wollen mit einem Buchungstrick bei der Bundesagentur für Arbeit die erste Stufe der Verschuldungsreduzierung erreichen. ({7}) Das ist nur Kosmetik; denn Sie reduzieren die Verschuldung tatsächlich um keinen Euro. Nicht einmal hier schaffen Sie es, 10 Milliarden Euro einzusparen. Nichtsdestotrotz erzählen Sie uns, dass Sie es in Einklang bringen werden, 10 Milliarden Euro gemäß den Vorgaben der Schuldenbremse und 10 Milliarden Euro, die laut Steuerschätzung für einen Konsolidierungskurs notwendig sind, einzusparen und gleichzeitig Steuergeschenke zu machen. Mit Verlaub, ich glaube an den Nikolaus, aber nicht an Sie, Herr Wissing. Solche Wunder kann auch die FDP nicht vollbringen. ({8}) Wir haben erlebt, wie Sie, obwohl Sie die Zahlen schon kannten, den Bundestagswahlkampf mit einer Lüge bestritten haben und den Menschen gesagt haben: Niemand glaubt daran, aber wählt uns; das klappt schon irgendwie. - Sie halten nun genau die gleiche Lüge bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen aufrecht. Dabei sind Sie durch die Steuerschätzung krachend widerlegt worden. ({9}) Bis 2013 fehlen 40 Milliarden Euro im Vergleich zur letzten Steuerschätzung, auf der Ihre gesamten offiziellen Haushaltsplanungen basieren. Bis 2014 fehlen 50 Milliarden Euro. Wir haben bislang noch nicht über die Lage der Kommunen gesprochen. Wir erleben, wie dort, wo keine Rücklagen mehr vorhanden sind, in die öffentliche Daseinsvorsorge eingegriffen werden muss. Wie wir alle wissen, gehen die Rücklagen in den meisten Kommunen zu Ende. Dabei geht es genau um den Zeitraum, in dem es laut Steuerschätzung zusätzliche milliardenschwere Einbrüche geben wird. Nichtsdestotrotz packen Sie weitere Belastungen obendrauf. Sie wollen einen anderen Staat. Sie wollen etwas anderes als die Infrastruktur, die den Bürgerinnen und Bürgern bislang als Selbstverständlichkeit im täglichen Leben zur Verfügung steht. Sie gehen an die Finanzierung der Kinderbetreuung, der Schwimmbäder und der Bibliotheken heran. Sie gefährden die Fähigkeit des Bundes, Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Das gilt auch im Hinblick auf die Bildungsfinanzierung durch die Länder. Das, was Sie vertreten, ist nichts anderes als ein milliardenschwerer Anschlag auf die Finanzierung all dieser Bereiche. Dafür werden Sie in NRW zu Recht die Quittung bekommen. Sie werden sich nicht durchsetzen können; das wissen Sie genau. Ich freue mich jedenfalls auf weitere Aktuelle Stunden. Wenn man mathematisch nicht so bewandert ist, kann man viel vorrechnen, Herr Wissing. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! An Ihrer Stelle, Herr Poß, hätte ich mich eben geschämt. Sie haben Ihre Rede mit dem Satz eingeleitet, die Wähler hätten vor der letzten Bundestagswahl die Katze im Sack gekauft. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Bundestagswahl 2005 und Ihre Kampagne gegen die Mehrwertsteuererhöhung, die sogenannte Merkel-Steuer. Das war Ihre zentrale Wahlkampfaussage. ({0}) Wenn sich einer verstecken muss, dann sind Sie das. Sie haben damals nicht nur die Katze im Sack verkauft, sondern die Menschen wirklich hinters Licht geführt; das muss ich deutlich sagen. ({1}) Sie sind als Anwalt der kleinen Leute beim Thema Steuern völlig aus dem Geschäft. ({2}) - Ich sage die Wahrheit und erinnere die Menschen an den wirklichen Sachverhalt. ({3}) Es wird Ihnen heute nicht gelingen, einen Keil in diese Regierungskoalition hineinzutreiben; das ist ja das, was Sie mit dieser Aktuellen Stunde versuchen. ({4}) Im Kern, in den Grundlagen und in den Zielvorstellungen stimmen wir völlig überein. Wir wollen ein einfacheres und gerechteres Steuersystem. Wir wollen die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen entlasten; denn sie tragen diesen Staat und dieses Gemeinwesen. ({5}) Sie finanzieren all die Steuereinnahmen, die in diesem Land - heute wurde uns die Schätzung vorgelegt - zusammenkommen. ({6}) Deswegen verfolgen wir die Ziele, Mittelstandsbauch und kalte Progression abzubauen, weiter. Wir stellen uns ganz bewusst der Realität - das ist das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben -: Wir nehmen die Steuerschätzung von heute zur Grundlage und orientieren uns an dem verfassungsrechtlich festgelegten Prinzip der Schuldenbremse. Im Übrigen sehen wir auch die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die unsere Handlungsspielräume festlegt. ({7}) Dabei spielen auch die Themen „Selbstfinanzierung“ und „Wachstumseffekte durch steuerliche Erleichterungen“ eine Rolle. ({8}) Wir haben unsere Zusage „Mehr Netto vom Brutto“ eingelöst. ({9}) Schon allein mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir Familien und damit die Breite der Einkommensbezieher in diesem Land massiv entlastet. ({10}) Im Gegensatz zu Ihnen haben wir diese Zusage eingehalten. ({11}) Die Situation ist ernst. Vor zwei Jahren sind uns für dieses Jahr insgesamt 595 Milliarden Euro Steuereinnahmen prognostiziert worden. Nach der aktuellen Steuerschätzung werden wir in diesem Jahr 85 Milliarden Euro weniger zur Verfügung haben. Die Spielräume sind dadurch kleiner geworden. Deswegen stehen für uns die Themen Haushalten und Konsolidieren im Vordergrund; Herr Koschyk hat das zu Recht betont. Aus dieser Konsolidierung heraus lassen sich aber weitere Spielräume erarbeiten; das hat der Kollege Wissing aus meiner Sicht richtigerweise deutlich gemacht. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir unsere Regierungsarbeit so konsistent und aus meiner Sicht auch erfolgreich fortsetzen, wie wir das bisher gemacht haben. ({12}) Obwohl wir im letzten Jahr einen Einbruch von 5 Prozent bei unserem Bruttosozialprodukt hatten - einen so starken Einbruch haben wir in diesem Land noch nie erlebt -, haben wir die Zahl der Arbeitslosen bei knapp über 3 Millionen stabil gehalten. ({13}) Auch das ist eine Leistung. Vor allen Dingen ist das eine Leistung, die sich im Tun dieser Regierung bemerkbar macht. Wir haben die Jobcenter jetzt neu geregelt. Das ist ganz wichtig für die Vermittlung von Menschen, die langzeitarbeitslos sind. Wir haben die Regelung für das Kurzarbeitergeld erneut verlängert, und wir haben das Schonvermögen bei Hartz IV neu geregelt. All das sind Beiträge für mehr Gerechtigkeit und mehr Arbeit in Deutschland. ({14}) Auf das Wachstumsbeschleunigungsgesetz bin ich schon eingegangen. Dadurch entlasten wir vor allem die Familien erheblich, und zwar im Umfang von fast 5 Milliarden Euro. Schon jetzt haben wir bessere Bedingungen geschaffen und unser Versprechen gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen eingelöst. Ich habe nie verstanden, dass Sie gegen dieses Gesetz gestimmt haben - das sage ich Ihnen ganz ehrlich -; denn wir haben im Wesentlichen Regelungen beseitigt, die die Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation gefährdet hätten. Auch die Arbeitsplätze, die daran hängen, wären massiv gefährdet gewesen. ({15}) Sie betrachten Steuerpolitik immer als eine statische Veranstaltung: Die Unternehmen und die Steuerzahler sind immer die Gleichen, die bleiben auch in ihrer wirtschaftlichen Qualität immer gleich. Sie sehen nicht, dass wir zusätzliche Wachstumseffekte ausgelöst haben, indem wir den Unternehmen mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz in der Zeit der Kreditklemme Luft verschafft haben. Diese zusätzlichen Wachstumseffekte können wir an den ersten Kennzahlen dieses Jahres ablesen. Deshalb können wir längerfristig und perspektivisch davon ausgehen, dass sich unsere wirtschaftliche Lage und damit auch das Potenzial für künftige Steuereinnahmen verbessern werden. ({16}) Damit werden sich unsere Handlungsspielräume erweitern. Ich glaube, wir sollten einfach weitermachen. Unsere Wirtschaft nimmt Fahrt auf. Die Situation am Arbeitsmarkt bleibt stabil und wird sich wahrscheinlich sogar verbessern. ({17}) Das ist erkennbar das Ergebnis der Arbeit dieser Regierung. Jedem, der in Nordrhein-Westfalen noch über seine Wahlentscheidung nachdenkt, kann ich nur empfehlen, eine so stabile und ordentliche Koalition zu wählen, wie sie hier regiert. Danke. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wirke sich jetzt auf die öffentlichen Haushalte aus, sodass mit geringeren Steuereinnahmen zu rechnen sei, sagte der Vertreter des schleswig-holsteinischen Finanzministeriums im Arbeitskreis, Matthias Löscher, vor Beginn der Sitzung. Er hat es verstanden, Herr Kollege Wissing. Sie haben es nicht verstanden. ({0}) Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschleunigt das Wachstum der Schulden; das haben wir schon mehrfach festgestellt. Aber es ist gut, dass uns die Zahlen nach der Pressekonferenz, die heute um 13 Uhr stattfand, tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Sehen Sie sich die Zahlen an und rechnen Sie einmal zusammen, wie hoch das Steueraufkommen bei Bund, Ländern und Gemeinden im Jahre 2009 war und wie die Schätzung für dieses Jahr aussieht. Dann stellen Sie fest, dass 20 Milliarden Euro fehlen. Komisch, 20 Milliarden Euro sind weg, unter anderem dank Ihres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes ({1}) und anderer steuerlicher Maßnahmen, mit denen Sie Bund, Ländern und Gemeinden Geld wegnehmen. ({2}) Wenn Sie sich die Zahlenkolonnen für 2011, 2012 und 2013 ansehen, dann werden Sie feststellen: Es geht nur ganz langsam wieder bergauf. Was da beschleunigt wird, frage ich mich die ganze Zeit. Wachstum wird damit sicherlich nicht beschleunigt. Wenn wir insgesamt fünf Jahre brauchen, um bei den Steuereinnahmen wieder den Stand des Jahres 2008 zu erreichen, dann hat das mit Wachstumsbeschleunigung aus meiner Sicht gar nichts zu tun. ({3}) Man kann daraus auch nicht schließen, es gebe riesige Spielräume für Steuersenkungen. Es ist so: Sie haben in diesem Hause vor kurzem den Haushalt für dieses Jahr verabschiedet, der eine Neuverschuldung in Höhe von 80 Milliarden Euro vorsieht; das ist eine Summe, die man sich gar nicht vorstellen kann. Um das einmal auf einen Privathaushalt zu übertragen: Wenn jemand ein Jahreseinkommen von 40 000 Euro, aber jährliche Kosten von 60 000 Euro hat, dann hilft es ihm nicht, wenn er in einem Jahr 50 000 Euro verdient. Ihm fehlt trotzdem Geld. Dann kann er nicht sagen: Ich gebe das Geld, das ich mehr eingenommen habe, aus, weil es so gut läuft. - Aber Sie arbeiten so. Sie streuen den Leuten Sand in die Augen. Sie sollten lieber dafür sorgen, dass anständige Haushaltspolitik gemacht wird und dass größere Spielräume geschaffen werden. Später, wenn die Einnahmen die Ausgaben wieder decken, kann man gerne darüber nachdenken, ob und wie man dieses Geld neu verteilt. Staatssekretär Koschyk hat hier vorgetragen, dass sich keine Regierung dem Thema Kommunalfinanzierung so intensiv angenommen hat wie die jetzige. An dieser Stelle darf ich nur darauf hinweisen: Herr Kollege Koschyk, Sie sind zwar länger im Bundestag als ich, aber vorher haben Sie sich offensichtlich nicht mit Finanzpolitik beschäftigt. Denn sonst wüssten Sie, dass im Jahre 2002 der Finanzminister der damaligen rot-grünen Regierung, Hans Eichel, eine Kommission zu diesem Thema eingesetzt hat. Sie hat auch Ergebnisse produziert, und zwar gute Ergebnisse. ({4}) Über eines dieser Ergebnisse haben wir heute Morgen diskutieren müssen, weil beklagt worden ist, was bei der Neuorganisation der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe passiert ist. Diese Kommission hat alle Modelle, die Sie jetzt für teures Geld noch einmal prüfen lassen, schon einmal geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie den Kommunen nichts bringen. Deswegen hat sie damals empfohlen: Belasst es bei der Gewerbesteuer, macht sie sicherer, und macht sie besser. - Das haben wir getan. Das haben wir unter Rot-Grün getan, und das haben wir unter Schwarz-Rot fortgeführt; aber davon wollen die Kollegen von der Union jetzt nichts mehr wissen. ({5}) Das war sinnvoll, und das war richtig. Lassen Sie aber die Finger von der Gewerbesteuer. ({6}) Ich habe mir angesehen, was vorhin auf Phoenix übertragen wurde. Der Bundesfinanzminister hat einen Satz gesagt, der mich ein bisschen nachdenklich gemacht hat. Er hat gesagt: Die Steuerausfälle in Höhe von 40 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 verteilen sich auf die verschiedenen Ebenen, aber die Verteilung selber sei nicht so wichtig. ({7}) Das fand ich ziemlich frech. Er hat nämlich verschwiegen, dass die Hauptlast dieser Defizite in den nächsten Jahren von den Kommunen zu tragen sein werden; ({8}) der Kollege Bonde hat die Zahlen genannt. Länder und Gemeinden verzichten auf ungefähr 11 Milliarden Euro, der Bund auf 12 Milliarden Euro, jede Ebene also auf ungefähr ein Drittel der Summe der Ausfälle. Wenn man berücksichtigt, dass der Anteil der Kommunen am gesamten Steueraufkommen insgesamt nur 12,8 Prozent beträgt, wird deutlich: Das ist eine unglaubliche Mehrbelastung der Kommunen. Darauf müssen Sie Antworten geben. Ihre Kommission ist keine Antwort. ({9}) Was wir brauchen, sind Sofortmaßnahmen für die Kommunen, mit denen wir ihnen helfen, dieses schwierige Jahr und die nächsten schwierigen Jahre zu überstehen. In anderen Debatten haben wir Ihnen dazu Vorschläge gemacht. Ein letztes Wort zur FDP; das kann ich mir einfach nicht verkneifen. ({10}) - Frau Piltz, reden Sie auch noch, oder dürfen Sie heute nicht? ({11}) Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende, Herr Pinkwart, hat gestern im Morgenmagazin im ZDF gesagt, die FDP in Nordrhein-Westfahlen würde Rückenwind aus den Kommunen verspüren. Darüber kann ich nur lachen. ({12}) Die Kommunen fühlen sich von Ihnen massiv bedroht. Rückenwind für Sie gibt es aus den Kommunen nicht. ({13}) Sie haben es geschafft, das Wort „Steuersenkung“ zur Negativformel zu machen. ({14}) Wenn die Leute „Steuersenkung“ hören, halten sie sich die Ohren zu, weil sie wissen, dass sie das am Ende eine Menge Geld kosten wird. ({15}) Das ist sehr gut zusammengefasst in einem Kommentar, den ich Ihnen noch ganz kurz vorlesen möchte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Scheelen, dazu reicht die Zeit jetzt nicht mehr.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Doch, das geht ruck, zuck; es sind nur wenige Zeilen. ({0}) Eine deprimierende Lage - wenn es die FDP nicht gäbe. In früheren Zeiten boten Quacksalber auf den Marktplätzen manches Gebräu feil, das angeblich gegen alles half, was mit Krankheit zu tun hat vom Hühnerauge bis zur Pestbeule. Die FDP versucht, das Volk für ähnlich blöd zu verkaufen. Die Partei des Guido Westerwelle verspricht Steuersenkungen, 3864

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Scheelen, geben Sie doch einfach die Quelle an, wo man das nachlesen kann. Aber beenden Sie jetzt bitte Ihre Rede. ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- wenn es dem Staat gut geht, weil dann genug Geld dafür da sei. „Bürger am Aufschwung beteiligen“, heißt das dann. Und sie verspricht Steuersenkungen, wenn es dem Staat schlecht geht, weil das angeblich die Wirtschaft massiv ankurbele. So kann man nicht Politik machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Daniel Volk das Wort. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Scheelen, was Sie gerade vorgetragen haben, war schon abenteuerlich. ({0}) Sie beklagen die Finanzsituation der Kommunen? Sie behaupten, dass die Kommunalfinanzierung in den ganzen letzten Jahren hervorragend gewesen sei? Es war gerade die Politik der SPD-Finanzminister in den letzten zehn Jahren - zehn verlorenen Jahren, muss man sagen -, die dazu geführt hat, dass die finanzielle Lage der Kommunen jetzt angespannt ist. ({1}) Wie schon nach der letzten Steuerschätzung zu erwarten war, werden die Steuereinnahmen des Staates im Jahr 2010 wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise vorübergehend sinken. Es ist aber deutlich ein Trend nach oben zu erkennen. Der Einbruch der Wirtschaft und damit auch der Einbruch der Einnahmen des Staates fiel deutlich kleiner aus als allgemein befürchtet. ({2}) Im Jahr 2010 werden die Steuereinnahmen mit 510 Milliarden Euro etwas unter dem im November 2009 geschätzten Niveau liegen. Dabei gleichen sich Mindereinnahmen infolge zwischenzeitlich beschlossener Steuerentlastungen und Mehreinnahmen aufgrund der verbesserten konjunkturellen Entwicklung weitgehend aus. ({3}) Das können Sie in der Steuerschätzung, die heute veröffentlicht wurde, nachlesen, lieber Herr Bonde. ({4}) Die christlich-liberale Koalition hat es also erreicht, durch Steuerentlastungen zu Beginn dieses Jahres die Konjunktur zu stützen und damit insgesamt die Steuereinnahmen zu konsolidieren. Wir werden diesen in der Koalition vereinbarten Weg weitergehen. Auch die aktuelle Steuerschätzung ist kein Grund für einen Verzicht auf die Steuerreform. ({5}) Bereits ab dem nächsten Jahr werden die Steuereinnahmen wieder steigen. Nach den heute veröffentlichten Zahlen werden die Steuereinnahmen selbst im Jahr 2010 deutlich über dem Niveau der Jahre 2005 und 2006 liegen. Es gibt da in der Steuerschätzung ein Balkendiagramm, das das optisch schön verdeutlicht. Wieder einmal wird deutlich, dass wir in Deutschland kein Einnahmeproblem haben, sondern ein Ausgabenproblem. ({6}) Wir geben zu viel Geld an den falschen Stellen aus. ({7}) Im Subventionsbericht der Bundesregierung kann das jeder nachlesen und sich selbst ein Bild davon machen. ({8}) Der Umfang der Subventionen ist im Jahr 2008 zwar um rund 250 Millionen Euro zurückgegangen, aber nur um im Jahr 2009 um gut 6 Milliarden Euro auf rund 29,5 Milliarden Euro zu steigen. ({9}) Steuererhöhungen führen immer auch zu Subventionserhöhungen. Im Umkehrschluss führen Steuersenkungen zu Subventionssenkungen. Das ist verantwortungsbewusste Finanz- und Steuerpolitik, wie wir sie betreiben werden. ({10}) Das Fazit des Subventionsberichts der Bundesregierung vom Januar 2010 ist eindeutig - ich zitiere -: Nach Überwindung der Krise muss auch und gerade der Subventionsabbau zur Haushaltskonsolidierung beitragen. ({11}) Der Staat hat zwar weniger Steuereinnahmen zu verzeichnen als erhofft, aber er nimmt mehr Steuern ein als je zuvor. ({12}) Die zu erwartenden Einnahmerekorde des Staates müssen wir nutzen, um die Schulden zu reduzieren und gleichzeitig die Gering- und Normalverdiener zu entlasten. ({13}) Es kann schließlich nicht sein, dass die Bürger aufgrund der Steuer- und Abgabenlast immer strenger haushalten müssen, während der Staat dies nicht tut und den Ausgaben freien Lauf lässt. ({14}) Gesunde Staatsfinanzen sind das A und O einer verantwortungsbewussten Regierungsarbeit, Herr Poß. Darüber dürfte in diesem Hause zwischen allen Fraktionen Einigkeit bestehen. Aber jede Partei in diesem Haus sollte sich auch selbstkritisch fragen, ob das unter ihrer Regierungsverantwortung - sei es im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen - in der Praxis auch tatsächlich eingehalten wird. Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. ({15}) Wir haben die Familien entlastet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden die Bildungschancen für alle Menschen in diesem Land verbessern. Denn dies bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielen Jahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesem Land. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine lieben Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hatte die Hoffnung, dass der Tag der Steuerschätzung für Sie auch ein Tag der Erkenntnis wäre. ({0}) Seit sechs Monaten regieren Sie dieses Land: Sechs Monate Phantasialand. Sechs Monate lang haben Sie auf diesen Termin verwiesen; mit der Steuerschätzung würden alle Probleme gelöst. Was können wir heute feststellen? Das Märchenbuch „Koalitionsvertrag dieser schwarz-gelben Regierung“ bestimmt weiter. Sie sind nicht in der Lage, den Ernst der Situation nicht nur in Griechenland und Europa, sondern auch in Deutschland zu erkennen. ({1}) Die Steuerschätzung hat ergeben, dass Sie eine Steuerlücke von zusätzlich 30 Milliarden Euro haben. ({2}) Sie müssen bis 2014 40 Milliarden Euro aufgrund der Schuldenbremse einsparen. Zudem hat Ihre traute Ministerriege im Koalitionsvertrag Mehrausgaben in Höhe von weiteren 30 Milliarden Euro beschlossen. Dafür haben Sie alle die Hand gehoben. Ich kann es Ihnen vorrechnen. Vorgesehen sind zusätzliche Ausgaben für den Bereich Gesundheit sowie 14 Milliarden Euro für die Forschung und 2 Milliarden Euro pro Jahr für die Erfüllung der ODA-Quote. Insgesamt kommen wir auf eine Lücke von 100 Milliarden Euro, die Sie gegenfinanzieren müssen. ({3}) Was ist dazu von Ihrer Seite zu hören? Sie wollen Subventionen abbauen. Sagen Sie bitte ganz konkret, welche Subventionen. ({4}) Sie regieren seit sechs Monaten. In dieser Zeit haben Sie nicht viele Gesetze gemacht. ({5}) Ich glaube, noch keine Regierung hat sechs Monate verstreichen lassen und gerade mal drei oder vier Gesetze gemacht. ({6}) - Herr Wissing, das eine Gesetz, das Sie Wachstumsbeschleunigungsgesetz genannt haben, ist Volksverdummung. Es hat eine Steigerung des Wachstums von 0,07 Prozent bewirkt. ({7}) Das sagt Ihr Sachverständigenrat. Es hat aber die Subventionszahlungen des Bundes - das können Sie im Sub3866 Carsten Schneider ({8}) ventionsbericht nachlesen - um 1 Milliarde Euro erhöht, nämlich für die Hoteliers. Statt Subventionen abzubauen, haben Sie 1 Milliarde Euro zusätzliche Subventionen beschlossen. ({9}) Nicht nur die Menschen, sondern auch die Finanzmärkte wollen wissen, wo Sie konsolidieren. Wo sparen Sie denn? Sie reden immer von Steuermehreinnahmen. Warum machen Sie es denn nicht, wenn das alles so einfach ist? Bringen Sie doch Ihre Gesetzentwürfe ein! Stattdessen diskutieren Sie und nerven Sie uns schon seit Wochen und Monaten immer mit derselben Leier. Dabei liegt real nichts auf dem Tisch. ({10}) Herr Wissing, als die Wirtschaft im Jahr 2009 um 5 Prozent eingebrochen ist, haben wir noch mitregiert und einen Haushalt vorgelegt, der eine Neuverschuldung von knapp 40 Milliarden Euro vorgesehen hat. ({11}) 2010 dagegen haben wir wieder ein leichtes Wachstum von 1,2 bis 1,4 Prozent zu verzeichnen. Die Neuverschuldung beträgt 80 Milliarden Euro. Mit den Stimmen der SPD waren es 40 Milliarden Euro bei einem Minus von 5 Prozent beim Wirtschaftswachstum. Mit Ihren Stimmen sind es 80 Milliarden Euro Schulden bei 1 Prozent Wachstum. Herzlichen Glückwunsch! Wo bleibt dabei die Generationengerechtigkeit? Wo bleibt die Nachhaltigkeit? Sie sind Schuldenweltmeister, nichts anderes. ({12}) - Widerspruch des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP] - Norbert Barthle [CDU/CSU]: Steinbrück wollte 87 Milliarden Euro!) 80 Milliarden Euro Schulden, 25 Prozent des Haushalts sind kreditfinanziert, und Sie wollen zusätzliche Steuersenkungen auf Pump finanzieren. Steuersenkungen auf Pump sind Steuererhöhungen in der Zukunft, nichts anderes. ({13}) Es wird Zeit, dass es am Sonntag eine politische Veränderung gibt, dass wir Klarheit bekommen und dass die Regierung endlich einen Gegenpol im Bundesrat bekommt. Ich bin da sehr zuversichtlich nach Ihrer Performance. Sie haben alles darauf ausgerichtet, über diese eine Landtagswahl zu kommen. Sie haben einen Koalitionsvertrag geschlossen, der ein Märchenbuch ist, ohne Finanzverhandlungen zu führen. Sie fragen nicht danach, was ist. Bei Ihnen hat man das Gefühl, dass Sie in der Fundamentalopposition sind, ohne die reale Situation anzuerkennen. Die Menschen in diesem Land werden Ihnen das nicht mehr abnehmen, und das ist auch gut so. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal, lieber Carsten Schneider: Der Haushaltsentwurf des SPD-Finanzministers für 2010 wies meines Wissens 87 Milliarden Euro Schulden auf. Bereits in der letzten Sitzungswoche haben wir an dieser Stelle auf Antrag der SPD über die Finanzierbarkeit der FDP-Steuerpläne debattiert. Bereits in der letzten Woche habe ich hier hinsichtlich des Einkommensteuerrechts festgestellt, dass das System gerade bei den niedrigeren und mittleren Einkommen offensichtlich eine Unwucht enthält. In der letzten Woche konnte ich hier auch feststellen, dass die Schuldenbremse und das Ziel eines konsolidierten Haushalts keineswegs eine Rechtfertigung dafür sind, dass wir in den steuerpolitischen Stillstand übergehen. Daran hat sich seit letzter Woche nichts geändert, auch nicht durch die Steuerschätzung, die seit knapp anderthalb Stunden vorliegt. Ganz im Gegenteil: Wenn wir unseren Haushalt nachhaltig konsolidieren wollen, dann brauchen wir wachstumsfördernde Anreize. Zu diesen wachstumsfördernden Anreizen gehört untrennbar ein leistungsgerechtes Steuersystem. ({0}) Mit dem von der SPD propagierten steuerpolitischen Stillstand erreichen wir jedenfalls gar nichts. Politik muss doch auch in Zeiten knapper Haushaltsmittel immer handlungsfähig sein. Wir müssen einen Spielraum für Konsum und für Investitionen der Menschen schaffen. Dass wir das können, haben wir in der Großen Koalition zusammen mit der SPD immer wieder bewiesen. Wir haben zusammen mit der SPD noch im letzten Jahr, vor wenigen Monaten, Maßnahmenpakete ({1}) für Investitionen der privaten Haushalte und der Kommunen mit einem Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro beschlossen. ({2}) Wir haben mit dem Konjunkturpaket II noch vor wenigen Monaten mit Ihnen zusammen den Eingangssteuersatz gesenkt, haben die Freibeträge erhöht und einen Kinderbonus ausbezahlt. Zusätzlich bringt das BürOlav Gutting gerentlastungsgesetz 10 Milliarden Euro Entlastung für die Menschen in diesem Land. All diese Maßnahmen haben dafür gesorgt, dass die Bürger in diesem Land wieder mehr Geld in der Tasche haben und die Konjunktur angekurbelt wird. All diese Maßnahmen wurden mit Ihnen zusammen beschlossen, all diese Maßnahmen haben Sie noch vor wenigen Monaten als notwendig und alternativlos mitgetragen. Damals haben Sie noch erkannt, dass steuerliche Anreize notwendig sind, um trotz der schwierigen Haushaltslage aus dieser Krise gestärkt herauszukommen. Was ist heute, nachdem die Große Koalition erst wenige Monate vorbei ist, daran falsch? Ihre 180-GradKehrtwende hin zum steuerpolitischen Stillstand kann vor diesem Hintergrund niemand verstehen. ({3}) Wo bleiben denn Ihre Konzepte? ({4}) Mit welchen Ideen wollen Sie denn das Wachstum in diesem Land ankurbeln? Wir jedenfalls sind der Überzeugung, dass wir den Menschen, den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land, mehr Netto vom Brutto lassen müssen. ({5}) Wir sind uns in der Regierungskoalition einig, dass die Glättung des Einkommensteuertarifs, der Ausstieg aus der kalten Progression und die Vereinfachung gerade des Einkommensteuerrechts dringend notwendig sind. ({6}) Dass dies alles in Zeiten knapper Kassen eine Herausforderung bedeutet, ist unbestritten. Ein solides Konzept und Schnellschüsse schließen sich gerade vor diesem Hintergrund aus. Wir brauchen Zeit. Eine Steuerentlastung gehört in ein haushaltspolitisches Gesamtkonzept, ({7}) und dies lässt sich jetzt, nachdem die Zahlen der Steuerschätzung vorliegen, fundiert entwickeln. ({8}) Im Übrigen - wenn ich das noch ergänzen darf - zeigen die Zahlen, die jetzt seit knapp zwei Stunden vorliegen, dass sich die Einnahmen stabilisieren. ({9}) Aber bereits zwei Stunden später ein durchgerechnetes Konzept zu fordern bzw. nach Bekanntgabe dieser Zahlen auf den steuerpolitischen Stillstand umzuschalten, ist absurd, und es zeigt vor allem eines: Sie in der SPD haben sich von dem Anspruch, dieses Land zu regieren, dieses Land zu gestalten, verabschiedet. Sie machen nur noch eines - das zeigt auch diese Aktuelle Stunde -: Sie machen auf billige Polemik. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ingrid ArndtBrauer das Wort. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Selten war eine Aktuelle Stunde so aktuell wie heute. Seit gut zwei Stunden kennen wir die Zahlen der Steuerschätzung. Wir hatten Schlimmes befürchtet, und es ist Schlimmes gekommen. Ich denke, Steuerausfälle in Höhe von knapp 40 Milliarden Euro bis 2013 sind schlimm. Man muss sich auch nicht freuen, dass wir 2013 dann das Niveau von 2008 wieder erreicht haben werden. Ich denke, das Ziel müsste jetzt eigentlich sein, stark gegenzusteuern. Alle, die in den letzten Tagen bei Griechenland-Debatten gesagt haben, wer die Maastricht-Kriterien reißt, sollte nicht mehr so viel Stimmrechte haben oder keine Förderung mehr kriegen, sollten sich mal überlegen, wie stark Deutschland davon betroffen wäre, wenn wir das wirklich ernst nehmen würden, was Sie da haben verlauten lassen. ({0}) Wir haben ab 2011 eine Schuldenbremse. Ich bin froh, dass wir sie haben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was die FDP machen würde, wenn wir sie nicht hätten. Wir haben sie, und wir müssen damit leben. ({1}) Ich sehe ein bisschen die Gefahr von Schattenhaushalten, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie man bei dieser Situation auf der Einnahmenseite jährlich 10 Milliarden Euro weniger Neuverschuldung darstellen will. Die FDP-Steuersenkungen im Umfang von 24 Milliarden Euro oder 16 Milliarden Euro ich weiß nicht, wo Sie augenblicklich sind; es kommt ja auch nicht so darauf an - sind jedenfalls in der Situation überhaupt nicht zu verantworten. ({2}) Wer gestern die Griechenland-Anhörung verfolgt hat, der hat den Chef der Bundesbank gehört, Professor Dr. Axel Weber, der gesagt hat: Das oberste Ziel muss die Haushaltskonsolidierung sein. Ausgeglichene Haushalte sind wichtig, aber vor allem muss die exzessive Verschuldung zurückgetrieben werden. Auch so etwas wie ein Hilfsprogramm für Griechenland muss man sich nämlich eigentlich leisten können, um es zu verantworten. Schäuble hat heute gesagt, er bleibt bei dem, was im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist. ({3}) Wenn ich ihn gutwillig verstehe, dann heißt das, der Finanzierungsvorbehalt bleibt. Das wird der FDP vielleicht nicht gefallen, auch den Wählern nicht, die sich auf diese Steuersenkungen jetzt doch ein bisschen eingestellt haben, aber FDP-Wähler sind in der Minderheit, und die Gruppe schrumpft zusammen. Politik muss nämlich verantwortbar für alle sein. Deswegen machen wir hier keine FDP-Politik, sondern versuchen, Politik für die gesamte Bevölkerung zu machen. ({4}) - „Familie“ ist ein gutes Stichwort. Ein heute geborenes Mädchen hat eine Lebenserwartung von ungefähr 100 Jahren. Nur, welches Leben erwartet sie eigentlich? ({5}) Wenn sie das Glück hat, in Rheinland-Pfalz geboren worden zu sein oder in Sachsen-Anhalt, dann erwarten sie Kitaplätze. In anderen Bundesländern noch nicht mal das. ({6}) Chancengleichheit bei der Bildung erwartet sie eigentlich nirgendwo, weil nämlich beide Bereiche chronisch unterfinanziert sind - sowohl Betreuung als auch Bildung. Wenn dieses Kind dann endlich in der Lage ist, Schulden abzutragen, wird es vor diesen Schuldenbergen stehen und sagen: Die Zinsen sorgen leider dafür, dass Sozialausgaben nicht mehr finanzierbar sind. Dieses Mädchen wird uns dann fragen: Wo wart ihr eigentlich, als die Steuersenker in der Verantwortung waren? Wieso seid ihr ihnen nicht in den Arm gefallen? Wieso habt ihr diese Steuersenkungs- und Lobbypolitik nicht verhindert? Wenn mir diese Fragen gestellt werden würden, müsste ich sehr viel erklären. Wenn Sie gefragt werden würden, dann können Sie sich nicht auf Altersdemenz berufen nach dem Motto „Ich kann mich nicht mehr erinnern“, sondern Sie müssen dann Stellung nehmen und sagen: Wir haben Klientelpolitik gemacht, und wir haben diejenigen Familien entlastet, die sowieso schon genug hatten. ({7}) - Nein. Sie wissen doch selber, dass die Entlastungswirkung des Kinderfreibetrages doppelt so hoch ist wie die der Kindergelderhöhung. ({8}) Das können Sie diesem Mädchen nicht erklären. Denn sie wird die Schulden, die Sie für die Erhöhung aufgenommen haben - Sie hatten das Geld ja auch nicht -, abtragen müssen. Dafür werden 100 Jahre, so befürchte ich, nicht ausreichen. Die FDP-These „Steuersenkung bewirkt Wachstum“ kann ich nicht mehr hören. Wachstum wie eine Monstranz vor sich herzutragen, ist ein Missbrauch von Politik, auch wenn es sich um nachhaltiges Wachstum handelt. Was wir vielmehr brauchen, ist eine wachsende Verantwortung für nachfolgende Generationen. Darum sollten wir uns bemühen. Mit einer solchen Politik sollten Sie beginnen. Dann können wir darüber reden, wie wir das Geld, das wir vielleicht irgendwann einmal übrig haben, vernünftig und sozial verantwortlich verteilen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Aumer für die Unionsfraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, warum die SPD diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Eineinhalb Stunden nach Verkündung des Ergebnisses der Steuerschätzung sollte man über die Konsequenzen diskutieren. ({0}) Wir haben über alles diskutiert, nur nicht über die Konsequenzen. Welche Konsequenzen zieht denn die SPD aus dieser Steuerschätzung? ({1}) Wo sind die guten Vorschläge der Opposition? Sie gibt es nicht. Es wäre aber Ihre Aufgabe, dass Sie uns sagen, welche Konsequenzen man aus Ihrer Sicht ziehen müsste. Das haben Sie nicht getan. Ihr Handeln ist reiner Populismus. ({2}) Sie schauen auf den nächsten Sonntag. ({3}) - Herr Heil, es ist so. - Sonst liegt Ihnen nichts am Herzen. Mit Ihrem Handeln erhoffen Sie sich, dass sich die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen für eine andere Politik entscheiden. ({4}) Sie werden es aber nicht tun, weil sie Sie durchschaut haben. ({5}) Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern in der Aussprache zur Regierungserklärung von

Not found (Kanzler:in)

Lasst uns gemeinsam um Spielräume für Handlungsfähigkeit von Politik kämpfen! Die Steuerschätzung gibt uns den finanziellen Spielraum vor. Das Ergebnis der Steuerschätzung begrenzt unseren Handlungsrahmen auf der Einnahmenseite, und die Schuldenbremse begrenzt unseren Handlungsrahmen auf der Ausgabenseite. Handlungsfähigkeit der Politik heißt, sich den Realitäten zu stellen ({0}) und aus den gegebenen Umständen - sprich: aus den heute erhaltenen Zahlen und Daten - die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Die Menschen in Deutschland trauen uns das zu. Darum und auch, weil die Menschen Vertrauen haben in den Gestaltungswillen, in das Verantwortungsbewusstsein und die Nachhaltigkeit unserer Politik, ist die christlich-liberale Koalition heute in Regierungsverantwortung. ({1}) Dieses Vertrauen werden wir nicht enttäuschen. Die Maßnahmen, die in Deutschland bereits während der Zeit der Großen Koalition ergriffen wurden, haben dazu beigetragen, dass wir die Talsohle der Krise schneller durchschritten haben als von vielen erwartet. ({2}) Dieser Erfolg schlägt aber noch nicht auf die Steuereinnahmen durch. Die Rezession hinterlässt tiefe Spuren in den öffentlichen Haushalten. Das trifft Bund, Länder und Kommunen mit gleicher Härte. ({3}) Besonders müssen wir darauf achten, dass den Kommunen die finanzielle Basis nicht entzogen wird. ({4}) Deswegen ist die Gemeindefinanzkommission eingesetzt worden. ({5}) - Herr Poß, schreien Sie nicht immer dazwischen! Ich denke, wir sollten konstruktiv zusammenarbeiten. ({6}) Politik mit Augenmaß ist gefragt. Nicht alles Wünschenswerte ist machbar. Wir verfolgen eine Finanzpolitik aus einem Guss, ({7}) ein verantwortungsbewusstes Gesamtkonzept, das aus einem Dreiklang besteht: Konsolidieren, Investieren und Entlasten. Das wollen wir, Herr Poß. ({8}) Wir müssen die Investitionen in Bund, Ländern und Kommunen auf hohem Niveau halten. Gerade die Investitionen in Bildung müssen ausgebaut werden, damit wir im internationalen Wettbewerb mithalten und unseren jungen Menschen optimale Ausgangsbedingungen bieten können. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir Familien gestärkt und Impulse für mehr Wachstum gesetzt. ({9}) Auch dadurch konnte der erwartete Einbruch am Arbeitsmarkt verhindert werden. Wir wollen eine steuerliche Entlastung insbesondere für die unteren und mittleren Einkommensbereiche. Hier soll vor allem die kalte Progression angegangen werden; denn sie ist leistungsfeindlich, gerade für die Leistungsträger im mittleren Bereich unserer Gesellschaft. ({10}) Außerdem wollen wir ein einfacheres und gerechteres Steuerkonzept. ({11}) Vor dem Hintergrund der veröffentlichten Zahlen gilt weiterhin: Konsolidierung und Entlastung gehören zusammen. Das ist der Arbeitsauftrag, den uns die Wählerinnen und Wähler gegeben haben: für eine nachhaltige Politik zu sorgen. Die Spielräume sind enger geworden. Aber wir werden diese Spielräume der Handlungsfähigkeit von Politik zum Wohle unseres Landes nutzen. Wir hoffen, dass die Worte Ihres Fraktionsvorsitzenden, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, keine reine Plattitüde waren, sondern ein konstruktives Angebot mit Blick auf eine zukunftsorientierte Politik, für die wir, CDU und CSU, stehen - in Verantwortung für unser Land. ({12}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die Unionsfraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein Fazit dieser Aktuellen Stunde zieht, Herr Kollege Poß, muss man feststellen: Der Versuch, die Wähler in Nordrhein-Westfalen zu verunsichern, ist gescheitert. ({0}) Was hat uns die Aktuelle Stunde gegeben? Erstens hat sie erbracht, dass die Steuerschätzung zeigt, dass wir sowohl unsere solide Finanzpolitik als auch unsere konsequente Wachstumspolitik fortsetzen müssen. ({1}) Die Steuerschätzung für das Jahr 2010 zeigt ein stabilisiertes Niveau. 2011 werden die Steuereinnahmen etwas geringer sein. Dies ist aber dadurch bedingt, dass dann unser Steuerentlastungspaket seine volle Wirksamkeit entfaltet. ({2}) Wenn Sie das einmal gegenrechnen, stellen Sie fest, dass sich die Einnahmesituation weiter stabilisiert. Der Herr Staatssekretär hat recht: Trotz dieser Tatbestände haben wir weiterhin einen engen finanziellen Spielraum. Aber ein enger finanzieller Spielraum bedeutet doch nicht einen Stillstand; vielmehr resultiert er daraus, dass aus der Zielsetzung von Haushaltskonsolidierung und steuerlicher Entlastung die notwendigen Konsequenzen gezogen und die entsprechenden Wege gegangen werden. ({3}) Haushaltskonsolidierung und steuerliche Entlastung sind keine Gegensätze. Unsere steuerliche Entlastung wird sich an den Grundsätzen und Prinzipien der Haushaltskonsolidierung ausrichten. Das sind zum einen die verfassungsmäßige Vorgabe der Schuldenbremse und zum anderen das, was bis 2014 weiterhin zu leisten ist. Wenn Sie die von der Steuerschätzung prognostizierten Steuerausfälle bis 2013 von über 30 Milliarden Euro schon als einen Tatbestand dafür sehen, dass es unter Umständen keinen Spielraum mehr geben sollte, dann frage ich mich: Wie wollen Sie zukünftig Politik für dieses Land gestalten, wenn Sie das schon als unüberbrückbare Hürde ansehen? Das ist für mich nicht nachvollziehbar. ({4}) Herr Poß und liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ein zweiter Punkt. Stellen Sie doch nicht bei dem, was wir in der Großen Koalition im steuer- und finanzpolitischen Bereich gemeinsam auf den Weg gebracht haben, das Licht unter den Scheffel! ({5}) Die christlich-liberale Koalition hat diese Politik in Teilbereichen im Grunde fortgesetzt. ({6}) Wenn wir dies fortsetzen, kann es doch im Verhältnis zu dem, was wir vorher gemacht haben, nicht falsch sein. ({7}) - Das ist kein Quatsch, sondern wir haben es konsequent fortgesetzt, indem wir die Familien mit Kindern mit Wirkung vom 1. Januar 2010 weiter entlastet haben, in einem Volumen - es ist genannt worden - von rund 5 Milliarden Euro, wobei der überwiegende Teil zudem nicht in den Steuerfreibetrag hineinging, sondern in das Direktkindergeld. Wenn Sie das Direktkindergeld sehen, dann können Sie sich doch auch vorstellen, welche Bevölkerungsgruppen damit in den Genuss des höheren Kindergeldes gekommen sind. Warum sollten wir diesen Prozess und diesen Weg jetzt nicht fortsetzen? Deshalb ist unsere Zielsetzung: Wenn wir den finanziellen Spielraum aus der Konsolidierung und neben ihr haben, dann wird sich das in dem Bereich der unteren und mittleren Einkommen vollziehen, um die kalte Progression weiter abzubauen. Wir haben doch selber in dem Wachstumspaket bereits mit dem Abbau der kalten Progression begonnen, indem wir technisch die sogenannte Rechtsverschiebung vorgenommen haben. Das ist doch nichts anderes als der Abbau der kalten Progression. Also stellen Sie doch das Licht unserer gemeinsamen Ergebnisse nicht unter den Scheffel. ({8}) Es war eine erfolgreiche Politik in diesem Bereich, und diese erfolgreiche Politik finden wir jetzt auch als Ergebnis der Steuerschätzung wieder. In der Koalition mit den Liberalen werden wir diesen Weg verstärkt und konzentriert in weiteren wichtigen Bereichen fortsetzen. Der erforderliche Spielraum ist gerade wegen der Steuerschätzung vorhanden. ({9}) Wenn hier wiederum das Argument kommt, mit dieser Politik bluteten die Kommunen aus, dann frage ich Sie: Zu welchem Zeitpunkt ging es den Kommunen in Deutschland am schlechtesten, wenn Sie deren gesamte Einnahme- und Finanzsituation sehen? - Das war doch in dem Zeitraum 2002 bis 2005. ({10}) In dieser Zeit bestand bei den Kommunen immer Unterdeckung. Von 2005 bis 2008 verzeichneten wir Haushaltsüberschüsse der Kommunen. ({11}) Außerdem reden Sie davon, wir hätten die Kommunen ausgenommen. Worunter sie jetzt selbstverständlich zu leiden haben, ist der konjunkturelle Einbruch bei der Gewerbesteuer. ({12}) Da haben wir im Grunde genommen eine andere Vorstellung, als Sie sie verfolgen. Sie wollen eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage mit Hinzurechnungen, nämlich Substanzbesteuerung. Wir wollen eine gewinnbezogene Besteuerung auf kommunaler Ebene mit eigenem Hebesatzrecht, sodass die Kommunen auch noch selber gestalten können, wie sie ihre Einnahmen erzielen, und damit auch zu einer kontinuierlichen Einnahmesituation kommen. Das Fazit ist also: Diese Aktuelle Stunde hätten Sie sich auch sparen können. Aber wir können sie jederzeit wiederholen. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes - Drucksache 17/1147 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 17/1604 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Dirk Becker Dorothée Menzner - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/1607 - Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Heinz-Peter Haustein Sören Bartol Michael Leutert Sven-Christian Kindler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Solarstromförderung wirksam ausgestalten - Drucksachen 17/1144, 17/1604 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Dirk Becker Dorothée Menzner Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später auf Antrag der Fraktion Die Linke namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck für die Unionsfraktion. ({3})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes korrigiert die christlich-liberale Koalition ({0}) Fehlentwicklungen der Vergangenheit, weist einen Weg in die Energieversorgung der Zukunft und stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir setzen konsequent das um, was wir in der Koalitionsvereinbarung zur Fotovoltaik vereinbart haben. Es ist unbestritten, dass die dynamische Entwicklung des Marktes für Fotovoltaik und der schnelle Ausbau der Produktionskapazitäten die Kosten und Preise für Fotovoltaikanlagen in den letzten Jahren stark haben sinken lassen. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die das alles bezahlen, im Interesse eines effizienten Klimaschutzes und im Interesse der Technologieführerschaft Deutschlands müssen wir handeln. Wir haben dabei das Wohl aller im Auge und nicht nur das Interesse der Branche. Wir setzen mit der heutigen Novelle des EEG den erfolgreichen Weg fort, den Helmut Kohl und Klaus Töpfer mit der Schaffung des Stromeinspeisungsgesetzes eingeschlagen haben. Dank dieser historischen Weichenstellung hat Deutschland heute auf europäischem und internationalem Gebiet die Technologieführerschaft bei den erneuerbaren Energien erkämpft. Deutschland ist im Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch führend. Insbesondere im Hinblick auf den Export und den zukünftig zu erwartenden weltweiten Ausbau der Fotovoltaik ist es wichtig, dass wir diesen Technologievorsprung bewahren und, wenn möglich, ausbauen. ({1}) Die bisherige Förderung der Fotovoltaik war sehr stark darauf ausgerichtet, einen Markt zu schaffen und die Markteinführung voranzutreiben. Angesichts der Zahlen zum Zubau von Fotovoltaik von 3 600 Megawatt im vergangenen Jahr und erwarteten über 6 000 Megawatt in diesem Jahr kann man nur sagen, dass diese Markteinführung sehr erfolgreich war. ({2}) Die Erwartungen der Experten gehen auch unter veränderten Förderbedingungen von einem erheblichen Zubau in den nächsten Jahren aus. ({3}) Dem haben wir mit einem Zubaukorridor von bis zu 3 500 Megawatt Rechnung getragen. ({4}) Das ist mehr als doppelt so viel, Herr Kelber, wie der frühere Bundesumweltminister angepeilt hat. ({5}) - Sagen Sie nicht, das sei falsch, wenn ich das sage. ({6}) Von einem Abwürgen der Fotovoltaik kann also überhaupt keine Rede sein. Mit der jetzigen Novelle entwickeln wir die Förderung weiter, damit sie den aktuellen Marktgegebenheiten besser angepasst wird und damit die Integration in den Energiemix und die Netze verbessert wird. Wir geben der Fotovoltaik in Deutschland damit eine neue und zukunftsfähigere Richtung. Es ist eine Tatsache - die Branche selbst hat es zugegeben -, dass sich aufgrund der gefallenen Preise für Solarmodule eine Überförderung entwickelt hat. Auf 20 Jahre gesicherte Renditen weit oberhalb dessen, was am Kapitalmarkt zu erzielen ist, haben zu Marktverwerfungen bis hin zu schier unglaublichen Pachtraten für Ackerflächen geführt. Selbst ein namhafter Vertreter der Branche sagt, dass die Branche Speck angesetzt hat. Genau das tut Deutschland angesichts wachsender internationaler Konkurrenz nicht gut. Es tut auch der Akzeptanz des EEG auf lange Sicht nicht gut. ({7}) Wir richten deshalb die Förderung der Fotovoltaik so aus, dass wir sie wieder mit gutem Gewissen vor den Bürgerinnen und Bürgern vertreten können. Den Menschen, die den Boom bezahlen, ist es egal, ob wir das Subventionen, Förderung, Markteinführungshilfe oder wie auch immer nennen. ({8}) Wenn wir ihnen schon zwangsweise Geld aus der Tasche ziehen, um damit Fotovoltaik zu fördern - das ist mit kumulierten 70 bis 100 Milliarden Euro eine ganz erhebliche Zahl -, dann müssen wir das gut begründen können. ({9}) Subventionen von 150 000 Euro pro Arbeitsplatz oder auch die CO2-Vermeidungskosten, die bei Fotovoltaik zehnmal so hoch sind wie bei Windkraft, sind keine gute Begründung. Deutschland auch in dieser Technologie für den Weltmarkt fit zu machen, ist eine gute und richtige Begründung. Genau das wollen wir fördern. ({10}) Liebe Frau Höhn, es bedarf in Deutschland bei der Fotovoltaik eines weiteren Innovationsschubes. Der Aufbau der Fotovoltaikindustrie war sehr erfolgreich. Aber jetzt müssen Kosten weiter gesenkt werden, Herstellungsverfahren müssen effizienter gestaltet werden, höchste Qualität und Leistung müssen im Vordergrund stehen. Diesem Ziel dient auch die von der Bundesregierung beschlossene „Innovationsallianz Fotovoltaik“. Wir müssen jetzt das, was wir am besten können, nämlich unsere Technologie- und unsere Ingenieurskunst, weiter verbessern und unsere Rolle auf dem Weltmarkt weiter behaupten. ({11}) Wenn der damalige SPD-Umweltminister und jetzige SPD-Parteivorsitzende dies rechtzeitiger erkannt hätte, dann hätten wir schon früher umsteuern können. Den notwendigen Innovationsschub auszulösen, dem dient auch die deutliche Verbesserung der Regelungen zum Eigenverbrauch von fotovoltaisch erzeugtem Strom. Wer den Strom, den seine eigene Anlage produziert, in nennenswerter Weise selbst nutzt, bekommt eine höhere Vergütung als der, der seinen Strom lediglich ins Netz speist. Damit geben wir einen technologisch neutralen Anreiz zum intelligenten Umgang mit Strom bis hin zur Entwicklung und dem Einsatz von Speichertechnik. Das ist für das Energieversorgungssystem in Deutschland und auch für die Zukunft der erneuerbaren Energien dringend nötig. ({12}) Aber das kann nur der Anfang sein. Wir brauchen einen intelligenteren Umgang mit Strom, eine intelligente Steuerung des Verbrauchs im eigenen Haus bis hin zu intelligenten Netzen. So wird die Zukunft der Energiegewinnung und die Zukunft der Energienutzung im Bereich der Fotovoltaik aussehen müssen. Dazu müssen wir aber noch etliche Schritte gehen. Hierzu dient auch die uns heute vorliegende Novelle des EEG. Ich möchte bekennen, dass auch wir etwas als Fehlsteuerung ansehen. Wir haben dafür gekämpft - das war auch bei uns mit heftigen Diskussionen verbunden -, dass wahr wird, was wir beschlossen haben, nämlich vom Acker weg aufs Dach, und zwar nicht nur aus irgendwelchen ökonomischen Gründen - es gibt gute Gründe, das ganz anders zu sehen, siehe Anhörung -, sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen. Diese Erwägungen muss man nicht teilen, aber wir haben diese Erwägungen angestellt und insofern die entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen. ({13}) Das hat etwas mit der Frage zu tun, was wir mit unseren Äckern, Landschaften, Wiesen in Zukunft anfangen wollen. ({14}) - Frau Höhn, das eine widerspricht nicht dem anderen. Man muss über alles dieselben Kriterien ansetzen; da haben Sie vollkommen recht. ({15}) - Auch darüber kann man diskutieren, aber heute ist die Novelle des EEG dran. Bei dem Beschluss für diese Novelle handelt es sich also um eine Grundsatzentscheidung, worüber man auch anderer Meinung sein kann. Diese Novelle ist der Auftakt zu einer intensiven Diskussion um die Zukunft unserer Energieerzeugung und um die Zukunft der Klimaverträglichkeit dieser Energieerzeugung. Der Rahmen für unsere Energiepolitik ist die Erreichung der Klimaziele.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ruck, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. - Dieser Rahmen heißt: 30 Prozent Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung im Jahre 2020. ({0}) - Mindestens, ja; das ist der Rahmen. ({1}) Dieses Ziel und das Ziel der CO2-Reduktion um 40 Prozent bis 2020

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ruck, Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Kollegen.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- müssen wir mit den ökonomischen Instrumenten erreichen, die wir haben. Sonst werden wir diese Aufgabe nicht schultern können. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Ruck, wenn Sie sagen, dass diese Novelle der Auftakt zu zukünftigen Gesetzen in Sachen zukünftiger Energieversorgung, die die Regierung und die Mehrheit des Bundestages vorhat, sein soll, dann schwant mir Böses. All diejenigen, die in irgendeiner Form dieses stoppen können, sind aufgerufen - zum ersten Mal bei der NRW-Wahl am Sonntag -, diese falsche Politik zu beenden. ({0}) Herr Kollege Ruck, wenn Sie hier eine Ruck-Rede zugunsten dieser Novelle halten, dann sage ich Ihnen: Es wäre schön gewesen - dies ist ein Anspruch, den Politik haben sollte -, wenn man sich mit Sachverständigenvoten auseinandergesetzt hätte. Wir haben im Umweltausschuss eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen hat bei dieser Anhörung gesagt, das, was Sie hier vorhaben, gefährdet den Fortschritt der Bundesrepublik Deutschland in dieser Technologie und viele Tausende von Arbeitsplätzen in Deutschland. ({1}) Wenn man selbst den Sachverständigen nicht glaubt, dann sollte man wenigstens den eigenen Kolleginnen und Kollegen glauben. Ich sage Ihnen: Schauen Sie einmal, was Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat für Warnungen ausgestoßen haben. Wenigstens das hätte Sie dazu bewegen müssen, hier an der einen oder anderen Stelle etwas zu ändern. Aber auch hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren Sie auf beiden Ohren taub. Gestern haben wir eine sehr bedeutende Vorstellung im Umweltausschuss durch den Sachverständigenrat für Umweltfragen erlebt. Der Sachverständigenrat hat uns das erste Mal, wissenschaftlich begleitet, gezeigt, dass bis 2050 eine Versorgung von 100 Prozent mit Erneuerbaren möglich ist. ({2}) Er hat gesagt, dass es eine Mär ist, im Zusammenhang mit den Erneuerbaren von einer Stromlücke zu reden. Er hat gesagt, dass es für die Verbraucherinnen und Verbraucher sogar kostengünstiger sein wird, auf erneuerbare Energien zu setzen. Er hat gesagt, dass hier, in den erneuerbaren Energien, das Potenzial liegt. Dieser Sachverständigenrat hat aber auch gesagt, dass all das nur möglich ist, wenn wir die erneuerbaren Energien schnell ausbauen. Er hat gesagt, dass wir den Ausbau der Stromnetze brauchen. Er hat gesagt, dass wir uns nicht auf Nebenkriegsschauplätze begeben dürfen - Stichwort: Hoffnung auf den Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomenergie -, weil das eine Sackgasse sei. Er hat auch gesagt, dass wir eine Investition in Effizienz brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, lieber Bundesminister Röttgen, wenn Sie sich dieses Gutachten des Sachverständigenrates ansehen und dann vergleichen, was Sie heute hier und aktuell auch in anderen Politikbereichen tun, dann sehen Sie, dass Sie genau das Gegenteil beschließen und damit all diese hehren Ziele gefährden. ({3}) Ich frage Sie, Herr Bundesminister Röttgen: Wie lange wollen Sie sich von den Kolleginnen und Kollegen am Nasenring durch die Manege führen lassen? Wie lange wollen Sie sich demütigen lassen, wenn es um MAP und all diese Programme geht, die genau die Ziele, die Sie immer wieder proklamieren und sogar noch diese Woche proklamiert haben, konterkarieren? Das ist alles andere als eine glaubwürdige Politik. Wenn man glaubwürdig sein will, dann muss man sich hier hinstellen und sagen: Damit kann ich die Umweltziele, für die ich stehe und für die ich auf internationaler Ebene werbe, nicht erreichen. Das müssen Sie hier heute machen. Ich frage mich wirklich, wie lange Sie in Ihrer Rolle überhaupt noch bestehen können. Es kann keine glaubwürdige Politik sein, wenn man genau das Gegenteil dessen tut, was die Sachverständigen empfohlen haben. ({4}) Ich will das an drei Punkten deutlich machen. Erstens. Sie sprechen von einer Laufzeitverlängerung. Dabei hat uns der Sachverständigenrat eindeutig gesagt, das ist ein völliger Irrweg. Ich hoffe, dass dieser Spuk spätestens am Sonntag durch die Änderung der Bundesratsmehrheit vorbei ist. ({5}) Zweitens. In Sachen Effizienz gehen Sie genau in die falsche Richtung. ({6}) Sie streichen bei den kommunalen Klimaschutzprogrammen. Sie streichen bei den Marktanreizprogrammen. Sie machen das Gegenteil von dem, was die Effizienz steigern soll. Es kann doch nicht wahr sein, dass man sich dann hier hinstellt und sagt: Wir machen zukünftige Klimapolitik. Drittens. Sie kürzen die Mittel und gefährden in unverantwortlicher Weise genau den Bereich, auf den es ankommen wird, nämlich den Bereich der Erneuerbaren. Um Ihnen ein aktuelles Feedback zu geben, will ich Ihnen ein paar Dinge aus meinem Wahlkreis, aus Hannover, sagen. Erstes Beispiel. Die CDU-Bürgermeister sagen: Wir haben vor Ort mit Klimaschutzmaßnahmen begonnen. Bei uns ist viel unterwegs. Die Mitteilungen aus Berlin über Kürzungen gefährden jahrelange Aufbauarbeit. Sie, Herr Röttgen, wollen die kommunalen Klimaschutzprogramme, die auf den Weg gebracht worden sind, rückwirkend stoppen. Ihre eigenen Kommunalpolitiker werfen Ihnen diese Politik vor. Lassen Sie die Finger davon, und heben Sie endlich diese Sperre auf. ({7}) Zweites Beispiel. Selbst die Handwerkskammer in Hannover fragt: Wo liegt das Potenzial der Zukunft? Das liegt im Bereich der Effizienz und im Bereich der Erneuerbaren. Selbst der Geschäftsführer der Handwerkskammer in Hannover sagt: Genau diese Entscheidungen gefährden Investitionen, gefährden Investitionssicherheit, gefährden Vertrauen in diese Investitionen und damit sehr viele Arbeitsplätze im Mittelstand. - Ich finde, auch auf diese Leute sollten Sie in solchen Stunden einmal hören. ({8}) Ich glaube, dass man sich hierbei wirklich sehr besonnen angucken sollte, wo Förderungen angezeigt sind und wo sie zurückgenommen werden sollten. Da Sie von Profit von einigen wenigen reden, wünsche ich mir, dass wir diese Diskussion vor allen Dingen auch dann einmal führen, wenn es um Profite der großen Konzerne geht, die dadurch entstehen, dass Sie den Beschluss über den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen wollen. Wer redet bei Ihnen eigentlich darüber? ({9}) Wer redet darüber, dass all das, was wir augenblicklich befürchten, in Spanien bereits erkennbar gewesen ist, wo man in unverantwortlicher Weise gekappt hat und wo genau diese Zukunftsbranche in den Keller gegangen ist? Es gibt diese Beispiele. Ich wünsche mir, dass Sie sich mit diesen Argumenten einmal hätten auseinandersetzen können. Dann wäre vielleicht ein bisschen Spielraum gewesen. Wir haben alternative Anträge eingebracht. Sie sind darauf nicht eingegangen. Ich glaube, dieses ist alles andere als eine zukunftsfähige Energiepolitik, Herr Ruck. Nein, das geht in die völlig falsche Richtung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, Sie besinnen sich irgendwann noch in dieser Legislaturperiode. Ansonsten sieht es, glaube ich, schlecht für die Zukunft der Energiepolitik hier in der Bundesrepublik Deutschland aus. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP spricht der Kollege Michael Kauch. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Miersch, es wäre schön gewesen, wenn Sie darüber gesprochen hätten, was auf der Tagesordnung steht, nämlich über die Solarförderung. ({0}) Sie haben einen Rundumschlag über die Klimapolitik gemacht. Das hatten wir heute Morgen schon, als das auf der Tagesordnung stand. Dadurch haben Sie wieder einmal deutlich gemacht, dass es Ihnen um nichts anderes als darum geht, hier Wahlkampfbotschaften zu senden. Nachdem ich das hier so gehört habe, muss ich Sie schon fragen: Was würde denn mit Solarfirmen in Nordrhein-Westfalen passieren, wenn Rot-Rot-Grün in dem Land regieren würde? ({1}) Die Investitionsbedingungen würden dann so sein, wie sie 2005 waren, als NRW bei den Investitionsbedingungen auf dem letzten Platz lag. Wir haben NRW nach vorne gebracht. Es ist ein Aufsteigerland geworden. Mit Ihnen - Rot-Rot-Grün - würde es wieder ein Absteigerland werden, ({2}) und zwar auch für die Solarindustrie. Sie würde dann auch nicht mehr in NRW investieren wollen. ({3}) Im Übrigen: Kein Bürger, der sich für Solarenergie in Nordrhein-Westfalen einsetzt, wird wollen, dass die Altkommunisten aus der Linken in Nordrhein-Westfalen in die Regierung kommen. Wegen der Leute, die dort mit Ihnen in die Regierung wollen, schütteln sich ja schon die meisten Ostlinken. ({4}) Wir werden deshalb hier und heute über eine gute, zukunftsfähige Reform der Solarförderung reden. Die Kosten für Solarmodule sind drastisch gefallen, und ich glaube, es ist fair, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher von diesen Kostensenkungen profitieren; denn wir machen Umweltpolitik für die Menschen in diesem Land, für die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die Familien, die mit ihren Stromrechnungen die erneuerbaren Energien finanzieren, und wir machen sie nicht, damit Anleger Traumrenditen erzielen. Das ist die Politik von Rot-Grün: möglichst viel Geld für diejenigen, die anlegen. ({5}) Das ist die Umverteilung von unten nach oben, die Sie ansonsten anprangern. ({6}) Deshalb ist es richtig, dass wir die Kostensenkungen an die Verbraucher weitergeben. Das ist auch tragfähig; denn wir machen das sehr maßvoll. Die Wettbewerbsfähigkeit der Solarbranche wird in vollem Umfang erhalten bleiben. ({7}) Das Ausbauziel für Solaranlagen ist in diesem Gesetzentwurf gegenüber dem, was der SPD-Umweltminister Gabriel damals verabschiedet hat, um mehr als 50 Prozent gesteigert worden. ({8}) Deshalb ist es ein Märchen, dass hiermit die Solarbranche kaputtgemacht werde. ({9}) Ich kann nur Kai Lippert vom Bundesverband Solarwirtschaft zitieren, der im Bauernblatt-Sonderdruck ge3876 sagt hat, dass die Lage zwar schwierig sei, aber „Photovoltaikanlagen weiterhin eine attraktive … Geldanlage“ seien. ({10}) Der Verband hat bei der Anhörung in unserer Fraktion das eine gesagt, im Bauernblatt-Sonderdruck das andere. Es ist ganz klar: Wenn ich Interessenvertreter wäre und etwas gekürzt werden sollte, dann würde auch ich mit Sicherheit schreien. ({11}) Wir müssen aber einmal realisieren, dass die Vertreter der Verbraucher viel größere Kürzungen gefordert haben. Das, was wir gemacht haben, ist ein sehr fairer Mittelweg zwischen den Forderungen der Verbraucherschützer und den Forderungen der Branche. ({12}) Wir von der FDP haben insbesondere darauf gedrungen - es ist uns tatsächlich gelungen, dies im neuen Koalitionskompromiss zu verankern -, dass wir in diesem Jahr die Kostensenkungen umsetzen, aber im nächsten Jahr eine sehr maßvolle Degression vornehmen, damit wir nicht zu viel auf einmal absenken und die Unternehmen weder überfördern noch überfordern. Wir würgen die Unternehmen eben nicht ab; vielmehr erhalten sie im nächsten Jahr eine Möglichkeit zum Durchatmen: Im Vergleich zu dem, was sonst vorgesehen war, flachen wir die Degression ab. Wir haben also maßvoll agiert. Es ist uns gelungen, den Vertrauensschutz für Investoren deutlich zu verbessern. Beispielsweise hatten Hausbesitzer, die wegen des harten Winters ihre Module nicht auf dem Dach anbringen konnten, dank der von den Koalitionsfraktionen durchgesetzten Änderungen drei Monate mehr Zeit, ihre Anlagen zu installieren. Das ist ein gutes Ergebnis. Wir, die Koalitionsfraktionen, haben erreicht, dass jeder Hausbesitzer, der eine Anlage auf dem Dach anbringen wollte, dies zu den alten Konditionen umsetzen konnte. Auch bei den Freiflächenanlagen haben wir den Vertrauensschutz verbessert, allerdings nicht so sehr, wie wir Liberale uns das gewünscht hätten. Solche Gesetze sind eben immer auch Kompromisse. ({13}) Herr Ruck, es sei mir erlaubt, einen Punkt anzusprechen, bei dem Sie gesagt haben, man könne das auch anders sehen: Ja, wir sehen das anders; der Ausschluss der Ackerflächen war nicht unsere Idee. ({14}) Aber auch hier gilt: Eine Koalition bedeutet immer ein Geben und ein Nehmen. Die Union hat sich beim Ausschluss der Ackerflächen durchgesetzt. Wir haben uns bei der Ausweitung der Konversionsflächen durchgesetzt, bei denen es zu einer deutlich geringeren Degression als bei anderen Standorten kommt, und die Randstreifen von Verkehrswegen sowie Verkehrs- und Wohnungsbauflächen hinzugenommen. Falls sich herausstellen wird, dass nicht genügend Flächen für die Fotovoltaik vorhanden sind, kann man gegebenenfalls im Rahmen der großen EEG-Novelle im Jahre 2012 Veränderungen vornehmen. ({15}) Ich möchte in Richtung der SPD eines deutlich sagen: Wir haben einen Punkt an diesen Gesetzentwurf angehängt, nämlich die Härtefallregelung für energieintensive Unternehmen, die aufgrund eines BGH-Urteils ihre Anträge nicht mehr fristgerecht stellen konnten, obwohl sie tatsächlich energieintensiv sind. Die SPD-Fraktion war im Umweltausschuss des Deutschen Bundestages die einzige Fraktion, die gegen diese Regelung gestimmt hat. Das ist eine Politik gegen die Chemieparks wie etwa in Marl und Krefeld. Darüber sollte eine Partei, die einst die Arbeiter in diesem Land vertreten wollte, einmal nachdenken. Vielen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ralph Lenkert hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, ermöglichte das Entstehen von Firmen, die im deindustrialisierten Osten für neue Arbeitsplätze und neuen Lebensmut gesorgt haben. Insbesondere dank der Solarbranche sank zum Beispiel die Arbeitslosenquote in der Region Erfurt von 19 Prozent im Jahr 2005 auf 12 Prozent im Jahr 2009. Das ist ein Riesenerfolg. So weit, so gut. ({0}) Zum 1. Januar 2010 sank die Einspeisevergütung für Solarstrom aber um 9 Prozent. Zum 1. Januar 2011 wird sie, das ist seit längerem geplant, um weitere 9 bis 11 Prozent sinken. Das ist viel. Jetzt will die Regierung die Vergütung zum 1. Juli um weitere 16 Prozent senken. Das können die Firmen nicht verkraften. Die Folgen sind Unsicherheiten bei Firmen und Ängste bei den Beschäftigten. Geplante Fertigungsanlagen für Solarprodukte wurden nicht mehr gebaut, und bestehende Fertigungsanlagen sind akut gefährdet. In einem Interview mit der Financial Times Deutschland vom 13. April dieses Jahres ließ uns der Chef von SCHOTT Solar, Martin Heming, wissen, wegen der zum 1. Juli sinkenden Förderraten steige der Druck, kostengünstig zu produzieren; denkbar sei eine neue Fertigung in China. Investitionen in neue Fabriken oder Erweiterungen in Deutschland seien wegen der politischen Lage nicht mehr geplant. Sie, meine Herren und Damen von CDU/CSU und FDP, ignorieren alle Einwände gegen die geplanten Kürzungen. ({1}) Sie ignorieren die Proteste der Beschäftigten und Gewerkschaften. Sie wischen selbst die Warnungen von Industrieverbänden vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Technologieführerschaft vom Tisch. Ich frage mich: Warum ignorieren Union und FDP im Bundestag sogar die Bitte von Ministerpräsidentin Lieberknecht, CDU Thüringen, und die Entschließung des Bundesrates? ({2}) Der Schutz der Verbraucher vor zu hohen Strompreisen kann es nicht sein. Wir zahlen 2 Cent je Kilowattstunde zusätzlich für die erneuerbaren Energien, aber seit 2006 stiegen die Strompreise um 4 Cent je Kilowattstunde, und das ohne Gegenleistung und ohne Kostengründe. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Lenkert, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. - Es ging Ihnen nur um Gewinnerhöhung, Bonussteigerung und Aktionärsbeglückung. Ginge es Ihnen wirklich um die Verbraucher, hätten Sie diesen Missbrauch der Marktmacht verhindert. ({0}) Auch heute geht es Schwarz-Gelb vor allem um eines: die Gewinnsicherung für Großkonzerne. ({1}) Mit geplanten Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke fing es an. Nun geht es um die Sicherung des Stromerzeugungsmonopols für Eon, RWE, Vattenfall und EnBW durch die Änderung des EEG. ({2}) Der umweltfreundliche Solarstrom hat das größte Potenzial dezentral, monopolbrechend erzeugt zu werden. Mit geringem Investitionsvolumen kann man Strom produzieren, nicht viel je Modul, aber an vielen Orten. Solange sich kleine Anlagen rechnen, kann man die dezentrale Erzeugung kaum verhindern. Aber mit der radikalen Kürzung der Einspeisevergütung müssen die Anlagenkosten je installierter Kilowattstunde deutlich sinken. Wer erhält die großen Preisrabatte bei Herstellern und Installationsfirmen? Familie Meyer mit 20 Quadratmetern Dachfläche oder der Betreiber der 10 000 Quadratmeter im Solarpark? Wo kann man bei den viel niedrigeren Zuschüssen für Solarstrom noch wirtschaftlich Strom erzeugen? Auf Meyers Dach jedenfalls nicht. ({3}) Dass bei ihrer Gewinnsicherung für die gierigen vier Konzerne ein paar mittelständische Solarunternehmen in Ostdeutschland mit 50 000 Beschäftigten hinten runterfallen, ist den Koalitionären egal. Kollateralschäden gab es halt schon immer. ({4}) Als Ausgleich spendieren Sie eine zusätzliche Förderung der Solarforschung: 100 Millionen Euro in vier Jahren. Laut Greenpeace wurden Atomkraftwerke in 60 Jahren mit 165 Milliarden Euro unterstützt. Die Förderung der Solarindustrie erreicht bei dauerhafter Beibehaltung des jetzigen Gesamtniveaus die Höhe der Atomförderung - also 165 Milliarden Euro - in „nur“ 3 300 Jahren. Anders gesagt: Pro Jahr fördern Sie die Solarindustrie mit so viel Geld, wie der Castortransport pro Jahr kostet, wenn Sie die Laufzeit für Atomkraftwerke verlängern. Die 100 Millionen Euro sind die 30 Silberlinge, damit die Landesregierungen stillhalten. ({5}) Die Linke fordert in ihrem Antrag, die verheerende Kürzung der Einspeisevergütung durch die Regierung zu verhindern. Wir setzen auf eine kalkulierbare Verringerung der Einspeisevergütung. Die Verringerung soll zur Vermeidung von Auftragsspitzen nicht ein Mal im Jahr, sondern schrittweise erfolgen. Der vorliegende Antrag brächte die notwendige Zeit für die Anpassungen in der Solarbranche. ({6}) In den Solarbetrieben zwischen Ostsee und Bodensee, also auch bei SCHOTT in Jena und Q-Cells in Thalheim, warten Menschen auf das Resultat der Abstimmung. Viele der jetzigen Beschäftigten der Solarbranche haben jahrelang ALG II oder Hartz-IV bezogen. Manche haben Kinder, die 2009 das erste Mal in ihrem Leben mit ihren Eltern in einen Urlaub fahren konnten. Von unserer Entscheidung hängt es ab, ob das Schreckgespenst Hartz IV in die Wohnungen zurückkehrt oder ob es auch 2011 einen Familienurlaub gibt. ({7}) Ob die heute 500 Azubis dieser Branche in Thüringen zu Hause bleiben können oder westwärts ihr Glück suchen müssen, auch das hängt von unserer Entscheidung ab. Wir Abgeordnete sind nicht den Gewinnen der Konzernzentralen von Eon in Düsseldorf, EnBW in Karlsruhe, RWE in Essen oder Vattenfall in Stockholm verpflichtet. Meinen Kollegen aus Ostdeutschland und insbesondere aus Thüringen sei gesagt: Zerstören Sie nicht die Hoffnung der Menschen in der Solarbranche! Blasen Sie einer Zukunftsindustrie nicht das Licht aus! ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Grund hat das Wort zu einer Kurzintervention.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Lenkert, ich nehme Ihre Aufforderung direkt an. Sie haben in Ihrer Rede den Eindruck vermittelt, dass Arbeitsplätze in Solarmodulfirmen, insbesondere in Ostdeutschland, durch die anstehenden Kürzungen gefährdet werden. Wir kürzen die Einspeisevergütung. Es gibt keinen Zuschuss zum Beispiel für Firmen in Erfurt, sondern im Rahmen der Einspeisevergütung einen Zuschuss für diejenigen, die Solarmodule auf dem Dach haben oder auf Freiflächen stellen. Bei der Einspeisevergütung wird nicht unterschieden, ob ein Solarmodul in Erfurt hergestellt wurde oder aus Taiwan, China oder Indien kommt. Bereits heute kommt die Hälfte der in Deutschland eingebauten Solarmodule aus dem Ausland, und das bei einer hohen Einspeisevergütung von rund 39 Cent pro Kilowattstunde. Das heißt, wir fördern mit der Solarförderung nicht unbedingt die Arbeitsplätze, die wir fördern wollen, sondern Arbeitsplätze in Asien. ({0}) Das kann nicht das Ziel sein. Das ist der erste Punkt. ({1}) Das Zweite ist: Auch Sie sind vom DGB und vom Stahlwerk in Thüringen angeschrieben und gebeten worden, als Politiker nichts mehr zu tun, was den Strompreis in Deutschland - und sei es nur um 1 oder 2 Cent - in die Höhe treibt. ({2}) Das, was Ihrer Rede zugrunde liegt, und das Geschrei von Frau Höhn gefährden bestehende Arbeitsplätze in Deutschland. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Lenkert hat das Wort zur Erwiderung auf die Kurzintervention.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Grund, ich weiß nicht, wie oft Sie in China Investitionen getätigt oder gearbeitet haben. Ich weiß auch nicht, welche wirtschaftlichen Kenntnisse Sie haben. Ich jedenfalls komme aus der Wirtschaft ({0}) und sage Ihnen: Wenn der Markt wegbricht, dann setzt niemand mehr etwas ab. Sie lassen gerade den Markt wegbrechen. Sie berücksichtigen nicht die spezielle Situation der hiesigen Branche. Es gab einen starken Boom und einen sehr starken Einkaufspreisdruck. Das heißt, die Firmen mussten langfristige Lieferverträge abschließen. Sie berücksichtigen nicht, dass die hiesigen Firmen von der EEG-Vergütung leben mussten und dass die chinesische Regierung - im Gegensatz zu Ihnen - die Zeichen der Zeit erkannt hat und den chinesischen Firmen Milliardenkredite zu extrem günstigen Konditionen zur Verfügung stellt. Das ist übrigens ein Punkt, der in unserem Antrag steht und den Sie genauso ignorieren. ({1}) Sie berücksichtigen nicht, dass der chinesische Staat den einheimischen Markt mit einem Schutzzoll von 17 Prozent gegen die Einfuhr von Solarmodulen aus der Bundesrepublik abriegelt. Unseren Antrag, dies zu korrigieren, haben Sie ebenfalls abgelehnt. Ich frage mich, wie Sie behaupten können, dass Sie wirtschaftlichen Sachverstand hätten. In meiner Firma jedenfalls hätten Sie keinen Monat überlebt. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute wird in diesem Hohen Hause das erste bedeutende energiepolitische Gesetzesvorhaben unter der schwarz-gelben Koalition verabschiedet. Unter dem Deckmantel schöner Reden und guter Formulierungen im Koalitionsvertrag bremsen Sie aber in Wirklichkeit, meine Damen und Herren von der Koalition, das Wachstum der erneuerbaren Energien aus. Ihre Motivation dafür ist uns klar: Sie wollen ausschließlich die Interessen der Atom- und Kohlewirtschaft bedienen. ({0}) Sie schreiben in der Begründung zur heute vorliegenden Gesetzesnovelle zur Solarvergütung, dass die vorgesehenen Maßnahmen in ihrer Kombination grundsätzlich dazu geeignet seien, den Zubau zu verlangsamen und den derzeitigen, übermäßigen Ausbau auf eine Größenordnung zurückzuführen, die für die Erreichung der deutschen Ausbauziele ausreichend sei. ({1}) Was sind denn Ihre Ziele? Bis 2020 wollen Sie einen Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von gerade einmal 30 Prozent erreichen, obwohl die Branche der erneuerbaren Energien längst aufgezeigt hat, dass bis 2020 circa 50 Prozent möglich sind. Im Umweltausschuss haben die Berater der Bundesregierung vom SRU gestern gesagt, dass in Deutschland bis 2030 sogar eine hundertprozentige Stromversorgung über erneuerbare Energien möglich ist, wenn man besteHans-Josef Fell hende Kraftwerke frühzeitig abschaltet. Die Branche der erneuerbaren Energien schaffe das spielend, so Herr Hohmeyer in seiner Darstellung. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kollege Fell, es gibt einen Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Hirte.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Fell, stimmen Sie mir zu, dass es problematisch ist, wenn wir in Deutschland teilweise einen Zubau - 60 Prozent der weltweit produzierten Module haben? Stimmen Sie mir auch zu, dass Deutschland nicht die beste Zone für solare Strahlungsenergie ist? ({0}) Stimmen Sie mir vor diesem Hintergrund zu, dass es sinnvoll wäre, diese Module in Deutschland herzustellen, dass es aber nicht sinnvoll wäre, sämtliche hergestellten Module hier zu installieren? ({1})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, in der Tat gibt es in der Welt Regionen, in denen die Solarstrahlung höher ist als in Deutschland. Ich stimme Ihnen deswegen aber nicht zu, dass in Deutschland kein ausreichendes Potenzial für Solarenergie vorhanden ist. Ganz im Gegenteil: Würden Sie beispielsweise nur die deutschen Dächer mit Solarstromanlagen belegen, könnten Sie genug Strom erzeugen, um den gesamten Strombedarf in Deutschland zu decken. Ich sage das nur, um Ihnen die Augen dafür zu öffnen, wie groß das Potenzial hier ist. Wir haben genügend Sonne. ({0}) Das zweite Argument ist: Wer einen Binnenmarkt im eigenen Land eröffnet, wird auch die Technologieführerschaft haben. Genau darum geht es; denn die Fotovoltaik wird einer der größten Zukunftsmärkte der Welt sein. Es ist ganz wichtig, dass wir die Technologieführerschaft Deutschlands, die wir in den letzten zehn Jahren, angefangen mit Rot-Grün, aufgebaut haben, behalten. ({1}) Aber genau hier setzen Sie an; Sie nehmen eine Gefährdung der Technologieführerschaft in Kauf.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Fell, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit weiter zu verlängern, weil auch Herr Kauch etwas fragen möchte. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Oh ja, ich streite mich gerne mit Herrn Kauch.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich glaube, wir sind uns einig, dass es notwendig ist, die Fotovoltaik aus Gründen der Technologiepolitik zu fördern. Die Fotovoltaik ist eine Technologie, die auf dem Weltmarkt auf lange Sicht sehr erfolgreich sein wird. Natürlich wollen wir - das haben auch Sie deutlich gesagt - auf diesem Gebiet Technologieführer sein. Ich war sehr überrascht über Ihre Argumentation, dass dies alles gekürzt werde, damit die Atom- und die Kohlelobby besondere Erfolge verzeichnen könnten. Können Sie meiner Feststellung zustimmen, dass der Beitrag der Fotovoltaik an der Stromerzeugung momentan etwa 1 Prozent und der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung insgesamt gut 15 Prozent betragen und dass die Frage, ob Kohle oder Nuklearstrom in Zukunft möglicherweise einen geringeren Anteil haben, nicht von der Frage der Solarförderung abhängig ist, sondern dass sie vielmehr von den Bereichen abhängt, die von dieser Novelle überhaupt nicht tangiert werden, nämlich von den Bereichen Wind, Wasser und Biomasse, die einen viel höheren Anteil an der Stromerzeugung haben als die Fotovoltaik? ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauch, wir streiten im Bundestag schon lange über die Solarförderung und die Solarindustrie. Ich kann mich an jahrelange Auseinandersetzungen im Umweltausschuss erinnern, in denen Sie immer wieder gesagt haben, dass die Solarindustrie gar keine sinnvolle Industrie sei, dass ihre Förderung hinausgeworfenes Geld sei usw. Erst im letzten Jahr haben Sie die Kurve gekriegt und das Erneuerbare-Energien-Gesetz als das entscheidende Instrument für Technikförderung und Innovationskraft anerkannt. Das ist das eine. Dieses Gesetz hat erst vor wenigen Jahren gegriffen. Vor zehn Jahren hat die Fotovoltaik gerade einmal 0,0001 Prozent zur bundesdeutschen Stromerzeugung beitragen können. ({0}) Heute sagen Sie, dass es schon weit mehr als 1 Prozent ist; in Bayern sind es übrigens schon 3 Prozent. ({1}) Daran sieht man, wie schnell der Anteil der Fotovoltaik wächst. ({2}) - Bleiben Sie bitte noch stehen. ({3}) - Nein. Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. Eine Solarstromentwicklung und eine Innovationsentwicklung enden nicht mit der Betrachtung des heutigen Tages. Wir müssen die Wachstumskurven, die hier möglich sind, auch für die Zukunft durchrechnen. Ein Beispiel ist der Mobilfunk. Die Entwicklung von den Anfängen der Mobilfunktechnologie bis zur Vollversorgung hat in Deutschland gerade einmal zwölf Jahre gedauert. Das sind Wachstumskurven, die auch in der Branche der erneuerbaren Energien möglich sind und sehr schnell zu einem sehr hohen Anteil der Bedarfsdeckung bei der Stromversorgung führen können. Das ignorieren Sie. Ich frage mich, woher Sie Ihren wirtschaftspolitischen Sachverstand nehmen. ({4}) In Wirklichkeit wissen Sie das doch alles, meine Damen und Herren von Union und FDP. Sie wissen aber auch etwas anderes - das muss an genau dieser Stelle gesagt werden -: Wenn Sie die Verlängerung der Laufzeit von Atomreaktoren durchsetzen wollen, dann muss das erfolgreiche Wachstum der erneuerbaren Energien jetzt schnell ausgebremst werden, weil ihr Volumen ansonsten viel zu schnell steigt. ({5}) Mit Ihrer heutigen Gesetzesänderung nehmen Sie in Kauf, dass sogar Zehntausende von Arbeitsplätzen, vor allem in der erfolgreichen Solarwirtschaft in Ostdeutschland, vernichtet werden und dass Unternehmen, die sich auf Fotovoltaikfreiflächen spezialisiert haben, in Konkurs geschickt werden. ({6}) Sie nehmen in Kauf, dass der Stromsektor als größter Emittent von Klimagasen weiterhin die Atmosphäre belasten darf und dass Deutschland länger in seiner Abhängigkeit von immer teurer werdenden konventionellen Energieträgern verbleibt. ({7}) Meine Damen und Herren, Sie stört nicht einmal die heftige Kritik aus den eigenen Reihen. Herr Ruck, ich zitiere Ihren Parteivorsitzenden Horst Seehofer. Er hat am 3. März dieses Jahres geschrieben: Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet den Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hochmodernen Branche. Recht hat er. Gemeint hat er damit die 30-prozentige Vergütungssenkung, die Sie heute beschließen werden und innerhalb eines Jahres umsetzen wollen. In der Anhörung im Umweltausschuss haben auch die Experten Dr. Seeliger von der LBBW und Professor Weber vom ISE in Freiburg vor diesen zu starken Vergütungssenkungen gewarnt. Doch fachlicher Rat aus Wirtschaft und Wissenschaft scheint Sie überhaupt nicht zu interessieren. Natürlich geht es auch uns Grünen nicht um die Aufrechterhaltung überhöhter Gewinne. ({8}) Wir haben immer gefordert, die Vergütungssätze mit Augenmaß zu gestalten. Wir stehen zum Schutz der Verbraucher vor überhöhten Strompreisen. Deshalb haben auch wir für dieses Jahr eine moderate Vergütungssenkung vorgeschlagen, und zwar um 10 Prozent und in mehreren Stufen. ({9}) Dass dies möglich ist, zeigt, dass die Kostensenkung der Solarstromhersteller ein großer Erfolg unserer Industriepolitik in diesem Bereich ist und dass man Kostensenkungen mit Augenmaß umsetzen kann. Aber Sie gehen mit dem Argument des Verbraucherschutzes an dieses Thema zu scharf heran. Aribert Peters vom Bund der Energieverbraucher hat in der Anhörung die wahren Strompreistreiber genannt. ({10}) Die vier großen Stromkonzerne haben aufgrund ihrer marktbeherrschenden Stellung zusätzliche Gewinne von jährlich 6 Milliarden Euro erwirtschaftet und die Strompreise ohne jegliche Gegenleistung erhöht. Das ist weit mehr als die gesamten Mehrkosten, die durch die Umlage im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zu verzeichnen sind. ({11}) Herr Kauch, wir nehmen Ihre Beteuerungen zum Schutz der Stromkunden vor überhöhten Strompreisen nicht mehr ernst; denn wir vermissen politische Aktionen zur Verhinderung dieser Abzocke durch die Atom- und Kohlekonzerne. Meine Damen und Herren von Union und FDP, weil Sie immer Ihre Wirtschaftskompetenz herausstellen, sage ich Ihnen: Einer der wichtigsten Grundsätze für eine funktionierende Wirtschaft ist der Schutz des Vertrauens in getätigte Investitionen. Ein Hilferuf eines mittelständischen Unternehmens, der mich dieser Tage erreichte, bringt Ihre Fehlleistungen auf den Punkt. Dieser Firmeninhaber schrieb mir: Herr Fell, zuerst wurde unsere Investition in reine Biokraftstoffe durch eine politisch nie angekündigte Besteuerung weitgehend vernichtet. In einem mutigen Schritt haben wir nun mit dem letzten Geld in erheblichem Umfang Planungskosten für Fotovoltaikflächen gedeckt. Und nun kommt ohne Vorankündigung ({12}) die Streichung der Vergütung für Freiflächen auf Äckern. Da wir die festgelegten Übergangszeiträume nicht einhalten können, werden wir nun in Konkurs gehen. - So weit der Brief. Vor dem Radikalschlag, den Sie vorhaben, hat selbst der bayerische Wirtschaftsminister, Martin Zeil von der FDP, gewarnt. Am 24. Februar dieses Jahres schrieb er, dass ein Ausschluss der EEG-Vergütung für Freiflächen zu weit gehe. Denn gerade Freiflächenanlagen produzierten Solarstrom zu vergleichsweise günstigen Kosten und verfügten über besonders innovative Technologien. Offensichtlich gilt in der FDP nicht das Wort eines Ministers und in der CSU auch nicht das Wort eines Parteivorsitzenden. ({13}) Sogar Umweltminister Röttgen hat die erneuerbaren Energien als Fels in der Brandung der Wirtschaftskrise bezeichnet. Diesen Fels wollen Sie nun zu Fall bringen. ({14}) Warum sonst sperren Sie im Marktanreizprogramm die Mittel für Heizungen mit erneuerbaren Energien? Warum sonst stoppen Sie die Förderung für die kleine KraftWärme-Kopplung? All dies geht in die gleiche Richtung: den Ausbau der Nutzung der erneuerbaren Energien und die Entwicklung von Effizienztechnologien abzuwürgen. ({15}) Trotz Ihrer Atomwünsche und Ihrer radikalen Einschnitte bei der Förderung der erneuerbaren Energien werden Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien nicht bremsen können. 150 000 Menschen haben vorletztes Wochenende eindrucksvoll gegen eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken demonstriert. Auch in Zukunft werden viele Menschen in Deutschland Fotovoltaikanlagen auf ihre Dächer bauen. ({16}) Wir fürchten nur, dass diese Fotovoltaikmodule dann nicht mehr aus deutscher Produktion, sondern fast ausschließlich aus China kommen werden. ({17}) Mutwillig setzen Union und FDP die Technologieführerschaft der deutschen Solarwirtschaft aufs Spiel, und das just zu dem Zeitpunkt, wo der Weltmarkt für Fotovoltaik rasant anzuziehen beginnt. Damit stellen Sie sich für Ihre angebliche Wirtschaftskompetenz ein Armutszeugnis aus. ({18}) Ich bin mir sicher, dass Sie auch dafür am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen die Quittung bekommen werden. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Bundesminister Dr. Norbert Röttgen hat das Wort. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute über Änderungen an einem Gesetz, das zu einem wichtigen Pfeiler der deutschen Energiepolitik geworden ist. Der Sinn des EEG ist, Technologien zur Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien in den Markt einzuführen und zu fördern. Der Staat muss sich dabei Schritt für Schritt zurücknehmen, weil die erneuerbaren Energien ihre Leistung im Markt erbringen müssen und erbringen werden. Weil das so ist, weil es um Markteinführung geht, ({0}) müssen wir auf die stürmischen technischen Entwicklungen in diesem Markt reagieren. Immer wieder werden wir reagieren müssen. ({1}) Dass es zu Novellen kommt, ist kein schlechtes Zeichen und kein Grund für Traurigkeit, sondern ein gutes Zeichen; denn es ist Ausdruck der Innovationsfähigkeit und der Fortentwicklung der Technologien in diesen Märkten. ({2}) Weil es darum geht, Dynamik in diesen Markt zu bringen, und weil dieser Markt wächst, fehlt der Status3882 quo-Rhetorik, die Sie heute zelebrieren, jede Zukunftsorientierung und Zukunftsdynamik. ({3}) Man kann solche Politik nicht vom Status quo aus machen. Wir wollen doch die Erneuerbaren in den Markt bringen. Darum können wir bei dem Erreichten nicht stehen bleiben, sondern müssen vorangehen. Wir werden vorangehen mit dem Ausbau der Solaranlagen in Deutschland. Im Unterschied zur früheren Regierung verdoppeln wir - ich glaube, dass Sie damit einverstanden sind - den Ausbau in diesem Bereich. ({4}) Im Vergleich zu Ihrer Zeit werden wir ein doppelt so hohes Wachstum der Solarflächen in Deutschland halten. Vielleicht sind Sie aus parteipolitischen Gründen neidisch. ({5}) Sie sollten Ihren parteipolitischen Neid angesichts des Erfolges in der Sache zurückstellen, meine Damen und Herren. Im letzten Jahr, 2009, sind die Systempreise für Fotovoltaikanlagen um 30 Prozent gesunken, und sie werden in diesem Jahr weiter sinken. Darum sage ich ganz ruhig: Auf einen Preisverfall von 40 bis 45 Prozent muss der Staat reagieren. Wir dürfen da nicht tatenlos zuschauen. ({6}) Bei so viel Aufregung, wie sie gerade herrscht, sind vielleicht die Zahlen am überzeugendsten: Im Jahr 2009 betrug der Anteil der Solarenergie an der Stromerzeugung 1 Prozent. Der Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung betrug 16 Prozent; 1 Prozent also entfiel auf die Fotovoltaik. Die Differenzkosten bzw. die Förderkosten der Erneuerbaren, die die Stromkunden zu bezahlen haben, betrugen 8,2 Milliarden Euro. 4 Milliarden Euro davon entfielen ausschließlich auf die Fotovoltaikförderung. Die Relation zwischen Förderung und Stromproduktion muss unter Kontrolle gehalten werden. Auch die Kosten, die wir den Stromkunden aufbürden, müssen unter Kontrolle gehalten werden. Es ist unfair, dass alle Stromkunden dafür bezahlen, dass einige wenige mit Investmentfonds Renditen in zweistelliger Höhe über 20 Jahre erzielen. Das ist auch aus sozialen Gründen nicht in Ordnung. ({7}) Darum ist es aus sozialen Gründen, aus technologiepolitischen Gründen und aus energiepolitischen Gründen schlicht geboten, auf diese Überförderung zu reagieren, sie zurückzunehmen und dadurch eine Marktstabilisierung zu erreichen. Das ist im Übrigen nichts Schlechtes, weil dadurch zugleich zum Ausdruck kommt, dass die Technologie erfolgreich ist. Es geht uns aber nicht nur um Reduzierung und Marktanpassung, sondern wir wollen auch den Markt in eine bestimmte Richtung steuern. Darum erhöhen wir im Verhältnis zur gegenwärtigen Rechtslage insbesondere die Förderung für den Eigenverbrauch - also wenn keine Einspeisung ins Netz erfolgt, sondern der Anlagenbetreiber seinen selbstproduzierten Strom nutzt - stärker als bislang. Das halte ich für einen besonders wichtigen Punkt, weil das dazu führen wird, dass wir schon bald ein selbsttragendes Wachstum erzielen und wahrscheinlich schon 2013 Fotovoltaikstrom zu denselben Kosten produziert werden kann wie konventioneller Strom. Ich halte die Eigenverbrauchsregelung auch deshalb für wichtig, weil wir damit Technik fördern, die Netze entlasten, einen Beitrag zur dezentralen Energieversorgung leisten und den Bürgern ein Angebot machen, mitzumachen. Jeder Einzelne kann mitmachen. Er kann Strom produzieren und verbrauchen. Ich glaube, das ist auch ein politisches Angebot, bei der Energieversorgung mitzumachen. ({8}) Denn wir brauchen die Bürger für unseren Umstieg in der Energiepolitik. ({9}) Im Übrigen wird die Freiflächenförderung anders als nach der alten Regelung über 2014 hinaus fortgesetzt. Damit sollte ursprünglich Schluss sein. Auch das ist also eine Erweiterung der bisherigen Regelungen. Wir werden aber dafür sorgen, dass die Freiflächenförderung im Einklang mit den Regeln des Landschafts- und Naturschutzes umgesetzt wird, und darauf achten, dass kein Anreiz für zusätzlichen Landschaftsverbrauch geschaffen wird. Es ist also auch eine landschafts- und naturschutzpolitisch richtige Regelung. ({10}) Ich unterstreiche, was der Kollege Grund eben gesagt hat. Auf den Preiswettbewerb zwischen chinesischen und deutschen Produzenten hat die deutsche Einspeisevergütung praktisch keine Auswirkung. ({11}) Das ist ein eigenes Wettbewerbsverhältnis, auf das unsere Förderung keine Auswirkung hat. Aber eine Auswirkung hat unsere Förderung, nämlich hinsichtlich der Frage, womit wir auf den Weltmärkten bestehen zu können glauben. Diese Koalition gibt darauf eine eindeutige Antwort: Wir sind davon überzeugt, dass unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit von Innovationen abhängt. Unsere Losung heißt „Innovation statt Subvention“. Das ist das Erfolgsrezept unserer Wirtschaft. ({12}) Wer glaubt, durch Dauersubventionen Wettbewerbsfähigkeit herstellen zu können, der muss schon ein ausgewiesener Wirtschaftsexperte wie unser Freund von der PDS sein, der anderen androht, man würde mit dieser Auffassung im eigenen Betrieb nicht lange überleben. ({13}) Dass wir diesen Punkt ernst nehmen, drückt sich darin aus, dass wir die „Innovationsallianz Photovoltaik“ ins Leben gerufen haben und die Mittel für die Förderung der Forschung um bis zu 100 Millionen Euro aufstocken werden. Das heißt, Innovation, Forschung und Technologie sind der Weg, mit dem wir Erfolge erzielen werden. ({14}) Wir werden die Förderung an den Markt anpassen, auf den Erfolg in Form einer geringeren Subventionierung reagieren und Anreize schaffen, dass man sich nicht auf zweistelligen Renditen ausruht. Es soll nämlich so bleiben, dass man sich anstrengen muss, wenn man erfolgreich sein will. Bei dieser Maßnahme geht es überhaupt nicht darum, die Solarenergie in Deutschland zu beschränken bzw. ihr etwas zu nehmen, sondern es geht bei dieser Maßnahme darum, dazu beizutragen, dass die Solarenergie verlässlich und stetig Erfolg auf den Märkten hat. Das ist unsere Philosophie, wie wir den erneuerbaren Energien zum Durchbruch verhelfen wollen. ({15}) Wir sind überzeugt davon, ich bin überzeugt davon, dass die Zukunft den erneuerbaren Energien gehört, ({16}) aus Klimaschutzgründen und insbesondere aus Gründen der Ressourcenknappheit. Die natürlichen Ressourcen sind knapp, sie sind endlich, sie werden immer stärker nachgefragt werden, und darum wird der Verbrauch immer teurer werden. Wenn wir nicht von einer ressourcenverbrauchenden zu einer ressourceneffizienten Wirtschaft umschalten, dann haben wir die längste Zeit Wachstum gehabt. ({17}) Die Wachstumsstrategie, die wir verfolgen, ist allerdings keine Subventionsstrategie, sondern eine Marktstrategie. Das unterscheidet wahrscheinlich Regierung und Opposition in diesem Haus ganz grundsätzlich, meine Damen und Herren! ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD spricht die Kollegin Waltraud Wolff. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zwischenfragen von CDU/CSU und FDP zeigen eines ganz deutlich: Sie wollen - die Katze haben Sie heute aus dem Sack gelassen -, ({0}) dass nicht nur ein Teil der Fotovoltaikanlagen in China oder anderswo gebaut wird, sondern dass alle Solarmodule dort gebaut werden. ({1}) Ich habe heute Morgen per E-Mail den Hilferuf eines Bauern aus Schwandorf bekommen - das ist in der Oberpfalz -, ({2}) der eine Freiflächenfotovoltaikanlage auf seiner eigenen Ackerfläche errichten will. Seit März 2009 plant er das und hatte schon erhebliche Kosten. Die Chronologie liegt vor. Über den Bauantrag sollte jetzt im Mai entschieden werden. Sie beschließen heute aber nicht nur die EEG-Novelle, Sie beschließen auch, dass dieser Bauer seine Anlage nicht bauen kann. Herzlichen Glückwunsch! Ich würde gerne wissen, wer von Ihnen diese E-Mail beantworten will. Die Adresse kann er gerne von mir haben. ({3}) Für diesen Landwirt bedeutet die Novelle verlorenes Geld, und für den Ausbau der Solarenergie bedeutet diese Novelle einen großen Rückschritt. Wir haben vorhin schon von der Anhörung am 21. April gehört. Sogar Ihre eigenen Experten haben Ihnen gesagt, dass Sie auf dem Holzweg sind. Sie wollen Anlagen auf Ackerflächen grundsätzlich aus der Förderung nehmen. Das ist absoluter Unsinn, auch aus Sicht der Experten. Wenn Sie schon nicht auf die Sachverständigen, die Sie selber eingeladen haben, hören, dann hören Sie doch wenigstens Waltraud Wolff ({4}) auf die Meinungen der von Ihnen regierten Länder. Es war Bayern, das im Bundesrat ganz eindeutige Worte gefunden hat: Der Ausschluss landwirtschaftlicher Flächen ist weder energiepolitisch sinnvoll noch agrarpolitisch notwendig. - Dem ist nichts hinzuzufügen. ({5}) Deshalb haben wir als SPD einen Änderungsantrag mit dem Ziel vorgelegt, dass man diese Anlagen an einen Planungsvorbehalt der Kommune knüpfen sollte. Das ist der richtige Weg. Freiflächenanlagen sind das günstigste Segment der Fotovoltaik. Oder, wie es der von der FDP eingeladene Sachverständige gesagt hat: Sie sind der Billigmacher der Fotovoltaik. - Herr Kauch, hätten Sie doch lieber den Herrn vom Bauernblatt als Sachverständigen eingeladen statt den von Ihnen benannten Experten, dann hätten Sie vielleicht die entsprechende Antwort bekommen. ({6}) Ihrer EEG-Novelle fehlt jedes Augenmaß. Sie benehmen sich wie der Elefant im Porzellanladen. Aber das passt leider zu Ihrer Politik gegen die erneuerbaren Energien: Die Mittel für das Marktanreizprogramm sind gesperrt; das Impulsprogramm für die Mini-Kraft-WärmeKopplungsanlagen ist eingestellt; Sie wollen das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz aufweichen; um die Mittel für die Gebäudesanierung gibt es ein Hickhack; und jetzt beschneiden Sie die Förderung für die Fotovoltaik. Es gibt nichts, aber auch gar nichts auf der Habenseite Ihrer Bilanz. ({7}) Der CSU-Kollege Ruck, der hier vorhin ja auch geredet hat, hat im April dieses Jahres in einem Brief geschrieben - ich zitiere -: Deutschland ist im Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch führend. Insbesondere im Hinblick auf den Export und den zukünftig zu erwartenden weltweiten Ausbau der Fotovoltaik ist es wichtig, dass wir diesen Technologievorsprung bewahren und wenn möglich ausbauen. Ja, wie denn mit solchen Beschlüssen, meine Damen und Herren? ({8}) Die zusätzliche Sonderkürzung von 16 Prozent ist zu hoch. 70 000 Arbeitsplätze gerade in Ostdeutschland - wir haben davon gehört - sind in Gefahr. Sie verspielen den Erfolg des EEG gerade auch als ökologische Industriepolitik. Nun haben Sie, meine Damen und Herren, Forschungsgelder in Höhe von 100 Millionen Euro als Unterstützung für die Solarbranche versprochen. Forschungsmittel auszubauen, ist im Prinzip eine gute Sache. Aber ich frage mich natürlich: Sind diese 100 Millionen Euro genauso sicher wie die Mittel für das Marktanreizprogramm? Indem Sie Mittel für die Forschung einsetzen, setzen Sie doch eigentlich auf das falsche Pferd. Die deutschen Solarhersteller produzieren nämlich im Moment mit Maschinen, deren Nutzungszeit abläuft. Das heißt, es sind neue Investitionen notwendig. Das bedeutet, dass hohe Kosten auf die Hersteller zukommen. Hier hilft uns die Forschung für die übernächste Generation überhaupt nicht. Besser wäre es, Investitionen in die nächste Generation zu tätigen. Es wäre ein wirklicher Ansatzpunkt gewesen, wenn Sie die nicht abgerufenen Mittel aus dem Konjunkturprogramm umgeswitcht hätten und hier für Unterstützung gesorgt hätten. ({9}) Das Gebot der Stunde heißt doch, dass wir diese Entwicklung maßvoll begleiten müssen. Deshalb haben wir einmal vorgeschlagen, 2011, im nächsten Erfahrungsbericht zum EEG, das Modell einer nach regionaler Strahlungsintensität gestaffelten Vergütung zu prüfen. - Leider ohne Erfolg. Wir haben Sie auch aufgefordert, unverzüglich einen Vorschlag für eine bessere Integration des Stroms aus erneuerbaren Energien vorzulegen. Ohne Erfolg. Außerdem haben wir vorgeschlagen, dass die Vergütung maßvoll an den Markt angepasst wird. Auch ohne Erfolg. Sie selbst, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, berauben unsere Unternehmen der Chance, grüne Zukunftsmärkte zu erobern. Sie setzen Arbeitsplätze aufs Spiel. Sie kapitulieren vor dem Kampf gegen den Klimawandel. Sie verhindern mehr Wettbewerb. Ihre Politik schadet der Branche, schadet den Stromkunden und schadet auch dem Klima. ({10}) Sie zeigen hier wirklich absolute Beratungsresistenz; die ist so groß, dass ich Sie gar nicht mehr bitten kann, unseren Änderungsvorschlägen zuzustimmen. Ich bitte Sie nur um eines: Verschonen Sie uns in Zukunft mit Ihren Sonntagsreden über die Herausforderungen des Klimawandels! ({11}) Lassen Sie doch bitte das falsche Lob für die erneuerbaren Energien, und sagen Sie den Menschen ehrlich, dass Ihr Energiekonzept Atomkraft heißt! ({12}) Sie sind leider nicht die Elefanten, Sie sind die Dinosaurier in diesem Porzellanladen. Um noch einmal auf Ihre Rede zu kommen, Herr Minister Röttgen: Sie haben gesagt, diese Novelle ist kein Grund zur Traurigkeit. Ich glaube, viele Menschen in diesem Land sehen das völlig anders. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für die FDP. ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich absurd, Frau Wolff, welche Unterstellungen Sie hier gemacht haben. ({0}) Ihr Umweltminister Gabriel hat als Zielvorgabe für den Ausbau der Fotovoltaik im Jahr 1 900 Megawatt ausgegeben. ({1}) Wir hatten im letzten Jahr und werden in diesem Jahr und auch im nächsten Jahr 3 000 bis 4 000 Megawatt haben. Wir bauen aus. Wir sorgen für mehr erneuerbare Energien, wir sorgen für mehr Fotovoltaik, als Sie sich jemals zugetraut hätten. ({2}) Es ist nicht nachvollziehbar, wie man uns unterstellen kann, wir würden Arbeitsplätze gefährden, obwohl wir in diesem Bereich immer mehr Geld ausgeben. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Branche wird Arbeitsplätze schaffen. ({3}) Sie wird Leute einstellen und mehr Menschen in ihrem Bereich beschäftigen. Denn die deutschen Verbraucher werden Milliardensummen in erneuerbare Energien und in den Fotovoltaikbereich investieren. Das darf aber - bitte schön - nicht zulasten des kleinen Mannes und des normalen Stromkunden gehen. Dafür sollten Sie doch eigentlich Verständnis haben. Ich verstehe die Welt nicht mehr: Sie setzen sich nur noch für die Großen ein, aber nicht für die Leute, die besonders betroffen sind. ({4}) Sie müssten sich einmal damit beschäftigen, was momentan im Gespräch ist. Es geht um Eigenverbrauch, Speichertechnologien und E-Mobility. Während Sie hier erklären, wir seien gegen irgendwelche Maßnahmen gegen den Klimawandel, hat ein Kollege von Ihnen vor eineinhalb Stunden gefordert, dass die alten Kohlekraftwerke länger laufen sollen. Ist diese Politik, die von der SPD vertreten wird, eine glaubwürdige Klimaschutzpolitik, oder ist es Klientelpolitik? Ich glaube, es ist das Letztere. ({5}) Sie haben kein Energiekonzept vorgelegt. Die Tatsache, dass die SPD schon im letzten Jahr nicht in der Lage war, eine Anpassung vorzunehmen, hat dazu geführt, dass man zum Teil Renditen in Höhe von 15 und 20 Prozent hatte. Das hat sich nicht innovationsfördernd, sondern innovationshemmend ausgewirkt. ({6}) Es hat dazu geführt, dass die chinesischen Modulhersteller wettbewerbsfähiger geworden sind. Sie haben nämlich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Wir müssen zu den Kosten produzieren, die realistischerweise anfallen. ({7}) Diese Feigheit hat zu dem Problem geführt, vor dem wir heute stehen. Wir werden jetzt - leider - kürzen müssen. Aber dies wird dazu führen, dass unsere Verbraucher geschont werden und gleichzeitig die erneuerbaren Energien und vor allem die Fotovoltaik weiter ausgebaut werden. ({8}) Ich will nicht bestreiten, dass sich die FDP-Fraktion, was die Ackerflächen betrifft, anders entschieden hätte, wenn sie allein regieren würde. Ich will auch nicht bestreiten, dass wir uns für längere Übergangsfristen ausgesprochen hätten. Aber was die Berücksichtigung des Eigenverbrauchs betrifft, haben wir uns durchgesetzt. Dies war ein großer Erfolg. Wir haben heute in Spiegel online lesen können, dass die großen Hersteller wie Solarworld, Conergy und Evonik sagen: Das ist der große Zukunftsmarkt. Wir können erreichen, dass der Eigenverbrauchsanteil auf bis zu 80 Prozent ansteigt, und wir können, wenn die Menschen Elektroautos fahren, sogar einen Eigenverbrauch von 100 Prozent erreichen. Auf die Idee wären Sie früher gar nicht gekommen; das wird erst durch diese EEG-Novelle möglich, indem der Anreizeffekt für selbstverbrauchten Strom jenseits der 30-Prozent-Schwelle auf 8 Cent erhöht wird. ({9}) Dieser große Erfolg freut uns sehr. Er wird dazu führen, dass es endlich wieder zu Innovationen kommt. Innovationen kommen auch durch die 100 Millionen Euro zustande, die vom Forschungsministerium bereitgestellt werden. Dass Sie von der Linken dieses Geld als ein paar Silberlinge bezeichnen, zeigt, dass Sie jeden Realitätssinn und jeden Kontakt zu dem, was die wirkliche Welt ausmacht, verloren haben. Wir werden damit die deutschen Firmen fördern können. Dadurch entsteht Innovation. Wenn wir die EEG-Vergütung an die chinesischen Hersteller verschwenden, werden die deutschen Hersteller nicht besser. Wir müssen dafür sorgen, dass wir in Deutschland stärker werden. Dazu tragen wir mit dieser EEG-Novelle eine Menge bei. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dem Kollegen Hermann Scheer gebe ich das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Ich möchte gerne einige Worte zu dem Redebeitrag des Bundesministers Röttgen sagen. Herr Röttgen hat das Prinzip des Marktes stark hervorgehoben. Er hat gesagt, dass sich die erneuerbaren Energien auf dem Markt durchsetzen müssen. Als allgemeine Aussage ist dieser Satz richtig. Aber vor dem konkreten Hintergrund der Marktverhältnisse ist es nicht ratsam, zu solchen Maßnahmen zu greifen. Markt setzt prinzipiell Marktgleichheit der Marktteilnehmer, in diesem Fall der Anbieter, voraus. Von einer Marktgleichheit der Anbieter kann im doppelten Sinne leider keine Rede sein. Es kann zunächst einmal keine Rede davon sein mit Blick auf das Verhältnis der chinesischen Produktion zu der deutschen Produktion. Die Kürzung der degressiv angelegten Subventionen wird mit dem Marktangebot aus China begründet, wozu in der Debatte schon einiges gesagt worden ist. Dort wurde die Produktion künstlich billig gehalten. Man betreibt dort praktisch Produktionsprotektionismus. Aber Protektionismus ist das Gegenteil von Markt. Wenn also diese Maßnahmen jetzt wegen der chinesischen Billigprodukte ergriffen werden, dann kann die Schlussfolgerung doch nur sein, dass die Aussage von vielen Rednern aus den Koalitionsfraktionen, nämlich dass die neu ausgerichtete Förderung nun ausgerechnet der deutschen Fotovoltaikindustrie helfen würde, produktiver zu werden, nicht richtig ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Da müssten vielmehr andere, differenzierte Maßnahmen ergriffen werden, um die deutsche Produktivitätsentwicklung, die ja nicht die schlechteste war - sie war bisher sogar immer federführend -, weiter voranzutreiben. Man kann sie nur vorantreiben, wenn sie weiterhin existiert, aber nicht, wenn nur eine, zwei oder drei große Firmen übrig bleiben. ({0}) Ein zweiter Punkt, wiederum bezogen auf das Prinzip der Marktgleichheit. Durch die bisherigen Marktverhältnisse, durch das Hochpäppeln mit vielen Subventionen über Jahrzehnte hinweg - für Kohle, für Atomenergie, mit vielen Privilegierungen gesetzlicher Art, Energiewirtschaftsgesetz usw. -, ist eine hochkonzentrierte herkömmliche Energiewirtschaft entstanden. Wer jetzt glaubt, mit dem vorliegenden Erneuerbare-Energien-Gesetz erreichen zu können, dass sich neue Technologien, erneuerbare Energien einschließlich der Fotovoltaik gegen diese hochkonzentrierten, monopolisierten Strukturen auf dem Markt durchsetzen, übersieht, dass objektiv keine Marktgleichheit zwischen etablierten Anbietern und neu auf den Markt gekommenen gegeben ist. ({1}) Daraus ergibt sich -

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Scheer, vielen Dank. Eine Kurzintervention darf nicht länger als drei Minuten dauern, und die sind um. Deswegen möchte ich jetzt gern den Bundesminister fragen, ob er antworten möchte. - Das möchte er nicht. ({0}) Dann gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir jetzt über eine Stunde wortreich das völlige Aus der Fotovoltaik in Deutschland beklagt haben, schlage ich vor, dass wir in die Realität zurückkehren und auf dieser Grundlage vernünftige Politik machen. ({0}) Die Fotovoltaikleistung wurde 2009 um 3,8 Gigawatt erhöht, davon alleine im Dezember um 1 500 Megawatt. Das war fast so viel, wie wir uns mit der Novelle 2009 als Zielhorizont für ein ganzes Jahr vorgestellt hatten. Der Anstieg der Investitionssumme hat mit 17,7 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert erreicht. Ganz wichtig ist: Fotovoltaik ist ohne Zweifel ein Stabilitätsanker in der Krise. Ebenso wichtig ist aber: Das EEG - der Minister hat eben darauf hingewiesen - ist kein Instrument zur Förderung von Branchen oder zur Subventionierung von Arbeitsplätzen, sondern dient letztendlich als Anreiz für Investitionen in Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien, die möglichst effizient sein soll, ({1}) das heißt möglichst viel Leistung für möglichst wenig Geld. Um das weiterhin zu erreichen - der Minister hat eben auf das Verhältnis von Vergütung und Stromproduktion in Bezug auf Fotovoltaik hingewiesen -, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Akzeptanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien und insbesondere für Fotovoltaik erhalten können. Es ist doch auch ein Trugschluss, wenn wir glauben, wir könnten tatsächlich gegen chinesische Subventionsverhältnisse ansubventionieren. Das macht unsere Wirtschaft nicht mit. Das macht unsere Betriebe auch nicht stark. Ich sage Ihnen: Die Fonds, die auf eine maximale Rendite aus sind, werden wir auch dadurch nicht erwiDr. Maria Flachsbarth schen; denn deutsche Produkte werden möglicherweise immer ein bisschen teurer sein als die asiatischen. Wichtig ist aber: Deutsche Produkte sind besser. Der Unterschied liegt doch in der Qualität, im Service, in der Nähe zum Kunden, in der innovativen Technik. Deshalb werden wir mit dieser Novelle nicht einfach nur kürzen, Degression steigern oder was auch immer. Vielmehr wollen wir umsteuern. Wir wollen hin zu intelligenter Technik. Wir wollen intelligente Netze fördern, auch innerhalb des Hauses zum Beispiel durch Installierung intelligenter Hausgeräte. Deshalb fördern wir den Eigenverbrauch stärker. Es ist eine massive Erhöhung der zulässigen Anlagengröße von 30 Kilowatt, wie es im derzeit geltenden Gesetz vorgesehen ist, auf 500 Kilowatt vorgesehen. Damit werden auch die kleinen Gewerbetreibenden erfasst. Das eröffnet ganz neue Chancen, ganz neue Märkte für innovative Technologien, insbesondere für Speichertechnologien. ({2}) Kollege Meierhofer hat es eben bereits gesagt: Die Branchen reagieren bereits; es gibt diesbezüglich bereits die ersten Angebote. Von daher müssen wir doch der deutschen Branche zutrauen, dass sie diese neue Herausforderung meistert. Wir brauchen dringend Innovationen, damit wir den Ausbau erneuerbarer Energien tatsächlich bewältigen können, damit im Jahr 2020 tatsächlich 30 Prozent erneuerbare Energien im Markt und im Netz integrierbar sein werden; anderenfalls schießen wir uns doch mit unseren ehrgeizigen Zielen selbst ins Bein. ({3}) Die Frage, wie wir mit Ackerflächen und mit Freiflächen umgehen, war ebenfalls eine zentrale Frage in dieser Debatte, auf die ich jetzt nicht noch einmal im Detail einzugehen brauche. Aber es stehen doch tatsächlich folgende Fragen im Raum: Was machen wir mit dem starken Flächenverbrauch in unserem Land, 100 Hektar pro Tag? ({4}) Wie können wir der Herausforderung begegnen, dass im Moment von der Gesamtenergieproduktion durch Erneuerbare, die 10 Prozent vom Gesamtenergieverbrauch beiträgt, 70 Prozent auf flächengebundene Biomasse entfällt, ({5}) also letztendlich 70 Prozent irgendwo aus dem Wald oder eben gerade von Äckern erzielt werden? Davon müssen wir weg. Wir können doch nicht die Augen davor verschließen, dass es in einigen Regionen, gerade in den viehstarken Regionen meines Heimatlandes Niedersachsen, Pachtpreise von über 1 000 Euro pro Hektar gibt. Das sind irreale Beträge, die da letztendlich gefordert werden, und es ist an uns, Förderbedingungen, die zu solchen irrealen Marktsituationen führen, wieder auf ein Normalmaß zurückzuführen. ({6}) Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir die Bedingungen für die Installation von Fotovoltaik auf Konversionsflächen, die eben tatsächlich zu gar nichts anderem mehr zu gebrauchen sind, als dort eben Fotovoltaikanlagen aufzubauen und sie zur Energiegewinnung zu nutzen, noch einmal deutlich verbessert haben; der Minister hat es gesagt. Auch den für das Jahr 2014 vorgesehenen Stopp dieser Förderung haben wir aus dem Gesetz herausgenommen, weil es vernünftig ist, dies zu tun. Wir haben neue Optionen geschaffen; so werden Neuanlagen in bereits ausgewiesenen Gewerbegebieten und ebenso entlang von Verkehrswegen gefördert. Meines Erachtens ist dies tatsächlich ein ganz vernünftiger Steuermechanismus. ({7}) Zudem haben wir in diesem Bereich auch auf Vertrauensschutz geachtet. Wir haben für diejenigen Projekte, für die es bis zur ersten Lesung, also bis zum 25. März dieses Jahres, einen festgestellten Bebauungsplan gab, eine Realisierungsfrist bis zum 31. Dezember dieses Jahres eröffnet. Ich halte dies für ein faires Angebot, auch wenn man überlegt, wie lange wir inzwischen über dieses Gesetz debattieren. ({8}) Wir haben natürlich schon vor der Sommerpause, vor der Bundestagswahl darüber gesprochen, dass wir im Bereich Fotovoltaik nachjustieren werden. ({9}) - Jedenfalls habe ich in meinem Wahlkampf darüber bereits gesprochen, lieber Herr Fell. - Es war offensichtlich, dass wir das in den Koalitionsverhandlungen besprochen haben, und letztendlich ist es auch noch einmal deutlich geworden, als der Bundesminister Anfang dieses Jahres die ersten Eckpunkte des Gesetzes vorgestellt hat. Insofern glaube ich, dass wir den Investoren tatsächlich genug Zeit gegeben haben, sich auf diese neuen Bedingungen einzustellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist im Bereich der Fotovoltaik weltweit technologisch führend. Wir wollen und werden den Technologievorsprung behalten und ausbauen, insbesondere im Hinblick auf unsere Exportchancen beim weltweit zu erwartenden Ausbau. Die Markteinführungsmöglichkeiten werden durch die jetzige Novelle verbessert werden, auch durch bessere Integration in den Energiemix und in die Netze. Deutschland bleibt mit dieser Novelle einer der attraktivsten Fotovoltaikstandorte weltweit. Ich bitte um Ihre Zustimmung für unser Gesetz. Herzlichen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Damit kommen wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrach- ten Gesetzentwurf zur Änderung des Erneuerbare-Ener- gien-Gesetzes. Es liegen drei Erklärungen zur Abstim- mung vor, erstens von Ingbert Liebing, zweitens von Veronika Bellmann und drittens von Dr. Georg Nüßlein.1) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/1604, den Gesetzent- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1147 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Ko- alitionsfraktionen und bei Ablehnung durch die Opposi- tionsfraktionen. Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf in dritter Beratung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen be- setzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das noch nicht in der Lage war, seine Stimme abzugeben? - Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich hier- mit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- geben.2) Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1611. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung 1) Anlage 2 2) Ergebnis Seite 3888 D durch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und einen Großteil der Fraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt die CDU/CSU-, die FDP- und die SPD-Fraktion. Enthalten haben sich einige Abgeordnete der Fraktion Die Linke. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Solarstromförderung wirksam ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1604, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1144 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die Sitzung unterbreche, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den Tagesordnungspunkt 7 - dabei handelt es sich um die Große Anfrage der Fraktion der SPD zu den Auswirkungen der Verlängerung der Restlaufzeiten von Atomkraftwerken - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Die Sitzung wird jetzt bis circa 19 Uhr unterbrochen. Falls die Sitzung früher beginnt, wird Ihnen das mitgeteilt. In jedem Fall wird der Wiederbeginn der Sitzung rechtzeitig durch ein Klingelsignal bekannt gegeben. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, komme ich zu Tagesordnungspunkt 6 zurück und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es ging um den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, Drucksachen 17/1147 und 17/1604. Abgegeben wurden 580 Stimmen. Mit Ja haben 313 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Mit Nein haben 266 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Es gab eine Enthaltung. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 581; davon ja: 314 nein: 266 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec Ralph Brinkhaus Alexander Dobrindt Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({7}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer kardt Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Volker Kauder Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach ({9}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({11}) Nadine Müller ({12}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({13}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({14}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({15}) Anita Schäfer ({16}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Christian Schmidt ({17}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({18}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({19}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({20}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({21}) Peter Weiß ({22}) Sabine Weiss ({23}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({24}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther ({25}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({26}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({27}) Michael Link ({28}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({29}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec Burkhardt Müller-Sönksen ({30}) Hans-Joachim Otto ({31}) Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Marina Schuster Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören ({32}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({33}) Nein SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Uwe Beckmeyer Gerd Bollmann Klaus Brandner Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel kardt Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({34}) Michael Groschek Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Michael Hartmann ({35}) Hubertus Heil ({36}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({37}) Frank Hofmann ({38}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({39}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({40}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({41}) Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({42}) Michael Roth ({43}) Marlene Rupprecht ({44}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({45}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder ({46}) Werner Schieder ({47}) Ulla Schmidt ({48}) Carsten Schneider ({49}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({50}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz ({51}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Paul K. Friedhoff DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Herbert Behrens Christine Buchholz Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Sabine Leidig Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({52}) Michael Schlecht Dr. Herbert Schui Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({53}) Volker Beck ({54}) Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz ({55}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Thomas Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Stephan Kühn Renate Künast kardt Undine Kurth ({56}) Monika Lazar Agnes Malczak Kerstin Müller ({57}) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({58}) Krista Sager Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Enthalten CDU/CSU Veronika Bellmann Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2009 ({59}) - Drucksache 17/900 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe. ({60}) Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als alter Parlamentarier darf ich auch sagen: Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor gut zwei Wochen mussten wir wieder einmal von Soldaten Abschied nehmen, die im Auslandseinsatz gefallen waren. Diesmal ging es um vier Angehörige unserer Streitkräfte. Eine Woche zuvor, am Karfreitag, waren drei gefallene Soldaten und etliche Schwerverwundete zu beklagen. Wenn mich gerade in diesen Tagen jemand fragt, was in den zurückliegenden fünf Jahren meiner Amtszeit das Schwierigste war, dann gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel. Das Schwierigste, das auch bei mir Wunden hinterlassen hat, waren die Momente, in denen ich vor den Särgen der gefallenen Soldaten stand. Das Schwierigste meiner Amtszeit war für mich, in die Gesichter der Angehörigen zu blicken, die um einen Sohn, einen Vater, einen Freund oder auch um einen Kameraden trauerten. Das Schwierigste war ganz ohne Zweifel der Versuch, diesen trauernden und verzweifelten Angehörigen in irgendeiner Weise Trost zu spenden, wohl wissend, dass es in solch einer Situation eigentlich keinen Trost geben kann. Die Schicksale der gefallenen Soldaten spiegeln in realistischer und für die Betroffenen zum Teil auch in brutaler Weise wider, was es für unsere Soldatinnen und Soldaten heutzutage bedeutet, Dienst in einer Einsatzarmee zu leisten. Diese Schicksale weisen aber auch darauf hin, auf was sich das Hauptaugenmerk richten sollte, wenn es um die Gesamtbewertung unserer Streitkräfte geht. Nicht zuletzt lässt sich anhand einzelner Schicksale belegen, dass Defizite und kritikwürdige Themen nicht nur mit fehlendem Geld, sondern auch mit grundsätzlichen Strukturproblemen zu tun haben. Im Laufe der zurückliegenden fünf Jahre meiner Amtszeit habe ich - wie Sie sich vorstellen können zahlreiche Soldaten kennengelernt, deren Schicksale stellvertretend für viele Kameradinnen und Kameraden deutlich machen, was es heute bedeutet, in der Einsatzarmee Bundeswehr Soldat zu sein. Beispielhaft nenne ich Ihnen einmal den Fall eines 25-jährigen Stabsgefreiten, den ich hier in Berlin im Bundeswehrkrankenhaus besucht habe. Dieser Soldat wurde im vergangenen Jahr bei einem der vielen Gefechte im Großraum Kunduz schwer verwundet. Neben Splitterverletzungen war dieser junge Soldat vor allem von großflächigen Brandverletzungen gezeichnet. Die Erstversorgung und der Transport nach Deutschland hatten gut geklappt. Die Weiterbehandlung konnte aber nicht, wie üblich, im Zentralkrankenhaus in Koblenz erfolgen, weil man dort die Abteilung für Schwerstbrandverletzungen wegen Ärztemangels schließen musste. Daher erfolgte die Überführung in ein ziviles Unfallkrankenhaus in Berlin. Bei meinem ersten Besuch fiel mir auf, dass der Stabsgefreite nicht auf seine eigenen, durch schwere Brandwunden entstellten Beine schauen konnte. Wenn der Soldat in irgendwelchen Fernsehsendungen Explosionen zu sehen bekam, musste er sofort den Fernsehapparat ausschalten. Wie er mir erklärte, leide er nicht nur unter seinen äußeren Verletzungen, sondern insbesondere unter seinen seelischen Verletzungen. Er hatte das Glück, sofort die Hilfe eines versierten Psychiaters in Anspruch nehmen zu können. Bei meinem zweiten Besuch zwei Wochen später konnte ich dann erfreut feststellen, dass der Stabsgefreite große Fortschritte in seiner Genesung gemacht hatte. Diesmal konnte ich mich mit ihm auch über seine bisher gemachten Erfahrungen unterhalten. Der Soldat machte sich über seine Zukunft Sorgen, weil er nicht mehr in seinem alten Beruf als Maler und Lackierer arbeiten könne, wie er mir berichtete. Die Ärzte hatten ihm erklärt, dass der Umgang mit Lösungsmitteln und chemischen Dämpfen aufgrund seiner Brandwunden ausgeschlossen sei. Wehrbeauftragter Reinhold Robbe Aufgrund seiner schweren Verwundungen berief sich der Stabsgefreite auf das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz. Nach diesem Gesetz erhalten die Geschädigten bekanntlich einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung als Berufssoldat, Beamter oder auch auf Lebenszeit in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beim Bund. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn sie eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent nachweisen können. In dem genannten Beispiel konnte sich der Stabsgefreite nicht auf das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz berufen, weil er vermutlich knapp unter dieser Mindestnorm von 50 Prozent bleiben wird, wie ihm die Ärzte prognostizierten. Ich schildere Ihnen den Einzelfall dieses Stabsgefreiten so ausführlich, weil sich daran sehr gut ablesen lässt, wie es konkret um die soziale Absicherung unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz bestellt sein kann. Für den Stabsgefreiten ergibt sich folgende Situation: Im Vertrauen auf die Fürsorgepflicht der Bundeswehr hatte er sich als Wehrpflichtiger für den Beruf des Soldaten auf Zeit entschieden. Wegen seiner schweren Verwundungen wird er nicht wieder in seinen alten Beruf zurückkehren können. Eine Weiterverwendung bei der Bundeswehr kommt aber auch nicht infrage, weil er nicht über die 50-Prozent-Hürde der Wehrbeschädigung kommt. Er ist möglicherweise für sein ganzes Leben von seinen schweren Verwundungen gezeichnet und darüber hinaus wegen des - zumindest aus seiner Sicht - unsensiblen Verhaltens des Dienstherrn enttäuscht. Dieser Fall dokumentiert aus meiner Sicht nicht nur die Notwendigkeit, bestimmte Leistungsgesetze nachzubessern. Der Fall macht auch deutlich, dass die Soldaten besonders im vergangenen Jahr und speziell in Kunduz jeden Tag miterleben mussten, was es heute bedeutet, im Einsatz zu sein. Wenn ich mir die Probleme vieler Soldaten näher betrachte, stelle ich fest, dass einige Verantwortliche in der Bundeswehrführung mit Blick auf die Fürsorgepflicht gegenüber den Soldatinnen und Soldaten noch nicht in der Einsatzrealität angekommen sind. Wenn ich auf die Fürsorge zu sprechen komme, beziehe ich diese nicht nur auf die soziale Absicherung bei schwerer Verwundung oder Tod im Einsatz, sondern gerade auch auf den Schutz und die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten. Auf Fähigkeitslücken in der Ausbildung weise ich nicht zum ersten Mal hin. Bereits seit Jahren kritisiere ich diesen Punkt. Trotzdem ist es bis heute nicht gelungen, die für die Ausbildung erforderliche Zahl von geschützten Fahrzeugen anzuschaffen. Das optimale Beherrschen der nicht einfach zu lenkenden Fahrzeuge kann jedoch für das Überleben im Einsatz entscheidend sein. Aus diesem Grund fehlt mir jedes Verständnis für dieses gravierende Defizit in der Ausstattung und in der Ausbildung. ({61}) Der immer wieder gehörte Einwand, es stehe für diese Einsatznotwendigkeiten kein Geld zur Verfügung, ist für mich nicht hinnehmbar. Wohl wissend, dass es zwar keinen hundertprozentigen, aber sehr wohl einen optimalen Schutz für die Soldaten geben kann, darf fehlendes Geld in diesem Fall kein Argument sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits bei der Vorstellung meines vorletzten Jahresberichtes hatte ich gefragt, ob die bekannten Mängel und Defizite der Bundeswehr mit den Ansprüchen einer modernen Einsatzarmee zu vereinbaren seien. Die Antwort liegt zumindest für mich auf der Hand: ein deutliches Nein. Die Realität in den deutschen Streitkräften ist von unübersichtlicher Führungsverantwortung, zu viel überflüssiger Bürokratie, Reibungsverlusten durch Trennung von Truppe und Truppenverwaltung sowie veralteter Personal- und Materialplanung gekennzeichnet, um nur die wichtigsten Stichworte zu nennen. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Problemfelder sollten aus meiner Sicht bei der bevorstehenden Überprüfung der Bundeswehrstruktur die Voraussetzungen für die unverzichtbare Modernisierung der Streitkräfte geschaffen werden. Das zurückliegende Jahr gehört für die deutschen Streitkräfte zu den ereignisreichsten ihrer 55-jährigen Geschichte: zunächst der Aufwuchs des bisher größten Auslandseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan mit einer Personalstärke von rund 4 500 Soldaten, eine sich permanent verschärfende Sicherheitslage, die von stundenlangen schweren Gefechten mit den bereits geschilderten Opfern in den eigenen Reihen gekennzeichnet war, aber ebenso von getöteten gegnerischen Kräften geprägt war. Im Zuge dieser sich zuspitzenden Lage im Raum Kunduz kam das bekannte Bombardement zweier Tanklastzüge, in dessen Folge die Entlassung des Generalinspekteurs und eines Staatssekretärs, der Rücktritt eines Bundesministers und die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stattfanden. Nicht unerwähnt bleiben darf die von der Koalition beschlossene Reduzierung der Wehrpflichtdauer von neun auf sechs Monate. Alles in allem sind das eine Reihe von zum Teil einschneidenden Ereignissen, die natürlich auch nicht spurlos an den Soldatinnen und Soldaten vorbeigezogen sind. Zusammenfassend, meine Damen und Herren, will ich Folgendes feststellen: Erstens. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten trotz der von mir genannten und bekannten Strukturprobleme seit vielen, vielen Jahren einen großartigen Job. ({62}) Gerade das ereignisreiche zurückliegende Jahr hat wieder einmal deutlich gemacht, wie belastbar die Soldaten sind. Fehlendes Material, Lücken bei der strategischen Fähigkeit, bürokratische Unsinnigkeiten, unzureichende Planungsvorgaben, Mängel in der Ausbildung und in der Einsatzvorbereitung sowie demotivierende Besoldungsund Beförderungsdefizite werden an der Basis vor allem durch ein unglaubliches Improvisationstalent und durch kameradschaftliche gegenseitige Unterstützung kompensiert. Deshalb sage ich jetzt, am Schluss meiner Amtszeit, auch in meiner speziellen Verantwortung allen Soldatinnen und Soldaten in den Heimatstandorten und in Wehrbeauftragter Reinhold Robbe den Auslandseinsätzen meinen tief empfundenen und ehrlich gemeinten Dank für ihren aufopferungsvollen und wirklich großartigen Dienst. ({63}) Zweitens. Unabhängig von den bereits beschriebenen strukturellen Problemen in den Streitkräften ist ein Bereich von herausragender Bedeutung. Ich habe in allen Berichten, die ich dem deutschen Parlament bisher vorlegte, immer wieder und in einer deutlichen Sprache auf die Defizite der Sanität hingewiesen. Die Situation hat sich trotzdem von Jahr zu Jahr verschlechtert. Ob es sich um die flächendeckende allgemeine sanitätsärztliche Versorgung der Bundeswehrangehörigen, um die Bundeswehrkrankenhäuser, um die Versorgung der posttraumatisch belasteten Soldatinnen und Soldaten oder um die Personalrekrutierung und die Personalführung handelt, auf allen Gebieten wurde viel zu spät gehandelt, wurden Entwicklungen regelrecht verschlafen und Probleme offensichtlich bewusst schöngeredet. Erst nach massivem politischen Druck aus dem Verteidigungsausschuss wurden Initiativen entwickelt und sind jetzt endlich erste Lösungsansätze erkennbar. Es bleibt zu hoffen, dass die reformwilligen Verantwortungsträger in der Sanität die erforderlichen Handlungsmöglichkeiten eingeräumt bekommen. Drittens. Die Attraktivität des Soldatenberufes war und ist auch weiterhin schweren Belastungen ausgesetzt. Insbesondere bei etlichen Spezialverwendungen und bei den besonders belasteten Truppenteilen hat die Konkurrenzsituation im zivilen Bereich zur wesentlichen Verschärfung der Personallage in der Bundeswehr beigetragen. Beispielhaft nenne ich die Sanitätsärzte, die Piloten und die Spezialkräfte. Viertens. Die innere Verfassung der Streitkräfte ist, ungeachtet immer wieder aufgetretener Ereignisse wie jüngst im Zusammenhang mit bestimmten nicht tolerierbaren Ritualen, als vorbildlich und respektabel zu bezeichnen. Die Prinzipien der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform sind auf allen Ebenen verinnerlicht und bilden das verlässliche Wertegerüst und das ethische Fundament des Denkens und Handelns in den Streitkräften. ({64}) Fünftens. Bei jedem Truppenbesuch beklagen die Soldatinnen und Soldaten die allgemein geringe menschliche Zuwendung durch unsere Gesellschaft. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das immer wieder mit anderen Problemen vermengt und verwechselt wird. Es geht bei diesem Punkt ausdrücklich nicht darum, sich mit irgendwelchen Auslandseinsätzen politisch zu identifizieren. Wenn die Soldaten mehr als ein „freundliches Desinteresse“ von den Mitbürgerinnen und Mitbürgern der Zivilgesellschaft erwarten, dann berufen sie sich vielmehr auf eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Gesundheit und sein Leben für sein Land einsetzt, der darf das an menschlicher Zuwendung, an Aufmerksamkeit und Solidarität, ja an Nächstenliebe erwarten, was in vielen anderen Ländern, auch bei unseren Bündnispartnern, eine Selbstverständlichkeit ist. ({65}) Weil es auch über 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik immer noch nicht gelungen ist, den notwendigen breiten gesellschaftlichen Rückhalt für unsere Soldaten zu schaffen, ist es nach meiner festen Überzeugung notwendig, diese menschliche Unterstützung durch die Gesellschaft regelrecht zu organisieren. Hier steht nicht nur die Politik in der Pflicht, sondern alle Organisationen und Institutionen in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Insbesondere die Eliten bei uns im Land sind hier gefragt. Ich selber beziehe mich in diese Pflicht übrigens ausdrücklich ein. Abschließend will ich mich ganz herzlich bei all denen bedanken, die mich in den zurückliegenden fünf Jahren bei meinen Aufgaben unterstützt haben. Diesen Dank beziehe ich auf den jetzt amtierenden Bundesminister Dr. zu Guttenberg, auf die Minister, mit denen ich es vorher zu tun hatte, auf die politische und militärische Führung der Streitkräfte und auf alle Dienststellen, die mit meinem Amt besonders eng zusammengearbeitet haben, sowie natürlich auf die Vertrauenspersonen in der Bundeswehr und ganz besonders auf die Militärseelsorge. Vor allem bedanke ich mich bei Ihnen, bei allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages, hier wiederum natürlich besonders beim Verteidigungsausschuss für das zumindest aus meiner Sicht sehr gute, nein, ich möchte sagen: ausgezeichnete und vertrauensvolle Zusammenwirken. Nicht zuletzt danke ich meiner eigenen Mannschaft im Amt des Wehrbeauftragten. Ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Leute hätte ich meine Arbeit nicht so leisten können. ({66}) Die zurückliegenden fünf Jahre waren für mich eine durchaus erfüllte und auch prägende Zeit. Ich habe versucht, der Institution des Wehrbeauftragten ein Gesicht zu geben. Ich hoffe, dass man das ein wenig gespürt hat. Herzblut war sicher auch dabei. Meinem Amtsnachfolger, Herrn Königshaus, wünsche ich eine glückliche Hand und viel Erfolg. Ich biete ihm jegliche Unterstützung an und bitte Sie, dass Sie ihm das an Unterstützung und Aufmerksamkeit geben, was ich in diesem Hause immer wieder erfahren durfte. In diesem Sinne auch Ihnen alles Gute und Gottes Segen. Ich melde mich ab. ({67})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Robbe, während Sie die Glückwünsche und den Dank entgegennehmen, will ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses offiziell danken. Vielen Dank für den Bericht 2009, auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vielen Dank für Ihren Einsatz und für Ihr Engagement in den letzten fünf Jahren. Wir wünschen Ihnen alles Gute und ich persönlich ebenfalls Gottes Segen. ({0}) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich gebe das Wort der Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, zunächst möchte ich Ihnen, Herr Robbe, auch namens der CDU/ CSU-Fraktion noch einmal ganz herzlich Dank sagen für Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren. In diesen Dank möchte ich Ihre Mitarbeiter einschließen. Sie haben dieses Amt zu einer Zeit ausgeübt, in der das Wohlergehen der Soldaten der Bundeswehr so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht, wie es vielleicht noch nie der Fall war. Denn zum ersten Mal sind die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland so massiv an einem bewaffneten Konflikt beteiligt. In diesem Konflikt gibt es Verwundete und Gefallene. Unabhängig davon, ob der Einzelne diesem Einsatz zustimmt oder nicht, wird zum ersten Mal auch in der breiten Öffentlichkeit kritisch gefragt: Sind unsere Soldaten, die gerade in diesem Moment in Afghanistan ihr Leben riskieren, mit allem Notwendigen versorgt? - Nach meinem Eindruck zeigt sich hier eine neue Anteilnahme in der Öffentlichkeit, die Sie, Herr Robbe, in Ihren letzten Jahresberichten völlig zu Recht angemahnt haben. Es ist bedauerlich, dass sich diese Anteilnahme offenbar erst durch die Verluste des vergangenen Monats so verbreitet hat. Aber es ist gut, dass sich die Gesellschaft verstärkt zu ihren Soldaten bekennt. So sehr ich dies begrüße, sehe ich allerdings auch die Verantwortung aller Mitglieder in diesem Hohen Hause, der Bevölkerung den Sinn dieser Auslandseinsätze zu vermitteln. ({0}) Das gilt gerade für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der von vielen abgelehnt wird. Wenn es uns gelingt, die Notwendigkeit dieser Einsätze zu vermitteln, wird die Unterstützung für unsere Soldaten umso stärker wachsen. Denn diese leisten ihren Dienst gerade für die Sicherheit unserer Bevölkerung, auch, vielleicht sogar gerade auch am Hindukusch, gemeinsam mit unseren Bündnispartnern, die sich früher in unserem eigenen Land jahrzehntelang gegen eine gemeinsame Bedrohung engagiert haben. Afghanistan darf nicht wieder zur Operationsbasis des internationalen Terrors werden, der uns alle im Visier hat. Neben Verbesserungen in einigen Bereichen werden im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten erneut Mängel festgestellt, die angesichts der laufenden Einsätze besonders kritisch erscheinen. Die Probleme treten dabei häufig gar nicht im Einsatz selbst auf; denn vorhandene Ressourcen werden mit Priorität den dortigen Kontingenten zugeleitet. Dies führt jedoch in einigen Fällen zu einem Verdrängungseffekt bei den Ressourcen im Inland, wovon wiederum nicht zuletzt die Einsatzvorbereitung betroffen ist. Dieser Effekt ist beispielsweise bei den geschützten Fahrzeugen und im Sanitätsdienst sichtbar. Wir hatten bereits bei der Befassung mit dem letzten Jahresbericht festgehalten, dass das Fehl an geschützten Fahrzeugen geringer geworden ist. Ich verfolge mit Interesse die Bemühungen, die noch vorhandenen Lücken zu schließen, wie erst jüngst mit der Bestellung weiterer 60 Fahrzeuge vom Typ EAGLE IV. Natürlich werden die verfügbaren Fahrzeuge zuerst dort eingesetzt, wo sie am dringendsten gebraucht werden, nämlich im Einsatz selbst. Das führt dann aber dazu, dass im Inland nur eine geringe Zahl für die einsatzvorbereitende Ausbildung zur Verfügung steht. Nach wie vor kritisch ist die Situation im Sanitätsdienst. Auch dies betrifft zuerst die truppenärztliche Versorgung im Inland ebenso wie den Betrieb an den Bundeswehrkrankenhäusern. Daher müssen wir sehr genau beobachten, welche Auswirkungen die eingeleiteten Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung im Sanitätsdienst haben. Ein weiterer einsatzrelevanter Punkt in dem Bericht ist erneut die Problematik der posttraumatischen Belastungsstörungen. Im Bericht wird noch einmal die Verwirklichung eines PTBS-Kompetenzzentrums für die Bundeswehr gefordert. Dieses Vorhaben haben bekanntlich vor kurzem nochmals alle Fraktionen im Verteidigungsausschuss unterstützt. Ich freue mich, Herr Minister zu Guttenberg, dass Sie nunmehr die Einrichtung eines solchen Zentrums in Berlin angewiesen haben. ({1}) Die anstehende Aufstockung und Umstrukturierung des deutschen ISAF-Kontingents wird die eben genannten Probleme nicht vereinfachen. Ich begrüße die verschiedenen Initiativen, die bereits im Bundesverteidigungsministerium ergriffen worden sind, um Abhilfe zu schaffen, um Ausstattung und Ausbildung weiter zu verbessern und die Truppe durchsetzungsfähiger zu machen. Wir müssen aber realistisch sehen, dass diese Maßnahmen nicht schon morgen alle Engpässe beseitigen werden. Der Bedarf für die optimale Versorgung im Einsatz hat sich auch nicht erledigt, wenn die Bundeswehr ihre Aufgaben nach und nach an die afghanischen Sicherheitskräfte übergibt, auch dann nicht, wenn diese Mission in einigen Jahren hoffentlich erfolgreich abgeschlossen ist. Wir dürfen bei eventuellen künftigen Einsätzen nicht wieder denselben Problemen gegenüberstehen. Dazu bedarf es langfristiger Bemühungen, einschließlich der notwendigen Unterlegung durch Haushaltsmittel. Hier tragen wir alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung. Dies gilt übrigens auch für die wehrtechnische Industrie. Kostspielige Verzögerungen wie beim A400M oder beim Kampfhubschrauber TIGER müssen wieder die Ausnahme werden; denn schließlich wird modernes Gerät so schnell wie möglich für die Einsätze gebraucht, um durch bestmöglichen Schutz und wirkungsvolle Technik weitere Opfer unter unseren Soldaten im Einsatz möglichst zu vermeiden. ({2}) Auch wenn die Situation im Einsatz derzeit die Diskussion beherrscht, möchte ich zum Schluss auf die Anita Schäfer ({3}) Attraktivität der Bundeswehr insgesamt zu sprechen kommen. Auch dazu werden im Bericht des Wehrbeauftragten erneut eindeutige Aussagen getroffen. Überproportional zur Zahl der tatsächlichen Eingaben bleibt etwa die Vereinbarkeit von Familie und Dienst bestimmend. Insbesondere gilt dies für Möglichkeiten zur Kinderbetreuung. Da müssen manchmal vorhandene Möglichkeiten einfach nur konsequent genutzt werden. Im Rahmen eines entsprechenden Pilotprojekts, so wird im Bericht festgestellt, wurden vielfach bereits Belegrechte an kommunalen Betreuungseinrichtungen wiederentdeckt, insgesamt 9 000 Plätze an 350 Einrichtungen in 150 Bundeswehrstandorten. Gute Nachrichten gibt es auch beim Sonderprogramm zur Sanierung der Westkasernen. Hier sind in den letzten drei Jahren 356 Millionen Euro verbaut worden. Für dieses und das nächste Jahr sind weitere 246 Millionen Euro geplant. Ab Ende dieses Jahres wird zugleich der neue Unterkunftsstandard umgesetzt, der vor allem für die längerdienenden Mannschaftsdienstgrade eine Verbesserung bedeutet, die gewissermaßen den Muskel der Einsatzkontingente darstellen. Ein kritischer Punkt bleibt nach wie vor die ausreichende Verfügbarkeit von Pendlerunterkünften für Soldaten ab 25, die nicht mehr in der Kaserne unterkunftspflichtig sind. Im Bericht wird auch hier auf Beispiele erfolgreicher Kooperation mit örtlichen Anbietern hingewiesen. Es ist wünschenswert, dass das Schule macht und an allen Standorten der Bedarf gedeckt werden kann. Ich selbst möchte diese Rede nicht beenden, ohne allen Männern und Frauen der Bundeswehr für ihren Dienst zu danken, denen im Einsatz, aber auch denen in unseren Heimatstandorten. Ich bitte darum, dass wir sie dabei weiterhin auf jede Weise unterstützen. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Mittelpunkt des Jahres 2009 stand für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor allem eines, nämlich ihre schwere und gefährliche Arbeit in Afghanistan. Das spiegelt sich auch im Jahresbericht des Wehrbeauftragten wider; es spiegelt sich dort auch wider, dass die Soldatinnen und Soldaten in diesem realen, tagtäglichen Einsatz in Afghanistan ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren. Wie wir alle wissen, war auch das Jahr 2009 ein Jahr, das Opfer gefordert hat. An die Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen müssen wir alle, wir Politiker, Journalisten, Fachleute und die gesamte Öffentlichkeit heute und jeden Tag denken, wenn wir über den Einsatz der Bundeswehr sprechen. An die müssen wir denken, und wir müssen uns in der Öffentlichkeit der brutalen Härte dieses Einsatzes stellen. Denken reicht aber natürlich nicht aus. Wir müssen auch handeln. Dass wir dies nicht tun, jedenfalls nicht in dem Umfang, wie unsere Soldatinnen und Soldaten dies erwarten, auch das können wir im Bericht des Wehrbeauftragten nachlesen. Ich kann gut verstehen, dass sich viele Soldatinnen und Soldaten heute manchmal alleingelassen fühlen. Dieser Jahresbericht zeigt Zustände bei den Auslandseinsätzen auf, die inakzeptabel sind und die schnellstmöglich abzustellen sind. Das fängt bei der mangelhaften materiellen Ausstattung an, die sich insbesondere in den Einsätzen und in der Vorbereitung darauf bemerkbar macht. Gerade nach den schweren Gefechten der letzten Monate in Afghanistan wurde immer wieder auf den Mangel an geschützten Fahrzeugen hingewiesen. Auch wenn ich Verständnis dafür habe, dass geschützte Fahrzeuge natürlich nicht über Nacht beschafft werden können: Es gibt auch Mängel beim Material, die sich wirklich schneller abstellen ließen. So weist der Wehrbeauftragte darauf hin, dass letztes Jahr sage und schreibe vier Monate vergingen, bis geeignete Schutzbrillen für den Einsatz in Afghanistan beschafft wurden. Das sind Verzögerungen, für die unsere Soldaten - zu Recht, finde ich - kein Verständnis haben. Auch die Vorbereitung auf das im Einsatz verwendete Material muss deutlich verbessert werden. Es ist in der Tat ein Unding, wenn Fahrer und Mannschaften in Deutschland, wenn überhaupt, nur unzureichend auf Einsatzfahrzeugen wie dem DINGO geschult werden. Hier muss die Bundeswehr dringend Abhilfe schaffen. Wir werden das als Parlament genau verfolgen. ({0}) Was die Infrastruktur in Deutschland angeht, will ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Ich denke, jeder von uns kennt abschreckende Beispiele über den schlechten Zustand von Kasernen, vor allem in Westdeutschland. Aber eine Zahl hat mich den Bericht doch sehr aufmerksam lesen lassen: Teilweise sind bis zu zehn Stellen an der Genehmigung von Bauvorhaben beteiligt. Das kann doch wirklich schneller und unbürokratischer gemacht werden. Das Ministerium und die Bundeswehr sollten sich endlich bemühen, derartige Zustände abzustellen. Zweiter Punkt der Mängelliste: Defizite bei Personal und Ausbildung. Beklagt wird im Bericht der fehlende Praxisbezug in der Ausbildung von Offizieren und Unteroffizieren. Gerade im Hinblick auf spätere Führungsverwendungen sollte man darüber nachdenken, ob ein früherer und intensiverer Kontakt zur Truppe nicht von Vorteil wäre. Die Bundeswehr hat einen jährlichen Personalbedarf von 23 700 Soldatinnen und Soldaten. Diese Bedarfsmarke wurde 2009 um rund 2 000 verpasst. Mit dem Blick auf die Zukunft muss die Truppe deshalb vor allen Dingen im Bereich der Attraktivität endlich mehr tun, um guten Nachwuchs zu bekommen. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird deutlich, dass das Thema „Attraktivität der Streitkräfte“ oft immer noch vernachläs3896 sigt wird. So gibt es nach wie vor zahlreiche Klagen über eine wirklich unbefriedigende Beförderungssituation und über ein unfaires Beurteilungssystem. Schließlich geht es - drittens - in vielen Zuschriften von Soldatinnen und Soldaten um das Thema „Attraktivität der Bundeswehr“, wozu die Infrastruktur genauso zählt wie die leider immer noch zu schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Über gut gemeinte Absichtserklärungen ist man hier offensichtlich immer noch nicht weit hinausgekommen. So gibt es für die immerhin rund 30 000 Soldatenkinder unter sechs Jahren keine ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen, auch wenn nicht zuletzt unter Druck der Berichte des Wehrbeauftragten inzwischen zahlreiche „Belegrechte“ entdeckt wurden, die in Vergessenheit geraten waren. Sorgen bereitet darüber hinaus die Betreuung der Kinder während der Einsatzzeiten. Zwar leisten hier Familienbetreuungszentren gute Arbeit; aber diese Betreuung steht und fällt eben auch mit einer guten finanziellen Ausstattung dieser Zentren. Geradezu ein Klassiker in jedem Jahresbericht sind die Klagen über den Wehrdienst. Ich kann nur immer und immer wieder wiederholen: Wenn wir wollen, dass junge Männer diesen Dienst leisten, müssen wir dafür sorgen, dass die Dienstzeit als sinnvoll empfunden wird. Ich bin eine Anhängerin der Wehrpflicht. Deswegen ärgern mich die jährlichen Hinweise aus den Reihen der Wehrpflichtigen, die ihre Dienstzeit als vergeudete Monate empfinden. Meine Forderung an die Regierung lautet daher: Machen Sie sich endlich ernsthafte Gedanken über die Zukunft der Wehrpflicht, und sorgen Sie auch für eine sinnvolle Ausgestaltung dieser Zeit! Was wir in den letzten Wochen über Ihre Pläne zum sechsmonatigen Wehrdienst lesen mussten, beruhigt uns leider nicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme zum Ende. Lassen Sie mich noch dem scheidenden Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für ihre hervorragende Arbeit danken. Lieber Reinhold Robbe, du hast dir in den vergangenen fünf Jahren über Parteigrenzen hinweg ein hohes Ansehen erarbeitet. Vor allen Dingen hast du es geschafft, das Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten zu erlangen. Das ist schließlich die vornehmste Aufgabe eines Wehrbeauftragten. Deine Berichte waren schonungslos, detailliert und kompetent. Sie haben den Finger in die Wunde gelegt und Mängel aufgezeigt. Du hast keine Konfrontation gescheut - auch das müssen wir sagen -, sei es mit dem Parlament oder mit dem Bundesministerium der Verteidigung. Du hast aber noch etwas anderes geschafft, das ich ebenfalls für wichtig halte: Immer wieder hast du in der Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass die materielle Ausstattung der Bundeswehr nicht alles ist. Soldaten brauchen auch den Rückhalt der Gesellschaft, sprich: den Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Sorgen und Probleme gehen uns alle an. Damit, lieber Reinhold Robbe, wird dein Name lange verbunden bleiben. Ich danke dir dafür im Namen meiner Fraktion sehr herzlich. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christoph Schnurr hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Wehrbeauftragter Robbe! Es ist nicht lange her, da übergab der amtierende Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages seinen Jahresbericht 2009, zuerst dem Bundestagspräsidenten und dann dem Verteidigungsausschuss. Das scheint auf den ersten Blick nur ein kleiner Kreis interessierter Leser zu sein. Doch dieser 51. Jahresbericht wurde seit dem 16. März 2010 über 16 000-mal heruntergeladen. Er führt damit die Rangliste der Downloads an, die im März von der Bundestagswebsite abgefragt wurden. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig dieser Bericht ist und welch großes Interesse er in der Bevölkerung hervorruft. Lieber Herr Robbe, ich möchte Ihnen auch im Namen meiner Fraktion für Ihre Arbeit danken, die Sie in den letzten fünf Jahren geleistet haben. Der Dank gilt auch Ihrem Hause und Ihrem Team, die Sie bei der Erstellung der Berichte unterstützt und die ein Auge auf die Bundeswehr gehabt haben, um Missstände offenzulegen. Doch wollen wir nicht vergessen: Ohne die Eingaben der Betroffenen wäre es für jeden, der das Amt des Wehrbeauftragten bekleidet, schwer, Mängel aufzudecken. Die Eingaben machen deutlich, dass die Institution des Wehrbeauftragten alternativlos ist und gebraucht wird. In der letzten Debatte zeichnete sich bereits ab, welche Themen und welche Probleme diesem 51. Bericht zu entnehmen sein würden. Heute lässt sich sagen: Unsere Erwartungen haben sich bestätigt. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Zum wiederholten Male fallen Probleme besonders im Sanitätsdienst auf: fehlendes Personal, Abwanderung der Fachkräfte und Nachwuchssorgen. Die Attraktivität des Dienstes ist ein Thema, das in allen Bereichen der Bundeswehr angegangen werden muss. Hier bleibt weiterhin viel zu tun. Ich warte gespannt auf die Stellungnahme des Ministeriums zu diesem 51. Bericht, insbesondere im Bezug auf den Sanitätsdienst und die Maßnahmen, die folgen müssen. Der Sanitätsdienst nimmt eine besondere Stellung in der Bundeswehr ein. Ihm obliegt es, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Soldaten im In- und Ausland aufrechtzuerhalten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Herr Minister, die Probleme und Schwierigkeiten im Sanitätsdienst sind hinlänglich bekannt. Jetzt müssen sie rasch abgestellt werden, damit dieser Dienst wieder in geordnete Bahnen kommt. Der erste Fortschritt innerhalb des Sanitätswesens ist sicherlich das im Koalitionsvertrag vereinbarte PTBSZentrum. Hier wurden erste ernsthafte Anstrengungen unternommen. Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht nachlassen. Ich bedanke mich ausdrücklich beim gesamten Parlament, das dieses Vorhaben fraktionsübergreifend unterstützt hat, wenn es auch maßgeblich von meiner Kollegin Elke Hoff angestoßen wurde. Vielen Dank. ({0}) Reden wir von Ausrüstung und Ausbildung. Auf der Reise mit dem Minister nach Afghanistan habe ich mich mit einigen Soldaten unterhalten können. Mir gegenüber sagten einige Infanteristen, dass sie erst im Einsatz mit den Fahrzeugen DINGO und EAGLE IV fahren konnten und erst vor Ort in diese Geräte eingewiesen wurden. Meine Damen und Herren, es ist ein Unding, dass Soldaten ohne ordentliche Ausbildung für das entsprechende Gerät in den Einsatz geschickt werden. Es ist nicht nur sinnvoll, unsere Soldaten mit der bestmöglichen Ausstattung auszurüsten; es ist auch zwingend erforderlich, die Soldaten an den entsprechenden Geräten in der Heimat auszubilden. Vielleicht sollten wir überlegen, den Grundsatz des einsatzbedingten Sofortbedarfs auch in Deutschland anzuwenden. Denn die Ausbildung für den Einsatz ist ebenfalls einsatzbedingt. An dieser Stelle möchte ich allen Soldaten der Bundeswehr, ihren Familien und Angehörigen, ob im Inoder Ausland, für ihren beispiellosen Dienst danken und, damit verbunden, meinen Respekt vor ihrer Arbeit bekunden. ({1}) Das bringt mich auch schon zum nächsten Thema. In Großbritannien gab es vor dem Irakkrieg über das gesamte Land verteilt Demonstrationen gegen eine Teilnahme. Als die Regierung eine Beteiligung beschloss, war noch immer ein Großteil der Bevölkerung dagegen. Es hat sich jedoch niemand gegen die Streitkräfte gewandt. Es steht jeder Bürgerin und jedem Bürger frei, wie sie oder er die Einsätze bewertet, in die wir Parlamentarier die Bundeswehr geschickt haben. Von der Bevölkerung und einigen Abgeordneten würde ich mir allerdings etwas mehr Respekt vor den Menschen wünschen, die den Beruf des Soldaten gewählt haben. ({2}) Niemand wird gezwungen, aus Solidarität einen Aufkleber mit einer gelben Schleife als Zeichen an seinem Auto zu befestigen; doch eine sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik und normale zwischenmenschliche Solidarität sind, glaube ich, nicht zu viel verlangt. Die Bundeswehr hat nicht selbst entschieden, in die Einsätze zu gehen. Das waren wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Das dürfen wir nicht vergessen. ({3}) - Sie nicht; das ist hinlänglich bekannt. Aber auch wenn Sie dem nicht zugestimmt haben, sollten Sie an der einen oder anderen Stelle Solidarität mit den Soldaten, die im Namen der Bundesrepublik Deutschland in Auslandseinsätzen sind, zeigen. Das ist, glaube ich, nicht zu viel verlangt, liebe Kollegen von der Linkspartei. ({4}) Was bringt die Zukunft? Die Strukturkommission nimmt ihre Arbeit auf. Unter der verantwortungsvollen Führung von Frank-Jürgen Weise wird sie sicherlich tiefgreifende Änderungsvorschläge bringen. Eins ist klar: Es darf dabei keine Tabus geben. Wir alle in diesem Haus sind gespannt auf den Abschlussbericht der Kommission und sollten auch mit unangenehmen Inhalten rechnen. Der 51. Bericht des Wehrbeauftragten ist sicherlich auch eine gute Quelle für die Arbeit der Kommission. Lieber Kollege Königshaus, bald werden Sie dieses Hohe Haus verlassen, um das Amt des Wehrbeauftragten zu bekleiden. Für Ihre Verdienste als Mitglied des Bundestages möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich bedanken. Für das neue Amt wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute. Bei einem Richter, der Wehrbeauftragter wird, ist der Vertrauensvorschuss bestimmt nicht falsch angelegt. Ich habe keine Sorge, dass Sie bei den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bald genau das gleiche hohe Ansehen und Vertrauen haben, wie Sie es bei uns im Parlament genießen. Ihnen viel Erfolg! Ihnen, Herr Robbe, zum Abschluss noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Paul Schäfer hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Streitkräfte - auch die Bundeswehr - brauchen parlamentarisch-demokratische Kontrolle. Das wussten auch diejenigen, die das Amt des Wehrbeauftragten ins Grundgesetz geschrieben haben. Kontrolle beginnt mit Information. Dabei sind die Berichte des Wehrbeauftragten eine ganz entscheidende Quelle. Ohne diese wüssten Parlament und Öffentlichkeit entschieden zu wenig über den inneren Zustand der Bundeswehr; denn solche Großorganisationen neigen zur Schönfärberei. Der vorliegende Bericht unterstreicht diese Bedeutung. Der Wehrbeauftragte sollte derjenige sein, der sich innerhalb des Systems Bundeswehr nicht ein X für ein U vormachen lässt, der Fehlentwicklungen ungeschminkt benennt und der auch bereit ist, sich in den Clinch mit der Bundesregierung zu begeben, wenn es notwendig ist. Das ist der Maßstab. Reinhold Robbe, den wir heute gleichsam hier verabschieden, hat sich genau dieser Aufgabe gestellt, zum Beispiel indem er überwiegend unangemeldete Truppenbesuche durchgeführt hat, um möglichst viele Informationen zu erhalten, oder sich - das hat er in seinem Redebeitrag eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht - der Situation der im Ausland stationierten Soldatinnen und Soldaten angenommen hat. Das halten wir für richtig. Paul Schäfer ({0}) Er hat etwas bewirkt: mit seinem Engagement für eine verbesserte Unterbringung, eine bessere sanitätsdienstliche Versorgung und eine adäquate Betreuung der posttraumatisierten Soldatinnen und Soldaten. Das ist ein wichtiges Kriterium. Dafür übermittle ich ihm und seinem Team von hier aus vielen Dank und gute Wünsche für die Zukunft. ({1}) Ich will aber einen Streitpunkt nicht verschweigen. Dabei geht es weniger um die Person als um das Amtsverständnis. Weil der Wehrbeauftragte eine der wenigen Personen ist, die von außen Einblick in die Bundeswehr haben, die viel mit den Soldatinnen und Soldaten zu tun haben, ist natürlich die Versuchung vorhanden, sich vor allem als Vertrauensperson der Soldatinnen und Soldaten, als Ombudsmann für alle zu verstehen, im schlimmeren Fall als jemand, der vor allem die Belange der Streitkräfte zu vertreten hat. Das ist aber nicht der Kern des Auftrags des Wehrbeauftragten. Um es zugespitzt zu formulieren: Der Wehrbeauftragte ist meines Erachtens nicht der Beschaffer von Akzeptanz für die jeweiligen Einsätze der Bundeswehr; das muss klar sein. Ich weiß, das ist eine schwierige Gratwanderung; denn der Wehrbeauftragte muss sich - wie gesagt: das unterstützen wir - um die Soldatinnen und Soldaten kümmern, die das Parlament entsendet. In diesem Sinne ist er aber nicht der Ombudsmann, sondern muss vor allem überprüfen, ob die Prinzipien der Inneren Führung durchgesetzt werden; das ist der gesetzliche Auftrag. Aufgrund der Auslandseinsätze scheinen Entwicklungen aufzutreten, auf die man verstärkt das Augenmerk richten muss, gerade auch der Wehrbeauftragte. Die verschärfte Lage in Afghanistan wird hierzulande von einer gewissen Kriegsrhetorik begleitet, die meines Erachtens schlimme Folgen für das Denken und Verhalten der Truppen haben kann. Der Wehrbeauftragte sagt an der Stelle: Es geht um Empathie; man muss sich mit der Befindlichkeit der Soldaten und ihrer Lage auseinandersetzen. - Ja, das ist richtig. Es ist naheliegend, dass die Soldaten für ihren großen Einsatz eine Gegenleistung der Gesellschaft verlangen; dazu gehört in der Tat auch Respekt. Diese Empathie darf aber nicht dazu führen, dass elementare Verhaltensmaßstäbe ad acta gelegt werden. ({2}) Stichworte sind hier Kunduz und das Menetekel des 4. September. Bestimmte Stimmungen in der Truppe machen mir schon Sorgen. Zum Beispiel fragt man: Warum gibt es überhaupt staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, wenn wir Gewalt anwenden müssen? Warum untersucht das Parlament Dinge, von denen es nichts versteht? - Ich finde, hier muss gegengesteuert werden. Die Abgeordneten und das Führungspersonal der Bundeswehr sind hier in der Pflicht, damit sich die Maßstäbe, um die es bei der Inneren Führung geht - Recht und Gesetz, Völkerrecht, Humanität -, nicht abschleifen und nicht verloren gehen. Darum müssen wir uns gemeinsam kümmern. An dieser Stelle müssen wir den Wehrbeauftragten unterstützen. ({3}) Bei den Auslandseinsätzen ist ein weiteres Problem zu verzeichnen, das sich wie ein roter Faden durch die Jahresberichte des Wehrbeauftragten zieht: Immer wieder ist vom Missbrauch der Dienstaufsicht die Rede, von Unzulänglichkeiten in der Fürsorge, mangelnden Rechtskenntnissen etc. Auch die Schattenseite im inneren Gefüge der Bundeswehr, die gern als Einzelfälle abgetan werden - Stichworte: Mittenwald, Elitetruppen -, gehören hier hinein. Ich finde, dass hier endlich gehandelt werden muss; denn solche Vorfälle werden Jahr für Jahr festgestellt. Das Ministerium wiegelt ab: Business as usual. Nein, es handelt sich offensichtlich um festgefahrene strukturelle Probleme, für deren Behebung wir endlich ein Gesamtkonzept benötigen, anstatt diese Flickschusterei fortzusetzen. Wir reden hier grundsätzlich über die Stärkung der Rechte der Soldatinnen und Soldaten, mehr Anstrengungen in der politischen und ethischen Bildung, sorgfältigere Personalauswahl und viele Dinge mehr, die wirklich im Rahmen eines Gesamtkonzeptes aufgegriffen und umgesetzt werden müssen. Hier hat der neue Wehrbeauftragte eine ganze Menge Arbeit vor sich. Wir wollen ihn dabei gern unterstützen. Danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Omid Nouripour das Wort.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Reinhold Robbe! Ihre Mannschaft und Sie haben in den letzten fünf Jahren eine hervorragende Arbeit gemacht, für die wir als Fraktion danken, für die auch ich persönlich danke, und zwar deswegen, weil diese Arbeit Spuren hinterlassen wird, nicht nur in der Parlamentsarmee, sondern auch im Parlament. Dafür herzlichen Dank! ({0}) An dieser Stelle möchte ich auch den Soldatinnen und Soldaten danken, die im Einsatz waren, die im Einsatz sind und die sich auf den nächsten Einsatz vorbereiten, aber natürlich ebenso den Soldatinnen und Soldaten, die nicht in den Einsatz fahren. Außerdem sind unsere Gedanken bei denjenigen, die getötet worden sind, bei ihren Angehörigen und bei denjenigen, die versehrt worden sind, und dies nicht nur körperlich. Dass ich dies an dieser Stelle sage und dass es mittlerweile zum Mainstream der Diskussion gehört, auch auf die seelischen Schäden hinzuweisen, dass dies hier und ebenso in der Truppe wie selbstverständlich diskutiert wird, ist ein absolutes Verdienst der Arbeit des Wehrbeauftragten in den letzten fünf Jahren. Auch dafür ein großer Dank! Herr Wehrbeauftragter, Sie schreiben von großen „Herausforderungen“ für die Bundeswehr, die sich gerade in der sich zuspitzenden Lage in Afghanistan sehr klar darstellen, und Sie beschreiben Ihre wachsende „Ungeduld“ angesichts der immer wieder offen zutage tretenden Mängel bei der Ausstattung und bei der Führung. Wir verstehen und wir teilen diese Ungeduld. Die Ausstattung nicht nur in Afghanistan, aber gerade im Auslandseinsatz ist wortwörtlich lebenswichtig. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig, dass wir als Politiker uns nicht als Hobbyfeldherren aufspielen, sondern dass wir die Ohren aufsperren, dass wir genau zuhören, was denn die Truppe selbst eigentlich sagt, welche Ausstattung sie braucht. In diesem Zusammenhang ist es aber wichtig, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, um flexibel bleiben zu können, wenn sich die Bedürfnisse der Truppe verändern. Das heißt, wir müssen auch das Geld zusammenhalten. Dies ist nicht wirklich gelungen, wenn man bedenkt, dass in naher Zukunft neue Herausforderungen auf uns zukommen werden, wenn man bedenkt, wie groß einerseits die Ausstattungsmängel jetzt schon sind und wie groß andererseits die Summe - ich sage es jetzt einmal so drastisch - der erpressten Millionenzuschläge beispielsweise für den A400M ist. Dies sind Mittel, die gerade in den jetzigen Zeiten knapper Mittel bei der Ausstattung fehlen. Es geht um unsere Flexibilität. Ich nenne als Beispiel den dritten Einsatzgruppenversorger, bei dessen Beschaffung kein Wettbewerb stattgefunden hat, wodurch die Preise in die Höhe gegangen sind. Dafür gibt es sehr viele Beispiele, Beispiele dafür, wie die Wirksamkeit der Truppe im Einsatz beeinträchtigt wird. Aber was diese Wirksamkeit angeht, sind die Äußerungen der Bundesregierung aus unserer Sicht weiterhin nebulös. Ich nenne dafür zwei Beispiele: Das eine ist die neue Strategie für Afghanistan, die im Januar sehr laut verkündet wurde, wenn auch damals wenig konkret. Das kann man verstehen; das ist ja auch der erste Aufschlag gewesen. Wir haben mittlerweile zig Fragen gestellt, aber die Aussagen sind nicht wirklich konkreter geworden. Immer noch sind sehr viele unserer Fragen unbeantwortet geblieben. Es gibt auch Widersprüche. Wenn in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage gesagt wird, das Partnering, das stärkere Hinausgehen in die Fläche, bedeute mehr Sicherheit für die Soldaten, dann steht das im Widerspruch zu dem, was der Minister in der letzten Woche auf seiner Pressekonferenz gesagt hat. Ich glaube, dass der Minister recht hat mit dem, was er sagte. Es ist logisch, dass das Risiko steigt, wenn man mehr hinausgeht. Aber dann muss man auch darauf achten, dass man dem Parlament nicht schwarz auf weiß andere Informationen zukommen lässt, die im Widerspruch dazu stehen. Daran zeigt sich, dass die Kritik des Wehrbeauftragten an der Führung auch weiterhin gültig ist. Das zweite Beispiel ist das Strukturchaos. Herr Minister, Anfang der Woche war ich jetzt endgültig verwirrt. Haben wir jetzt W6, wird es eine sechsmonatige Wehrpflicht geben? Sie haben gesagt: Wenn wir uns nicht einigen können, dann machen wir doch neun Monate. - Sie haben vor ein paar Wochen noch gesagt, am 1. Oktober werde die veränderte Wehrpflicht eingeführt. Das ist nicht zu verstehen; das ist auch nicht unbedingt etwas, was die Wirksamkeit der Bundeswehr vergrößert. Wenn die Koalition in diesen Tagen verkündet, dass der Inspekteur des Heeres recht habe, wir brauchten mehr Infanteristen - ich teile diese Auffassung -, dann ist die Frage, ob nicht, bevor man an die Lösung dieses Problems gehen kann, größere Strukturreformen wie bei der Wehrpflicht kommen müssen. Wenn Sie von einem Termin 1. Oktober sprechen und ein solches Chaos produzieren, dann biete ich Ihnen hier eine Wette an: Zum 1. Oktober bekommen Sie das nicht hin. Der Wetteinsatz ist: Der Verlierer muss einen Tag lang Zivildienst in der Altenpflege leisten. Wir werden sehen, ob Sie das bis zum 1. Oktober hinbekommen oder nicht. Ich befürchte, das wird nicht klappen. ({1}) Selbstverständlich bin ich auch sehr gespannt auf die Arbeit der Kommission. Natürlich wünschen wir Herrn Weise allen Erfolg; wir werden seine Arbeit konstruktiv und kritisch begleiten. Ich hoffe, dass die Arbeit der Weise-Kommission viele der strukturellen Mängel, von denen der Wehrbeauftragte seit Jahren berichtet, auffangen kann. Meine Damen und Herren, wir können uns glücklich schätzen, dass wir die Institution des Wehrbeauftragten haben. Der Wehrbeauftragte Robbe hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das Ausland auf unsere Institution des Wehrbeauftragten mit einer Mischung aus Faszination und Neid schaut. Heute war eine Delegation aus Japan zu Gast. Die Kollegen aus Japan haben viele Fragen dazu gestellt, wie die Institution des Wehrbeauftragten funktioniert. Diese Institution ist eine gute Einrichtung. Sie haben diesen Job hervorragend gemacht, Herr Robbe, unter anderem durch die Einführung von unangemeldeten Besuchen. Diese unangemeldeten Besuche haben sich absolut bewährt. Ich hoffe, dass diese unangemeldeten Besuche von Ihrem Nachfolger - auf den wir uns freuen und mit dem wir sicher auch gut zusammenarbeiten werden - fortgesetzt werden. Ich wünsche Herrn Königshaus bei seiner Amtsausübung, vor allem aber bei der nicht immer einfachen Balance zwischen Parlament und Armee ein glücklicheres Händchen, als er es in den letzten Wochen manchmal hatte. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Robbe, wenn wir heute über den Bericht des Wehrbeauftragten diskutieren, debattieren wir immer über Verantwortung: über Verantwortung des Dienstherren - von mir -, über Verantwortung dieses Hauses, über Verantwortung von uns allen als Parlamentarier. Wir machen Dienst in diesen Tagen - so haben Sie auch eingeleitet, Herr Robbe - immer noch unter dem Eindruck der Ereignisse der letzten Wochen. Diese Wochen haben uns überaus traurige Ereignisse beschert, gleichzeitig aber den Begriff „Verantwortung“ substanziell unterfüttert. Ich will an dieser Stelle Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, danken für die Anteilnahme, die unsere Soldaten und ihre Familien, auch die Verwundeten, die nach Hause zurückgekehrt sind, erfahren haben. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Durch die große Anwesenheit bei den Trauerfeiern hat das Parlament ein wirklich bemerkenswertes, großartiges Bild gezeichnet. An dieser Stelle von meiner Seite herzlichen Dank! Diese Anwesenheit hat die Verbindung zwischen dem Parlament und unseren Soldatinnen und Soldaten in besonderer Weise hervorgehoben; ich glaube, wir können das gar nicht fest genug unterstreichen und darstellen. ({0}) Herr Robbe, Sie haben auch diese bitteren Realitäten in Ihrem Jahresbericht klar dargestellt. Sie haben damit auf Realitäten hingewiesen, die der Diskussion und der Debatte in der Öffentlichkeit bedürfen, auch der kontroversen Debatte. Vor allem aber kommt es darauf an, dass diese Realitäten endlich in diesem Ausmaß diskutiert werden. Ich glaube, dass damit ein notwendiger Schritt gegangen wurde. Das ist gut. Der Hinweis auf die Bedeutung von Solidarität mit unseren Soldaten und Unterstützung unserer Soldaten kam von allen Rednern. Ich kann dem von meiner Seite nur flankierend zur Seite stehen, indem ich sage: Das entspricht auch der Erfahrung, die ich mache, wenn ich unsere Soldaten besuche. Unsere Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir haben Verständnis für die politische Debatte, die über Sinn und Unsinn eines Einsatzes geführt wird. Wir wünschen uns allerdings mehr Anerkennung und Unterstützung von zu Hause, aus der Gesellschaft heraus und aus dem Parlament heraus. - Ich glaube, diesem Ansinnen unserer Soldaten kann man nur beipflichten, und man sollte alles tun, um das entsprechend zu unterfüttern. ({1}) Der Hinweis auf die Bedeutung der Attraktivität des Dienstes ist berechtigt. Den Dienst attraktiv zu halten, ist eine Daueraufgabe, der wir uns zu unterwerfen haben. Hier sind viele Einzelhinweise dazu gegeben worden, und hier ist in den letzten Jahren seitens des Wehrbeauftragten und seines Teams viel geleistet worden. Wir haben diese Hinweise aufzugreifen und in die Umsetzung zu bringen. Das muss aber, damit es den Boden und das Fundament bekommt, das wir brauchen, finanziell auch entsprechend unterfüttert werden. Herr Robbe, Sie scheiden jetzt nach fünf Jahren aus dem Amt des Wehrbeauftragten. Ich darf Ihnen aus meiner Position heraus, aber auch ganz persönlich danken für Ihren Dienst, für Ihr großes Engagement bei der Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten - gerade derer, die sich im Einsatz befinden - durch das Beschreiben der Einsatzrealitäten. Die ständige Präsenz - gerade die unangemeldete; das ist schon gesagt worden -, die Sie gezeigt haben, ist etwas, was zum Verständnis von dem Amt des Wehrbeauftragten gehören muss: die notwendige Unbequemlichkeit, gerade gegenüber der Spitze eines Hauses. Ich habe das gottlob von Ihnen erfahren dürfen, aber gleichzeitig eben auch vertrauensvoll und eng mit Ihnen zusammenarbeiten dürfen. Ich darf Ihnen auch von meiner Seite aus sagen: Herzlichen Dank für die Arbeit der letzten Jahre. Sie haben exzellente Arbeit geleistet. Danke hierfür! ({2}) Das darf man auch sagen, wenn man bei der einen oder anderen Frage quer liegt; auch das gehört dazu. Ich darf Ihnen, lieber Herr Königshaus, zurufen, dass ich mich auf die künftige Zusammenarbeit aufrichtig freue. Sie haben in den letzten Wochen an der einen oder anderen Stelle erfahren dürfen, was mit dem Amt des Wehrbeauftragten und mit den Themen, mit denen wir uns befassen, unter anderem einhergeht, nämlich harte, teilweise überharte Kritik. Zu nahezu jedem Themenkomplex, nahezu jedem Aspekt gibt es - auch aus meinem Hause - unterschiedliche begründete Meinungen. Mit einer solchen Kritik wird man im Zweifel umgehen müssen, und mit der werden wir gemeinsam umgehen können; daran habe ich keinen Zweifel. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und wünsche Ihnen eine glückliche Hand und Gottes Segen für Ihre künftigen Aufgaben. ({3}) Ich will noch einmal das aufgreifen, was den Bericht des Wehrbeauftragten auch in der öffentlichen Wahrnehmung im Wesentlichen prägt. Das ist der Hinweis auf Defizite. Ich freue mich natürlich, wenn an der einen oder anderen Stelle auch die Dinge genannt werden, die positiv laufen und einen guten Eindruck von der Bundeswehr vermitteln. Aber es ist geboten und richtig, die Defizite darzustellen, sie klar, deutlich und ungeschminkt zu benennen. Anders kann man keine Abhilfe schaffen. Verfehlungen gegen den Geist der Inneren Führung wurden benannt. Diesen ist nachzugehen - das steht außer Frage -, und zwar unmittelbar. Die notwendigen Folgerungen sind zu ziehen. Ich habe das unter den Dreiklang gefasst: nachgehen, abstellen und Konsequenzen ziehen. Natürlich, lieber Kollege Schäfer, kann und darf das niemals business as usual sein, mit dem man den Dingen begegnet. Jedem Einzelfall muss entsprechend begegnet werden, wobei ich auch betonen darf - auch Herr Robbe hat diesen Hinweis immer wieder gegeben -, dass es sich um Einzelfälle handelt. Jeder Fall ist einer zu viel, aber der Großteil, die überwältigende Mehrheit unserer Soldatinnen und Soldaten leistet einen erstklassigen Dienst. Man sollte sie nicht über einen Kamm scheren - das haben Sie auch nicht gemacht -, und so einen Eindruck sollte man auch nicht nach außen vermitteln. Die Kritik an Ausrüstung und Ausbildung begleitet uns in diesen Tagen und schon seit Monaten, seit Jahren. Durch die intensive öffentliche Debatte wurde und wird sie aufgegriffen. Ich bin für diese Hinweise überaus dankbar. Einiges ist bereits erreicht, einiges muss definitiv noch erreicht werden. Absoluten Schutz wird es nie geben können. Es wird immer ein Prozess der Optimierung sein, in den man sich hineinbegeben muss. Ich bin umso dankbarer, wenn man auch die finanzielle Unterstützung seitens des Parlaments bekommt, wenn von unseren Soldaten zu Recht Wünsche an uns herangetragen werden. Der Aspekt Ausbildung, gerade auch Ausbildung an Fahrzeugen, wurde von einigen genannt. Wir werden in diesem Jahr knapp 200 neue geschützte Fahrzeuge zur Verfügung stellen mit der Maßgabe und mit meiner Weisung, dass sie auch und gerade zur Ausbildung zur Verfügung gestellt werden, und zwar nicht erst zur Ausbildung im Einsatz, sondern bereits zur Ausbildung in unserem Lande. Ich glaube, das ist wichtig. Das ist ein Prozess, der jetzt angegangen wurde und den der Generalinspekteur entsprechend einplant. Der berechtigte Hinweis auf die Mängel in den Strukturen wurde gegeben. Die Strukturen müssen die Einsatzrealitäten dieser Tage abbilden. Daher wurde die Strukturkommission eingesetzt, von der ich mir, wie es gesagt wurde, einiges erwarte, ohne dass Tabus in irgendeiner Form aufgestellt werden. Diese Strukturkommission wird zum Ende des Jahres ihre Vorschläge vorlegen. Die Finanzausstattung wurde genannt. Ich möchte mit einem Punkt schließen, der mir ein Herzensanliegen ist ({4}) und den Herr Robbe, Frau Hoff und viele andere bereits seit Jahren thematisieren. Das ist die seelische Verfassung unserer Soldaten, gerade jener, die aus dem Einsatz kommen, und besonders jener, die bedrückende Erlebnisse hatten. Hier muss das Optimum an Versorgung vorgehalten werden. Auch hier bin ich für die Hinweise jener, die sich damit befassen - gerade von Ihnen, Herr Robbe; hier baue ich weiter auf Ihre Impulse -, außerordentlich dankbar. Von den Erfahrungswerten anderer kann man gelegentlich lernen, aber hier müssen wir unseren Soldaten das Beste bieten. Erste Schritte sind gegangen, aber hier müssen wir noch drauflegen. Ich freue mich über die Unterstützung des gesamten Hauses. Es wurde ja bereits angekündigt, sich parteiübergreifend finanziell entsprechend einbringen zu wollen. Das geht Hand in Hand mit der Sanität. Im Bereich der Sanität sehen wir Probleme. Der Ärztemangel - das ist übrigens ein gesellschaftliches Problem, Herr Schnurr, um das einmal aufzugreifen; das haben wir nicht nur bei uns - ist ein Problem. Dieses Problem muss zeitnah gelöst werden. Frau Präsidentin, ich nehme Ihr Signal wahr. Ich danke Ihnen noch einmal für Ihren Dank an unsere Soldaten. Sie haben es wahrlich verdient. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Susanne Kastner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Wehrbeauftragter, lieber Reinhold Robbe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Wehrbeauftragter hat heute wieder einmal eindringlich darauf hingewiesen und uns erklärt, wie die Einsatzrealität der Bundeswehr aussieht und wo es Missstände zu beseitigen gilt. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass eine vernünftige Ausrüstung das A und O für den Erfolg von Bundeswehreinsätzen und in erster Linie für die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten ist. Geld ist zugegebenermaßen im Bundeshaushalt derzeit recht knapp. Gerade in Zeiten der Krise wird zwischen den einzelnen Ressorts sehr hart gerungen. Angesichts der wachsenden Aufgaben und der damit verbundenen Herausforderung für unsere Bundeswehr muss ich aber ganz offen sagen, dass kein Verteidigungspolitiker - auch ich als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses nicht - dafür Verständnis hat, dass dem Verteidigungsetat fast eine halbe Milliarde Euro gestrichen wurde. Die dramatische Konsequenz ist, dass dringend benötigtes Material nicht erneuert und beschafft werden kann. In Anbetracht der Einsatzbelastungen bräuchte die Bundeswehr ein sattes Plus an Haushaltsmitteln und keinen Rotstift. Aufgrund der Bedrohungslage in den Einsatzgebieten, insbesondere natürlich in Afghanistan, ist die Einsatzvorbereitung entscheidend für den Erfolg und für das Wohlergehen unserer Soldaten. Die Verwicklung in Kampfhandlungen ist heute eher die Regel als die Ausnahme. Damit - das hat Reinhold Robbe bereits gesagt ist der routinierte und sichere Umgang mit allen Ausrüstungsgegenständen, mit Waffensystemen, Gerätschaften und Fahrzeugen, überlebenswichtig. Umso schwerer wiegen die Mängel in der Ausbildung und der Ausrüstung hier vor Ort. Routine kann bekanntlich nur dann entstehen, wenn der sichere Umgang mit den hochspeziellen Gerätschaften vorab reichlich und ausreichend geübt wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass die Erfüllung eines Auftrages eine sachgerechte und angemessene Ausstattung voraussetzt. Der Jahresbericht moniert hier verschiedene Defi3902 zite und zeigt auf, dass dies bei unserer Parlamentsarmee leider keine Selbstverständlichkeit ist. Klar ist, dass sich der Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten stark gewandelt hat und gefährlicher geworden ist. Das haben wir erst wieder im April auf tragische Weise erfahren müssen. Mir persönlich geht es aber nicht nur darum, dass unsere Soldaten gut ausgebildet und sachgerecht ausgerüstet in den Einsatz gehen. Ganz besonders liegt mir und vielen anderen hier im Hause am Herzen, wie sie nach ihrer Rückkehr hier wieder aufgenommen und angenommen werden, insbesondere dann, wenn sie infolge des Einsatzes an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. ({0}) Im zurückliegenden Berichtsjahr wurden 466 Fälle von posttraumatischer Belastungsstörung verzeichnet. Darüber, wie hoch die Dunkelziffer ist, lässt sich nur spekulieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle tragen große Verantwortung für das körperliche und seelische Wohlergehen unserer Soldaten, gerade weil es eine Parlamentsarmee ist. Bereits im vergangenen Jahr hat das Parlament die Gründung eines Traumazentrums beschlossen, das, wie wir jetzt lesen konnten, dankenswerterweise von der Bundesregierung eingerichtet werden soll. Eine gute ärztliche Versorgung ist grundlegend dafür, dass Probleme erkannt und behandelt werden können. Der Zentrale Sanitätsdienst gibt mir jedoch Grund zur Sorge. Um es kurz zu machen: Uns fehlen schlicht und ergreifend Ärzte bei der Bundeswehr, um eine flächendeckende, lückenlose und auf die Bedürfnisse der Bundeswehr zugeschnittene Versorgung der Truppe gewährleisten zu können. Seit Jahren wird vom Wehrbeauftragten der akute Handlungsbedarf angemahnt. Leider muss zu oft erst etwas Schlimmes passieren, bis gehandelt wird. Ich wünsche der jüngst eingesetzten Kommission zur Überprüfung der Bundeswehr-Strukturen unter der Leitung von Frank-Jürgen Weise viel Erfolg dabei, die vielen bekannten Missstände und Defizite konsequent aufzuarbeiten, und würde mich freuen, wenn im nächsten Jahresbericht eine Verbesserung erkennbar wäre. Nun möchte ich aber die heutige Gelegenheit natürlich nutzen, um unserem scheidenden Wehrbeauftragten Reinhold Robbe zu danken. Lieber Reinhold, wir kennen uns seit vielen Jahren, und deshalb weiß ich, wie wichtig dir die Arbeit als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages war und wie viel Engagement und Einsatz du darin eingebracht hast. Du warst immer ganz dicht an der Truppe dran. Dir waren die Unterkünfte genauso vertraut wie die Verpflegung und die Ausrüstung in den Auslandseinsätzen. Du konntest einschätzen, wie die Situation der Truppe tatsächlich war. Als Wehrbeauftragter warst du immer ein ernsthafter Anwalt für die Belange der Soldatinnen und Soldaten. Dabei hast du dich jedoch nie gescheut, Missstände deutlich zu benennen und, wenn nötig, öffentlich zu machen. In den zurückliegenden Jahren hast du für unsere Bundeswehr viel erreicht und ein echtes Interesse für die einzelnen Soldaten bewiesen. Lieber Reinhold, du hast darauf aufmerksam gemacht, dass in unserer Bundeswehr hochmotivierte und qualifizierte Soldatinnen und Soldaten tagtäglich einen harten Dienst leisten, für den sie unsere Anerkennung verdienen. Deine Arbeit war ein Aushängeschild für unser Parlament und ein Segen für unsere Soldatinnen und Soldaten. Dafür danke ich dir, deiner Mannschaft und deiner Frauschaft im Namen, so glaube ich, aller Kolleginnen und Kollegen nicht nur des Verteidigungsausschusses, sondern auch des gesamten Parlaments sehr herzlich. Wir wünschen dir für die Zukunft alles erdenklich Gute. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/900 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung - Drucksachen 17/659, 17/953 Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen. Interfraktionell wurde vereinbart, dass darüber eine halbe Stunde diskutiert wird. - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich darf nun diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, bitten, ihre Gespräche vor dem Saal zu führen, damit wir uns auf die Rednerinnen und Redner konzentrieren können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Heike Brehmer für die Fraktion CDU/ CSU das Wort. ({1})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln den Antrag der Linken mit dem Titel „Weg mit Hartz IV“. In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass die Hartz-IV-Regelleistungen verfassungswidrig sind. Sie haben offenbar das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nicht verstanden. ({0}) Die Hartz-IV-Regelsätze sind vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht für verfassungswidrig erklärt worden; es wurde mehr Transparenz gefordert. Kolleginnen und Kollegen von den Linken, gerne geben wir Ihnen Nachhilfe, wenn Sie das Urteil noch immer nicht verstehen, und wir können auch heute schon klar sagen, wie wir vorgehen: Wir werden uns dann mit den Regelsätzen im Plenum befassen, wenn im September die aktuellen Zahlen der Einkommens- und Verbrauchsstichproben vorliegen, und anschließend ein transparentes und realitätsgerechtes Verfahren zur Berechnung der Regelsätze gesetzlich fixieren. So viel zur Klarstellung. ({1}) Zur Erinnerung: Die Hartz-IV-Reform 2005 hatte das Ziel, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen und Leistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der Reform lebten circa 2,9 Millionen Bürger von Sozialhilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jetzigen Regelsätzen von Hartz IV. ({2}) Die Betroffenen hatten kaum Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. ({3}) Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für die Betroffenen grundlegend geändert. Im gleichen Augenblick erhöhten sich die Regelsätze der Sozialhilfe um 16 Prozent. Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005 hatten wir insgesamt 5 Millionen Arbeitslose, davon circa 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger. Das waren 1,6 Millionen mehr als im April 2010. Unser Weg ist offensichtlich erfolgreich. ({4}) Von der Reform von Hartz IV hatten wir uns insgesamt natürlich mehr versprochen. Es gibt noch immer eine große Zahl von Langzeitarbeitslosen. Sie brauchen noch Förderkonzepte, und daran arbeiten wir. Die Reform der Jobcenter wird jetzt kommen. Wir versprechen uns davon mehr Vermittlung und Integration in den ersten Arbeitsmarkt. ({5}) Man kann es nicht oft genug wiederholen - auch wenn Sie es nicht hören wollen -: Die unionsgeführte Bundesregierung hat in den letzten Jahren bereits viele Programme zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf den Weg gebracht, zum Beispiel den Beschäftigungszuschuss für Langzeitarbeitslose, den Jobbonus, die JobPerspektive sowie den Qualifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25. Unsere Entscheidungen in der Krise waren richtig. Schauen Sie nach Europa, dann sehen Sie, was ich meine. ({6}) Minister Karl-Josef Laumann hat heute Morgen die Erfolge der Arbeitsmarktpolitik in Nordrhein-Westfalen dargestellt. Allein in Nordrhein-Westfalen konnte die Arbeitslosenzahl in den letzten fünf Jahren um über 230 000 gesenkt werden. Gleichzeitig sind über 290 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden. Das müssen Sie in Berlin erst einmal nachmachen. ({7}) Meine Damen und Herren von der Linken, in Ihrem Antrag verkennen Sie die unterschiedlichen Arbeitsmarktsituationen in den einzelnen Bundesländern. Sie ignorieren auch die Bemühungen der Länder, durch die Arbeitslosen und Hilfebedürftigen gezielt geholfen wird. Der Deutsche Landkreistag hat aufgezeigt, dass angesichts der erheblichen Unterschiede bei der Hilfebedürftigkeit nach SGB II zwischen den Bundesländern eine stärkere Ausrichtung der Bemühungen auf die örtlichen Rahmenbedingungen notwendig ist. Nur ein Beispiel: In Bayern und Baden-Württemberg beträgt die Hilfebedürftigkeit weniger als ein Viertel der Quote Berlins, das den höchsten Wert aufweist. Werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, tragen Sie nicht die Regierungsverantwortung in Berlin? Ist es nicht Ihre Senatorin, die das zu verantworten hat? ({8}) Die Fraktion der Linken fordert in ihrem Antrag mehr öffentliche Beschäftigung und gut bezahlte Arbeit. In Brandenburg und Berlin, wo Sie mitregieren, stimmen Sie der Streichung von 11 000 Stellen im öffentlichen Dienst zu. ({9}) Wie verträgt sich das mit Ihren Forderungen nach mehr öffentlicher Beschäftigung? Sie predigen Wasser und trinken Wein und lösen keinesfalls die Probleme in unserem Land. ({10}) Wir werden im Rahmen einer Aktivierungs- und Vermittlungsoffensive mit innovativer Förderung gezielt die Beschäftigungschancen wichtiger Zielgruppen erhöhen. Insbesondere junge Menschen, Alleinerziehende und ältere Leistungsempfänger sollen von gezielten und konsequent verstärkten Integrationsbemühungen profitieren. ({11}) Mithilfe einer intensiven und individuell zugeschnittenen Betreuung werden wir dafür sorgen, dass den Menschen aus den betroffenen Personengruppen der dauerhafte Ausstieg aus dem Leistungsbezug deutlich häufiger und schneller gelingen wird. ({12}) Deshalb werden wir die Bürgerarbeit realisieren. Sie sehen: Wir handeln. Sie aber versprechen auf den Plakaten: Reichtum für alle. ({13}) Wir handeln verantwortungsbewusst. Wir lehnen Ihren Antrag daher ab. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner das Wort. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Debattentag rankt sich von früh bis spät um das Thema Grundsicherung. Ich finde, das ist auch gut so. Denn es ist für 6,5 Millionen Menschen in unserem Land eine wahrhaft existenzielle Frage. Heute Morgen ging es zunächst einmal um die zukünftige Organisation der Grundsicherung vor Ort. Der mühsam erarbeitete Kompromiss, den die Ministerin nun vorlegen konnte, hat seine Blessuren bereits weg, und zwar noch bevor er intensiv beraten und von Experten hinterfragt werden konnte. Gerade die Verbesserung in der Beratung, in der Betreuung und in der Vermittlung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen war und ist eines der Herzstücke von Hartz IV. Dafür brauchen wir ausreichend und gut qualifizierte Mitarbeiter, die in der Lage sind, kontinuierlich zu arbeiten. ({0}) Umso peinlicher und unverständlicher ist, dass Sie, werte Kollegen der Regierungsfraktionen, den 3 200 Mitarbeitern mit befristeten Arbeitsverträgen diesen Rückhalt nicht geben wollen. ({1}) Wir schließen die heutige Debatte mit der Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke ab. In gewohnt populistischer Manier wird wieder einmal gefordert: weg mit Hartz IV. ({2}) Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, ist die Entwicklung der letzten Jahre wirklich gänzlich an Ihnen vorbeigegangen? ({3}) Machen Sie sich das in dieser Form nicht einen Tick zu einfach? Es lohnt sich nämlich, in diesem Zusammenhang den IAB-Bericht zur Bilanz von fünf Jahren SGB II gründlich zu lesen und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, um die Weichen zukünftig besser zu stellen. Wenn man diesen Bericht ganz kritisch liest, dann kommt man jedoch nicht daran vorbei, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Reform notwendig war und in die richtige Richtung ging. Ich möchte an dieser Stelle dennoch sagen: Es gibt Licht, aber es gibt auch Schatten. ({4}) Ich möchte beides erwähnen und für meine Fraktion die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Zu der Lichtseite gehört die Tatsache, dass die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen seit 2006 kontinuierlich zurückgegangen ist. Das ist Fakt. Es reicht aber überhaupt nicht aus. Wir müssen uns nur einmal die Situation von alleinerziehenden Frauen oder Hilfebeziehern über 55 Jahre anschauen. Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik soll helfen, die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Daran, dass sich gesellschaftliche Teilhabe am besten über Teilhabe am Erwerbsleben erreichen lässt, gibt es keinen Zweifel. Wir können feststellen, dass die Teilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im SGB-II-Bereich generell zu einer Verbesserung der individuellen Eingliederungschancen beigetragen hat. Wir wissen, arbeitsmarktnahe Instrumente sind effektiv. Das gilt für Eingliederungszuschüsse, betriebliche Trainingsmaßnahmen und auch für die Förderung der beruflichen Weiterbildung. Wir wissen aber auch, dass die Betreuung und Aktivierung allzu oft nicht individuell angepasst war. An dieser Stelle sehen wir enorme Reserven. Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die überspitzte Kritik am SGB II generell verfehlt ist. SGB II bedeutet nicht Armut per Gesetz. Es hat für die Betroffenen aber einschneidende Veränderungen gebracht. Zudem gab es Ungerechtigkeiten, die bei der Umsetzung zutage getreten sind. Diese Schwachstellen müssen wir beseitigen. „Weg mit Hartz IV“ löst die Probleme aber nicht. Nur die gezielte Veränderung dieser Problempunkte kann uns weiterhelfen. Drei davon möchte ich benennen. Erstens. Wir stimmen mit dem Antragsteller durchaus überein, dass mit der Grundsicherung das menschenwürAngelika Krüger-Leißner dige Existenzminimum sicherzustellen ist. Hier muss nachgebessert werden. ({5}) Das ist auch ganz klar der Auftrag durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Regelsätze müssen transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Das muss kommen, genauso wie eine grundlegende Neuberechnung der Regelsätze für die Kinder. Ich bin überzeugt, dass sich die Regelsätze auch in der Höhe verändern werden. Bei der kürzlich getroffenen Härtefallregelung hat die Regierungskoalition leider den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nicht erfüllt. Ich bedauere das. Nun haben wir eine Regelung, die schon eine Woche später durch eine Entscheidung des Sozialgerichts Detmold überholt wurde. Ich versichere Ihnen: Das wird so weitergehen. Unser Vorschlag war wesentlich näher an der Praxis und an den Erwartungen der Betroffenen. Zweitens möchte ich etwas zu Ihrer Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn sagen. Diese Forderung ist nicht neu. Jeder weiß, dass wir uns hierfür schon lange einsetzen. ({6}) Aber überzogene Forderungen wie die in Ihrem Antrag nach einem Mindestlohn von 10 Euro lehnen wir ab. Wir setzen uns für einen Mindestlohn von 8,50 Euro ein. ({7}) Darin sind wir uns mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund einig. Unser Antrag belegt das. Es steht ohnehin außer Frage: Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn ist notwendig. Es ist an der Zeit, dass wir ihn in diesem Land haben. Drittens möchte ich Ihre Forderung nach einem öffentlichen Programm für zusätzliche Arbeitsplätze ansprechen. Auch das ist nicht neu. Es gibt ein hervorragendes Beispiel aus meinem Bundesland. In Brandenburg wird mit dem Programm „Qualifizierung und Arbeit für Brandenburg“ derzeit der öffentliche Arbeitsmarkt qualitativ und quantitativ ausgebaut. Wer bislang eher geringe Vermittlungschancen hatte, benötigt in besonderem Maße staatliche Unterstützung. Das heißt verbesserte Qualifizierung, um Langzeitarbeitslose für den ersten Arbeitsmarkt zu befähigen und fit zu machen. Der öffentliche Arbeitsmarkt bringt soziale Integration, stärkt darüber hinaus die regionale Wirtschaft und kann auch für den Ausbau der kommunalen Infrastruktur durch ergänzende und unterstützende Tätigkeiten sorgen. Arbeit zu finanzieren statt reine Fürsorge, ist richtig und allemal besser, als nichts zu tun. ({8}) Dafür haben wir Brandenburger bis 2014 immerhin bis zu 40 Millionen Euro vorgesehen. Es gibt noch aus einem anderen Bundesland einen ähnlichen Vorstoß. Ich erinnere daran, dass Hannelore Kraft diesen gemacht hat. Er geht in die gleiche Richtung. ({9}) - Ganz zufällig! - Statt der unsinnigen Diskussion à la Westerwelle über Kürzungen der Regelsätze brauchen wir bessere Angebote auf dem sozialen Arbeitsmarkt. ({10}) Die Zahl der Angebote muss deutlich ausgebaut werden; darauf hat Hannelore Kraft hingewiesen. Es ist kein Geheimnis: Ich drücke ihr die Daumen, dass sie ihre Vorstellungen umsetzen kann. ({11}) Ich komme zum Schluss. Der Bericht des IAB hat uns zu verschiedenen Fragen Hausaufgaben aufgegeben, die wir in den nächsten Wochen erledigen müssen, und zwar gerade in Bezug auf bestimmte Personengruppen, die besonders benachteiligt sind. Ich denke an Geringqualifizierte und eingeschränkt Beschäftigungsfähige, aber auch an Alleinerziehende und Bedarfsgemeinschaften, die schon lange in der Grundsicherung sind. Wir haben dieses Jahr viel zu tun, angefangen von der Neuordnung der Jobcenter über die Neubemessung des Regelsatzes bis hin zur Veränderung auf dem Arbeitsmarkt. Unser Ziel ist, Menschen in Beschäftigung zu bringen, den Weg dorthin zu ebnen und ihnen echte, wahre Teilhabe in dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Packen wir es an! ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, ({0}) Ihr Antrag belegt, wie ich meine, zweierlei: Erstens. Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar dieses Jahres nicht verstanden. ({1}) Zweitens. Ihr Antrag zeigt ein Bild von Sozialpolitik, dass man geneigt ist, zu glauben, dass Sie von sozialpolitischer Verantwortung überhaupt nichts verstanden haben. ({2}) - Die Wahrheit scheint Sie in Erregung zu versetzen. Zum Ersten. Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht verstanden. Sie fordern in Ihrem Antrag pauschal die Erhöhung der Regelsätze auf 500 Euro im Monat. Genau dieser Politik hat das Bundesverfassungsgericht eine Absage erteilt. ({3}) Ausdrücklich kritisiert das Bundesverfassungsgericht - ich zitiere - „Schätzungen ‚ins Blaue hinein‘“, die der Festsetzung der Regelsätze im Jahr 2005 zugrunde liegen. Genau diese Politik, die das Bundesverfassungsgericht gerade erst verworfen hat, setzen Sie mit Ihrem Antrag fort, indem Sie einen Regelsatz von 500 Euro ins Blaue hinein schätzen, ohne jegliche Begründung. Ausdrücklich stellt das Bundesverfassungsgericht fest, der Gesetzgeber habe - jetzt zitiere ich wieder die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang. Genau das haben Sie mit Ihrem Antrag jetzt wieder vorgelegt: Schätzungen ins Blaue hinein. Sie fordern einen Regelsatz von 500 Euro, sind aber nicht in der Lage, ihn zu begründen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was Sie vorgelegt haben, kann nach dem 9. Februar dieses Jahres nicht Ihr Ernst sein. ({5}) Nun zum Zweiten. Mit Ihrem Antrag zeigen Sie, wie ich finde, dass Sie von Sozialpolitik nicht wirklich etwas verstehen. Ziel der Sozialpolitik im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit muss es sein, dass wir den betroffenen Menschen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist mir völlig schleierhaft, wie Sie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro fordern können. ({6}) Das würde Arbeitsplätze gefährden, ({7}) auf die gerade langzeitarbeitslose Menschen angewiesen sind. Darauf hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in einem Gutachten unter ausdrücklicher Einbeziehung der Erfahrungen aus dem Ausland, wo es bekanntlich zum Teil Mindestlöhne gibt, hingewiesen. Nach Auskunft des Sachverständigenrates hat schon ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 7,50 Euro - das sage ich auch an die Adresse der SPD - eine negative Beschäftigungswirkung. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, wem die betroffenen Menschen wirklich wichtig sind, der geht nicht das Risiko des Arbeitsplatzabbaus ein. ({9}) Was die betroffenen Menschen wirklich brauchen, ist eine Politik, die ihnen in schwierigen Situationen zur Seite steht, und nicht eine Politik, die ihnen in schwierigen Situationen im Weg steht. Wir als christlich-liberale Koalition wollen den Menschen mit unserer Politik Chancen eröffnen. ({10}) Wir möchten sie zur Teilhabe befähigen. Wir möchten ihnen die Chance auf ein Leben in Eigenverantwortung und Solidarität eröffnen. Wir werden deshalb eine Politik wie die der Linken verhindern, die einen Teil der Menschen dauerhaft aus der Mitte der Gesellschaft ausschließt und in der Abhängigkeit staatlicher Fürsorgesysteme gefangen hält. ({11}) Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, hat mit sozialer Verantwortung und sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun. Ich fühle mich in meinen Ausführungen durch Ihre Aufregung am heutigen Abend durchaus bestätigt. Die Wahrheit tut manchmal weh. ({12}) Ihre Politik hat mit sozialer Kompetenz nichts zu tun. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag im Sinne der betroffenen Menschen ab und stimmen der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Matthias W. Birkwald das Wort. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir erleben derzeit nicht allein eine Wirtschafts- oder eine Finanzkrise. ({0}) Wir erleben eine umfassende Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Herr Zimmer. Banken und Spekulanten werden mit Milliarden gehätschelt und Hartz-IV-Betroffene für ein paar Kröten gegängelt. Das ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit! ({1}) Acht Jahre ist das Hartz-Konzept bald alt, und im Kern heißt es: Die Erwerbslosen wollen nicht arbeiten. Das war schon damals falsch. Heute Morgen hat NRWArbeitsminister Laumann hier im Plenum doch zugegeben: Es gibt nicht genug Arbeitsplätze; das ist das Problem. ({2}) Es mangelt an guter Arbeit, nicht am Willen zu arbeiten. Die meisten Hartz-IV-Betroffenen sind aktiv. Sie arbeiten, betreuen kleine Kinder oder nehmen an Beschäftigungsmaßnahmen teil. Weniger als die Hälfte sind tatsächlich arbeitslos, und 90 Prozent von ihnen wollen dringend arbeiten. Nicht die Arbeitsmoral ist das Problem, sondern das Fehlen von Millionen Arbeitsplätzen. Das ist die Wahrheit. ({3}) Den Erwerbslosen die Schuld für ihre Situation in die Schuhe zu schieben, ist erbärmlich. Dieser Grundansatz von Hartz IV ist ein Angriff auf die Würde der Menschen. Darum sage ich: Nicht allein die einzelnen Regelungen, nicht allein das Gesetz, nein, die gesamte Hartz-IV-Denke ist komplett falsch. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Herr Kober, von Ihnen höre ich immer: Die Menschen sollen Verantwortung für sich selbst übernehmen. ({5}) Was heißt das konkret für Hartz-IV-Betroffene? Was ist denn daran verantwortungsbewusst, sich in einem 1-Euro-Job über alle Maßen ausbeuten zu lassen? Was ist daran verantwortungsvoll, zu jeder Zumutung Ja und Amen sagen zu müssen? Wer von Eigenverantwortung spricht, darf doch zur Entscheidungsfreiheit nicht schweigen. ({6}) Was dürfen die Betroffenen im Hartz-IV-System denn entscheiden? Sie dürfen nichts entscheiden, rein gar nichts. „Klappe halten und setzen“, das ist das Motto von Hartz IV. Die Betroffenen haben nichts zu melden und sollen doch für alles die Verantwortung tragen. Das ist unzumutbar, schäbig, und es ist respektlos. ({7}) Nur wer Nein sagen darf, kann frei für sich selbst entscheiden. Doch was passiert, wenn Hartz-IV-Betroffene Nein sagen? Sie werden abgestraft. Ihnen wird so lange das Geld gekürzt - im Extremfall wird es sogar ganz gestrichen -, bis sie gefügig und willig sind. Solche Sanktionen führen zu Ängsten, Druck und Widerstand, und das lehnen wir Linken ab. ({8}) Wir sagen - ich habe das an diesem Pult schon einmal gesagt -: Sozial ist, was Würde schafft. Darum will die Linke eine soziale Mindestsicherung für alle Menschen, die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, um ihren Mindestbedarf zu decken. Wir wollen eine Mindestsicherung ohne Drohgebärden, ohne Sanktionen und ohne Angst der Betroffenen. ({9}) Das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum darf nicht unterschritten werden, Herr Kolb. Überschritten werden darf es schon. Das gilt auch für die Flüchtlinge, die hier leben. ({10}) Die Gegenwart sieht leider noch anders aus: Billige und willige Arbeitskräfte, das ist das wirkliche Ziel von Hartz IV. Es ist kein Zufall, sondern politisch gewollt, dass ausgerechnet die 1-Euro-Jobs das Instrument im Hartz-IV-System sind, das mit großem Abstand am häufigsten eingesetzt wird. Wir reden hier nicht mehr nur über 1-Euro-Jobs. In Nordrhein-Westfalen gibt es schon längst 0-Euro-Jobs. Ich habe hier einen konkreten Fall aus meinem Wahlkreis vorliegen, ein Angebot der Arge Köln - ich zitiere -: 0 Euro für 38,5 Stunden pro Woche und die zusätzliche Auflage, sich zu bewerben. Ich sage: Das ist ein Skandal. ({11}) Wir Linke wollen wirkliche soziale Sicherheit und gute Arbeit. Wir wollen tariflich bezahlte Jobs mit Sozialversicherung und ohne Zwang zur Arbeit. Wir streiten für eine soziale Mindestsicherung in Höhe von 500 Euro und für einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro. ({12}) Wir wollen, dass die Betroffenen endlich wirklich etwas zu entscheiden haben und die Finanzinstitute zur Verantwortung gezogen werden. ({13}) Wir wollen eine Mindestsicherung, die Würde schafft. Deswegen sagen wir: Hartz IV muss weg. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Birkwald, im Sozialgesetzbuch II gibt es in der Tat eindeutig Änderungsbedarf. Nach unseren grünen Vorstellungen kommt es vor allen Dingen darauf an, das Fördern unter Beteiligung der Menschen zu organisieren, ({0}) das heißt, die Menschen mit ihren Fähigkeiten, Bedürfnissen und eigenen Vorstellungen ernst zu nehmen. Es geht darum, den defizitorientierten Ansatz zu überwinden. Wir müssen davon wegkommen, immer nur die Mängel zu sehen. Fähigkeiten und Potenziale müssen in den Mittelpunkt gestellt werden. Es geht auch um die Überwindung der obrigkeitsstaatlichen Elemente, die sich auch im Sozialgesetzbuch II finden. ({1}) Wir schlagen dazu sehr konkrete Maßnahmen vor. Zum Beispiel wäre es ein Leichtes, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder einzuführen. Das würde nebenbei auch zu mehr Rechtstreue im Verwaltungshandeln führen. ({2}) Eingliederungsvereinbarungen sollten nur auf freiwilliger Basis geschlossen und nicht als Verwaltungsakt verhängt werden können. ({3}) Es wäre absolut sinnvoll, ähnlich wie in anderen Sozialgesetzbüchern ein sogenanntes Wunsch- und Wahlrecht einzuführen, das den Menschen, die Hilfebedarf haben, ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumt, statt sie in Maßnahmen wie 1-Euro-Jobs zu zwingen. ({4}) Solange das nicht durchgesetzt ist, treten wir, Bündnis 90/Die Grünen, für ein Aussetzen der Sanktionen und des Sanktionsparagrafen ein. ({5}) Es geht auch um eine vernünftige Ausgestaltung der sogenannten passiven Leistungen, das heißt der Regelsätze. Wir haben mehrfach an dieser Stelle und im ganzen Land die Anhebung der Regelsätze für Erwachsene und die Einführung einer Kindergrundsicherung gefordert. ({6}) Es geht auch darum, dass wir im Lichte der Erfahrungen und auch der Rechtsprechung die passiven Leistungen an die Lebenswirklichkeit anpassen. Es geht nicht an, dass das Bundessozialgericht wie in seinem heutigen Urteil feststellt, dass Eltern eines behinderten Kindes keinen Anspruch auf Mehrbedarf haben. Die Eltern eines entwicklungsverzögerten sechsjährigen Kindes, das nicht gehen kann, beantragen Mehrbedarf, weil sie einen erhöhten Transportbedarf haben, und das Bundessozialgericht sagt, das sei kein Sozialgesetz, sondern ein Arbeitsmarktgesetz, und darum stehe der Mehrbedarf nur Menschen im erwerbsfähigen Alter zu. Das sind Lücken und Mängel, die dramatische Konsequenzen für die betroffenen Personen haben. Das muss geändert werden. ({7}) Es geht uns auch um eine aktive Förderung, die nicht nur kurzfristig angelegt ist, sondern auch langfristige Perspektiven eröffnet. Ich blicke mit Sorge auf Ihr Programm der sogenannten Sofortangebote für Jugendliche unter 25 Jahre. Praktikerinnen und Praktiker in den Jobcentern sagen, dass es vielleicht sinnvoller ist, die Mittel zu konzentrieren, weil wir nicht jedem ein gleich gutes Angebot machen können. Wir sollten versuchen, konkret etwas zu erreichen, statt nur statistische Effekte über eine höhere Aktivierungsquote zu erzielen. Es gibt in der Tat viele Punkte, in denen wir übereinstimmen würden, Herr Birkwald und meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken, aber in Ihrem Antrag überziehen Sie in einer Reihe von Punkten leider wieder maßlos. Haarsträubend ist zum Beispiel der Ansatz, den Regelsatz einfach auf 500 Euro festzusetzen und das Prinzip der Bedarfsgemeinschaft aufzulösen. Das führt doch zu bizarren Situationen. Nach Ihrer Berechnung bekäme ein vierköpfiger Haushalt 2 000 Euro netto plus etwa 1 000 Euro Miete, also 3 000 Euro insgesamt. Damit diskreditieren Sie ernstzunehmende Kritik, indem Sie weit über das Ziel hinausschießen. Die Linke betreibt damit - vielleicht, ohne es zu wollen - objektiv das Geschäft derer, die das SGB II eben nicht im Sinne der Betroffenen verbessern wollen. ({8}) Mit solchen unrealistischen Forderungen und einem solchen Aufpumpen erschweren Sie eine sachliche und machbare, lösungsorientierte Debatte. Darum müssen wir Ihren Antrag ablehnen. Danke. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Lieber Kollege Birkwald, ich war geneigt, zu sagen, dass wir Ihrem Antrag „Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“ zustimmen können. Die Begrifflichkeit „Hartz IV“ ist nicht so toll und kann weg, aber das SGB II behalten wir. ({0}) Es wurde bereits von den Vorrednern ausgeführt, dass es bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelsätzen im SGB-II-Bereich um das Verfahren zu deren Herleitung und ausdrücklich nicht um die Höhe geht. Das Bundesverfassungsgericht hat an keiner Stelle in dem eingangs genannten Urteil ausgeführt, dass die Regelsätze zu niedrig sind. Wir müssen sie neu berechnen. Wir sind im Begriff, das zu tun. Das wissen Sie bei der christlich-liberalen Koalition in guten Händen. Sie dürfen uns im Ausschuss begleiten, aber wir werden das letztendlich schon hinbekommen. ({1}) Ihr verhängnisvoller Fehler wurde auch schon vom Kollegen Kurth angeprangert. Ein pauschaler Regelsatz von 500 Euro hilft uns auch nicht weiter. Mit der von Ihnen geforderten Regelung würden wir genauso verfassungswidrig handeln, wie uns im Urteil vom 9. Februar bestätigt worden ist. Liebe Freunde, kommen Sie auf den Boden der Realität zurück! Streuen Sie den Leuten keinen Sand in die Augen! Versuchen Sie, eine konstruktive Lösung für den SGB-II-Bereich hinzubekommen! ({2}) Ich habe das Gefühl, dass fast alle in diesem Saale verstanden haben, welche Konsequenzen aus dem Urteil des Verfassungsgerichts zu ziehen sind, nur die Linken nicht. Die wollen es nicht verstehen. ({3}) Wenn es Ihnen wirklich um die Sache gehen würde, würden Sie konstruktiv mit uns zusammenarbeiten und nicht von der Überwindung des, wie Sie es nennen, repressiven Hartz-IV-Systems schwadronieren. Die Oktoberrevolution war vor 90 Jahren. Der real existierende Sozialismus ist seit 20 Jahren Geschichte. Rein von der physischen Präsenz her, lieber Herr Birkwald, sind Sie mittlerweile in der parlamentarischen Demokratie des Jahres 2010 angekommen. ({4}) Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! ({5}) Zu Ihren einzelnen Punkten: Frau Kipping hat heute Morgen ausgeführt, heute Abend komme die Lösung für den SGB-II-Bereich. Ich habe heute Abend nichts feststellen können, was diese Euphorie rechtfertigen würde. Das Bundesverfassungsgericht hat zu den Regelsätzen geurteilt: Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuches Zweites Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1 GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Erwerbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfebedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenen Existenz zu verhelfen. Das heißt im Klartext: Fordern und Fördern. Der Grundsatz „Fordern und Fördern“ ist explizit in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Ziel festgestellt worden. Das, was Sie, die Linken, als sogenannten Sanktionsparagrafen im SGB II ersatzlos streichen wollen, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als statthaft bezeichnet. Das Urteil unterstreicht die Richtigkeit der Hilfe zur Selbsthilfe. Es ist keine Rede davon, zu alimentieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverantwortung zu fordern. Das Ziel der Grundsicherung ist nicht, dass Menschen dauerhaft abhängig von staatlichen Leistungen bleiben sollen. Sie sollen vielmehr so lange unterstützt werden, bis sie wieder selbst auf eigenen Beinen stehen können. Das wollen wir tun, dahin bewegen wir uns. Wir wollen nicht Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen die Wiedereingliederung in sozialversicherungspflichtige Arbeit fördern. ({6}) Zu dem von Ihnen, Herr Birkwald, geforderten öffentlichen Beschäftigungsbereich: Die Linke fordert ein sogenanntes öffentliches Zukunftsprogramm, das 2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen soll, davon 500 000 öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Die Ausweitung der öffentlich geförderten Beschäftigung ist nicht der richtige Weg zur Bewältigung der Wirtschaftskrise. Wir haben im Südosten Europas ein Land, dessen Name in den letzten Tagen hier sehr oft gefallen ist, in dem der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bei über 25 Prozent liegt. Dieses Land hat erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, und diesem Land müssen wir jetzt helfen. Dieser Weg führt in die Sackgasse. Dieser Weg ist kein probates Mittel, um aus der Krise zu kommen. ({7}) Vorrang hat bei unserer Bundesregierung vielmehr die Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze. Unter anderem wollen wir dazu das Instrument des Kurzarbeitergeldes als Bestandteil der Konjunkturpakete I und II weiterentwickeln. Die Arbeitsmarktpolitik der christlich-liberalen Koalition kann die Bewältigung der Wirtschaftskrise lediglich flankieren, sie kann sie nicht komplett ungeschehen machen. Bereits jetzt werden Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung flexibel eingesetzt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich wollte ich das nicht, aber in Anbetracht des großen Auditoriums kann ich dem Kollegen Wunderlich diese Show nicht verwehren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. - Sie betonen in Ihrer Rede - auch seitens der FDP wird das gerne gemacht - immer, wie christlich-liberal die Koalition und die Politik derselben ist. Von den Grünen ist schon der Fall, der vor dem Bundessozialgericht in Kassel verhandelt wurde, erwähnt worden. Können Sie dem Artikel der Frankfurter Rundschau vom heutigen Tage zustimmen, in dem auf diese Entscheidung angespielt wird und in dem es heißt: Rechtssystematisch ist den Richtern kein Vorwurf zu machen. Wir schlagen den Politikern, die diesen Blödsinn verzapft haben, mit Freude das Gesetz um die Ohren und verlangen, dass der Missstand endlich behoben wird. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Wunderlich, die von Ihnen zitierte Terminologie zeigt, dass es sich ausschließlich um eine subjektive Wahrnehmung handelt. Für mich ist viel wichtiger, was im Urteil steht, als das, was ein Journalist da versucht hineinzulesen. ({0}) Allein „Politikern um die Ohren schlagen“, das ist eine Ausdrucksweise, die hier in der christlich-liberalen Koalition gänzlich unbekannt ist. ({1}) - Herr Birkwald, Sie hatten vorhin ausgeführt, dass die Weiterentwicklung der 1-Euro-Jobs ein verhängnisvoller Fehler sei. Sie haben dem geneigten Auditorium natürlich verschwiegen, dass es sich nicht um 1-Euro-Jobs, sondern in der Regel - je nach der Höhe der Grundleistungen - um 4-, 5-, 6- oder 7-Euro-Jobs handelt. Dieser Betrag wird zusätzlich zu den Sozialleistungen bezahlt. Das sollte man den Leuten gelegentlich auch mal erzählen. ({2}) Herr Kollege Birkwald, Sie zitieren die Arge Köln und vergießen hier Krokodilstränen darüber, dass in Köln für 0 Euro gearbeitet werden muss. Ich bitte Sie, schauen Sie mal nach Köln. Wer regiert in Köln? - In Köln haben wir stabile rot-rot-grüne Verhältnisse, Herr Birkwald. ({3}) Meine Damen und Herren, es gäbe noch einiges zum Mindestlohn zu sagen. Darüber haben wir schon zigmal diskutiert. Sie wollen die alten, unprobaten Mittel, die uns in die wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen würden, in denen andere Länder Europas bereits sind. Das wollen wir nicht. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Einen schönen Abend. Danke. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti- tel „Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/953, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/659 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann er- öffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Abstimmung geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- mung wird Ihnen dann später bekannt gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, Ihre Gespräche vor dem Saal weiterzuführen, damit wir die Beratung fortsetzen können. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset- zung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hier: Stellungnahme des Deutschen Bun- destages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu- sammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele- genheiten der Europäischen Union 1) Ergebnis Seite 3912 C Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Vorschlag der spanischen Regierung für die Änderung der Verträge in Bezug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments - Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV - Drucksachen 17/1179, 17/235, 17/1460 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Axel Schäfer ({1}) Michael Link ({2}) Dr. Diether Dehm b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderung der Verträge - Übergangsmaßnah- men betreffend die Zusammensetzung des Eu- ropäischen Parlaments - Drucksache 17/1417 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Veränderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in der laufenden Wahlperiode - Drucksache 17/1568 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Heinz Golombeck das Wort für die FDP-Fraktion. ({3})

Heinz Golombeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004042, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember 2009 und somit nach den Wahlen zum Europäischen Parlament vom Juni 2009 in Kraft getreten. Die Beschlüsse des Vertrages sehen vor, dass die Zahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments von 12 Mitgliedstaaten um insgesamt 18 Mandate erhöht wird. Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordneten vorübergehend bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2014 von 736 auf 754. Die Staats- und Regierungschefs haben sich politisch darauf verständigt, diese Änderung möglichst bereits während des Jahres 2010 in Kraft zu setzen. Dass wir heute über die Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments im Deutschen Bundestag debattieren können, ist eine Errungenschaft aus dem Lissabonner Vertrag. ({0}) Das ist einer der ersten Anwendungsfälle der neuen Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung nach dem Begleitgesetz, nämlich nach § 10 EUZBBG. Darum hat der Bundestag hier großen Wert darauf gelegt, frühzeitig von der Bundesregierung unterrichtet zu werden, um am Entscheidungsprozess voll beteiligt zu werden. Die Koalitionsfraktionen möchten der Einberufung einer Regierungskonferenz zu Verhandlungen, die Übergangsbestimmungen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments betreffend, zustimmen. Sie halten allerdings den spanischen Vorschlag zur Anpassung der Sitzzahl im Europäischen Parlament für problematisch, soweit Abgeordnete aus der Mitte der nationalen Parlamente nachbenannt werden sollen. Dieses Verfahren widerspricht der demokratischen Legitimation des Parlaments durch direkte Wahlen. ({1}) Wir alle sind demokratisch gewählte Volksvertreter und können in diesem Hause eindrucksvoll beobachten, wie der Souverän, das Volk, über unsere Köpfe seine Runden dreht und unsere Entscheidungen kritisch von oben betrachtet. Das hat nicht nur Symbolcharakter; diese Erfahrung machen wir alle vier Jahre. Auch die Direktwahlen zum Europäischen Parlament wurden mühsam erkämpft und durchgesetzt. Es ist unser aller Anliegen, Europa demokratischer zu gestalten. Die Koalitionsfraktionen fordern daher die Bundesregierung auf, in den Verhandlungen deutlich zu machen, dass die Variante der Nachbenennung von Abgeordneten dem Geist - ich betone: dem Geist - des Direktwahlaktes von 1976 widerspricht. ({2}) Aber auch hier gibt es zwei Seiten der Medaille. Wir sind die Europapartei und wissen, wie wichtig gerade in der Europäischen Union gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme auch auf Besonderheiten jedes Landes sind. Nur so können wir das Ziel erreichen, dass Europa mit einer Stimme spricht, und nur so kann Europa funktionieren. Am 9. Mai 1950 hat der französische Außenminister Robert Schuman einen bahnbrechenden Plan vorgestellt, der die gesamte deutsch-französische Kohle- und Stahlproduktion einer Hohen Behörde unterstellen sollte, in einer Organisation, die den anderen Ländern Europas zum Beitritt offenstand. In drei Tagen begehen wir zum 60. Mal den Europatag, den Tag, an dem damals der erste Grundstein für eine europäische Föderation gelegt wurde. Dank dieses Tages leben wir im vereinigten Europa nunmehr seit über 60 Jahren in Frieden. ({3}) Besonders das gute deutsch-französische Verhältnis war ein Grundstein der Aussöhnung in Europa und gab der europäischen Integration immer wieder bedeutende Impulse. Wir begreifen es als etwas fundamental Wichtiges und wollen es weiter pflegen. Dem Vernehmen nach soll besonders für Frankreich die Variante der Nachbenennung aus dem nationalen Parlament wichtig sein. Wenn es gewichtige Gründe dafür gibt, wollen wir die Übergangslösung in diesem Einzelfall letztlich nicht blockieren, zumal wir auch die lange Tradition der Assemblée nationale außerordentlich schätzen. Die Koalitionsfraktionen sehen es aber als ihre besondere Verpflichtung an, dafür Sorge zu tragen, dass die Bundesregierung dem Bundestag darlegt, warum eine Nachauszählung der zusätzlichen Mandate auf der Basis des Ergebnisses der letzten Europawahl oder allgemeine Ad-hoc-Wahlen in einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht möglich sind. Außerdem fordern die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auf, sich im Dialog mit den anderen Partnern in der EU für ein einheitliches Wahlrecht bis zu den Wahlen des Europäischen Parlaments im Jahr 2014 einzusetzen. ({4}) Wir Liberale setzen uns für mehr Demokratie und für mehr Rechte der Parlamente im legislativen Prozess der Europäischen Union ein. Dies gehört zum Selbstverständnis unserer Partei. Wir werden weiterhin unsere Rechte in Bezug auf Stellungnahmen zum europäischen Gesetzgebungsprozess nutzen. Aber wir werden uns auch weiterhin um einen intensiven und verständnisvollen Dialog mit anderen Partnern bemühen, um, wie es in der Präambel unseres Grundgesetzes steht, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Golombeck, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen bei Ihrer weiteren Arbeit viel Freude und Erfolg. ({0}) Bevor ich nun dem nächsten Redner das Wort gebe, komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 26 und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung“ bekannt. Abgegebene Stimmen: 540. Mit Ja haben gestimmt 478, mit Nein haben gestimmt 62 Kolleginnen und Kollegen. Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 539; davon ja: 477 nein: 62 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Manfred Behrens ({2}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Wolfgang Börnsen ({3}) Norbert Brackmann Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Ralph Brinkhaus Thomas Dörflinger Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({4}) Dirk Fischer ({5}) Axel E. Fischer ({6}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({7}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Roderich Kiesewetter Ewa Klamt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach ({9}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({10}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({11}) Nadine Müller ({12}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({13}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({14}) Anita Schäfer ({15}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({16}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({17}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Thomas Strobl ({18}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({19}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({20}) Peter Weiß ({21}) Sabine Weiss ({22}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Gerd Bollmann Klaus Brandner Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({23}) Michael Groschek Michael Groß Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Michael Hartmann ({24}) Hubertus Heil ({25}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({26}) Frank Hofmann ({27}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Ulrich Kelber Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({28}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({29}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Ullrich Meßmer Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dietmar Nietan Manfred Nink Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({30}) Marlene Rupprecht ({31}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({32}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder ({33}) Ulla Schmidt ({34}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({35}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein ({36}) Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({37}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Sylvia Canel Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Helga Daub Reiner Deutschmann Dr. Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Otto Fricke Paul K. Friedhoff Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Miriam Gruß Joachim Günther ({38}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Patrick Kurth ({39}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({40}) Michael Link ({41}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabi Molitor Jan Mücke Petra Müller ({42}) ({43}) Hans-Joachim Otto ({44}) Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Marina Schuster Werner Simmling Joachim Spatz Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören ({45}) Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({46}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({47}) Volker Beck ({48}) Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz ({49}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Thomas Koenigs Oliver Krischer Agnes Krumwiede Stephan Kühn Undine Kurth ({50}) Monika Lazar Agnes Malczak Kerstin Müller ({51}) Beate Müller-Gemmeke Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Elisabeth Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({52}) Krista Sager Christine Scheel Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Nein DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Herbert Behrens Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Sabine Leidig Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothée Menzner Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer ({53}) Michael Schlecht Dr. Herbert Schui Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg Sabine Zimmermann Nun hat das Wort der Kollege Axel Schäfer für die Fraktion der SPD. ({54})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage der Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes ist so alt wie die Geschichte des Europäischen Parlamentes selbst. Sie war immer mit einem zentralen Punkt verbunden: der Direktwahl, der allgemeinen, gleichen, freien, geheimen Wahl durch die Bürgerinnen und Bürger Europas. Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben 24 Jahre, nämlich von 1952 bis 1976, gebraucht, um das durchzusetzen, gegenüber den Regierungen, die nicht so begeistert davon waren, und in den Parlamenten, etwa bei unseren Vorgängerinnen und Vorgängern im Deutschen Bundestag, die am Anfang auch nicht alle so begeistert davon waren; Gott sei Dank hat sich einiges geändert. Der SPD-Abgeordnete Karl Mommer hat das über viele Legislaturperioden hinweg verfolgt. 1976 wurde die Grundlage für den Direktwahlakt geschaffen. Dieser Direktwahlakt ist etwas Außergewöhnliches, nicht nur wegen des gemeinsamen Wahlrechts der Axel Schäfer ({0}) Europäer: Es ist das erste Mal, dass eine supranationale Volksvertretung gewählt wird. Seitdem haben wir die Rechte des Europäischen Parlaments, seine Möglichkeiten zur demokratischen Mitbestimmung gestärkt: beim Haushalt, bei der Gesetzgebung und zuletzt bei der Wahl der Europäischen Kommission. Dabei haben wir immer darauf geachtet, dass wir einen demokratischen Fortschritt erreichen und nah an eine gleiche Gewichtung der Stimmen herankommen, Stichwort: degressive Proportionalität. Das ist sehr schwer; das Bundesverfassungsgericht hat uns da bekanntlich einiges ins Stammbuch geschrieben. Wir haben ein Zweites hinbekommen: Bei allen Erweiterungsrunden seit der ersten Direktwahl - 1981, 1986, 1995 und 2004 - haben wir es so geregelt, dass die neuen Mitgliedstaaten auf Zeit Abgeordnete aus der Mitte des nationalen Parlaments entsenden, die dann innerhalb von zwei Jahren durch eine allgemeine Wahl legitimiert werden. Nach der deutschen Einheit gab es eine Besonderheit - ich sehe hier eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus der früheren DDR -: Wir haben es damals nicht nur akzeptiert, sondern als richtig erachtet, dass die 18 Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die zusätzlich in das Europäische Parlament entsandt wurden, dort fast eine komplette Legislaturperiode lang, nämlich von 1990 bis 1994, nicht stimmberechtigt waren, also dort nicht die gleichen, vollen Rechte erhielten, weil sie nicht ausreichend durch Wahlen legitimiert waren. Man nannte sie Beobachter. Es ist wichtig, auf diesen Umstand hinzuweisen; denn Deutschland sollte in einer spezifischen Situation, in der es auch darum geht, dass die Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament von derzeit 99 auf 96 reduziert werden soll, nicht so tun, als müssten wir besondere Rechte für Vertreter aus neuen Mitgliedstaaten einfordern. Jetzt kommt es darauf an, in der Debatte hier, in den anderen nationalen Parlamenten der EU und in besonderer Weise im Europäischen Parlament sowie mit den Regierungen, die an der Regierungskonferenz teilnehmen werden, klarzumachen: Kompromisse sind in Europa zwar immer notwendig und in vielen Fällen richtig - wir werden immer schauen, dass es gelingt, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen -, aber hier diskutieren wir nicht über eine Frage, bei der man so oder so entscheiden kann. Bei dieser Frage kann man sich nur so entscheiden: für die Direktwahl. Meine Fraktion hat deshalb bereits im Dezember eine klare Positionierung vorgenommen. Dementsprechend sage ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, aber insbesondere der Bundesregierung: Unsere Erwartung ist, dass im Rat und auf der Regierungskonferenz eine Regelung gefunden wird, die sicherstellt, dass die zusätzlichen Kolleginnen und Kollegen, die in das Europäische Parlament nachrücken, durch die Europawahl vom Juni 2009 legitimiert sind. Es gibt keine andere Legitimation. ({1}) Alle Veränderungen können nie taktisch sein; bei Verfassungsfragen taktiert man nicht. Vielmehr müssen alle Veränderungen, die wir treffen müssen, auf den Prinzipien basieren, für die wir lange gekämpft haben. An dieser Stelle gibt es auch keine Ausnahme. Es gibt keine Ausnahmen in irgendeinem Land, das bisher seine Abgeordneten durch Direktwahl entsandt hat. Weil es hier auch um vertragliche Änderungen geht, sehen wir es als eine Verpflichtung der Bundesregierung an, dies deutlich zu machen. Die SPD-Fraktion wird nur einer Regelung zustimmen, die dem Geiste und dem Inhalt dessen entspricht, was wir hier seit 1952 an Tradition hinsichtlich der Direktwahl haben, und keiner sonstigen, anderen Regelung. Das sollten wir heute noch einmal ganz, ganz deutlich machen. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäfer, wir sollen das Gemeinsame über das Trennende stellen. Wenn ich dies als Überschrift über die ersten Sätze wähle, dann sage ich dazu, wie Sie die Genese des Direktwahlakts von 1976 beschrieben haben: Ich teile Ihre Einschätzung uneingeschränkt, dass es nicht nur ein großer Kampf bis 1976 war, sondern dass es auch eine große Errungenschaft der Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments war und ist, diesen Status seit 1979 gehalten zu haben, und zwar nicht nur, was das Wahlrecht angeht, sondern auch den Umstand - dazu war der Lissabon-Vertrag einer der letzten Bausteine -, Kompetenzen, Zuständigkeiten und Legitimität des Europäischen Parlaments seit 1979 bis zum heutigen Tage Zug um Zug ausgebaut zu haben. Deswegen reagieren wir in diesem Hohen Hause zu Recht mit hoher Sensibilität, wenn es um die Frage geht, die wir heute miteinander diskutieren. Allerdings sind wir damit dann auch schon am Ende der Gemeinsamkeiten, Herr Kollege Schäfer, und kommen eher in den Bereich, in dem wir uns unterscheiden. Wir sind uns in Bezug auf diese drei Vorschläge der spanischen Ratspräsidentschaft zumindest bei den Vorschlägen 1 und 2 einig, dass dies tragfähige Grundlagen wären, um die Erweiterung der Sitze des Europäischen Parlaments darzustellen. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Einschätzung gegenüber dem dritten Vorschlag, nämlich der Benennung aus den Reihen des nationalen Parlaments, über den wir uns hier im Deutschen Bundestag, wenn ich die Debatte im Ausschuss richtig in Erinnerung habe, weitgehend einig sind, dass diese Auffassung der großen Mehrheit des Deutschen Bundestages so in anderen Ländern und in anderen nationalen Parlamenten nicht geteilt wird. Das mag uns nun gefallen oder nicht, und meine Begeisterung über diesen Umstand - das gestehe ich offen und ehrlich - hält sich auch in Grenzen. Aber ich darf sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass dies so ist. Da Sie gesagt haben, Herr Kollege Schäfer - dies teile ich wiederum -, dass die Europapolitik, mit meinen Worten gesagt, vielleicht der Teilbereich der deutschen Politik ist, der in den letzten Jahren das Höchstmaß an Pragmatismus vollzogen hat - das hat der Europapolitik gut getan, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa -, so merke ich an: Wir tun uns an dieser Stelle keinen Gefallen, wenn wir den Teil 3 des spanischen Ratspräsidentenvorschlags sozusagen als Guillotine-Klausel begreifen und sozusagen artikulieren: Wenn es aber zu diesem Vorschlag kommt und der Rat sich auch auf diesen dritten Vorschlag verständigt, dann machen wir im Deutschen Bundestag die Jalousie nach unten. Meines Erachtens - darauf hat Kollege Golombeck zu Recht hingewiesen - täten wir uns nicht nur im Verhältnis zu Frankreich, sondern auch generell im europäischen Konzert mit einer solchen harten, aber herzlichen Kopfdurch-die-Wand-Position keinen Gefallen. ({0}) Deswegen vertrete ich die Position, wie sie die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag formuliert haben, dass wir die Bundesregierung einerseits seitens des Deutschen Bundestags beauftragen, Herr Staatsminister, in den anstehenden Verhandlungen im Rat deutlich zu machen, beispielsweise mit Verweis auf den Direktwahlakt von 1969, ({1}) dass es unseren Vorstellungen nicht entspricht - 1976 -, Teil 3 des spanischen Vorschlags zu realisieren. Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass manche europäischen Staaten eine andere Auffassung haben. Wir müssen der Bundesregierung die Möglichkeit einräumen, den Vorschlag, den sie im Rat miterarbeitet und anschließend dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfassung vorschlägt, so auszugestalten, dass er unserer Rechtsauffassung nicht zur Gänze widerspricht. Etwas Pragmatismus nützt der Sache mehr, als wenn wir versuchen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Die Wand hat sich in der Geschichte in den meisten Fällen nämlich als stärker erwiesen als der Kopf. ({2}) Ich will zum Abschluss noch zwei Punkte nennen. In dem ersten Punkt, Herr Kollege Schäfer, dürften wir uns einig sein - er ist Gegenstand aller Anträge, über die wir heute beraten -: Wir wollen die Bundesregierung beauftragen, bei den Verhandlungen im Rat darauf hinzuwirken, dass wir bis zu den Europawahlen im Jahr 2014 ein einheitliches Wahlrecht bekommen, das trägt. Mein zweiter Punkt - damit greife ich eine Debatte auf, die hinter den Kulissen des Europäischen Parlaments von der einen oder anderen Kollegin und dem einen oder anderen Kollegen bereits geführt wird -: Für den Fall, dass während einer laufenden Legislaturperiode ein Staat der Europäischen Union beitritt - in naher Zukunft steht beispielsweise der Beitritt Islands an -, brauchen wir ein System, mit dem wir das berechtigte Interesse dieses Landes nach parlamentarischer Vertretung darstellen können. Wir sollten uns auf einen Modus verständigen, den wir nicht bei jedem Beitritt eines Landes aktualisieren müssen, sondern der die nächsten fünf bis zehn Jahre trägt. Ich weiß von Kolleginnen und Kollegen aus dem Europaparlament, dass diese Diskussion dort geführt wird und es diesbezüglich schon Vorschläge gibt. Ich lade herzlich dazu ein, neben der Beschlussfassung über den Antrag der Koalition, die heute ansteht, diese Debatte mit den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss zu führen; dann leisten wir einen echten Beitrag zur Zukunft Europas. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Nord (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004122, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über eine Veränderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in der laufenden Wahlperiode scheint mir komplett unnötig zu sein. ({0}) Das Europäische Parlament wurde in seiner jetzigen Zusammensetzung - das bestreitet hier niemand - nach demokratischen Regeln gewählt. Wenn durch das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages zukünftig neue Regeln gelten, ist das meiner Ansicht nach kein Grund, in der laufenden Wahlperiode Veränderungen vorzunehmen. ({1}) Die Einberufung einer Regierungskonferenz zu diesem Thema scheint mir völlig deplaziert. Wir haben in diesen Tagen nun wirklich Wichtigeres zu tun, zum Beispiel uns mit der Lage Griechenlands auseinanderzusetzen. ({2}) Die Linke ist solidarisch an der Seite der protestierenden Bevölkerung in Griechenland. ({3}) Die soziale Situation in Griechenland ist keinesfalls so, wie die Bild-Zeitung schreibt. Wir gehen davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger Griechenlands jedes Recht haben, deutlich zu machen, dass sie den radikalen SoThomas Nord zialabbau, der sich mit den Auflagen der Banken und der Staaten verbindet, nicht hinnehmen können. ({4}) Festzuhalten ist aber auch: Kein Protest der Welt darf zum Tod unschuldiger Menschen führen. ({5}) Wir trauern mit um die Menschen, die gestern in Griechenland ums Leben gekommen sind. Die Debatte um die riesige Staatsverschuldung vieler Euro-Länder macht deutlich, dass die bisherige Vertragsarchitektur der EU nicht geeignet ist, eine erfolgreiche europäische Integration zu sichern. Das gilt vor allem - das ist in vielen Diskussionen der letzten Tage deutlich geworden - für den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wir reden diese Woche über Griechenland; doch die Wahrheit ist: Die Euro-Zone wackelt in Gänze. Die Linke fand viele der europäischen Verträge in wesentlichen Punkten falsch. Sie hat sie seit Langem - wie sich jetzt zeigt, zu Recht - kritisiert bzw. abgelehnt. ({6}) Gerade weil wir eine dauerhafte stabile Europäische Union wollen, brauchen wir neue Regeln. Wenn aber schon solche Verträge gemacht werden, dann sollten sich die vertragschließenden Parteien in ihrem Handeln daran halten. Auch hier gilt der alte Satz: Pacta sunt servanda. Ein Beispiel für den kreativen Umgang mit Verträgen - davon war hier ja schon die Rede - war der Umgang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt durch RotGrün. Die Einleitung eines Verfahrens wegen Überschreitung der festgelegten Stabilitätskriterien wurde durch Rot-Grün verhindert. Das hat - scheinbar zum Vorteil Deutschlands und Frankreichs - zur Entwertung von geltendem europäischem Recht geführt. Kein Wunder, finde ich, dass andere Länder ebenfalls Recht im eigenen Interesse interpretiert haben; auch davon war hier in den letzten Tagen wiederholt die Rede. Die heutige Regierungskoalition ist meiner Ansicht nach dabei, diesen Fehler zu wiederholen. Die deutschfranzösische Freundschaft - das konnten wir jetzt mehrfach hören - ist ein dafür vorgetragenes Argument. Mit dem Antrag von CDU/CSU und FDP wird die Bundesregierung aufgefordert, schwerwiegende Gründe mitzuteilen, warum zusätzliche Mandate nicht auf der Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen bestimmt werden. Das ist eine Einladung, dem undemokratischen Selbstbenennungsverfahren durch nationale Parlamente zuzustimmen. ({7}) Diese Lösung verstößt gegen Art. 14 Abs. 3 des EUVertrages und fällt hinter europäische Wahlrechtstandards von 1979 zurück. Um Frankreich einen Freundschaftsdienst zu erweisen, wird das Vertrauen in europäisches Recht beschädigt. Das verstärkt den Eindruck, dass es in der EU Mitglieder erster und zweiter Klasse gibt: solche, deren Mitgliedschaft oder deren Beitritt mit ganzer Konsequenz am geltenden Recht gemessen wird, und solche, wo man auch einmal ein Auge zudrücken kann. Mit dem kreativen Handhaben von hart erkämpften Regeln der EU verstärkt die Bundesrepublik vorhandene Instabilitäten. Die Linke ist der Überzeugung: Es genügt, die neuen Regeln zur Besetzung des Europäischen Parlaments laut Vertrag von Lissabon mit der Wahl 2014 umzusetzen. Wenn Sie das aber jetzt machen wollen, fordern wir die Bundesregierung auf, keinem Verfahren zuzustimmen, mit dem nationale Parlamente Abgeordnete in das Europaparlament entsenden können. ({8}) Wenn schon eine Regierungskonferenz einberufen wird, ist es angesichts der aktuellen Lage nötig, über drängendere Probleme als diese zu sprechen. Stellen Sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt auf ein solides Fundament. Verhandeln Sie über eine Wirtschaftsregierung. Beschließen Sie eine soziale Fortschrittsklausel. Es ist an der Zeit, dass sozialstaatliche Grundwerte Vorrang vor der Kapitalfreiheit erhalten. Schönen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Nord, auch für Sie war das die erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit. ({0}) Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen, gerade heute, ist eine Frage drängend, die auch mit dieser Abstimmung zu tun hat. Es ist die alte Frage nach dem Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Europäischen Union. Wir haben in dem schmerzhaften Prozess, den wir durchgehen mussten, damit der Vertrag von Lissabon beschlossen werden konnte, gemerkt, dass Europa in den Köpfen und Herzen der Menschen nicht mehr so weit trägt, wie es einmal getragen hat. In den letzten Wochen haben wir gemerkt, dass in ganz drängenden europapolitischen Fragen nationale Debatten, nationale Stereotypen, nationale Bilder oftmals Vorrang haben vor einer europäischen Denke oder auch nur vor einem Blick über den Tellerrand. Wenn man lernt, nationale Sonderwege zu beenden, auch den deutschen Sonderweg, der das letzte Jahrhundert maßgeblich und in schrecklichster Form geprägt hat, zu beenden, dann wissen wir, dass die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments als Vertretungsorgan der Bürgerinnen und Bürger Europas gerade durch die direkte Wahl eine besondere Legitimation hat: diesen europäischen Gedanken auszuführen. Diese besondere Legitimation speist sich, mit alledem, was Herr Kollege Schäfer gesagt hat, aus der Stimme, die der Bürger und die Bürgerin seinem bzw. ihrem Abgeordneten im Europäischen Parlament gibt. Das ist unabänderlich, sodass diese Stimme das besondere Verhältnis und auch die besondere Legitimität des Europäischen Parlaments ausmacht, die gerade mit dem Vertrag von Lissabon gestärkt wurde. Das ist der Geist von Art. 14 Abs. 3 des EU-Vertrags, die Direktwahl. Das ist der Geist des genannten Direktwahlakts und auch der ersten Direktwahlen von 1979. Meine große Sorge, wenn Option C durchkäme, Herr Staatsminister, ist, dass wir damit das Europäische Parlament schwächen. Deswegen haben wir Grüne einen Antrag vorgelegt, der eine Conditio formuliert, die sagt: nicht mit Option C. Diese Einschätzung wird von unseren grünen Kollegen in allen anderen europäischen Ländern und auch im Europaparlament geteilt. Das heißt, uns trennen nicht nur nationale Grenzen, sondern auch Parteigrenzen, wobei ich weiß, dass Sie im Hinterkopf dieselben Gedanken haben. Aber wenn man denkt, die Position der Koalition hätte sich gemausert und mit Ihrem Antrag würde ein gelbes oder rotes Licht aufgehen, dann muss man leider sagen, dass Ihr Antrag eher einer Figur aus Lukas, der Lokomotivführer gleicht, dem Herrn Tur Tur. ({0}) Herr Tur Tur ist wie Ihr Antrag und auch wie Ihre Reden hier: Er sieht groß aus, er kommt groß, stark und furchterregend daher, aber mit jedem Schritt, den man näher auf ihn zukommt, wird er ein Stück kleiner. Und ganz am Ende stellt man fest: Auch Herr Tur Tur ist nur ein Zwerg. ({1}) - Ein Scheinriese. Vielen Dank, Herr Schäfer. - In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass die Koalition oftmals nur ein Scheinriese ist. Ich füge hinzu: Leider ist dem so. Ich würde mir wünschen, dass Sie nicht ein Scheinriese oder Zwerg, sondern riesig und standhaft wären. Ich spreche Ihnen nicht die richtige Motivation ab. Aber dass Sie nicht zu den richtigen Schlüssen kommen, das bedauere ich sehr. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Wir halten die Nachbesetzung der Sitze zum Europäischen Parlament für notwendig. Wir wollen für diese den Weg freimachen. Gerade die Spanier, die mit ihrem erfolgreichen Referendum über die Europäische Verfassung viel Europamut bewiesen haben, haben diese Sitze verdient, ohne dass andere inhaltliche Erwägungen, die lobenswert und wichtig sind, als Conditio mit hineingebracht werden müssen. Aber dennoch ist die einzige Lösung, um Herrn Tur Tur groß und mächtig zu machen, sich zu besinnen und dem Grünenantrag zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es ein Privileg, in der Opposition zu sein. Joschka Fischer hätte Ihnen etwas gehustet, wenn Sie in der Zeit, als er Außenminister war, einen solchen Antrag vorgelegt hätten. ({0}) Er hätte nämlich seinen schönen Spaß gehabt, dies seinem französischen Amtskollegen zu erklären. In der Europapolitik verdrängt häufig das Banale das Erhabene. So war es auch mit dem Lissabon-Vertrag, ein epochales Werk, das die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union und die Rechte des Europäischen Parlaments massiv gestärkt hat. Dennoch hat es die Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, dass er am 1. Dezember letzten Jahres in Kraft getreten ist. Wenn jüngste Umfragen belegen, dass lediglich ein Fünftel der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland der Meinung ist, die Europäische Union würde Vorteile für Deutschland bringen, dann zeigt das, dass wir ein Riesendelta zwischen dem gefühlten und dem tatsächlichen Europa haben. Ich darf den Exkurs wagen: Ich habe die leichte Befürchtung, dass wir morgen auch wieder eine Bundestagsdebatte erleben werden, in der das Erhabene durch das Banale überdeckt und nicht über Europapolitik debattiert, sondern etwas ganz anderes gemacht wird. ({1}) Nun aber zurück zum Thema Lissabon-Vertrag und Europäisches Parlament. Die Bedeutung der Europäischen Union für das Leben eines jeden einzelnen Bürgers erfordert, dass wir bei der Ausgestaltung der Regeln für das Zusammenwirken in der Union besonderen Wert auf die Einhaltung der Regeln legen. Ein sensibler Punkt ist das Europäische Parlament. Seine Rolle als Vertretung der Bürger in der demokratischen EU ist durch die Weiterentwicklung über die einzelnen Verträge Schritt für Schritt verstärkt worden. Wie sich das Europäische Parlament zusammensetzt, ist in Art. 14 des Lissabon-Vertrages, wie in den Verträgen zuvor, eindeutig geregelt. Deswegen ist es erlaubt, dass wir bei der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments sorgfältig vorgehen und vielleicht auch ein bisschen pingelig sind. Wir unterstützen die Vereinbarung der Regierungskonferenz, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon die Anzahl der Mandate von zwölf Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament jetzt direkt um insgeJürgen Hardt samt 18 angehoben werden kann. Wir akzeptieren auch, dass wir als Deutsche ab 2014 drei Sitze weniger haben, und wir begrüßen es natürlich, dass wir als Deutsche nicht etwa jetzt drei Sitze abgeben müssen, sondern dass wir unsere drei Sitze in der laufenden Periode behalten dürfen. Wir müssen aber darauf bestehen, dass die jetzige Aufstockung der Mandate durch andere Länder den gleichen strengen demokratischen Prinzipien unterliegt wie die Europawahl selbst. ({2}) Das ist auch in allen Mitgliedstaaten möglich: entwe- der durch die Ableitung aus dem Ergebnis der Europa- wahl vom Juni 2009 oder aber durch eine entsprechende Nachwahl von Mitgliedern. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich deshalb gegen die Variante c) des Vorschlags der spanischen Präsidentschaft ausspricht. Eine Benennung von Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus den nationalen Parlamenten heraus wäre ein Rückschritt in die Zeit vor 1979; denn seitdem gibt es die Direktwahl des Europaparlaments. Das wäre undemokratisch im politischen Sinne, und das wäre auch nicht demokratisch im rechtlichen Sinne. Es würde gegen den Lissabon-Vertrag verstoßen - das ist hier bereits häufig gesagt worden -, und es würde auch einen anderen, wie ich finde, wichtigen Grundsatz verletzen; denn das Wahlvolk bei einer nationalen Parlamentswahl ist eben ein anderes als das Wahlvolk bei der Europawahl. ({3}) Bei der Europawahl werden die Europaabgeordneten auch von den EU-Bürgern mitgewählt, die in dem jewei- ligen Gastland ihren Wohnsitz haben - Griechen wählen also in Deutschland deutsche Europaabgeordnete mit -, nationale Parlamente werden aber in der Regel lediglich durch die Staatsbürger des jeweiligen Landes bestimmt. Es gibt also eine andere Legitimationsgrundlage für die nationalen Parlamente, als dies beim Europaparlament der Fall ist. Auch dies ist ein Umstand - er bestand im Übrigen vor 1979 und auch 1979 so noch nicht -, der die Regie- rung veranlassen sollte, auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nachhaltig einzuwirken, dass sie vielleicht doch etwas anderes als das wollen könnten, was die spanische Präsidentschaft in Variante c) ihres Vorschlages konkret vorsieht. Wir würden uns sehr wün- schen, dass es der deutschen Bundesregierung gelingt, die anderen Mitgliedstaaten, die der Variante c) vielleicht zustimmen wollen, davon abzubringen, das zu tun, und sie davon zu überzeugen, diesen Weg nicht zu gehen. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu dem Antrag von CDU/CSU und FDP. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten die Debatte heute Abend nicht alleine dazu nutzen, nur über die Nachbesetzung von Sitzen im Europäischen Parlament zu reden, sondern wir sollten hier im Bundestag auch noch einmal darüber nachdenken, welche Rolle der Parlamentarismus in Europa, in der Europäischen Union eigentlich spielen sollte; denn machen wir uns nichts vor: Die Kritik, die nicht wenige von uns heute Morgen in der Süddeutschen Zeitung sicherlich auch gelesen haben, beinhaltete den Vorwurf der Entparlamentarisierung in Europa. Ich will hier nur einen Satz zitieren: Es muss aber auch darüber geredet werden, wie man es wieder hinkriegt, dass in Europa nicht das Geld und die Finanzmärkte das Sagen haben, sondern die Volksvertretungen und die von ihnen gewählten Regierungen. ({0}) Die Behandlung der Frage, welche Rolle die nationalen Parlamente in der Europäischen Union spielen und welche Rolle wir ihnen zubilligen wollen, würde dem Deutschen Bundestag sicherlich gut anstehen. Wir haben in den letzten Jahren in der Debatte über die europäische Verfassung und den Vertrag von Lissabon mit großer Geschlossenheit für eine Stärkung des Europäischen Parlamentes gekämpft. Das Europäische Parlament ist durch den Vertrag von Lissabon stärker geworden. Eine bestimmte Rolle hat der Deutsche Bundestag traditionell für sich in Anspruch genommen: nicht Konkurrent und auch nicht Ersatzorgan des Europäischen Parlamentes, sondern sein Partner zu sein. Ich rate nicht nur uns, sondern auch der Bundesregierung, sich als Sachwalter der Interessen des Europäischen Parlamentes zu verstehen. Nicht zuletzt hat das Europäische Parlament selbst ein klares Bekenntnis abgegeben, dass es inakzeptabel wäre, wenn seine Mitglieder nicht direkt gewählt, sondern von den nationalen Parlamenten entsandt würden. ({1}) Ich meine, dass wir die Rolle des Europäischen Parlamentes als die des zentralen parlamentarischen Organs in der Europäischen Union zu verstehen haben. Wir können vielleicht assistieren und ergänzen. Wir sollten aber nicht in die Rolle derjenigen schlüpfen, die anstelle des Europäischen Parlamentes Entscheidungen zu treffen haben. Auch das ist einmal diskutiert worden, ich erinnere an die Humboldt-Rede von Joschka Fischer. Er hat aus einer vermeintlichen Ermangelung an demokratischer Legitimation des Europäischen Parlaments, aus mangelnder Sichtbarkeit und Präsenz des Europäischen Parlaments in der europäischen und der nationalen Öffentlichkeit vorgeschlagen, dass eine dritte Kammer ein3920 Michael Roth ({2}) gerichtet wird, die sich aus nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentariern zusammensetzt. Ich bin davon überzeugt, dass wir heute weiter sind. Auch das ist ein Ergebnis und ein Auftrag des Lissabonner Vertrages: Nationale Parlamente haben sich innerstaatlich stärker an der europäischen Gesetzgebung und an der Willensbildung in der Europäischen Union zu beteiligen. Diese Rolle ist schwer genug. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Wir merken im politischen Alltag und in der parlamentarischen Praxis, was noch alles auf uns zukommt. Wir leiden nicht unter zu wenig Pragmatismus, lieber Kollege Dörflinger, sondern wir leiden aus meiner Sicht an einem Mangel an Visionen, an Konzepten und an Ideen, wie wir den Bürgerinnen und Bürgern verdeutlichen können, dass Parlamente ein wesentlicher Beitrag dazu sind, eine notwendige Nähe zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und den EU-Institutionen andererseits herzustellen. Ich rate zu klaren Beschlussfassungen hier im Parlament. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt einen Antrag dazu eingebracht. Ich glaube nicht, dass es die deutsch-französische Partnerschaft beschädigt, wenn wir uns klar und unmissverständlich auf die Position des Europäischen Parlamentes beziehen und wenn wir uns dort sehen, wohin der Deutsche Bundestag traditionell gehört, nämlich an die Seite des Europäischen Parlamentes. Es ist gut, wenn wir heute Abend darüber sprechen, wie wir den Parlamentarismus in Europa stärken können. Wir können ihn nur dann stärken, wenn wir dem Bundesverfassungsgericht nicht auf den Leim gehen - es hat aus meiner Sicht in sehr defätistischer Weise über die Rolle des Europäischen Parlamentes geurteilt -, sondern wenn wir Mut machen und deutlich bekennen: Das Europäische Parlament ist auf EU-Ebene das zentrale Organ, um die demokratische Legitimation Europas zu stärken und zu sichern. In dieser Hinsicht bitte ich Sie alle um wohlwollende Prüfung unseres Antrages. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen. Dieses Zitat stammt, wie Sie vielleicht wissen, von Winston Churchill. Die Demokratie ist zweifelsfrei eine der bedeutendsten Errungenschaften unserer Gesellschaft. Wir sind zu Recht stolz auf sie. Im Grundsatz sind wir uns alle einig, dass wir ausschließlich demokratisch legitimierte Abgeordnete im Europäischen Parlament haben möchten. Aufgrund dieser weitgehend gemeinsamen politischen Wertvorstellungen sind sich die heute zur Debatte stehenden Anträge im Wesentlichen ziemlich ähnlich. Die Frage ist nur - darin unterscheiden sich die Anträge dann doch -: Wie weit wollen wir als nationales Parlament gehen, um unsere politischen Wertvorstellungen europaweit durchzusetzen? Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man zwei zentrale Gesichtspunkte im Hinterkopf behalten: Erstens. Die Kollegen von der Opposition haben im Ausschuss mehrfach zu Recht darauf hingewiesen, dass die Direktwahl zum Europäischen Parlament ein Meilenstein in der europäischen Politik gewesen ist. Wenn das so ist, dann muss man den direkt gewählten Mitgliedern dieses Parlaments aber auch zugestehen, dass zuallererst sie selbst über die zu betreffenden Angelegenheiten entscheiden. Es wäre den direkt gewählten Europaparlamentariern gegenüber eine ziemliche Respektlosigkeit, wenn wir uns als Abgeordnete eines nationalen Parlaments hinstellen und sagen würden: Es ist uns egal, wie das Europaparlament diese Angelegenheit sieht; wir stimmen in jedem Fall gegen eine Vertragsänderung, wenn die zusätzlichen Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente bestimmt werden können. Hierzu muss man wissen: Erstens. Das Europäische Parlament hat heute Mittag eine Entschließung verabschiedet, in der festgestellt wird, dass die hier in Rede stehende Option 3 nicht mit dem Geist des Akts von 1976 vereinbar ist. Zweitens. Das Europäische Parlament ist der Auffassung, dass im Falle unüberwindbarer technischer oder politischer Schwierigkeiten eine indirekte Wahl durch die nationalen Parlamente dennoch akzeptabel ist. Ich finde, wir sollten diese Position des Europäischen Parlaments respektieren. Ein weiterer Gesichtspunkt, auf den ich hinweisen möchte, wenn es darum geht, wie weit wir als Bundestagsabgeordnete gehen sollten, um unsere politischen Wertevorstellungen europaweit durchzusetzen, ist folgender: Mit unserer Entscheidung versuchen wir auch, darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitgliedstaat zu verhalten hat - an dieser Stelle ist Frankreich zu nennen -, der aufgrund seiner innerstaatlichen Regelungen die umstrittene Variante ins Auge fasst. Wenn wir diese Option kategorisch ausschließen, maßen wir uns im Grunde genommen an, die Franzosen darüber zu belehren, wie Demokratie auszusehen hat. Ich denke, an dieser Stelle sollten wir vorsichtig sein. ({0}) Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Aus demokratischen Gesichtspunkten halte ich eine Benennung der zusätzlichen Europaabgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente sehr wohl für sehr kritisch. Ich denke aber auch, dass wir als deutsche Abgeordnete anderen Parlamenten nichts vorschreiben sollten. Stattdessen sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass wir mit dem Europaparlament ein eigenständiges Organ in der Europäischen Union installiert haben, das demokratisch legitimiert ist. Wir müssen daher akzeptieren, dass dieses eigenständige Organ eine eigenständige Entscheidung trifft, die nicht immer hundertprozentig unserer Meinung entspricht. Ferner widerspricht es dem freundschaftlichen und respektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten, wenn wir ihnen vorschreiben, wie sie die zusätzlichen Mandate nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vergeben sollen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass Deutschland seine derzeitigen Sitze im Europaparlament bis zur nächsten Wahl behält und damit die im Vertrag vorgesehene Höchstzahl an Sitzen vorübergehend weiterführt. Ich halte es daher für sinnvoll, dass wir unsere Position - wie im Antrag der CDU/CSU formuliert - klarmachen und sie der Bundesregierung für die Verhandlungen mit auf den Weg geben. Wir sollten der Bundesregierung aber auch einen gewissen Handlungsspielraum lassen und nicht versuchen, unsere Meinung und unsere Wertevorstellungen stur europaweit durchzuboxen. Deshalb bitte ich Sie recht herzlich, dem Antrag der christlich-liberalen Koalition zuzustimmen. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Ge- schäftsordnung des Kollegen Thomas Silberhorn vor, die zu Protokoll gegeben wird.1) Tagesordnungspunkt 10 a. Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen- heiten der Europäischen Union auf Drucksache 17/1460. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1179 mit dem Titel „Übergangsmaßnahmen zur Zusammenset- zung des Europäischen Parlamentes nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon - hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bun- desregierung und Deutschem Bundestag in Angelegen- heiten der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 10 a. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/235 mit dem Titel „Vorschlag der spa- nischen Regierung für die Änderung der Verträge in Be- zug auf die Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusam- 1) Anlage 3 mensetzung des Europäischen Parlaments - Herstellung des Einvernehmens über die Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen gemäß Artikel 48 EUV“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 10 b. Es geht um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1417 mit dem Titel „Änderung der Verträge - Übergangsmaßnahmen betreffend die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt. Für den Antrag haben die Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Tagesordnungspunkt 10 c. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1568 mit dem Titel „Veränderung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments in der laufenden Wahlperiode“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Gibt es Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Dafür haben die Mitglieder der Fraktion Die Linke gestimmt. Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Carsten Schneider ({0}), Joachim Poß, Hubertus Heil ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zu den theoretischen und empirischen Grund- lagen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes und der gemäß Koalitionsvertrag beabsichtig- ten Steuerreform - Drucksache 17/568 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es geht um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Olav Gutting, Klaus Brandner, Bettina Hagedorn, Dr. Daniel Volk, Dr. Barbara Höll, Dr. Thomas Gambke und des Parlamentarischen Staatssekretärs Hartmut Koschyk.2) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung ({2}) Nr. 1060/ 2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen ({3}) - Drucksachen 17/716, 17/984 - 2) Anlage 4 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 17/1609 - Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Manfred Zöllmer Björn Sänger Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier wurde interfrak- tionell vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden, und zwar von folgenden Kolleginnen und Kol- legen: Peter Aumer, Ralph Brinkhaus, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Dr. Axel Troost und Dr. Gerhard Schick.1) Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungsgesetzes zur EU-Ratingverordnung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1609, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/716 und 17/984 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1612. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist gegen den Entschließungsantrag? Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür haben die Mitglieder der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({5}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Mehr Chancengleichheit für Jugendliche - Ferienjobs nicht als regelmäßiges Einkom- men anrechnen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 1) Anlage 5 Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II - Drucksachen 17/524, 17/76, 17/841 - Berichterstattung: Abgeordneter Matthias W. Birkwald Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Es sind die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Carsten Linnemann, Paul Lehrieder, Katja Mast, Pascal Kober, Matthias W. Birkwald und Markus Kurth.2) Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/841. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a) seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der SPD auf Drucksache 17/524. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit ange- nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion der Linken. Unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/76. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPDFraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen - Drucksache 17/1288 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wie bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von folgenden Kollegen: Ansgar Heveling, Dr. Peter Danckert, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag und Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Max Stadler.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Europa ist für uns im alltäglichen Erleben schon viele Jahre scheinbar grenzenlos. So können wir sorglos von Land zu Land reisen. Grenzen stellen keine physischen Hindernisse mehr dar. In vielen europäischen Ländern bezahlen wir mit der gleichen Währung. Der einheitli- che Wirtschaftsraum ist bereits seit langem Realität. 2) Anlage 6 Gäbe es keine sprachlichen Unterschiede, würden wir kaum bemerken, wenn wir uns in einem anderen Land befinden würden. Im Alltag nehmen wir dabei ebenso kaum noch wahr, dass sich die einzelstaatlichen Rechtsordnungen in Europa in vielen Punkten teilweise deutlich unterscheiden. Selbst auf viele alltägliche Sachverhalte bezogen ist die Harmonisierung an vielen Stellen jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, dass wir neben dem einheitlichen Wirtschaftsraum auch von einem einheitlichen Rechtsraum in Europa sprechen könnten. Das gilt bislang etwa für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen, was insbesondere im Bereich des Straßenverkehrs von Bedeutung ist. Verkehrsordnungswidrigkeiten und Verkehrsstraftaten, die ein deutscher Autofahrer im Ausland begangen hat, sind bislang für ihn ohne Folgen, es sei denn, er wird unmittelbar vor Ort im Ausland „zur Kasse gebeten“. Bis auf Österreich, mit dem es seit 1998 einen entsprechenden Vertrag gibt, existieren keine bilateralen Vollstreckungshilfeabkommen zwischen der Bundesrepublik und anderen EU-Staaten, und das EU-Strafvollstreckungsabkommen von 1991 wurde lediglich von den Niederlanden, Spanien und Deutschland ratifiziert. Dieses Abkommen betrifft aber etwa Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht. Bislang fehlte es also an einem einheitlichen Instrumentarium für eine effektive Vollstreckung von Geldsanktionen im europäischen Raum, da alle bisher bestehenden Abkommen keine Verpflichtung zur Vollstreckung enthalten. Auf Initiative von Frankreich, Schweden und Großbritannien wurde im Jahr 2001 ein Rahmenbeschluss über die gegenseitige Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen eingebracht und am 24. Februar 2005 vom EU-Rat beschlossen. Er orientiert sich dabei an vorangegangenen Rahmenbeschlüssen zur Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Der nun vorliegende und hier zu beratende Gesetzentwurf dient damit der nationalstaatlichen Umsetzung des Rahmenbeschlusses. Bis zum Beginn des Jahres 2011 müssen alle beteiligten europäischen Staaten den Rahmenbeschluss zur Umsetzung gebracht haben. Die Umsetzung zieht vor allem im Hinblick auf Geldsanktionen, die in anderen Mitgliedstaaten verhängt wurden und in Deutschland vollstreckt werden sollen, einen erheblichen Bedarf an Änderungen im IRG nach sich. Auf der einen Seite sollen in anderen Mitgliedstaaten verhängte Geldstrafen und Geldbußen grundsätzlich anerkannt und in einem auch für hohe Fallzahlen möglichst praktikablen Verfahren vollstreckt werden. Auf der anderen Seite ist der Gesetzgeber gehalten, die Umsetzungsspielräume, die der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden Weise auszufüllen. Dem Spannungsverhältnis zwischen Rahmenbeschluss adäquater Praktikabilität und grundrechtsschonender Ausgestaltung von Umsetzungsspielräumen sollen vor allem die folgenden Weichenstellungen im Umsetzungsgesetz Rechnung tragen: Erstens. Das aufwendige, auch für Geldstrafen und Geldbußen ohne Berücksichtigung der Höhe der Sanktion geltende Exequaturverfahren von § 48 ff. IRG wird im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses abgelöst und durch eine behördliche Entscheidung ersetzt. Zweitens. Die nach dem Rahmenbeschluss zulässigen Verweigerungsgründe werden ganz überwiegend als zwingende Zulässigkeitshindernisse ausgestaltet. Drittens. Gegen eine behördliche Bewilligungsentscheidung, die in einem ersten Verfahrensabschnitt ergeht, ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. Festgelegt wird eine Zuständigkeit der Amtsgerichte. Als Rechtsmittel ist die Rechtsbeschwerde statthaft. Viertens. Dem am 1. Januar 2007 als zentrale Dienstleistungsbehörde errichteten Bundesamt für Justiz wird als weitere Aufgabe eine zentrale Zuständigkeit als Bewilligungsbehörde und, soweit kein Gericht befasst wurde, als Vollstreckungsbehörde im Bereich eingehender Ersuchen sowie als Bewilligungsbehörde im Bereich ausgehender Ersuchen übertragen. Fünftens. Eine gerichtliche Entscheidung ergeht zwingend, wenn die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates unter eine im Umsetzungsgesetz festgelegte Fallgruppe fällt, zum Beispiel eine Entscheidung gegen einen Jugendlichen oder gegen eine juristische Person. Und sechstens. Effektiver richterlicher Rechtsschutz im Inland wird durchgängig bei allen Geldsanktionen gewährt. Der Weg zu den Gerichten wird nicht abhängig gemacht von Differenzierungen nach der Art der Sanktion oder nach der Stelle, die sie verhängt hat. Das Umsetzungsgesetz dient damit einerseits der notwendigen Harmonisierung, ohne gleichzeitig andererseits aus dem Blick zu lassen, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Rechtsordnungen es naturgemäß erschwert, voneinander abweichende Instrumente einheitlich unter dem Blickwinkel effektiven Rechtsschutzes zu beurteilen. So wird dem Gedanken des einheitlichen Rechtsraums Europa in ausreichender Weise Rechnung getragen und gleichzeitig den unserem Rechtsverständnis nach notwendigen Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz Genüge getan. Nach den Rahmenbeschlüssen zum Europäischen Haftbefehl, zur Sicherstellung von Beweismitteln und zur Anerkennung von Einziehungsentscheidungen ist dies das vierte Rechtsinstrument, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen beruht. Durch das Umsetzungsgesetz bewegen wir uns damit einen Schritt weiter auf dem Weg, aus Europa nicht nur einen einheitlichen Wirtschafts- und Freiheitsraum, sondern auch einen einheitlichen Rechtsraum zu schaffen.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll endlich der Rahmenbeschluss des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in das natioZu Protokoll gegebene Reden nale Recht umgesetzt werden. Durch den Rahmenbeschluss, an dem schon die rot-grüne Regierung der 15. Wahlperiode „mitverhandelt“ hat, werden alle in einem EU-Mitgliedstaat verhängten Geldstrafen und Geldbußen bei allen Formen von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich gegenseitig anerkannt und ab einem Betrag von 70 Euro - § 87 b Abs. 3 Nr. 2 IRG-E - europaweit vollstreckt. Zwar ist aus deutscher Sicht eine Vollstreckung von Geldsanktionen bereits nach den herkömmlichen Vorschriften über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen möglich, allerdings traten hier oft Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung vor allem bei Massenverfahren auf. Durch den nun umzusetzenden Rahmenbeschluss sollen bisherige Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Vollstreckung von Geldsanktionen behoben und wesentliche Erleichterungen erreicht werden. Der vorliegende Gesetzentwurf knüpft dabei an unsere Vorarbeiten in der 16. Wahlperiode an. Damit wird der Weg zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes in Europa kontinuierlich fortgesetzt. In einem Europa der offenen Grenzen darf eine effektive Strafverfolgung nicht an den nationalen Grenzen der Mitgliedstaaten enden. Das betrifft beispielsweise auch die grenzüberschreitende Verfolgung von Verkehrssündern. Autofahrer, die sich auf Straßen anderer EUStaaten vorschriftswidrig verhalten, können nicht mehr darauf vertrauen, dass ein Strafzettel praktisch folgenlos bleibt. Das betrifft zum einen deutsche Autofahrer im EU-Ausland, aber auch Autos mit ausländischem Kennzeichen, die auf Deutschlands Straßen unterwegs sind. Als eines der wichtigsten Ziel- und Transitländer des europäischen Kontinents, geht es hier auch darum, ausländische Verkehrsteilnehmer zur Einhaltung der Verkehrsregeln zu bewegen. Und das funktioniert eben nur, wenn die Einhaltung dieser Regeln auch kontrolliert wird und Verstöße gegebenenfalls auch geahndet und anschließend auch vollstreckt werden. Zwar gab es in der Vergangenheit wenig Begeisterung der Autofahrer für den auch als „Knöllchenbeschluss“ bekannt gewordenen Rahmenbeschluss und dessen Umsetzung. Letztendlich geht es aber darum, die Gefahren auf unseren Straßen zu reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen, was schließlich jedem Autofahrer am Herzen liegen sollte und zugutekommt. Die Umsetzung des Rahmenbeschlusses bezieht sich aber nicht nur auf Verkehrsdelikte. Er enthält eine Liste von 39 Straftaten und Verwaltungsübertretungen - § 87 b Abs. 1 Satz 2 IRG-E - bei denen die beiderseitige Sanktionierbarkeit seitens des Vollstreckungsstaates nicht zu prüfen ist. Geldstrafen und Geldbußen werden unter anderem bei folgenden Straftaten und Verstößen auferlegt: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Terrorismus, Menschenhandel, Waffenschmuggel, Betrug, Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen, Vergewaltigung, Korruption, Cyberkriminalität, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Flugzeug-/Schiffsentführung, Warenschmuggel. Mit der Vereinfachung des Verfahrens zur Vollstreckung von Bußgeldern und Geldstrafen kann somit eine effektivere und effizientere Strafverfolgung erfolgen. Diese wird weiterhin dadurch erleichtert, dass die Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße auf einer Bescheinigung in der Amtssprache des Vollstreckungsstaates auszustellen ist. Kommunikationsprobleme und Übersetzungsfehler dürfen kein Hindernis bei der Verfolgung von Rechtsverstößen sein. Der Heimatstaat eines Betroffenen kann die grenzüberschreitende Vollstreckung verweigern, wenn die ausländische Entscheidung in einem Verfahren ergangen ist, das Grundrechte oder rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. Diese Überprüfungsmöglichkeit eines ausländischen Vollstreckungstitels im Rahmenbeschluss ist von der damaligen rot-grünen Bundesregierung erfolgreich durchgesetzt worden, sie bleibt eine unverzichtbare Voraussetzung. Im Bundesrat wird der Gesetzentwurf von den Ländern in zwei Punkten kritisiert. Zum einen wird die im Entwurf vorgesehene Konzentration von Verordnungsermächtigungen auf das Bundesamt für Justiz abgelehnt. Die Regelung ermögliche dem Bund, den elektronischen Rechtsverkehr und die entsprechende Aktenführung auch insoweit einzuführen, als Landesjustizbehörden betroffen seien. Wie bei der Prozessordnung müsse eine solche Entscheidung jedoch den Ländern vorbehalten sein. Hier muss das weitere Vorgehen geprüft werden und gegebenenfalls Änderungen erfolgen. Zum anderen kritisieren die Länder, dass der Erlös aus einer Vollstreckung allein dem Bund zustehen soll. Deshalb soll, laut Vorschlag der Länder, eine Regelung getroffen werden, wonach der Vollstreckungserlös je zur Hälfte dem Bund und den Ländern zufließe, da diese einen erheblichen Teil des Verwaltungsaufwandes leisten müssten. Die Bundesregierung lehnt das mit der Begründung, dass der Bund die Hauptlast trage, ab. Nach Auffassung unserer Fraktion, die dem Gesetzentwurf im Übrigen zustimmt, sollte der Vollstreckungserlös zu zwei Dritteln dem Bund und zu einem Drittel den jeweiligen Bundesländern zufließen. Ich sagte schon, wir werden dem Gesetz zustimmen. Noch in dieser Legislaturperiode erwarten wir einen Bericht über die Umsetzung dieses Gesetzes.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung einen Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen umsetzen. Sie hat sich mit dieser Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist drei Jahre Zeit gelassen. Das ist kein Grund zur Kritik. Sie hätte sich noch viel mehr Zeit nehmen sollen, am besten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Das Vorhaben ist erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Es widerspricht den Prinzipien von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, die in Art. 20 der Verfassung genannt werden. Es widerspricht damit Prinzipien, die der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes unterfallen, weil sie gegen alle Änderungen der Nachgeborenen vor Veränderungen geschützt sind. Zu Protokoll gegebene Reden Wolfgang Neškoviæ Sie kennen die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Danach kann es unter der Geltung des Grundgesetzes keine Vereinigten Staaten von Europa geben. Deshalb verbleiben auch die Kernbefugnisse eines Europäischen Staates bei den Mitgliedstaaten. Dazu gehört auch das Strafrecht. Ein europäisches Strafrecht kann es danach nur nach zwei Möglichkeiten geben, die beide völlig außer Blick- und Reichweite liegen: Erstens. Wir geben uns eine neue gesamtdeutsche Verfassung, die eine weitergehende Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die EU gestattet. Doch vor einer gesamtdeutschen Verfassung fürchtet sich die Mehrheit dieses Hauses seit der Wiedervereinigung. Sie fürchtet den progressiven Gehalt dieser Verfassung. Zweitens. Alle Staaten der EU würden die an den Grundrechten orientierten Kernelemente und Grundideen unseres Straf- und Strafprozessrechtes übernehmen. Durch den hier in Rede stehenden Rahmenbeschluss und seine Umsetzung wird aber - wie schon beim Europäischen Haftbefehl - europäisches Strafrecht durch die Hintertür eingeführt. Es spielt aber keine Rolle, ob Sie einen grundgesetzwidrigen Bereich nun durch die Hintertür oder durch die Vordertür betreten. Als Gesetzgeber des Grundgesetzes ist Ihnen der Zutritt gleichermaßen untersagt - zumindest solange die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards der Mitgliedstaaten im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht nicht im Sinne des bundesdeutschen Grundrechtsschutzes angeglichen worden sind. Nach dem Gesetzentwurf sollen Geldstrafen und Geldbußen, die in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurden, in der Bundesrepublik wesentlich leichter als bisher vollstreckt werden. Diese Vollstreckung ist bereits nach dem geltenden Recht möglich. Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen beinhaltet aus gutem Grund hohe rechtsstaatliche Hürden. Diese Hürden schützen die Bundesbürger vor unangemessenen Strafandrohungen und vor der Verfolgung wegen nicht nachvollziehbarer Tatbestände. Diesen unverzichtbaren Schutz will der Entwurf entfallen lassen. Stattdessen soll er innerhalb der EU durch das System der gegenseitigen Anerkennung ersetzt werden. Es soll ein Prinzip, das für Produkte und Dienstleistung entwickelt wurde, auf die Strafverfolgung von Menschen Anwendung finden. Im Wirtschafsrecht sollte es die - wirtschaftliche - Freiheit der Bürgerinnen und Bürger erweitern. Im Strafrecht soll es nun als Instrument eingesetzt werden, um so den europaweiten Import von Unfreiheiten in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Nicht Freiheitsrechte werden also anerkannt, sondern die Befugnis zur Beschränkung der grundrechtlichen Freiheiten. Der Rahmenbeschluss ordnet also die Verkehrsfähigkeit und die damit mögliche Durchsetzung von Unfreiheiten an. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung werden die sehr unterschiedlichen Rechtsstandards und Rechtsgrundsätze in Strafverfahren in den europäischen Mitgliedstaaten als gleichwertig behandelt, obwohl die Anforderungen - etwa an Beweisverfahren, Beweiserhebungen und Beweisverwertungen - sehr unterschiedlich sind. Unterschiedlich sind auch die Straftatbestände. Es bestehen in Europa erhebliche Unterschiede bei der Beurteilung der Frage, welches Verhalten überhaupt als strafwürdig zu erachten ist. Nach dem Willen der Entwurfsverfasser soll in 37 sehr unbestimmt formulierten Deliktsgruppen bei der Vollstreckung von Geldsanktionen auf die Prüfung der beiderseitigen Sanktionierbarkeit verzichtet werden. Doch diese Deliktsgruppen reichen von schweren Straftaten, wie zum Beispiel Terrorismus, Menschenhandel, Vergewaltigung und Flugzeugentführung, bis zu einfachen Verkehrsdelikten. In dem Katalog der Deliktsgruppen auftauchende Schlagworte wie „Cyberkriminalität“, „Fremdenfeindlichkeit“ und „Sabotage“ sind - mangels hinreichender Bestimmtheit - allenfalls Karikaturen einer rechtsstaatlichen Regelung. Die Anerkennung und Vollstreckung einer strafrechtlichen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates kann dabei auch zur Folge haben, dass die Bundesrepublik Delikte anerkennt, die sie in der eigenen Rechtsordnung nicht kennt, die ihr Parlament bewusst nicht für strafwürdig befand. Das ist undemokratisch. Denn der Grundrechtseingriff eines Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern kann nicht auf der Grundlage des Rechts eines anderen Staates vorgenommen werden. Es ist zumindest auf dem Gebiet des Strafrechts eine unverzichtbare Bedingung der Demokratie, dass die Bürgerinnen und Bürger nur solchen Eingriffen in ihre Freiheit ausgesetzt sind, auf deren Regelung sie durch parlamentarische Rechtsetzung Einfluss nehmen konnten. Das erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es in seiner Lissabon-Entscheidung ausführt: „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum.“ Die gegenseitige Anerkennung ohne die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit kann aber auch in der Praxis zu ganz absurden Ergebnissen führen. Der Gesetzentwurf sieht vor - im Ansatz ist dem durchaus zuzustimmen -, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat gegen einen Jugendlichen verhängte Geldstrafe in eine Sanktion nach den Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes umzuwandeln ist. Das ist richtig, weil das am Erziehungsgedanken orientierte Jugendstrafrecht die Verhängung einer Geldstrafe gar nicht kennt. Wenn der Jugendliche in einem anderen Mitgliedstaat jedoch wegen eines Verhaltens verurteilt wurde, das die hiesige Rechtsordnung schon nicht als in irgendeiner Form sanktionswürdig betrachtet, dann steht der Jugendrichter vor einem unlösbaren Problem. Er soll mit den Mitteln des Jugendgerichtsgesetzes erzieherisch auf den Jugendlichen einwirken. Aus bundesdeutscher Sicht gibt es jedoch überhaupt nichts zu erziehen. Es gibt nur etwas zu lassen - am besten gleich den gesamten Entwurf zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses, der solche Widersinnigkeit ermöglicht. Zu Protokoll gegebene Reden Wolfgang Neškoviæ Es droht Ihnen also nicht einmal Ungemach, wenn Sie auf den Bänken der Regierungsfraktion zur Abwechslung einmal Rückgrat zeigen würden. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen in seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl gleichsam einen Freibrief ausgestellt. Nie brauchte man so wenig Mut, um so viel Sinnvolles für die Bundesrepublik und die Freiheit ihrer Bürger zu stiften. Die „Segelanweisung“ des Bundesverfassungsgerichts lautet: Das Europäische Parlament, eigenständige Legitimationsquelle des europäischen Rechts, wird in dem Rechtssetzungsprozess lediglich angehört ({0}), was im Bereich der „dritten Säule“ den Anforderungen des Demokratieprinzips entspricht, weil die mitgliedschaftlichen Legislativorgane die politische Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung, notfalls auch durch Verweigerung der Umsetzung, behalten. - Das heißt, Sie können die Umsetzung auch schlicht verweigern. Sie haben also eine demokratische Pflicht, die Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit eines Rahmenbeschlusses selbst zu prüfen, und sind dann auch in der Lage, seine Umsetzung zu verweigern. Kommen Sie dieser Pflicht also nach! Dafür sind Sie alle gewählt worden.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fünf Jahre hat es gedauert, bis die Europäische Union ihre Vorstellung, die Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen in den Mitgliedstaaten zu ermöglichen und zu vereinfachen, realisiert hat. Vom 15. Januar 2001 stammt das Maßnahmenprogramm des Rates zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, in dem der Anwendung dieses Grundsatzes auf Geldstrafen und Geldbußen Vorrang eingeräumt wurde. Und erst am 24. Februar 2005 hat der Rat der EU den entsprechenden Rahmenbeschluss angenommen. Ich will deshalb nicht kritisieren, dass auch die Bundesregierung fünf Jahre gebraucht hat, um ein entsprechendes Umsetzungsgesetz vorzulegen. Aber wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Kommission in ihrem neuesten Aktionsplan schon für 2011 erneut einen Legislativvorschlag zur gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen einschließlich Geldbußen für Straßenverkehrsdelikte angekündigt hat ({0}). Es würde wenig Sinn machen, wenn wir uns an die Umsetzung eines Rahmensbeschlusses machen würden, der absehbar durch neue europäische Vorgaben ersetzt werden soll. Aber zurück zum heutigen Gesetzentwurf der Bundesregierung: Für die Bürgerinnen und Bürger wird sich nach der Verabschiedung dieses Gesetzes wegen der Anzahl der Betroffenen Entscheidendes ändern. Die bisherigen Rahmenbeschlüsse - so der Europäische Haftbefehl, die Beweisanordnung und Anerkennung von Einziehungen - betrafen Strafverfahren und Freiheitsentziehungen. Jetzt werden ungleich mehr Menschen betroffen sein. Bei uns in Deutschland kam es 2006 zu 124 694 Freiheitsstrafen, aber zu 520 791 Geldstrafen. Geldbußen übertreffen diese Zahlen um ein Vielfaches. Von den 14 309 durch die Amtsgerichte im Jahr 2008 verhängten Geldbußen war der größte Anteil im Straßenverkehr ({1}). Bereits aus dem Verhältnis dieser Zahlen lässt sich ermessen, welche praktische Bedeutung das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen haben wird. Umso wichtiger ist es, dass sich der Bundestag - ohne sich dafür fünf weitere Jahre Zeit zu lassen - intensiv mit den Folgen der neuen Regelungen für die Bürgerinnen und Bürger befasst. Leider hat sich auch beim umzusetzenden Rahmenbeschluss die wohl so bald nicht umkehrbare Vorgehensweise durchgesetzt, weitgehend auf die Anforderung gegenseitiger Strafbarkeit zu verzichten. Es sind eben nicht, wie aber im Regierungsentwurf ausgeführt, „39 Straftaten“, bei denen auf gegenseitige Strafbarkeit verzichtet wird. Es sind 39 Deliktsgruppen, deren zum Teil unpräzise und amorphe Beschreibung hart am Rand des Bestimmtheitsgebots verläuft. Das ist Anlass genug, zum wiederholten Male die Präzisierung dieser sogenannten Listendelikte auf europäischer Ebene zu fordern. Der Gesetzentwurf sieht klare Regelungen zum gerichtlichen Rechtsschutz vor. Das begrüßen wir ausdrücklich. Ob es aber bei der Unanfechtbarkeit der möglichen gerichtlichen Verwerfung eines Einspruchs bleiben muss, will ich infrage stellen. Gut und richtig ist auch, dass eine Umwandlung von Geldstrafen und Geldbußen in Ersatzfreiheitsentzug oder andere Ersatzstrafen nicht vorgesehen ist. Der Rahmenbeschluss sieht vor, von einer Vollstreckung abzusehen, wenn die betroffene Person im ausländischen Verfahren nicht einwenden konnte, für die Handlung nicht verantwortlich zu sein. Es geht um nichts weniger als um die Halterhaftung, die wir aus guten Gründen bei Verkehrsverstößen im fließenden Verkehr nicht kennen. Der Gesetzentwurf macht hier von der gewährten Vollstreckungsverweigerung Gebrauch. So weit, so gut. Aber es ist nicht einzusehen, warum dabei nicht zum Mittel eines zwingenden Zulässigkeitshindernisses gegriffen wurde, sondern nur zu einem Bewilligungshindernis in Form einer Ermessensentscheidung. Ich halte dies für mit dem Schuldprinzip des deutschen Strafrechts nicht vereinbar und darf an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon erinnern. Darin heißt es - ich zitiere aus Randnummer 364 -: „Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“ Auf das Urteil nimmt auch die Gesetzesbegründung Bezug. Umso unverständlicher ist es, dass § 87 d Abs. 2 des Gesetzentwurfs nur regelt, dass die Bewilligung eines Ersuchens um Vollstreckung vom zuständigen Bundesamt für Justiz abgelehnt werden „kann“, wenn die betroffene Person in dem ausländischen Verfahren keine Gelegenheit zu dem Einwand hatte, für die Handlung nicht verantwortlich zu sein, und auch nur dann, wenn Zu Protokoll gegebene Reden sie dies gegenüber dem Bundesamt ausdrücklich „geltend macht“. Meines Erachtens wird das dem Gehalt des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht gerecht. Außerdem sollten wir noch über die Stichtagsregelung für die Anwendbarkeit des Gesetzes diskutieren. Hier erscheint es mir aus Vertrauensschutzerwägungen plausibel, auf den Zeitpunkt der Tatbegehung oder jedenfalls einen früheren Zeitpunkt, als im Regierungsentwurf vorgesehen, abzustellen. Der Regierungsentwurf macht dagegen die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt. Bei behördlichen Entscheidungen ist es das Datum der Entscheidung, die dann allerdings noch nicht bestandskräftig sein muss. Hierüber kann man reden, aber allein die längst abgelaufene Umsetzungsfrist sollte jedenfalls nicht das entscheidende Argument sein. Von diesen Kritikpunkten abgesehen will ich aber ausdrücklich festhalten, dass wir das Ende der Schonfrist für Verkehrssünder - ein wesentlicher Anwendungsbereich des Gesetzes in der Praxis wird ja die Vollstreckung von Strafzetteln über 70 Euro aus dem Ausland und die effektivere Sanktionierung von Verkehrsverstößen im Urlaubs- und Transitverkehr durch Deutschland sein - sehr begrüßen.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates vom 24. Februar 2005 zur EU-weiten Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen vorgelegt. Dieser Rahmenbeschluss ist nach den Rahmenbeschlüssen über den Europäischen Haftbefehl, die Sicherstellung von Beweismitteln und die Anerkennung von Einziehungsentscheidungen das vierte auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhende europäische Rechtsinstrument, dessen Umsetzung in innerstaatliches Recht nun ansteht. Der Rahmenbeschluss zur Vollstreckung von Geldsanktionen stellt einen wichtigen Baustein für die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Er legt die grundsätzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten fest, eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig verhängte Geldstrafe oder Geldbuße anzuerkennen und zu vollstrecken, ohne die materielle Richtigkeit der zu vollstreckenden Entscheidung nochmals zu prüfen. Dies ist der Grundgedanke des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen. Weiterhin enthält der Rahmenbeschluss eine Liste von Delikten, bei deren Vorliegen das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit vom Vollstreckungsstaat nicht mehr zu überprüfen ist. Aktuell sind bereits in 18 EU-Mitgliedstaaten entsprechende Umsetzungsgesetze in Kraft. Dazu gehören alle unsere Nachbarstaaten, ausgenommen Belgien. Aus Sicht der Bundesregierung hat der europäische Gesetzgeber mit diesem Rahmenbeschluss ein sehr wichtiges Instrument geschaffen, um in einem Europa ohne Grenzen gleichsam rechtsfreie Räume zu verhindern. Denn bislang ist es so, dass wir zwar über vielfältige Instrumente der strafrechtlichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von schwerer Kriminalität und Terrorismus verfügen. Aber was fehlte, war die Möglichkeit, bei kleineren Delikten und Vergehen, die nur mit einer Geldsanktion zu ahnden sind, dem innerstaatlichen Recht effektiv zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn der Täter seinen Wohnsitz nicht in Deutschland hat. Gerade für Deutschland ist dies besonders wichtig. Schließlich leben wir in einem Staat, der in der Mitte Europas liegt und durch den täglich Hunderttausende Menschen reisen, die meisten aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Künftig werden sowohl Geldbußen für Verkehrsverstöße als auch Geldstrafen für strafrechtliche Delikte tatsächlich vollstreckt werden. Das bringt uns einem europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein gutes Stück näher. Allerdings muss das Prinzip der Gegenseitigkeit eingehalten werden. Aber - und das ist wichtig -: Die Anerkennung ausländischer Sanktionen darf nicht um jeden Preis erfolgen. Es besteht auch ein Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Unser Augenmerk lag deshalb von Anfang an darauf, sicherzustellen, dass bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses die Rechte unserer Bürgerinnen und Bürger gewahrt bleiben. Das heißt konkret: Wir dürfen uns nicht an der Vollstreckung von ausländischen Geldbußen und Geldstrafen beteiligen, die unter Missachtung elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze zustande gekommen sind. Selbstverständlich haben wir großes Vertrauen in die Rechtssysteme unserer europäischen Partner. Wir gehen deshalb davon aus, dass in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle die Grundrechte der Betroffenen gewahrt werden. Gleichwohl haben wir in Deutschland - in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Rahmenbeschlusses - dafür gesorgt, dass in den Fällen, in denen dieses Vertrauen einmal nicht gerechtfertigt ist, eine Vollstreckung durch deutsche Behörden nicht in Betracht kommt. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Schwerpunkte: Erstens. Die Betroffenen dürfen darauf vertrauen, sich gegen eine zu Unrecht ergangene ausländische Sanktion zur Wehr setzen zu können. Dieses Vertrauen müssen wir schützen. Dazu gehört die Gewährung rechtlichen Gehörs ebenso wie die Möglichkeit, sich gegen eine ausländische Geldsanktion verteidigen zu können. Zweitens. Elementare Grundsätze des Schuldprinzips dürfen nicht infrage gestellt werden. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf wird diesen Anforderungen vollständig gerecht. Wir sind überzeugt, damit eine stabile Balance zwischen der Notwendigkeit einer erleichterten Strafverfolgung innerhalb eines Europas der offenen Grenzen einerseits und dem angemessenen Schutz vor rechtsstaatlich fraglicher Verfolgung unserer Bürger andererseits gefunden zu haben. Zu Protokoll gegebene Reden

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1288 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE In historischer Verantwortung - Für ein Bleiberecht der Roma aus dem Kosovo - Drucksache 17/784 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({1}), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Zwangsrückführungen von Minderheitenangehörigen in das Kosovo - Drucksache 17/1569 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Stephan Mayer ({3}), Rüdiger Veit, Jimmy Schulz, Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen verkennen nicht nur die rechtlichen Grundsätze im deutschen Aufenthaltsrecht, sondern sie sind auch realitätsfern. Das Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kosovo ist am 14. April 2010 durch den Bundesinnenminister und seinen kosovarischen Amtskollegen unterzeichnet worden und mittlerweile im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Es enthält die auch in anderen etwa von der EU mit Drittstaaten geschlossenen Rückübernahmeabkommen, üblichen Komponenten der Rückübernahme eigener Staatsangehöriger, der Übernahme Drittstaatsangehöriger und Staatenloser sowie Regelungen zur Durchbeförderung von Personen. Somit handelt es sich also keineswegs um ein Abkommen, das ausschließlich die Abschiebung von bestimmten ethnischen Gruppen zum Ziel hätte. Vielmehr ist international anerkannter Anknüpfungspunkt für die Frage einer Pflicht zur Rückübernahme stets nur die Staatsangehörigkeit oder die Herkunft einer Person aus dem Zielstaat, nicht aber ethnische oder sonstige persönliche Merkmale. Hierauf stellt auch dieses Rückübernahmeabkommen ab. Mit dem Rückübernahmeabkommen werden somit lediglich die verfahrensmäßigen und technischen Einzelheiten für die Verpflichtung zur Rückübernahme einer Person zwischen den Vertragsstaaten geregelt. Dies betrifft etwa die Nachweis- und Glaubhaftmachungsmittel für die Staatsangehörigkeit, Fristen zur Beantwortung eines Übernahmeersuchens und dessen erforderliche Angaben oder die für die Stellung der Ersuchen zuständigen Behörden. Es findet hingegen keine Bewertung der Frage statt, ob eine Person tatsächlich zurückgeführt werden kann. Diese erfolgt im Rahmen der Einzelfallprüfung durch die zuständigen Ausländerbehörden der Länder bzw. durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach den Maßgaben des deutschen Aufenthaltsgesetzes. Im Rahmen einer solchen Einzelfallprüfung werden dann selbstverständlich auch humanitäre und menschenrechtliche Aspekte berücksichtigt. Dies ist ein Kernbestandteil des deutschen Ausländer- bzw. Asylrechts. Ausländer, denen im Herkunftsland politische Verfolgung, eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben oder Folter droht, erhalten in Deutschland Asyl, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz. Dieser Schutz kann vorliegend nur im Wege einer Einzelfallprüfung gewährt werden, da die Bundesregierung unter Beiziehung von Berichten internationaler Organisationen zurecht festgestellt hat, dass keine unmittelbare Gefährdung nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie und auch keine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in der Republik Kosovo mehr herrscht. Zu der gleichen Einschätzung sind im Übrigen auch andere europäische Aufnahmestaaten, die ebenfalls bereits mit der Rückführung von ethnischen Minderheiten begonnen haben, gekommen. Erst kürzlich hat etwa das Vereinigte Königreich die Republik Kosovo in seine Liste sicherer Zielstaaten aufgenommen. Auch der von Ihnen in der Antragsdrucksache zitierte Bericht des Kommissars für Menschenrechte des Europarates, Thomas Hammarberg, spricht sich lediglich gegen „Massenabschiebungen“ von Personen in das Kosovo aus. Unabhängig davon existieren im geltenden Aufenthaltsrecht eine Reihe von Regelungen, die eine Legalisierung des Aufenthaltes Geduldeter ermöglichen. Hierzu gehören die §§ 25 Abs. 4 und 5 und 23 a Aufenthaltsgesetz sowie die Bleiberechtsregelung des § 104 a Aufenthaltsgesetz, die durch Beschluss der Innenministerkonferenz Anfang Dezember 2009 um zwei Jahre verlängert und um weitere Verlängerungstatbestände ergänzt wurden, unter anderem für Personen mit abgeschlossener Schul- oder Berufsausbildung. Auch angesichts dieser Regelungen, von denen in der Vergangenheit bereits mehrere Tausend kosovarische Staatsangehörige profitiert haben, besteht aus meiner Sicht zu Recht kein Handlungsbedarf für eine spezielle Bleiberechtsregelung für Roma-Familien aus dem Kosovo oder die Anregung einer Aussetzung der Abschiebungen von Personen aus dem Kosovo gegenüber den Bundesländern. Stephan Mayer ({0}) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu den tatsächlichen Bedingungen bei der Rückführung ausführen. Die Angaben in den beiden Anträgen von den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen entsprechen leider nicht der Realität. Der kosovarischen Seite wurde am Rande der Abkommensverhandlungen zugesagt, dass jährlich maximal 2 500 Übernahmeersuchen durch die Ausländerbehörden übermittelt werden und auf ein angemessenes Verhältnis der ethnischen Zugehörigkeiten geachtet wird. Massenabschiebungen, so wie von Ihnen vorgetragen, kann es somit gerade nicht geben. Die tatsächlichen Rückführungszahlen belegen zudem, dass Deutschland seine Zusagen auch einhält. Im Jahr 2009 wurden bei 2 385 Ersuchen nur 541 Personen zurückgeführt, hiervon 179 Angehörige ethnischer Minderheiten, darunter 76 Roma. Bis Ende März 2010 wurden 177 Personen zurückgeführt, hierunter 66 Angehörige ethnischer Minderheiten, davon 47 Roma. Bund und Länder bevorzugen die freiwillige Ausreise von illegal aufhältigen Personen und fördern diese gerade bei rückkehrwilligen Kosovaren auch finanziell in beachtlichem Umfang. So erhält zum Beispiel eine vierköpfige Roma-Familie - zwei Erwachsene, zwei Kinder neben der vollständigen Übernahme ihrer Heimreisekosten eine Starthilfe und eine Reisebeihilfe von insgesamt 2 850 Euro, was einem durchschnittlichen Jahresbruttoeinkommen im Kosovo entspricht. Im Übrigen leistet für Rückkehrer aus den Ländern Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt das vom Bund und diesen Ländern betriebene Rückkehrprojekt „URA 2“ mit einem Beratungszentrum in Pristina wertvolle Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die kosovarische Gesellschaft durch vielfältige Beratungs- und Betreuungsangebote. Diese Angebote reichen von sozialer und psychologischer Beratung über Arbeits- und Wohnraumvermittlung bis hin zur Gewährung von Lohn- und Mietkostenzuschüssen oder einer Existenzgründungshilfe. Dabei werden alle Rückkehrer ohne Rücksicht auf die Art ihrer Rückkehr oder ihre ethnische Zugehörigkeit gleichermaßen betreut. Somit sind auch die in den Anträgen geschilderten tatsächlichen Voraussetzungen für ein Einschreiten des Bundestages nicht gegeben.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Zahl der ethnisch motivierten Gewalttaten im Kosovo ist im Vergleich zu den schweren Übergriffen 2004 zurückgegangen, und auch die Befürchtung, dass die Spirale der Gewalt gegen Minderheiten nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 einen neuerlichen Höhepunkt erreicht - die ich im Übrigen auch geteilt habe -, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Dass es zu weniger Übergriffen kommt, liegt aber leider nicht so sehr daran, dass es kein ethnisches Konfliktpotentzial mehr gibt, sondern daran, dass die ethnischen Gruppen größtenteils in homogenen Gruppen voneinander getrennt leben. Wo es eine solche Trennung aber nicht gibt, muss man leider nach wie vor drohende Diskriminierungen von Minderheiten konstatieren. Vor allem aber fehlt es im Kosovo an fast allen sozialökonomischen Voraussetzungen für Rückkehrer und Abgeschobene. Dies betrifft Fragen des Zugangs zum Arbeitsmarkt sowie zur Gesundheitsversorgung und - wie bescheiden auch immer - Fragen der Sicherung ihres Lebensunterhalts. Unser Kollege Gerold Reichenbach hat als Teilnehmer der SPD-Fraktion an einer Delegationsreise des Innenausschusses vom 12. bis zum 14. April dieses Jahres in das Kosovo teilgenommen, um sich vor Ort ein Bild über die Lage zu machen und um uns bei der realistischen Beurteilung der verschiedenen Einschätzungen zu helfen. Seiner Einschätzung nach ist die soziale Situation vor allem für Roma im Kosovo nach wie vor prekär, insbesondere auch für Rückkehrer. Zwar hat die Regierung des Kosovo bereits 2007 ein Programm zur Reintegration von Rückkehrern aufgelegt, allerdings halten die Behörden ihre diesbezüglichen Verpflichtungen bislang nicht ein. Beispielsweise soll über Koordinierungsmechanismen eine Abstimmung zwischen zentralen und lokalen Behörden erreicht werden. Die meisten der von der OSZE befragten lokalen Behördenvertreter kannten das Programm zur Reintegration von Rückkehrern aber nicht einmal. Auch gab es keinerlei Vernetzung mit den zentralen Behörden. Dies erklärt, dass keiner der befragten Behördenvertreter von der zentralen Behörde jemals über die bevorstehende Ankunft unfreiwilliger Rückkehrer informiert wurde und deshalb keine Vorkehrungen für deren Reintegration treffen konnte. Gerold Reichenbach berichtete, dass sich diese Situation bislang auch nicht grundlegend verbessert hat. Da die lokalen Behörden zumeist bereits mit der Reintegration der freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehrer der größeren Bevölkerungsgruppen überfordert sind, sind bei verstärkter Rückführung von Minderheiten ein Anwachsen der Konfliktpotenziale und die Gefahr erneuter Gewaltausbrüche zu befürchten. Wenn nun im Antrag der Fraktion Die Linke allerdings darauf abgestellt wird, dass die Massenvertreibung der Roma aus dem Kosovo vor allem auf der „kriegerischen Intervention der NATO gegen das ehemalige Jugoslawien“ beruht und Deutschland vor allem deshalb eine große Verantwortung für das Elend dieser Menschen trifft, dann müssen wir dem entschieden widersprechen. Keinesfalls möchten wir die grundsätzliche Verantwortung negieren, die Deutschland für die Sinti- und Roma-Angehörigen aufgrund der gegen diese Menschen verübten abscheulichen Verbrechen während der Nazidiktatur trägt; nein, der Hauptverantwortliche für die Massenvertreibungen von Minderheiten aus dem Kosovo ist der als Kriegsverbrecher in Den Haag vor einem UN-Tribunal wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt gewesene Slobodan Milosevic. Schon aufgrund dieser Wertung des Antrages der Fraktion Die Linke werden wir ihn nicht mittragen. Hinzu kommt, dass man sich in ihm pauschal für die sofortige Aussetzung der Abschiebung von Flüchtlingen aus dem Kosovo ausspricht. Die Gruppe, die jedoch besonderen Schutzes vor Abschiebung bedarf, sind, wie Zu Protokoll gegebene Reden weiter oben ausgeführt, die ethnischen Minderheiten und besonders schutzwürdige Personen. Auch der Forderung der Linken, das deutsch-kosovo-albanische Rückführungsabkommen nicht zu unterschreiben bzw. aufzukündigen, können wir uns nicht anschließen. Wir erwägen stattdessen eine Aussetzung des Abkommens bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Programme für Rückkehrer in der Praxis greifen. Etwas anders sieht es mit dem differenzierteren Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus. Richtig ist ja an dem Antrag, dass für Minderheitenangehörige - insbesondere für die Roma - aufgrund der Sicherheitslage bis Anfang 2009 ein faktischer Abschiebestopp galt, der durch die Innenministerkonferenz regelmäßig verlängert wurde. Richtig ist auch, dass die Roma trotzdem von den Bleiberechtsregelungen bisher kaum profitieren konnten. Aber die alles entscheidende Frage, wie die konkrete gegenwärtige Situation im Kosovo nun wirklich einzuschätzen ist, um einen Abschiebungsstopp zwingend zu fordern, wird in diesem Antrag ebenso wenig beantwortet. Wenn die SPD-Bundestagsfraktion selbst noch keinen Antrag eingebracht hat, dann nicht etwa, weil wir noch keinen formuliert hätten. Allerdings haben wir von seiner Einbringung bislang aus guten Gründen abgesehen. Wir wollten erstens die verschriftlichten Ergebnisse der Delegationsreise des Innenausschusses in das Kosovo abwarten, um anschließend zu einer fundierteren Bewertung der teils doch sehr widersprüchlichen Charakterisierung der Situation vor Ort zu kommen. Aber auch dies reicht uns noch nicht. Wir möchten zweitens - erst recht nach den heutigen Gesprächen von Mitgliedern des Innenausschusses auf Einladung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zur Situation von Roma, Aschkali und Kosovo-Ägyptern im Kosovo eine Anhörung zur Lage der Minderheiten im Kosovo vorschlagen. Als Experte bietet sich unter anderem Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling an, nicht etwa als „Kronzeuge“ gegen die Haltung seiner Parteifreunde, sondern weil er uns als Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina a. D. und als Initiator des uns allen bekannten Oster-Appells besonders sachkundig und glaubwürdig erscheint. Wir sind der Überzeugung, dass wir erst nach dem ausführlichen Reisebericht des Innenausschusses und dieser von uns beantragten Anhörung die bestmögliche Entscheidungsgrundlage für unser Handeln haben werden. Aber unbeschadet von diesen Informationen sowie den anschließenden Beratungen meiner Fraktion will ich Sie heute mit meinen persönlichen Überlegungen und Schlussfolgerungen vertraut machen: Erstens. Generell gehören Rückführungen oder gar Abschiebungen von bereits seit vielen Jahren in Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu dem traurigsten Kapitel unserer bis Ende der 90erJahre nur auf Abwehr ausgerichteten Gesetzgebung auf dem Gebiet des Ausländer- und Flüchtlingsrechtes. Dies gilt vor allem für die in Deutschland geborenen und/ oder hier aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen, aber auch für andere, die längst begonnen haben sich in Deutschland zu integrieren. Dieses Phänomen unsäglicher Kettenduldungen beschäftigt die SPD-Fraktion und im Übrigen auch mich persönlich, seitdem ich hier im Bundestag bin, also seit rund zwölf Jahren. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unsere letzte gesetzgeberische Initiative vom Dezember für eine gesetzliche Bleiberechtsregelung, von der dann auch gerade Kinder und Jugendliche und solche eine Aufenthaltserlaubnis und damit eine sichere Zukunftsperspektive ohne weitere für sie nicht erreichbare Voraussetzung erhalten können, die sich als Alleinstehende mindestens zwölf und als Familie mindestens zehn Jahre bei uns aufgehalten haben. Zweitens. Vor allem Sinti und Roma - die wohl größten ethnischen Minderheiten in ganz Europa - sind seit vielen Jahrzehnten fast nirgendwo besonders willkommen und häufig besonderer Diskriminierung ausgesetzt. Ihnen gegenüber sollten wir besondere Sensibilität und Mitmenschlichkeit an den Tag legen, anstatt sie in ein ungewisses Schicksal notfalls sogar abzuschieben. Drittens. Generell sind die sozial-ökonomischen Voraussetzungen im Kosovo nicht nur für die Rückkehrer - aber für diese ganz besonders -, alles andere als günstig anzusehen. Zumindest in dieser Einschätzung werden vermutlich alle Teilnehmer der Delegationsreise des Innenausschusses übereinstimmen. Viertens. Daraus folgt, dass Angehörige von Minderheiten - namentlich also Sinti und Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter - oder auch besonders schutzbedürftige Personengruppen nicht zurückgeführt und schon gar nicht dorthin zwangsweise abgeschoben werden sollten. Unter besonders schutzwürdigen Personengruppen verstehe ich in diesem Zusammenhang Kinder und Jugendliche, alte und gebrechliche Menschen, Kranke, die im Kosovo nicht zufriedenstellend behandelt werden können, Familien mit kleinen Kindern, Alleinerziehende und auch diejenigen Menschen, die zwar familiäre Beziehungen in Deutschland, aber keinerlei Angehörige mehr im Kosovo haben. Dies soll und muss jedenfalls so lange gelten, als die Voraussetzungen im Sinne tatsächlicher Reintegrationsmaßnahmen nicht greifen. Insoweit sollten auch Rückführungsabkommen in ihrer Anwendung jedenfalls zunächst noch ausgesetzt werden. Über diese und weitere Details sollten uns der mehrfach erwähnte Bericht und die durchzuführende Expertenanhörung weiteren Aufschluss geben, um dann daraus die notwendigen Maßnahmen im Deutschen Bundestag zu entwickeln. Warum sollte es in diesem Punkt der Bewältigung einer besonderen menschenrechtlichen Verantwortung nicht auch einmal möglich sein, dass sich sowohl die Oppositionsparteien als auch die Parteien der derzeit regierenden Koalition auf einen einheitlichen Wortlauf verständigen? Lassen Sie uns daran arbeiten.

Jimmy Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004148, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken ist abzulehnen. Er ist abzulehnen, weil er in weiten Teilen auf Basis falscher Behauptungen zu den falschen Schlüssen und Ergebnissen Zu Protokoll gegebene Reden kommt. Auf der jüngsten Delegationsreise des Innenausschusses konnte ich mir selbst vor Ort ein Bild der Situation der Heimkehrer machen. Ja, die Situation der Roma, Ashkali und Ägypter, RAE, im serbisch dominierten Norden des Landes, im Lager Osterode in Mitrovica, ist sehr schwierig. Dort leben Menschen in kaum erträglichen Zuständen. Dies ist aber die Ausnahme. Für die dort Lebenden werden doch gerade mit europäischen Mitteln in Roma Malhala moderne Wohnungen gebaut, und Zug um Zug können die Betroffenen dorthin umziehen. In anderen Landesteilen ist die Situation deutlich entspannter. Dort konnten wir keine unwürdigen Lebensumstände feststellen. Ja, das Land ist noch von Krieg und Zerstörung gezeichnet; aber dieser jüngste Staat der Welt macht sich mit Hoffnung und mit Tatkraft auf den Weg, ein neues Kosovo in Freiheit und Unabhängigkeit zu formen. KFOR und EULEX sind noch Garanten für Frieden und Ordnung. Beide unterstützen diesen Aufbau, und in vielen Fällen kann die Kontrolle schon weitgehend in die Hände der Kosovaren übergeben werden. Dies ist übrigens eine der kaum beachteten Erfolgsgeschichten internationaler Friedenseinsätze, die auf dem Weg sind, mit schrittweisem Abzug eine Übergabe in Frieden und Freiheit zu leisten. Deswegen konnte der Verteidigungsminister auch am Sonntag bekannt geben, dass das deutsche Kontingent um weitere 1 000 Soldaten reduziert werden kann. Bei unserem Gespräch mit dem Innenausschuss des kosovarischen Parlaments hatten wir auch Gelegenheit, mit dem Roma-Abgeordneten Zylfi Merxha zu sprechen. Er hat im Parlament einen der 20 für ethnische Minderheiten reservierten Sitze inne. Auf mehrfache Nachfrage bestätigte er mehrmals: Es gibt keine Diskriminierung von RAE im Kosovo, so der demokratisch legitimierte Vertreter dieser Minderheit im Parlament. Auch im Übrigen scheint der Antrag der Linken eher eine innenpolitische Motivation zu haben als ernsthaft zu einer Lösung des Problems beitragen zu wollen. Die genannten Zahlen werden verdreht oder falsch interpretiert. Von einer Massenabschiebung kann keine Rede sein. Anstatt der genannten 10 000 RAE wurden in den letzten Jahren nur wenige Hundert in ihre Heimat zurückgeführt. Eine deutliche Erhöhung dieser Zahlen, wie von den Linken kolportiert, ist weder realistisch noch auch im neuen Abkommen geplant. Unsere Gespräche mit den Organisationen vor Ort, aber gerade auch mit den Mitarbeitern des BAMF haben unsere Position bestätigt. Freiwillige Rückkehrer bekommen eine deutliche Starthilfe von mehreren Hundert Euro, unter anderem mit Wohngeld und Jobstartgeld. Bei Wohnungssuche und Jobsuche wird hier aktiv geholfen, bis eine Lösung gefunden wird. Im Gegensatz zu anderen Ländern unterstützen wir aber auch die unfreiwillig zurückkehrenden Kosovaren. Auch sie werden, mit leicht geringeren Sätzen, bei der Reintegration über sechs Monate durch das URA-2-Projekt des BAMF unterstützt. Die Behauptung, es gebe keine Unterstützung, ist also ganz offensichtlich eine politisch motivierte Falschbehauptung. Ebenso scheinen im Lichte der aktuellen Erkenntnisse der Informationsreise viele Zahlen entweder veraltet oder vermutlich eher aus der Luft gegriffen zu sein. Die Arbeitslosigkeit unter den Roma beispielsweise lag mitnichten bei 95 Prozent, sondern deutlich darunter. Natürlich ist dieser junge Staat noch in einer sehr schwierigen Phase, und das Sozialsystem ist noch deutlich unterentwickelt; dies trifft aber eben nicht nur die Roma oder die anderen ethnischen Minderheiten, sondern die gesamte kosovarische Bevölkerung. Somit sind die wirtschaftliche Situation und das schwache soziale Netz kein Beleg für Diskriminierung. Besonders perfide erscheint mir die Behauptung, dass die 92 000 freiwilligen Heimkehrer, die am Aufbau ihres Landes mitarbeiten wollen, in vielen Fällen „gezwungenermaßen“ zurückgeschickt worden sein sollen. Wenn jemand Zwang als Freiwilligkeit verkauft hat, dann doch die SED, deren Mitglieder ja alle „freiwillig“ Mitglied der Unrechtspartei waren. Der Informationsbesuch des Innenausschusses lässt nur ein Fazit zu: Die Situation im Kosovo ist mit Sicherheit verbesserungswürdig und muss von uns auch mit großer Aufmerksamkeit begleitet werden. Einen Grund, Sonderrechte ausgerechnet für die Flüchtlinge in Deutschland einzuräumen, sehe ich jedoch nicht. Vielmehr kümmert sich gerade Deutschland mit einem außerordentlich großen Engagement um alle heimkehrenden Flüchtlinge, gerade auch um die ethnischen Minderheiten, und besonders um diejenigen, die sich nicht zu einer freiwilligen Heimkehr durchringen konnten. Dieses Engagement verdient es, weiter gut von uns unterstützt zu werden; denn es dient dem Frieden, der Sicherheit und der Freiheit des jungen Staates Kosovo.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke hat sich bereits in der letzten Wahlperiode für einen Abschiebestopp und ein Bleiberecht insbesondere für die Roma aus dem Kosovo eingesetzt, und zwar noch bevor die Massenabschiebungen von Roma aufgenommen wurden. Leider vergeblich. Inzwischen gibt es für das Thema eine weitaus größere und vor allem kritische Öffentlichkeit, sodass wir die Zeit gekommen sehen, die Forderung nach einem Bleiberecht für die Roma aus dem Kosovo erneut in den Bundestag einzubringen. Wir erhoffen uns zum jetzigen Zeitpunkt eine andere und ernsthafte Debatte zu diesem Thema. Am 12. April dieses Jahres besiegelten die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kosovo endgültig die Abschiebung von mindestens 10 000 Roma in den Kosovo. Weitere 4 000 Menschen, darunter viele Ashkali und auch Serben aus mehrheitlich von Albanern bewohnten Gebieten, müssen nun ebenfalls verstärkt mit ihrer Abschiebung rechnen. Diese mehr als 14 000 Menschen werden nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland aus ihren sozialen Beziehungen gerissen, die sie sich hier aufgebaut haben. Es werden Kinder abgeschoben, die in Deutschland geZu Protokoll gegebene Reden boren sind und dieses Land als ihre Heimat ansehen. Es werden Alte und Kranke in medizinische Unterversorgung und damit in den Tod abgeschoben. Für viele, die von ihrer erzwungenen Flucht vor zehn Jahren noch traumatisiert sind, bedeutet die Abschiebung eine Art zweiter Vertreibung, mit allen psychologischen Folgen. All dies ist hinlänglich bekannt. Es gibt eine Vielzahl von Studien und Berichten von Nichtregierungsorganisationen, der OSZE, dem UNHCR, dem Menschenrechtskommissar des Europarats usw. über die schlimme Situation gerade der Minderheitenangehörigen - der Roma, Ashkali und Ägypter - im Kosovo. Es gibt eine Legion an Berichten von engagierten Journalistinnen und Journalisten, die das unerträgliche Schicksal von Abgeschobenen für Zeitungen, Radio und Fernsehen dokumentiert haben. Als Teilnehmerin einer Delegation des Bundestagsinnenausschusses, die vom 12. bis 14. April im Kosovo war, konnte ich mich mit eigenen Augen von der völligen Perspektivlosigkeit überzeugen, in die Roma aus Deutschland abgeschoben werden. Die Wirtschaft des Landes liegt völlig am Boden, und Roma sind von der allgemein immens hohen Arbeitslosigkeit durch rassistische Ausgrenzung in besonderem Maße betroffen. Wir als Linke stehen mit unserer Forderung nach einem Bleiberecht für diese Menschen nicht allein. Die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz hat in einer Pressemitteilung davor gewarnt, Menschen in „unsichere und unwürdige Verhältnisse“ abzuschieben. Ich will an dieser Stelle auch auf den Osterappell 2010 verweisen, der vor Abschiebungen in den Kosovo warnt und eine humanitäre Aufenthaltsregelung für Roma aus dem Kosovo fordert. Wie bereits im Jahr 2000 haben sich unter anderem eine Reihe aktiver oder ehemaliger Abgeordneter fraktionsübergreifend gegen die Abschiebung von Roma gewendet, darunter Dr. Hermann Otto Solms, Professor Dr. SchwarzSchilling, Claudia Roth, Barbara Lochbihler und viele andere ({0}). Ich will daraus eine Passage zitieren, die mir besonders am Herzen liegt: „Deutschlands historische Verantwortung gegenüber den Roma kann sich nicht allein in historischen Gedenkveranstaltungen erschöpfen. Deutschland hat sich zur historischen Verantwortung für den Holocaust an den Juden bekannt und praktische Maßnahmen wie ausländerrechtliche Sonderregelungen in diesem Zusammenhang ergriffen; siehe zum Beispiel die gesetzliche Regelung für jüdische Kontingentflüchtlinge. Gegenüber den Roma scheint die historische Verantwortung in der Praxis keinerlei Niederschlag zu finden. Wie anders lässt es sich erklären, dass routinemäßig Roma und darunter auch Alte, Kranke, Kinder und Jugendliche jetzt in den Kosovo abgeschoben werden, ohne dass politisch Verantwortliche gegenüber solchen Maßnahmen Einhalt gebieten und unserer Verantwortung gegenüber den Roma gerecht werden?“ Diese Frage kann ich nur an jene weiterreichen, die sich hier im parlamentarischen Raum verweigern, unverantwortlichen Abschiebungen Einhalt zu gebieten und jede humanitäre und historische Verantwortung von sich weisen. Ich bin auf ihre Antworten in der weiteren parlamentarischen Beratung gespannt. Wir sollten uns alle klarmachen, welche vielleicht einmalige Chance sich uns als Bundestag bei diesem Thema bietet: Die Schuld, die Deutschland durch die systematische Ermordung von 500 000 Roma und Sinti auf sich geladen hat, ist niemals und durch nichts wiedergutzumachen. Aber wir haben die Chance - und meines Erachtens nach auch die Verpflichtung - einigen Tausend Roma-Familien, die seit Jahren unter uns leben, die Perspektive einer sicheren Zukunft ohne Angst und eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung und Arbeit zu geben. Schieben wir sie jedoch ab, bringen wir diese Menschen sehenden Auges in eine ausweglose Notlage, in existenzielle Armut und systematische Diskriminierung. Wir zerstören die Zukunft dieser Menschen, insbesondere der Kinder. Das wäre meines Erachtens unverantwortlich und historisch und moralisch gesehen ein großes Versagen des Deutschen Bundestages.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Antrag der Fraktion der Grünen greift die Forderungen von Bundestagsabgeordneten und Menschenrechtlern für einen Abschiebungsschutz von Roma und Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo auf. Zum 8. April, dem Internationalen Tag der Roma, hatten sie einen entsprechenden Aufruf an Bundesregierung und Bundesländer gerichtet. Zu den Unterstützern des Appells gehören neben den Initiatoren - Professor Dr. SchwarzSchilling, Claudia Roth, Rainer Eppelmann, KlausDieter Kottnik, Barbara Lochbihler, Dr. Hermann Otto Solms - etliche aktive und ehemalige Bundestagsabgeordnete, Vertreter von Flüchtlingsorganisationen, Kirchen- und Wohlfahrtsverbänden sowie Romani Rose, Bärbel Bohley, Hans Koschnick und weitere Prominente. Mit ihrem Appell fordern sie, den Roma-Flüchtlingsfamilien „endlich einen rechtmäßigen Aufenthalt aus humanitären Gründen zu erteilen und sie so vor einer Abschiebung zu schützen und von ihrer existenziellen Angst zu befreien”. Für Minderheitenangehörige - insbesondere für Roma aus dem Kosovo - galt bis Anfang 2009 aufgrund der Sicherheitslage für diesen Personenkreis im Kosovo ein faktischer Abschiebestopp, der durch die Innenministerkonferenz regelmäßig verlängert wurde. Trotzdem konnten die Roma aus dem Kosovo von den seit 2007 in Deutschland existierenden Bleiberechtsregelungen nicht profitieren. Durch die hohen Hürden zum Beispiel bei der Lebensunterhaltssicherung sind gerade Roma strukturell benachteiligt, da sie häufig viele Kinder haben und dadurch die geforderte wirtschaftliche Unabhängigkeit nur schwer erreichen können. In Deutschland droht circa 11 000 Personen aus dem Kreis der Roma, Ashkali und Ägypter die Abschiebung in das Kosovo. Viele der von Abschiebung Bedrohten sind hier aufgewachsen oder geboren; nur wenige konnZu Protokoll gegebene Reden ten von den bisherigen Bleiberechtsregelungen profitieren. Die beabsichtigte Abschiebung dieser Personen in das Kosovo ist unverantwortlich. Die Vorgehensweise steht in eklatantem Widerspruch zur tatsächlichen Situation der Roma im Kosovo. Wer heute Roma dorthin abschiebt, der weiß: Sie landen fast ausnahmslos in unzumutbaren Verhältnissen und sind auf sich alleine gestellt. Roma sind im Kosovo weiterhin Opfer massiver Diskriminierung. Ihr Zugang zu elementaren Lebenschancen ist faktisch verhindert. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, den seit langen Jahren in Deutschland lebenden Familien endlich ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen zu erteilen und die Rückführungspläne zu stoppen. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, hatte bereits im November 2009 in einem Schreiben an die Bundeskanzlerin zum Ausdruck gebracht, dass „die Zeit schlicht noch nicht reif ist für zwangsweise Rückführungen in das Kosovo, insbesondere von Angehörigen der Roma“, und hat Deutschland aufgefordert, von Zwangsrückführungen abzusehen, die das Leben und die persönliche Sicherheit der Rückkehrer ernsthaft gefährden. Bei der Vorstellung seines Jahresberichtes Ende April 2010 hat er diese Aufforderung an die europäischen Mitgliedstaaten wiederholt. Mit seiner Einschätzung steht Hammarberg nicht allein. Andere internationale Organisationen wie der UNHCR, die OSZE und UNICEF sowie Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen warnen weiterhin vor einer Diskriminierung und Verfolgung von Roma und anderen Minderheitenangehörigen im Kosovo. UNHCR spricht in seinem jüngsten Bericht davon, dass Angehörigen von Minderheitengemeinschaften weiterhin Opfer von tätlichen und verbalen Angriffen und Bedrohungen, Brandstiftungen, Einschüchterungen und Plünderungen sind. Neben der fragilen Sicherheitslage erst zwei Jahre nach der Unabhängigkeit des Kosovo stellt jedoch für Zwangsrückkehrer die prekäre wirtschaftliche und soziale Situation eine ernsthafte Bedrohung dar. Es gibt nach wie vor im Kosovo keine ausreichende Aufnahmeund Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder mittellose Rückkehrer. Davon konnte ich mich selbst Anfang April anlässlich einer Reise des Innenausschusses vor Ort im Kosovo überzeugen. Unterstützung gibt es weder von kosovarischen noch von internationalen Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig auf sich selbst gestellt bzw. auf Hilfe aus dem Familienverbund angewiesen. Roma und andere ethnische Minderheiten haben häufig keine Unterkunftsmöglichkeit und finden keine Arbeit. Die ohnehin nicht ausreichende Sozialhilfe muss an dem Ort beantragt werden, an dem die Person im Kosovo vor der Ausreise zuletzt ihren Wohnsitz hatte. Personen, die auf derartige Leistungen angewiesen sind, können sich also nicht frei an anderen Orten im Kosovo niederlassen. Die Bundesregierung hingegen verharmlost die Lage der Minderheiten im Kosovo - nicht nur in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen zu „Rückführungen in das Kosovo“ ({0}) zeigt erneut, dass sie die Warnungen internationaler Organisationen in den Wind schlägt. Stattdessen hat der Bundesinnenminister kürzlich das Rückübernahmeabkommen mit dem Kosovo erzwungen. Auf der Basis dieser Vereinbarung schieben die Bundesländer schon seit einiger Zeit auch Minderheitsangehörige nach Pristina ab. Dabei hält sich Deutschland nicht einmal an die dem Kosovo gegebenen Zusagen, sondern schiebt prozentual mehr Roma ab als vereinbart. In unserem Antrag fordern wir daher die sofortige Aussetzung der Abschiebungen von Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo und eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/784 und 17/1569 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Malczak, Omid Nouripour, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Wehrpflicht beenden - Drucksache 17/1431 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Agnes Malczak für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Obwohl die FDP die Argumente gegen die Wehrpflicht selber in ihr Bundestagswahlprogramm geschrieben hat, hat sie sich bei den Koalitionsverhandlungen auf einen durchsichtigen Kuhhandel mit der CDU/CSU eingelassen. Beim Koalitionsstreit um die Zukunft der Wehrpflicht soll der Weisheit letzter Schluss jetzt eine Verkürzung der Wehrdienstzeit auf sechs Monate sein. Davon dürften noch nicht einmal Sie selbst überzeugt sein. Die Kolleginnen und Kollegen der Liberalen haben ihren Frieden mit der Aufrechterhaltung eines längst überholten Zwangsdienstes erstaunlich schnell gemacht. Sonst nur für den Spruch „Ausstieg aus dem Ausstieg“ in Sachen Atompolitik bekannt, spricht Ihre Jugendorganisation plötzlich von einem Einstieg in den Ausstieg. ({0}) Wenn wir klare Worte finden wollen, dann müssen wir bei der Wehrdienstverkürzung von einem faulen Kompromiss sprechen. Durch die Verkürzung wird nämlich keines der Probleme der Wehrpflicht beseitigt. Im Gegenteil: Es werden damit sogar neue Probleme geschaffen. Beispiel Wehrungerechtigkeit: Auch nach Einführung des sechsmonatigen Wehrdienstes werden immer noch weniger als die Hälfte der jungen Männer eines Jahrgangs einen Pflichtdienst leisten müssen. Bei ihrer Lebensplanung und ihrem Ausbildungs- und Berufsweg sind sie gegenüber ihren männlichen und weiblichen Altersgenossen, die keinen Pflichtdienst leisten müssen, benachteiligt. Durch Ihre Reform werden pro Jahr 10 000 Männer mehr von der Wehrungerechtigkeit betroffen sein. Somit schaffen Sie nicht weniger, sondern sogar noch mehr Wehrungerechtigkeit. ({1}) Ihnen selbst scheint bewusst zu sein, dass Sie mehr Fragen aufwerfen als schlüssige Antworten liefern. Das jedenfalls würde Ihren anhaltenden Streit und das traurige Possenspiel erklären, das Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, aufgeführt haben, als Sie zeitgleich mit zwei völlig unterschiedlichen Konzepten für die Ausgestaltung der Wehrdienstreform an die Öffentlichkeit traten. ({2}) Mit Ihrem Hin und Her verunsichern Sie geradezu notorisch die jungen Männer, die beteiligten Institutionen und insbesondere die Soldaten und Soldatinnen. Das ist keine verantwortungsvolle Politik. ({3}) Auch Ihnen ist die Aussage von Roman Herzog aus dem Jahr 1995 bekannt, dass eine Regierung die - Zitat „Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes“ sicherheitspolitisch begründen können muss. Meine Damen und Herren der Koalition, genau diese sicherheitspolitische Begründung bleiben Sie schuldig. Sie haben die Entscheidung für die Beibehaltung der Wehrpflicht getroffen, ohne sich die wesentlichen Fragen zu stellen. Von Ihnen hätte ich, bevor Sie die Entscheidung über die Wehrform treffen, eine Antwort auf die folgenden Fragen erwartet: Was können unsere Streitkräfte leisten, und was sollen sie zukünftig leisten können? Erst im vergangenen Monat haben Sie die Bundeswehr-Strukturkommission eingesetzt. Mit Ihrer Entscheidung haben Sie diesem Gremium aber bereits ein Denkverbot erteilt. Die bestehende Wehrform soll nicht hinterfragt werden. Es wird deutlich: Die Entscheidung für die Beibehaltung der Wehrpflicht ist nicht in eine sicherheitspolitische Gesamtkonzeption eingebunden. Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben sich in den letzten Jahren deutlich verschoben. In den aktuellen Konfliktszenarien brauchen wir nicht mehr den klassischen Soldatentypus, den wir zur territorialen Landesverteidigung brauchten, sondern gut ausgebildete, gut ausgerüstete und hochspezialisierte Soldatinnen und Soldaten. Im Zusammenhang mit dem Bericht des Wehrbeauftragten haben wir heute über mangelnde Ressourcen und schlechte Ausrüstung, gerade bei Einsätzen, gesprochen. Daran möchte ich hier erinnern. Im Diskurs wird die Nachwuchswerbung oft als Argument für die Wehrpflicht ins Feld geführt. Rund 13 700 Euro veranschlagen Sie für jeden Grundwehrdienstleistenden. Bei derzeit 40 000 Grundwehrdienstleistenden sind das 548 Millionen Euro im Jahr. Der Website der Bundeswehr können wir entnehmen, dass sich jährlich rund 9 100 junge Männer nach ihrem Grundwehrdienst freiwillig länger verpflichten. Jede dieser Verpflichtungen kostet Sie folglich rund 60 000 Euro. Abgesehen davon, dass die Nachwuchsrekrutierung eine verfassungsrechtlich bedenkliche Begründung der Wehrpflicht ist, kann ich mir kaum eine unwirtschaftlichere Form der Nachwuchsgewinnung vorstellen. ({4}) Statt diese Wahlperiode mit dem Hin und Her über Modelle der verkürzten Pflichtdienste zu vergeuden, muss jetzt mit einem planvollen Ausstieg aus den Pflichtdiensten und dem massiven Ausbau der Freiwilligendienste begonnen werden. Dieser Paradigmen- und Systemwechsel darf nicht länger vertagt werden; denn er ist seit Jahren überfällig. Deshalb haben wir Grünen den Antrag gestellt, die Wehrpflicht abzuschaffen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Karl Lamers für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, die Wehrpflicht zu beenden, halte ich für falsch. Lassen Sie mich kurz darlegen, warum. Erstens hat sich die Wehrpflicht in mehr als fünf Jahrzehnten bewährt. Zweitens ist sie Ausdruck der persönlichen Mitverantwortung der Bürger für ein Leben in Frieden und Freiheit. Drittens ist sie ein Symbol für den gesellschaftlichen Konsens über die Landes- und Bündnisverteidigung. Außerdem verbindet die Wehrpflicht unsere Streitkräfte mit der Gesellschaft und verhindert Entfremdung und Abschottung von dieser. Die Wehrpflicht sichert 40 Prozent des Freiwilligen- und 30 Prozent des Führungsnachwuchses der Streitkräfte. Dies alles sind gute Gründe, warum wir auch in Zukunft an der Wehrpflicht festhalten wollen. Dr. Karl A. Lamers ({0}) Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Schaffung einer Freiwilligenarmee. Ja, meine Damen und Herren, Ihnen ist aber sicherlich bekannt, dass die Bundeswehr niemals eine reine Wehrpflichtarmee war, sondern schon immer aus einem Mix aus Grundwehrdienstleistenden, freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden, Reservisten sowie Berufs- und Zeitsoldaten bestand. ({1}) Genau dies garantiert bis heute eine hohe Professionalität unserer Streitkräfte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dieses erfolgreiche Modell ohne Not aufzugeben. Auslandseinsätze sind zu einer zentralen Aufgabe der Streitkräfte geworden. Grundwehrdienstleistende werden in solche Einsätze nicht entsandt. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie nun überhaupt nicht mehr gebraucht werden. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade heute werden unsere Wehrpflichtigen gebraucht, um zum Beispiel die Grundorganisation der Streitkräfte sicherzustellen, indem sie in der Heimat notwendige Aufgaben übernehmen. Gegen die Wehrpflicht führen Sie darüber hinaus die aus Ihrer Sicht angeblich ungenügende Ausschöpfung der Jahrgänge an. Wir alle sind uns einig: Wehrgerechtigkeit ist in der Tat ein hohes Gut. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. Januar 2005 und seinem Beschluss vom 26. Juni 2006 Kriterien dafür aufgestellt. Wehrgerechtigkeit ist demnach dann gewährleistet, wenn die Zahl derjenigen, die Wehrdienst leisten, der Zahl der Wehrdienstfähigen zumindest nahekommt. Fakt ist, dass heute wie auch in Zukunft der weitaus überwiegende Teil aller verfügbaren jungen Männer einen Dienst leistet. Ich gehe davon aus, dass W6 ein Beitrag zu mehr Wehrgerechtigkeit gerade in diesem Sinne ist. Meine Damen und Herren von den Grünen, in Ihrem Antrag sehen Sie eine Überforderung der Wehrdienstleistenden darin, diesen „die Verantwortung für die … Verzahnung von Bundeswehr und Gesellschaft aufzubürden“, wie Sie es ausdrücken. Ich sehe das anders: Wehrpflichtige leisten einen exzellenten Dienst und sorgen durch ständigen Personalaustausch dafür, dass die Bundeswehr ein lebendiger Teil von Staat und Gesellschaft ist. ({2}) Das ist doch keine Bürde und führt auch nicht zu Überforderung. Was die Innere Führung anbetrifft, auf die Sie in Ihrer Begründung abheben, hat dieses übergreifende Führungskonzept der Streitkräfte in der Tat prägend für das Selbstverständnis der gesamten Bundeswehr nach innen und außen gewirkt. Die Frage, ob Wehrpflicht heute noch sinnvoll ist oder nicht, lässt sich aber nicht mit dem Konzept der Inneren Führung beantworten. Das ist vielmehr eine politische Grundsatzentscheidung, die wir in diesem Hohen Hause treffen. Sie unterstellen den Wehrpflichtigen, dass ihre Qualifikationen für die Tätigkeiten in Deutschland nicht ausreichen. Wir sehen das anders. Gerade die Wehrpflichtigen brachten in der Vergangenheit und bringen auch heute noch berufliche Qualifikationen und Fertigkeiten mit, die die Bundeswehr für den Dienst in der Truppe sehr gut nutzen kann. Die Qualifikation unserer Wehrpflichtigen ist ein wesentlicher Grund für die Beibehaltung des Wehrdienstes. Wehrpflicht und Professionalität schließen sich nicht aus. ({3}) Die Koalition hat entschieden, den Grundwehrdienst auf sechs Monate zu verkürzen, beginnend mit dem 1. Oktober 2010. Wir bekennen uns damit auf der einen Seite zur Institution der Wehrpflicht, andererseits wollen wir die Belastung der jungen Generation durch das Abverlangen des Grundwehrdienstes so gering wie möglich halten. Wie bereits dargelegt, wird die Verkürzung des Grundwehrdienstes eine Verbesserung der Wehrgerechtigkeit mit sich bringen; denn natürlich haben wir bei sechs Monaten Dienstzeit einen höheren Personalbedarf als bei neun Monaten. Wir werden alles tun, dass unsere Wehrpflichtigen auch die verkürzte Grundwehrdienstzeit als positive Lebenserfahrung empfinden. Ich danke Ihnen, Herr Minister zu Guttenberg, dass Sie sich gerade dafür auch persönlich stark machen. ({4}) Wichtig ist in meinen Augen, dass die Grundausbildung durch eine Funktionsausbildung ergänzt wird, die sich sowohl an den Interessen der Wehrpflichtigen orientiert als auch gleichzeitig auf die Belange der Bundeswehr Rücksicht nimmt. Ich begrüße es, dass die Wehrpflichtigen nach erfolgter Ausbildung auf echten Funktionsdienstposten in der Truppe eingesetzt werden. Genau darum geht es: Wir wollen die Wehrpflichtigen in den normalen Organisations- und Truppenstrukturen der Streitkräfte halten. In der Teilstreitkraft Heer zum Beispiel ist geplant, Wehrpflichtige in Sicherungskompanien einzusetzen, angegliedert an Bataillone der Einsatzkräfte. Genau dies zeigt meines Erachtens sehr klar, dass die Wehrpflichtigen sinnvoll eingesetzt und dass sie gebraucht werden. Meine Damen und Herren, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Theodor Heuss, hat einmal in einer Rede festgestellt: „Die Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. ({5}) Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten an der Wehrpflicht fest, erstens, weil sie sich bewährt hat, und zweitens, weil sie auch heute sinnvoll ist. Ich danke Ihnen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nun hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Lamers, wenn man den „tobenden“ Beifall bei Ihrem Koalitionspartner sieht, ({0}) dann wird deutlich, dass diese Regierung kein Konzept für die Wehrpflicht hat. Es werden spannende Wochen, bis Sie die Wehrpflichtfrage geklärt haben. Ich will mich hier ausdrücklich bei den Grünen dafür bedanken, dass sie diesen Antrag vorgelegt haben. Auch ich persönlich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland keine Zwangsdienste mehr brauchen und dass die Wehrpflicht nicht mehr zeitgemäß ist. ({1}) - Ich kann die Aufregung der FDP in dieser Frage verstehen. Ich komme dazu gleich in meiner Rede. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass wir als Parlamentarier die Diskussion beginnen. Auch wenn man nicht allen Punkten im Antrag der Grünen zustimmen kann, so muss man doch festhalten: Im Gegensatz zur Regierung haben die Grünen hier wenigstens ein Konzept vorgelegt, und das ist ein vernünftiger Schritt. ({2}) Die Wehrpflicht ist ein Thema, das wir gesellschaftlich und politisch kontrovers diskutieren. Auch ich bin mir bewusst, dass in der letzten Legislaturperiode auch Kollegen meiner Partei hier vorne gestanden und für die Wehrpflicht geredet haben. Wir haben das auch innerhalb der SPD sehr kontrovers diskutiert. Wir Sozialdemokraten sind uns aber einig, dass nicht mehr der Zwang, sondern die Freiwilligkeit im Vordergrund stehen muss. Vor allem sagen wir Sozialdemokraten: Wir brauchen eine Entscheidung, die langfristig trägt. Die Bundeswehr braucht eine grundlegende Entscheidung, die langfristig trägt. Deswegen brauchen wir einen politischen Konsens, der vom Militär nicht nur akzeptiert wird, sondern der vom Militär auch unterstützt wird. Wir brauchen vor allem einen politischen Konsens, der sich auf mehr als auf die Regierungsmehrheit beruft. Ich bin überzeugt: Wir brauchen den besten Nachwuchs für unsere Armee, für eine Armee, die sich immer größeren Herausforderungen stellen muss. Die Anforderungen an unsere Soldaten werden immer größer. Viele wollen auch freiwillig den Dienst in der Bundeswehr leisten. Durch eine Erhöhung der Attraktivität, durch verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten und durch eine gesellschaftliche Anerkennung, die endlich dem Soldatenberuf gerecht wird, werden wir es schaffen, dass auch diejenigen freiwillig zur Bundeswehr gehen, die wir für die Armee brauchen. ({3}) Um das zu schaffen, brauchen wir als Parlament aber endlich den Mut, einen großen Schritt zu machen, eine wirkliche Reform zu verabschieden. Wir brauchen als Parlament den Mut, endlich den Wandel der Bundeswehr hin zu einer Freiwilligenarmee in die Wege zu leiten. ({4}) Herr Lamers, Sie haben die Wehrgerechtigkeit angesprochen. ({5}) Ich sehe ein Problem bei der Wehrpflicht mit der Wehrgerechtigkeit und möchte etwas zitieren: Derzeit müssen von durchschnittlich 420 000 jährlich zur Verfügung stehenden Männern lediglich 70 000 der Wehrpflicht nachkommen … Insgesamt leisten jährlich nur rund 175 000 Männer einen Pflichtdienst ({6}), während 245 000 … ihre zivile Lebensplanung nicht für neun Monate unterbrechen müssen. Ich kann für diese Zahlen keine Garantie übernehmen; sie sind aus dem Jahr 2006 und per Copy und Paste in meinen Redetext von einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion vom 18. Januar 2006 gekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, glauben Sie wirklich, dass Sie mit dem W6-Kompromiss die von Ihnen angeprangerte Wehrungerechtigkeit beseitigen? Nach all dem, was man bisher gelesen hat, ist W6 ein bisschen Herumdoktern am Problem der Wehrgerechtigkeit, aber keine Lösung dieser Probleme. Es ist ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer Ungerechtigkeit. Deswegen will ich es hier so deutlich sagen: Wer jahrelang die Fahne der Abschaffung der Wehrpflicht hochhält und dann gerade mal so einen Kompromiss erreicht, der sollte hier nachher mal erklären, wie er denn zu diesem W6-Modell steht. Ich bin gespannt auf Ihre Rede, Herr Spatz. ({7}) Die Wehrgerechtigkeit ist aber nur ein Aspekt von vielen. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel darüber diskutiert, dass die Armee die beste Ausstattung braucht und dass wir als Parlament der Armee auch mit auf den Weg geben müssen, was sie braucht. Wir waren uns einig, dass wir mehr auf die Soldaten hören sollten. Da muss doch am Anfang die Frage nach der sicherheitspolitischen Relevanz einer Wehrpflicht stehen. Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflicht nicht zu rechtfertigen. In einer Welt, die immer schneller wird, die immer mehr zusammenwächst, in einer globalisierten Welt, in der die Gefahren nicht mehr an den Landesgrenzen lauern, sondern am Hindukusch oder am Horn von Afrika, können wir auf die Wehrpflicht sicherheitspolitisch verzichten. Diese Legitimation greift nicht mehr. Auch hier will ich ein Zitat bringen: Die äußere Sicherheit Deutschlands und der Bündnisstaaten ist aber nicht durch konventionelle Angriffe bedroht, auch nicht nach den Attentaten vom 11. September 2001. Die frühere Landesverteidigung ist heute ausschließlich als Bündnisverteidigung zu begreifen. Die NATO fordert auch deshalb von Deutschland keine Wehrpflichtarmee, sondern Streitkräfte, die gut ausgebildet, modern ausgerüstet, voll einsatzbereit und schnell verlegbar sind. Dafür benötigt die Bundeswehr keine Grundwehrdienstleistenden. Auch das ist aus dem Antrag der FDP vom Jahr 2006. Ich freue mich darauf, dass Sie gleich erklären werden, was Sie erreicht haben, ({8}) und kann Ihrer sicherheitspolitischen Begründung nichts mehr hinzufügen. Die Wehrgerechtigkeit und die sicherheitspolitische Relevanz sind zwei Argumente, die nicht mehr im Einklang mit der Wehrpflicht stehen. Auch die Integration der Bundeswehr dient ja immer wieder als Argument für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Herr Lamers, Sie haben es gerade auch erwähnt. Aber ich sage, wir müssen an dieser Stelle der Realität in die Augen schauen. Erstens. Schon heute erreichen wir mit der Wehrpflicht nicht mehr alle männlichen Bürger, unabhängig von Herkunft, Beruf oder Bildung, und wir erreichen schon heute nicht mehr das gesamte Spektrum, das in der Gesellschaft vorhanden ist, und integrieren es in die Bundeswehr. Zweitens würden wir die Wehrdienstleistenden schlichtweg überfordern, wenn wir sie mit der gesellschaftlichen Integration der Bundeswehr beauftragen würden. Ich sage, die Bundeswehr ist heute schon wesentlicher integrierter Bestandteil dieser Gesellschaft. Ich komme aus Munster - das ist der größte Heeresstandort Deutschlands -, und da erlebe ich jeden Tag, wie die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft funktioniert. Ich sehe Soldaten, die in Vereinen, in Elternbeiräten, bei der Freiwilligen Feuerwehr und - auch das kann ich sagen - sogar im SPD-Ortsverein perfekt integriert sind. Deswegen muss es uns zwar darauf ankommen, den Soldaten als Staatsbürger in Uniform zu stärken, aber wir dürfen keine Scheindebatten führen. Wenn ich höre, dass man so argumentiert, dass die Wehrdienstpflichtigen die Integration der Bundeswehr leisten sollen, dann entgegne ich ganz klar: Ich habe genauso viel Vertrauen darauf, dass diejenigen, die freiwillig ihren Dienst leisten, oder diejenigen, die Berufssoldaten sind, genau diese Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft leisten können. Lassen Sie uns also keine Scheindebatten an dieser Stelle führen. ({9}) Das heißt aber nicht, dass wir bei dieser Integration nicht noch vieles verbessern können. Wir haben vorhin den Wehrbeauftragten verabschiedet, wir haben den neuen begrüßt. Das ist eine ganz wichtige Institution, die wir haben, um die Bundeswehr in die Gesellschaft zu integrieren. Wir haben die Innere Führung, die wir stärken müssen, und ich sage, wir müssen auch dringend wieder stärker über den Staatsbürger in Uniform reden. Ich hätte mir in den letzten Wochen gewünscht, dass wir mehr Soldaten haben, die sich auch in die gesellschaftlichen und politischen Debatten einmischen, die stärker ihr Wort erheben und auch deutlich machen, wo eigentlich Missstände und wo Mängel bei der Armee sind. Das nehmen wir als Politiker dann auf. An dieser Stelle will ich noch einmal aus dem Antrag der FDP aus dem Jahr 2006 zitieren: Deshalb ist der Vollzug der Allgemeinen Wehrpflicht so schnell wie möglich auszusetzen und der Planungsprozess des Umbaus der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee unverzüglich zu beginnen. Sie sagen in diesem Antrag deutlich, dass die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft schon umgesetzt ist. Dieses Argument kann also nicht dazu dienen, die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich kann ja verstehen, dass man in einer Koalition Kompromisse aushandeln muss. Das haben wir Sozialdemokraten an vielen Stellen erleben müssen. Aber wenn der Kompromiss in einem Modell besteht, das keiner versteht, das keiner akzeptiert und das hinter verschlossenen Türen keiner trägt, dann frage ich mich schon, ob Sie die Situation mit dem Modell W6 nicht noch verschlechtern. Von der Bundeswehr wird dieser Kompromiss nicht akzeptiert. Die Truppe setzt natürlich um, was die Politik beschließt. Aber Sie führen wahrscheinlich genauso wie ich dieselben Vieraugengespräche mit Soldaten, in denen Sie erfahren, dass die Truppe mit diesem Beschluss nicht zufrieden ist. Deswegen bitte ich Sie, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken. Wir Sozialdemokraten haben den Koalitionsfraktionen angeboten, gemeinsam ein Modell zu finden, das langfristig trägt und das gesellschaftlich trägt. Was Sie hier auf den Weg bringen wollen, hat nur eine geringe Halbwertzeit. Ich sage Ihnen, es wird sehr schnell vom Tisch sein. Deshalb noch einmal das Angebot von uns Sozialdemokraten: Lassen Sie uns gemeinsam ein Modell finden, das der sicherheitspolitischen Relevanz gerecht wird und das eine gesellschaftliche Akzeptanz findet! W6 kann dieses Modell nicht sein. Deswegen werden wir Ihrem Modell nicht zustimmen, sobald Sie es in den Bundestag einbringen. Nutzen Sie die Chance, eine politische Mehrheit zu finden, die über Ihre eigenen Fraktionen hinausgeht. Vielen Dank fürs Zuhören. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Elke Hoff das Wort. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Klingbeil, ich glaube, dass Sie sich bei der Bewertung der Verständlichkeit des Modells in der Hausnummer geirrt haben. Ich kann mich nämlich sehr gut daran erinnern, dass das Modell, das von Ihrer Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegt worden ist, von allen nur sehr schwer nachzuvollziehen war. Ich habe es, offen gesagt, bis heute noch nicht verstanden. ({0}) Was die Koalition vorlegt, ist ein Kompromiss. Die Verkürzung der Wehrpflicht auf sechs Monate ist ein Schritt, mit dem es beiden Partnern gelungen ist, eine solide Nachwuchsgewinnung, die diese Armee so dringend braucht, für die Zukunft auf den Weg zu bringen. ({1}) Aufgrund Ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit wissen auch Sie: Bei einem Kompromiss finden sich beide Partner nicht zu 100 Prozent wieder. Aber wir wissen genau, dass in der Vergangenheit bei der Bewertung der Wehrpflicht gerade aus der von Ihnen zitierten Truppe sehr häufig die Beschwerde kam, dass aufgrund einer langen Wehrdienstdauer eine Art Gammeldienst entstanden ist, dass viele Wehrpflichtige nicht so recht wussten, was sie mit der verbleibenden Zeit nach der Grundausbildung anfangen sollten. Unser Ziel ist es, den jungen Männern in Form des sechsmonatigen Wehrdienstes die Möglichkeit zu eröffnen, in einer angemessenen Zeit einen Zugang zur Truppe zu finden, damit sie danach die Entscheidung treffen können, ob sie dabeibleiben wollen oder nicht. Wir werden sehen, wie sich die Ergebnisse nach vier Jahren im Einzelnen darstellen werden. Meine Fraktion hat mit besonderem Nachdruck vorgetragen, dass die Ausgestaltung des Wehrdienstes eine große politische Herausforderung sein wird. Meine Fraktion hat diesbezüglich Vorstellungen entwickelt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, mit dem wir diesen Kompromiss geschlossen haben, auch bei der Ausgestaltung des Wehrdienstes einen Weg finden werden, der zu einem Erfolgsmodell werden wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass wir dann, wenn die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen sind, dieses Modell umsetzen werden. Dass meine Partei programmatisch nach wie vor eine andere Auffassung vertritt, ist dadurch selbstverständlich nicht außer Kraft gesetzt. Aber jeder von uns weiß, dass die Kunst in der Politik darin liegt, das Machbare zu finden. Wir sind der Überzeugung, dass wir hier einen Weg zu mehr Professionalität auch in der Bundeswehr gefunden haben. ({2}) Der Erfolg wird jetzt in hohem Maße davon abhängen, ob wir es schaffen, dass sich die Strukturen innerhalb der Bundeswehr darauf einstellen können. ({3}) Wir müssen vor allen Dingen verhindern, dass es durch eine große Anzahl von Wehrpflichtigen zu einer Überforderung der Truppenstrukturen kommt. Stattdessen müssen wir dafür sorgen, dass die Anzahl der Wehrpflichtigen angemessen ist und dass sie wirklich ausgebildet werden können. Das müssen wir jetzt gemeinsam auf den Weg bringen. Ein Thema, das in diesem Zusammenhang noch zu klären ist, ist - das ist kein Geheimnis - die Ausfüllung des Wehrersatzdienstes. Aber auch hier sind wir auf einem guten Weg, gemeinsam mit dem Koalitionspartner einen Kompromiss zu finden. ({4}) Insofern bin ich völlig unbesorgt, dass wir für unsere Wehrpflichtigen ein attraktives Angebot schaffen werden. Der Bundesverteidigungsminister hat hier klar signalisiert, dass es bei einer Beibehaltung der Wehrpflicht auch sein Anliegen ist, dafür Sorge zu tragen, dass die Voraussetzungen geschaffen werden, dass unsere jungen Männer in einer möglichst kurzen Zeit, aber mit einer möglichst qualifizierten Ausbildung eine Entscheidungsgrundlage für eine zukünftige Verpflichtung an die Hand bekommen. Deswegen ist es unser Anliegen, dafür zu sorgen, dass die jungen Männer in möglichst viele Bereiche der Bundeswehr, auch in den Teilstreitkräften, einen Einblick bekommen, damit sie am Ende ihres Wehrdienstes fundiert entscheiden können, zu welcher Teilstreitkraft sie wollen. Dass das wirklich möglich ist, wird sehr stark davon abhängen, wie wir das jetzt ausgestalten. ({5}) - Ich glaube, der Kollege Nouripour hat eine Frage.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nouripour?

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Hoff, nachdem der Minister es vorhin abgelehnt hat, auf mein Angebot der Wette einzugehen, dass die Wehrpflicht wahrscheinlich zum 1. Oktober nicht so kommen wird, wie er angekündigt hat, frage ich Sie: Sind Sie bereit, uns mitzuteilen, ob das der Fall ist? Wird die Reform der Wehrpflicht zum 1. Oktober in Kraft treten, wie vom Minister angekündigt?

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir anstreben, die sechsmonatige Wehrpflicht zum 1. Januar 2011 einzuführen. Ich habe zum jetzigen Zeitpunkt keinen Zweifel daran, dass dies der christlichliberalen Koalition auch gelingen wird. Alles andere, lieber Kollege Nouripour, wäre Kaffeesatzleserei, an der ich mich in diesem Hause nicht beteilige. Die Verhandlungen sind auf einem guten Wege. Deswegen greift eigentlich Ihr Antrag ein wenig zu kurz. Er wird, auch vor dem Hintergrund des Ziels, das Sie damit erreichen wollten, viel zu früh gestellt. ({0}) Aber ich kann Sie beruhigen: Die Verhandlungen sind auf einem guten Wege. ({1}) Ich gehe davon aus, dass beide Koalitionspartner die entsprechenden Voraussetzungen schaffen werden. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, dass alles Nötige gesagt worden ist. Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes werden wir über die Ausgestaltung und den Erfolg von W6 noch einmal in aller Breite diskutieren können. Heute geht es darum, über den von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Antrag zu entscheiden. Fakt ist, lieber Kollege Nouripour, dass wir diesem Antrag auch in der vergangenen Legislaturperiode nicht hätten zustimmen können, weil meine Fraktion nie für eine Abschaffung der Wehrpflicht, sondern immer für eine Aussetzung der Wehrpflicht eingetreten ist. Insofern haben wir schon in der Vergangenheit die Dinge immer auf unterschiedlichen Pfaden verfolgt. Aber warten Sie ab! Wir werden mit W6 eine vernünftige Lösung auf den Weg bringen. Vor allen Dingen werden wir einen Beitrag dazu leisten, dass der Bundeswehr die qualifizierten Soldaten zur Verfügung stehen, die sie in Zukunft braucht. Dass wir gemeinsam die Strukturen darauf ausrichten werden, darauf können Sie sich verlassen. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf die nächste Debatte, wenn der Gesetzentwurf in diesem Hohen Hause eingebracht wird. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Harald Koch ist nun der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Antrages von Bündnis 90/Die Grünen bringt es auf den Punkt: „Wehrpflicht beenden“. Die Linke fordert, die Wehrpflicht mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Dafür gibt es mehr als nur einen Grund: Erstens. Die Wehrpflicht ist ein Zwangsdienst, durch den immer Grund- und Bürgerrechte eingeschränkt und zum Teil aufgehoben werden. ({0}) Dieser übermäßige Eingriff in die Lebensplanung und das Selbstbestimmungsrecht junger Menschen muss ein Ende haben. ({1}) Man kann nicht einerseits die Bedeutung von Bildung hervorheben und andererseits Menschen durch Verzögerungen bei Ausbildung und Studium deutlich benachteiligen. Zweitens. Die Umsetzung der Wehrpflicht, im Speziellen der Auswahlprozess, ist willkürlich und ungerecht. Nur etwa 15 Prozent eines Jahrgangs leisten den Grundwehrdienst; mehr als 50 Prozent der Wehrpflichtigen leisten weder Grundwehrdienst noch Zivildienst. Es ist doch blauäugig, zu denken, dass eine Verkürzung der Dienstzeit auf sechs Monate daran grundlegend etwas ändern würde. Da im Zivildienst etwa dreimal so viele Dienstposten zur Verfügung stehen, werden Kriegsdienstverweigerer mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit zum Zivildienst einberufen als die Nichtverweigerer zum Grundwehrdienst. In Anbetracht der derzeitigen Haushaltslage wäre die komplette Abschaffung der Wehrpflicht auch kostengünstiger als die Verkürzung der Dienstzeit. Ungleichbehandlung ist an der Tagesordnung; Wehrgerechtigkeit gibt es schon seit langem nicht mehr - ein Grund mehr, die absolut ungerechte und überflüssige Wehrpflicht abzuschaffen. ({2}) Drittens. Die einzige Aufgabe der Wehrpflicht ist es heute, auf praktische, wenn auch sehr teure Art und Weise Nachwuchs zu gewinnen. Das ist verfassungsrechtlich nicht gewollt; das wird die Linke nicht hinnehmen. ({3}) Viertens. Ob Schwarz-Gelb, die Große Koalition oder Rot-Grün: Bei allen war Sozialabbau Regierungsprogramm. Der Sozialstaat wurde unaufhörlich geschleift. Der durch die Wehrpflicht begründete Zivildienst, der schon längst Regel- statt Ersatzdienst ist, macht junge Menschen zu unterbezahlten Lückenbüßern in einem Sozialsystem, das vorher bewusst und wissentlich finanziell ausgetrocknet wurde. Dass das Gebot der Arbeitsmarktneutralität des Zivildienstes reine Makulatur ist, sieht man zum Beispiel im Pflegebereich, wo reguläre Arbeitsplätze ersetzt und verdrängt werden. Zivildienstleistende übernehmen oft Tätigkeiten, die eigentlich von ausgebildeten Fachkräften ausgeübt werden müssten. Ihr Einsatz führt dazu, dass die Schaffung besserer Arbeits3940 bedingungen und die Durchsetzung höherer Löhne für Beschäftigte im Sozialbereich erschwert wird. Die Linke fordert: Es muss endlich aufhören, dass Zivildienstleistende im sozialen Bereich als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Diese Lohndrückerei im Sozial- und Gesundheitswesen lehnen wir ab. ({4}) Wir brauchen in erster Linie mehr tariflich entlohnte, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Pflege- und Gesundheitsbereich. ({5}) Wir brauchen dafür auch einen starken öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor. Daneben müssen Jugendfreiwilligendienste gestärkt werden, sodass jeder, der sich dort freiwillig engagieren möchte, dies auch tun kann. Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement braucht insgesamt Stärkung, Förderung und sozial gerechte Rahmenbedingungen. Es ist eine wichtige soziale Zugabe, darf aber nicht die Schaffung regulärer Arbeitsplätze verhindern. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Wehrpflicht schützt nicht vor Krieg, sondern behindert grundsätzliche Abrüstungsschritte bei der Bundeswehr und erleichtert somit die Fortführung bewaffneter Konflikte. Sie ist ein Auslaufmodell und wird keineswegs für die Landesverteidigung gebraucht. Deshalb: weg mit der Wehrpflicht! Schluss mit allen Zwangsdiensten! Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Einberufung zum Wehrdienst ist ein gravierender Eingriff in die Freiheit und den Lebenslauf eines jungen Menschen. Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er der Bewahrung der äußeren Sicherheit unseres Landes dient. ({0}) Erst in zweiter Linie können andere Argumente wie die Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft, die Nachwuchsgewinnung oder die Kosten als Begründung für die Beibehaltung oder auch für die Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht angeführt werden. Der Zivildienst, die Frage der Wehrgerechtigkeit oder die Situation in anderen Ländern sind keine Argumente für die grundsätzliche Entscheidung über die Beibehaltung oder die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland. Wir sind es den jungen Männern, die ihren Wehrdienst oder Ersatzdienst ableisten, schuldig, regelmäßig zu überprüfen, ob ihr Dienst sicherheitspolitisch weiterhin begründbar ist. Diesem zentralen Punkt, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, widmen Sie in dem vorliegenden Antrag genau zwei Sätze. Ich zitiere: Die Aufgabenschwerpunkte der Bundeswehr haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verschoben. Nicht mehr die territoriale Landesverteidigung, sondern die Teilnahme an UN-mandatierter multilateraler Krisenbewältigung ist für die Bundeswehr heute strukturbestimmend. Diese bloße Feststellung der momentanen Situation wird der Bedeutung dessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich die Aussetzung und damit faktisch die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland, in keinster Weise gerecht. Sie brauchen nur in die jüngere Geschichte unseres Landes zu blicken, um zu erkennen, dass sich solch eine Situation auch einmal ändern kann. In den letzten 30 Jahren haben sich etwa alle zehn Jahre die sicherheitspolitische Weltlage und damit auch die Anforderungen an die Bundeswehr grundlegend verschoben. In den 80er-Jahren steckten wir noch mitten im Kalten Krieg. Die Bundeswehr war auf diesen Ost-WestKonflikt hin ausgerichtet. Dann kam, für viele überraschend, der 9. November 1989 und der Fall des Eisernen Vorhangs. Eineinhalb Jahre später begann der Krieg auf dem Balkan. Damit ergaben sich eine vollkommen neue sicherheitspolitische Lage in Europa und, damit verbunden, auch ganz neue Einsatzaufgaben für die Bundeswehr. Dann kam, wieder überraschend, der 11. September 2001, der uns in schrecklicher Art und Weise die wachsende asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Terrorismus vor Augen geführt hat. Diese Bedrohung bestimmt unsere Einsätze heute. Keine dieser grundlegenden Verschiebungen hat sich jeweils zehn Jahre zuvor abgezeichnet, und so wissen wir heute auch nicht genau, welchen Aufgaben sich die Bundeswehr im Jahr 2020 stellen muss. ({1}) Es ist wahrscheinlich, dass sich die Einsätze weiter schwerpunktmäßig im Ausland abspielen werden. Das Argument, die Wehrpflicht müsse deshalb abgeschafft werden, weil im Ausland keine Grundwehrdienstleistenden eingesetzt werden könnten, sticht allerdings nicht. ({2}) Die Wehrpflichtigen entlasten unsere Zeit- und Berufssoldaten von vielen Aufgaben im Inland und leisten wichtige Unterstützung bei der Einsatzvor- und -nachbereitung. ({3}) Unabhängig davon, was wir aus heutiger Sicht für wahrscheinlich erachten, ist eine Armee immer auch ein Schutz gegen Unwahrscheinliches. Gewiss, es ist Gott sei Dank im Moment kein Szenario vorstellbar, in dem wir unsere Bundeswehr zur Landes- oder Bündnisverteidigung einsetzen müssten. Aber trotzdem wollen wir uns die grundsätzliche Fähigkeit dazu erhalten. Hierfür brauchen wir nicht nur gut ausgebildete Spezialisten für Einsätze im Ausland, sondern auch eine größere Zahl von Reservisten, auf die wir im Krisenfall zurückgreifen können. Die Zahl der ausgebildeten Reservisten würde bei einer Aussetzung der Wehrpflicht jedoch drastisch schrumpfen. Bei all dem, was wir in den vergangenen fünf Jahrzehnten an sicherheitspolitischen Veränderungen erleben durften und erleben mussten, hat sich die Struktur der Bundeswehr mit genau dieser Mischung aus Zeit- und Berufssoldaten, ergänzt durch Grundwehrdienstleistende und Reservisten, hervorragend bewährt. Ich sehe im Moment keinen Grund, von dieser grundsätzlichen Struktur abzurücken. Nichtsdestotrotz müssen wir uns ständig fragen, wie wir diese Struktur angesichts neuer Anforderungen und Aufgaben weiter verbessern können. Für mich gelten bei der Wehrpflicht dabei folgende Leitlinien: Der Dienst muss sowohl für die Truppe als auch für den Einzelnen sinnvoll ausgestaltet sein. Gleichzeitig soll die Dauer des Pflichtdienstes auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben. Die Verkürzung auf sechs Monate ist daher nicht als Einstieg in den Ausstieg zu verstehen. Es ist ein Auftrag an die Bundeswehr, die Ausbildung und den Einsatz der Wehrpflichtigen weiter zu optimieren. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unterstützen wir die Bundeswehr bei diesem Auftrag, einen für die Gesellschaft und den Einzelnen sinnvollen Dienst anzubieten! Auch das sind wir den jungen Männern schuldig, die diesen Dienst für uns ableisten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1431 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gunkel, Lothar Binding ({1}), Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru verankern - Drucksachen 17/883, 17/1545 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Wolfgang Gunkel Marina Schuster Annette Groth Volker Beck ({2}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unab- hängigkeit Lateinamerikas solidarisch un- terstützen - zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klimaschutz und gerechten Handel mit La- teinamerika und der Karibik voranbringen - Drucksachen 17/1403, 17/1419, 17/1608 - Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Sascha Raabe Harald Leibrecht Heike Hänsel Thilo Hoppe c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Annette Groth, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen - Freihandelsabkommen EU-Kolum- bien stoppen - Drucksachen 17/1015, 17/1546 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Wolfgang Gunkel Marina Schuster Annette Groth Tom Koenigs Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Anette Hübinger, Michael Frieser, Wolfgang Gunkel, Harald Leibrecht, Heike Hänsel und Hans- Christian Ströbele.1) Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 18 a. In seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/1545 empfiehlt der Ausschuss 1) Anlage 7 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/883 mit dem Titel „Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru veran- kern“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 18 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 17/1608. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1403 mit dem Titel „VI. EU-Lateiname- rika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zwei- ten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unter- stützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 18 b. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus- schuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1419 mit dem Titel „Klimaschutz und gerechten Handel mit La- teinamerika und der Karibik voranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD-Frak- tion. Tagesordnungspunkt 18 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Menschenrechte in Kolumbien auf die Agenda setzen - Freihandelsabkommen EU-Kolumbien stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1546, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1015 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD- Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 5: ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle BND-Akten zum Thema NS-Vergangen- heit offenlegen - Drucksache 17/1556 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Interfraktionell wurde vereinbart, die Reden zu Pro- tokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden folgender Kollegen: Clemens Binninger, Michael Hartmann, Hartfrid Wolff, Jan Korte und Wolfgang Wieland.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1556 an den Innenausschuss vorgeschlagen. - Sie sind, wie ich sehe, damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kernfusionsforschung kritisch überprüfen ITER-Vertrag kündigen - Drucksache 17/1433 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hier ist in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan Kaufmann, René Röspel, Dr. Martin Neumann ({6}), Dr. Petra Sitte und Sylvia KottingUhl.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist ein neuer- liches Beispiel für die fast irrationale Technologiefeind- lichkeit der Grünen. Lassen Sie mich Ihnen erläutern, warum. Noch in diesem Jahrhundert wird der weltweite Strombedarf etwa auf das Sechsfache des heutigen Be- darfs ansteigen. Der von den Experten prognostizierte Bedarf an Energie ist mit keiner heute bekannten Tech- nik zu decken. In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass die Kernfusion bei einer voraussichtlichen Realisierung im Jahre 2050 mit ihrem unbestreitbaren Beitrag zum Kli- maschutz zu spät komme. Dabei blenden Sie den stetig wachsenden Energiebedarf schlicht aus. Die Fusionskernkraft ist eine saubere Energieform. Wir dürfen daher die Kernfusion - anders als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen in Ziffer 3 Ihres Antrags - nicht gegen die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei der Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissio- nen. Auch das Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle stellt sich im Gegensatz zur Kernspaltung nicht - oder jedenfalls in weit abgeschwächter Form. Mit Ihrer Behauptung, die Menge radioaktiven Inventars sei in Fusionsreaktoren etwa genauso hoch wie in Kernspal- tungsreaktoren, wird fälschlicherweise eine Vergleich- barkeit der Entsorgungsprobleme von Ihnen unterstellt. Lassen Sie mich Ihnen erläutern, warum die Endlage- rungsproblematik nicht vergleichbar ist. Die Eigen- schaften des Abfalls sind sehr verschieden. Wie intensiv die Aktivierung im Fall der Fusion ausfällt, hängt stark 1) Anlage 8 von den benutzten Materialien ab, lässt sich also beeinflussen. Im Falle der Kernspaltung ist dies anders. Dort ist die anfallende Radioaktivität durch die Spaltprodukte naturgesetzlich mit der erzeugten Energie verknüpft und entsteht zwangsläufig. Daher werden für die Fusion spezielle Materialien - beispielsweise für die Ummantelung mit niedrigem Aktivierungspotenzial entwickelt. Die Halbwertszeiten der wesentlichen Fusionsrückstände sind damit bedeutend kleiner. Man rechnet nach heutigem Kenntnisstand mit ein bis fünf Jahren gegenüber 100 bis 10 000 Jahren im Fall der Kernspaltung. Das biologische Gefährdungspotenzial der Fusionsabfälle klingt rasch ab und ist im Vergleich zu Spaltabfall nach 100 Jahren um mehr als das Zehntausendfache geringer. Etwa die Hälfte des Fusionsabfalls kann - je nach Materialauswahl - nach einer Wartezeit von 100 Jahren uneingeschränkt freigegeben werden. Das übrige Material könnte rezykliert und in neuen Kraftwerken wiederverwendet werden. Die Fusionsenergie verspricht vor diesem Hintergrund gegenüber den bekannten Energiequellen derart große Vorteile, dass sich alle Anstrengungen lohnen, ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn man das Projekt als Ganzes noch als großes Experiment betrachten mag. In den letzten fünf Jahrzehnten wurde enorm viel wertvolle Forschungsarbeit im Bereich der Kernfusion geleistet. Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe - Deuterium und Lithium, aus denen im Kraftwerk Tritium hergestellt wird - sind nahezu überall auf dieser Welt vorhanden; der Vorrat ist nach menschlichen Maßstäben unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine extrem hohe Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig Fläche verbraucht. Klimatische Schwankungen haben - wie auch bei der Kernspaltung - keinerlei Einfluss auf die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie der Großindustrie. Vor dem Hintergrund all dessen müssen wir ITER eher voranbringen als beenden. ITER eröffnet zudem große Chancen sowohl für die deutsche Industrie wie auch für unsere Forschungslandschaft. Für den Bau von ITER sind industriell großmaßstäbliche Beiträge aus den Bereichen Bauingenieurwesen, Maschinenbau, Elektrotechnik und Kerntechnik erforderlich, die unter völlig neuartigen Bedingungen miteinander kombiniert werden - ich zitiere insoweit aus der jüngsten Mitteilung der Europäischen Kommission zu ITER vom 4. Mai 2010 -, Bereiche also, in denen wir traditionell gut aufgestellt sind und schon viel Know-how mitbringen. Deutschland als größter europäischer Partner des Projekts könnte daher in Wissenschaft und Technologie rund um das Projekt auf internationaler Ebene eine Führungsrolle übernehmen, und unsere Unternehmen könnten langfristig von ITER profitieren. So haben sich bereits zwei deutsche Unternehmen am Standort des ITER im Raum Cadarache angesiedelt. 5 von 16 interessierten Unternehmen haben Aufträge bei Ausschreibungen von „Fusion for Energy“ erhalten. Dabei sind 28 Prozent der Vergaben als Aufträge an die deutsche Industrie zurückgeflossen. Seit einem halben Jahrhundert wird an der Kernfusion gearbeitet. Anfangs sind die Experten von etwa zehnmal kleineren Fusionskraftwerken ausgegangen als jenem, das heute vor der Realisierung steht. Man hat also durch wissenschaftlichen Fortschritt vieles erreicht. Zwischenzeitlich kamen allerdings erschwerend auch höhere Qualitätsanforderungen und verteuerte Rohstoffpreise hinzu. All dies hat zu erheblichen Kostensteigerungen geführt. Diese Kostenentwicklung des ITER-Projektes ist nicht nur vor dem Hintergrund der schwierigen Haushaltslage praktisch aller der im Rahmen von Euratom beteiligten Staaten problematisch. Es müssen daher nochmals alle Möglichkeiten zur Kosteneinsparung ausgelotet werden. Der Bundesregierung obliegt es, die Kontrolle über die Ausgabenentwicklung und damit auch über die Aktivitäten der internationalen ITER-Organisation auszuüben. Im Bereich der Verwaltung von ITER durch das gemeinsame Unternehmen „Fusion for Energy“ liegt doch einiges im Argen - wie nicht zuletzt der Rücktritt des Direktors offenbart hat. Denn eines ist auch klar: ITER kann es nicht um jeden Preis geben. Vor allem aber darf ITER nicht zu einem Fass ohne Boden werden. Noch überwiegt allerdings mein Vertrauen in die Chancen der Kernfusion. Um das Projekt wirklich zu einem Erfolg zu machen, müssten wir die Entwicklung der Fusion aber eher beschleunigen als Tempo herauszunehmen. Es gilt daher, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern zeitnah Farbe zu bekennen, wohin die Reise gehen soll. Hierbei sind auch die schon getätigten erheblichen Investitionen zu berücksichtigen. Letztlich kann eine Entscheidung aber nicht ohne eine - auch von der Kommission geforderte - glaubwürdige und belastbare Kostenschätzungs- und Kosteneindämmungsstrategie getroffen werden. Derzeit schwirren noch zu viele unterschiedliche Zahlen durch den Raum, als dass eine klare Positionierung der Vertragspartner beim Rat der Wettbewerbsfähigkeit am 25. und 26. Mai 2010 realistisch erscheint. Deutlich ist nur, dass eine beträchtliche Finanzierungslücke besteht. Richtig ist auch, dass für eine tragfähige Zukunft des Projekts eine nachhaltige Finanzierung statt eines ständigen Klein-Klein erforderlich ist. Man mag nun zu ITER stehen wie man will. Doch eines ist klar: Eine einseitige Kündigung des ITER-Abkommens ist - abgesehen von den außenpolitischen Verwerfungen - auch forschungs- und umweltpolitisch unverantwortlich. Das ITER-Abkommen enthält im Übrigen auch keine Rücktrittsmöglichkeit für Euratom als einen der Vertragspartner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die Beendigung des Vertrages nur durch eine Vereinbarung aller Partner möglich. Ich empfehle daher im Ergebnis, den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Zu Protokoll gegebene Reden

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Zeit der fossilen Energieträger läuft aus. Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass die nachhaltige und effiziente Gewinnung und Bereitstellung von Energie eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahre sein wird. Dabei spielt die frühzeitige Forschungsförderung eine entscheidende Rolle. Aber die Weichen müssen richtig gestellt sein. Wir Sozialdemokraten haben deshalb bereits vor Jahren zusammen mit unserem damaligen grünen Koalitionspartner große Anstrengungen in die Förderung der regenerativen Energietechnologien gesteckt. Davon profitiert Deutschland noch und gerade heute in vielfacher Hinsicht. Teil der Energiewende war der Ausstieg aus der schon damals nicht zukunftsfähigen Kerntechnologie. Die Gefahr eines Unfalls, die ungelöste und für den Steuerzahler mit immensen Kosten verbundene Endlagerproblematik sowie die Gefahr der Proliferation von waffentauglichem Kernmaterial sind einfach zu groß. Rentabel sind diese Technikmonster allein für die Atomindustrie. Zudem stellen Kernkraftwerke das Sinnbild der zentralen - manche sagen zentralistischen - Energieversorgung mit Großkraftwerken dar, die nicht mehr in die kommende Zeit der dezentralen und effizienten Kleinkraftwerke passt. Für die Bürgerinnen und Bürger sind Kernkraftwerke ein Graus. Das haben die vielen Tausend Demonstranten vorletztes Wochenende einmal mehr gezeigt. Wenn CDU, CSU und FDP immer noch für eine Laufzeitverlängerung plädieren, kann man das nur noch mit schierem Atomlobbyismus erklären. Seit mehr als 60 Jahren arbeiten Wissenschaftler in aller Welt an einer weiteren Technologie zur Energiebereitstellung, an der sogenannten Fusionstechnologie. Dabei sollen die Abläufe, die in der Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachempfunden werden. Im Unterschied zur Kernspaltung werden bei der Kernfusion Atomkerne verschmolzen. Dabei werden wie bei der Kernspaltung große Mengen Energie freigesetzt. Eine unkontrollierbare Kettenreaktion ist aber, anders als bei der Atomkraft, zum Glück nicht möglich. Auch die Probleme mit radioaktivem Müll sowie die Möglichkeit der Nutzung als Waffe erscheinen nach heutigem Wissensstand im Vergleich zur Kernspaltung als eher unproblematisch. Die Technik klingt also erst einmal vielversprechend. In Deutschland wird heute bei der Max-Planck-Gesellschaft in Garching und Greifswald und der Helmholtz-Gemeinschaft in Karlsruhe und Jülich auf diesem Gebiet geforscht. Dafür werden die beiden Versuchsreaktoren Wendelstein 7-X und TEXTOR betrieben. Alle Arbeiten sind bis zum heutigen Tag immer noch der Grundlagenforschung zuzurechnen. Der Beweis, ob diese Technologie jemals kommerziell Energie liefern wird, steht noch aus. Übrigens waren nur wenige der heutigen politischen Entscheidungsträger an den Anfängen dieses Prozesses beteiligt, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird niemand der heutigen Entscheider noch die Anwendung dieser Technologie in Verantwortung erleben. Inwieweit ein solches Verfahren überhaupt politisch akzeptabel sein kann, muss bei Gelegenheit an anderer Stelle diskutiert werden. Wie so oft in der Wissenschaft wurde auch im Bereich der Fusionsforschung deutlich, dass man zum Erreichen der Ziele international zusammenarbeiten muss. Aus diesem Grund haben sich 2006 die EU, Japan, Russland, die USA, China, Indien und Südkorea zusammengetan und den Bau und Betrieb des internationalen thermonuklearen Experimentalreaktors, ITER, vereinbart. Innerhalb der EU wird ITER über Euratom abgewickelt. Als Standort wurde das französische Cadarache gewählt. Vereinbart wurde, dass die EU als Sitzregion 45,5 Prozent der Kosten trägt. Nach erfolgreichem Abschluss der ITER-Experimente soll der Versuchsreaktor DEMO gebaut werden. Erst dieser wird zeigen, ob die kommerzielle Stromgewinnung mit der Fusionstechnologie überhaupt möglich ist. Mit einem endgültigen Ergebnis wird frühestens im Jahr 2050 gerechnet. Für die SPD ist die Fusionstechnologie ein spannender Bereich der Grundlagenforschung. Das Problem ist, dass die Gesellschaft bereits in den nächsten Jahren konkrete und anwendbare Alternativen für die Energieversorgung braucht. In diesem Zeitraum wird die Fusionstechnologie nicht als Option zur Verfügung stehen. Im Bereich der erneuerbaren Energien existieren schon funktionsfähige Technologien, bei denen Biomasse, Geothermie, Sonne, Wasserkraft und Wind zur Energieerzeugung genutzt werden. Sie sind bereits heute anwendbar, dienen dem Umwelt- und Klimaschutz, sind Innovations- und Technologietreiber und tragen in breitem Umfang zur Wertschöpfung und Schaffung von Arbeitsplätzen in Hand- und Stahlwerk bei. Diese Anlagen erzeugen heute 15 Prozent des gesamten Bruttostromverbrauchs in Deutschland. Das Potenzial ist dabei noch lange nicht ausgeschöpft. Mit diesen Technologien ist die Energiewende somit machbar. Deshalb besitzt für uns Sozialdemokraten dieser Bereich ganz klare Priorität. Mit ITER haben wir ein Finanzierungsproblem. Die aktuelle Mitteilung der Kommission lässt vermuten, dass der Kostenanteil für Europa sogar von 2,7 auf 7,2 Milliarden Euro steigt. Schon jetzt klafft eine Finanzierungslücke von 1,4 Milliarden Euro für die Jahre 2012 und 2013, die entweder über eine Anhebung des Finanzrahmens oder zusätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten gefüllt werden muss. Da stellt sich schon die Frage, ob diese Technologie, bei aller Forschungsfaszination, in dieser Größenordnung vernünftig oder verantwortbar ist, insbesondere wenn man überlegt, was diese Summen in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Energieeffizienz, -einsparung oder regenerativen Energietechnologien, möglich machen würden. Insofern sympathisiere ich durchaus mit dem Antrag der Grünen. Aber aus unserer gemeinsamen Koalitionszeit weiß ich auch, dass der von ihnen geforderte Ausstieg eben leider nicht so einfach umzusetzen ist. Wenn die aktuellen Zahlen der Kommission sich bestätigen, muss die Bundesregierung beim Wettbewerbsfähigkeitsrat am 25./26. Mai in Brüssel Druck machen. Klar ist für uns Sozialdemokraten, dass die erneute KosZu Protokoll gegebene Reden tensteigerung in diesem Umfang nicht hingenommen werden kann und schon gar nicht zulasten der Förderung der regenerativen Energie gehen darf. Die erste Kürzung in diesem Bereich durch die schwarz-gelbe Koalition lässt nichts Gutes erwarten. In Zeiten, in denen wir auf der einen Seite die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels konkret und zeitnah bekämpfen müssen und auf der anderen Seite infolge der Finanzkrise mit finanziellen Schwierigkeiten in ungeahnter Größe zu kämpfen haben, sind weitere Mittelerhöhungen nicht zu verkraften. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, auch die potenziellen Nutznießer der Fusionstechnologie - sprich die Industrie - stärker an den Forschungsausgaben zu beteiligen. Wenn Frau Merkel so sehr an die Machbarkeit der Technologie glaubt, sollte die Überzeugungsarbeit ja eigentlich ein Kinderspiel sein. Um es noch einmal zusammenzufassen: Für uns Sozialdemokraten ist die Fusionstechnologie ein spannendes Forschungsthema; sie wird aber, selbst wenn alle Experimente positiv verlaufen, nicht rechtzeitig als Energieoption zur Verfügung stehen. Wir müssen uns also auf andere Energieträgertechnologien konzentrieren. In Anbetracht der finanziellen Zwänge sollte das Geld deshalb vorrangig in bereits ausgereifte und einsetzbare regenerative Energietechnologie gesteckt werden. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, nun endlich eine Deckelung der ITER-Kosten in Brüssel durchzusetzen.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Investition in Zukunftsenergien, die keine das Klima schädigenden Emissionen, keine Endlagerprobleme und keine Proliferationsprobleme mit sich bringen und die die Energieversorgung in der Grundlast dauerhaft sichern, ist lohnend und vielversprechend. Es wird bereits viel auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien geforscht und erprobt. Es macht keinen Sinn, sich nur auf ein Gebiet der Energieversorgung zu konzentrieren. Das haben wir aus der Vergangenheit gelernt. Kernspaltungs- oder Kernfusionsforschung zu verteufeln ist forschungspolitisch fatal. Denn wäre die Kernforschung in den letzten Jahren stärker forciert worden, wären wir auf diesem Gebiet vielleicht schon weiter. Wir rufen uns kurz in Erinnerung: ITER ist ein international gefördertes Fusionsexperiment, das einzig und allein zu Forschungszwecken gebaut wird. Es soll die technische Machbarkeit der Energiegewinnung aus Kernfusion demonstrieren. Folgt man den Berechnungen, so soll etwa zehnmal so viel Energie aus der Fusion von Deuterium und Tritium freigesetzt werden, wie Energie für den Betrieb eingesetzt wird. Sieben gleichberechtigte ITER-Partner - Europa, Japan, Russland, die USA, China, Indien und Südkorea haben am 21. November 2006 in Paris den Vertrag zur Gründung der ITER-Organisation nach langem Ringen unterzeichnet. Der geplante Fusionsreaktor ITER im südfranzösischen Cadarache soll die Nutzung der Kernfusion zur Stromerzeugung im industriellen Maßstab vorbereiten. Eigens dafür richteten alle sieben Partnerländer eine eigene nationale Behörde ein, die die Aufgabe hat, die vertraglichen Verpflichtungen des jeweiligen Landes gegenüber ITER zu erfüllen. Welche Bedeutung hat ITER für Deutschland? Am ITER-Projekt sind führend deutsche Forschungseinrichtungen beteiligt. So arbeitet das Institut für Plasmaphysik in Garching, eines der größten Fusionsforschungszentren in Europa, mit seinem Experiment ASDEX Upgrade seit Jahren an ITER-relevanten Fragen. Nicht zuletzt hat das IPP die physikalischen Grundlagen für den Testreaktor entwickelt. Auch zukünftig muss Deutschland, vertreten durch die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-Forschungszentren Karlsruhe und Jülich, eine wichtige Rolle spielen, so zum Beispiel bei der Suche nach optimierten Betriebsweisen für den Testreaktor, bei der Entwicklung der Plasmaheizung von ITER sowie bei der Suche nach Analyseverfahren für das Plasma und natürlich nicht zuletzt auch nach geeigneten Werkstoffen für die Brennkammer. Das ITER-Projekt bedeutet auf keinen Fall, das nationale Projekt Wendelstein 7-X in Greifswald aufzugeben. Dieses Leuchtturmprojekt mit seinem Alleinstellungsmerkmal ist für die Plasmaphysik ein außerordentlich wichtiges Instrument und hat auch international eine hohe Strahlkraft. Auch wirtschaftliche Aspekte dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Es ist jetzt besonders wichtig, an die Aufträge für die Bauteilfertigung sowie die dafür erforderlichen Forschungs- und Entwicklungsaufgaben für die deutsche Industrie und die deutsche Fusionsforschung zu denken. Interessant ist, welche wesentlichen technischen Komponenten Deutschland im Rahmen des europäischen Lieferbeitrages liefert. Alle ITER-Partner liefern ihre Anteile im Wesentlichen als fertige Komponenten, die in den jeweiligen Ländern hergestellt werden. Die Ausschreibung und Vergabe der europäischen ITER-Komponenten erfolgen aber bekanntlich durch die europäische Agentur Fusion for Energy, F4E, in Barcelona. Diesen wichtigen Aspekt dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Sie führen in Ihrem Antrag die Kostenexplosion aus, die nicht unerheblich ist. Aber diese Fakten sind nicht neu. Bereits im Jahr 2008 wurde bekannt, dass bei ITER mit einer erheblich höheren Kostensteigerung zu rechnen sein wird, als bei der Vertragsunterzeichnung abzusehen war. Aber sind wir mal ehrlich: Haben wir in der Vergangenheit nicht bewusst die Augen zugedrückt? Ich erinnere an die damalige Entscheidung für ITER, lange bevor über den Standort gestritten wurde. Ich erinnere auch an die Entscheidung für ebendiesen ITER-light. Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamtsumme der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Heute sind wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekommen. Die Kostensteigerung ist im Wesentlichen auf erhöhte Rohstoffpreise, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen des notwendigen Umfangs von Diagnostiken zurückzuführen. Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Neumann ({0}) Übrigens halte ich es für bemerkenswert, dass heute über den schrittweisen Aufbau von ITER nachgedacht wird. Also kommt in einer ersten Phase dem sicheren Einschluss des Plasmas bei circa 100 Millionen Grad Celsius eine besondere Bedeutung zu. Nach erfolgreichem Abschluss dieser Forschungsarbeiten soll in einem zweiten Schritt das Inventar für die eigentliche Fusion und Wärmeableitung eingebaut werden. Klar ist, dass, auch wenn Deutschland ITER nicht direkt finanziert, sondern Euratom, es an dieser Stelle Verantwortung übernehmen muss. Das bedeutet, dass wir und unsere Partner Wege suchen müssen, die heute auf 7,2 Milliarden Euro kalkulierten Kosten für den Fusionsforschungsreaktor ITER durch die EU aufzubringen, und dass auch Pläne für die Finanzierung der Kostensteigerungen zu erarbeiten sind. Das heißt, 80 Prozent der Kosten sind von Euratom - und somit anteilig von Deutschland - und 20 Prozent von Frankreich zu tragen. Aus dem 7. FRP würden insgesamt 2,1 Milliarden Euro für die Jahre 2012/13 benötigt. Zusätzlich zu den vorgesehenen 346 Millionen Euro für 2012 und den 344 Millionen Euro für 2013 besteht somit eine Finanzierungslücke für diesen Zeitraum in Höhe von 1,4 Milliarden Euro ({1}). Ein Darlehen der Europäischen Investitionsbank oder die Umschichtung innerhalb des EU-Finanzierungsrahmens hält die Kommission für nicht möglich. Vielmehr schlägt die Kommission zwei Finanzierungsoptionen vor: Option I: zusätzliche Beiträge der Mitgliedstaaten, Option II: Anhebung des Finanzrahmens. Das Problem wurde jetzt benannt, und wir sind aufgefordert, Lösungen zu erarbeiten. Sich aber jetzt aus dem Projekt zu verabschieden, ist für uns der falsche Weg. Vielmehr ist es wichtig, neu zu kalkulieren, Kostenfallen deutlich zu machen und das Projekt als wirkliches Zukunftsprojekt für nächste Generationen zu betrachten. Klar ist: ITER darf nicht zu einem „schwarzen Loch“ für Steuergelder verkommen. Mitte Juni 2010 tagt der ITER-Rat, in dem die EU durch die Kommission vertreten ist, um über die weiteren Schritte im ITER-Projekt zu entscheiden. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir Lösungen vorweisen. Es ist aber unstrittig, dass das Fusionsforschungsprojekt ITER von der Bundesregierung weiterhin befürwortet und unterstützt wird. Die Entwicklungen werden aufmerksam und kritisch beobachtet und analysiert. Deutsche Interessen und die der übrigen Mitgliedstaaten müssen gegenüber der EU-Kommission mit Nachdruck vertreten werden. Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert an die bisherigen Gegner von ITER: Setzen Sie sich in Ihren Fraktionen für ITER ein und beenden Sie die Politik der kleinen Messerstiche gegen die Fusionsforschung.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Michail Gorbatschow kennt sich mit Fusionen aus. Er begleitete nicht nur die Fusion der beiden deutschen Staaten, sondern rief mit François Mitterrand und Ronald Reagan auch das Kernfusionsprojekt ITER ins Leben. Das geschah bereits 1985, und der politische Glaube an solche Großtechnologien wie die Atomkraft schien in dieser Zeit ungebrochen. In den nachfolgenden 20 Jahren erlebte das Projekt viele Planungsphasen und Kostenschätzungen. Die USA zogen sich 1998 als Hauptfinanzier zurück, weil ihnen die damals prognostizierten Baukosten von 13 Milliarden D-Mark, also knapp 7 Milliarden Euro, nach heutigen Maßstäben für einen Forschungsreaktor zu hoch erschienen. Zwischenzeitlich wurden die Gesamtbaukosten heruntergerechnet. Nach dem Preisstand von 1989 lag man bei 3,577 Milliarden US-Dollar. Das bedeutet preisbereinigt, bezogen auf 2008, 5,366 Milliarden Euro. Nun, im Jahr 2010, ist man wieder bei Kostenplanungen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro gelandet. Es ist also eine gewaltige Finanzierungslücke entstanden. Niemand weiß, ob bei Fortsetzung des Projektes und seines Baus nicht weitere Anpassungen nach oben nötig werden, zum einen infolge neuer Forschungserkenntnisse und zum anderem infolge neuer Reibungsverluste durch technische, bauliche, aber auch bürokratische Inkompatibilitäten. Fakt ist: ITER bleibt für alle beteiligten Seiten mit unabsehbaren finanziellen Risiken behaftet. Es gibt aber eine weitere Entwicklung, die ITER grundsätzlich infrage stellt, und das ist der Klimawandel. 1985 war er noch kein öffentliches Thema. Heute aber haben uns sein Umfang und seine dramatischen Folgen eingeholt. Wir waren und sind gezwungen, umzudenken und anders zu handeln. Effektivität und Effizienz sind zu den entscheidenden Kriterien einer nachhaltigen Weichenstellung in unserer Energieerzeugung geworden. Zur Hauptfrage ist angesichts des engen Zeitfensters, innerhalb dessen wir den Klimawandel eindämmen wollen, geworden: Welchen Beitrag kann eine Technologie zur Reduzierung von klimaschädlichen Emissionen in welcher Zeit und zu welchen Kosten leisten? Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation hat die Linke dieses Mammutprojekt, so spannend es aus wissenschaftlicher Sicht auch sein mag, kritisch betrachtet. Sollte ITER, wie geplant, 2018 zum ersten Mal Strom produzieren, wäre das wiederum der Startschuss für weitere vorrangig öffentlich finanzierte milliardenschwere Demonstrationsprojekte, so auch für den Reaktor DEMO. Von einer kommerziellen Nutzung ist man dann allerdings immer noch 30 bis 40 Jahre entfernt. Vor 2050, so schätzen Experten, wird auch im BestCase-Szenario kein Strom aus Kernfusion ins Netz kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir jedoch längst Maßnahmen für eine klimafreundliche Energieerzeugung getroffen und umgesetzt haben, oder - um nochmals Michail Gorbatschow zu bemühen -: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Linke strebt, wie andere Fraktionen hier im Haus auch, eine vollständige Umstellung der Stromversorgung auf erneuerbare Energien an. Diese haben den Vorteil, vor allem dezentrale Stromproduktion zu ermöglichen. So können nicht nur Synergien, etwa bei der Zu Protokoll gegebene Reden Kraft-Wärme-Kopplung oder der Verwertung von Biomasse, genutzt werden, auch die Abhängigkeit von Monopolstrukturen in der Energiewirtschaft ließe sich deutlich verringern. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat am Tag vor dieser Debatte in einer Stellungnahme bestätigt, dass eine vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien bis 2050 umsetzbar ist, wenn klare politische Weichenstellungen erfolgen. Ich zitiere selbigen: „Die Politik muss die Zielrichtung eindeutig vorgeben. Wichtig ist es, die systemischen Konflikte zwischen grundlastbasierten und erneuerbaren Systemen und die daraus entstehende Notwendigkeit einer Systementscheidung für die Öffentlichkeit transparent zu machen.“ Das Versprechen auf die Zukunftsvision, die Kernfusion könne uns von allen Energieproblemen der Welt erlösen, birgt die große Gefahr, dass wir nicht energisch genug die notwendigen energetischen Weichenstellungen angehen und uns vor der genannten Systementscheidung drücken. Die schwarz-gelbe Koalition bremst jetzt bereits: nicht nur durch Pläne für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken, nicht nur mit der überzogenen Kürzung der Einspeisevergütung im Rahmen des Energieeinspeisungsgesetzes, sondern auch durch stagnierende Forschungsmittel im Bereich der erneuerbaren Energien. Wer abseits von Sonntagsreden etwas zu den Initiativen des Umweltministeriums in diesem Bereich erfahren will, hat Pech. Dessen Übersicht zur Forschung bei Erneuerbaren auf der Ministeriumsseite verharrt auf dem Stand Mai 2009. Ein Innovationsbericht für diesen Bereich ist zum letzten Mal im Januar 2009 erschienen. Nach einer eindeutigen Prioritätensetzung für Forschung an nachhaltiger Energieerzeugung sieht das alles nun wirklich nicht aus. Wir können nur appellieren: Nehmen Sie die Verantwortung an! ITER und die Fusionsforschung mögen spannende wissenschaftliche Hypothesen überprüfen. Wohl wahr. Aber zur Lösung unserer drängenden Probleme tragen sie bestenfalls langfristig, schlechtestenfalls niemals etwas bei. Beenden Sie die Teilnahme an diesem Projekt, bevor es weitere Milliarden verschlingt, die heute weit effektiver für eine Energiewende eingesetzt werden können. Wir wissen, dass das Kündigen multilateraler Verträge dieses Umfangs besonders kritisch zu prüfen ist. Verlässlichkeit und Vertrauen sind durchaus bedeutende Kriterien. Wir haben diese und die Komplexität des Projektes bei unserer Prüfung berücksichtigt. Dabei mussten wir auch feststellen, dass es bei dem gewaltigen Missverhältnis zwischen dem Engagement öffentlicher Haushalte und der Wirtschaft geblieben ist. Veränderte Situationen zu analysieren, Folgen abzuschätzen und entschlossen zu reagieren, ist durchaus mit veränderten Prioritätensetzungen verbunden. Dieser Frage müssen sich auch die Koalitionsfraktionen stellen. Immerhin haben sich die umwelt- und finanzpolitischen Bedingungen erheblich verschärft. Vor diesem Hintergrund übernehmen wir mit unseren Förderentscheidungen auch Verantwortung für die nachfolgenden Generationen und ihre Lebensbedingungen, für das gesamte Ökosystem Erde. Eine Nummer kleiner geht es bei der Tragweite dieses Megaprojektes nicht. Meine Fraktion kann dem Antrag der Grünen daher zustimmen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Große Ideen üben große Faszination aus: als Mensch die Kraft der Sonne beherrschen, Grenzen überwinden und gemeinsam, ja völkerverbindend, für ein großes Ziel forschen. Es ist ja nachvollziehbar, dass die damit Befassten solche Träume nicht den schnöden Realitäten opfern wollen. Aber wir hier im Bundestag müssen uns den Realitäten stellen. Wir müssen nicht nur über die zukünftige Energiestruktur, die Maßnahmen zum Klimaschutz entscheiden, wir sind auch verantwortlich, mit den Steuergeldern unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger redlich umzugehen. Tatsächlich ist die Fusionsforschung nichts als eine unendliche Geschichte von Versprechen. Schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts glaubte man, die Kernfusion in 20 bis 30 Jahren für die Energienutzung verfügbar machen zu können. Dieses durch alle Jahrzehnte wiederholte Versprechen auf eine Zukunftsoption ist unter Naturwissenschaftlern als Fusionskonstante bekannt: Es bleibt in der näheren Zukunft, ist zum Greifen nah; nur ein paar wissenschaftliche Wunder fehlen zum Durchbruch. Bisher gibt es kein Material, was radioaktives und krebserregendes Fusionsplasma zurückhalten kann. Durch freigesetzte Neutronen wird im Inneren des Reaktors auch die Hülle, das sogenannte Blanket, radioaktiv kontaminiert und brüchig und muss immer wieder ausgetauscht werden. Damit sind radioaktive Kontamination und strahlende Abfälle eines der Hauptprobleme dieser Technologie. Ein Drittel dieses Atommülls wäre langlebig und müsste in ein geologisches Endlager. Der Traum von „unendlich viel Energie“ hat jedenfalls die typischen Begleiterscheinungen einer Hochrisikotechnologie; von der Nähe zur Neutronen- oder Wasserstoffbombe, für die schon wenige Gramm Tritium reichen, ganz zu schweigen. Beim nach der internationalen Raumstation zweitteuersten Forschungsvorhaben, dem ITER-Projekt, sind die Kosten gerade explodiert. Für Europa heißt das 1,4 Milliarden Euro Mehrkosten alleine in den Jahren 2012/ 2013. Mit ITER soll im südfranzösischen Cadarache erstmals demonstriert werden, dass sich mit Fusion Energie gewinnen lässt. 1985 wurde das Projekt angestoßen, für 2026 ist eine erste Fusion geplant. Falls ITER irgendwann funktioniert, soll mit dem Folgeprojekt DEMO im Versuchsmaßstab Elektrizität generiert werden. Erst wenn auch DEMO seine Tests besteht, kann es an den Bau eines stromliefernden Fusionsreaktors gehen. 2055 soll es so weit sein. Die Fusionskonstante lässt grüßen. Bis dahin werden die Forschungskosten auf mindestens 100 Milliarden Euro geklettert sein. Im Kampf gegen den Klimawandel könnte die Fusionstechnik übrigens nicht helfen. Dieser Kampf wird Zu Protokoll gegebene Reden nicht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entschieden, sondern in den nächsten Jahren. Selbst wenn die Fusionsenergie 2055 zur Verfügung stehen würde: Für die dann bereitzustellende Energieversorgung käme sie auf jeden Fall zu spät. Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Es ist an der Zeit, das Notwendige zu tun und die Forscherkapazität auf zukunftsverträgliche Lösungen zu lenken. Wir haben nur eine Erde. Unser Lebensraum, ja selbst unser Leben sind begrenzt. Schon heute aber können wir die Kernfusion nutzen. Unser Fusionsreaktor ist die Sonne. Die Sonne schickt uns genügend Energie auf die Erde. Sie ist in jedem Land verfügbar. Wir müssen nur lernen, diesen Reichtum intelligent und naturverträglich zu nutzen. Die Kernfusionsforschung ist ein Milliardengrab. Einer Forschung, die zukunftsfähige Lösungen sucht und den vielfältig verfügbaren natürlichen Reichtum sinnvoll nutzt, gehört die Zukunft - und in diese Zukunft gehören die Forschungsmilliarden. Es ist Zeit, aus der Fusionsforschung auszusteigen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass das ITER-Abkommen einvernehmlich aufgehoben oder, falls dies nicht kurzfristig erreicht werden kann, außerordentlich gekündigt wird, sowie unverzüglich damit zu beginnen, die Fusionsforschungsmittel aus dem Bundeshaushalt schrittweise auf die Erforschung der erneuerbaren Energien und der Energieeinsparung zu übertragen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1433 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković und weiteren Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ({0}) - Drucksache 17/1557 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Memet Kilic, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz - Drucksache 17/1571 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Interfraktionell wird auch hier vereinbart, die Reden zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Helmut Brandt, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff ({4}), Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1557 und 17/1571 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen einführen - Drucksachen 17/1029, 17/1549 Berichterstattung: Abgeordnete Claudia Bögel Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Lucia Puttrich, Martin Dörmann, Dr. Erik Schweickert, Caren Lay und Nicole Maisch.

Lucia Puttrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004132, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute diskutieren wir den Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen: „Verbraucherfreundliche kosten- freie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen einführen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bünd- nis 90/Die Grünen: Sie wollen immer wieder den Ein- druck erwecken, dass Sie allein zum Wohle des Verbrau- chers handeln würden - so auch mit diesem Antrag. Die unionsgeführte Bundesregierung hat die Proble- matik jedoch längst erkannt. Dies haben wir schon in unserem Koalitionsvertrag mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP festgeschrieben. Dort können Sie nachlesen: „Wir wollen die Proble- matik der unterschiedlichen Handhabung der Kosten- verteilung bei Warteschleifen im Telefonverkehr auf de- ren Praxistauglichkeit hin überprüfen.“ Und genau das werden wir tun. Sie fordern in Ihrem Antrag eine gesetzliche Pflicht, Warteschleifen bei telefonischen Mehrwertdiensten, be- sonders bei den 0900- und 0180-Rufnummern, kostenlos 1) Anlage 9 anzubieten. Sie begründen das unter anderem damit, dass Kunden bei Problemen unverhältnismäßig belastet würden. Es wäre besser, Sie hätten genauer hingeschaut: Im Gewährleistungs- oder Garantiefall können Kunden die Kosten für die Servicehotline von dem dienstleistenden Unternehmen zurückfordern. Aber in der Tat ärgern sich viele Verbraucherinnen und Verbraucher über die Kosten bei Warteschleifen. Das Thema Servicenummern muss man differenziert betrachten. Die Pauschalierung, dass Servicenummern mit kostenpflichtigen Warteschleifen generell nicht vertretbar wären, ist schlicht und einfach falsch. Grundsätzlich gilt: Eine Dienstleistung darf Geld kosten; sie muss dieses aber wert sein. Sie verlangen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher erst dann für eine Mehrwertdienstrufnummer zahlen, „wenn sie tatsächlich mit einem Berater verbunden werden“. Dies ist technisch nicht einfach zu lösen, aber es ist lösbar. Darauf werde ich gleich im Detail eingehen. Denn auch an dieser Stelle tut sich bereits einiges. Lassen Sie mich zunächst einmal die tatsächliche Situation darstellen. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland viele unterschiedliche Rufnummern, die von der Bundesnetzagentur vergeben werden. Der wesentlichste Unterschied zwischen den einzelnen Nummern - nämlich die Angabe und Ansage von entstehenden Kosten - ist in § 66 Telekommunikationsgesetz geregelt. Die Preisangabe, zum Beispiel auf Verpackungen oder in Anzeigen, ist schon heute generelle Pflicht für Mehrwertdienste ({0}). So können Kunden bereits vor dem Anruf erkennen, welche Kosten ihnen durch den Anruf entstehen und ob sie unter diesen Konditionen die Verbindung nutzen wollen. Auch die Preisansagepflicht vor Beginn der Verbindung besteht bereits heute für die sogenannten sprachgestützten Premiumdienste, insbesondere die 0900-Nummern. So kann der Kunde hier noch vor Eintritt in das Gespräch oder gegebenenfalls die Warteschleife entscheiden, ob er das Angebot nutzen will. Für uns als christlich-liberale Koalition kommt es auf eines besonders an: Der Verbraucher hat das Recht, zu entscheiden, welches Angebot er nutzen möchte. Hier können die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dem Telefonhörer abstimmen. Viele Unternehmen in Deutschland wissen, dass kurze Warteschleifen zum Kundendienst gehören. In Form einer Selbstverpflichtung haben sich bedeutende Unternehmen dazu erklärt. Ich zitiere aus dem Leitfaden für eine verbraucherfreundliche Kundenbetreuung, der auf der Homepage des Wirtschaftsministeriums abgerufen werden kann: „Die hier mitzeichnenden Unternehmen erklären aber klar, dass sie mit den Warteschleifen kein Geld verdienen wollen.“ Der Leitfaden ist in Zusammenarbeit mit Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologien im Rahmen des von der Bundeskanzlerin initiierten Zweiten Nationalen IT-Gipfels 2007 verabschiedet worden. Die darin aufgenommene Selbstverpflichtung der Wirtschaft hat zum Ziel, den Service zu verbessern. Neben Qualitätsstandards zur Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auch Kriterien zur Erreichbarkeit, zu Wartezeiten und zur Transparenz im Telefonkontakt Kunde/Unternehmen festgelegt worden. Eine Reihe von Unternehmen hat inzwischen Servicenummern geschaltet, bei denen weder in einer Warteschleife noch bei der Serviceauskunft für den Kunden Kosten entstehen. Die Unternehmen aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien haben sich dabei verpflichtet, über die geltenden Preisansageverpflichtungen hinaus Kosteninformationen zu geben. Dies ist ein wichtiger Schritt, der belegt, dass Unternehmen auch durchaus bereit und in der Lage sind, selbstständig Verbraucherinteressen zu berücksichtigen. Doch eine Selbstverpflichtung ist nicht immer ausreichend. An einer entscheidenden Stelle hat die Bundesregierung besonders im Bereich der 0180-Nummern nachgebessert. Für die 0180-Servicenummern hat die Bundesregierung schon Preisobergrenzen realisiert. Seit dem 1. März 2010 sind diese Änderungen gültig. Anrufe aus dem Festnetz zu 0180-Nummern kosten maximal 14 Cent pro Minute und der gesamte Anruf maximal 20 Cent. Anrufe aus dem Mobilfunknetz zu 0180-Nummern kosten nun höchstens 42 Cent pro Minute und der komplette Anruf maximal 60 Cent. Die gilt im Übrigen auch für die von Ihnen bemängelten Warteschleifen, wenn eine 0180-Nummer angewählt wird. Hier ist der Verbraucher bereits erheblich entlastet. Eine gesetzeskonforme Preisangabe für Bewerbungen von diesen 0180-Rufnummern muss dem Rechnung tragen. Schummeleien sind nicht zulässig und werden von der Bundesnetzagentur geahndet. Bei festgestellten Verstößen gegen die Preisangabe-/Preisansagepflicht schreitet die Bundesnetzagentur wegen Rufnummernmissbrauchs ein. Anfänglich wurde den Ende 2007 in Kraft getretenen Preisangabepflichten in der Werbung, sowohl in Printmedien, in Funk und Fernsehen als auch im Internet, nicht ausreichend nachgekommen. Das ist richtig. Die Bundesnetzagentur hat jedoch zeitnah in einer Vielzahl von Fällen Abmahnungen ausgesprochen oder die betreffenden Rufnummern konsequent abgeschaltet. Es ist falsch, dass die Verbraucher ohne den Antrag der Grünen schutzlos wären. Die Bundesregierung handelt - und das nicht erst seit Ihrem Antrag. Gerade die Frage der Abzocke in Warteschleifen akzeptieren wir nicht. Ressortübergreifend hat auch Ministerin Ilse Aigner immer wieder darauf hingewiesen und das Thema mit Nachdruck ins politische Bewusstsein gerückt. Ein erster Schritt ist durch die Bundesnetzagentur bereits ermöglicht worden, indem eine Änderung der Abrechnungsverfahren erfolgt. Bisher konnte bei den 0180Nummern nur das sogenannte Onlinebilling genutzt werden; nun soll das Verfahren des Offlinebilling möglich werden. Beim Onlinebilling kann bei der AbrechZu Protokoll gegebene Reden nung nicht zwischen Gespräch und Warteschleife unterschieden werden. Beim Offlinebilling hingegen schon. Damit besteht die Möglichkeit, erst dann eine Dienstleistung abzurechnen, wenn diese tatsächlich erbracht wurde. Dies ist ein erster entscheidender Teilerfolg. Durch die Einführung einer neuen Nummerngasse ({1}) wird es für das abzurechnende Unternehmen ersichtlich sein, ob in der bestehenden Verbindung ein Gespräch geführt wurde, das heißt, ob eine Dienstleistung erbracht wurde oder der Kunde sich in einer Warteschleife befindet. Diese Veränderung ermöglicht den Unternehmen den Weg hin zu kostenfreien Warteschleifen. Die Bundesregierung wird diese Frage auch im Rahmen der anstehenden Novelle zum Telekommunikationsgesetz zur Umsetzung der europäischen Änderungsrichtlinien erörtern. Im Zuge dieser Novelle soll die Bundesnetzagentur ermächtigt werden, umfassende Verbraucherschutzanforderungen durchzusetzen. So soll die Pflicht zur Information über Preise verstärkt, der Anbieterwechsel erleichtert und sollen die Möglichkeiten der Ausdehnung der Streitschlichtung geprüft werden. Das Wirtschaftsministerium und das Verbraucherschutzministerium erarbeiten gerade gemeinsam einen Gesetzentwurf. Hier wird schließlich nicht nur die Frage der Warteschleifen, sondern auch die der Preisansage bei Call-by-call-Anrufen untersucht. Denn leider gibt es auch hier schwarze Schafe, die den Verbraucher täuschen und kurzfristig Preisänderungen vornehmen, ohne diese den Verbrauchern zu kommunizieren. Im Zuge der Novellierung des TKG werden mehrere Bereiche neu geregelt. Es ist purer Populismus, dass Sie nun mit diesem Antrag einen einzelnen Punkt herausgreifen. Wir werden nicht allein die Warteschleifen, sondern auch die Preisansagen bei Call-by-call-Anrufen prüfen. Eines sollte man festhalten: Letztendlich entscheidet der Kunde darüber, welches Angebot er nutzt. Die Macht des Verbrauchers muss an dieser Stelle auch einmal deutlich herausgestellt werden. Ein gutes Beispiel ist folgendes: Ein Verbraucher entscheidet sich für ein Konto einer Direktbank, für das keine Kontoführungsgebühren anfallen. Damit kann jedoch verbunden sein, dass er weitere Leistungen gesondert berechnet bekommt. Wenn zum Beispiel für die Servicehotline hohe Entgelte gezahlt werden müssen, muss dies dem Kunden allerdings transparent dargestellt werden. Gute Dienstleistungen dürfen auch berechnet werden. Es kann deshalb keine Pflicht zum Anbieten kostenloser Dienstleistungen geben. Allerdings müssen die Entgelte hierfür transparent und angemessen sein. Was wir in jedem Fall wollen und realisieren werden: Es muss eine klare Preistransparenz geben, die es den Verbrauchern ermöglicht, sich für oder gegen eine Dienstleistung zu entscheiden. Denn nur ein informierter Bürger kann verantwortliche Entscheidungen treffen. Ich sagte es bereits: Unser Leitbild ist das des mündigen, informierten und aufgeklärten Verbrauchers. Der Weg muss ein anderer sein als der, den Sie vorschlagen. Denn in einer zunehmend komplexeren und digitalisierten Welt kommt es immer stärker darauf an, dass die Kunden selbstbestimmt handeln. Daher müssen wir einen Beitrag zu Transparenz und Information leisten - und daran arbeiten wir. Ihr Antrag ist schlichtweg überflüssig. Die Entscheidung, ob Mehrwertdienste angeboten werden, unterliegt allein den dienstleistenden Unternehmen und nicht den Telekommunikationsanbietern. Die Branche selbst hat die Problematik erkannt. Die Bundesregierung arbeitet an Verbesserungen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer kennt das Problem nicht: Es gibt Schwierigkeiten mit einem Haushaltsgerät und man will die telefonische Serviceauskunft des jeweiligen Unternehmens nutzen. Im besten Fall wird man schnell mit einer kundigen Fachkraft verbunden und erhält eine passende Antwort auf die drängende Frage, damit das Gerät wieder richtig funktioniert. Doch es gibt leider viel zu oft auch die gegenteilige Erfahrung. Man wartet minutenlang, ehe man drankommt, weil das Unternehmen Geld für Mitarbeiter einsparen will. Oder man muss sich erst mühsam durch eine komplizierte Bandansage quälen, ehe man den richtigen Gesprächspartner hat. Dies kostet die Anrufer nicht nur Zeit und Nerven, sondern auch noch Geld. Denn abgerechnet wird das Telefonat von Beginn an und nicht erst ab dem Zeitpunkt, an dem das eigentliche Informationsoder Beratungsgespräch beginnt. Die Mehrzahl der Unternehmen arbeitet wohl seriös und versteht guten Kundenservice zu Recht als wichtigen Wettbewerbsvorteil, und die Verbraucherinnen und Verbraucher haben sicherlich auch Verständnis dafür, wenn sie in Spitzenzeiten einige Sekunden warten müssen. Aber leider gibt es noch immer zu viele Unternehmen, die meinen, sie könnten ihre Kunden minutenlang an der langen Leitung zappeln lassen. Diese Telefonabzocke ist mehr als ärgerlich und muss ein Ende haben. Bei den Servicenummern handelt es sich insbesondere - aber nicht nur - um die Rufnummerngassen der 0180-Service-Dienste und 0900-Premium-Dienste, die unterschiedlich hohe Kosten verursachen können. Bei den 0900-Nummern können immerhin bis zu 3 Euro pro Minute abgerechnet werden. Warteschleifen sollten grundsätzlich kostenlos sein. Diese Zielsetzung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute beraten, teilen wir. Die SPD-Bundestagsfraktion wollte das Problem bereits in der letzten Legislaturperiode entsprechend lösen. Damals ging es in der Großen Koalition um die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, um mehr Verbraucherschutz zu verankern. Ein gutes Beispiel hierbei sind die 0180-Rufnummern. Es war wichtig, diese Rufnummerngasse so auszugestalten und zu strukturieren, dass die Anrufenden wissen, welche Kosten bei der Nutzung auf sie zukommen. Neu geregelt wurde Zu Protokoll gegebene Reden beispielsweise damals auch eine Preishöchstgrenze für Anrufe aus dem Mobilfunknetz und ein verbesserter Schutz vor untergeschobenen Verträgen. Das Bundeswirtschaftsministerium hatte aber in den seinerzeitigen Beratungen vorgetragen, dass kostenfreie Warteschleifen technisch nur schwer umsetzbar seien, zumindest aber noch erheblicher Prüfungsbedarf bestehe. Um andere verbraucherschützende Regelungen zügig zu verabschieden, haben wir damals auf eine gesetzliche Regelung vorerst verzichtet und diese auf „Wiedervorlage“ für die nächste Novellierung gelegt. Da eine solche demnächst ansteht, ist nun der richtige Zeitpunkt, das Thema wieder aufzugreifen, zumal unsere damalige Hoffnung, die Branche würde Lösungen finden, um das Problem selbst in den Griff zu bekommen, bislang nicht erfüllt wurde. Auch die SPDFraktion hat deshalb die Warteschleifen in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen und arbeitet derzeit an einem eigenen Antrag. Vor diesem Hintergrund werden wir uns beim Antrag der Grünen enthalten. Denn wir sehen durchaus noch Klärungsbedarf im Hinblick auf die technische Umsetzung. Anders als es im Antrag der Grünen steht, ist diese nicht ganz unproblematisch, wenn auch am Ende wohl zu lösen. Konkret geht es beispielsweise um die Unterscheidung zwischen den 0180- und den 0900-Rufnummerngassen. Man muss dabei differenzieren zwischen dem sogenannten Onlinebilling und dem Offlinebilling. Beim Onlinebilling verhält es sich so: Der Anrufer ruft eine 0180-Servicenummer an. Das Gespräch läuft über einen Netzbetreiber, etwa die Deutsche Telekom, und landet dann bei einem Callcenter des betroffenen Geräteherstellers, von dem man Hilfe erfragen will. Die Gebühren fallen hier bereits beim Zustandekommen der Verbindung bei der Telekom an. Diese hat aber weder einen Einfluss darauf, wann jemand im Callcenter das Gespräch annimmt, noch kann sie die Wartezeit irgendwie selbst ermitteln. Umgekehrt kann aufseiten des Callcenters die konkrete Gesprächszeit nicht erfasst werden. Somit liefe in diesem Fall eine gesetzliche Regelung ins Leere. Anders beim Offlinebilling: Hier werden die Telefongebühren, die dem Kunden in Rechnung gestellt werden, anders ermittelt und abgerechnet. Vonseiten des Diensteanbieters, der sich des Callcenters bedient, wird dem Netzbetreiber mitgeteilt, welcher Anteil der Telefonrechnung dem Anrufer in Rechnung gestellt werden soll und welcher von ihm selbst getragen wird. Technisch kann dieses Offlinebilling bereits heute bei den 0900er-Nummern, nicht jedoch bei den 0180er-Nummern angewendet werden. Derzeit ist die Bundesnetzagentur dabei, die technischen Voraussetzungen zu prüfen, damit das Offlinebilling auch bei der 0180erNummerngasse umgesetzt werden kann. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, die noch offenen technischen Fragen endlich zügig anzugehen und zu entscheiden. Wir haben bislang viele Ankündigungen gehört, etwa von Ministerin Aigner, aber nur wenig konkrete Taten gesehen. Konsequentes Handeln ist gefragt. Die Bundesregierung sollte zeitnah einen Gesetzentwurf vorlegen, um kostenfreie Warteschleifen zu schaffen. Dieser müsste beispielsweise eine klare Definition einer „Warteschleife“ enthalten, die notwendigen technischen Voraussetzungen regeln und dabei sowohl den wirtschaftlichen Erfordernissen als auch den notwendigen Verbraucherschutzaspekten Rechnung tragen. Auch die unterschiedlichen Aspekte von Festnetz und Mobilfunk sind zu lösen. Ich weiß, dass es derzeit Gespräche in der TK-Branche gibt, um solche Fragen zu diskutieren. Es wäre gut, wenn konstruktive Vorschläge von den TK-Unternehmen und -Verbänden erarbeitet werden, die mit aufgegriffen werden könnten, soweit sie zielführend sind. Umgekehrt darf es aber nicht sein, dass eine Lösung des Problems auf die lange Bank geschoben wird. In einer gesetzlichen Regelung könnten ausreichende Übergangsfristen für die technische Umstellung vorgesehen werden. Eines ist klar: Der Telefonabzocke unseriöser Unternehmen muss ein Riegel vorgeschoben werden, vor allen um Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen, aber letztlich auch im Interesse derjenigen seriösen Unternehmen, die erkannt haben, dass wir besseren Service brauchen - und nicht höhere Telefonrechnungen.

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Für viele Verbraucher wird der Anruf bei einer Servicehotline zu einem nervenaufreibenden und teuren Warteakt. Im schlimmsten Falle fliegt der Anrufer sogar irgendwann mit dem Hinweis aus der Leitung, noch immer seien alle Berater im Gespräch, man solle es später wieder versuchen. Dies ist insbesondere bei 0180er- und 0900er-Nummern ein kostenintensives Ärgernis. Dies ist nicht weiter hinnehmbar. Ob bei Telefonanbietern, Kabelanbietern, bei PayTV-Anbietern, Reparaturhotlines von Firmen - überall lauern die Kostenfallen bei den Warteschleifen. Manchmal leiten sogar 0180er-Nummern auf alternative Festnetznummern um, obwohl den Kunden die Mehrkosten einer 0180er-Nummer in Rechnung gestellt werden. Daher hat sich im Internet bereits ein florierendes Webseitenangebot entwickelt, das die zur 0180er-Nummer gehörende Festnetznummer offenlegt. Fest steht: Die Warteschleifenabzocke bei Sondernummern müssen wir beenden. Aus meinen Gesprächen mit dem Bundewirtschaftsminister weiß ich, dass derzeit im Bundeswirtschaftsministerium über Lösungen nachgedacht und der Dialog mit der Wirtschaft geführt wird. Grundsätzlich muss es aber jedem Unternehmen freistehen, wie es seine Serviceleistungen ausgestaltet. Und ich habe auch grundsätzlich gar nichts dagegen, wenn Unternehmen mit ihrer Servicehotline kostenpflichtige Rufnummern schalten. Aber es muss eine Leistung dahinterstehen. Die Serviceleistung darf dann auch ruhig teuer sein. Dem Unternehmen muss es freistehen, wie es seinen Service ausgestaltet. Manch ein Unternehmen mag für ein Produkt oder eine Dienstleistung ein höheres Entgelt verlangen, dafür aber eine kostenfreie Servicehotline anbieten. Dagegen bietet ein anderes Unternehmen ein Produkt oder eine Dienstleistung zu einem niedrigeren Preis an, dafür entstehen aber für weitere Zu Protokoll gegebene Reden Serviceleistungen per Telefon deutlich höhere Kosten. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn der Kunde hat aufgrund der verschiedenen Geschäftsmodelle der Anbieter auch selbst die Wahlmöglichkeit, ob er lieber einen höheren Grundpreis oder eben Mehrkosten im Servicefall tragen will. Aber eine Warteschleife ist nun einmal keine Serviceleistung. Daher schafft die Bundesnetzagentur derzeit im Rahmen des Rufnummernmanagements Voraussetzungen, die es ermöglichen, 0180er-Rufnummern bei Warteschleifen kostenfrei zu schalten. Derzeit ist es nämlich nicht möglich, bei der Abrechnung durch den Rufnummernanbieter zu unterscheiden, ob ein Anrufer sich in einer Warteschleife befand oder ob dieser bereits mit einem Kundenbetreuer verbunden worden war. Die Möglichkeit zum sogenannten Offlinebilling wird aber im Zuge der Umstellung der 0180er-Nummern erfolgen. Solange eine solche technische Möglichkeit aussteht, kann eine gesetzliche Verpflichtung für den gesamten Bereich der 0180er-Rufnummern nicht greifen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen birgt darüber hinaus einige Unschärfen bei der Konnotation der „telefonischen Mehrwertdienste“. Denn Sie wissen ja sicherlich auch, dass es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Servicenummern gibt. So existieren beispielsweise für 0137er-Nummern bereits Festpreise pro Anruf, zum Beispiel bei TV-Votings mit der Sicherheit der Durchstellung. Bei diesen Rufnummern findet also eine Warteschleifenabzocke schon heute nicht statt. Und auch bezogen auf die 0180erNummern ist Ihr Antrag in gewisser Weise überholt. Denn seit dem Inkrafttreten von Änderungen des Telekommunikationsgesetzes am 1. März 2010 gelten auch für die Nummernbereiche 0180-2 und 0180-4 Festpreise von 6 Cent pro Minute bzw. 20 Cent pro Minute. Aber nicht nur bei teuren, sondern auch bei kostenlosen Servicehotlines sind lange Wartezeiten in Warteschleifen ein Ärgernis für die Verbraucher. Daher appelliere ich an die Unternehmen, die Voraussetzungen zu schaffen, um die Zeit in den Warteschleifen grundsätzlich möglichst gering zu halten. Seien Sie gewiss: Die schwarz-gelbe Koalition wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass der Verbraucher am Telefon nicht abgezockt wird. Wenn die technische Realisierbarkeit gegeben ist, werden wir entsprechende weitere Schritte unternehmen. Eine gesetzliche Pflicht vor der technischen Realisierbarkeit einzuführen, lehnen wir jedoch ab.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Problem kostenintensiver Warteschleifen ist nicht neu. Bereits beim dritten nationalen IT-Gipfel 2008 haben sich Bundesregierung, Industrie und Verbraucherverbände auf einen Leitfaden für eine verbraucherfreundliche Kundenbetreuung verständigt. Die Wartezeiten in den Schleifen sollten reduziert, und über deren voraussichtliche Dauer sollte vorab informiert werden. Warteschleifen sollten auch kostenlos sein. Darauf - und auf mehr - hat sich die Telekommunikationsbranche freiwillig selbst verpflichtet. Leider hat sie es bis heute nicht umgesetzt. Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen mit der Selbstverpflichtung der Unternehmen sind ernüchternd: Eine Stichprobe der Verbraucherzentrale NordrheinWestfalen vom vergangenen Jahr ergab, dass nur zwei von 60 Unternehmen eine kostenlose 0800-Nummer anbieten. Während ungefähr ein Viertel der Unternehmen wenigstens eine Ortsnetzvorwahl oder Sparvorwahlen ermöglichen, drängen zwei Drittel der Firmen ihre Kunden in teure Sondernummern. Dabei sind technische Probleme für die Trennung zwischen kostenpflichtiger Auskunft und kostenfreier Warteschleife längst keine Ausrede mehr. Denn für diese Probleme gibt es mittlerweile eine Lösung. Wenn ein Unternehmen verbraucherfreundlich sein will, dann kann es bereits heute eine kostenlose Servicenummer anbieten. Dass das so gut wie gar nicht passiert, zeigt doch deutlich, dass Selbstverpflichtungen der Wirtschaft in der Praxis nichts bringen. Insbesondere in Bereichen, in denen Dumpingpreise den Wettbewerb beherrschen, werden sich freiwillige Lösungen niemals durchsetzen, wenn sie die Unternehmen Geld oder Profit kosten. Die Strategie der Bundesregierung greift deshalb viel zu kurz. Wir brauchen verbindliche, gesetzlich festgelegte Regelungen statt unverbindlicher freiwilliger Versprechungen, an die sich kaum ein Unternehmen hält. Aber auch außerhalb der Wirtschaft zählt Kundenservice nicht viel. Wer als Erwerbsloser bei der Agentur für Arbeit anruft und seinen sogenannten Kundenberater sprechen will oder muss, der zahlt kräftig: 3,9 Cent pro Minute, Das klingt zunächst nicht teuer. Bleibt man allerdings in der Warteschleife des Callcenters hängen oder ruft vom Handy aus dort an, dann kann es richtig teuer werden. Denn Handytelefonate sind 11-mal so teuer wie Anrufe aus dem Festnetz und schlagen mit 42 Cent pro Minute zu Buche. Die Arbeitsagentur wählt damit die absolute Obergrenze: Mehr wäre gesetzlich verboten. Die Bundesnetzagentur hat für Anrufe mit dem Handy bei Servicediensten ({0}) derzeit einen Höchstpreis von 42 Cent pro Minute bzw. 60 Cent pro Anruf festgesetzt. Ruft man aus dem Festnetz eine Servicenummer an, werden maximal 14 Cent pro Minute bzw. 20 Cent pro Anruf fällig. Das ist zwar immer noch zu viel, und eine Obergrenze von 10 Cent wäre angemessener, aber ich möchte auf einen anderen Punkt hinweisen: Denn bei der heutigen technischen Entwicklung ist für uns als Linke die Unterscheidung zwischen Festnetzund Handypreisen absolut unangemessen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher haben nicht zuletzt aus Kostengründen gar keinen Festnetzanschluss mehr, sondern telefonieren nur noch mit dem Handy. Die unterschiedlichen Preise für Anrufe bei Servicenummern sind nicht zu begründen und dienen nur den Telekommunikationsanbietern. Warum sollten diese freiwillig auf die Gewinne aus überhöhten Minutenpreisen verzichten? Ich möchte noch ein weiteres Thema ansprechen, bei dem sich insbesondere Telekommunikationsunternehmen auch nicht gerade mit Ruhm bekleckern. Das ist das Zu Protokoll gegebene Reden Thema Störungsmeldungen, bei dem man ja auch sehr gerne Bekanntschaft mit Warteschleifen macht. Wenn die Festnetzleitung nicht funktioniert, müssen Kundinnen und Kunden mit dem Handy zu einem noch teureren Verbindungstarif den Servicedienst anrufen. Und wer hat nicht schon mal die Erfahrung gemacht, dass die telefonische Klärung lange dauern kann. Deshalb fordern wir: Störungsmeldungen müssen kostenfrei sein. Denn Unternehmen müssen im Rahmen ihrer Schadensersatzpflichten die Kosten für eigenes Leistungsversagen tragen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wissen das aber nicht, oder es ist ihnen zu aufwendig, eine Kostenrückerstattung zu verlangen. Die Bundesregierung muss endlich handeln, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nicht länger zur Kasse gebeten werden. Unternehmen müssen deshalb gesetzlich verpflichtet werden, kostenlose Warteschleifen und auch kostenfreie Störungshotlines anzubieten. Außerdem werden schnell weitere Schritte folgen müssen, um die überfällige und dringend notwendige Stärkung der Verbraucherrechte im Telekommunikationsbereich voranzubringen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute unseren grünen Antrag „Verbraucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen einführen“. Grundlage für diesen Antrag sind unsere beiden Erhebungen aus dem Dezember 2009 und April 2010, die zu ärgerlichen Ergebnissen führten. Bei Debitel und Alice hängt der Kunde durchschnittlich drei bis sechs Minuten in der Warteschleife, beim DSL-Anbieter Alice einmal sogar unglaubliche, kostenpflichtige 18 Minuten. Auch die Billigairline Easyjet lässt ihre Kunden gerne in der teuren Warteschleife hängen: Dort bezahlt man für die völlig überflüssige Bandansage schon 1,50 Euro. Bei vielen Unternehmen gehören lange Warteschleifen offenbar zum Geschäftsmodell. Es werden Millionen Euro damit verdient. Die Zeche zahlen die zu Recht genervten Verbraucher, die keine Gegenleistung dafür erhalten. Die freiwillige Selbstverpflichtung vom 20. November 2008, die im Rahmen des IT-Gipfels entwickelt wurde, entfaltet in der Praxis keine Wirkung. Eines ihrer Hauptziele war die gute Erreichbarkeit, also kurze Wartezeiten und die Bereitstellung kostenloser Warteschleifen von Kundenhotlines. Zwei Jahre später müssen wir leider feststellen, dass viele Unternehmen es nicht ernst damit meinen. Deshalb muss die Abzocke durch lange und kostenpflichtige Warteschleifen endlich gesetzlich verboten werden. Wir Grüne fordern deshalb, dass Verbraucher erst dann für ein Gespräch zahlen müssen, wenn sie auch tatsächlich mit einem Mitarbeiter verbunden sind. In Frankreich gibt es diese Regelung längst, und auch einige deutsche Firmen handhaben das so. Technisch ist diese verbraucherfreundliche Regelung also ohne Probleme möglich. Nachdem wir im Dezember durch unsere Erhebung herausfanden, dass die Abzocke über Warteschleifen regelmäßig vorkommt, hat auch Verbraucherministerin Aigner dieses Thema medial für sich entdeckt. So konnten wir unter anderem am 10. April in der „Welt“ lesen: „Aigner poltert gegen Warteschleifen - und Red Bull. … Wer Anrufer zu lange zappeln lässt, soll dafür kein Geld verlangen dürfen.“ Leider verhält es sich hier wie bei so vielen anderen Verbraucherthemen auch: Außer Pressemeldungen haben die Verbraucher von Frau Aigner nicht viel zu erwarten. Besonders erstaunt waren wir jedoch über die Reaktion der Koalitionskolleginnen und -kollegen im Verbraucherausschuss in der letzten Sitzungswoche. Denn der Antrag traf zwar auf allgemeinen inhaltlichen Konsens. Aber leider haben CDU/CSU und FDP trotzdem geschlossen dagegengestimmt und damit auch gegen ihre eigene Ministerin. Die Begründungen für das Stimmverhalten waren fadenscheinig. Die Ministerin sei ja eigentlich gar nicht zuständig, man wolle keine Einzelprobleme per Gesetz lösen usw. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, bitte wiederholen Sie diese kleinliche und inhaltlich falsche Entscheidung heute nicht, sondern beenden Sie die politischen Spielchen und stimmen Sie dem grünen Antrag zu. Handeln Sie im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher und lassen Sie Frau Aigner nicht als Ankündigungsministerin stehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1549, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1029 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion. Damit sind wir auch schon am Schluss der heutigen Tagesordnung. Sie haben sich nach einem arbeitsreichen langen Tag heute Abend noch ein paar schöne, angenehme Stunden verdient. Diese wünsche ich Ihnen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 7. Mai 2010, 9 Uhr, ein. Ich schließe die Sitzung.